Protestantismus - Aufklärung - Frömmigkeit: Historische, systematische und praktisch-theologische Zugänge 9783666571251, 9783525571255, 9783647571256

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Protestantismus - Aufklärung - Frömmigkeit: Historische, systematische und praktisch-theologische Zugänge
 9783666571251, 9783525571255, 9783647571256

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V&R

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Lutz Friedrichs, Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier

Band 66

Vandenhoeck & Ruprecht

Andreas Kubik (Hg.)

Protestantismus Aufklärung - Frömmigkeit Historische, systematische und praktisch-theologische Zugänge

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-57125-5 ISBN 978-3-647-57125-6 (E-Book) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: ® Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einleitung

7

Α. Systematisch-konzeptionelle Erwägungen RODERICH BARTH: Innerlichkeit und Ausdruck. Aufgeklärte Frömmigkeit im Anschluß an Herder

22

CHRISTOF ELLSIEPEN: Frömmigkeit als Handlungsimpuls. Zum Verhältnis von Religion und Ethik nach Schleiermachers Christlicher Sitte

38

CHRISTOPHER ZARNOW: Transitorischer Glaube. Eine Problemskizze zur Instabilität des Religiösen und ihrer theologischen Deutung

53

B. Historische Schlaglichter BJÖRN PECINA: Frömmigkeit und Dialog. Der Streit zwischen Mendelssohn und Lavater als Religionsgespräch

69

ALBRECHT BEUTEL: Frömmigkeit als „die Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott". Die Fixierung einer religionstheologischen Leitformel in Spaldings Gedächtnispredigt auf Friedrich II. von Preußen

88

JÖRN LEONHARD: Konfession und Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert. Eine Beziehungsanalyse im deutsch-englischen Vergleich

110

CLAUS-DIETER OSTHÖVENER: Erscheinungsformen der Frömmigkeit in der klassischen Moderne

133

6

Inhalt

C. Gegenwärtige Wahrnehmungen Warten oder Schweifen - Kracauers Beitrag zur Wahrnehmung gegenwärtiger Intellektuellenreligiosität. Ein Pastoralfeuilleton

153

Hiob heute. Über das Gedächtnis der Frömmigkeit in der Literatur der Gegenwart

156

Wie trägt die Begegnung mit der Spiritualität anderer Religionen und Weltanschauungen bei zu einer aufgeklärten christlichen Frömmigkeit?

171

Ars moriendi nach Noten. Bachs Passionen als Gestalt evangelischer Spiritualität heute

193

JOHANN HINRICH CLAUSSEN:

WOLFGANG FRÜHWALD:

CHRISTOPH ELSAS:

CORINNA DAHLGRÜN:

D. Praktisch-theologische Optionen Aufklärung und Anbetung. Eine religionspsychologische Perspektive

207

„Einfach das Evangelium darlegen"? Frömmigkeit und Praktische Theologie der Andacht in Auseinandersetzung mit der .Modernen Theologie'

220

„Credo, ut intelligam". Zur Wechselwirkung systematisch-theologischer Reflexionsleistungen und Seelsorgeerfahrungen

242

Ein Ort der Auseinandersetzung über Gott und die Welt. Kasualpraxis in den Transformationen der Frömmigkeit

259

SUSANNE HEINE:

ANDREAS KUBIK:

MICHAEL MURRMANN-KAHL:

ULRIKE WAGNER-RAU:

VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN

272

REGISTER ZU STELLEN AUS HEILIGEN SCHRIFTEN

273

NAMENREGISTER

274

Einleitung

Unter den inzwischen doch recht zahlreichen öffentlichen Debatten um Religion, die in den letzten Jahren gefuhrt wurden, gehört die um die partielle Rehabilitierung der episcopi vagantes einer katholischen Separatistenbruderschaft eher zu den Possen, wenn auch zu den traurigen. Der Name dieser Bruderschaft: Pius, also „fromm", stammt von Papst Pius X. her (im Amt 1903-1914), der der Kirchengeschichte vor allem durch die Einführung des so genannten Antimodernisteneids erinnerlich ist. Frömmigkeit im Sinne der Piusbruderschaft schließt die entschiedene Absage an das Erbe der Aufklärung ein.1 Auch der innerkatholische Liberalismus ist von dieser Absage betroffen. In gewissem Sinne mag die Programmatik der Bruderschaft argwöhnischen Zeitgenossen als Beweis für ihren immer schon gehegten Verdacht gelten: dass sich Frömmigkeit und aufgeklärtes Bewusstsein schlicht und ergreifend nicht miteinander vertragen.

1. Dimensionen eines Problemfeldes Man könnte dies als innerkatholisches Randthema abbuchen, würde sich die Reichweite dieses Verdachts nicht auch auf den Protestantismus erstrecken. Wenn auch vielleicht in anderer Weise, ist doch auch er „in des hertzens affect und in der uebung"2, also als Frömmigkeit sich selbst ansichtig. Erschwerend tritt hinzu, dass gerade in Sachen der Frömmigkeit die katholische Kirche vielerorts im Grunde genommen als kompetenter denn der Protestantismus gilt. Hinter dieser Ansicht steckt ein Topos, der bis in die Romantik zurückverfolgt werden kann: der Katholizismus sinnlich, anschaulich, musisch, bilderreich, der Protestantismus wortlastig, ärmlich, insgesamt eher verkopft und karg.3 An diesen Topos können auch diejenigen anknüpfen, welche unter dem Stichwort „Spiritualität" ihre ganz persönliche Wiederentdeckung der Religion vollziehen. Mit „Spiritualität" kann man auch in kirchenfernen Kreisen punkten, was mit der althergebrachten „Frömmigkeit" wohl kaum möglich wäre. Der Ausdruck „Spiri1

www.piusbruderschaft.de [14.6.2010, 13:30 MESZ], Philipp Jakob Spener, zit. nach Robert Leuenberger, Frömmigkeit als theologisches Problem. In: ThPr 2 (1967), 110-188, 111. 3 Vgl. zum Hintergrund dieses Topos Andreas Kubik, Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Tübingen 2006, 324-344. 2

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tualität", an sich schon alt, ist als Terminus eine Bildung der französischen Ordenstheologie um 1900.4 Erst in den letzten Jahrzehnten ist er auch in den evangelischen Sprachgebrauch eingedrungen, als protestantische Christen und Theologen selbst anfingen, in der Tat ein Defizit etwa an Sinnlichkeit oder Symbolfähigkeit in ihrer eigenen religiösen Tradition zu beklagen. Doch fehlt in den meisten Fällen dann nicht der Hinweis, Spiritualität dürfe sich nicht in hochgestimmten Gefühlen oder privater Erbauung erschöpfen. Früh leuchtet die Warntafel auf, wenn im Protestantismus von „Spiritualität" die Rede ist. Hier grüßt von fern noch der Generalverdacht, unter den die ,Dialektische Theologie' die Religiosität des Menschen gestellt hatte.5 Zum sprechenden Ausdruck kommt dieses Dilemma im Begriff der „Schwarzbrot-Spiritualität":6 Nur das, woran man heftig zu kauen hat, so ist diese Metapher doch wohl zu lesen, ist für den Protestantismus theologisch legitim, nur das nährt aber auch wirklich, so der Selbstanspruch. Doch dürfte sich der Versuch, den Spiritualitäts-Begriffs theologiepolitisch korrigieren zu wollen, als aussichtslos erweisen - nicht zuletzt wegen der semantischen Weite des entsprechenden englischen Ausdrucks, der natürlich die internationale Diskussion dominiert. So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass der Protestantismus sich selbst mit dem Wort „Frömmigkeit" doch alles in allem besser zu verstehen scheint. Zwar wird das Wort - wie bereits eine kursorische Recherche in Online-Katalogen zeigt - zumeist nur für weit zurückliegende Zeiten wirklich benutzt.7 Doch deutet sich seit einiger Zeit ein gewisses comeback des

4 Vgl. Josef Sudbrack, Art. Spiritualität. Systematisch-theologisch, in: LThK, Bd. 9 ( 3 2000), 856-858. 5 Der Hinweis von Sabine Bobert-Stiitzel, Frömmigkeit und Symbolspiel. Ein pastoralpsychologischer Beitrag zu einer evangelischen Frömmigkeitstheorie, Göttingen 2000, man dürfe diese Frontstellung schon deshalb nicht überstrapazieren, weil die Wort-Gottes-Theologie ihrerseits „wichtige Impulse zur Erneuerung evangelischer Frömmigkeit gab" (16), ist zwar richtig, verstärkt aber eben deshalb eher noch den paradoxen Eindruck, den diese Theologie in mehrfacher Hinsicht hervorruft. 6 Vgl. Fulbert Steffensky, Schwarzbrot-Spiritualität, Stuttgart 2006. Die Metapher und die dahinter stehende Ambivalenz hat sich auch Wolfgang Huber zu eigen gemacht; vgl. „Die Durstigen tränken" - Quellen und Perspektiven christlicher Spiritualität. Eisenacher Vorträge zu den Werken der Barmherzigkeit (07/2007), http://www.ekd.de/vortraege/070712_huber_eisenach.html [14.6.2010, 13:30 MESZ], 7 Der Historiker Lucian Hölscher hat vor kurzem eine große Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland verfasst (München 2005). Diese endet - ohne nähere Begründung dieser darstellungstechnischen Entscheidung - mit dem Jahr 1914. Hölscher legt zumindest nahe, dass mit dem Beginn der Ersten Weltkriegs die eigentliche protestantische Zeit der Frömmigkeit abgelaufen ist: „Auf der einen Seite formierte sich das Lager der Kirchenverteidiger zu einem Bollwerk gegen den fortschreitenden Sozialismus und Atheismus, auf der anderen Seite weitete sich das Spektrum derjenigen, die jenseits der ,alten Kirche' nach einer ,neuen Religiosität' für den modernen Menschen des 20. Jahrhunderts suchten." (401)

Einleitung

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scheinbar abgelebten Begriffs an.8 Gerade in Abgrenzung zur „Spiritualität" eigne dem Begriff der Frömmigkeit „vielleicht [...] doch etwas überraschend Zeitloses, was sich zu bergen lohnt"9, ohne dass indessen dieser Mehrwert bislang schon stringent entfaltet worden wäre. Auf unabgegoltene Potenziale des Begriffs hatten indes kritische Beobachter schon seit längerem aufmerksam gemacht: „In dem engeren und einfacheren Wort Frömmigkeit spürt eben noch der Intellektuellste eine feste innere Verbindung und Verpflichtung, welche er sich bei den großen Worten Gott und Religion leicht durch die Flucht in eine im Grunde unverbindliche religiöse Stimmung entziehen kann."10 Freilich lebt auch dieser Einspruch von einer kaum noch impliziten Wertung der verhandelten Phänomene. In den letzten Jahren ist noch eine Auseinandersetzung ganz anderer Art immer mehr in den Vordergrund gerückt: die mit dem Islam. Gesprächsbedarf, der im Grunde spätestens mit dem Verbleib der so genannten Gastarbeiter im deutschsprachigen Raum in den 1970er Jahren zu bedienen war, brach seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 mit neu verspürter Dringlichkeit an die Oberfläche. Dabei geht es in der öffentlichen Wahrnehmung des Islam allerdings in den seltensten Fällen um seinen Charakter als lebendige Religion." Fragen nach seiner eigentümlichen Spiritualität oder seiner Frömmigkeit werden kaum gestellt. Im Vordergrund steht hingegen fast ausschließlich das Verhältnis des Islam zur Aufklärung. Das dunkle Gefühl auch kritischer Zeitgenossen, die Religion könnte möglicherweise zu den unüberwindlichen Grundkräften der mensch-

Dies gilt auch in ökumenischer Perspektive; vgl. dazu Andreas Hölscher/Anja Middelbeck-Varwick (Hg.), Frömmigkeit. Eine verlorene Kunst, Münster 2005. Dieser Sammelband ist allerdings seinerseits nahezu ausschließlich historisch orientiert. Die beiden einzigen (kurzen) Beiträge, die auf die Gegenwart bezogen sind, lassen nur von ferne die Leistungsfähigkeit des Frömmigkeitsbegriffs erahnen: Joachim Opahle berichtet im Anschluss an Norbert Bolz in kulturhermeneutischer Absicht „Über die Frömmigkeit der Werbung" (142-156) und Michael Bongert entfaltet Überlegungen zur „Theologie als Gebet" (157-169). 9 Zeitzeichen Nr.4, 2007 (Themenheft „Frömmigkeit"), 22. 10 Carl Christian Bry, Verkappte Religionen (1924), N D der 3. Aufl. von 1964, Nördlingen 1988. 230; hier zitiert nach Wilhelm Grab, Sinn furs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002, 35, Anm. 19. Für Gräb selbst ist die „Frömmigkeit [...] das Thema der Theologie", Frömmigkeit hier allerdings als gelebte „Religion der Individuen in einer Vielfalt der symbolischen Welten" (270) verstanden. '' Vgl. aus christlich-theologischer Perspektive Anja Middelbeck-Varwick, „Und die gläubigen Männer und Frauen sind untereinander Freunde." (Koran 9,71). Zur Bedeutung der „Frömmigkeit" im Islam. In: Hölscher/Middelbeck-Varwick, Frömmigkeit, ebd., 128-141; Arnulf v. Scheliha, Der Religionsbegriff und seine gegenwärtige Bedeutung im Islam. In: Roderich Barth et al. (Hg.), Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne. Festschrift für Ulrich Barth, Frankfurt 2005, 233-250; aus religionswissenschaftlicher Sicht vgl. Johannes Tworalla, Moderner Islam. Fallstudien zur islamischen Religiosität in Deutschland, Hildesheim 2004; fur eine islamische Selbstbeschreibung vgl. Seyyed Mohammad 'Allameh Tabataba'i, Die spirituelle Dimension des Islam, Hamburg 2003.

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lichen Seele gehören, führt zu einer ganz neuen Dimension der Frage nach der Aufklärungstauglichkeit einer Glaubensgemeinschaft. Und hier wittern die christlichen Kirchen, die evangelischen Landeskirchen vorneweg, mit einem Mal Morgenluft. Plötzlich erfüllt sie die gemeinsame Geschichte und der ,Durchgang durch die Aufklärung', wie es hier und da heißt, mit einem gewissen Stolz. Zwar beeilt man sich zumeist hinzuzufügen, dass der Islam keineswegs per se aufklärungsresistent sei: „Wenn die Erwartung ausgesprochen wird, dass auch der Islam einen Schritt durch die Aufklärung hindurch macht, dann ist das nicht etwas, was der Religion an sich fremd ist, sondern was für jede Religion möglich sein kann."12 Diese etwas gönnerhafte Pose, welche seit der umstrittenen Handreichung „Klarheit und gute Nachbarschaft" die offizielle Linie der EKD - und nicht nur diese bestimmt, lässt doch zumindest über eine Implikation keinen Zweifel: Aufgeklärtheit wird letztlich nur dem (evangelischen) Christentum zugesprochen,13 und dieser Umstand wird aus irgendeinem Grunde für vorzugswürdig gehalten. Es kann an dieser Stelle natürlich nicht darum gehen, Defizite in der gegenseitigen Wahrnehmung von Islam und Christentum beheben zu wollen. Zur Sondierung des eigenen Terrains ist aber wichtig festzuhalten, dass diese scheinbar völlig selbstverständliche Inanspruchnahme der Aufklärung zu Zwecken der eigenen Aufwertung bei nur einigem historischen Nachdenken doch nicht wenig erstaunt. Denn das Verhältnis von Christentum und Aufklärung war ja Jahrhunderte lang nichts weniger als spannungsfrei. Zwar unterstanden sich im 20. Jahrhundert nur noch wenige evangelische Theologen, die Aufklärung rundweg für das πρώτον ψευδός der religiösen Entwicklung und für den Aufstand des selbstherrlichen menschlichen Geistes gegen Gottes Ordnungen überhaupt zu halten, wie das etwa für das konservative Luthertum des 19. Jahrhunderts noch ausgemacht war.14 Doch auch etwas differenziertere Verhältnisbestimmungen kamen in der Regel zu dem Ergebnis, man dürfe zwar nicht hinter die Aufklärung zurück, müsse aber ,über sie hinaus' kommen15 - was auch immer das genau heißen mag.

12 Wolfgang Huber, Religion und Aufklärung kein Widerspruch, 8.08.2008, www.ekd.de/ aktuelljjresse/news_2008_08_08_l_rv_dlr_religion_und_aufklaerung.html [14.6.2010,21 Uhr], 13 Vgl. hingegen Geert Hendrich, Islam und Aufklärung. Der Modemediskurs in der arabischen Philosophie, Darmstadt 2004. 14 Nur als ein Beispiel unter vielen möglichen: „Freiheit und Gleichheit sind große Worte und hohe Wahrheiten - aber richtig verstanden und an ihrem Platze. Es sind Wahrheiten, die das Christenthum in die Welt brachte, und welche nur in diesem Zusammenhang ihr Recht haben." (Christoph Luthardt, Geschichte der christlichen Ethik. 2. Hälfte, Leipzig 1893, 475; Hvhg. Α. K.) 15 Vgl. paradigmatisch Michael Trowitzsch, Über die Moderne hinaus. Theologie im Übergang, Tübingen 1999.

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Dieses bleibende, latente Misstrauen gegenüber der Aufklärung war allerdings längst kein Theologenfundlein mehr, sondern konnte sich zugleich auf gewichtige Strömungen in der Philosophie und anderen Geisteswissenschaften berufen. Nun ist Kritik an der Aufklärung ebenfalls eine Angelegenheit mit Tradition, sie stammt letztlich aus der Reflexion der Aufklärung auf sich selbst. Doch wohl erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde das Projekt Aufklärung breiteren Kreisen verdächtig, wofür hier stellvertretend die Namen von Theodor Adorno16 und Michel Foucault17 stehen sollen. Die Aufklärung wurde ihrerseits zur Epoche der Reduktion des Menschseins, welche zwanghaften Einheitsfixiertheiten unterlag, ungeheure Macht ausübte und dabei alles, was nicht ins Konzept passte, diskursiv und zunehmend auch real unterdrückte - bis hin zum Vorwurf der Faschismusaffinität einiger Auswüchse der Aufklärung. Die neuere Aufklärungsforschung hat unter Wahrung der berechtigten Einsichten der Aufklärungskritik in den letzten Jahrzehnten die Einseitigkeit dieser Perspektive wieder etwas korrigieren und sich verstärkt den konstruktiven und zukunftsweisenden Momenten der Aufklärung zuwenden können.18 Das gilt nun auch und gerade von der Erforschung der theologischen Aufklärung. Lag diese über Jahrzehnte mehr oder weniger brach, so hat sie in den letzten Jahren doch einen beträchtlichen Aufschwung erlebt.19 Dabei gerät nun auch immer mehr ihre spezifische Religiosität - oder sagen wir ruhig: Frömmigkeit in den Blick.20 Die christliche Aufklärung war keineswegs eine Epoche des bloßen Abbaus oder der unbedachten Reduktion, sondern eine Zeit, in der theologisch in jeder Hinsicht konstruktiv und aufregend gedacht wurde. Die Aufklärung ist kein Tiefpunkt der Kirchengeschichte, sondern eine christliche Epoche eigenen Rechts.21 In den bisherigen Ausführungen ist durchgängig das Stichwort „Aufklärung" in einem doppelten Sinn veranschlagt worden: zum einen als Bezeichnung einer historischen Epoche, zum anderen als Ausdruck für eine grundsätzliche emanzipative Haltung, deren Potenzial noch nicht abgerufen

16 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947), Frankfurt a.M. 1969. 17 Vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen (1976), Frankfurt a.M., I7 1987. 18 Vgl. die zusammenfassenden Berichte von Winfried Schröder, Art. Aufklärung. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 1 (1990), 276-285; Peter-André Alt, Aufklärung. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart 3 2 0 0 7 , 4 8 - 5 9 . 19 Vgl. Albrecht Beutel, Aufklärung in Deutschland. Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 4, Lieferung 0 2 , Göttingen 2006. 20 Vgl. Andreas Kubik, Spaldings „Bestimmung des Menschen" als Grundtext einer aufgeklärten Frömmigkeit. In: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 16 (2009), 1-20. 21 Vgl. Kurt Nowak, Vernünftiges Christentum? Über die Erforschung der Aufklärung in der evangelischen Theologie Deutschlands seit 1945, Leipzig 1999.

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scheint. Für beide Sinndimensionen des Ausdrucks ergibt es einen eigenen Reiz, ihn mit dem Thema der „Frömmigkeit" zu kontrastieren oder zu verbinden. Und so hat die Themenstellung zum einen natürlich eine historische Dimension. Sie fragt aber auch nach aktuellen Bezügen und einer gegenwärtigen Verhältnisbestimmung. Im Sinne einer Absteckung des Untersuchungsfeldes kann man die sich ergebenden Forschungsfragen vielleicht auf folgende vier Problemkreise reduzieren: systematisch-theologisch: Wie lässt sich das Konzept der Frömmigkeit eines aufgeklärten Protestantismus denken? Welche Potenziale bietet speziell der Begriff der Frömmigkeit? historisch: Welche Spielformen aufgeklärter Frömmigkeit haben sich in der Geschichte herausgebildet? Welche Bedeutung hatten sie? Inwiefern tragen sie zum Verständnis heutiger Frömmigkeitskonstellationen bei? zeitdiagnostisch\ Was trägt der Begriff der Frömmigkeit zur Wahrnehmung gelebter Religion bei? Auf welche Konzepte stützt man sich dabei? Welche Themenkreise spielen bei der heutigen Artikulation von Frömmigkeit eine Rolle? praktisch-theologisch·. Was folgt aus den Konzepten und den Wahrnehmungen für die Reflexion christlicher Frömmigkeitsvollzüge und kirchlicher Handlungsfelder? Die im Folgenden vorzustellenden Beiträge sind diesen vier Problemkreisen zugeordnet. Der Grundstock des Bandes geht auf Vorträge zurück, die bei einer Fachtagung an der Universität Rostock vom 5.-7.3.2009 zur Diskussion gestellt wurden. 22 Zu danken ist meinen Mitarbeiterinnen Frau Sandra Möring und besonders Frau Caroline Sommer für ihre Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage, Frau OStR i.R. Christine Kubik für Hilfe bei den Korrekturen, sowie Frau Maike Linne und Herrn Christoph Spill vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die gute Zusammenarbeit.

2. Übersicht über die Beiträge des Bandes Eine systematische Theologie, welche den Zusammenhang von Aufklärung und Frömmigkeit bedenken will, wird gleichsam von selbst auf Friedrich Schleiermacher stoßen, der bekanntlich den Begriff der Frömmigkeit zum zentralen Aufbaumoment seiner Glaubenslehre gemacht hat.23 Indes hat sich 22 Die Tagung trug den Titel „Der freie Protestantismus und seine Spiritualität" und wurde unterstützt von der Udo Keller Stiftung Forum Humanum. 23 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), Berlin/New York 1999, § 3f; vgl. dazu

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in letzter Zeit noch ein anderer der Aufklärungszeit entstammender Theologe als systematisch kaum minder theoriefahig erwiesen: Johann Gottlieb Herder. Roderich Barth entwirft unter dem Titel „Innerlichkeit und Ausdruck" die Skizze einer aufgeklärten Frömmigkeit im Anschluss an Herder. Dazu ist freilich zunächst dessen umstrittene Stellung in der Aufklärung zu bedenken. Barth zeigt auf, dass simple Abgrenzungsversuche der inneren Reichhaltigkeit weder der Aufklärungszeit noch des Denken Herders gerecht werden können und ordnet diesen dem von Werner Schneiders so genannten ,Reflexivwerden der Aufklärung' zu.24 Seine Frömmigkeitstheorie ist anthropologisch grundiert: Sie hat ihren Ort in der menschlichen Seele, worunter Herder eine sich in Erlebnissen manifestierende Innerlichkeit versteht. Barths Studie darf mithin auch als Beitrag zur Wiedergewinnung des für die christliche Frömmigkeitstradition so eminent wichtigen Seelenbegriffs gelten. Indes verbleibt die Frömmigkeit nicht im Inneren, sondern hat an sich selbst nach außen drängende Züge. Sie hat insofern teil an der grundsätzlichen Expressivität menschlichen Lebens. Dass die im engeren Sinne ethische Dimension der Frömmigkeit in diesem Konzept weniger zur Sprache kommt, mag sich aus Herders Frontstellung gegen die in der Neologie stellenweise verbreitete Reduktion des Christentums auf eine religiös grundierte Sittenlehre erklären. Umso energischer wird jene von Schleiermacher stark gemacht. Der besondere Kunstgriff, den Christof Ellsiepen in seinem Beitrag vollzieht, besteht darin, sich für die Frage nach der „Frömmigkeit als Handlungsimpuls" nicht von der Glaubenslehre, sondern von Schleiermachers Vorlesungen über „Die christliche Sitte" inspirieren zu lassen. Dies liegt schon allein deswegen nahe, weil die Glaubenslehre ja explizit die Leitsätze zur Frömmigkeitstheorie als „Lehnsätze aus der Ethik" kennzeichnet.25 Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit kann zwar analytisch für sich betrachtet werden, ist aber real immer mit dem Denken und Wollen verbunden. Zum Handlungsimpuls wird die Frömmigkeit, indem das stets mitgesetzte Gefühl eines Mangels, den das christliche Bewusstsein gegenüber dem Gefühl der reinen Seligkeit verspürt, zum Wunsch wird, die Gemeinschaft mit Gott immer vollkommener im Leben Gestalt gewinnen zu lassen - in darstellenaus der Literatur Jan Röhls, Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Zu Schleiermachers Religionstheorie in der „Glaubenslehre". In: Kurt-Victor Selge (Hg.), Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Bd. 1, Berlin/New York 1985, 221-252; Christian Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik, Berlin/New York 1994; Ulrich Barth, Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Theologische Rundschau 66 (2001), 408-461. 24 Vgl. Werner Schneiders, Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung, Freiburg 1974. 25 Vgl. Schleiermacher, Glaube, ebd., 14.

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dem, verbreitendem und wiederherstellendem Handeln. Sie sucht daraufhin zu arbeiten, das ganze Leben vom christlichen Glauben durchdringen zu lassen. Auf diese Weise gelingt es Schleiermacher, genuin reformatorische Frömmigkeitsimpulse im bewusstseinstheoretischen Theoriedesign zu rekonstruieren. Der Anspruch auf Universalität wird also auch vom aufgeklärten Protestantismus nicht aufgegeben. Wohl aber reflektiert er intensiv auf seine erschwerten Realisationsbedingungen in der modernen ausdifferenzierten Gesellschaft. Faktisch ist das religiöse Verhalten zunächst nur eine Teilrolle unter vielen anderen und steht somit erst einmal quer zu jenem Anspruch. Es gehört zu den Signa aufgeklärter Theologie, diese Diskrepanz nicht zu überspielen, sondern durch vermehrte Überlegungen zu den Schwierigkeiten, Religion als Haltung zu denken, selbst noch einmal reflektieren zu wollen. Christopher Zarnow plädiert - erneut im Anschluss an Schleiermacher, aber auch an die moderne Religionspsychologie - dafür, diesen Umstand als Ansatzpunkt einer reformulierten Sündenlehre zu wählen, in der die „Instabilität des Religiösen" eigens thematisch wird. Indem jene Diskrepanz empfunden und reflektiert wird, ist aufgeklärter Frömmigkeit ein unstillbar reflexives Moment eingestiftet. Zarnow vertieft diesen Ansatz bis zur prinzipiellen Einsicht, dass aufgeklärtes Christentum nicht als dogmatisches Reduktionsprogramm verstanden werden sollte. Die Bestände der Materialdogmatik sind vielmehr als das symbolische Kapital zu begreifen, mit dem allein der komplexen Wirklichkeitserfahrung ein angemessener religiöser Deutungsrahmen gegeben werden kann. Nicht nur der Entwurf grundlegender Theorietypen greift im aufgeklärten Protestantismus gern auf klassische historische Positionen zurück, auch die Identifikation realer Verhältnisse orientiert sich in der Regel an historisch vor-bildlichen Begebenheiten. Das ist bei Konstellationen der Frömmigkeit seit dem Aufklärungszeitalter nicht anders. Björn Pecina gewinnt unter diesem Gesichtspunkt dem oft besprochenen Streit zwischen Moses Mendelssohn und Johann Kaspar Lavater einige neue Aspekte ab. Er interpretiert ihn als Gespräch zweier unterschiedlicher Frömmigkeitsweisen, und diese Rekonstruktion erweist ihre heuristische Kraft noch unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion. Für Mendelssohn ist Frömmigkeit die auf gedankenvoller Übung beruhende Innerlichkeit, welche etwas von sich verliert, wenn sie vor das Forum urteilender Öffentlichkeit gezogen wird. Lavater hingegen zeigt eine außenorientierte Haltung, die gleichsam nur im anderen bei sich selbst sein will und diesen daher zu gewinnen und zu überzeugen versucht. Die introvertierte empfindet die extravertierte Frömmigkeit als übergriffig, während diese jene immer im Verdacht der Gesprächsverweigerung hat. Es zeigt sich aber auch, dass die

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missionarische Orientierung oft mit einer Vereinfachung der religiösen Deutungsfiguren einhergeht, um bei dem Missionsobjekt die Akzeptanzschwelle abzusenken. Die introvertierte Frömmigkeit hingegen kann auch in anspruchsvollen religiösen Vollzügen - im Falle Mendelssohns: dem Leben im Gesetz - ganz bei sich sein, ohne indes die Andersheit der Anderen als Anfechtung zu erfahren. Zu den dauernden Vorwürfen an ein Christentum aus einer der Aufklärung zugeneigten Tradition gehört der einer zu großen, unkritischen Nähe zur bürgerlichen Gesellschaft und ihren Macht- und Wertgrundlagen. Es dürfte sich allerdings leicht zeigen lassen, dass es hierin in Wahrheit keinen großen Unterschied zu anderen theologischen Richtungen gibt. Am konkreten Beispiel führt Albrecht Beutel vor Augen, wie eine genuin christlichaufklärerische Frömmigkeit zu einem großen Freimut gegenüber der herrschenden Diskursmacht fuhren kann. In seiner Analyse der Gedächtnispredigt von Johann Joachim Spalding auf Friedrich II. führt er vor, wie der ranghohe Berliner Geistliche die obrigkeitlich verordnete postume Rechristianisierung des ,großen' Königs sublim konterkariert. Dabei ist es gerade der sich immer schärfer profilierende Begriff von Religion als , Gefühl gänzlicher Abhängigkeit von Gott', welcher die sprachlichen und emotionalen Mittel von Spaldings Unterwanderung bereitstellt. Spalding entdeckt und entfaltet diesen Ausdruck als religionstheologische Leitformel - der Schleiermacher dann erst deutlich später zu theologischer Prominenz verhilft.26 Die Beziehungen zwischen „Konfession und Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert" anhand eines Vergleiches zwischen Deutschland und England zu untersuchen, erschien schon den Zeitgenossen sinnvoll. Jörn Leonhard traktiert aus der Sicht eines Historikers die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede, welche in beiden Ländern hinsichtlich der komplexen Wechselbeziehungen zwischen religiösem und politischem Liberalismus seinerzeit bestanden. Gemeinsam war, dass christliche Religiosität, die sich außerhalb von etablierten kirchlichen Strukturen organisierte, eine sehr wichtige Rolle bei der Formierung politisch liberaler Bewegungen spielte. In Deutschland kam die Aufklärung als entscheidender Hintergrund zum Tragen. Gerade der oft verfemte theologische Rationalismus stellte sich als treibende Kraft für politisch liberale Ideen heraus; die später so genannten „Lichtfreunde" und der „Deutschkatholizismus" ließen den religiös-politischen Liberalismus kurzzeitig zu einer Massenbewegung werden. In England bezogen sich die religiösen Kräfte weniger auf die Aufklärung, sondern auf die englisch-

Zu einer systematisch-genetischen Darstellung von Spaldings Religionstheorie vgl. jetzt auch Ulrich Dreesman, Aufklärung der Religion. Die Religionstheologie Johann Joachim Spaldings, Stuttgart 2008.

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freikirchliche Tradition, um den Forderungen nach liberties ihre ideenpolitische Unterfutterung zu geben. Religiöse und politische Opposition verstärkten sich wechselseitig.27 Wie sich hier bereits andeutet, steht das 19. Jahrhundert nicht nur für eine Liberalisierung, sondern auch für eine Diversifizierung von Frömmigkeitsstilen. In den Randzonen kirchlichen Lebens, ja über dieses hinaus bilden sich Formen religiöser Verehrung aus, die von dem Historiker Thomas Nipperdey als „vagierende Religiosität"28 bezeichnet wurden. Dieser Vorgang kulminiert im Zeitabschnitt etwa zwischen 1890 und 1930. Allerdings wirft die Erforschung dieses Zeitraums eine Fülle von Problemen sowohl heuristischer als auch inhaltlicher Natur auf. Claus-Dieter Osthövener erörtert die Probleme der „Erscheinungsformen der Frömmigkeit in der klassischen Moderne" in Form von exemplarischen Probebohrungen in bislang noch kaum berührten Feldern. Die sich bewusst vom Christentum absetzende Religiosität bleibt in ihren Artikulationsformen durchaus der christlichen Tradition verwandt, wie etwa eine Reihe von säkularen Andachts- und Hausbüchern beweisen. Ferner weist Osthövener auf die Fülle von Kleinschriften- und Traktatliteratur der Zeit hin, welche im Grunde eine verstärkte quantitative Forschung zur Erhebung einer „Statistik der inneren Lebenswerte"29 - wie Otto Baumgarten es nannte - erfordern. In begrifflicher Hinsicht macht er plausibel, dass der bislang als Religionstheoretiker wenig rezipierte Siegfried Kracauer einiges zur Erfassung der diffizilen Phänomene beitragen könnte: Die der klassischen Moderne eigentümliche religiöse Haltung ist die des ,Wartens', welche sich in einer Art Frömmigkeit des ,zögernden Geöffnetseins' niederschlägt. Im Anschluss daran zieht Johann Hinrich Claussen die mit Kracauer gefundene Linie noch etwas weiter aus. Neben dem ,Warten', das am ehesten auch zur Selbstbeschreibung des großen Feuilletonisten der Weimarer Zeit taugt, beobachtet Kracauer das ,Schweifen': die Haltung eines pseudointeressierten Anempfindens von allen möglichen Formen, das sich letztlich für Religion nur aus dem Grund interessiert, weil sie ,Thema' ist. Das Gegenüber von „Warten und Schweifen" lässt sich auch für heutige Beobachtungen im religiösen Feld fruchtbar machen. Neue Stile suchen sich auch neue Formen und wirken damit zugleich auf die Auffassung von Frömmigkeit überhaupt zurück. Als Artikulationsform 27

Zur theologischen Perspektive vgl. Johann Hinrich Claussen, Über die Frömmigkeit des aufgeklärten Protestantismus. Eine Erinnerung an Frederick William Robertson und seinen Einfluß auf die liberale Theologie in Deutschland. In: Barth (Hg.), Protestantismus, ebd., 191-201. 28 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Erster Band: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990, 521. Otto Baumgarten: [Art.] „Christentum. Seine Lage in der Gegenwart", in: RGG 1 Bd. 1 (1909), 1681-1690, 1682.

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religiöser Innerlichkeit kommt immer mehr die schöne Literatur in Betracht. Dies zeigt Wolfgang Frühwald in seinen Variationen „Über das Gedächtnis der Frömmigkeit in der Literatur der Gegenwart" anhand von Hans Eichner, Elias Canetti, Patrick Roth, Thomas Hürlimann, Joseph Weiler und Hans Magnus Enzensberger. Was der Moderne - auch der Moderne der Religion - durch Rationalisierung und fortschreitende Modernisierung verloren geht, das bewahrt die Literatur auf. Das poetische Gedächtnis leistet eine Anverwandlung all dessen, was zur Entwicklung des Menschen gehört. Frömmigkeit, so zeigt sich, ist auch ein Erinnerungs- und Gedächtnisakt, ein Gedenken der Menschenspur, ein Bewahren dessen, was im Dunkel der Vergangenheit verloren zu gehen droht. Scheint sich die Geschichte der modernen Frömmigkeit als Geschichte des Abbaus von positiven Frömmigkeitsformen und der Vervielfältigung und Heterogenisierung von Stilen zu schreiben, so findet doch auf der anderen Seite auch ein Zuwachs an Bekanntschaft mit geprägter Spiritualität statt - nur nicht mehr zwangsläufig aus dem christlichen Bereich. Durch Migration und Globalisierung ist die Präsenz von anderen Religionen im einstmals klar christlich definierten Kulturraum unübersehbar und unhintergehbar geworden, wobei es zu den vielfältigsten Arten von Begegnungen kommt. „Wie trägt die Begegnung mit der Spiritualität anderer Religionen und Weltanschauungen bei zu einer aufgeklärten christlichen Frömmigkeit?" Dieser Frage geht Christoph Elsas im Kontext grundsätzlicher Überlegungen zur Religionswissenschaft und zur Hermeneutik interreligiöser Begegnungen nach. Solche Begegnungen sind am ehesten dann fruchtbar, wenn sie nicht im Allgemeinen willkürlich angesetzter Gespräche verbleiben, sondern sich an konkreten Lebensfragen entzünden, wie hier am Beispiel des Sterbens und der Sterbebegleitung deutlich gemacht wird. Ein reflektierter Synkretismus-Begriff dürfte sich für die anfallende theologische Reflexionsarbeit als hilfreich erweisen. Für diesen wie für zahlreiche Einzelaspekte des Bezugs auf andere Religionen wird von Elsas Meister Eckart als vorbildlich präsentiert. Zu den verschlungenen Verhältnissen von Protestantismus, Aufklärung und Frömmigkeit gehört nun aber auch eine umgekehrte Beobachtung, die Corinna Dahlgrün in ihrem Beitrag über „Bachs Passionen als Gestalt evangelischer Spiritualität heute" anstellt und interpretiert. Gerade diese hochgradig orthodox evangelisch eingefarbte Musik zieht immer noch und immer mehr - auch unkirchliche Zeitgenossen an, die auf ihre anderweitige Aufgeklärtheit großen Wert legen. Bachs Musik nimmt sie mit unter das Kreuz und ermöglicht dort eine Kontemplation über das eigene Sterben und dessen Aufgehobensein, auch wenn man den entsprechenden dogmatischen Sätzen nicht zustimmt. Dafür steht gerade die sprachlichmusikalische Einheit der Bachschen Passionen. Dahlgrün stellt diese The-

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sen ein in Überlegungen zur ganz eigenen Sprache der Musik und ihrer Leistungen für die protestantische Liturgik überhaupt. Der zuletzt genannte Zusammenhang lässt schon erahnen, dass bestimmte Dynamiken, denen die menschliche Seele unterliegt, nicht bereits dadurch außer Kraft gesetzt sind, dass man bloß über sie aufgeklärt hat. Dies gilt in psychoanalytischer Sicht etwa für das Bedürfnis nach anbetender Verehrung. „Aufklärung und Anbetung" stehen daher in einem prekären Verhältnis, wie Susanne Heine nachweist. Nach ihrer Auffassung bietet Beobachtung der vielfältigsten Verehrungsphänomene der Gegenwart nicht einfach Anlass für praktisch-theologischen Jubel, da die Wahl des Verehrungsobjekts durchaus von theologischem wie sozialem Belang ist. Frömmigkeit ist - religionspsychologisch betrachtet - auch die Sache einer starken Bindung an das Über-Ich. Von daher erweisen sich alle kognitivistisch verengten Debatten um Religion von vornherein als unterkomplex. Für den Protestantismus besteht aber deshalb noch kein Anlass zur abstrakten Beharrung darauf, über das einzig würdige Objekt der Anbetung zu verfugen. Statt dessen plädiert Heine - angeregt durch die „Meditationen" Dag Hammarskjölds - für ein intensives Bedenken der Notwendigkeit von positiven Identifikationsfiguren in Bildung und Erziehung - Figuren, die vom biblischen Fundament her um die Heillosigkeit der Welt und ihren eigenen Begrenztheiten wissen und gleichwohl Gottes Annahme glaubhaft verkörpern können. Mit dem Stichwort Identifikation' stellt sich eine unvermutete Nähe zu Theoriefiguren der späten Liberalen Theologie um 1900 ein, die sich selbst ,Moderne Theologie' nannte. Im Zentrum ihrer Frömmigkeit steht die ethisch-religiöse Persönlichkeit', welche sich in innerlichem Wachstum und praktizierter Nächstenliebe - vor allem im Beruf - realisiert. Religion wird dadurch weitergegeben, dass der Mensch einer solchen Persönlichkeit begegnet und von ihr innerlich entzündet wird. Ein Mittel zu ihrer Habitualisierung und Verstetigung stellte die tägliche Hausandacht dar. Andreas Kubik erörtert „Frömmigkeit und Praktische Theologie der Andacht in Auseinandersetzung mit der ,Modernen Theologie'". Der seinerzeit nochmals stark propagierte Typus der lutherischen Hausandacht ist eine konsequente Ausformung dieser Frömmigkeit. Aber da ihr gerade die für die Moderne eigentlich spezifische Reflexivität und Gebrochenheit fehlt, wirkt sie teilweise rückwärtsgewandt und kann nicht mehr die Prägekraft entwickeln, die sie aufgrund ihres Selbstanspruchs eigentlich intendierte. Homiletisch erscheint es daher konsequent, dass heutzutage die frömmigkeitsorientierte Andacht des aufgeklärten Protestantismus einerseits eher dahin tendiert, religiöse Nachdenklichkeit zu erzeugen als inhaltliche Positionen zu vertreten, andererseits überhaupt stärker auf liturgische als auf inhaltliche Aspekte Wert legt.

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Religion geht mithin nicht in kognitiven und voluntativen Dimensionen auf - eigentlich ein altbekannter, gerade im aufgeklärten Protestantismus betonter Sachverhalt, der aber immer wieder neu zu entdecken und in seiner praktischen Relevanz auszudeuten ist. Michael Murrmann-Kahl berichtet von seinen Erfahrungen als Seelsorger an Koma-Patienten, bei denen Paradigmen wie , Seelsorge als Gespräch' nicht mehr greifen.30 Solche Extremerfahrungen fordern auch das Nachdenken über den Religionsbegriff selbst heraus. Murrmann-Kahl plädiert - in Analogie zur Entwicklung des menschlichen Gehirns - fur ein pyramidenartiges Modell. Religion ist emotiv tief verwurzelt, darauf bauen die voluntativen Dimensionen auf. Der kognitive Bereich hingegen ist gleichsam nur die Spitze des Eisbergs. So gesehen ist auch beim Koma-Patienten mit dramatischen spirituellen Prozessen zu rechnen, wie aus den Schilderungen Murrmann-Kahls mehr als deutlich hervorgeht. Ähnlich metakritisch verfahrt er auch mit der Umformung des alten Seelenbegriffs in den neuzeitlichen Personenbegriff. Der rational an sich nur schwer zu rekonstruierende Begriff, Seelsorge' scheint vor allem unter kommunikativen Gesichtspunkten dem eher umständlichen Personenbegriff überlegen zu sein - auch wenn man sich vor Verengungen wie der Reduktion der Person auf das , Vernunftwesen' hütet. Dass einerseits offene und sensible Wahrnehmungen im praktischtheologischen Feld unabdingbar sind, dass andererseits aber auch eine gesteigerte theologische Anstrengung zu ihrer Verarbeitung nötig ist, zeigt auch Ulrike Wagner-Rau in ihren Darlegungen zur „Kasualpraxis in den Transformationen der Frömmigkeit". Seit der Aufklärung ist der Rahmen der Kasualien das Familiensystem. Ebenfalls seit jener Zeit - und von Schleiermacher erstmals umfassend reflektiert - unterliegt die Kasualpraxis einem strukturellen Konflikt zwischen religiöser Bedürfnislage der Kasualbegehrenden und den theologischen Deutungsmustern der kirchlichen Professionellen. Heute haben sich die Dinge unter anderem deshalb verkompliziert, weil jene Bedürfnisse massiv von der populären Kultur beeinflusst werden. Indes kann Wagner-Rau aber im Kontext neuester empirischer Kasualforschung auch nachweisen, dass eine theologische Umstellung auf ein reines Dienstleistungsparadigma31 - noch unabhängig von etwaigen dogmatischen Rückfragen - der realen Bedürfnislage der Kasualbegehrenden gar nicht entspricht. Taufe, Trauung und andere Übergänge sind außer30 Ähnliches hatte Wolfgang Drechsel schon aus der Perspektive der theologischen Altersforschung eingeschärft, vgl. Das Schweigen der Hirten? In: Susanne Kobler-von Komorowski/Heinz Schmidt (Hg.), Seelsorge im Alter - Herausforderungen für den Pflegealltag, Heidelberg 2005, 45-63. Eine Seelsorgetheorie, so sein Anliegen, die von vornherein Schwerhörige, Demente, Müde usw. nicht in den Blick bekommen kann, muss strukturelle Schwächen zeitigen. 31 Bereits Friedrich Niebergall spottete über den Pfarrer als „Dekorationsredner", der „gleich einem Palmenkübel" die Familienfeier ziere, und warnte vor einer Auffassung der Kasualbegehrenden als „Kunden" (Die Kasualrede, Göttingen 2 1907. 32).

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ordentlich fragile Momente und werden von Kasualbegehrenden auch so empfunden und artikuliert. Dies aufnehmen und ausdeuten zu können, braucht es eine Theologie, die der Vielschichtigkeit und Uneindeutigkeit der Erlebnislagen entsprechen kann und diese nicht in gut gemeinter Harmlosigkeit überspielt. Die Kasualien zeigen, wie sehr es heute gemeinsamer Arbeit'32 zwischen Artikulationen eigener Frömmigkeit und fachtheologischer Reflexion bedarf. Dies gilt umso mehr, da die Kasualien nach Wagner-Rau zugleich ein Seismograph für den Wandel der Frömmigkeit in der Gesellschaft überhaupt sind.

3. Perspektiven Ein erstes wichtiges Zwischenergebnis besteht in der Sicherung der Erkenntnis: Es gibt aufgeklärte evangelische Frömmigkeit als historisches Faktum. Sie hatte ihre Höhepunkte im späten 18. und im späten 19. Jahrhundert, stellt aber darüber hinaus einen eigenen, theologisch wir lebensweltlich einflussreichen Traditionsstrang in der Frömmigkeitsgeschichte des Protestantismus dar. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts scheint in der Tat die Karriere des Frömmigkeitsbegriffs zur Selbstbezeichnung religiösen Lebens auszuklingen bzw. er zieht sich in Kleingruppen, hinter Klostermauern und in feste Zirkel zurück. Zugleich bleibt er aber als Interpretationsterminus erhalten: Man kann ihn sich reflexiv wieder zu eigen machen, allerdings augenscheinlich nur so, dass sich zugleich eine gewisse Abständigkeit ergibt. In seiner Verwendung für gegenwärtige Wahrnehmungen zeigen sich stets Momente von Gebrochenheit - im Umgang mit der Tradition, aber auch im Umgang mit dem je eigenen Innenleben. Das auch dem aufgeklärten Bewusstsein nicht auszutreibende Bedürfnis nach Unmittelbarkeit wird dadurch gleichsam im Zaum gehalten. Die vom Begriff der Frömmigkeit interpretierten Haltungen und Verhaltensweisen erzeigen sich so als immer noch in einem reizvollen Wechselverhältnis stehend zur Tradition des aufgeklärten Protestantismus. Gesteht man dies zu, so zeigen sich gewisse Vorteile, die der Begriff hat: Nur zu verweisen wäre vorderhand darauf, dass er sich unter dem Gesichtspunkt der Wortbildung als äußerst reichhaltig erweist (vgl. solche Bildungen wie ,Jesusfrömmigkeit', ,Kulturfrömmigkeit', ,Frömmigkeitsstil' usw.). Weit wichtiger sind aber diese Aspekte: Zum einen transportiert er den ethisch-affektiven Doppelcharakter religiösen Lebens - wenn es denn einem ethisch interessierten Religionstyp entspricht - umstandsloser 32 So im Anschluss an Kristian Fechtner, Kirche von Fall zu Fall. Kasualpraxis in der Gegenwart - Eine Orientierung, Gütersloh 2003, 142.

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als etwa der Spiritualitätsbegriff. Zum anderen verweist seine Verwendung auf eine zumindest deutlich zum Positiven neigende Tendenz, welche ihn leichter anschließbar macht für historische oder soziologische Untersuchungen. Er kann daher auch die inhaltliche Interpretation einer konkreten religiösen Vollzugsform befördern. Und schließlich eignet dem Begriff ein schwer zu fixierendes Merkmal, das hier vorläufig mit den Ausdrücken ,Ernst', .Verbindlichkeit', grundsätzliche Haltung' wiedergegeben sei. Auch dies kommt der „Spiritualität" nicht an sich zu, sondern wird ihr gegebenenfalls von interessierter Seite ausdrücklich hinzugesetzt. Theologie als Wissenschaft kann keine lebensweltlichen Trends setzen wollen. Das Plädoyer für den Frömmigkeitsbegriff in der Beschreibungssprache sagt noch nichts darüber aus, ob der Ausdruck auch in der eigentlichen religiösen Sprache und zur Selbstbezeichnung konkreter Religiosität wieder verstärkt verwendet werden wird. Es dürfte wahrscheinlich sein, dass die Ausdrücke „Frömmigkeit", „Spiritualität" und „Religiosität" weiterhin immer wieder auch synonym verwendet werden - wie auch die hier versammelten Beiträge zeigen.33 Doch kann eben auch der Frömmigkeitsbegriff gerade im Beziehungsgeflecht von Aufklärung und Protestantismus mit seinen spezifischen Konnotationen bestimmte Phänomene erhellen und die Wahrnehmung bereichern. Mehr als eine erste Schneise in das zuletzt allzu verwachsene Feld aufgeklärt-protestantischer Frömmigkeitsforschung zu schlagen, kann dieser Band nicht beanspruchen. Weitere Forschungen und größere begriffliche Anstrengungen müssen folgen. Zu wünschen wäre, dass sich solche Forschung ihrerseits nicht auf die Schulrichtung eines aufgeklärten Protestantismus beschränkte. Andreas Kubik

Dafür

sorgen

nicht

zuletzt

auch

die

Stichwort-Verweise

der

großen

Online-

Bibliothekskataloge: Wer „Frömmigkeit" will, bekommt ungefragt auch „Spiritualität" und „Religiosität".

Roderich Barth

Innerlichkeit und Ausdruck Aufgeklärte Frömmigkeit im Anschluß an Herder

Was ist aufgeklärter Protestantismus? Welche Rolle spielt dabei das, was man unter dem Begriff ,Frömmigkeit' zusammenzufassen pflegt? Und schließlich: Hat diese historische Gestalt Relevanz für die Gegenwart? Diesen Fragen soll im Folgenden am Beispiel Johann Gottlieb Herders nachgegangen werden. Doch damit erhebt sich sogleich eine neue Frage: Ist Herder überhaupt ein geeigneter Repräsentant der Aufklärung? Oder ist die Wahl dieses Klassikers nur ein allzu offensichtlicher Zug, um mithilfe eines Autors, der von seinen Lebensdaten her dieser Epoche zuzurechnen ist, ein Bild zu generieren, das für die Theologie und Frömmigkeit der Aufklärung jedoch eher untypisch ist? Einleitend soll daher die Auswahl mit einigen Reflexionen zur Stellung Herders in der Aufklärungstheologie gerechtfertigt werden. Daß die Rede von der Aufklärung bestenfalls Annäherungscharakter hat, auf den methodische Differenzierungsschritte zu folgen haben, ist zumindest für eine methodisch reflektierte Forschung selbstverständlich. Dabei ist nicht nur an Differenzen und Interdependenzen zwischen den Hauptländern der europäischen Aufklärung zu denken, sondern auch an eine strukturelle Vielschichtigkeit und eine komplexe Entwicklung innerhalb der jeweiligen Nationen selbst.1 Diese allgemeinen Grundzüge gelten auch für die Theologie der Aufklärungszeit. Traditionelle Einteilungsschemata wie etwa die als zunehmende Rationalisierung konzeptionalisierte Abfolge von Übergangstheologie, Neologie und theologischem Rationalismus,2 sind unbeschadet ihrer partiellen Berechtigung nicht in der Lage, die Entwicklung und innere Vielfalt dieses Zeitalters adäquat zu beschreiben. Der junge Herder, auf den wir uns im Folgenden beschränken werden, läßt sich jedenfalls nicht in eine Entwicklungslinie einzeichnen, die gera' Vgl. z.B. Johannes Rohbeck, Aufklärung in Frankreich, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie. 18. Jahrhundert 2/1, Helmut Holzhey (Hg.), Basel 2008, XIX-XXXVIII. 2 Vgl. z.B. Karl Aner, Theologie der Lessingzeit, Hildesheim 1964, Iff Aner spricht indes nicht von Übergangstheologie, sondern vom wolffianischen Stadium der Aufklärungstheologie. Zum Begriff der Übergangstheologie vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuem evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 2, Gütersloh 1964,318-390.

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dewegs von der Neologie zu einem konsequenten Rationalismus führt. Sein Denken verarbeitet und bündelt eine Vielzahl von zeitgenössischen, zum Teil recht heterogenen Strömungen, wobei vor allem vom Gebiet der Literatur ganz neue Akzente ausgehen, die gleichwohl in der Aufklärung verwurzelt sind.3 Herder repräsentiert also eher eine eigentümliche Metamorphose' 4 aufklärerischen Denkens. Hier werden zwar durchaus nachaufklärerische Konstellationen wie Idealismus und Romantik präfiguriert. Aber das berechtigt nicht dazu, Herder einer vermeintlichen Gegenaufklärung zuzuweisen.5 Will man diese Position in ihrer eigentümlichen Spannungseinheit mit einer formalen Kategorie kennzeichnen, empfiehlt sich vielmehr der von Werner Schneiders insbesondere für die Spätphase dieser Epoche geprägte Begriff des ,Reflexivwerdens' der Aufklärung.6 Das Zugleich von Zugehörigkeit und reflexiver Distanz zeigt sich jedenfalls bei Herder schon sehr früh: „Der Weise" - so heißt es im ,Journal meiner Reise im Jahr 1769' - „geht auf seinem Wege fort die Menschliche Vernunft aufzuklären, und zuckt nur denn die Achseln, wenn andre Narren von dieser Aufklärung als einem letzten Zwecke, als einer Ewigkeit reden."7 Selbstkritik und Selbstrelativierung werden hier als Merkmale einer wohlverstandenen Aufklärung zugesprochen. Nicht zuletzt solch kritische Töne konnten dann aber in der Forschung auch Deutungen begünstigen, die Herder förmlich der Aufklärung entgegensetzten. An die Stelle eines Umformungsmodells tritt dann ein schroffes Diskontinuitäts- oder gar Antagonismuskonzept. Das soll an einem prominenten Beispiel verdeutlicht werden. Es dient zugleich der inhaltlichen Spezifikation des Themas. In besonderer Weise hat der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor in seiner großangelegten Genealogie der Moderne Herder innerhalb der Geschichte neuzeitlicher Identitätskonzeptionen herausgehoben. Den gewaltigen Umbruch der Romantik habe dieser mit einer , Wende zum Expressivismus' heraufgefuhrt.8 Ähnlich hatte Taylor schon in seiner HegelStudie Herder als Repräsentanten einer neuen ,Ausdrucks-Anthropologie'

Vgl. dazu exemplarisch das Verhältnis von Empfindsamkeit und Aufklärung: Gerhard Sauder, Empfindsamkeit, Bd. 1, Stuttgart 1974. 4 So die Ordnungskategorie bei Albrecht Beutel, Aufklärung in Deutschland. Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 4, Lieferung 0 2 , Göttingen 2006, 330ff. 5 Vgl. Jürgen Brummack, Herders Polemik gegen die .Aufklärung', in: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Jochen Schmidt (Hg.), Darmstadt 1989, 277-293. 6 Wemer Schneiders, Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung, Freiburg/München 1974, 18ffu.ö. 7 Johann Gottfried Herder, Werke Bd. 1, Herder und der Sturm und Drang, 1764-177, Wolfgang Pross (Hg.), (= HP 1), 419. 8 Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1994, 639ff.

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gewürdigt. 9 Dabei sei diese Innovation nicht etwa nur als korrigierende Weiterentwicklung der Aufklärung oder als sentimentale Erinnerung vergangener Traditionen im Medium der Poesie zu verstehen, sondern vielmehr als eine Revolution in den Grundkategorien des Selbstverständnisses'. 10 Es handele sich gar um einen , Angriff auf die Anthropologie der Aufklärung', eine ,Reaktion' auf den im 17. Jahrhundert entwickelten und im 18. vertieften modernen Begriff vom Selbst. Die radikale Aufklärung habe nämlich die universalen und ideellen Ordnungsschemata, die von der Antike bis ins Spätmittelalter für das Verständnis der Welt bestimmend gewesen seien, zerstört und alle Bedeutsamkeit in eine autonome und atomisierte Subjektivität gelegt. Diese neuzeitliche Identität sei innerlich verbunden mit einem mechanistischen Wirklichkeitsverständnis und dem Ideal einer technischen Beherrschung der ,desakralisierten Welt'. 11 Auf eine umfassende Bewertung dieses Aufklärungsbildes und seiner Funktion für die Modernitätskritik Taylors muß hier verzichtet werden. Lediglich die Diskontinuitätsthese, die gleichsam einen Antagonismus zwischen der Anthropologie der Aufklärung und der erstmals exemplarisch von Herder repräsentierten Ausdrucks-Anthropologie unterstellt, soll hinterfragt werden. Unbeschadet dessen ist Taylors These zuzustimmen, daß die Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihr organisierendes Zentrum in der Anthropologie besitzen. Und auch seine Beschreibung der von Herder exemplarisch vertretenen Anthropologie scheint mir den richtigen Punkt zu treffen. Demgemäß folge Herders anthropologisches Konzept zwar der „von der Neuzeit vollzogene[n] Wende nach innen", 12 stelle diese Innerlichkeit aber in einen konstitutiven Zusammenhang mit Ausdrucksvollzügen - daher also der Begriff der Ausdrucks-Anthropologie. Kerngedanke dieser Konzeption ist also nach Taylor, daß sich die Klärung des Selbst nur in Ausdrucksvollzügen realisieren läßt, was wiederum eine prinzipielle Aufwertung von Sprache und insbesondere der Kunst als einer der Religion analogen Funktion mit sich bringt. An zwei Beispielen soll im Folgenden die Bedeutung dieser neuen Anthropologie für Herders Frömmigkeitsverständnis untersucht werden - einer Anthropologie also, die im Sinne Taylors ihr Organisationsprinzip in der Korrelation von Innerlichkeit und Ausdruck hat. Um speziell diese Konsequenzen in den Blick zu bekommen, werden wir uns aber nicht auf die von Taylor als Referenztext verwendete Sprachursprungsschrift beziehen, sondern auf Quellen, die einen direkten Zugang zum Thema Religion bzw.

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Charles Taylor, Hegel, Frankfurt a.M. 1978, 29. Ebd., 16; 33. Ebd., 14-24. Vgl. ders., Quellen des Selbst, 566ff. Charles Taylor, Quellen des Selbst, 263.

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Frömmigkeit erlauben. Auch an ihnen läßt sich jedoch prüfen, ob Taylors Konstruktion eines Gegensatzes zur so genannten Aufklärungsanthropologie plausibel ist.

1. Herders Konzeption religiöser Mitteilung In einem Fragment zur Homiletik bemerkt der junge Herder: „Ich bin einmal die Reden Jesu in diesem Gesichtspunkt, blos homiletisch und casuell durchgegangen, und mich wird diese stille Reise nie gereuen".13 Der „Stifter unserer Religion" habe sich in der Kunst verstanden, „sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, dadurch, daß er über Sachen redete, aus Vorfallen und Gelegenheiten Parabeln und Gleichnisse hob, immer κατ' ανθρωπον sprach, und die Natur, und die Zeit und den Ort und die Umstände und die Begebenheiten zwang, mit ihm zu reden" (ebd.). Nicht die politische Rhetorik eines Cicero, sondern Jesus sollte daher als Ideal religiöser Mitteilung gelten, so Herders Fazit. Daß die darin zum Ausdruck kommende Kritik an der regelhaften Kirchenrhetorik seiner Zeit jedoch nicht als pauschale Ablehnung der Aufklärungstheologie verstanden werden darf, wird an Herders Würdigung seiner Zeitgenossen deutlich. „Auch wir haben große Homileten" - so Herder - „ich verehre die Namen Mosheim, Jerusalem, von Acken, Cramer, Sack, Spalding u.a.m.".14 Einer unter den Aufklärungstheologen jedoch hat es dem jungen Herder in besonderer Weise angetan: Johann David Heilmann, Schüler des älteren Baumgarten und später Theologieprofessor in Göttingen. In einem , Entwurf zu einer Denkschrift' stellte ihn Herder gar in eine Reihe mit Alexander Gottlieb Baumgarten und Thomas Abbt.15 Diese Hochschätzung Heilmanns beruhte jedoch weniger auf dessen dogmatischen Arbeiten, die - obwohl in Göttingen als zu freisinnig empfunden - im großen und ganzen noch dem Typus der Übergangstheologie zuzurechen sind.'6 Als wirkliche Innovation erschien Herder vielmehr die im Jahre 1763 anonym veröffentlichte Schrift ,Der Prediger und seine Zuhörer in ihrem wahrem Verhältnis betrachtet' - Heilmanns Homiletik.

Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke Bd. 2, Bernhard Suphan (Hg.), Hildesheim 1967, N D der Ausgabe Berlin 1877 (= SWS 2), 237. 14 Ebd., 234. 15 Johann Gottfried Herder, Werke Bd. 1, Frühe Schriften 1764-1772, Ulrich Gaier (Hg.), Frankfurt a.M. 1985 (= FHA 1), 677ff; 205ff; Ders., Werke Bd. 2, Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781, Gunter E. Grimm (Hg.), Frankfurt a.M. 1993 (= FHA 2); sowie SWS 2, 245. 16 Vgl. Emanuel Hirsch, ebd. Bd. 4, 35f; Karl Aner, ebd., 89; 112; sowie Thomas Zippert, Bildung durch Offenbarung. Das Offenbarungsverständnis des jungen Herder als Grundmotiv seines theologisch-philosophisch-literarischen Lebenswerks, Marburg 1994, 62-68.

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Herder hat diese Schrift schon 1765 als junger Domschullehrer und Prediger in Riga gelesen. „Tiefe Einsichten in die Seele, selbst von der unbekandten Seite der Religion, einen Plan von Philosophie in der Religion, und [Einsichten] in die Beredsamkeit" habe er darin gefunden, teilt er Hamann umgehend brieflich mit und rätselt über den möglichen Verfasser dieser Schrift.17 Sein Königsberger Mentor wird das Geheimnis lüften. Und wie es für Herder typisch ist, setzt er diese inspirierende Lektüre sogleich schreibend in mehrere Entwürfe, kleine Texte und Fragmente um, die zwar große Nähe zu ihrem Vorbild erkennen lassen, diesem jedoch durch gezielte Akzentuierung und literarische Brechung zugleich eine neue Dynamik verleihen. Was zunächst als grundlegendes Ziel religiöser Kommunikation ausgegeben wird, verrät die innere Wahlverwandtschaft von aufgeklärtem Pragmatismus und pietistischer Applikation: Religion soll der Erbauung oder Bildung der Seele dienen. Ganz dem herkömmlichen Aufklärungsbild wiederum entspricht, daß es dabei näherhin um ,Ideen der Moral' geht. Sie sollen sich in einer echten Gesinnung, ja in einem freien Entschluß manifestieren, dessen inneres Evidentwerden vom Prediger gleichsam nur evoziert wird. Doch Herders kritische Reflexion folgt auf dem Fuß: „Was soll ich sagen? habe ich Moral gehört? Schlecht, wenn das allein wäre!"18 Es gehe darüber hinaus vor allem um die Erschließung individueller Lebenssituationen oder um konkrete menschliche Angelegenheiten. Das alles habe „im Licht der Religion" zu erscheinen.19 Wie läßt sich nun aber ein solches Ganzes aus ,Tugend, Situation und Religion' kommunikativ vermitteln? Hatte Heilmann den ersten Hauptteil seiner Homiletik beim Hörer einsetzen lassen, so wählt auch Herder für seine Darstellung die Hörerperspektive, läßt diese aber zugleich literarisch zum Ausdruck kommen: Erzählt wird aus der individuellen Perspektive eines Hörers, der seine Erinnerung an einen exemplarischen Fall religiöser Mitteilung schildert. Voraussetzung für das Zustandekommen von religiöser Mitteilung sei zunächst eine natürliche Autorität oder das Charisma des Redners. Ob ein solches Verhältnis interpersonaler Resonanz möglich sei, sei wiederum abhängig von individuellen Konstellationen: „du mußt sie dir selbst suchen",20 die Redner Gottes - so empfiehlt Herder. Sodann sei für religiöse Mitteilung entscheidend, daß sie keinesfalls in der Weitergabe von lehrhaften Inhalten besteht. Religiöse Rede sei keine „Theologische Ab17 Johann Gottlieb Herder, Briefe. Gesamtausgabe 1763-1803, Wilhelm Dobbek/Günter Arnold (Hg.), Weimar 1977ff, Bd. 1,42. 18 Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke Bd. 32, Poetische Werke, Bernd Suphan/Carl Redlich (Hg.), Hildesheim 1968, ND der Ausgabe Berlin 1899 (= SWS 32), 9. 19 Ebd., 10; vgl. 5f. 20 Ebd., 4.

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handlung [...] kein dogmatischer Artikel, keine akademische Erklärung[] und Eintheilung[], kein Gerippe einer gründlichen Disposition, keine Demonstration und Folgerung und Lehr- und Lehnsätze und Zitationen!"21 Der Redner Gottes zielt vielmehr auf Herz, Gefühl und „Rührung";22 er spricht „Worte, die mir in die Seele" gehen.23 Als Prediger ist er daher im eigentlichen Sinne des Wortes „Seelsorger".24 Die für die klassische Rhetorik kennzeichnende Korrelation von Ausdruck und Affekt ist also auch für Herders Konzeption religiöser Kommunikation entscheidend. Daß er unbeschadet dessen die Rhetorik als Leitfaden der Homiletik vehement ablehnt, kann seinen Grund also nur darin haben, daß deren schematischstandardisiertes Verfahren der Individualität des menschlichen Affektlebens nicht gerecht wird. Nicht nur „rhetorischer Donner" oder „Predigtton"25 äußerliche Effektmacherei also - diskreditieren die Rhetorizität, sondern die starre Zuordnung von Affekten und Ausdrucksformen. Um also an die Schicht individueller Empfindungen zu rühren, tritt der Redner Gottes nicht sogleich unvermittelt mit einem biblischen Predigttext oder Sittenlehren an seinen Hörer heran. Ich höre - so erinnert sich der literarische Herder - „Erfahrungen, eine Beobachtung, einen Vorfall aus dem Menschlichen Leben".26 An einem derartigen „Phönomenon" werde durch die Nachdenklichkeit des Redners sodann eine Bedeutungsschicht freigelegt: „Ich sehe Neuheit, Wichtigkeit, Interesse, Vergnügen; ich empfinde all dies".27 Im Horizont der so erzeugten Bedeutungsoffenheit könne dann auch erst durch eine weitergehende Verinnerlichung der Übergang in religiöse Dimensionen erfolgen. Nun setzt die Andacht ein und Herder beschreibt sie in mystischen Kategorien: ein Augenblick, die Seele schaut, in ihr erklingt ein stiller Ton. Die freigesetzten Assoziationen werden aber von Herder umgehend wieder eingezogen: Es gehe nicht um „Mystische Entzückung" oder einen „Müßiggang voll schwärmerischer Erfahrungen",28 sondern bloß um die affektiv-religiöse Fundierung moralischer Ideen und Gedanken. Dieses Bemühen um eine Synthese von Gefühl und Rationalität ist für Herder signifikant und kann vielleicht sogar als Signatur seiner Epoche benannt werden. Herder sieht sich jedenfalls damit ausdrücklich in der Tradition von Spaldings Gedanken über den ,Wert der Gefühle in dem

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Ebd., 5. SWS 2, 241 (Fragment zur Homiletik). SWS 32, 11 (Redner Gottes). Ebd., 10; 12; 16. Ebd., 5. Ebd., 11. Ebd., 12. Ebd., 16.

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Christentum' (1761). 29 Unbeschadet dessen bleibt die Frage: „Wie steht es nun mit den heiligen Affekten?" 30 Genau an dieser Stelle geht Herder dann auch über Heilmanns Vorlage hinaus, indem er die zeitgenössische Ästhetik- und Literaturdebatte konstruktiv einbezieht. Religiöse Kommunikation vollziehe sich zwar analog zu den gewöhnlichen Affekten wie Freude, Traurigkeit, Liebe oder Haß. Doch sei das Spezifikum darin zu sehen, daß jene in religiösen Erlebnissen zur gemischten Empfindung erhoben würden. Damit ist aber ein terminus technicus der damaligen Debatte um das ästhetische Erleben des NichtSchönen, also die Debatte um die Rolle dunkler Gefühle und das Erhabene ins Spiel gebracht, die vor allem der Franzose Jean-Baptiste Dubos angestoßen hatte und die unter anderem von Edmund Burke fortgeführt wurde." Der von Herder hochgeschätze Moses Mendelssohn kann in seiner ,Rhapsodie, oder Zusätzen zu den Briefen über die Empfindungen' von 1761 diesen Zusammenhang wie folgt zuammenfassen: „Das Unermeßliche, das wir zwar als ein Ganzes betrachten, aber nicht umfassen können, erregt gleichfalls eine vermischte Empfindung von Lust und Unlust, die Anfangs ein Schauern, und wenn wir es zu betrachten fortfahren eine Art von Schwindel erregt." 32 Im ,heiligen Schauer' oder , Schauder' als einer g e mischten Empfindung' erblickt daher auch der junge, an diesen Debatten beteiligte Herder die spezifisch religiöse Geflihlsqualität. 33 Vor dem Hintergrund dieser offensichtlichen Bezüge zur ästhetischliterarischen Debatte seiner Zeit ist es denn auch kein Wunder, daß Herder schließlich auch über die Frage reflektiert, wie sich denn derartige Empfindungen kommunikativ vermitteln lassen. Ich zitiere die entscheidende Passage aus dem frühen Manuskript: Der Mann, an dessen Munde ich hange, was zeichnet er nun auf die offne Tafel meiner Seele, wo ich alles verwischt, und wo das Andenken an Gott die Oberfläche zubereitet und weich gemacht: keine trockne Sittenlehren und geraubte Lebensregeln: die haften nicht. Er schreibt keine Worte auf sie, sondern gräbt in sie ein Bild: ein

Johann Joachim Spalding, Kritische Ausgabe I, Bd. 2, Albrecht Beutel (Hg.), Tübingen 2005. Vgl. FHA 1,51 l f (Über die neuere deutsche Literatur, Dritte Fragmentensammlung). 30 FHA 1,508. 31 Vgl. dazu Carsten Zelle, ,Angenehmes Grauen'. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987 sowie Martin Fritz, Vom Erhabenen. Der Traktat ,Peri Hypsous' und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert, Tübingen 2011. 32 Moses Mendelssohn, Ästhetische Schriften in Auswahl, Otto F. Best (Hg.), Darmstadt 1974, 141. 33 Vgl. dazu vor allem Herders Fragmente ,Über die neuere deutsche Literatur', in: FHA 1, 161-649, sowie ,Die kritischen Wälder zur Ästhetik', in: FHA 2, 9^142.

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Gemälde mit allen seinen Zügen: das nie völlig verlöschen kann, wenigstens bleiben Spuren auf dem Grunde, und einzelne Striche bringen uns das Ganze wieder vor.34

Die Sprache der religiösen Kommunikation - so kann man zusammenfass e n - ist also nach Herder zuvörderst eine anschauliche Sprache. In der konkreten Fülle und relativen Unbestimmtheit von Bildern und Symbolen kommen religiöse Empfindungen in ihrer Prädiskursivität und qualitativen Spannungseinheit adäquat zum Ausdruck. In diesem Medium wiederum wird sich die Seele ihrer inneren Ideen ansichtig und lernt sich und ihre Welt zu verstehen. Diese lebendige Reflexivität läßt sich zwar in Lehrformeln und dogmatischen Schemata rationalisieren, jedoch geht sie darin niemals auf. Dem gedanklichen System liegt vielmehr der Vollzug einer affektiven Logik zugrunde - ein „Triebwerk des Glaubens" in Herders Worten. Die „Empfindung der Dankbarkeit gegen den Stifter unsres Glücks, das Gefühl von Unterwürfigkeit und Demuth gegen den allweisen Schöpfer, von Zärtlichkeit gegen den Erlöser, und von Schamröthe über die Begnadigung u.f.".35 Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu Schleiermachers Systematisierung der Gefühlsseite religiöser Anschauung in der Sequenz von Ehrfurcht, Demut, Liebe, Dankbarkeit, Mitleid und Reue.36 Die Wechselseitigkeit von Bildern und Empfindungen, oder mit Taylor gesprochen, von Ausdruck und Innerlichkeit, ist somit für Herders Verständnis von religiöser Kommunikation eigentümlich. Es wird allerdings nicht gegen, sondern gerade im Anschluß an unterschiedliche Traditionen der Aufklärung entfaltet - von der Homiletik eines Baumgartenschülers bis zum in die Frühaufklärung zurückreichenden Ästhetikdiskurs. Mit der Korrelation von Bildern und Empfindungen ist zugleich ein Stichwort genannt, welches zum zweiten Beispiel überleitet.

2. Herders Hermeneutik religiöser Symbole ,,[W]enn ich immer die Seiten wählte, die der Menschlichen Seele zunächst vorliegen, die das Menschliche Herz zuerst, und am stärksten und tiefsten zu treffen pflegen, wenn ich gerne auch eine Menschliche Sprache mich zu reden befliß - so hatte dies alles keine andre Gründe und Absichten, als ein

34

SWS 32, 8; Hvhg. R. B. SWS 2, 239 (Fragment zur Homiletik). 36 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ober die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Hans-Joachim Rothert (Hg.), Hamburg 1985, 6 0 f f ( - Orig. Pag. 108ff ). 35

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Roderich Barth

würdiger Lehrer der Menschheit zu werden."37 So faßt Herder in seiner Abschiedspredigt von Riga (1769) sein Selbstverständnis als Redner Gottes zusammen. Angesichts dessen wundert es kaum, wenn Herder seine Bibelhermeneutik in jener Zeit in dem Begriff der „Menschlichen Auslegung" hat zusammenfassen können. Bei dem Dokument, in dem sich diese programmatische Formel findet, handelt es sich um die erst 1980 von Günter Arnold wiederentdeckte Handschrift ,Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts', eine noch in der Rigaer Zeit entstandene Auslegung von Genesis 1-11.38 Nach Rudolf Smend handelt es sich dabei um „eins der originellsten und schönsten Stücke" Herderscher Bibelauslegung - zumal im Vergleich zu der später dann veröffentlichten Fassung, der ,Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts' (1774/76). Letztere sei „schon für damalige Leser eine Zumutung und ist das für heutige noch mehr".39 Wie in Herders homiletischen Entwürfen, zeigt sich auch in dieser ersten zusammenhängenden Auslegung biblischer Quellen eine tiefe Verwurzelung in der Aufklärung. Traditionen, die von Taylor entweder der radikalen, zu Herder in einem prinzipiellen Gegensatz stehenden Aufklärung zugerechnet oder schlichtweg gar nicht wahrgenommen werden, sind für das Verständnis dieser frühen, Herders Bibelhermeneutik figurierenden Schrift unverzichtbar. In erster Linie sind hier zwei Namen zu nennen, David Hume und Robert Lowth. Ersterer hatte mit seiner ,Natural History of Religion' von 1757 ältere deistische Konzeptionen der natürlichen Religion abgelöst und zwar auf der methodischen Basis einer religionspsychologischen Genese der Religion.40 Der englische Bischof wiederum war mit seiner Schrift ,De sacra poesi Hebraeorum praelectiones' von 1753, die Michaelis 1758/61 in einer kommentierten Ausgabe dem deutschen Publikum bekannt machte, zum Meilenstein der poetologischen Interpretation des Alten Testaments geworden.41 Herder entnimmt beiden Autoren zentrale Aufbaumomente seiner Genesisauslegung und vermag nicht zuletzt durch deren Ver-

37

Johann Gottlieb Herder, Werke Bd. 9,1, Theologische Schriften, Christoph Bultmann/Thomas Zippert (Hg.), Frankfurt a.M. 1994 (=FHA 9,1), 52. 38 Johann Gottlieb Herder, Werke Bd. 5, Schriften zum Alten Testament, Rudolf Smend (Hg.), Frankfurt a.M. 1993 (= FHA 5), hier 30. 39 FHA 5, 1324. 40 David Hume, The Natural History of Religion, Anthony Wayne Colver (Hg.), Oxford 1976; Herder hatte bereits im Jahre 1766 ein Exzerpt dieser Schrift angefertigt: „Hume: natürliche Geschichte der Religion", in: SWS 32, 193-197. 41 Robert Lowth, De sacra poesie Haebraeorum. Praelectiones academicae, Johann David Michaelis (Hg.), 2 Bd., Göttingen 1758/1761. Vgl. dazu Rudolf Smend, Lowth in Deutschland, in: Ders., Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien Bd. 3, München 1991, 43-62. Auch die Lowthrezeption ist bei Herder früh belegt, vgl. HP 1, 17 (Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, 1764).

Innerlichkeit und A u s d r u c k

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schränkung untereinander, beide Ansätze zugleich kritisch und konstruktiv weiterzuentwickeln. Mit David Hume teilt Herder die religionspsychologische Rekonstruktion der Religionsgeschichte. Demzufolge sei es unhistorisch, wie die Deisten eine vom aufgeklärten Geist her entworfene Naturreligion in den Anfang der Geschichte zurück zu projizieren. Religion erwachse nicht „aus einer philosophischen Einsicht in die Zusammenordnung der Dinge", sondern „aus rauhen Begebenheiten der Welt, die ihnen [sc. den Menschen] Schrecken und Furcht ein prägen, aus großen unvermuteten Umwälzungen der Dinge, die sie für unveränderlich und nothwendig hielten, aus Zufällen, die auf sie großen Einfluß hatten und deren Ursachen sie doch nicht kannten".42 Insoweit noch mit der Humeschen Religionspsychologie d'accord, gewinnt Herder jedoch auch gegenüber dem Schotten eine kritische Distanz, indem er Humes Deismuskritik auf diesen selbst anwendet. Denn dieser habe zwar das deistische Konzept der Naturreligion als ahistorisch ausgewiesen, bleibe aber gleichwohl dem Wertmaßstab einer philosophischen Religion verhaftet, wenn er diese archaische Religion als Unwissen, Aberglaube oder gar Betrug bewerte. Hier werde ebenfalls noch ein unhistorischer Maßstab an die Religion der Alten angelegt. Wolle man sie verstehen, so müsse man aber von derartigen Wertungen gänzlich absehen. Den Zugang zu einem positiven Verständnis gewinnt Herder dann im Rückgriff auf Lowth' Studien über die erhabene Poesie der Hebräer. Zunächst ist es schon allein das poetologische Verständnis, welches eine neue Perspektive erschließt: „Wäre also in diesem verdünnten Luftraum der Religion Poesie gekeimt?" - fragt Herder und meint damit die aufgeklärte Philosophenreligion David Humes.43 In Rücksicht auf die religiöse Ausdruckskultur gibt es also gar keinen Grund für aufgeklärte Überheblichkeit gegenüber den religionsgeschichtlichen Anfängen. Und selbst auf dem aufgeklärten Terrain der Moral sei Zurückhaltung geboten: Denn gerade die Tugend dieser sinnlich-affektiven Urreligion sei ,in ihrer Art' kräftig und vollkommen. Sodann verschränkt Herder die poetologische Deutung mit dem religionspsychologischen Ansatz, der ja gerade auch fur Hume entscheidend war. Die formalen Kennzeichen der hebräischen Poesie, wie sie von Lowth herausgearbeitet wurden, werden also psychologisch genetisiert: Die „dringende Not, der fürchterliche Zufall, das pressende Bedürfnis, das sie die Götter suchen lehrte", mache zusammen mit dem Charakter einer „Sprache der sinnlichen Bedürfnisse" den sententiösen Charakter hebräischer Dichtung verständlich: „so entstanden die heiligen Gesänge, die bei allen Völ-

43

HP 1,28 (Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst). HP 1,43.

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kern zu den ersten Produkten der Dichtkunst gehört haben".44 Mit dieser religionspsychologischen Genese der Poesie ist freilich im Vorbeigehen Lowth' poetologische Begründung des göttlichen Ursprungs derselben sistiert. Daran hatte allerdings schon Michaelis Kritik geübt. Herder bemängelt darüber hinaus aber auch die theologisch motivierte Bestimmung der Affektqualitäten. Lowth sei hier zu sehr von den Idealen der griechischrömischen Rhetorik geprägt - allem voran von Longins rhetorischer Theorie des Erhabenen. Es sei aber mehr als fraglich, ob „Ehrfurcht, Bewunderung Gottes aus seinen Geschöpfen, und Dank" der Religion dieses sinnlichen Zeitalters wirklich adäquat sei.45 Man sieht, wie hier wiederum die starke Betonung von Furcht, Schrecken und Angst bei Hume oder auch bei Burke als Korrektiv fungiert.46 Mit dieser kunstvollen Synthese von Lowthschen und Humeschen Theoriebausteinen hat Herder jedenfalls das methodische Instrumentarium für seine Auslegung der Ersten Urkunde beisammen- werfen wir also noch einen abschließenden Blick auf diese Anwendung.47 Zunächst ist kurz auf den Titel seiner Studie einzugehen, also den Begriff der ,Ersten' oder später dann ,Ältesten Urkunde'. Denn dahinter verbirgt sich ein methodisch vielschichtiger Umgang mit dem Ursprungsproblem. Zunächst überblendet Herder grundsätzlich die anthropologische und geschichtliche Ursprungsfrage. Wie die anthropologische Genese der Religion auf einen dunklen Seelengrund zurückverweist,48 so bewahren die ersten Urkunden und Traditionen einer Religion ein Ursprungswissen aus einem ,vorigen Zustand'. Letzteres macht deutlich, daß für Herder die Ursprungsfrage auch in den ,ersten Urkunden' einer Religion bereits im Medium der Reflexion erscheint. Eine Identifikation der biblischen Urkunden mit der „babarischen Mythologie" im Humeschen Sinne kann Herder damit elegant ausschließen.49 Allerdings gilt der Begriff des Mythischen auch für 44

HP 1,29f. Ebd., 49. 46 Vgl. Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful, ed. by James T. Boulton, London 1958, N D der 2. Aufl. v. 1759. Der von Burke ausgewiesene Grundaffekt ist das Erschauern (astonishment) als Reaktion auf das Erhabene als eines mit Schrecken (terror) erlebten Objekts (ebd., 57f). 45

47 Zur Hume- und Lowth-Rezeption bei Herder vgl. auch Christoph Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen 1999, v.a. 17-24; 75-130. Das interpretatorische Grundschema - Herder sei „Apologet offenbarter Religion" (187; 154) gegenüber den Angriffen von Humes Religionskritik - verstellt allerdings die Sicht auf Herders konstruktives Interesse an der Religionspsychologie im Kontext einer Hermeneutik religiöser Symbole. 48 Zu dieser Tradition und ihrer philosophischen Herkunft vgl. Hans Adler, Fundus Animae - der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), 197-220. 49 FHA 5 , 1 2 (Über die ersten Urkunden).

Innerlichkeit und Ausdruck

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diese Traditionen. Denn er selbst ist von Herder keineswegs pejorativ gemeint. Mythisch bedeutet, daß es sich um Ursprungsberichte handelt, die „in Begriffen der Religion" erfolgen, und das bedeutet wiederum, daß sie „in eine sinnliche bildervolle Sprache eingekleidet" sind.50 Erst durch die Berücksichtigung dieser Ausdrucksform wird aber auch der Sinn dieser Ursprungsfragen verständlich. Es geht in den Mythen nicht um historische Berichte, sondern vielmehr um eine „poetische Reduktion einer heiligen Nationalgewohnheit auf einen entfernten so heiligen Standpunkt, als die Schöpfung der Welt ist."51 Herder hat damit der Sache nach das vorausgenommen, was man seit Hermann Gunkel unter dem Stichwort ,Ätiologie' begreift, also die Rückführung von Faktizitäten des Lebens auf einen göttlichen Ursprung in Gestalt von Sagen.52 Gen 1 ist für Herder genau in diesem Sinne exemplarisch. Es handelt sich um ein als „Schöpfungspoem" entfaltetes „Sabbatslied", also „eine symmetrische, Rhytmisch-Mnemotisch- und Poetisch wohlgeordnete Urkunde" von ,,erhabene[r] Simplicität", in der die Grundgegebenheiten des menschlichen Lebens reflektiert werden.53 Bereits am ,Parallelismus' des ersten Tagewerks konkretisiert Herder dann aber auch seine psychologische Hermeneutik. Dabei ist es erforderlich, drei Ebenen auseinander zu halten und zugleich in ihrer inneren Verwiesenheit zu beachten: a) die Ebene des ästhetischen Ausdrucks, b) die affektive Erlebnisdimension und c) schließlich die Dimension von Unbedingheitsideen - eine dreistellige Konstellation also, die bereits in den homiletischen Entwürfen präfiguriert war. Exemplarisch sind die Bilder des Schöpfungsberichts für Herder insofern, als sie sich gleichsam zu „Symbolen" verdichtet haben, welche „die erhabensten Ideen von Gott" in der menschlichen Seele entstehen lassen.54 Sinnliche Symbole haben demnach die Funktion, nichtsinnliche Ideen zu evozieren.55 Freilich sei zu deren Verständnis erforderlich, daß man sich in die Zeit und sinnliche Originalsprache der Hebräer zurücksetze, sich gleichsam auf die Morgenländische Ebene stelle, um das Erhabene des Ausdrucks zu fühlen. Offensichtlich orientiert sich Herder also auch hier am Paradigma des ästhetisch-religiösen Erhabenheitserlebnisses, entwickelt es aber am konkreten Symbol weiter. Eine kategoriale Differenzierung Kants vorwegnehmend, unterscheidet er

50

Ebd., 13f. Ebd., 38; vgl. 54; 59. 52 Hermann Gunkel, Genesis, Göttingen 1977. Vgl. dazu Christoph Bultmann, ebd., 45. 53 Ebd., 37; 38; 49; 51. 54 Ebd., 52; 31. 55 Zum Symbolbegriff und seiner Verwurzelung in der Aufklärung vgl. Andreas Kubik, Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Tübingen 2006. 51

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Roderich Barth

zu diesem Zweck zwei gegenläufige Bild- und Erlebnislogiken.S6 Zunächst werde im Medium des idotisch-erhaben Bildes ,Himmel und Erde' die unermeßliche Idee vom ganzen Weltall für das Erleben aufgeschlossen. Aus der poetisch-religiösen Reduktion folgt daher eine Schematisierung der Gottesidee gemäß einer mathematischen Größenlogik: Gott ist allgegenwärtig - oder wie Herder mit Klopstock sagen kann: „Ich erhebe mein Aug' auf, und sehe/und siehe! der Herr ist überall".57 In dem koordinierten Parallelismus ,Licht und Finsternis', seit Longin klassischer Topos erhabener Dichtung, werde die Gottesidee dann wiederum als unendliche Kraft, also im Sinne Kants als Dynamisch-Erhabenes versinnbildlicht.58 Daß aufgeklärte Frömmigkeit nicht mit plumper Rationalisierung zu verwechseln ist, wird also gerade an diesem Beispiel psychologischästhetischer Bibelhermeneutik deutlich. Wer angesichts der „durchschaudernden Bilder" und des ihnen korrelierenden religiösen Machterlebnisses an die „Newtonischen Bewegungskräfte" denke, verfehle den Sinn dieser Texte.59 Und ebenso verböten sich trinitätstheologische Rationalisierungen oder was man sonst „aus einem weither gesuchten Metaphernspiel" herausbringen könne.60 Herders psychologische Analyse der Schöpfungssymbole zielt vielmehr in eine ganz andere Richtung. In diesen Bildern kann Herder nämlich den religionspsychologischen Gegensatz der zeitgenössischen Debatte in eine affektive Synthesegestalt aufheben. Gemeint ist die Betonung von Furcht und Schrecken bei Hume auf der einen, die Gewichtung von Bewunderung und Dankbarkeit bei Lowth auf der anderen Seite. Denn Herder sieht die Pointe gerade darin, daß in der Einheit des Bildes das „Erfreuliche des Lichts" im Kontrast zur fürchterlich schaudervollen Finsternis stehe.6' Das Erhabenheitserlebnis wird so zu einer ,vermischten Empfindung' im wahrsten Sinne des Wortes - es umfaßt die abdrängenden und anziehenden Momente in einer affektiven Spannungseinheit. Charles Taylor, so hatten wir einleitend gesehen, hat die entscheidende Innovation von Herders Ausdrucksanthropologie darin erblickt, daß ihr 56 Kant wird dann in seiner Analytik des Erhabenen eine Differenzierung des Mathematischund Dynamisch-Erhabenen vornehmen, vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Karl Vorländer (Hg.), Hamburg 1974, 74-127 (§§ 23-29). 57 FHA 5,49. 58 Ebd., 50f Zur deutlichen Anspielung auf Longin vgl. den Kommentar zur Stelle von R. Smend, ebd., 1342f. 59 Ebd., 51. 60 Ebd. 61 Ebd. v.a. 53: „Nun kam der heilige Dichter eben auf die Stelle, daß Gott die alte schreckliche Nacht vertrieben, und Licht gegeben: was natürlicher, als daß er diesen Nationalbegriff, der so tief lag, weckte, und das Erfreuliche des Lichts in Gegensatz der alten kalten Finsternis fühlen ließ. Die Empfindung, daß das Licht gut sei, empfand ihm jeder nach, Hirte und Wandrer, Kind und Weib, und wer je die Schauer der Nacht gefühlet und auf den ersten Strahl des Lichts gehofft hatte."

Innerlichkeit und Ausdruck

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zufolge das Selbst seine Identität nur in Ausdrucksvollzügen realisieren könne. Im Lichte dieser These ließe sich abschließend fragen, inwiefern das skizzierte Konzept des ästhetisch-religiösen Erhabenheitserlebnisses auch eine Form von Selbstdeutung darstellt. „Ich wundre mich," - so merkt Herder im Blick auf die zeitgenössische, d.h. größtenteils noch dogmatische Exegese, a n - „wie unter unsern gewöhnlichen Erklärern niemand den Orientalismus [sc. hat] finden können".62 Licht und Finsternis, Helle und Dunkel, Tag und Nacht, das seien doch nichts anderes als „natürliche Symbole von Gut und Böse".63 Die Seele legt sich somit in ihren bereits auf einer vorsprachlichen Ebene anhebenden religiösen Ausdrucksvollzügen immer zugleich auch ihre eigenen Bedürfnisse und Abhängigkeiten aus. Im Medium religiöser Symbole gewahre das Erleben daher nicht nur eine göttliche Allmacht, sondern es kommt zugleich auch eine fundamentale Wertungsdifferenz darin zur affektiv vermittelten Darstellung. Dieser anthropologisch allgemeine Sachverhalt gilt für das religiöse Gefühl im besonderen Maße - es ist das Gefühl eines Getragenseins durch den erhabenen Herrn über das Wohl und Wehe unseres Lebens.

3. Aufgeklärte Frömmigkeit im Anschluß an Herder Die zwei Schlaglichter auf den jungen Herder - auf sein Verständnis religiöser Mitteilung einerseits, auf seine psychologisch-ästhetische Hermeneutik religiöser Symbole andererseits - sollten zumindest ein Profil aufgeklärter Frömmigkeit erkennbar werden lassen. Entscheidend dabei ist ihr anthropologischer Ort: die menschliche Seele. Wenn für uns heute die beiden Begriffe Aufklärung und Frömmigkeit nicht zusammenklingen, so ist dies nicht zuletzt eine Spätfolge davon, daß die Theologie des letzten Jahrhunderts diesen Begriff und seine reichen Frömmigkeitstraditionen programmatisch ausgeblendet hat.64 Unter Seele wird jedenfalls in den Texten Herders eine sich vornehmlich in Erlebnissen manifestierende Innerlichkeit verstanden.65 Von ihren religiösen Ideen her, die sie sich zunächst in spannungsvollen Kontraststimmungen symbolisch auslegt, kann ihr dann eine ganz eigene Tiefendimension zuwachsen. Als Innerlichkeit hat diese Spiritualität aber

62

Ebd., 52. Ebd. 64 Vgl. dazu Roderich Barth, Seele nach der Aufklärung. Studien zu Herder und Harnack, Tübingen 2011, v.a. 21-39. 65 Zur Transformation des Seelenbegriffs in der Aufklärung vgl. Roderich Barth, Von Wolffs ,Psychologia empirica' zu Herders ,Psychologie aus Bildwörtern'. Beobachtungen zur Umformung des Seelenbegriffs in der Aufklärung, in: Über die Seele, K. Crone/R. Schnepf/J. Stolzenberg (Hg.), Frankfurt a.M. 2010, 174-209. 63

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Roderich Barth

weder akosmistische noch esoterische Neigungen. Sie bleibt auf die konkrete Lebenspraxis des Menschen bezogen und ist bereits an sich selbst ein Ausdruckshandeln. Ganz natürlich setzt sie sich daher fort in Mitteilung und Kommunikation. In individuellen Ausdrucksgestalten ebenso wie in den Symbolen der geschichtlichen Religion findet sie Deuteschemata, in denen sie sich selbst in ihrem Anderen auslegen und aufklären kann. Vor allem die Prägnanz und Plastizität ästhetischer Darstellungen entspricht nach Herder den religiösen Erlebnissen und ihren transzendenten Gehalten. In Gestalt einer affektiven Deutungsschicht vermag eine religiöse Ausdruckskultur nicht zuletzt auch unser humanes Ethos zu bereichern, da ihr so eine motivationale Kraft zuwächst, welche die diskursiven Reflexionsvollzüge ergänzt. Frömmigkeit in diesem Sinne ist insgesamt individuell und unvertretbar. Insofern sperrt sie sich gegen jede Form von Uniformität und Bevormundung und repräsentiert vielmehr ein undogmatisches Christentum, ohne dabei gedanken- oder reflexionslos zu sein. Sicherlich kann Theologie als Wissenschaft nicht über die Aktualität dieses oder eines anderen Frömmigkeitstypus entscheiden. Wenn sie ihn jedoch im Sinne einer reflexiven Vergegenwärtigung befördern wollte, so hätte sie wieder an die Anthropologie der Aufklärung und ihre Leitbegriffe anzuschließen. Die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts hat noch um die epochale Bedeutung Herders gewußt.66 Auch der letzte große anthropologische Entwurf von theologischer Seite nimmt Herder zum Ausgangspunkt, allerdings schon mit einer verengenden Fehlinterpretation.67 Gerade in jüngster Zeit zeigt sich eine Renaissance des für die Anthropologie der Aufklärung schlechterdings zentralen Gefühlsbegriffs, wobei jedoch dabei die genuin religiösen Aspekte kaum zur Sprache kommen.68 Die programmatische Ausblendung der psychologischen Dimension des religiösen Bewußtseins in maßgeblichen Teilen der Theologie des 20. Jahrhunderts wird dazu nicht unerheblich beigetragen haben. Die landläufigen Vorurteile gegenüber der Aufklärung sowie das Außerachtlassen aufgeklärter Fröm66 Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 1986, 82-85; 257ff. 67 Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 4 0 71. Die Grundthese, daß bei Herder „der Gedanke der Gottebenbildlichkeit die Funktion" habe, „die Unfertigkeit der Humanität des Menschen so zu beschreiben, daß dabei zugleich der Schwierigkeit Rechnung getragen wird, daß die Verwirklichung dieser Bestimmung nicht als die Tat dessen gedacht werden kann, in dessen Leben sie erst Realität gewinnen soll" (ebd., 57), wird nicht belegt und läßt sich auch nicht belegen. Sie verdankt sich vielmehr einer theologischen Positionalität des 20. Jahrhunderts. Auch Pannenbergs Orientierung an den beiden zentralen Themen der dogmatischen Anthropologie, nämlich Gottebenbildlichkeit und Sünde, bedarf im Lichte Herders und der biblischen Anthropologie einer grundlegenden Revision. 68

Vgl. Christoph Demmerling/Hilge Landweer (Hg.), Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007; Sabine A. Döring (Hg.), Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M. 2009.

Innerlichkeit und Ausdruck

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migkeit runden dieses Bild ab. „Die Alten wußten das wohl: Frömmigkeit nannten sie all diese Gefühle, und bezogen sie unmittelbar auf die Religion, deren edelster Teil sie ihnen waren" - so mahnte schon der junge Schleiermacher die Gebildeten seiner Zeit.69 Gemeint ist die Sequenz von Ehrfurcht, Demut, Liebe, Dankbarkeit, Mitleid und Reue, also genau das, was der junge Herder als ,Triebwerk des Glaubens' bezeichnen konnte. Auch in diesem Sinne verdient also die aufgeklärte Frömmigkeit und ihre Theologie der Gefühle als neuzeitliche Umformungsgestalt des Christentums gesteigerte Aufmerksamkeit.

69 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Hans-Joachim Rothert (Hg.), Hamburg 1958, 111 (Paginierung der Originalausgabe).

Christof Ellsiepen

Frömmigkeit als Handlungsimpuls Zum Verhältnis von Religion und Ethik nach Schleiermachers Christlicher

Sittenlehre

„Das religiöse Gefühl ist immer praktisch thätig gewesen."1 Mit diesem lapidaren Satz notiert Schleiermacher 1809 in einem Vorlesungsmanuskript Grundlage und Quelle theologischer Ethik als der Wissenschaft, die sich der „Beschreibung des christlichen Selbstbewußtseins, sofern es Impuls ist"2, widmet. Beurteilt man diese Aussage vom frühen Schleiermacher der Reden her, der der Religion eine „eigne Provinz im Gemüthe" sichern wollte und sie in einen „schneidenden Gegensatz"3 zu „Metaphysik und Moral" gestellt hatte, oder vom Dogmatiker Schleiermacher her, der die Frömmigkeit in der Glaubenslehre als „weder ein Wissen noch ein Thun"4 definiert, so mag vorerst verwundern, dass dem religiösen Gefühl eine praktische Seite wesentlich und es daher als Handlungsimpuls ethischer Reflexion zugänglich sein soll. Der Sache nach knüpft Schleiermacher an die reformatorische5, aufklärerische und pietistische Grundüberzeugung an, dass Glaube und Leben nicht voneinander zu trennen seien. So überrascht es nicht, dass in der Glaubenslehre das Christentum als eine „teleologische" Religion bezeichnet wird, in 1

Schleiermacher, Friedrich: Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Sämmtliche Werke 1/12, Ludwig Jonas (Hg.), Berlin 1843, Berlin 2 1884, ND der 2. Aufl. von 1884 Waltrop 1999 [Vorlesungsnachschriften von 1822/23 und 1826/27 (= ChS), extrapaginierte Manuskripte von 1809, 1822/23, 1828, 1831 (= ChS Beil. A/B/C/D)], hier ChS Beil. A § 32, 11. Die Christliche Sitte harrt im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe (KGA) einer den Vorlesungen über die Dialektik entsprechenden Herausgabe. Eine solche kritische Edition der Manuskripte wie der verfügbaren Nachschriften ist ein dringendes Desiderat. 2

ChS 35. Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), KGA 1/2, Günter Meckenstock (Hg.), Berlin/New York 1984, 187-326, hier 211, Z. 23 f. 4 Schleiermacher, Friedrich: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Rolf Schäfer (Hg.), KGA 1/13.1-2, Berlin 2003 [= CG 2 ], hier § 3, 20. 5 So schreibt Luther: „der glaub gleych wie er frum [sc. gerecht] macht/ßo macht er auch gutte werck" (Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: Luthers Werke, Otto Clemen (Hg.), Berlin 1959, Bd. 2, 22, Z.17; „Sih also fleusset auß dem glauben die lieb und lust zu gott/und auß der lieb/ein frey/willig/frolich leben dem nehsten zu dienen umbsonst." (ebd., 25, Z.17). 3

Frömmigkeit als Handlungsimpuls

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welcher ethische Motive („Beziehung auf die sittliche Aufgabe" 6 ) den Grundtypus religiöser Momente bilden.7 Schleiermacher differenziert Religion und Ethik, setzt aber zugleich deren engste Zusammengehörigkeit, ja Korrelation voraus, wenn er Frömmigkeit als eigenständigen Handlungsimpuls erklärt. Dies soll im Folgenden in drei Schritten gezeigt werden. Zunächst ist durch eine Interpretation der einschlägigen Abschnitte aus der Glaubenslehre zu klären, inwiefern religiöses Bewusstsein sich als mit einem Handlungsimpuls kompatibel erweist (1). Sodann ist die Struktur christlicher Frömmigkeit als Handlungsimpuls anhand der Darlegungen aus Schleiermachers Christlicher Sitte aufzuzeigen (2). Und schließlich sollen die Folgerungen skizziert werden, die sich aus dieser Struktur für die Handlungsformen christlichen Lebens nach Schleiermacher ergeben (3).

1. Frömmigkeit als Lebensmoment Die Einleitung zu Schleiermachers Glaubenslehre hat schon immer die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil in ihr vor der Erörterung materialdogmatischer Glaubenssätze die grundlegende Frage nach dem Wesen insbesondere der christlichen Religion geklärt wird. Es ist dabei nicht unbedeutend, dass die einschlägigen Paragraphen (CG 2 §§ 3-6) wissenschaftssystematisch der Philosophischen Ethik angehören und als sog. „Lehnsätze" eingeführt werden. Die dem zugrunde liegende These ist, dass Religion („Frömmigkeit") als menschliches Lebenselement 8 eigene Handlungsmodi mit einer eigenen Art humaner Vergemeinschaftung, der kirchlichen, bildet: Die Funktionen einer Kirche wiederum sind nichts anderes als „Erhalten, Ordnen und Fördern der Frömmigkeit" 9 . Beide, Frömmigkeit und kirchliche Gemeinschaft, weisen also aufeinander zurück. Die Frömmigkeit kann ohne die Gemeinschaft, deren Lebenselement sie ist, nicht verständlich gemacht werden. Und die religiöse Gemeinschaft ist nur zu verstehen, wenn deren humanes Grundmoment, die Religion, verständlich wird. Die subjektivitätstheoretischen Differenzierungen in Wissen, Tun und Fühlen und die entsprechende Verortung der Religion dienen dazu, dieses Grundmoment ausfindig zu machen und zu beschreiben. 6

CG 2 § 9, 77, Z.9; vgl. § 11 Leitsatz, 93, Z. 15. Vgl. Birkner, Hans-Joachim: Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 71. 8 Vgl. dazu Ellsiepen, Christof: Der Begriff des Lebens bei Friedrich Schleiermacher, in: Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 1, Petra Bahr/Stephan Schaede (Hg.), Tübingen 2009, 487-507. 9 CG 2 § 3.1, 22, Z.lf. 7

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Christof Ellsiepen

Von dieser Anlage her ist bereits deutlich, dass Schleiermachers Bestimmung der Religion die Beziehung auf die ethische Lebenswirklichkeit immer mit im Blick haben muss, weil sie selbst einer (philosophisch-) ethischen Fragestellung entspringt. Sehen wir aber nun, inwiefern diese Bestimmung der Religion mit dem Ansatz einer religiösen Ethik vereinbar ist, d.h. inwiefern es mit dem Wesen der Frömmigkeit nach Schleiermacher tatsächlich kompatibel ist, selbst Handlungsmotiv zu sein. Die Argumentation lässt sich als Syllogismus zusammenfassen 10 : Das Gefühl vermittelt den Übergang zwischen Momenten des Denkens und des Wollens und fungiert so als Beweggrund für Wissen und Tun (major). Die Frömmigkeit hat ihren Sitz im Gefühl (minor). Also hat auch die Frömmigkeit die Funktion, den Übergang zwischen jenen Momenten zu vermitteln und es kommt ihr zu, Wissen oder Tun oder beides anzuregen (conclusio). Zur subjektivitätstheoretischen Erklärung des Obersatzes sind neben der Glaubenslehre die präziseren Bestimmungen in der Dialektik" Schleiermachers heranzuziehen: Das Gefühl wird bestimmt als „unmittelbares Selbstbewusstsein" 12 . Darin steckt eine dreifache Abgrenzung: Als Bewusstsein ist es von unbewussten Zuständen unterschieden, als Selbstbewusstsein vom vergegenständlichenden Objektbewusstsein, und schließlich als unmittelbares Selbstbewusstsein von der eine Reflexion voraussetzenden, vergegenständlichenden Vorstellung seiner selbst. Nun geht es um den Zusammenhang und die Verbindung von diesem reinen Zuständlichkeitsbewusstsein, das durch den Gegensatz von Lust und Unlust die Bestimmtheit des Subjekts widerspiegelt, mit den beiden Richtungen des Objektbewusstseins, einerseits mit dem deskriptiven (Denken), andererseits mit dem präskriptiven Vorstellen (Wollen). 13 Schleiermachers These ist, dass weder die dem Wissen zugrunde liegenden Akte des Denkens direkt in die dem Tun zugrunde liegenden Akte des Wollens übergehen noch umgekehrt, sondern dass zwischen beide das Gefühl als vermittelndes Übergangsmoment tritt, das selbst keinen objektiven Inhalt hat.14 Jedoch vermag es aufgrund seiner Bestimmtheit durch Lust (Bewusstsein einer leichten Äußerung = „Förderung" der Lebenskraft) und Unlust (Bewusstsein einer schweren Äußerung 10

CG 2 § 3.4, 26f. Schleiermacher, Friedrich: Vorlesungen über die Dialektik, KGA 1/10.1+2, Andreas Arndt (Hg.), Berlin/New York 2002, Teilband 1 Manuskripte [DialM], Teilband 2 Nachschriften [DialN]. Ich gebe jeweils in Klammer auch die Jahreszahl von Manuskript oder Nachschrift an. 11

12

CG 2 § 3 Leitsatz und § 3.2, 20.22-24. Zum folgenden vgl. auch DialM (1822), 266f. Vgl. DialM § 215 (1814/15), 142f; DialM (1822), 266. 268. 14 DialM (1831), 334: „Jedes abbildliche Denken ist Bewußtsein von etwas jedes vorbildliche auch. Der Uebergang als solcher ist also Bewußtsein von Null". Vgl. dazu Barth, Ulrich: Der Letztbegründungsgang der Dialektik. Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 353-385, hier 367-371. 13

Frömmigkeit als Handlungsimpuls

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= „Hemmung" der Lebenskraft) den nachfolgenden Momenten von Objektbewusstsein die Richtung aufzuprägen und somit als „Gegenstand" 15 des Wissens bzw. als Triebfeder und „Antrieb" 16 des Handelns zu fungieren. 17 In unserem Zusammenhang ist insbesondere festzuhalten, dass nach Schleiermacher jedem Antrieb zum Handeln „eine Bestimmtheit des Selbstbewußtseins, sei es nun Lust oder Unlust, zum Grunde liegt"18. Das unmittelbare Selbstbewusstsein ist gegenüber dem Willen primär: Es ist „vor allem Willen, so daß aller Wille davon ausgeht" 19 . Eine religiöse Dimension des Handelns müsste sich also aus einer religiösen Dimension des unmittelbaren Selbstbewusstseins ergeben. Dass nun die Frömmigkeit ihren Sitz im Gefühl habe, der Untersatz im oben dargestellten Syllogismus, ist deshalb auch im Blick auf den Ansatz einer religiösen Ethik entscheidend. Einschlägig ist der Leitsatz von § 3 der Glaubenslehre·. „Die Frömmigkeit [...] ist rein für sich betrachtet [...] eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins". 20 Betrachtet man die Begründungsgänge, die Schleiermacher hierfür unternimmt, so fällt auf, dass er sein Beweisziel darauf ausrichtet, das Gefühl als das Wesentliche und Konstitutive der Frömmigkeit darzustellen. 21 Das bedeutet aber gerade nicht, dass die Frömmigkeit, die „rein für sich betrachtet" wohl ihren Sitz im Gefühl hat, nicht auch mit dem Denken und Wollen verbunden wäre: Die polemischen Erörterungen, ob Religion nicht doch im Wissen oder im Tun bestehen könne, „führen also auf denselben Punkt hin, daß es Wissen und Thun giebt zur Frömmigkeit gehörig, daß aber keines von beiden das Wesen derselben ausmacht, sondern nur sofern gehören sie ihr an, als das [sc. religiös] erregte Gefühl dann in einem es fixierenden

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CG 2 § 3.4, 29, Z. 5. CG 2 § 3.4, 29, Z. 20. 17 Vgl. Barth (wie Anm. 14), 366f: „Zugleich ist es [sc. das Gefühl] insofern auf jene beiden anderen Funktionen bezogen, als es diejenige Bewußtseinsform verkörpert, worin sich ein Subjekt seines Zustande im Wechsel zwischen Denken und Wollen inne wird. Eben deshalb vermag es auch zwischen jenen konträren Formen mentaler Tätigkeit zu vermitteln. Das Gefühl verknüpft Denken und Wollen, indem es den Übergang zwischen ihnen stiftet." 18 CG 2 § 3.4, 29, Z. 20. 19 So in der Nachschrift von Johann Hinrich Wichern zur Dogmatik-Vorlesung von 1830, CG 2 , KGA 1/13.1,25. 20 CG 2 § 3 Leitsatz, 19f. 21 Die Plausibilität hängt freilich nicht an der apagogischen Beweisführung (vgl. CG 2 § 3.3, 24, Z. 7ff; vgl. Nachschrift Wichern, ebd., 20), sondern an der positiven Bestimmung der Religion als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit in § 4. Vgl. dazu neben der Untersuchung von Ulrich Barth (Anm. 14) auch Cramer, Konrad, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewusstseins, in: D. Lange (Hg.), Friedrich Schleiermacher 1768-1834. Theologe - Philosoph - Pädagoge, Göttingen 1985, 129-162. 16

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Denken zur Ruhe kommt, dann in ein es aussprechendes Handeln sich ergießt."22 Die zuletzt anklingende Folgerung, dass die Frömmigkeit als Gefühl Basis eines religiös geprägten Tuns sein könne und müsse, stellen wir nun anhand der Erörterungen der Christlichen Sitte dar.

2. Christlich-religiöses Bewusstsein als Handlungsimpuls Wie in der Dogmatik, so erläutert Schleiermacher auch in der theologischen Ethik die Grundlagen der christlichen Religion in einer vorgeschalteten Einleitung. In einem Prozess definitorischer Anreicherung und Spezifikation wird das Wesentliche zuerst des Religiösen und schließlich des Christlich-Religiösen bestimmt. In beiden Fällen sind die Aussagen über Religion im Allgemeinen dazu bestimmt, die christliche Religion als humane auszuweisen.23 Freilich darf dies nicht so verstanden werden, als wolle Schleiermacher aus einem allgemeinen Religionsbegriff die Bestimmungen christlicher Lehre entwickeln. Vielmehr ist das organisierende Prinzip der Dogmatik wie der theologischen Ethik die Wesensbestimmung der christlichen Religion.24 Die Glaubenslehre betrachtet diese im Blick darauf, welche Glaubenssätze, die Sittenlehre hingegen, welche Antriebe zu Handlungen sich aus ihr entwickeln lassen.25 So ist der vorausgesetzte und zu beschreibende Gegenstand der Christlichen Sitte das christlich-religiöse Selbstbewusstsein als Handlungsimpuls.26 Aus der Beschreibung desselben entwickelt Schleiermacher die Gliederung für die Darstellung der theologischen Ethik.27 Diese Darlegungen, inwiefern das christliche Grundgefühl Impuls sei, können so als Herzstück von Schleiermachers theologischer Ethik bezeichnet werden.28 Die allgemeine Erfahrung, dass ,jede Thätigkeit einen Mangel voraussetzt" (ChS 37) dient Schleiermacher als Basis, der Frage näher zu kom22 CG 2 § 3.4, 29, Z. 25-29. Vgl. Marginalie 84 (KGA 1/7.3, 25): „Es ist dem Gefühl wesentlich Wissen und Thun zu erregen". 23 Vgl. Birkner (wie Anm. 7), 87-93. 24 Vgl. CG1 § 1 . 3 2 , 9 . 112-115; ChS Beil. A § 2 7 , 9. 25 CG' § 32.2.; CG 2 § 26.1 ; ChS 23f (auch VL 1826/27). 26 ChS32f35.59. 27 ChS Beil. A § 42, 14: „Das Gerüst der Darstellung muß ausgehen von dem mannigfaltigen, welches sich in der Anschauung des christlichen Gefühls als Prinzip der Handlungen nachweisen läßt." 28 ChS 35: „Ist nun also die christliche Sittenlehre Beschreibung des christlichen Selbstbewußtseins, sofern es Impuls ist: so fragt sich, wie wird es denn Impuls, und wie geht es in Handlung über? denn daraus muß sich uns nun alles entwikkeln."

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men, inwiefern aus einem religiösen Zustand eine Tätigkeit motiviert sein könne: Es muss mit dem religiösen Moment selbst ein Hinweis auf einen Mangel gegeben sein, woraus der „innere Drang" (ebd.) entsteht, diesem entgegenzuwirken. Aus einem vollkommenen Zustand nämlich könnte kein Bedürfnis zur tätigen Veränderung verständlich gemacht werden. Wenn nun Schleiermacher das Bewusstsein der Gemeinschaft mit Gott als Seligkeit bezeichnet29, so ist klar, dass vollkommene Seligkeit keinen Impuls zur Handlung enthält und umgekehrt die Seligkeit niemals vollkommen sein kann, solange aus ihr Handlungsimpulse erwachsen. Das Grundgefuhl des Christen ist aber nun weder vollkommene Seligkeit noch vollständige Negation derselben, sondern ein Zustand, in welchem das Gottesbewusstsein zwar schon „angesprochen" (ChS 40) ist, aber es noch keineswegs jene „stetige Kräftigkeit" 30 erreicht hat, alle Lebensbereiche zu durchdringen, wie sie allein Christus zuzuschreiben wäre.31 Vielmehr steht ein Christ durch dieses Schon-Angesprochensein und Noch-NichtVollendetsein in einem dynamischen Prozess, so dass „die Gemeinschaft mit Gott in Christo eine ursprüngliche ist und vollendete, in uns dagegen eine von der seinigen abgeleitete und in der beständigen Annäherung an die seinige werdende" (ChS 36, Hvh. C.E.). Die Gemeinschaft mit Gott ist bei uns einer geschichtlichen, dynamischen Entwicklung unterworfen, ist „werdende Seeligkeit"32. Diese werdende Seligkeit „manifestirt" sich in uns in dem „Wechsel von Lust und Unlust in Beziehung auf dasjenige, was das Maaß der Seeligkeit ist" (ChS 39f). Das bedeutet, dass es im christlichen Selbstbewusstsein nicht nur Lust und Unlust in Bezug auf die sinnliche Bestimmtheit des menschlichen Lebens, sondern auch in Bezug auf das religiöse Leben selbst, auf die „höhere Lebensstufe" (ChS 41) gibt. Entscheidend dabei ist, dass sich die sinnliche Bestimmtheit in Lust/Unlust keineswegs entsprechend in der religiösen Bestimmtheit abbildet. Vielmehr bezieht sich der Gegensatz - wie in der Glaubenslehre breit entfaltet - „auf nichts anderes, 29

ChS 36; vgl. ChS Beil. A § 44f, 15: „ § 44 Das eigenthümliche in dem Leben des Christen, sein Grundzustand, ist Gemeinschaft mit Gott durch Christum. [...] § 45 Das Bewusstsein dieses Grundzustandes als Gefühl ist Seeligkeit. Seeligkeit nämlich ist das absolute Sein als Bewußtsein gedacht, also auch das Sein des göttlichen Princips in dem Menschen." So der terminus technicus aus der Glaubenslehre, vgl. CG 2 § 94, KGA 1/13.2, 52: „Der Erlöser ist sonach allen Menschen gleich vermöge der Selbigkeit der menschlichen Natur, von Allen aber unterschieden durch die stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins, welche ein eigentliches Sein Gottes in ihm war." 31 Dem Einwand, Christus könne im Zustand absoluter Seligkeit auch keinen Impuls gehabt haben, diese an die Menschen mitzuteilen, der seine Urbildchristologie im Kern treffen würde, begegnet Schleiermacher durch die Argumentation, Christus habe diesen Mangel nur „sympathetisch" im „erweiterten Selbstbewußtsein" im Sinne einer Teilnahme am „Gemeingefuhl" gehabt, nicht aber persönlich (ChS 38). 32

ChS 38; vgl. CG 2 § 87.1, KGA 1/13.2, 19.

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als wie sich beide Stufen des Selbstbewußtseins zu einander verhalten in der Einheit des Momentes."33 Nicht soll „der Siz der niederen Lebenspotenz [...] durch die höhere aufgehoben oder zerstört werden, sondern nur die Differenz zwischen beiden" (ChS 42). Es geht mithin um einen Wechsel in den Dominanzverhältnissen zwischen sinnlichem und religiösem Leben. Die Richtung, in welcher dieses Dominanzverhältnis sich entwickelt, sei es vom sinnlichen zum religiösen oder umgekehrt, wird als Lust oder Unlust im höheren, religiösen Leben bewusst. Das darin gleichbleibende „Maaß der Seeligkeit" ist das „constante Bewußtsein einer höheren Lebenspotenz überhaupt" (ChS 41), welche einen „Anspruch an die Gemeinschaft mit Gott" setzt und zugleich diese Gemeinschaft partiell verwirklicht. Nur wo wir uns also der Gemeinschaft mit Gott überhaupt bewusst werden, sind wir auch dem Wechsel von Lust und Unlust im religiösen Leben unterworfen. Freilich sind wir auch nie ohne diesen Gegensatz, befinden uns im religiösen Leben immer in einem „Mehr und Weniger", im Gebiet des „ab- und zunehmenden, des wechselnden, des oscillirenden" (ChS 40): In jedem wirklichen Moment „werdender Seeligkeit" finden sich „Lust und Unlust als gleich wesentliche Factoren": Lust, „sofern die begonnene Gemeinschaft mit Gott verglichen wird mit ihrer Negation", Unlust, „sofern sie verglichen wird mit der absoluten Seeligkeit" (ChS 41). dergleichen' ist hier wohl nicht als mentale Operation zu verstehen - wodurch Schleiermacher aus dem Begriff des Gefühls herausgehen würde - , sondern als Erklärung der Richtung im polar-konträren Gegensatz34 zwischen sinnlicher und religiöser Bestimmtheit: Lust und Unlust im religiösen Leben bezeichnen jeweils ein Überwiegen: Sei es - im Fall der Lust - das Überwiegen des Bewusstseins, sich der absoluten Seeligkeit anzunähern, über das, sich der sinnlichen Bestimmtheit nicht entziehen zu können, sei es - im Fall der Unlust - das Überwiegen der Erinnerung an die „Negation der Gemeinschaft mit Gott" über jenes Bewusstsein der Annäherung.35 Diese Feststellung, dass unser religiöses Bewusstsein als „werdende Seeligkeit" dem Gegensatz von Lust und Unlust unterworfen ist und also in ihm weder vollkommene Gemeinschaft mit Gott noch völlige Negation

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CG2 § 5.3, 49, Z.10. Zu Schleiermachers Figur des relativen Gegensatzes vgl. Ellsiepen: Der Begriff des Lebens (wie Anm. 8), 489. 35 Vgl. ChS 41f: „Wenn wir also das Leben des christlich frommen, aber bloß von der Seite des Selbstbewußtseins aus, und von dem eigentlichen Handeln abstrahirend, beschreiben wollen: so wird die beständige Größe darin eben diese Freude an dem Herrn sein, die aber momentan empfunden wird als Lust, sofern der Inhalt des Moments überwiegend empfunden wird als Annäherung an die absolute Seeligkeit, und als Unlust, sofern er überwiegend an die Negation der Gemeinschaft mit Gott erinnert." (Hvhg. C.E.) 34

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derselben vorkommen kann, bildet zugleich den Ansatzpunkt fur Schleiermachers theologische Ethik: Sezen wir den Anspruch an die Gemeinschaft mit Gott und die Realität derselben, zu der sich aber jeder Moment, verglichen mit der Idee der Gemeinschaft mit Gott an sich, immer noch als ein nicht erfüllter verhält: so ist er im wirklichen Leben nicht denkbar, ohne daß ein Impuls mitgedacht werde, die den Moment noch nicht erfüllende aber angesprochene Gemeinschaft mit Gott zu realisiren.36

Der Mangel, der einen Handlungsimpuls hervorruft, liegt in der Differenz zwischen der Idee der Gemeinschaft mit Gott, wie sie uns durch die partielle Gemeinschaft zuteil wird, und deren nur relativer und teilweiser Erfüllung. Sobald also überhaupt religiöses Bewusstsein angefangen hat, zeitigt die Idee der Gemeinschaft mit Gott den „Anspruch", diese Gemeinschaft immer mehr und immer kontinuierlicher zu verwirklichen. Das religiöse Bewusstsein selbst erhebt den Anspruch, immer mehr zur ,,bestimmende[n] Kraft" (ChS 42) über das sinnliche Gefühl zu werden und also das ganze Leben als religiöses Leben zu gestalten. Zwischen dem idealiter gedachten Maximum der absoluten Seligkeit und dem ebenfalls bloß gedachten Minimum des völligen Fehlens von Religion im Menschen, ist daher „kein Moment denkbar [...], in welchem nicht das religiöse Selbstbewußtsein nothwendig Impuls werden müßte" (ChS 43).

3. Handlungsformen christlichen Lebens Dass nun notwendig ein Impuls zum Handeln mit dem christlich-religiösen Selbstbewusstsein verbunden ist, legt den Grund für eine christliche Ethik, beantwortet aber noch nicht die Frage, welcher Art die daraus folgenden Handlungen sind. Statt hier traditionelle Handlungsfelder oder christliche Motive der Ethik abzurufen, entwickelt Schleiermacher ein eigenes Gliederungsschema der christlichen Ethik. Es ist der Dogmatik ganz parallel gestaltet, weil es aus der Analyse des beiden Disziplinen zugrunde liegenden christlichen Selbstbewusstseins entwickelt wird. Der Ausgangspunkt für den Aufbau der Christlichen Sitte ist die Feststellung, dass der sich aus dem christlichen Grundgefühl der „werdenden Seeligkeit" ergebende Impuls keineswegs immer der gleiche ist.37 Vielmehr unterscheidet er sich je nach dem, ob das religiöse Selbstbewusstsein als 36 37

ChS 42f. Vgl. ChS 43.

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Unlust oder Lust bestimmt ist bzw. ob unabhängig von diesem Gegensatz die Wirklichkeit der Gemeinschaft mit Gott selbst das Impulsgebende ist. Daraus ergeben sich als die drei Formen christlicher Handlung das „reinigende" bzw. „wiederherstellende" Handeln, das „verbreitende" bzw. „erweiternde" Handeln, sowie das „darstellende" Handeln, welche Schleiermacher im Laufe der Vorlesungsjahre in wechselnder Reihenfolge vorträgt.38 Wegen des relativen Charakters des Gegensatzes im Selbstbewusstsein als jeweiliges Überwiegen der einen oder anderen Richtung ergibt sich keine zwingende Vorordnung einer Handlungsform vor der anderen. Vielmehr „wollte man auch nur eine ganz durchführen, [müsste] man nothwendig die andern mit durchführen [...], um auch das aufzunehmen, worin jene selbst als Minimum enthalten ist" (ChS 55). Der Rückgang auf den Gegensatz von Lust und Unlust im religiösen Selbstbewusstsein einerseits und die Indifferenz beider Richtungen andererseits liegt auch dem Aufbau der Glaubenslehre zugrunde, indem diese Sünden- und Gnadenbewusstsein als die beiden Seiten des christlichen Selbstbewusstseins herausstellt (die zwei Seiten von Teil II) und deren Indifferenz als christliches Grundgefühl unabhängig von jenem Gegensatz beschreibt (Teil I). Die Gliederungssystematik der Christlichen Sitte sollte daher keineswegs mit dem völlig anders hergeleiteten Viererschema der Philosophischen Ethik zu harmonisieren versucht werden.39 Vielmehr ist ihr Aufbau analog zur Glaubenslehre aus der Analyse der Struktur des christlich-religiösen Selbstbewusstseins zu verstehen und findet dort ihr Gliederungsprinzip.

3.1 Wiederherstellendes Handeln - der kritische Reformimpuls christlicher Religion Beginnen wir gemäß der von Schleiermacher zuletzt favorisierten Reihenfolge mit dem „wiederherstellenden", bzw. wie Schleiermacher zunächst sagt: „reinigenden Handeln".40 Es erhält seinen Impuls aus einem als Unlust bestimmten christlich-religiösen Selbstbewusstsein, d.h. es überwiegt in dem Moment dessen Richtung, dem von der Gemeinschaft mit Gott ausgehenden Anspruch nicht oder nicht ganz zu entsprechen. Es ist ein „Gefühl [...] vom Gehemmtsein des höheren Lebens" (ChS 44). Die Hemmung zeigt 38 Von 1809-1820 hält sich Schleiermacher an folgendes Schema: I Darstellendes Handeln, II. 1 Verbreitendes Handeln, II.2 Reinigendes Handeln. Ab der Vorlesung zum WS 1822/23 stellt er um: 1.1 Reinigendes Handeln, 1.2 Verbreitendes Handeln, II Darstellendes Handeln. Vgl. Vorwort des Herausgebers, in: SW 1/12, VI und ChS Beil. B, 102. 39 So Jan Röhls, in: Ders., Geschichte der Ethik, Tübingen 2 1999, 465f. 40 ChS 43-45.97-290; ChS Beil. A § 54, 18f; Beil. B, 102-127.

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sich darin, dass das sinnliche, nicht-religiöse Leben stärker den Moment erfüllt als das religiöse Bewusstsein. Entwicklungspsychologisch erklärt Schleiermacher dies durch das relativ späte Auftreten der Religion im Leben des einzelnen Menschen, so dass „vor dem Eintreten der höheren die niedere Lebenspotenz immer schon im Besiz aller Impulse gewesen ist" (ebd.) und dieser Vorsprung sich durch Gewohnheit fortschreibt. Der Impuls, der nun aus einem solchermaßen als religiöse Unlust bestimmten Gefühl hervorgeht, ist „das Bestreben, sich nicht hemmen zu lassen" (ebd.) als die „Tendenz, diese Resistenz [sc. der sinnlichen Lebenspotenz] aufzuheben". 41 „Reinigend" ist ein daraus folgendes Handeln insofern, als es darauf ausgerichtet ist, die sinnliche Bestimmtheit so zu beeinflussen, dass sie fortan die Entwicklung des religiösen Bewusstseins nicht mehr hemmt. Treffender, weil das Positive dieses Handlungstypus hervorhebend, scheint mir der von Schleiermacher später vorgezogene Ausdruck des „wiederherstellenden Handelns". Dieses Wiederherstellen ist nicht in einem geschichtlichen Sinn zu verstehen als Rückkehr zu einem vormaligen Zustand. Vielmehr soll darin „die verlezte Idee des Verhältnisses zwischen der höheren und der niederen Lebenspotenz hergestellt" (ChS 44) werden.42 Es geht also darum, dem religiösen Selbstbewusstsein dadurch zur Erfüllung des Moments zu verhelfen, dass sinnlich widerstrebende Momente in ihrer Relativität bewusst gemacht werden und damit die dominierende Stellung verlieren. Die wiederherzustellende Idee ist die, dass das religiöse Bewusstsein sich mit allen sinnlichen Bestimmtheiten und folglich mit allen Bereichen des Lebens verbinden kann und soll. Ist dies nicht der Fall und wird dies im religiösen Gefühl als Unlust bewusst, so ergibt sich der Impuls, darauf hin zu arbeiten, diese Universalität des religiösen Anspruchs auch in solchen Lebensbereichen einzubringen und durchzusetzen, die sich dem zunächst zu entziehen suchen. Aus dem ganzen Feld des wiederherstellenden Handelns, in welchem Schleiermacher eine innere Sphäre des kirchlichen Handelns auf sich selbst (ChS 100-217) von der äußeren Sphäre christlicher Einwirkung in Familie („Hauszucht", ChS 219-241), Staat (ChS 241-273) und Völkergemeinschaft (ChS 273-290) unterscheidet, will ich hier exemplarisch die sog. „Kirchenverbesserung" herausgreifen und daran einige Hauptmerkmale dieser Handlungsform aufzeigen. 41

ChS Beil. A § 54, 19. Vgl. ChS 45: „Nicht als sollte im besonderen ein Zustand wiederhergestellt werden, der schon einmal da war, sondern das soll wiederhergestellt werden, was mit dem Anfange des christlich sittlichen Lebens im allgemeinen gesezt ist, dieses, daß der Geist das Fleisch als seinen Organismus beherrscht, wenngleich die Renitenz des Fleisches im einzelnen noch niemals überwunden war." 42

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Kirchenverbesserung (ChS 178-217) ist nach Schleiermacher das Handeln nicht des Ganzen der Kirche auf Einzelne („Kirchenzucht", ChS 140— 177), sondern umgekehrt das Handeln einzelner auf das Ganze der Kirche, um in ihr die Idee der kirchlichen Gemeinschaft wieder mehr zur Geltung zu bringen. Der einzelne Christ, von dem das Handeln ausgeht, handelt zugleich auf sich selbst, auf andere einzelne in der Gemeinschaft, denen er seine Überzeugung mitteilt, und so auf das „Gesammtieben", denn das Ganze ist zu denken nach der Analogie eines organischen Körpers: Eine Einwirkung auf irgend einen Teil desselben ist immer zugleich eine Einwirkung auf den ganzen Körper.43 „Wenn also der einzelne sich nur nicht absolut isolirt, d.h. gänzlich aus der Kirche tritt [...]: so handelt er, indem er auch nur auf sich selbst wirkt und sich aus dem heraus rettet, was er für eine Corruption des ganzen hält, reinigend auf das ganze." (ChS 182). Die ethische Forderung, sich nicht zu isolieren, ist positiv ausgedrückt die Pflicht, „seinem Handeln die größte Oeffentlichkeit zu geben, die möglich ist." (ChS 189). Seinem Handeln öffentlichen Charakter zu geben, beabsichtigt, die „vollkommenste gegenseitige Mitteilung" (ebd.) möglich zu machen. Jeder Mangel an Öffentlichkeit, sei es im Handeln auf sich selbst, auf andere oder auf das Ganze der Kirche, hat dagegen separatistische Tendenz. Uneingeschränkte Öffentlichkeit im kirchlichen Handeln versteht Schleiermacher als das protestantische Prinzip der Katholizität,44 weil es durch das kritische Handeln des Einzelnen auf das Ganze zugleich voraussetzt, dass das Ganze der Kirche - qua Öffentlichkeit - im Grunde keine vorgegebenen Grenzen habe und in diesem Sinne allumfassend, „katholisch" ist. So ist das Ziel solchen kritischen, wiederherstellenden Handelns des Einzelnen gegenüber der Kirche als ganzer die Institutionalisierung des Reformimpulses, nicht etwa die Abspaltung von der Gemeinschaft.45

43 Vgl. ChS 181f: „In einem organischen ganzen aber ist immer ein absoluter Zusammenhang gesezt, so daß jede Wirkung auf irgend einen Punkt eine Wirkung ist auf die Organisation selbst." 44 Protestantisch ist es, die Öffentlichkeit als Grund für die Assimilation, also fur den Beitritt neuer Mitglieder zu verstehen. Die „römische Kirche hat, die ganze Tendenz mißverstehend, umgekehrt die Öffentlichkeit der Assimilation untergeordnet und gesagt, Sobald die Assimilation zu Stande gekommen ist, bedarf es der Oeffentlichkeit nicht mehr; der einzelne bedarf dann keines Mittels mehr auf das ganze zu wirken" (ChS 187f). 45 Vgl. ChS 133-140.

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3.2 Verbreitendes Handeln - das Bildungsstreben christlicher Religion Das „verbreitende" bzw. „erweiternde Handeln"46 erhält seinen Impuls aus einem als Lust bestimmten christlich-religiösen Selbstbewusstsein, d.h. es überwiegt in einem Moment die Richtung, dem von der Gemeinschaft mit Gott ausgehenden Anspruch entsprechen zu können. Solches geschieht genau dann, wenn eine „niedere Lebenskraft in die Anforderung der höheren kommt und derselben [...] sich willig und verlangend zuneigt, so daß ihre Unterordnung unter die höhere unmittelbar möglich wird" (ChS 45). Dieses Bewusstsein impliziert den Impuls, die angesprochene Möglichkeit, die schon „eine beginnende Wirklichkeit ist", „in eine wirkliche zu verwandeln."47 Lust im religiösen Gefühl bedeutet also nicht, dass die religiöse Seite des Gefühls die sinnliche völlig dominiert - das wäre vollkommene religiöse Ruhe, aus der kein Impuls folgen würde. Vielmehr ist die Übereinstimmung, die einen Lebensmoment als religiösen Moment erlebbar erscheinen lässt, „nur werdend oder als Möglichkeit gesezt".48 Der Impuls, dies im Werden Begriffene zu realisieren ist als Affekt „Sehnsucht, Verlangen"49, als Handeln „Erziehung Bildung Fortbildung"50. Das Gebiet dieses Bildungshandelns differenziert sich in die „Gesinnungsbildung" als mehr innerliche und die „Talentbildung" als mehr äußerliche. Diese Unterscheidung beruht auf der Voraussetzung, dass ganz unabhängig von der religiösen Dimension des Bewusstseins die Vernunft darauf hinwirkt, sich den „mehr sinnlich psychische[n] Organismus" und den „mit demselben verbundene[n] leibliche[n]" der „ψυχή" (ChS 306f) zum Organ ihrer Bestimmung zu machen. Den allgemein menschlichen Geist, die Vernunft, identifiziert Schleiermacher mit dem griechischen Begriff „νους". Dem steht die Einwirkung des von Christus ausgehenden göttlichen Geistes, des „πνεύμα", gegenüber, von dem im Christentum angenommen wird, dass er die religiösen Momente in uns konstituiert. Die Differenzierung im Bildungsbegriff ergibt sich nun daraus, dass der göttliche Geist sich einerseits mit dem „ganzen geistigen Organismus der menschlichen Natur", mit dem „νους" vereinigen kann als religiöse Bildung der „Gesinnung", andererseits vermittels des „νους"51 mit der „ψυχή", d.h. mit „dem Organismus 46

ChS 45. 291-501; ChS Beil. A § 177-252, 61-101; Beil. B, 128-146; Beil. D, 172-192. ChS Beil. A. § 181, 63; § 55, 19. 48 ChS Beil. A § 180,62. 49 ChS Beil. A § 55, 19. 50 ChS 291; ChS Beil. A § 181,63. 51 Vgl. ChS 306 (VL 1826/27): „ Mit dem νους wird der göttliche Geist unmittelbar, mit allem anderen im Menschen nur mittelbar eins". Der göttliche Geist wird anstelle der Vernunft zum Prinzip, diese selbst zum „Centraiorgan", d.h. zu derjenigen Funktion des Menschen, die zum einen Ort der Bestimmung durch den göttlichen Geist ist, zum anderen ihrerseits die Sinnlichkeit des Menschen bestimmt. 47

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der verschiedenen Functionen der Sinnlichkeit des Menschen", als religiöse Bildung des „Talents".52 Beide Formen der Bildung stehen in einem nur relativen Gegensatz, d.h. die Bildung der Gesinnung als der inneren Willensrichtung (ChS 307) und die Bildung des Talents als der praktischen Fertigkeit, diesen Willen umzusetzen (ebd.), sind aufeinander angewiesen. Freilich kann sich die Gesinnung weiter entwickeln, ohne dass notwendig die Fertigkeit wachse bzw. bei gleichbleibender Gesinnung kann das Talent - oder die „Tugend" (ChS 309) - durch Übung zunehmen. Die aristotelische Grundausrichtung der Schleiermacherschen Ethik zeigt sich so auch in der theologischen Ethik. Das christliche Leben ist insgesamt auf einen religiösen Bildungsprozess angelegt, der innere und äußere Bildung gleichermaßen umfasst. Aus dem christlich-religiösen Selbstbewusstsein entspringt der Impuls zu einem unabschließbaren Bildungsstreben, sowohl die innere Willenseinstellung der christlichen Gesinnung innerhalb wie außerhalb der Kirche zu verbreiten, als auch die praktischen Fertigkeiten der „Geistesgaben" (ChS 330) heranzubilden, durch Übung zu entwickeln und fortzubilden.

3.3 Darstellendes Handeln - die Ausdruckskraft christlicher Religion Bislang waren die durch Unlust bzw. Lust bestimmten religiösen Momente und die daraus folgenden Impulse zu wirksamem Handeln im Fokus der christlichen Ethik. Schleiermachers Doppelthese ist nun, dass es zum einen auch Momente gibt, in denen weder Lust noch Unlust überwiegt, sondern vielmehr das in beiden Richtungen Identische, das Gottesbewusstsein, nicht nur begleitend da ist, sondern hervortritt und den Moment erfüllt, und dass zum anderen auch aus diesen Momenten ein Handlungsimpuls hervorgeht. Dieser Impuls hat aber keinen Mangel auszugleichen, der durch eigene Wirksamkeit, sei es durch Reform oder Bildung, erreicht werden könnte. Vielmehr ist vom Selbstbewusstsein her „Ruhe" gesetzt und Erfüllung. Der Impuls geht deshalb dahin, durch Äußerung dieses Inneren diese Art der religiösen Momente wiederholbar zu machen und auf diese Weise zu verstetigen. Das „darstellende Handeln"53 hat so keinen anderen Sinn als „Ausdrukk des inneren" zu sein „ohne alle Wirksamkeit" (ChS 48). Es ist im eigentlichen Sinne „zwekklos" (ebd.) und „erfolglos" (ChS Beil. Β § 4, S. 147) und hat seine Analogie im Spiel und in der Kunst. Der allgemeine Typus dieses ChS 306f; vgl. ChS Beil. Β § 7, 130. ChS 45-50.502-705; ChS Beil. A §§ 53.64-176, 17f 22-61; Beil. B. §§ 1 ^ 6 , 146-159.

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Handelns ist Gottesdienst, und zwar im weiteren Sinne, wenn eine Tätigkeit zwar dem Inhalt nach wirksam ist, der Intention nach aber weder weitere Bildung noch Veränderung beabsichtigt, sondern auf sich selbst gerichtet reine „Ausübung" ist (ChS 530-533). Als „Gottesdienst im engeren Sinne" bezeichnet Schleiermacher hingegen dasjenige darstellende Handeln, das „in die Pausen des wirksamen" (ChS 532) eintritt und jenes also „unterbricht" (ChS 49). Der Unterbrechungscharakter des Gottesdienstes im Alltag des wirksamen Handelns findet so eine sehr plausible Begründung. Die Analogie zum Ästhetischen wird von Schleiermacher ausdrücklich gesehen und kommt in der bekannten These zum Ausdruck, dass die Kunst die Sprache der Religion sei.54 Das darstellende Handeln bildet den Grund für die Kontinuität der christlichen Gemeinschaft. Denn ,,[a]lles reine Darstellen als Selbstoffenbarung geht auf Gemeinschaft aus"55. Das Äußern des Inneren im Darstellen macht dieses Innere für die anderen Menschen „aufnehmbar" (ChS 50). Kirche als „religiöse Gemeinschaft" ist also „nichts anderes, als ein gemeinsames darstellendes Handeln, worin jeder Organ ist."56 Gemeinschaft und darstellendes Handeln sind gleichursprünglich57: Ohne Gemeinschaft gäbe es kein darstellendes Handeln und umgekehrt ohne darstellendes Handeln keine Gemeinschaft. Schleiermacher konzipiert so den Begriff der Kirche als Gemeinschaft christlicher Darstellung. Religiöse Kommunikation ist der Grund der Kirche.58 Ihr protestantisches Prinzip ist dabei die „Gleichheit aller Glieder der Kirche" (ChS 518), die auf der Identität des in allen wirksamen Heiligen Geistes einerseits, auf dem identischen Bezug zu Jesus Christus andererseits beruht (ChS 518-525). Der Gegensatz von Mitteilenden und Aufnehmenden ist daher nur ein relativer und gradueller. Jeder ist als überwiegend Aufnehmender zugleich mitteilend bzw. als überwiegend Mitteilender zugleich aufnehmend (ChS 521). Eine qualitative über das Funktionale hinausgehende Trennung in Priester und Laien steht aus diesem Grund für Vgl. Schleiermacher, Friedrich, Philosophische Ethik [PhE], Werke in Auswahl, Otto Braun (Hg.), Bd. 2, 314f: „Wenn demnach das Bilden der Fantasie in und mit seinem Heraustreten Kunst ist, und der Vernunftgehalt in dem eigenthümlichen Erkennen Religion, so verhält sich Kunst zur Religion wie Sprache zum Wissen." Vgl. zum Gottesdienst i.e.S. ChS 537-598; ChS 535: „Der Gottesdienst im engeren Sinne ist überall das darstellende Handeln auf dem Gebiete der Kunst im weitesten Sinne des Wortes"; ChS Beil. A § 86, 29: „Alles darstellende Handeln ist ein zusammengeztes aus Kunstelementen. [...] Alle Kunst im großen angesehen ist immer mit der Religion in Verbindung. Aller Cultus sucht sich zur Kunst auszubilden." 55 ChS Beil. A § 69, 24. Vgl. ChS Beil. Β § 6, 147. 56 ChS Beil. A § 70, 24. Vgl. ChS 516-518. 57 ChS Beil. A § 70, 24: „Die religiöse Gemeinschaft und das darstellende Handelns sind also gleich primitiv." 58 Vgl. dazu Kumlehn, Martin: Kirche im Zeitalter der Pluralisierung von Religion, Gütersloh 2000, 50-109, bes. 81-93.

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Schleiermacher dem protestantischen Kirchenbegriff entgegen. Die faktische Ungleichheit innerhalb der Darstellungsgemeinschaft ist in dieser Sicht zwar nicht zu leugnen, denn die Gleichheit „erscheint [...] in jedem Augenblikk nur als sich aufhebende Ungleichheit." 59 Die Idee der Gleichheit aller in der Kirche manifestiert sich also darin, dass gegebene Unterschiede als relativ und zu überwindende bewusst werden.

4. Schluss Überblickt man den bisherigen Gedankengang, so lässt sich zusammenfassen, dass Schleiermacher Religion und Ethik in einem engen Zusammenhang sieht. Das religiöse Bewusstsein erweist sich nicht nur mit Handlungsmotivation kompatibel, vielmehr impliziert es als christliches Selbstbewusstsein notwendig Handlungsimpulse. Weil das christlich-religiöse Gefühl als Erlösungsbewusstsein selbst im Werden ist, führt es zu dem dreifachen Handlungsimpuls, das Zurückbleibende in einem Reformimpuls wiederherzustellen, das Anfangende durch Bildungsstreben zu erweitern und das Innere durch Darstellung auszudrücken und mitzuteilen. Geht man diesen Grundformen in der Entfaltung der Christlichen Sitte nach, so zeigt sich Schleiermachers theologische Ethik ebenso wegweisend wie seine Dogmatik. Es ist höchste Zeit, dass dieser Schatz durch Editionsarbeit gehoben und in einer darauf aufbauenden Gesamtinterpretation für die neueren Debatten zur Grundlegung theologischer Ethik und zur Kirchentheorie angemessen berücksichtigt und fruchtbar gemacht wird. Hier ist vorläufig festzuhalten: Eine Reduktion der Religion auf Ethik erscheint vor dem Hintergrund von Schleiermachers Ansatz ebenso unmöglich wie eine Verengung der Ethik auf deren religiöse Variante. Vielmehr gilt es, das religiöse Leben als eigenen Bereich menschlichen Geisteslebens anzuerkennen und dessen Motivationskraft als Handlungsimpuls zu würdigen, ohne dabei in die fundamentalistische Behauptung zu verfallen, dies sei die einzig mögliche oder einzig wahre Motivation. Christlich-theologische Ethik ist so einerseits auf den Kontext der Kulturwissenschaften und der philosophischen Ethik verwiesen, andererseits auf den Dialog mit theologischen Ethiken anderer Religionen. Als Handlungsimpuls wirkt christliche Frömmigkeit nicht bloß im kirchlichen Binnenraum, sondern erweist sich im öffentlich ausgetragenen Reformimpuls, im individuellen und gemeinschaftlichen Bildungsstreben und in der Kontinuität lebendigen religiösen Ausdruckshandelns als wichtige Gestaltungskraft unserer Kultur.

ChS Beil Β § 9 , 148.

Christopher Zarnow

Transitorischer Glaube Eine Problemskizze zur Instabilität des Religiösen und ihrer theologischen Deutung

Religiöses Leben geht nicht auf in frommer Betrachtung. Es enthält darüber hinaus eine habituelle Komponente. Das religiöse Leben drängt auf Verstetigung im Lebenslauf. Es will sich verdichten und verfestigen in habitualisierten Abfolgen und Riten. Religion ist Lebensdeutung, aber darüber hinaus auch eine Haltung der Wirklichkeit gegenüber. Religion ist sowohl Deutung als auch Haltung. Der Begriff der religiösen Haltung wirft allerdings eine Reihe von Fragen auf. Zunächst heißt, die Religion im Bereich der Haltungen zu verorten, den Blick zu öffnen für Vollzugsformen gelebter Religion, die sich gleichsam noch unterhalb dogmatisch geläuterter Begrifflichkeit abspielen. Religiöse Haltungen manifestieren sich in affektiven Verhaltens- und Orientierungsmustern. Sie erweisen sich so verstanden immer schon als stabiler und resistenter, als die reflexiv hochstufigen Überzeugungen und Vorstellungsgebilde, in denen sich das religiöse Bewusstsein expliziert. Haltungen hängen eng mit bestimmten wertbezogenen Intuitionen zusammen - und sind entsprechend schwer korrigierbar.1 Das führt zu einer zweiten Bedeutungskomponente, die im Begriff der Haltung mitschwingt. Haltungen sind Vollzugsformen und Produkte von Habitualisierungsprozessen. Zu Haltungen gerinnen oft wiederholte Verhaltensweisen. Der Begriff der Haltung erschließt mithin einerseits eine ,vortheoretische' Dimension empirischer Religiosität, welcher einer Religionstheorie, die kognitionsbestimmt an expliziten Überzeugungen und Glaubenssätzen orientiert ist, leicht durch die Finger gleitet.2 Andererseits rückt mit dem Begriff der Haltung die habituelle Dimension gelebter Religion ins Zentrum der Betrachtung. Eng mit dem Begriff der (religiösen) Haltung zusammen hängt das Konzept der (religiösen) Einstellung? Innerhalb der empirischen Religionspsychologie sind Einstellungen definiert als die Summe der Reaktions- und Vgl. Hans Joas: Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1999. Damit sind dann allerdings auch methodische Zugangsprobleme ganz eigener Art verbunden, die hier nicht näher erläutert werden können. 3 Der enge Zusammenhang beider Konzepte zeigt sich schon darin, dass beide englisch als attitude übersetzt werden. 2

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Verhaltensweisen einem bestimmten Einstellungsobjekt gegenüber. Dabei ist von Bedeutung, dass sich die empirische Religionspsychologie über weite Strecken als eine statistisch verfahrene Wissenschaft darstellt.4 Innerhalb der empirischen Religionspsychologie werden religiöse Einstellungen nach bestimmten Merkmalsausprägungen quantitativ zu messen versucht. Religiosität wird hier aufgrund der Häufigkeit des sonntäglichen Kirchgangs oder aufgrund des Grads der Zustimmung 201 bestimmten Aussagen des christlichen Glaubensbekenntnisses statistisch erfasst. Dabei ist nicht so sehr die Frage, ob mit solch einer Zugangsweise dem Phänomen der Religiosität in seiner Komplexität überhaupt Rechnung getragen wird. Die statistische Einstellungsforschung ist sich dessen bewusst, dass sie das von ihr gemessene Einstellungsobjekt durch ihre Messinstrumente (mit-)konstruiert und insofern von der Vielfalt lebensweltlicher Erscheinungsformen des Religiösen abstrahiert. Problematisiert werden kann allerdings, dass sie damit zugleich von den sozialpsychologischen Voraussetzungen abstrahiert, die begünstigen oder auch erschweren, dass die religiöse Einstellung überhaupt erst Konsistenz und Stabilität gewinnt. Denn als kennzeichnendes Moment des spätmodernen Lebens kann gerade die Pluralität und - damit verbunden - der „stroboskopische Wechsel" von Wirklichkeitseinstellungen ausgemacht werden. 5 Die Einstellungen und Haltungsweisen des Individuums unterliegen ihrerseits einer rollenspezifischen Differenzierung und Diversifizierung. Der Tendenz des Religiösen auf Verstetigung und Habitualisierung steht die Partizipation des Individuums an verschiedensten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens mit j e eigenen Verhaltenscodices und Rollenerwartungen gegenüber. Die religiöse Wirklichkeitseinstellung ist faktisch nur eine unter vielen - kann sich ihrem auf die gesamte personale Existenz abzielenden Wesen nach doch aber gerade nicht als eine solche begreifen. Vor dem Hintergrund dieser Spannung manifestiert sich der religiöse Habitus als eine Form der Dauerreflexion. Das ist nicht ohne Ironie: Die Ausbildung einer Haltung zielt j a ursprünglich auf das , Absinken' des habitualisierten Verhaltens in den vorproblematischen bzw. vorthematischen Bereich. 6 Bei der Habitualisierung der Religion unter den Bedingungen der modernen „Reflexionssubjektivität" (Arnold Gehlen) scheint es sich aber gerade umgekehrt zu verhalten: Die Habitualisierung der Religion vollzieht sich als immer neue Thematisierung der im religiösen Bewusstsein angelegten Spannungen. Ich möchte diesen Gedanken im Folgenden unter

4 Vgl. Stefan Huber: Dimensionen der Religiosität. Skalen, Messmodelle und Ergebnisse einer empirisch orientierten Religionspsychologie, Freiburg 1996. 5 Vgl. Jürgen Straub/Joachim Renn (Hg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt a.M. 2002. 6 Der Begriff der Haltung (attitude) spielt u.a. eine Schlüsselrolle in der Sozialpsychologie George Herbert Meads: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1968.

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psychologischen, soziologischen und theologischem Blickwinkel noch näher ausleuchten, wobei es mir vorrangig darum geht, verschiedene, teils nur locker zusammenhängende Problemperspektiven zu eröffnen.

I Empirische Religiosität und die persönlichkeitsspezifischen Haltungen, in denen sie zum Ausdruck kommt, sind zunächst Gegenstand einer religionspsychologischen Fragestellung. Die gegenwärtige Religionspsychologie repräsentiert sich allerdings als alles andere denn als geschlossenes Gebilde. Strukturgenetische, entwicklungspsychologische, Persönlichkeits-, selbstund emotionspsychologische, sinntheoretische und empirisch-induktive Ansätze konkurrieren um eine angemessene Beschreibung und Deutung des Phänomens menschlicher Religiosität. Als besonders perspektivenreich hebt sich der motivationspsychologische Ansatz des Jesuiten Bernhard Grom hervor.7 Groms Grundüberzeugung lautet, dass die menschliche Religiosität nicht auf ein einzelnes, bestimmtes Motiv zurückgeführt werden kann, sondern sich vielmehr auf ganz verschiedene Weise in der individuellen Persönlichkeitsstruktur verankert. Je nach persönlichkeitsspezifischer Disposition können sich religiöse Überzeugungen mit einem Bedürfnis nach moralischer Selbststeuerung, einer Bereitschaft zum Altruismus, dem Wunsch nach einer Stabilisierung des Selbstwertgefühls oder auch mit dem Verlangen, innere und äußere Prozesse auf mehr oder weniger magische Weise zu kontrollieren verbinden.8 Und je nach persönlichkeitsspezifischer Disposition werden dann auch die religiösen Überzeugungen aus dem breiten Strom der kirchlichen Überlieferung heraus gewählt und modifiziert. Aber nicht nur die Motive, die bei der persönlichkeitsspezifischen Verankerung und Ausprägung empirischer Religiosität prägend sind, erweisen sich als vielfaltig, sondern auch die psychologischen Rahmentheorien, in denen sie beschrieben werden. Tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische, attributionstheoretische, kognitionspsychologische und selbstpsychologische Perspektiven fließen in die Grom'sehe Religionspsychologie ein, die auf solche Weise versucht, der empirischen Vielgestaltigkeit ihres Gegenstandsbereichs bereits vom Ansatz her Rechnung zu tragen. Die Einsicht in die Tatsache, dass sich die Frömmigkeit empirisch je nach der persönlichkeitsspezifischen Motivationsstruktur des Individuums ausgestaltet, zieht die methodische Konsequenz nach sich, dass Religion als Bernhard Grom: Religionspsychologie, vollständig überarbeitete dritte Ausgabe, München 2007. 8 Vgl. ebd., 60ff.

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eine mehrdimensionale Variable zu konzeptualisieren ist. Grom bezieht sich hier auf die empirischen Untersuchungen Gordon W. Allports und Charles Y. Glocks zurück.9 Unabhängig von allen inhaltlichen Einzelfragen setzte sich mit ihren Arbeiten die Einsicht durch, dass sich Religiosität empirisch als eine komplexe Größe darstellt, die dann auch nur mit komplexen Analyseinstrumenten erfasst, beschrieben und gemessen werden kann. Demgegenüber ist Skepsis gegenüber allen Versuchen geboten, die Religiosität des Menschen auf eine einfache psychologische Wurzel zurückzufuhren. Entsprechend zurückhaltend bis kritisch äußert sich Grom dann auch gegenüber der Redeweise von einer religiösen „Anlage" oder gar von einem religiösen „Apriori" des Menschen: Suggeriert solche Rede doch, dass sich gleichsam ein ausgrenzbarer Bereich des Seelenlebens, eine religiöse „Provinz im Gemüthe" (Schleiermacher) isolieren ließe. Eine solche Provinz lasse sich mit empirisch-psychologischen Mitteln nun aber gerade nicht nachweisen.10 Es sei auch methodisch fragwürdig, das Vorkommen von Religion an psychische Ausnahmezustände zu koppeln, wie dies teilweise in neurowissenschaftlichen Untersuchungen geschieht. Demgegenüber betont Grom, dass religiöse Erlebnisgehalte sich hinsichtlich ihrer neurophysiologischen Begleiterscheinungen und hinsichtlich ihrer emotionalen Qualität gar nicht von nicht-religiösen Erlebnisgehalten unterscheiden lassen. Religiöse Erlebniszustände sind gleichsam ein ,normaler' Fall psychischer Erlebniszustände, die dann auch mit gängigen psychologischen Kategorien erfasst und beschrieben werden können. Einzig hinsichtlich ihrer kognitiven Komponente, also auf Ebene der inhaltlichen Deutung und Bewertung, unterscheiden sich religiöse Erlebnisse von anderen Formen des Erlebens." Die wissenschaftliche Religionspsychologie hat es so in erster Linie mit der deskriptiven Beschreibung der Vielfalt der intrinsischen Motive zu tun, die bei der Ausbildung empirischer Religiosität leitend sein können. Der Übergang von der deskriptiven Beschreibung zur normativen Bewertung liegt nicht bereits in der Beurteilung des Faktums menschlicher Religiosität als solcher. Dieses liegt der empirischen Religionspsychologie vielmehr als unhintergehbare Gegebenheit zugrunde. Zur engagierten Wissenschaft wird die Religionspsychologie erst da, wo es um die wechselseitige Beeinflus9 Zu Allport vgl. Susanne Heine: Grundlagen der Religionspsychologie. Modelle und Methoden, Göttingen 2005, 353ff; zu Glock vgl. Huber: Dimensionen der Religiosität (wie Anm. 1), 84ff. 10 Das bezüglich der religionspsychologischen „Anlagetheorie" einschlägige Kapitel Zwischen antipsychologischem Theologismus und antireligiösem Reduktionismus aus dem Anhang der ersten Auflage der Religionspsychologie ist den Kürzungen der Neuauflage zum Opfer gefallen, vgl. Bernhard Grom: Religionspsychologie (1. Auflage), München 1992, 370-373. 11 Vgl. Grom: Religionspsychologie (3. Auflage), 189.

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sung von bestimmten religiösen Überzeugungen und Fragen der psychischen Gesundheit geht.12 Dieses Verhältnis ist nun weitaus schwieriger zu beurteilen, als die traditionelle Religionskritik im Anschluss an Freud meinte. Wenn Religiosität nicht a priori dem Phänomenbeständen der Psychopathologie zuzurechnen ist, ist im Einzelfall genau zu untersuchen, welche persönlichkeitsspezifischen Anteile und Motive durch bestimmte religiöse Vorstellungen aktiviert oder auch gehemmt werden. „Gottesvergiftungen" setzen einen dafür bereits empfanglichen Nährboden voraus, sowie der individuellen Frömmigkeit umgekehrt und unter anderen Bedingungen eine positive Funktion bei der Belastungs- und Angstbewältigung zukommen kann. Kurz: Empirische Religiosität ist ein integraler Bestandteil der psychologischen Gesamtkonstitution der Persönlichkeit und auch nur als ein solcher individualpsychologisch zu beschreiben. Empirische Religiosität ist vor dem Hintergrund des Grom'sehen Ansatzes also keinesfalls als eine vor- oder gar undogmatische Form von Religion zu beschreiben. Bedeutsam für die empirische Gestaltung von Religion ist vielmehr, auf welche Weise bestimmte Glaubensüberzeugungen persönlichkeitsspezifische Dispositionen ansprechen und ,aktivieren'. Das Kriterium für die Adaption bestimmter dogmatischer Vorstellungen ist aber - hier ist die Dogmenkritik im Recht - selbst kein dogmatisches, sondern ein psychologisches. Religiöse Einstellungen, so können wir den bisherigen Stand der Untersuchung zusammenfassen, sind Hybridgebilde aus überlieferten Glaubens- und Wertvorstellungen und biographisch-psychologischen Persönlichkeitsdispositionen.

II Die Stärke der empirischen Religionspsychologie liegt in ihrer Öffnung für die Vielfältigkeit und Heterogenität, in der Religiosität empirisch in Erscheinung treten kann: „Religiosität kann mit dem Rückzug in privatistische Innerlichkeit wie auch mit politischem Engagement verbunden sein [...], mit sozialer Sensibilität wie auch mit egoistischer Ausbeutung, mit Gewissensängstlichkeit wie auch mit rationalem Abwägen, mit gefestigtem Selbstvertrauen wie auch mit narzisstischer Störung, mit Depressivität wie auch mit ausgeglichener emotionaler Gestimmtheit, mit einsamer Meditation wie auch mit gemeinsamen Gottesdienst." 13 Diese programmatische Offenheit der Grom'schen Religionspsychologie ist bedingt durch einen Religions-

Vgl. dazu auch Edgar Schmitz: Religion und Gesundheit, in: Ders. (Hg.), Religionspsychologie, Göttingen 1992, 131-158. 13 Grom: Religionspsychologie, 17.

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begriff, der sich an den institutionell vermittelten Wissensbeständen kirchlicher Glaubensgemeinschaften orientiert. D i e Ö f f n u n g für die Vielgestaltigkeit empirischer Religiosität verdankt sich einer Perspektive, die von der Gegebenheit des Faktums Religion in Gestalt konkreter, kirchlich institutionalisierter und aufgrund eines expliziten Transzendenzbezugs materialiter als religiös qualifizierter Überzeugungen und Wertvorstellungen herkommt. Man mag hierin eine gewisse Engftihrung erblicken: Eher an einem ,substantialistischen' als an einem ,funktionalistischen' Verständnis von Religion orientiert, bekommt die empirische Religionspsychologie nur solche Erscheinungsformen von Frömmigkeit in den Blick, die sich mehr oder weniger ausschließlich im Horizont kirchlich-institutioneller

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dungen bewegen. Impliziten Äußerungsformen von Religion, die gleichsam überhaupt erst als religiös zu entschlüsseln sind, verhält sich dieser Ansatz eher spröde gegenüber. Damit sind Fragen grundsätzlicher Theorieoptionen berührt, die letztlich nicht eindeutig zugunsten der einen oder der anderen Alternative entschieden werden können. Substantialistischen Religionstheorien wird man immer ihre Engführung im B l i c k auf institutionalisierte Darstellungsformen des Religiösen vorhalten können. Umgekehrt sehen sich eher funktionalistische Religionstheorien dem notorischen Dauervorwurf ausgesetzt, Religion selbst da noch zu unterstellen, w o sie von den vermeintlichen religiösen Praktikanten gar nicht als solche identifiziert wird. Unabhängig von diesen grundsätzlichen Überlegungen scheint mir aber eine Problematik für die A n a l y s e empirischer Frömmigkeit zentral, die innerhalb des religionspsychologischen Ansatzes programmatisch unterbelichtet bleibt. Es ist die an unsere einführenden Überlegungen direkt anschließende Frage, welchen wissenssoziologischen Status die religiösen Überzeugungen und Wertvorstellungen, von denen die empirische Religionspsychologie ihren selbstverständlichen A u s g a n g nimmt, unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft überhaupt besitzen - und was aus der Beantwortung dieser Frage für die religiöse Identitätsbildung folgt. Genau an dieser Stelle liegt der Übergang von einer religionspsychologischen auf eine religionssoziologische Ebene der A n a l y s e empirischer Religiosität. Die Prozesse der Differenzierung und Individualisierung, welche die moderne Gesellschaftsentwicklung mit sich bringen, ziehen die Folge nach sich, dass traditionelle religiöse Überzeugungen und Werte ihre gesamtgesellschaftliche Plausibilität verlieren. Dass eben dies der Fall ist - darüber vermag auch die , Wiederkehr des Religiösen' in Film und Feuilleton nicht hinweg zu täuschen. W i e auch immer sich die Religion der Gegenwart präsentiert, aus welchen Ritzen sie kriecht und in welchen Räumen - auch Kirchenräumen - sie ein Echo findet: dass ihre Erscheinungsformen gerade keine gesamtgesellschaftliche Selbstverständlichkeit und Plausibilität bean-

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spruchen können, ist integraler Bestandteil ihres Bewusstseins von sich selbst. Nun ist die subjektive Relevanz von Überzeugungen soziologisch durch die Möglichkeit bedingt, diese Überzeugungen mit anderen Gesellschaftsteilnehmerinnen kommunizieren zu können. Für Fragen der persönlichen Frömmigkeit hat dies weit reichende Konsequenzen. Denn auf der einen Seite ist die Möglichkeit der Thematisierbarkeit und Kommunizierbarkeit der eigenen Religiosität damit faktisch auf den Bereich von Sondergruppen eingeschränkt. Die persönliche Religiosität wird effektiv zur privaten Freizeitangelegenheit. Dass dies der Fall ist, ist in den meisten Fällen bereits von vornherein in das Selbstbewusstsein spätmoderner Religiosität mit aufgenommen. Die persönliche Religiosität tritt gar nicht erst mit dem Anspruch auf, in den verschiedenen Bereichen des Lebens in gleicher Weise zu Darstellung und Anerkennung zu gelangen. Auf der anderen Seite lassen sich aus Binnenperspektive der religiösen Einstellung gerade keine Anhaltspunkte dafür namhaft machen, dass die Gültigkeit religiöser Überzeugungen und Werte auf einen bloßen Teilbereich des Lebens eingeschränkt sein solle. Im Gegenteil: Religion liefert ein „das Individuum total betreffendes Selbstverständnis"14 - und tritt so per definitionem mit dem Anspruch auf, auf die gesamte Daseinswirklichkeit beziehbar zu sein. Die religiöse ,Rolle' kann sich doch nur unter Preisgabe dessen, was Religion ihrem eigenen Selbstverständnis nach ist, als Rolle unter Rollen begreifen. Hierin liegt eine tiefgreifende Spannung. Einerseits stellt die religiöse Einstellung - aus systemtheoretischer Außenperspektive betrachtet - nur eine Einstellungsweise neben anderen dar. Das moderne Leben vollzieht sich in einem ständigen Wechsel von Wirklichkeitseinstellungen und ihnen entsprechenden affektiven Haltungen. Situationsgemäßes Verhalten beschränkt sich nicht auf die richtige Kleiderordnung, sondern fordert ein hohes Maß an Empathievermögen, was die jeweils geltenden, oft nur hintergründig wirksamen Verhaltenscodes und situativen Wertigkeiten angeht. Dabei gilt, dass die den verschiedenen Partizipationskontexten entspringenden Erwartungen in der Regel keinen universalen Charakter haben. Sie betreffen vielmehr nur Teil-Identitäten. Anders wäre ihre immer neu zu leistende Ausbalancierung für das Individuum überhaupt nicht möglich: Der Einzelne würde zwischen verschiedensten Totalansprüchen zerrissen. Der Möglichkeit einer balancierenden Ich-Identität'5 korrespondiert die beschränkte Reichweite der in die Balance eingehenden Erwartungen. Diese Alois Hahn: Religion und der Verlust der Sinngebung. Identitätsprobleme in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1974, 27. 15 Zum Konzept balancierender Ich-Identität vgl. Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen fur die Teilnahme an Interaktionsprozessen (1969), Stuttgart 1993.

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Beschränkung kann aber nicht gelten für einen Lebensbereich, der sich gerade durch die Thematisierung des Individuums in einer umfassenden Ganzheitsperspektive auszeichnet: die Religion. Denn vollzieht das Individuum in religiöser Einstellung faktisch nur eine Einstellung unter anderen, beansprucht das religiöse Bewusstsein aufgrund seiner Unbedingtheitsperspektive doch zugleich eine Geltung für den ganzen Menschen. Die dem religiösen Bewusstsein eigentümliche Ganzheitsperspektive strebt danach, sich am Ort der konkreten Lebensführung zur materialisieren. Das religiöse Bewusstsein gerät folglich in einen potentiellen Dauerkonflikt mit der Eigengesetzlichkeit anderer, partikularer Wirklichkeitseinstellungen. Freilich stellt sich dieser Konflikt, der zugleich ein sozialpsychologisches Erklärungsmuster für Phänomene des religiösen Rigorismus und Fundamentalismus abgibt, in der Realität nicht immer gleich dramatisch dar. In Anlehnung an Max Webers Unterscheidung zwischen einem „ästhetischen" und einem „ethischen" Typ von Religiosität lässt sich hier noch einmal differenzieren. Denn während der ästhetische Typ mit Max Weber durch das Aussein auf den „Besitz einer inneren Zuständlichkeit, welche ihrer Natur nach vorübergehend ist"16, charakterisiert werden kann, erstrebt erst die ,,ethische[] Religiosität"' 7 (die bei Weber als Norm und Kriterium des Religionsbegriffs fungiert), eine dauerhafte und kontinuierliche Überformung des Alltags. Der entscheidende Unterschied zwischen dem „ästhetischen" und dem „ethischen" Typ liegt nicht in der Frage, ob an die religiöse ,Rolle' überhaupt Erwartungen geknüpft sind: Das ist schon im Begriff der Rolle impliziert. Die Differenz ist vielmehr in der Reichweite ihrer Bewährung zu sehen. Ein „Sonn- und Feiertagsheiligtum, das sich dem personal und sozial gelebten Alltag verschließt" 18 , wird damit v.a. im Horizont der ethischen Religiosität als konkretes Problem aufbrechen. Denn hier werden explizite Normen für das Alltagsverhalten des Individuums aufgestellt, hier werden damit aber auch die Vermittlungsprobleme zwischen religiöser und nichtreligiöser Wirklichkeitseinstellung überhaupt erst virulent. Angesichts der dargestellten Spannung ist Skepsis gegenüber einem religionssoziologischen Funktionalismus geboten, der Religion einseitig als Stabilisierung personaler und sozialer Identität bestimmt. Zweifelsohne vermag die Religion eine wichtige Rolle beim Aufbau einer stabilen Identität und bei der Integration des symbolischen Universums, in dem das Individuum lebt, zu spielen.19 Aber die einseitige Funktionsbestimmung von 16

Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, 321. Ebd., 324. 18 Falk Wagner: Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995, 55. 19 Sozialpsychologisch kann der positive Beitrag der Religion beim Aufbau und der Stabilisierung von Ich-Identität in der Vermittlung von Rollendistanz und Ambiguitätstoleranz gesehen 17

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Religion und Identität findet da ihre Grenze, wo sich das unvermittelte Nebeneinander von religiöser und nicht-religiöser Wirklichkeitseinstellung nun seinerseits zu einem Identitäts- bzw. Rollenkonflikt verdichtet. Auch die Aufgabe der Theologie verschiebt sich damit in eine neue Dimension. Die (religions-)theologische Aufgabe dient nun nicht mehr (allein) der wissenschaftlichen Explikation einer im religiösen Bewusstsein enthaltenen Daseins- oder Selbstgewissheit, sondern der reflexiven Bearbeitung der Spannungen, die sich gerade auf der Grenze zwischen religionssoziologischer Außenperspektive und dogmatischer Innenperspektive des Glaubens ergeben. Ich möchte dies im Folgenden im Rahmen einer identitätstheoretischen Überlegung verdeutlichen. Dabei wird sich zugleich unsere Ausgangsfrage nach der habituellen Dimension der Religion schärfen.

III Was die theologische Rezeptionsgeschichte des Identitätsbegriffs angeht, lässt sich eine auf den ersten Blick merkwürdige Ambivalenz beobachten. Auf der einen Seite wird der Begriff der Identität in zahlreichen praktischtheologischen, religionspsychologischen und vereinzelt auch in systematisch-theologischen Untersuchungen als Explikationsrahmen für ein gegenwärtiges Verständnis dessen in Anspruch genommen, was ,Glaube' bedeutet und worin das Glaubensbewusstsein seine anthropologischen und entwicklungspsychologischen Wurzeln hat. Am Ort des Identitätsbegriffs wird eine in der Struktur des menschlichen Selbstverhältnisses angelegte Verwiesenheit auf eine „religiöse Dimension"20 thematisch, die in den materialen Gehalten des christlichen Glaubens ihren - dem Anspruch der theologischen Entwürfe nach - adäquaten Ausdruck erfahrt. Nur sehr grob vereinfacht lässt sich das Verhältnis von Identität und Glaube dabei so zuordnen, dass die Identität gleichsam die ,Frage' aufwirft, auf welche der Glaube die , Antwort' gibt. Viel eher lässt sich die angezeigte Affinität auf eine strukturelle Entsprechung zwischen dem Identitätsbegriff und dem Begriff der Religion zurückführen.21 werden. Identitätsstabilisierend wirkt Religion also im günstigsten Fall gerade dadurch, dass sie Potentiale der Selbstunterscheidung des Selbst vom sozialen Vermittlungszusammenhang seiner Selbstwerdung aktiviert. Von hierher ergeben sich Bezüge zur Luther'schen Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen. Die Unveräußerlichkeit des inneren Menschen liegt nicht darin, dass er gleichsam einen eigenen materialen Gegenstandsbereich konstituieren würde - sondern dass es der Mensch ist, wie er sich immer noch einmal von sich selbst und seinen Rollendarstellungen zu unterscheiden vermag. 20

Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1993, 217. Vgl. vom Vf: Religion und Identität. Philosophische, soziologische, religionspsychologische und theologische Dimensionen des Identitätsbegriffs, Tübingen 2010. 21

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Aus materialdogmatischer Sicht ist damit der Bereich der Prolegomena bzw. einer um fundamentanthropologische Fragestellungen angereicherten Schöpfungslehre betreten. Diese theologische Verortung der Identitätsthematik wird dann auch tatsächlich von zahlreichen religionspsychologischen und religionssoziologischen Entwürfen vorgenommen. Die Leistungskraft des Identitätsbegriffs kann nachgerade in der Vermittlung von Religionsthematik und Anthropologie erblickt werden, wobei letztere in der traditionellen Dogmatik einmal im Rahmen der Schöpfungslehre, zum anderen im Rahmen der Sündenlehre verhandelt wird. Damit ist aber bereits der zweite materialdogmatische Zusammenhang angesprochen, der vorrangig die theologische Rezeption des Identitätsbegriffs steuert: der Begriff der Sünde.21 Das zeigt sich schon auf vorwissenschaftlicher Ebene. Theologische Modernitätskritik kleidet sich gern in das Gewand der Kritik am Selbstverwirklichungsparadigma, an einer alle Letztverbindlichkeiten zersetzenden Individualitätskultur und an den Auswüchsen einer hypertrophierten Reflexionssubjektivität. Menschliche Identitätsarbeit kommt unter dieser Perspektive als verzweifeltes Abarbeiten des in sich verkrümmten Sünders an sich selbst in den Blick. Im Streben nach Identität, die mit Adorno als „Urform der Ideologie"23 bezeichnet werden kann, setzt sich das Individuum unter nicht einlösbare Übereinstimmungs- und Selbstvervollkommnungszwänge. In der doppelten Rezeption des Identitätsthemas spiegelt sich die Architektur der dogmatischen Anthropologie, die den Menschen in der Spannung von Gottebenbildlichkeit und Sünde begreift. Dabei bieten sich insbesondere, was das Verhältnis von Identität und Sünde angeht (auf das ich im Folgenden allein den Blick richten möchte), der theologischen Reflexion zwei Wege an. Der erste Ansatz bestimmt das mit , Sünde' Gemeinte grundsätzlich als eine Verformung von Ich-Identität. Sören Kierkegaard gilt hier als Wegbereiter, der Sünde als Missverhältnis im Selbstverhältnis bestimmte.24 Im Anschluss hieran interpretierte Paul Tillich25 Sünde als Selbstentfremdung, Wolfhart Pannenberg26 als Ichsucht und Egozentrizität. Gemeinsam ist diesen Ansätzen - bei aller Unterschiedlichkeit im Detail - , dass sie Sünde als eine strukturelle Deformation am Ort des konkreten Selbst- und

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Zur doppelten Rezeption des Identitätsthemas vgl. bereits Joachim Scharfenberg: Religiöses Bewusstsein als Narzißmus?, in: Joachim Scharfenberg/Hans-Walter Schütter u.a., Religion: Selbstbewusstsein - Identität. Psychologische, theologische und philosophische Analysen und Interpretationen, München 1974, 10-16. 23 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1975, 149. 24 Vgl. Sören Kierkeggard: Die Krankheit zum Tode, übers, von Gisela Perlet, Stuttgart 1997. 25 Vgl. Paul Tillich: Systematische Theologie II, Berlin/New York 1987, 52ff. 26 Vgl. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen 1991,274-290.

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Weltverhältnisses begreifen. Der phänomenale Gehalt des mit Sünde Gemeinten wird gleichsam nicht dem religiösen Leben - man kann auch sagen: der gelebten Religion, der Frömmigkeit - abgespürt, sondern bereits an einem allgemeinen Strukturmerkmal der Selbstbeziehung festgemacht. Darin liegt dann allerdings auch die Tendenz zur Ontologisierung und Naturalisierung des Sündenbegriffs. Während Kierkegaard den Sündenbegriff noch (psycho-)pathologisch an das Phänomen der Verzweiflung knüpft, erscheint Sünde bei Tillich und Pannenberg als die faktische Erscheinungsgestalt des allgemeinen Strukturvorkommens Subjektivität.27 Diese ontisch-ontologische bzw. strukturgenetische Grundlegung des Sündenbegriffs ist allerdings mit einem hohen Preis bezahlt. Der Begriff der Sünde verweist - wie alle religiösen Begriffe - nicht auf ein Sein des Selbst, sondern auf eine bestimmte Deutung des Selbst. Diese Differenz zu erinnern scheint nötig, weil die hermeneutische Verfasstheit des Selbstverhältnisses geradezu als genuine Form des Selbst-Se/Ms bestimmt werden kann. Aber auch das Selbstsein unter der Sünde ist doch nur insofern eine Gestalt von Selbstsein, als die Bestimmung „unter der Sünde" darin für das Selbst in irgendeiner Weise erschlossen ist. Die methodische Schwierigkeit des reformatorischen Sündenbegriffs liegt nun allerdings gerade darin, dass dieses Erschlossensein sich als Verschlossensein, nämlich als Selbstverdunklung des eigenen Sünderseins manifestiert.28 Die Weise, in der Sünde religiös „thematisch" wird, ist also gerade, dass sie nicht thematisch wird zumindest nicht in actu. Daraus resultiert die spezifische Zeitform des aktualen Sündenbewusstseins: Sündenbewusstsein gibt es nur im Perfekt, als Bewusstsein, (immer schon) Sünder gewesen zu sein. Zur Psychologie der Sünde gehört ferner, dass sich dieser Verblendungszusammenhang rückblickender Selbsterkenntnis als ein solcher erschließt, den man insgeheim auch gar nicht aufdecken wollte. Die Zurechnungsproblematik, also die Frage nach der Verantwortlichkeit für die eigene Sünde, hat hier einen neuralgischen Punkt: Nur indem das Subjekt einen willentlichen Anteil an dem Verblendungszusammenhang seines Sünderseins identifiziert, ist eine Identität zwischen dem Selbst unter der Sünde und dem Subjekt seiner kontrafaktischen Selbsterkenntnis gewahrt. Diese spezifische ,Grammatologie' des Sündenbewusstseins, NichtThematisches (rückblickend) zu thematisieren, qualifiziert es dann aber auch - gleichsam auf einer Meta-Ebene - zum Reflexionsort derjenigen Aporien, die dem Aufbau des religiösen Bewusstseins in seinen empiriZu den ,Naturalisierungstendenzen' des Pannenbergschen Sündenbegriffs vgl. Ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 102f. 28 Zur lutherischen Formel des peccatorum fieri vgl. Gunda Schneider-Flume: Die Identität des Sünders. Eine Auseinandersetzung theologischer Anthropologie mit dem Konzept der psychosozialen Identität Erich H. Eriksons, Göttingen 1985, 49ff.

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sehen Vermittlungskontexten entspringen. Damit ist zugleich der zweite Weg beschritten, wie das Verhältnis von Identität und Sünde vom Ansatz her bestimmt werden kann.

IV Während der erste Weg, Identität und Sünde in Beziehung zu setzen, an der immanenten Struktur des Selbstverhältnisses ansetzt und von da aus die strukturellen Verformungen in den Blick nimmt, die mit der Verwirklichung konkreter Ich-Identität verbunden sind, soll im Folgenden der Blick auf eine alternative Weise gelenkt werden, das Verhältnis beider Begriffe zu bestimmen. Die These, die ich vertreten möchte, lautet: Eine solche Rekonstruktion des Sündenbewusstseins scheint vielversprechend bzw. unter den skizzierten religionssoziologischen Voraussetzungen beschreibungskräftig, die Sünde als den nach innen gespiegelten Rollenkonflikt zwischen religiöser und nichtreligiöser Einstellung begreift. Der Sündenbegriff ist gleichsam der Ort, an dem die aporetischen Realisationsbedingungen der Religion in den religiösen Beschreibungsraum selbst eintreten. Ich möchte diese These im Folgenden allerdings nicht nach ihrer systemtheoretischen Seite hin weiter entfalten, sondern eher religionsphänomenologisch zu plausibilisieren versuchen. Mein Ausgangspunkt ist die Annahme, dass dem religiösen Leben ein Streben nach Identität und Kontinuität inhärent ist. Dem religiösen Bewusstsein als einem solchen ist die Intention eigen, sich im Gesamtleben verwirklichen' zu wollen. Das religiöse Bewusstsein will einen konstanten Bezugspol und Kontrapunkt zu den empirischen Schwankungen des sonstigen Bewusstseinslebens bilden - gerade darin aber auch Kontinuität im bewussten Leben gewinnen. So bestimmt Schleiermacher als ersehnten Höchstzustand der Frömmigkeit eine „stetige Kräftigkeit des Gottesbewusstseins" 29 . Denn während das Gottesbewusstsein an sich selbst nicht veränderbar ist, ist doch die Weise, wie es in Verbindung mit dem sonstigen Bewusstseinsleben vorkommt, empirischen Schwankungen unterworfen. Auch der Sündenbegriff rückt vor diesem Hintergrund in eine religionsphänomenologische bzw. religionspsychologische Perspektive ein. Der Ausdruck Sünde erscheint nun als eine Kategorie zur Selbstbeschreibung einer dem religiösen Bewusstsein eigenen Instabilität und Unstetigkeit. ,Thema' der Sünde ist gerade dies, dass das fromme Bewusstsein als solches durch die Alltagsbesorgungen, den Zweckutilitarismus und Pragma29 Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube, ( 2 1830), Bd. II, Martin Redeker (Hg.), Berlin 1960, 43.

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tismus des Lebens gleichsam ,verschüttet' wird. Den Extremfall dieser Zurückdrängung des Religiösen bezeichnet Schleiermacher als „Gottlosigkeit" und - vielleicht treffender - „Gottvergessenheit"30. Die Binnenperspektive des Religiösen im Verhältnis zu seinen Außenperspektiven wird damit aber zum eigentlichen Thema des Sündenbegriffs. Sünde richtet sich nicht primär gegen Gott bzw. das göttliche Gebot, ist aber auch nicht in erster Line als Verformung oder Verzerrung personaler Identität gedacht.31 Beide Bestimmungen lassen sich auch in einen Sündenbegriff Schleiermacher'scher Provenienz einsammeln, aber problemevozierender Ausgangspunkt ist doch ein anderer: Der Sündenbegriff ist gleichsam der Ort, an dem die Instabilität empirischer Religiosität ihrerseits religiös thematisch wird.32 Es gehört zum Reiz und zur bleibenden Aktualität der Theologie Schleiermachers, dass sie für das Phänomen empirischer Religiosität in seinen Schwankungen und Wandlungen nicht nur ein feines Sensorium entwickelt, sondern die Empirie des Religiösen zum Darstellungsprinzip der Materialdogmatik gemacht hat. Entsprechend treten an die Stelle der harten kategorialen Schnitte weiche Übergänge. Bereits in den Reden über die Religion ist zu lesen: Jede Unterbrechung der Religion ist Irreligion; das Gemüt kann sich nicht einen Augenblick entblößt fühlen von Anschauungen des Universums, ohne sich zugleich der Feindschaft und der Entfernung von ihm bewußt zu werden. So hat das Christentum zuerst und wesentlich die Forderung gemacht, daß die Religiosität ein Kontinuum sein soll im Menschen.33

Wesentliche Punkte der Schleiermacher'schen Religionspsychologie sind hier bereits brennpunktartig zusammengefasst. (1.) Dem religiösen Bewusstsein ist als solchem ein Streben auf Selbstverstetigung im Bewusstseinsleben immanent. (2.) Dieses Streben ist nach Schleiermacher in der christlichen Religion begriffen als expliziter Anspruch der Frömmigkeit auf

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Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube, ( 2 1830), Bd. I, Martin Redeker (Hg.), Berlin 1960, 77. 31 Zur religionsphänomenologischen Differenzierung des Sündenbegriffs vgl. Paul Ricoeur: Symbolik des Bösen, Phänomenologie der Schuld II, München 1971, 57ff. 32 Dieser Gedanke lässt sich - mit etwas Abstand - auf eine systemtheoretische Überlegung beziehen: Am Ort des Sündenbewusstseins tritt die Differenz von religiöser und nichtreligiöser Wirklichkeitseinstellung in die Binnenperspektive des religiösen Bewusstseins ein. Die Bedingungen, unter denen sie eintritt, erweisen sich aber aus Perspektive der Religion selbst als kontingent. Denn die Erschließungskraft religiöser Deutungsbegriffe (wie Sünde, Geschöpflichkeit, Erlösung) ist geknüpft an die innere Plausibilität der religiösen Wirklichkeitseinstellung. Diese besitzt unter den Bedingungen der pluralen Gesellschaft aber gerade keine exklusive Gültigkeit. Damit wiederholt sich die Instabilität des Religiösen auf Ebene der Bedingungen ihrer Thematisierbarkeit. 33 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Rudolf Otto (Hg.), Göttingen 1991, 198 (Originalpaginierung: 298).

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eine kontinuierliche Überformung der Gesamtexistenz. (3.) Momente der Diskontinuität und Unterbrechung stellen sich aus der Perspektive der Religion als durch das religiöse Integrationsbewusstsein zu überwindende dar. Diese Überwindung des der Religion Anderen durch Religion ist aber lehrtechnisch gesprochen - als Aufhebung des Sünden- ins Gnadenbewusstsein zu explizieren. Damit ist der späteren Durchführung des Erlösungsbegriffs in der Glaubenslehre der Weg gewiesen.34 Die Basis für den Gedanken, dass sich Religion in einem psychologischen Kontinuum von Gemütszuständen zur Darstellung bringt, legt Schleiermacher in den Einleitungsparagraphen der Glaubenslehre. Es ist ja zunächst gar nicht einleuchtend, inwiefern das religiöse Gottesbewusstsein, das Schleiermacher als ein Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit rekonstruiert, graduelle Abstufungen erdulden soll können. Und in der Tat betont Schleiermacher, dass das Gottesbewusstsein, rein für sich betrachtet, unveränderlich ist und „bei allem anderweitigen Wechsel von Zuständen immer sich selbst gleich"35. Denn immer ist es nichts anderes als das implizit mitlaufende Bewusstsein davon, dass ich mich in Bezug auf die Gesamtheit meines Daseins nicht in einer Position der absoluten Freiheit befinde. Dieses Bewusstsein duldet an sich selbst keinerlei Veränderung, ohne aufzuhören zu sein. Ist es nicht mehr es selbst, ist es überhaupt nicht mehr. Dabei ist es nun aber wichtig zu beachten, dass das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit an und für sich betrachtet gar keine reale Größe darstellt. Es kommt an sich selbst empirisch gar nicht vor. Für das Vorkommen empirischer Religiosität ist vielmehr bestimmend, dass das Gottesbewusstsein nur in Verbindung mit dem - von Schleiermacher so genannten - sinnlichen Bewusstsein zur zeiterfüllenden Einheit eines Moments gelangt. Mit dieser Beziehung von Gottesbewusstsein und sinnlichem Bewusstsein ist nun die Relation gefunden, aus der heraus sich der Stoff der Glaubenslehre entwickeln lässt. Denn erst vermittelt über jenes Bezogensein der Religion auf die Sinnlichkeit kommt die Dimension der Zeitlichkeit auf der einen Seite, das Verhältnis von Lust und Unlust auf der anderen Seite ins Spiel. Der Übergang von §4 zu §5 der Glaubenslehre in der zweiten Auflage markiert so den Übergang vom abstrakten Wesensbegriff der Religion hin zur Erscheinungsgestalt empirischer Religiosität. Das Bedürfnis nach Verstetigung ist nach Schleiermacher der Religion immanent. Denn die Religion spielt sich in den hohen Lagen des Bewusstseinslebens ab. Wer diese einmal erklommen hat, der will nicht wieder hinabsteigen. Zugleich bringt es der Aufbau des religiösen Selbstbewusst34

Vgl. Claus-Dieter Osthövener: Erlösung. Transformationen einer Idee im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004, 58-101. 35 Schleiermacher, Der christliche Glaube I, 34.

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seins mit sich, dass es auf ein niederes oder, um Schleiermachers Ausdruck zu verwenden, sinnliches Selbstbewusstsein bezogen bleibt, in Unterscheidung zu dem es überhaupt erst als höheres qualifiziert ist. Die Verstetigung des Religiösen ist von hierher gerade nicht als ein Überfliegen, oder „unisones Übertönen" der Kakophonie der Sinnlichkeit zu denken. Vielmehr hat sich das religiöse Bewusstsein gleichsam immer wieder neu von seinen sinnlichen Grundlagen her aufzubauen, wie letztere ersterem überhaupt erst Klarheit und Bestimmtheit verleihen.36 Das Verstetigungsstreben der Religion ist damit bereits vom Ansatz des Religionsbegriffs her bei Schleiermacher so gedacht, dass es sich ausschließlich im Durchgang durch die Heterogenität der empirische Sphäre zur Erfüllung bringen lässt. Damit ist zugleich der Soteriologie ein Weg gewiesen, der sie in den Vermittlungszusammenhang des konkreten Weltverhältnisses hinein- und nicht aus ihm hinausfuhrt.

V Es ist das Verdienst der empirischen Religionspsychologie, individuelle Religiosität im Bereich affektiver ,Welthaltungen' und Wirklichkeitseinstellungen verortet zu haben. „Gelebte Religion" hält sich nicht an die Vorgaben dogmatischer Begrifflichkeit. Sie ist gleichsam eingewoben in die individuelle Persönlichkeit, in lebensgeschichtlich bedeutsame Motivstrukturen und individualpsychologische Dispositionen. Doch geht sie darin nicht auf. Religion ist wesentlich ein soziales Konstrukt. Individuelle Religiosität ist nur verständlich zu machen als Modifikation eines überindividuellen Kommunikations- und Überlieferungszusammenhangs. Damit partizipiert sie aber auch - vermittelt - an den konjunkturellen Schwankungen', denen die öffentlich-institutionalisierte Religion unterworfen ist. Diese Doppelperspektive bildet sich auch im Begriff der ,religiösen Einstellung' ab: Individualpsychologisch verweist er auf den Inbegriff der „persönlichen Religiosität" in ihrer kognitiven, affektiven und emotiven Dimension. Aus sozialpsychologischer Perspektive rückt der Einstellungsbegriff demgegenüber in eine funktionalistische Perspektive ein: Einstellungen sind an Rollen oder „partizipative Identitäten"37 geknüpft. Die Individualität oder Persönlichkeit des Individuum fällt gerade nicht mit einer dieser Rollen zusam„Aber auch, wenn das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl im allgemeinen der ganze Inhalt eines Momentes von Selbstbewusstsein wäre, würde dies ein unvollkommener Zustand sein; denn es würde ihm die Begrenztheit und Klarheit fehlen, welche aus der Beziehung auf die Bestimmtheit des sinnlichen Selbstbewusstseins entsteht", ebd., 36. 37 Alois Hahn: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt a.M. 2000, 13-79.

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men, sondern zeigt sich darin, wie es seine jeweilige Rolle ,ausfüllt' und zwischen den verschiedenen Rollenerwartungen balanciert. 38 Die Aufgabe der Theologie kann vor diesem Hintergrund als Bearbeitung des Konfliktfeldes bestimmt werden, als das sich empirische Religiosität unter den Bedingungen der modernen Individualitätskultur präsentiert. Theologie reflektiert die Spannungen gelebter Religion aus der Binnenperspektive des christlichen Glaubens. Das Inventar der Materialdogmatik lässt sich dabei als Wahrnehmungshorizont begreifen, Ausformungen und Widersprüchlichkeiten empirischer Religiosität in eine theologische Binnenperspektive zu ,übersetzen'. Freilich müssen die materialdogmatischen Deutungsmuster dabei (mindestens) so komplex sein, wie die empirische Wirklichkeit, auf die sie sich ihrem eigenen Anspruch nach beziehen. Als Paradebeispiel einer Theologie, die sich im Kern als Phänomenologie empirischer Religiosität bestimmt, kann nach wie vor die Glaubenslehre Schleiermachers gelten. Die Dogmatik gewinnt ihr ,Materialprinzip' aus der Analyse gelebter Religion. Gegenstand bzw. ,Thema' der religiösen Symbolsprache ist nichts anderes als der komplexe Aufbau des religiösen Bewusstseins selbst im Verhältnis zu seinen empirischen Realisationsbedingungen. „Aufgeklärtes Christentum" - als Pathosformel - wäre vor diesem Hintergrund grundfalsch als planes Entdogmatisierungsprogramm der Religion verstanden. Die Symbolbestände der Materialdogmatik bilden vielmehr das entscheidende (und einzige) Deutungskapital, das die theologische Reflexion gelebter Religion aufs Spiel zu setzen hat. Die Pluralismusfähigkeit aufgeklärter Religion zeigt sich nicht in ihrer Bereitschaft, dogmatischen Ballast abzuwerfen, sondern in der Fähigkeit, den Spannungen und Widersprüche, die ihrem empirischen Vermittlungszusammenhang entspringen, selbst noch einmal religiöse Sprache zu geben. Der Wechsel zwischen ,Außen-' und ,Innenperspektive', der darin angelegt ist, lässt sich seinerseits wohl nicht noch einmal ruhigstellen. Zum Habitus moderner Religion gehört die dauernde Thematisierung der Voraussetzungen ihrer Selbstrealisation.

38 Vgl. das bereits zitierte Konzept balancierender Ich-Identität von Lothar Krappmann (Anm. 16).

Björn Pecina Frömmigkeit und Dialog Der Streit zwischen Mendelssohn und Lavater als Religionsgespräch

Am 25. August 1769 durfte sich der große jüdische Philosoph Moses Mendelssohn wundern über eine ihm zugesandte Schrift des nicht minder berühmten Schweizer Weltweisen Charles Bonnet. Gleichwohl war nicht Bonnet der Absender, sondern sein Landsmann Johann Kaspar Lavater, der Bonnets Schrift übersetzt hatte. Die Übersetzung enthielt nicht die ganze Schrift, sondern nur deren Schluß; und beigelegt war ihr die Aufforderung an unseren jüdischen Gelehrten, nach eingehender Lektüre zum christlichen Glauben überzutreten, sei es denn, er halte triftige Gründe in der Hand, Bonnets Ausführungen zu widerlegen. Was war geschehen? In einem tiefsinnigen zwischen empirischer Naturforschung und offenbarungstheologischer Naturphilosophie pendelnden Opus hatte Charles Bonnet eine Theorie entworfen, die ein Leben nach dem Tod nicht nur für die Seele, sondern auch für den Leib des Menschen wahrscheinlich zu machen vermochte. Unmittelbar im Hintergrund stand dabei natürlich die Monadische Logizität; das tragende Motiv jedoch ist vorgegeben von der im 18. Jahrhundert hochangesehenen Totalvision einer Großen Kette aller Wesen. Während sich die Ketten-Metapher prominent zum ersten Mal im achten Gesang der Ilias findet, woselbst Zeus in einem spottenden Gedankenexperiment gegen die Götter und Göttinnen alle antritt zu einem theomachischen Tauziehen,1 steht Piaton für die erste philosophisch einflußgebende Verwendung des Gedankens. Im Schöpfungsmythos des Timaios stellt der Demiurg nach der kaum ein Detail auslassenden Erschaffung der Welt fest, daß seine Schöpfungswerke noch nicht dem Allquantor Genüge tun. Dies läuft aber der Schöpfungsidee des Demiurgen, die Welt nach seinem Urbild zu erschaffen, stracks zuwider, weil auch dem Nachbild Vollkommenheit

Homer: Ilias, übers, v. T. v. Scheffer, Leipzig 1938, 171 f.: Daß man erkenne, wie Zeus, der Stärkste der Himmlischen alle: „Nun versucht es doch, Götter, damit ihr es alle erkundet: / Senkt eine goldene Kette vom obersten Himmel hernieder, / Hängt euch dann ziehend heran, ihr Götter und Göttinnen alle, / Nimmer noch würdet ihr reißen vom Himmel zur Erde herunter / Zeus, den erhabensten Lenker, so sehr ihr im Schweiße auch mühet. / Wäre nun aber ich selber gesonnen, im Ernste zu ziehen, / Samt der Erde und samt dem Meere riß ich euch aufwärts, / Schlingen dann würd ich die Kette und binden sie um des Olympos / Gipfel, und wiederum schwebte das All in den obersten Lüften. / So übertreffe ja ich gewaltig Götter und Menschen".

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zukommen muß. Denn: Ist nicht alles, was der Möglichkeit, entstehen zu können, innewohnt, durch Gottes Tat dieser Möglichkeit in einem unvordenklichen Welterzeugungsakt entrissen, so bliebe ein Nachbild dieses Gottes denkbar, das dann dem Urbild weitaus gemäßer wäre als die von Gott selbst ins Sein gerufene Welt.2 Damit ist jener Gedanke ausgesprochen, der nach reicher Ideengeschichte sich dann besonders im 18. Jahrhundert größter Aufmerksamkeit und Zustimmung erfreuen konnte: Vom Infinitesimalen bis zur höchsten Komplexität besteht eine ineinandergreifende Kette aller Wesen, wobei die Kettenmetapher indiziert, daß diese Wesen unbeschadet ihres Eingeordnetseins in einen kontinuierlichen Zusammenhang Individualität aufweisen. 3 Bonnet nun kombiniert diesen Gedanken mit der Annahme unzerstörbarer Keime (germes indestructiblesj* die als das leiblich-organische Pendant der Seele die Unsterblichkeit des Menschen verbürgen und der Versicherung Ausdruck verleihen, daß der je konkrete Mensch aus Fleisch und Blut es ist, von dem die christliche Unsterblichkeitsgewißheit gilt. Hätte Bonnet es bei diesen naturphilosophischen Überlegungen belassen, würde er vielleicht niemals die nachgerade übersteigerte Aufmerksamkeit Lavaters auf sich gezogen haben. So aber fugte er seiner Naturphilosophie einen offenbarungstheologischen Traktat bei, der wahrscheinlich zu machen suchte, daß das Christentum als Erlösungsreligion der Keimtheorie seiner Schrift unmittelbar gemäß sei. Naturwissenschaft auf der Höhe der Zeit, weitreichende aus der Beobachtung des Natürlichen gezogene Schlüsse, und dies alles in eine verträgliche Kombination gebracht mit dem christlichen Glauben - Lavater konnte gar nicht anders als voller Begeisterung zuzugreifen. Wie im Rausch nahm er sich die offenbarungstheologischen Passagen Bonnets vor, übersetzte sie ins Deutsche, um sie druckfrisch und noch ungebunden Mendelssohn zuzusenden. Das den nach ihm benannten Streit auslösende Schriftstück stellte er seiner Übersetzung als Widmung voran. Die entscheidenden Zeilen lauten: [I]ch [darf] es wagen, Sie zu bitten ... Nicht, diese Schrift mit philosophischer Unpartheylichkeit zu lesen; denn das werden Sie gewiß, ohne mein Bitten sonst thun:

2 An die Götter gewandt sagt der Weltschöpfer in Tim 41bf. (Piaton: Sämtliche Dialoge, Bd. VI, übers, u. eri. ν. O. Apelt, Leipzig 2 1922 [ND Hamburg 2004]): „Jetzt also habet acht auf das, wozu euch meine Worte die Anweisung geben. Noch sind drei Geschlechter von lebenden Wesen unerzeugt; solange diese aber nicht erschaffen sind, wird die Welt noch unvollkommen sein; denn sie hätte dann nicht alle Arten von lebenden Wesen aufzuweisen, was sie doch muß, wenn sie wirklich vollkommen sein soll". 3 Vgl. zu dieser Ideengeschichte das beeindruckende Buch von A. O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, übers, v. D. Turck, Frankfurt a. M. 1993. 4 C. Bonnet: La palingénésie philosophique ou idées sur l'état passé et sur l'état futur des êtres vivans, Paris 2002, 157.

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Frömmigkeit und Dialog

Sondern, dieselbe öffentlich zu widerlegen, wofern Sie diese wesentlichen Argumentationen, womit die Thatsachen des Christenthums unterstützt sind, nicht

richtig

finden: Däfern Sie aber dieselben richtig finden, zu thun, w a s Klugheit, Wahrheitsliebe, Redlichkeit Sie thun heißen; - w a s Socrates gethan hätte, w e n n er diese Schrift gelesen, und unwiderleglich gefunden hätte. 5

M e n d e l s s o h n war geschockt und mit i h m ein großer Teil der Gelehrtenwelt Europas. Lichtenberg und Goethe etwa z e i g e n sich durch die Übergriffigk e i t L a v a t e r s n a h e z u a n g e w i d e r t . 6 A n d e r s h a t e s J o h a n n F. d e M a r é e s e m p f u n d e n , der in d e m B e f r e m d e n über Lavater nur e i n e n d e m

Christentum

höchst ungünstigen Zeitgeist zu erkennen vermochte.7 W i e auch

immer

dieser V o r g a n g geistesgeschichtlich einzuschätzen sein m a g - uns soll i m f o l g e n d e n v o r d r i n g l i c h der A u s t a u s c h z w i s c h e n M e n d e l s s o h n u n d L a v a t e r interessieren, d e n w i r als Z e u g n i s z w e i e r F r ö m m i g k e i t s w e i s e n interpretier e n , d i e s i c h h i n s i c h t l i c h ihrer I n t e n s i t ä t d u r c h a u s n a h e s i n d , w e n n s i e a u c h gleichwohl vollständig anderen Regelsystemen folgen. Wollte man Lavaters F r ö m m i g k e i t nur schlicht in der d e m C h r i s t e n t u m e i g e n e n m i s s i o n a r i s c h e n T e n d e n z erblicken, der g e g e n ü b e r das Judentum als

auserwähltes

5 M. Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 7. Schriften zum Judentum I, bearb. v. S. Rawidowicz, Faksimile-Neudruck der Ausgabe Berlin 1930, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, 3 (zit. JubA 7). 6 G. C. Lichtenberg: Sudelbücher I, W. Promies (Hg.), München 2005, Heft F 741 : „Denn wer ist denn dieser Lavater? Der Mann, der über den ehrlichen, ruhigen, dienstfertigen, stillen Weltweisen Mendelssohn öffentlich herpoltert um ihn zu bekehren, da doch Mendelssohn ihn unbekehrt ließ". Kaum weniger deutlich wird Goethe im 14. Buch von Dichtung und Wahrheil (Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 10. Autobiographische Schriften II, textkrit. durchges. v. L. Blumenthal u. W. Loos, komment. v. W. Loos u. E. Trunz, München 1998) 15f. : „Der Begriff von der Menschheit, der sich in ihm [sc. Lavater] und an seiner Menschheit herangebildet hatte, war so genau mit der Vorstellung verwandt, die er von Christo lebendig in sich trug, daß es ihm unbegreiflich schien, wie ein Mensch leben und atmen könne, ohne zugleich ein Christ zu sein. Mein Verhältnis zu der christlichen Religion lag bloß in Sinn und Gemüt, und ich hatte von jener physischen Verwandtschaft, zu welcher Lavater sich hinneigte, nicht den mindesten Begriff. Ärgerlich war mir daher die heftige Zudringlichkeit, eines so geist- als herzvollen Mannes, mit der er auf mich sowie auf Mendelssohn und andere losging, und behauptete, man müsse entweder mit ihm ein Christ, ein Christ nach seiner Art werden, oder man müsse ihn zu sich hinüberziehen, man müsse ihn gleichfalls von demjenigen überzeugen, worin man seine Beruhigung finde. Diese Forderung, so unmittelbar dem liberalen Weltsinn, zu dem ich mich nach und nach auch bekannte, entgegen stehend, tat auf mich nicht die beste Wirkung". 7 J. F. de Marées: Predigt und Reden bey der Taufe einer Jüdischen Familie, Dessau 2 1790, III: „Judenbekehrungen sind für den jetzigen Geschmack so widrig unmodisch ... daß man eine öffentliche, obgleich noch so sanfte, noch so sichtbar gutgemeinte Einladung zum Christenthum ... als eine schreyende Gewaltthat, als den ersten Angriff auf sein Leben, verdammen konnte. Gewiß eine Folge der so allgemeinen Kälte, der herzlosen Gleichgültigkeit gegen das Christenthum".

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Volk ganz unmissionarisch seinen Sonderstatus betont, so verstellte man sich den Blick auf die subtilen Nebentöne des Streites.8

1. Introvertierte Frömmigkeit Mendelssohn hat Lavaters Aufforderung nicht unbeantwortet gelassen, doch fällt seine Antwort gründlich anders aus, als es der Schweizer sicherlich erhofft hatte. Ohne alle Aggressivität, zu der ja durchaus Anlaß bestanden hätte, erkennt Mendelssohn die gute Absicht Lavaters an: Ich bin völlig überzeugt, daß Ihre Handlungen aus einer reinen Quelle fließen, und kann Ihnen keine andere als liebreiche, menschenfreundliche Absichten zuschreiben. Ich würde keines rechtschaffenden Mannes würdig sein, wenn ich die freundschaftliche Zuneigung, die Sie mir in Ihrer Zuschrift zu erkennen geben, nicht mit dankbarem Herzen erwiderte. Aber leugnen kann ich es nicht, dieser Schritt von Ihrer Seite hat mich außerordentlich befremdet. Ich hätte alles eher erwartet als von einem Lavater eine öffentliche Aufforderung. 9

Daß Lavater also die höchst fragile Innerlichkeit religiöser Frömmigkeit hineinzieht in den Raum urteilender Öffentlichkeit - dies ist es, was Mendelssohn anficht, und was er so auch nie von Lavater erwartet hätte. Die ,reine Quelle' hingegen, aus der Lavaters Absichten fließen, erkennt Mendelssohn bereitwillig an. Damit distanziert er schon in der ersten Reaktion auf das Schreiben die fromme Innerlichkeit Lavaters und die mit dieser im Zusammenhang stehenden Absichten, auch andere an dieser Innerlichkeit teilhaben zu lassen, von der auffordernden Geste dieser Innerlichkeit gegenüber anderen. Religiöse Überzeugungen und Affekte können also, so Mendelssohns hier schon sichtbare Überzeugung, ihre Kraft nicht mehr behaupten, wenn sie von anderen mit der gleichen Intensität sollen nachvollzogen werden. Als Spiegel frommer Innerlichkeit werden sie blind, wenn andere sich in diesem Spiegel zu erkennen versuchen. Daß diese Überzeugung für Mendelssohn von grundlegender Bedeutung ist, zeigt er gleich in den folgenden Sätzen, wenn er fortfährt, daß Lavater schon bei den sehr privaten Gesprächen, die er mit Mendelssohn gefuhrt 8 Damit soll allerdings nicht gesagt sein, daß nicht sowohl die Unterschiedlichkeit der Religionen beider Kontrahenten als auch die politisch schwierige Lage Mendelssohns im Preußen Friedrichs des Großen eine wichtige Rolle gespielt haben. Unter dieser Perspektive aber findet sich der Lavaterstreit nahezu in jeder mit Mendelssohn oder Lavater befaßten Abhandlung - mehr oder weniger gründlich - dargelegt. Wir wollen die Notwendigkeit dieser Perspektive keineswegs bestreiten, sondern nur auf einige Seitenaspekte hier stärker die Aufmerksamkeit lenken. 9 M. Mendelssohn: Schriften über Religion und Aufklärung, M. Thom (Hg.), Berlin 1989, 311 (zit. Sü).

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hat, hätte bemerken können, daß letzterer keineswegs Miene machte, das Religionsthema zu verhandeln. 10 Und wenn er weiter davon schreibt, wie sehr Lavater und seine Freunde in ihn „dringen mußten, bevor" er „es wagte, in einer Angelegenheit, die dem Herzen so wichtig ist," seine „Gesinnung zu äußern" (Sü 311 f.), so zeigt das nachgerade anschaulich, daß nur mit Hilfe eines kommunikativen Übergriffs das religiöse Überzeugungsleben Mendelssohns konnte an den Tag gebracht werden. Nun aber holt Mendelssohn aus zu einem gewaltigen Schlag, der Lavater aussehen läßt, als hätte er ein erhebliches Reflexionsdefizit hinsichtlich der basalen Aufbaumomente des religiösen Bewußtseins, ganz unabhängig davon, welcher Religion sich dieses Bewußtsein zugehörig weiß. Sie sehen also, daß ohne aufrichtige Überzeugung von meiner Religion der Erfolg meiner Untersuchung sich in einer öffentlichen Tathandlung hätte zeigen müssen. Da sie mich aber in dem bestärkte, was meiner Väter ist, so konnte ich meinen Weg im stillen fortwandeln, ohne der Welt von meiner Überzeugung Rechenschaft ablegen zu dürfen (Sü 313).

Lavaters Aufforderung verspätet sich nicht nur gegenüber Mendelssohn selbst, sondern sie verkennt auch die Tiefendimension des Religiösen. Die Prüfung der Grundprinzipien seiner eigenen Religion hat Mendelssohn nämlich schon vorgenommen, und wenn er einen Grund gesehen hätte, seine Religion zu verlassen, so hätte er dies auch getan, auch ohne durch Lavater dazu aufgefordert worden zu sein. Es gehört nämlich zu den basalen Aufbaumomenten der Religion, schon vor ihrer diskursiven oder bekenntnishaften Expressivität auf Reflexivität und eine damit verbundene Kritikfähigkeit angelegt zu sein. Und mehr noch: Es ist gar kein externer Standpunkt denkbar, von dem aus diese Prüfung vorgenommen zu werden vermöchte. Das Frömmigkeitserleben vollzieht sich immer schon auch in der Durchsetzung von Negativität am Orte ihrer Überwindung in frommer Gestimmtheit und Tat. Das zu übersehen, hieße, den Charakter der Religion falsch zu bestimmen; und dies hat Lavater getan, wenn er meinte, Mendelssohn müsse, um in seiner Religion zu verbleiben, die Bonnetschen Beweise widerlegen. Frömmigkeit ist keine Haltung, die man annimmt, um sie jederzeit wieder verwerfen zu können, sondern eine auf gedankenvoller Übung beruhende Innerlichkeit, die den Menschen so tief prägt, daß er zu dieser Geprägtheit keine distanzierte Perspektive einzunehmen vermag,

Ebd.: „Da Sie sich der vertraulichen Unterredung noch erinnern, die ich das Vergnügen gehabt, mit ihnen und ihren würdigen Freunden auf meiner Stube zu halten, so können Sie unmöglich vergessen haben, wie oft ich das Gespräch von Religionssachen ab und auf gleichgültigere Materien zu lenken gesucht habe".

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sondern in den Bezugnahmen auf die Gegenstände der Religion durch seine fromme Gesinnung gleichermaßen sich mit sich selbst identifiziert."

2. Extravertierte Frömmigkeit Lavater hat Mendelssohns Schreiben nicht unbeantwortet gelassen und bittet in einem Antwortbrief Mendelssohn für sein unbedachtes und übergriffiges Vorgehen um Entschuldigung. Doch so sehr er sich auch bemüht, durch verständnisvolles Entgegenkommen den Vorfall zu bereinigen - der missionarische Eifer ergreift immer wieder hemmungslos Besitz von ihm und läßt ihn gegen Ende seines Briefes beschwörend ausrufen: „Wollte Gott, daß Sie ein Christ wären!" (JubA 7, 36).12 Völlig anders also als in dem soeben besprochenen Dokument von Mendelssohn, haben wir hier einen Frömmigkeitstypus vor Augen, der nach außen drängt, sich mitteilen will und nachgerade keine Peinlichkeit scheut, um das Gespräch immer neu auf jene Gegenstände zu bringen, die Mendelssohn lieber unbesprochen gelassen hätte. Beginnt man Lavaters Antwort an den Herrn Moses Mendelssohn (1770) zu lesen, so ist man erstaunt über die Offenherzigkeit, mit der er einzugestehen scheint, einen Fehler gemacht zu haben. „Ich will es Ihnen nicht verhehlen", so introduziert Lavater, „dieser Schritt, der Sie so sehr befremdet, ist beynahe allen meinen Freunden, und insonderheit den auswärtigen, vornehmlich aber dem Herrn Bonnet übereilt vorgekommen ... daß ich schon vor dem Empfange Ihres gütigen Schreibens geneigt war, Sie aus der

A. a. O., 314: „Allein von dem Wesentlichen meiner Religion bin ich so fest ... versichert, als Sie oder Hr. Bonnet nur immer von der Ihrigen sein können, und ich bezeuge hiermit vor dem Gott der Wahrheit, Ihrem und meinem Schöpfer und Erhalter ... daß ich bei meinen Grundsätzen bleiben werde, solange meine ganze Seele nicht eine andere Natur annimmt ... Man muß gewisse Untersuchungen irgendeinmal in seinem Leben geendigt haben, um weiterzugehen. Ich darf sagen, daß dieses in Absicht auf die Religion schon seit etlichen Jahren von mir geschehen ist. Ich habe gelesen, verglichen, nachgedacht und Partei ergriffen". Wie fassen uns hier mit der Darstellung des Mendelssohnschen Religionsverständnisses sehr kurz, weil er wichtige Argumente noch einmal wiederholt in seiner Antwort auf Lavater, der wir uns unten zuwenden werden. 12

Lichtenberg zeigt sich besonders über diese Passage hell empört: Lichtenberg (wie Anm. 6) Heft C 39: „Beim Anfang von Lavaters Antwort auf Herrn Mendelssohns Brief habe ich einen unbeschreiblichen Unwillen gespürt, es ist nichts Widerlicheres als einen Unvorsichtigen einen Fehler, der fur ehrliche Leute höchst unangenehme Folgen hätte haben können, aus einem gewissen Kützel ... aus einer Art von ... Mutwillen erst begehen und dann wieder gern bereuen zu sehen in Ausdrücken in denen er sich selbst zu gefallen scheint. Geh' heilloser Schwätzer ... und tändle mit deiner eignen Ruhe, aber laß andere Leute ungestört, die besser sind als du. Was muß Johann Caspar Lavater für ein Mann sein, dem bei Lesung einer schönen Gesinnung Mendelssohns der Wunsch aufstoßen kann: wäre er doch ein Christ".

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V e r l e g e n h e i t , in w e l c h e ich S i e g e s e t z t hatte, h e r a u s z u z i e h e n " ( J u b A 7, 2 7 ) . D o c h k a u m hat L a v a t e r d a s a u s g e s p r o c h e n , d a l e g t e r u n m i t t e l b a r n a c h : Ich konnte freylich das geschehene darum noch nicht ganz bereuen, und glaube auch jetzo, nach dem Empfange Ihres Schreibens, und nach den so ungleichen Urtheilen des Publikums, noch nicht Ursache zu haben, es ohne Beding zu bereuen. Ich fange aber an, einzusehen, daß ich meine Absicht auf einem andern W e g e vielleicht glücklicher erreicht... haben könnte (ebd.).

D e r g a n z e B r i e f n u n s t e l l t d e n V e r s u c h dar, d i e s e n a n d e r e n W e g

einzu-

schlagen, u m i m B ü ß e r g e w a n d vielleicht m e h r G l ü c k bei d e m in seiner Religion so fest verharrenden M e n d e l s s o h n zu haben. Z u e r s t s t e l l t L a v a t e r klar, d a ß er M e n d e l s s o h n k e i n „ G l a u b e n s b e k e n n t n i ß a b z u n ö t h i g e n " (ebd.) gedachte, s o n d e r n ihn v i e l m e h r nur für eine gründlic h e U n t e r s u c h u n g d e s B o n n e t s c h e n O p u s g e w i n n e n w o l l t e , z u d e r er, M e n delssohn, als ein großer jüdischer P h i l o s o p h v o n g e s a m t e u r o p ä i s c h e m A n s e h e n g a n z b e s o n d e r s p r ä d e s t i n i e r t sei. 1 3 D a n n w e c h s e l t e r g e s c h i c k t z u m T h e m a d e s M e n d e l s s o h n s c h e n A n t w o r t s c h r e i b e n s , w e n n er d i e s e s a l s u n mittelbare B e s t ä t i g u n g seiner V e r m u t u n g , M e n d e l s s o h n w ä r e für eine phil o s o p h i s c h e P r ü f u n g d e r A r g u m e n t e z u g u n s t e n der r e l i g i ö s e n V o r z ü g e d e s C h r i s t e n t u m s d e f a c t o d e r r i c h t i g e M a n n , interpretiert. 1 4 S c h a u e n w i r n o c h e i n m a l , w a s M e n d e l s s o h n a l s K e r n s a t z s e i n e r A n t w o r t f o r m u l i e r t hatte: Man muß g e w i s s e Untersuchungen irgendeinmal in seinem Leben geendigt haben, u m weiterzugehen. Ich darf sagen, daß dieses in Absicht auf die Religion schon seit

JubA 7, 27f.: „Meine Absicht ... gieng nur dahin, der mir so angelegenen Sache des Christenthums... einen meiner Meynung nach weit wichtigern Dienst, als die Uebersetzung dieser Schrift war, zu erweisen, indem ich Sie zu bereden hoffte, eine Untersuchung derselben vorzunehmen: Eine Untersuchung, von der ich ... glaubte, sie müßte viel dazu beitragen, die Wahrheit, oder das, was ich nach meiner Ueberzeugung fur Wahrheit hielt, in das hellste Licht zu setzen". Hierbei konnte sich Lavater auf Bonnet selbst berufen, der in seiner Vorrede zu den offenbarungsphilosophischen Überlegungen seiner Palingenesie sagte: „Wahre Philosophen sollen mich beurtheilen: Wenn ich ihre Beistimmung erhalte, so werde ich dieselbe als eine rühmliche Belohnung meiner Arbeit ansehen" (C. Bonnet: Herrn Carl Bonnets, verschiedener Akademien Mitglieds, philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum. Samt desselben Ideen von der künftigen Glückseligkeit des Menschen, a. d. Franz. übers, u. m. Anm. J. C. Lavater (Hg.), Zürich 1769, XX). G. Luginbühl-Weber: Zu thun, ... was Sokrates gethan hätte: Lavater, Mendelssohn und Bonnet über die Unsterblichkeit, in: Pestalozzi, K./Weigelt, H. (Hg.): Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, Göttingen 1994, 114-148, 125, vertritt deshalb die Ansicht, Lavater hätte mit der Hineinnahme Mendelssohns in die Debatte das philosophische Gespräch entregionalisieren und keineswegs einen Bekehrungsversuch unternehmen wollen. 14 JubA 7, 28: „Freylich, davon, mein edler Wahrheitsfreund, bin ich jetzt noch mehr, als jemals überzeugt, daß ich mich an den rechten Mann gewandt hätte". Oder a.a.O., 29: „O mein verehrungswürdiger Freund! Sie beschreiben mir, wider ihre Absicht, den Mann, an den ich am liebsten wünschte, mich wenden zu dürfen, um von seinen Untersuchungen Nutzen zu schöpfen, und ihm die meinen zur schärfsten Prüfung vorzulegen".

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etlichen Jahren von mir geschehen ist. Ich habe gelesen, verglichen, nachgedacht und Partei ergriffen ( S ü 3 1 4 ) .

Mehr zu sagen ist eigentlich nicht nötig, um den ihm aufgenötigten Dialog über die Religion endgültig zu beenden, und wenn Lavater, wie er schreibt, seinen Schritt bereut, so wäre damit auch von seiner Seite genug gesagt. Lavater aber kann nicht schweigen, weil - und hier liegt der Überschritt in eine Mendelssohn ganz andere Frömmigkeit - er mit diesem Schweigen nicht nur dem Anliegen seines Gesprächspartners, den er, ohne dies zu wollen, in eine heikle Lage gebracht hat, gerecht würde, sondern zugleich auch dessen Religionshaltung übernehmen würde. Und so sagt Lavater frei heraus, was ihn zu seinem Schritt bewogen hat: das fromme Verlangen und die daraus erwachsene religiös-missionarische Versuchung;15 eine Versuchung, die so stark ist, daß die folgenden zwei Passagen aufeinander folgen können. Ich nehme also meine unbedingte Aufforderung, als eine Sache, zu welcher ich nicht hinlänglich berechtigt war, zurück, und bitte Sie vor dem ganzen Publikum aufrichtig: Verzeihen sie mir das allzudringende, das Fehlerhafte in meiner Zuschrift (JubA 7, 29).

Und unmittelbar im nächsten Satz steht zu lesen: In der zuversichtlichen Erwartung, Sie werden meine aufrichtige Abbitte annehmen, wage ich es, Ihnen noch meine Gedanken über einige Punkte Ihres Schreibens offenherzig mitzutheilen (ebd.).

Man meint, unmittelbar dessen Zeuge zu werden, wie ein frommes Bewußtsein in dem Versuch, sich auf den Anderen zu beziehen, scheitert, um dann nur den Bezug auf sich selbst herstellen zu können. Und mehr noch: Der Andere wird in diesem Diskurs nur zu einem Auslöserreiz für die Sedimentierung jener frommen Gehalte, die religiöses Bewußtsein - vor seinem Selbstbezug - von anderem Anderen erborgte. Darum schwadroniert Lavater nun darüber, ob es denn von Mendelssohn richtig war, gegen ihn einzuwenden, er, Lavater, hätte einen Wortbruch begangen, wenn er bei der „Erwähnung" von Mendelssohns „Hochachtung für den moralischen Character des Stifters" der christlichen Religion „die Bedingung verschwiegen habe, die" Mendelssohn „ausdrücklich hinzugethan",16 daß er, Lavater, „ja 15 Ebd. (Hvhg. z.T. v. Vf.): ,,[M]eine Gründe, die mich bewogen haben, diesen Schritt zu thun ... würden wohl überhaupt mein Verlangen, die Bonnetsche Schrift von Ihnen untersucht zu sehen ... rechtfertigen. Sie würden zeigen, daß jeder, der sich genau in meinem Standorte befunden hätte ... in die stärkste moralische Versuchung gekommen wäre, Ihnen diese Untersuchung nahe ans Herz zu legen". 16 Die ganze Passage ist im Original hervorgehoben.

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nicht einmal das Wort Hochachtung" benutzt, sondern „mit Vorbedacht" nicht von religiöser; gar nicht! ... sondern nur von philosophischer Achtung" gesprochen hätte (JubA 7, 30). Während also Mendelssohn das in einer höchst privaten Gesprächssituation ihm gegebene Verschwiegenheitsversprechen einklagt und somit zugleich auf eine Beendigung des Diskurses dringt, bringt der Physiognomist den Diskurs neuerlich in Gang. Er erreicht diese Neuinszenierung seines Bekehrungsversuchs, indem er einige kleine Richtigstellungen hinsichtlich des von Mendelssohn im Privaten Gesagten vornimmt, wodurch nicht nur der Anschein entsteht, Lavater hätte nun dem Befremden Mendelssohns Rechnung getragen, sondern zugleich auch suggeriert wird, es ginge in dem geführten Diskurs um ein Problem, daß sich bei nur hinlänglich ausdifferenzierter Konzentration auf die Sachhaltigkeit religiöser Kernaussagen lösen ließe. Damit hat sich das extravertierte Frömmigkeitsbedürfnis durchgesetzt gegen die nur auf das Private und Intime religiöser Vollzüge setzende Religion, und es ist, sehen wir weiter zu, wie Lavater seinen Gedanken entwickelt, höchst bedeutsam, daß diese Extravertiertheit nicht nur der Lavaterschen Frömmigkeitsgestimmtheit kann zugeschlagen werden. Nun nämlich kommt Lavater zu sprechen auf die Bonnetsche Palingenesieschrift, das den Streit auslösende Corpus delicti also, und wirft hier Mendelssohn vor, er hätte in seinem Urteil über Bonnet dem großen Naturforscher und Philosophen, der dann ja auch an die vordere Front derer getreten war, die Lavaters Vorgehen gegen Mendelssohn kritisiert hatten, Unrecht getan, ja, Mendelssohns Worte gegenüber Bonnet seien eines Philosophen vom Range Mendelssohns unwürdig: „In Ihrem die Bonnetsche Schrift so tief herabsetzenden Urtheile verkenne ich den Philosophen Moses ein wenig" (JubA 7, 31). Diese Stellungnahme Lavaters zur Ehrenrettung seines Landsmanns wäre nichts weiter als eine unangebrachte weitere Verlängerung des Diskurses, wenn Lavater nicht gerade hier für sich eine Tu-quoque-Argumentation in Anspruch zu nehmen die Berechtigung hätte. Mendelssohn war nämlich in seinem Brief an Lavater, nachdem er nachdrücklich auf das Nichtmissionarische des Judentums hingewiesen hatte, fortgefahren: Ich habe die Bonnetsche, von Ihnen übersetzte Schrift mit Aufmerksamkeit gelesen. Ob ich überzeugt worden sei, ist nach dem, was ich vorhin erklärt habe, wohl die Frage nicht mehr (Sü 320).

Und wenn Mendelssohn sich der vexatorischen Aufforderung Lavaters, Bonnet zu widerlegen oder zu konvertieren, hätte entwinden wollen, wäre dies ein sehr gelungener Abschlußsatz. Aber Mendelssohn läßt es dabei nicht bewenden und antwortet Lavater genau so, wie dieser es gewünscht hatte in seinem Brief:

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Aber ich muß gestehen, auch in ihrer Art, als Verteidigung der christlichen Religion, hat sie [sc. Bonnets Palingenesieschriñ] mir den Wert nicht zu haben geschienen, den Sie darauf setzen ... Wenn ich nicht irre, so sind sogar die mehresten philosophischen Hypothesen dieses Schriftstellers auf deutschem Grund und Boden gewachsen ... Mir kömmt es vor, als w e n n die innere Überzeugung des Herrn Bonnet und ein löblicher Eifer fur seine Religion den Beweisgründen ein Gewicht zugelegt hätte, das ein anderer nicht darin finden kann ... Er kann nur für solche Leser geschrieben haben, die, w i e er, überzeugt sind und nur lesen, um sich in ihrem Glauben zu bestärken

(Sü

320f.). 1 7

Das ist bedeutsam, da Mendelssohn hier die von ihm selbst immer wieder neu ins Spiel gebrachte Maxime, fromme Innerlichkeit nicht zum Gegenstand von Glaubensgesprächen zu machen, verletzt. Argumentationsstrategisch war nämlich Mendelssohns Kritik der Palingenesieschrift keinesfalls notwendig, wenn es ihm nur darum gegangen wäre, Lavater auf sein Religionsverständnis einzuschwören und damit auf Abstand zu halten.18 Es zeigt

17 C. Bonnet (Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen. Als ein Anhang zu den letztern Schriften des Verfassers; und welche insonderheit das Wesentliche seiner Untersuchungen über das Christenthum enthält, 2. T., übers, u. m. Anm. J. C. Lavater (Hg.), Zürich 1769) selbst hatte in der von Lavater übersetzten offenbarungstheologischen Abhandlung keinerlei apologetisches Interesse oder das Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber anderen Religionen, sondern das Christentum als reine Liebesreligion einer stets sich vervollkommenen Mitmenschlichkeit zum Ausdruck gebracht: „Die Lehre eines himmlischen Gesandten sollte also wesentlich auf den grossen Grundsätzen der Gesellschaftlichkeit beruhen. Sie sollte am geradesten nach der Vervollkommnung und Veredelung aller natürlichen Empfindnisse, welche den Menschen mit seinen Nebengeschöpfen verbinden, abzielen. Sie sollte die Sayten der Menschlichkeit bis ins Unendliche vervielfältigen und verlängern: Sie sollte dem Menschen die Liebe zu Seinsgleichen als die reichste und reinste Quelle seiner gegenwärtigen und zukünftigen Glückseligkeit vorstellen" (277f.). Hinsichtlich der von Lavater so in den Vordergrund gerückten Beweiskraft seiner Argumentationen findet sich bei Bonnet zu lesen: „Ich werde nicht sagen, daß die Wahrheit des Christenthums demonstriert sey. Dieser ... Ausdruck ... würde ... uneigentlich seyn. Ich werde aber schlechthin sagen: Daß die Thatsachen, worauf die Glaubwürdigkeit des Christenthums beruhet ... einen solchen Grad von Wahrscheinlichkeit haben, daß, wenn ich dieselben verwerfen würde, ich die sichersten Regeln der Logik umstossen, und den gemeinesten Maximen der Vernunft entsagen müßte" (358). Indem also Bonnet für seine Überlegungen gar nicht in Anspruch nehmen will, daß sie strengen Beweischarakter haben, sondern den Basisüberzeugungen des Christentums nur einen ,hohen Grad an Wahrscheinlichkeit' zuerkennt, kann er ja das Plädoyer fur ein Judentum, wie es sich durch Mendelssohn dargestellt findet, durchaus anerkennen. Noch weiter geht Bonnet, wenn er sagt: „Ich habe mich bestrebt, auf den Grund meines Herzens durchzudringen; und ... ich [habe] in demselben keinen geheimen Beweggrund entdecket... der mich hätte vermögen sollen, eine Lehre zu verwerfen, die so geschickt ist, die Schwachheit meiner Vernunft zu ergänzen" (358f.). Damit ist die christliche Religion nicht als bloße Vernunftreligion gekennzeichnet, sondern als eine die Vernunft ergänzende und stärkende Gestimmtheit, deren metaphorische Entstehungsgeschichte immer zurückgeht auf die Tiefe des menschlichen Herzens. 18 Dies trifft auch dann zu, wenn in Rechnung gestellt wird, daß - wie er selbst bekennt Mendelssohn bei der Niederschrift seiner Zeilen der Meinung war, Bonnet hätte seine Beweise für

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sich aber, daß auch Mendelssohn nicht widerstehen kann, eine von ihm als solche erkannte Schwäche seines Gegenübers auszunutzen oder zumindest darauf hinzuweisen. Offenkundig läßt sich die scharfe Trennung zwischen religiöser Innerlichkeit und einer diskursiven Inanspruchnahme dieser privaten religiösen Vollzüge nicht durchführen, weil immer dann, wenn sich dem religiösen Subjekt ein seine Frömmigkeit betreffender Sachverhalt aufdringt, dieser Sachverhalt auch dazu neigt, überfuhrt zu werden in argumentierende Rede. Doch sind diese Argumentationsfiguren sehr viel mehr der unmittelbaren Frömmigkeitsdynamik als dem Vertrauen in die Wahrheitsfahigkeit der im Diskurs verwandten Argumente geschuldet. Wenn Mendelssohn wirklich nach der von ihm selbst vorgeschlagenen Intimitätsregel hinsichtlich des Religiösen verfahren wäre, so hätte ihm gar nicht einfallen können, Bonnet in dieser Weise anzugreifen, und zwar nicht deshalb, weil die von ihm vorgetragenen Einreden nicht triftig sind - dies mögen sie sein - , sondern weil ihm bewußt sein konnte, daß seine Kritik von Lavater, der ja sein christliches Selbstverständnis sehr eng mit den Beweisen Bonnets verknüpft hatte, als unmittelbarer Eingriff in sein Frömmigkeitsbewußtsein empfunden werden mußte. Die folgenden Zeilen zeigen, daß Lavater genau gespürt hat, wie stark Mendelssohn hier abgewichen ist von dem eigentlichen Aussagewillen seines Briefes: Ich kann mich irren; aber ich mag die Sache überlegen wie ich will; bey diesem so sehr absprechenden Tone, der offenbar weiter geht, als es die Absicht Ihres Schreibens zu erfordern, als es von der einen Seite bey dem Bekenntnisse zu einer geoffenbarten Religion möglich zu seyn scheint, kann ich mir von der andern Seite wiederum einen Mann ohne große Vorurtheile für seine Religion nicht wohl denken (JubA 7, 3 1 f , Hhgn. z.T. v. Vf.).

Danach hat sich Mendelssohn mit dem Ausfall gegen Bonnet seine Argumentation in den Augen Lavaters, der nun seiner frommen Initiative freien Lauf meint lassen zu können, selbst aus der Hand geschlagen. So sehr es Lavater „befremdet", Mendelsohns abweisende Haltung dem Christentum gegenüber zu spüren, so wenig „erschreckt" es ihn doch (JubA 7, 32), da er eingedenk des Heidenapostels froher Hoffnung meint sein zu dürfen, daß sich auch bei dem Juden Mendelssohn ein Damaszenisches Erlebnis einzustellen vermag. Dabei kombiniert er sehr geschickt Mendelssohns Bekenntnis, seine Seele müsse eine ganz andere Gestalt annehmen, wenn er seine Religion verlassen sollte, mit dem Bekehrungserlebnis des Paulus: Paulus, so Lavater, sei das gute Exempel dafür, daß Mendelssohn durchaus recht hätte, wenn er meinte, die Annahme der christlichen Religion könne nur das Christentum gegen ihn, Moses Mendelssohn, und seinen jüdischen Glauben verfaßt (vgl. JubA 7, 42f).

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innerhalb eines seelischen Wandlungsprozesses erfolgen. Aber zugleich: Bei Paulus sei die historisch belegbare Tatsache nachzuweisen, daß eine solche Wandlung der seelischen Gestimmtheit und damit auch der religiösen Überzeugungen möglich ist. Dabei spielt Lavater ganz bewußt die historische Faktizität einer solchen Bekehrung gegen die psychologische Nachvollziehbarkeit dieses Vorgangs aus, um somit Mendelssohns Argumente in die Perspektive einer Heilsgeschichte zu rücken, innerhalb derer diese als vollkommen natürliche psychologische Verweigerungsoperationen erscheinen müssen.19 Und da nun einmal Mendelssohn in das Duell über die Bonnetsche Palingenesieschrift eingewilligt hat, muß er auch hinnehmen, daß Lavater einen weiteren Schuß auf ihn feuert, wenn er fragt, was denn genau an den Bonnetschen Beweisen zu beanstanden sei, wenn Mendelssohn glaube, sie seien zu schwach, um über die Grenzen jener christlichen Gemeinschaft, die ohnehin von der Wahrheit ihrer Religion überzeugt ist, hinaus noch eine überzeugungskräftige Wirksamkeit entfalten zu können. Daran ist nicht so wichtig, wie Mendelssohn Bonnets Thesen wirklich einschätzt nach ihrer begründungslogischen Triftigkeit, sondern daß es Lavater nunmehr gelungen ist, die Debatte wieder vollständig auf eine Besprechung der Bonnetschen Beweise des Christentums zu lenken, so daß Mendelssohns genuine Pointe, das Unaussprechliche der Seele nicht dadurch auf immer zum Schweigen zu bringen, daß man es anspricht und damit in die unverfugbaren Wechselreden eines Dialogs zerrt, vollständig untergegangen zu sein scheint. Und Mendelssohn selbst - wir haben schon darauf hingewiesen hat nicht unwesentlich zu dieser Situation beigetragen, als er sich zu einem unverhohlen abwertenden Ton über Bonnets Schrift hat hinreißen lassen. Darum kann man es Lavater durchaus nachfühlen, wenn er sagt: O b ich . . . g l e i c h . . . die U n s c h i c k l i c h k e i t einer Aufforderung

... e i n s e h e , s o kann ich

d o c h nicht u m h i n , m e i n Herr, S i e . . . zur B e f ö r d e r u n g der Ihnen u n d mir s o theuren Wahrheit

z u bitten, daß S i e d o c h . . . mir . . . s a g e n m ö c h t e n , w o r i n die

Untersuchung

w i d e r d i e Logik

Bonnetsche

v e r s t o ß e n hat ( J u b A 7, 3 4 ) .

Mendelssohn ist nun genötigt zu reagieren, auch wenn er sich in Lavaters Worten nicht wiederfinden sollte, weil er dann nämlich zumindest klarzustellen hätte, daß er Bonnets Schrift nicht für unlogisch, sondern nur für 19

JubA 7, 32: ,,[D]er größte Sachwalter des Christenthums war ehemals wenigstens ebenso weit davon entfernt, als Sie immer seyn können. Freylich nahm seine ganze Seele eine andre Natur an. Ein Phänomen, dessen historische Glaubwürdigkeit Ihnen schwerlich verdächtig seyn kann, und dessen Erklärung aus natürlich-psychologischen Ursachen von Ihnen wohl am meisten für unzulänglich erkannt werden muß Denn wer sollte die natürliche Unmöglichkeit, daß der erklärteste Verfolger des Christenthums auf einmal der treuste, feurigste und heldenmüthigste Verfechter desselben werden könnte, tiefer empfinden müssen, als Sie?"

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nicht geeignet hält, ihn als frommen Juden von der Überlegenheit der christlichen Religion zu überzeugen. Zugleich, und das ist wohl das Entscheidende, hat Lavater mit dem Beschwören der Wahrheit eine Auratik in das Spiel gebracht, der sich zu entziehen Mendelssohn schlechterdings nicht möglich ist, denn: Wie sollte ein Wahrheitssucher dem, der ebenfalls diese Suche zu seinem Geschäft erklärt, absprechen, daß er es ernst damit meint, und wie sollte er, wenn die gegenseitige Ernsthaftigkeit der Absichten einmal zugestanden wurde, seine Antwort gerade dann verweigern, wenn er hochachtungsvoll darum gebeten wird, seine Erkenntnisse und Einsichten nicht für sich zu behalten. So endet Lavater sein Schreiben an Mendelssohn dann auch - „zur Ehre der Wahrheit" - mit soviel warmherzigem Lob, daß Mendelssohn sich in die peinlichste Lage versetzt sehen würde, wenn er nicht reagierte (JubA 7, 35). Ich finde in Ihrem Schreiben Gesinnungen, die ich mehr als verehre, die mir Thränen aus den Augen gelocket haben; Gesinnungen, die mir aufs neue - Verzeihen Sie mir meine Schwachheit - den Wunsch abnöthigten: Wollte Gott, daß Sie ein Christ wären! ... Das Maas der Glückseeligkeit, lehren Sie, werde bey allen vernünftigen Wesen dem Maasse ihrer moralischen Receptität gleich seyn. Nach meinen Begriffen nun kann der Christ die höchste Stufe dieser moralischen Fähigkeit am leichtesten und geschwindesten erreichen; und sollten Sie es mir nicht gern verzeihen, daß mich diese ebenfalls in meiner Natur tief eingegrabne Überzeugung angetrieben hat und noch antreibt, von ganzer Seele zu wünschen, daß Sie den kürzesten Weg zur höchsten Tugend und Seeligkeit betreten möchten? Noch sehr vieles möchte Ihnen mein Herz sagen, das mit der Ruhe der Unschuld und des guten Gewissens, und mit dem Vergnügen der Freundschaft und der Zärtlichkeit an Sie denkt... Aber nun genug vor dem Publikum!" (JubA 7, 35f„ Hvhg. z.T. v. Vf.).

Mit Tränen der Rührung endet, was mit einer Begeisterung für deduktives Denken und einer Einladung zum Austausch darüber begann. Und dieser Austausch hat ja trotz der anders lautenden Erklärung Mendelssohns stattgefunden, indem dieser sich mit hinlänglicher Deutlichkeit über seine Religion und den Grund, in ihr zu verbleiben, ausgesprochen hat. Mendelssohns Sich-Aussprechen war, wie wir gesehen haben, von der Intention getragen, sich nicht furderhin aussprechen zu müssen über einen Gegenstand, der viel zu tief in die Sphäre frommer Empfindungen einlagert ist, als daß man darüber in einem Coram-publico-Gespräch streiten könne. Lavater hat dieses Argument Mendelssohns durchaus vernommen und zitiert es auch in seinem Schreiben, aber er kann es sich nicht nach seinem Sachgehalt zueigen machen, sondern vermag darin einzig eine Gesinnung zu erkennen, die in ihrer Schönheit ihn in tiefe religiöse Rührung versetzt. Diese Rührung aber ist trügerisch, da sie durch das Loblied auf den anderen zwar die Stimme eigener und dem Lob ganz äußerlicher Absichten zu übertönen

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sucht, dabei aber nur ungenügend zu verbergen vermag, daß das sich als allgemein gebende Interesse am Wahren das Konkrete der Wahrheit des anderen zwingt, unwahr zu werden. Dies aber scheint offensichtlich genau die Verfahrensweise jenes extravertierten Religionsverständnisses zu sein, wie es durch Lavater zum Ausdruck gebracht wird: Frömmigkeit entflieht dem reinen Selbstbezug durch jene Gewalt, die eine Reflexion anwenden muß, wenn sie nur mit dem anderen bei sich selbst sein will, und sie sucht sich dabei das Versteck eines Heischesatzes: ,Wollte Gott, daß Sie ein Christ wären'! Daß dies wirklich Gewalt ist, kann der Autor nur zugeben, indem er den Gewaltakt verschiebt auf eine ubiquitäre Nötigung, die dann auch von ihm selbst Besitz ergriffen hätte, und die er nur weitergibt - weitergibt aus Liebe. Ausgeübte Gewalt hüllt sich dabei in jene Bitte an das Gegenüber, den, der sie ausübt, doch nicht nach seinem Tun, sondern als das Opfer einer absoluten Forderung zu beurteilen, einer Forderung, die ihn nach den Gesetzen der Wahrheit, die ja bekanntlich allem Denken und Tun unverrückbare Regeln in die Hand gibt, handeln läßt: ,Gesinnungen, die mir aufs neue - Verzeihen Sie mir meine Schwachheit - den Wunsch abnöthigten: ,Wollte Gott, daß Sie ein Christ wären'!'. Theologisch stimmt Lavater nicht ganz ungeschickt mit Mendelssohn der aufklärerischen Überzeugung zu, daß die Glückseligkeit des Menschen mit dessen moralischer Vervollkommnung Schritt zu halten hätte. Hinsichtlich des Vorzugs seiner eigenen Religion macht Lavater nun ein Beschleunigungsphänomen geltend, indem er sagt, daß keinesfalls das Judentum etwa unfähig wäre, die höchste Stufe moralischer Vervollkommnung zu erreichen, es dem Christentum aber beschieden sei, dieser Vervollkommnung leichter und mit höherer Geschwindigkeit teilhaftig zu werden. Nach Lavater bedeutet dies offenbar keine Abwertung des Judentums, denn weder nimmt er es heraus aus Gottes Heilsplan, noch reduziert er es auf den fixen Zusammenhang von Verheißung und Erfüllung. Was also Judentum und Christentum trennt, sei lediglich in einer ganz anderen religiösen Frömmigkeitstechnik zu erblicken, denn während Mendelssohn den Finger allein auf die Tatdimension seiner Religion legt, ist es Lavaters tiefe Überzeugung, daß diese Taten in Jesus Christus schon immer geschehen sind, ein Geschehen, daß nun auch die jüdische Frömmigkeit des Erfullungsdrucks hinsichtlich aller von Gott gegebenen Gesetze enthebt. Darum stellt das Festhalten am gesetzlichen Charakter des Judentums nach Lavater zwar keine religiöse Irrlehre, aber gleichwohl einen hemmenden Impuls gegenüber einer am Christentum orientierten moralischen Beschleunigungsreligion dar. Dies mag uns auf ein weiteres Motiv fuhren, das extravertierte Frömmigkeit mit sich zu bringen scheint. Das nach außen dringende Moment einer sich auf Missionierung festlegenden Religion ist immer auch gezwungen, jene Momente hervorzuheben, die die Akzeptanzschwelle herabsetzen.

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Damit einher geht dann nicht selten eine Elementarisierung und Vereinfachung religiöser Deutungsfiguren, die ja heruntergestimmt werden müssen auf jenes Maß, das der Annahme dieser Religion förderlich ist. Am besten ist dies zu erreichen, wenn man zeigen kann, daß jene Religion, die der missionarischen Initiative ausgesetzt ist, Eigenes nicht aufgeben muß durch den Übertritt in die andere Religion, sondern im Gegenteil Eigenes im Anderen zur Eigentlichkeit der Erfüllung zu steigern vermag. Das missionarische Interesse scheint hier leicht in Kauf zu nehmen, daß mit dieser Funktionalisierung ein Schwund deutungswürdiger Traditionen einhergehen könnte, und man meint fast zu beobachten, daß diese Deutungsgegenstände vor dem Willen, sich auszusprechen und anderen Eigenes anzudemonstrieren, bis zur Unkenntlichkeit zurücktreten.

3. Verwunderte Frömmigkeit Nüchtern muß man eingestehen, daß es Lavater gelungen ist, Mendelssohn hinsichtlich seiner eigenen Religion zum Sprechen zu bringen, obwohl dieser erklärt hatte, daß ihm nichts weniger lieb sei, als seinen eigenen Glauben vor der Öffentlichkeit zu diskutieren oder gar zu rechtfertigen. Doch nicht zum wenigsten durch sein Eingehen auf die Thesen Bonnets, was nach seiner, Mendelssohns, zum Ausdruck gebrachter Haltung in Religionsfragen gar nicht notwendig gewesen wäre, muß Mendelssohn jetzt reagieren, und er reagiert: Wie Lavater bei Mendelssohn, so erkennt auch dieser nun bei jenem eine gute Gesinnung und findet weiterhin in derselben die untrüglichsten Merkmale der wahren Menschenliebe, und ächten Gottesfurcht, brennenden Eifer für das Gute und wahre, ungeschminkte Rechtschaffenheit, und eine Bescheidenheit, die der Demuth nahe kommt (JubA 7,41).

Noch einmal betont er „so wenig im moralischen, als im physischen Verstände zum Athleten geboren" (ebd.) zu sein, eine Aussage, die auffällig zu jener intellektuellen Spannkraft in Kontrast tritt, mit der er dann doch die Grundlagen seiner Religion gegen das Christentum ins Feld führt, wie wir gleich sehen werden.20 Und wieder, wie schon in seinem ersten Schreiben, exponiert Mendelssohn sehr kurz eine These, die - für sich selbst genommen - viel Stoff für eine sehr originelle Religionstheorie bieten würde, in

Wir stellen Mendelssohns Nacherinnerung, der er die Gegenbetrachtungen über Bonnets Palingenesie unmittelbar hat folgen lassen, hier nur nach dem Aspekt der in ihr zum Ausdruck kommenden Frömmigkeitsweise dar, wodurch wir natürlich nicht allen Aussagen Mendelssohns gerecht werden.

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unserem Zusammenhang aber sofort wieder zugunsten der durch Lavater angestoßenen Auseinandersetzung verlassen wird. In den wenigen Erholungsstunden die mir meine Geschäfte übrig lassen, möchte ich gerne alle Trennung, allen Zwiespalt vergessen, der jemals den Menschen zum Feinde des Menschen gemacht hat, und ich bemühe mich allsdenn selbst die Erfahrungen, die ich etwa des Tages über davon gehabt, in meinem Gedächtnisse auszulöschen. In diesen glücklichen Stunden überlasse ich mich gerne der freien, ungetheilten Empfindung des Herzens, die ich mit dem Zustande eines Streitfuhrers noch nicht zu vereinigen weiß (ebd.).

Schon dadurch, daß Mendelssohn darauf verweist, sich nicht uneingeschränkt der Meditation und Philosophie widmen zu können, macht er deutlich, daß der religiöse Takt es geböte, ihn von Streitgesprächen völlig unbehelligt zu lassen, denn es sind gerade die ,Erholungsstunden' und nicht die Zeiten angespannter Kampfesstimmung, die Mendelssohn der religiösen Reflexion und Affektivität zu widmen pflegt. Seine Frömmigkeit findet dabei Ruhe in jener gefühlten Einheitsgewißheit, die alle Differenzerfahrungen in den Hintergrund treten läßt, um sich ganz dem ruhenden und unteilbaren Grund zu widmen, der aller Differenz vorausliegt. Und nichts so Mendelssohn - ist diesem meditativ-religiösen Akt weniger angemessen, als das Differenzgeschehen eines Diskurses, der den Grund zwingt, reflexiv zu werden in einer apologetischen Kommunikation, die gerade darin ihr Wesen hat, den frommen Selbstbezug auf das argumentative Frömmigkeitsgeschehen des anderen hin zu verlassen. Es folgt ein kurzer Hinweis darauf, was Mendelssohn dazu getrieben hat, sich so kritisch und auch ungünstig über Bonnets Palingenesie zu äußern. Er, Mendelssohn, so gibt er frei heraus zu, hätte sich sehr viel weniger direkt gegen Bonnet zu Wort gemeldet, wenn Lavater es durch seine beigelegte Widmung nicht hätte so aussehen lassen, als wäre das Bonnetsche Opus gegen ihn und seine jüdische Religion geschrieben worden. Doch einmal in den Bann des Religionsdisputs gezogen - lässt er es dabei nicht bewenden, sondern fuhrt nun doch den konkreten Begriff seiner jüdischen Religion vor, der eine implizite Kritik speziell an jener Bedeutung, die Bonnet dem Wunder beilegt, enthält. Lavater hatte sich ja besonders entrüstet gezeigt über Mendelssohns Einschätzung, die Bonnetsche Offenbarungstheologie sei so unspezifisch, daß sie auch für den Beweis einer jeden anderen Religion taugen und insofern gar nichts wirklich beweisen, sondern nur bestärkende Wirkung bei denen, die ohnehin schon glauben, haben würde. Diese Aussage nun versucht Mendelssohn noch einmal zu begründen, indem er sich Bonnets Theorie des Wunders zuwendet. Bonnet hatte dem Wunder eine durch es selbst überzeugende Kraft zuerkennen wollen, wenn sich das Wunder durch einen Wundertäter ereignet,

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der den Überzeugungswert des Wunders nicht allein in dessen Ereignisdimension setzt, sondern im Wunder einen Vollzug erblickt, der sich als eine kooperative Initiative zu dem Urvertrauen, das der Wundertäter in den Grund seiner religiösen Gewißheit hat, einstellt. Dabei ist ausschließlich die Intention entscheidend, der entsprechenden Religionsgemeinschaft eine überzeugende Versicherung von der Gesandtschaft des Wundertäters zu geben, der in einer Akklamation zuvor die Überzeugung zum Ausdruck bringen muß, für sich selbst eines solchen Wunders keineswegs zu bedürfen.21 Gegen diese These führt Mendelssohn nun eine Wunderkonzeption ins Feld, die dem Wunder keineswegs mehr zutrauen möchte, innerhalb des religiösen Lebens der Religionsgemeinschaft eine Beweisfunktion bezüglich der Gesandtschaft des Wundertäters zu übernehmen. Am Wunder lassen sich, wie wir gleich sehen werden, die ganz unterschiedlichen Auffassungen zwischen Bonnet und Mendelssohn darstellen. Mendelssohn kann dem Wunder eine bestätigende Kraft nicht zutrauen, was er zunächst mit einem sehr schlichten Argument begründet: Wunder nämlich können allein schon darum nicht als Legitimation göttlicher Gesandtschaft gelten, weil es auch falsche Propheten gibt, die fähig sind, Wunder zu tun.22 Gegenüber einem Glauben, der Wundern unmittelbare Beweiskraft zutraut, wendet Mendelssohn die Auffassung von einer stets notwendigen Interpretation des Wundergeschehens. Wenn das Wunder nämlich keine Deutung erfährt, ist es ohne jeden Aussage- oder Beweiswert. Wir haben gesehen, daß auch Bonnet ausgegangen ist von einer Deutungsnotwendigkeit des Wunders, wenn er es als die Erfüllung der zuvor durch den Gesand21 C. Bonnet (wie Anm. 17), 87: [D]er Zweck des Wunders wird genau bestimmt seyn, wenn die verehrungswürdige Person, die ich voraussetze, unmittelbar vorher, ehe es geschieht, sich an den Herrn der Natur richtet und ausruft: Ich danke dir, daß du mich erhöret hast. Ich wußte wohl, daß du mich allezeit erhörest; aber ich sage dies um des umstehenden Volkes willen, auf daß es glaube, daß Du es bist, der mich gesendet hat". Dabei besteht der Vollzug des Wunders darin, die Dimension des Natürlichen unter eine anhaltende Absolutheitsperspektive gestellt sein zu lassen: „Der vollkommene und beständige Gehorsam der Natur, gegen die Stimme des Gesandten, wurde ... geschickt, seine Sendung zu bevollmächtigen und zu charakterisieren" (a. a. O., 89). Diese Absolutheitsperspektive bringt der Gesandte darin zum Ausdruck, daß er mithilfe der Wunder den Menschen die Natur als durch Gott gesetzte übersetzt: „Wenn, wie ich sagte, die Gesetze der Natur die Sprache des höchsten Gesetzgebers sind, so wird der Gesandte, von dem ich rede, bey dem menschlichen Geschlechte der Dollmetsch dieser Sprache seyn. Er wird von dem Gesetzgeber den Auftrag bekommen haben, die Zeichen dieser göttlichen Sprache, welche die Versicherungen einer glückseligen Unsterblichkeit enthielten, dem menschlichen Geschlechte zu verdollmetschen" (a. a. O., 88f.). 22 JubA 7,44: „Ich finde auch entscheidende Stellen im A. und so gar im N. T., daß Verfuhrer und falsche Propheten gar wohl Wunder thun können, ob durch Zauberey, geheime Künste, oder vielleicht durch einen Misbrauch der ihnen zu gutem Gebrauche verliehenen Gabe, getraue ich mir nicht zu entscheiden. So viel scheinet mir unwidersprechlich, daß nach den klaren Worten der Schrift, Wunderwerke für kein untrügliches Merkmal der göttlichen Sendung gehalten werden können".

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ten gesprochenen Worte versteht.23 Doch unterscheidet Bonnet die Selbstdeutung des Gesandten, der in dem Wunder, das er vollbringt, nur eine Bestätigung des von ihm vorgängig immer schon Eingesehenen erblickt, von der Öffentlichkeit, in der sich der Wundertäter bewegt, und die durch das Wunder von der Gottbetroffenheit seiner Gesandtschaft überzeugt werden soll. Nicht zufallig hat sich der extravertierte Religionsverstand Lavaters von Bonnets Wunderverständnis vollkommen einnehmen lassen. Und weil sich im reinen Vollzug des Wundergeschehens eine Überzeugungstotalität zu offenbaren scheint, die den Verweis auf das Unbedingte unmittelbar bei sich fuhrt, um jeden, der hier noch Einspruch zu erheben wagt, verstockter Wahrheitsblindheit zu zeihen, so muß diese Offenbarung von Unbedingtheit durch jene, die sich schon haben überzeugen lassen, immer neu verlängert und fortgezeugt werden. Versteht sich in diesem Sinne das Christentum als ein Unbedingtheit durch die Vermittlung des Mittlers widerspiegelndes Religionssystem - und die Bonnetsche Auffassung des Wunders in ihrer Lesung durch Lavater scheint dies zu tun - , so liegt es nahe, daß Mission nur empfunden wird als notwendige Beseitigung jener Scheuklappen, die sich all diejenigen anlegen, denen das Unbedingte im Wunder Jesu Christi noch nicht einleuchten wollte. Unmittelbares Gottesbewußtsein als eine durch Wunder bestätigte Habe des Unbedingten stiftet jene missionarische Gewalt, die sich als sanftmütig und liebevoll werbend verstehen darf, da sie den Anderen immer nur nach seiner vermeinten Uneigentlichkeit in den Blick zu nehmen vermag. Dagegen steht Mendelssohns ganz anderes Verständnis von Religion, das die Deutung des Wunders vollständig an die Gabe des Gesetzes heftet. Die Offenbarung Gottes an sein Volk ist demnach ein Vollzug, der im Gesetz jene Bestimmtheit hat, die Offenbarung als solche allererst ansprechbar zu machen, und in dieser Bestimmtheit ist jedes Wundergeschehen gleichsam mitbestimmt. Wunderglaube setzt also Gesetzesbestimmtheit der Offenbarung als eine die Offenbarung allererst identifizierende Größe voraus, eine Voraussetzung, die von allen, die sich zu dieser Religion bekennen, anerkannt wird. Die Voraussetzung dieser Anerkennung der Bestimmtheit von Gottes Offenbarung im Gesetz stiftet ein Vertrauen in die Zeugen der Offenbarung.24 Darum setzt jüdische Frömmigkeit nicht auf die apologetisch23

Vgl. Anm.21. JubA 7, 44: „Nicht auf Wunderwerke also; auf die Gesetzgebung gründet sich unser Glaube an eine Offenbarung. Die Vorschrift ... einem wundertätigen Propheten zu gehorchen, ist nach der Lehre unsrer Rabbinen, ein bloß positives Gesetz, das sich nicht auf die innere Beweiseskraft der Wunder; sondern auf den Willen des Gesetzgebers gründet; so wie uns ein positives Gesetz befiehlt, in Rechtsfallen auf die Aussagen zweener Zeugen zu entscheiden ... ohne deswegen diese Aussage fur untrüglich zu halten. Mit einem Worte, der Glaube an Wunderwerken gründet sich nach der Lehre der Rabbinen blos auf das Gesetz, und setzet die Wahrheit und Unum24

Frömmigkeit und Dialog

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suggestive Expressivität des Wunders, sondern vielmehr auf die Zeugen, denen Vertrauen geschenkt wird. Und damit gipfelt Mendelssohns religiöses Denken, wie es sich innerhalb des berühmten Streits mit Lavater zeigte, in einem warmherzigen Bekenntnis zur Standpunktgebundenheit frommer Überzeugungen. Daß wir immer von einem Standpunkt aus die Wahrheit unserer eigenen Religion beurteilen und nicht umgekehrt aus der Überzeugung, unmittelbar zur Wahrheit zu stehen, diesen Standpunkt nur als ein Durchgangsstadium verstehen, ist ein schlichtes, aber doch zugleich höchst notwendiges Eingeständnis einer jeden religiösen Überzeugung; und je tiefer diese Überzeugung sich in die Seele des frommen Subjekts gesenkt hat, desto unverzichtbarer ist es, von diesem Eingeständnis öffentlich zu künden, wenn ein gewaltfreies Religionsgespräch als möglich soll gedacht werden.25 Und während das Subjekt in seinen religiösen Überzeugungen eine der Unbedingtheit gewisse Prägung erfährt, setzt diese Unbedingtheit Energien frei, die von der Vernunft oft nicht adäquat umgesetzt zu werden vermögen, denn was das gefühlte Unbedingte der Vernunft versprach, vermag es im reflexiven Bestimmungsspiel des Denkens nur sehr unvollkommen zu halten.26 Und so erwirkt das Gesetz ein Ende aller Selbst-Setzungen im Gehorsam.

stößlichkeit des Gesetzes voraus". Daß ein religiöses Mitteilungsgeschehen immer sich bestimmter Voraussetzungen bedienen muß, wie sich ja auch bei Bonnet gezeigt hatte (vgl. Anm. 21), ist ein bekannter theologischer Topos. Wir erinnern hier nur an die Einleitungspassage Schleiermachers zu seiner ersten Predigtsammlung von '1801, in der er seinem Onkel Samuel Ε. T. Stubenrauch jene berühmten Worte schrieb: „Sollen unsere religiösen Zusammenkünfte eine Missionsanstalt seyn, um die Menschen erst zu Christen zu machen: so müßten wir ohne dies ganz anders zu Werke gehen. Soll aber von ihrem Verhältniß zum Christenthum gar nicht die Rede seyn: so sehe ich nicht ein, warum vom Christenthum die Rede ist. Vielleicht kommt auch die Sache dadurch wieder zu Stande, daß man sie voraussetzt; wenigstens gibt es nichts verderblicheres für unsere religiösen Vorträge, als das Schwanken zwischen jenen beiden Ansichten, ob wir als zu Christen reden sollen, oder als zu Nichtchristen" (Friedrich D. E. Schleiermacher: Predigten. Erste Sammlung. Neue, nach der vollständigen und unveränderten dritten Berliner Original-Ausgabe gedruckte Auflage, Reutlingen 1835, IX). 25 JubA 7, 47: Der Philosoph „muß ... in seine Ueberzeugung nicht immer Zweifel setzen; sondern wenn er mit Vernunft gezweifelt, und seinem besten Wissen nach, Gewisheit erlangt hat; so muß er sich beruhigen, das Erforschte sich nicht durch Wankelmut entschlüpfen lassen, und in seinen Untersuchungen fortschreiten. Aber er muß nie aus der Acht lassen, daß dieses nur seine Ueberzeugung sey, und daß andre vernünftige Geschöpfe, die von einem andern Punkte ausgegangen, und einem andern Leitfaden gefolgt sind, ganz entgegengesetzter Meynungen seyn können". 26 Ebd.: „In einer Materie, die so sehr verwickelt ist, und das Herz so nahe angehet, kann die Vernunft durch den leichtesten Schwung aus dem Gleise gehoben werden, und allsdenn führet sie von dem rechten Wege desto mehr ab, je wackerer sie ist".

Albrecht Beutel

Frömmigkeit als „die Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott" Die Fixierung einer religionstheologischen Leitformel in Spaldings Gedächtnispredigt auf Friedrich II. von Preußen'

In der Nacht zum 17. August 1786, frühmorgens um 2.19 Uhr, verstarb in seiner bei Potsdam gelegenen Sommerresidenz Sanssouci der preußische König Friedrich II2. Seit Dezember 1785 hatte sich der Gesundheitszustand des Monarchen, der bis zuletzt alle diätetischen und hygienischen Ratschläge seiner Ärzte souverän zu ignorieren beliebte, dramatisch verschlechtert. Sein Ableben, auf das er in den vergangenen Jahren immer häufiger reflektiert hatte, konnte niemanden überraschen, weder in der engeren Umgebung des Königs noch in den Weiten seiner preußischen Lande. Bekannt ist der atmosphärische Eindruck, den Graf Mirabeau als unmittelbarer Augenzeuge jenes Tages festhielt: „Alles ist düster, niemand traurig, alles ist geschäftig, niemand betrübt. Kein Gesicht, das nicht Aufatmen und Hoffnung verrät; kein Bedauern, kein Seufzer, kein Wort des Lobes"3.

1. Tod Friedrichs II. und einsetzende Memorialkultur Nachdem der Tod eingetreten war, entwässerten die Wundärzte den Leichnam des Königs. Dann wurde er gewaschen und im Konzertzimmer des 1 Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift für Theologie und Kirche Bd. 106 (2009), 177-200. 2 Den genauen Zeitpunkt des Todes überliefert J.G. Kletschke, Der Tod Friedrichs des Großen. Letzte Stunden und feierliche Beisetzung des Preußenkönigs. Bericht eines Augenzeugen [1786], durchgesehen H. Bentzien (Hg.), 2006. Vgl. ferner z.B. J.D.E. Preuß, Friedrich der Große. Eine Lebensgeschichte, Bd. 4, 1834, 173-285; F. Agramonte y Cortijo, Friedrich der Große. Die letzten Lebensjahre. Nach bisher unveröffentlichten Dokumenten aus spanischen, französischen und deutschen Archiven. Deutsche Bearbeitung von A. Semerau, 1928, 321-357; zuletzt J. Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, 2004, 525-539, und Ders., Das Begräbnis eines Unsterblichen? Die Trauerfeierlichkeiten für Friedrich den Großen (in: Ders., Friedrich der Große in seiner Zeit. Essays, 2008, 106-144). - Für sachkundige, empathische Zuarbeit gilt Frau Friederike I.E. Ebert (geb. Kaiser) mein sehr herzlicher Dank. 3 G.B. Volz (Hg.), Friedrich der Große im Spiegel seiner Zeit. Bd. 3: Geistesleben, Alter und Tod, [1927], 255.

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Schlößchens aufgebahrt. Bereits gegen 3 Uhr erschien der Thronfolger, um seinem Oheim die letzte Ehre zu erweisen und die anstehenden Maßnahmen zu verfugen. Am Abend wurde der Leichnam auf einem achtspännigen Wagen in das Potsdamer Stadtschloß feierlich überfuhrt und ohne Einbalsamierung im Großen Marmorsaal aufgebahrt. Hier konnten die preußischen Offiziere sowie die Zivilbevölkerung am folgenden Tag Abschied nehmen von ihrem Monarchen, derweil ein zu Häupten der Leiche stehender Kammerhusar „mit einem Wedel aus Pfauenfedern die Fliegen vertrieb"4. Ein zeitgenössischer Bericht weiß zu vermelden, es seien schätzungsweise 23.000 Menschen an dem Toten vorbeidefiliert5. Noch am 18. August wurde Friedrich, in protokollarischer Feierlichkeit und nahtlosem Zusammenspiel staatlicher und kirchlicher Würdenträger, in der Gruft der Potsdamer Garnisonkirche beigesetzt, unmittelbar neben den sterblichen Überresten seines Vaters, des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. Als erster Hof- und Domprediger und reformierter Oberkonsistorialrat erhielt Friedrich Samuel Gottfried Sack den Auftrag, anläßlich des vornehmen Todesfalls sowie des Regierungswechsels eine Notifikation auszufertigen, die am darauf folgenden Sonntag (20. August) auf allen Kanzeln des Landes zur Verlesung gebracht wurde: Während seiner 46jährigen Regierungszeit, heißt es da, sei Friedrich II. „im Gehorsam gegen den göttlichen Willen ganz seinem hohen Berufe treu gewesen"6. Die darin anklingende postume Rechristianisierung des Königs entsprach der nun einsetzenden Memorialkultur7. Wie selbstverständlich war mit der kirchlichen Beisetzung gegen den ausdrücklichen Willen Friedrichs verstoßen worden. Bereits 1744, noch vor dem Bau des Weinbergschlößchens, hatte sich dieser auf der oberen Terrasse eine Gruft anlegen lassen, von der Friedrich Nicolai vermutete, daß sie „wahrscheinlich die eigentliche Veranlaßung [war], diesem Orte die Benennung Sans-Souci zu geben"8. In seinem politischen Testament vom 8. Januar 1769 hatte der König unmißverständlich als seinen letzten Willen verfugt: „Man bestatte mich in Sanssouci auf der Höhe der Terrassen in einer Gruft, die ich mir habe errichten lassen"9.

G. de Bruyn, Ende und Anfang (in: Ders., Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807, 2006, 7-12), 8. 5 Kletschke (s. Anm. 2), 32. 6 Kletschke (s. Anm. 2), 40; die gesamte Notifikation ebd., 39-41. 7 E. Hellmuth, Die „Wiedergeburt" Friedrichs des Großen und der „Tod fürs Vaterland". Zum patriotischen Selbstverständnis in Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (in: Nationalismus vor dem Nationalismus, E. Hellmuth/R. Stauber (Hg.) [Aufklärung 10/2], 1998, 23-54). 8 F. Nicolai, Anekdoten von König Friedrich II. von Preußen, und von einigen Personen, die um Ihn waren, 2. Heft, 1789,203. 9 Friedrich der Große, Das Testament vom 8. Januar 1769 (in: Die Werke Friedrichs des Großen. Bd. 7: Antimachiavell und Testamente, G.B. Volz (Hg.), 1912, 287-291), 287. - Entspre-

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Der Grund dieser Bestimmung dürfte kaum im Kontext eines freimaurerisch inspirierten Totenkultes10, vielmehr in der Selbstinszenierung Friedrichs als eines autonomen Freigeists zu suchen sein: „Gern und ohne Klage gebe ich meinen Lebensodem der wohltätigen Natur zurück, die ihn mir gütig verliehen hat, und meinen Leib den Elementen, aus denen er besteht. Ich habe als Philosoph gelebt und will als solcher begraben werden"11. In dieser Verfügung fanden die antihöfischen und antikirchlichen Affekte des Königs zusammen. Nicht von einem Schöpfergott, sondern einzig von „der wohltätigen Natur" meinte er sein Leben abhängig zu wissen. In der zeitgenössischen Publizistik wurde die Ernstlichkeit der königlichen Bestattungsverfügung sogleich in Zweifel gezogen: „Es war dies denn doch nur ein vorübergehender Wunsch, an dessen genaue Erfüllung man eben nicht denkt, wenn man glaubt, dem Tode schon nahe zu sein"12. Der Thronfolger, der die Gruft in Sanssouci noch am Todestag inspizierte, soll ob der dort herrschenden Verwahrlosung erschüttert gewesen sein13. So nahm denn die staatskirchliche Domestikation des Verstorbenen ihren ungehinderten Lauf. Das für Samstag, den 9. September, verfügte öffentliche Leichenbegängnis orientierte sich an dem zuletzt bei den Trauerfeierlichkeiten für den Soldatenkönig erprobten, monumentalischen Ritual; die Untertanen sahen sich von der Inszenierung dieser „triumphalen Trauer" zeitnah und eingehend unterrichtet14. Für den folgenden Tag wurden, flächendeckend für ganz Preußen, Gedächtnisgottesdienste verordnet15. Als Predigttext hatte Friedrich Wilhelm II. bereits am 29. August das von Nathan an David gerichtete Wort ausgegeben „Ich habe dir einen Namen gemacht, wie die Großen auf Erden Nachend hatte der König bereits in seinem persönlichen Testament vom 11. Januar 1752 verfugt: „Man bringe mich beim Schein einer Laterne, und ohne daß mir jemand folgt, nach Sanssouci und bestatte mich dort ganz schlicht auf der Höhe der Terrasse, rechterhand, wenn man hinaufsteigt, in einer Gruft, die ich mir habe herrichten lassen" (ebd., 276). 10 So A.v. Buttlar, Das Grab im Garten. Zur naturreligiösen Deutung eines arkadischen Gartenmotivs (in: „Landschaft" und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert, H. Wunderlich (Hg.), 1995, 79-119), 106-115. Dagegen votiert einleuchtend Kunisch, 2004 (s. Anm. 2), 532. 11 Friedrich der Große (s. Anm. 9), Bd. 7, 287; entsprechend ebd., 277. - Vgl. insgesamt W.-D. Hauschild, Religion und Politik bei Friedrich dem Großen (Saec. 51, 2000, 191-211). 12 Kletschke (s. Anm. 2), 33. 13 Kunisch, 2004 (s. Anm. 2), 537. 14 Kletschke (s. Anm. 2); H.L. Manger, Baugeschichte von Potsdam, besonders unter der Regierung König Friedrichs des Zweiten. Bd. 2, 1789, 504-532. Weitere Titel verzeichnen H. u. E. Henning, Bibliographie Friedrich der Große 1786-1986. Das Schrifttum des deutschen Sprachraums und der Übersetzungen aus Fremdsprachen, 1988, 2 8 1 f - Vgl. U. Steiner, Triumphale Trauer. Die Trauerfeierlichkeiten aus Anlaß des Todes der ersten preußischen Königin in Berlin im Jahre 1705 (FBPGNF 11,2001,23-52). 15 Mitunter wurde auch der nächstfolgende Sonntag gewählt; vgl. z.B. J.G. Franke, Gedächtnißpredigt auf den Tod Friedrichs des Großen Königs von Preußen; am 14ten Sonntage nach Trinitatis den 17. Sept. 1786 in der evangelischen Kirche zu Bunzlau gehalten, o.J.

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men haben" (IChr 17,8b). In der Berliner Oberpfarr- und Domkirche predigte, als ranghöchster reformierter Geistlicher, „in Gegenwart S [einer] Majestät des Königs und des Königlichen] Hauses", der erste Hofprediger Sack16. Hatte er im Exordium noch den Beinamen des verstorbenen Königs, der schon seit 1745 von den Zeitgenossen als „der Große" tituliert worden war, durch den Satz „Gott allein ist groß"17 sowie durch die Ankündigung, er werde nicht die Größe des Königs schildern, sondern daran erinnern, daß „über die Fürsten und Gewaltigen auf Erden [...] noch ein Höherer" regiere18, religiös konterkariert, so intonierte die Durchführung zunächst einen ungebrochenen Hymnus auf die Größe des Verstorbenen: „Wenn es nach David irgend einen Fürsten in der Welt gegeben hat, von dem man mit Recht sagen kann, daß ihm Gott einen großen Namen auf Erden gemacht hat, so ist es der preißwürdige Monarch"19. Dann aber, im zweiten Hauptteil, gelang es Sack, die menschliche Größe des Königs erneut in ihren göttlichen Bezugsrahmen einzupassen: „Bewundert Ihn, meine Zuhörer! aber vergöttert Ihn nicht"20. Am Ende war der Verstorbene dann wieder „unser von Gott so groß gemachte[r] Regent"21. Angesichts des vorgegebenen Bibelwortes konnte es kasualhomiletisch in der Tat kaum überraschen, daß die Größe des Königs gewürdigt und zugleich als ein irdisches Lehen Gottes kenntlich gemacht wurde. Durchmustert man die überkommenen Predigtdrucke22, so dürfte sich die Vermutung nahelegen, daß an jenem Sonntag in fast allen preußischen Kirchen Text und Anlaß der Predigt auf entsprechende Weise zusammengebracht worden sind. Als Propst von Berlin-Cölln sprach Wilhelm Abraham Teller in der Kirche St. Petri23, als der ranghöchste lutherische Geistliche in Preußen predigte zur selben Stunde in St. Nikolai24 Johann Joachim Spalding25. F.S.G. Sack, Gedächtnißpredigt auf den allerdurchlauchtigsten, großmächtigsten König und Herrn, Herrn Friderich den Zweiten, König von Preußen etc. etc. In Gegenwart Sr. Majestät des Königs und des Königl. Hauses den 10. September 1786 gehalten in der Oberpfarr- und Domkirche, 2 1786. 17 Ebd., IV. 18 Ebd., V. 19 Ebd., VI. 20 Ebd., XIII. 21 Ebd., XX. 22 Die - nicht vollständige - Bibliographie von Henning (s. Anm. 14, 285-291) verzeichnet 74 Predigtdrucke. 23 W.A. Teller, Predigt zum Gedächtnis des Höchstseligen Königs Friedrich des Zweyten gehalten in der Kirche zu St. Petri am 10. Sept. 2 1786, o.J. 24 Zwar vermerkt der Predigtdruck Spaldings keinen Hinweis auf den Ort des Kanzelvortrags, doch da der lutherische Propst den Sonntagsgottesdienst stets in St. Nikolai zu halten pflegte und in der Berliner Marienkirche zur selben Stunde Johann Friedrich Zoellner predigte (J.F. Zoellner, Predigt zum Andenken Friedrichs des Zweiten. Am lOten Septembr. 1786 Nachmittags in der Marienkirche gehalten, 1786), kommt für Spalding, der als Propst und erster Pfarrer an der Nikolai- und Marienkirche bestallt war, nur seine Hauptkirche St. Nikolai in Frage.

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2. Spalding und Friedrich II. Mit einem veritablen Karrieresprung war der vormalige pommersche Landpfarrer in die preußische Haupt- und Residenzstadt gelangt: Im Juni 1764 wurde Spalding zum preußischen Oberkonsistorialrat, Propst in Berlin sowie ersten Pfarrer an der Nikolai- und Marienkirche ernannt26. Die vage Hoffnung, bereits im März 1748 als Geistlicher Anstellung in Berlin zu finden, war rasch zerstoben27, und einen Ruf auf das dritte Diakonat an St. Petri hatte Spalding noch im Vorjahr (1763) selbstbewußt ausgeschlagen28. Als oberster lutherischer Geistlicher war Spalding rasch mit dem königlichen Hof in Berührung gekommen, zumal mit der aus dem Hause Braunschweig-Bevern stammenden lutherischen Königin Elisabeth Christine, die ihn alsbald zu ihrem Seelsorger und Beichtvater nahm. Ihre aufmunternde Zuneigung hatte nicht wenig dazu beigetragen, daß der anfangs überaus scheue Theologe29 in der Residenzstadt heimisch zu werden begann30, und die Predigten, die er regelmäßig in den Privatgemächern der Königin hielt31, zeugen ebenso von ihrem respektvollen Einvernehmen wie der Umstand, daß Elisabeth Christine „Die Bestimmung des Menschen"32, das geniale Jugendwerk und Erfolgsbuch ihres geistlichen Vertrauten, 1776 in selbstverfertigter französischer Übersetzung ausgehen ließ33. Unter dem Eindruck J.J. Spalding, Gedächtnißpredigt auf Friedrich den Zweyten, König von Preußen [...], Berlin 1786 (auch in: Neues Magazin vorzüglicher Predigten, welche bey besonderen Vorfallen von noch lebenden berühmten Gottesgelehrten sind gehalten worden, Zweyter Teil, 1787). Eine kritische Edition dieser sowie der in Anm. 34f genannten Predigten wird in dem Band J.J. Spalding, Einzelne Predigten (SpKA II/6), dessen Erscheinen fur 2011 vorgesehen ist, erfolgen. 26

Zur raschen lebens- und werkgeschichtlichen Orientierung vgl. V. Look, Johann Joachim Spalding (1714-1804). Populartheologie im Zeitalter der Aufklärung (in: Protestantismus in Preußen. Lebensbilder aus seiner Geschichte. Bd. 1: Vom 17. Jahrhundert bis zum Unionsaufruf 1817, A. Beutel (Hg.), 2009, 207-226). 27

Spalding an Gleim, 16.3.1748 (in: J.J. Spalding, Kleinere Schriften 2: Briefe an Gleim Lebensbeschreibung, A. Beutel/T. Jersak (Hg.) [SpKA 1/6-2], 2002, 22-26), 23,6-16. 28 J.J. Spalding, Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt [...], 1804 (ebd., 105-240): „Unter, oder gleich nach dieser Unterhandlung, trug mir der sei. Propst Süßmilch das unterste Diakonat bey der Petrikirche in Berlin an, welches anzunehmen ich natürlicherweise keine Ursache finden konnte" (ebd., 154,17-21; Hvhg. getilgt). 29

Vgl. die bemerkenswerte Selbstanalyse ebd., 156,21-160,16. „Dazu kam die Aufmunterung aus den unerwarteten Beweisen des Beyfalls und der Gnade [...] von der regierenden itzt verwittweten Königin, vor welcher ich oft bey ihrem gewöhnlichen Gottesdienste auf dem Schlosse, ordentlich aber und beständig nach ihrer jedesmaligen Kommunion, so lange Alter und Kräfte es mir verstatteten, zu predigen hatte" (ebd., 161,4—10). 30

31 Einige dieser Predigten finden sich abgedruckt in: J.J. Spalding, Barther Predigtbuch. Nachgelassene Manuskripte, A. Beutel/V. Look/O. Söntgerath (Hg.) (SpKA II/5), 2009 (in Vorbereitung). 32 J.J. Spalding, Die Bestimmung des Menschen (' 1748-' 1 1794), A. Beutel/D. Kirschkowski/D. Prause (Hg.) (SpKA 1/1), 2006. 33 Traité sur la destination de l'homme, 1776.

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ihres Todes schrieb der greise Spalding 1797, das Andenken der Königin werde „im Segen bleiben [...] als ein rührendes Muster der edelsten Geistesbeschäftigung, der eben so aufgeklärten als lebendigen Religiosität und einer ungewöhnlich thätigen Menschenbeglückung"34. Auch die Gedächtnispredigten auf den 1767 verstorbenen Prinzen Friedrich Heinrich Carl35 und auf Prinzessin Louise Amalie, die 1780 verschied36, dokumentieren die überaus warmherzige und persönliche Verbundenheit Spaldings mit ihm nahe stehenden Personen des preußischen Hofes. Namentlich die zweitgenannte Predigt ist, rhetorisch wie theologisch, ein Meisterwerk eigener Art, das gleich mit dem ersten Satz die religiöse Höhenlage bestimmt: „Wenn Frömmigkeit vor dem Tode schützte, so hätten wir diese traurige Feyerlichkeit nicht"37. Doch zwischen Friedrich II. und Spalding blieb das Verhältnis zeitlebens kühl. Dem Theologen mißfiel ebenso die demonstrative Unkirchlichkeit des Monarchen wie die exorbitante Glorifizierung, die ihm zuteil wurde. Seine „Lebensbeschreibung" notiert, in sprechender Kürze, den lakonischen Satz: „Im August 1786 starb Friedrich der Zweyte, der große Mensch, wenn gleich immer noch Mensch"38. Schon vor seinem Berliner Dienstantritt hatte sich Spalding immer wieder über die freigeistige Religionsspötterei des Königs mokiert39. Seine seit 1771 von verschiedener Seite betriebene Aufnahme in die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften scheiterte an der Ungnade des Königs40; als Johann Georg Sulzer, Akademiedirektor der philosophischen Klasse, 1777 eine günstige Gelegenheit zu nutzen versuchte, um den König für Spalding einzunehmen, wischte dieser den Vorstoß mit einer zynischen Bemerkung beiseite41. Kurz vor dem Tod Spaldings, im August 1803, ist dann dessen jüngster Sohn Georg Ludewig, der sich als Altphilologe einen Namen gemacht hatte und mit Friedrich Schleiermacher seit den gemeinsamen Studientagen befreundet war, zum

Spalding, Lebensbeschreibung (s. Anm. 27), 205,22-26. J.J. Spalding, Predigt auf das Absterben des Prinzen Friedrich Heinrich Carl, von Preußen. Am 14ten Junius 1767 gehalten und auf hohen Befehl dem Druck übergeben, 1767. 36 Ders., Gedächtnißpredigt auf die Hochselige Prinzeßinn Louise Amalie verwitwete Prinzeßinn von Preußen, gebohrne Prinzeßinn von Braunschweig-Wolfenbüttel. Auf höchsten Befehl zum Druck gegeben, 1780. 37 Ebd., 5. 38 Spalding, Lebensbeschreibung (s. Anm. 27), 178,12f; Hvhg. getilgt. 39 Vgl. z.B. J.K. Lavater, Reisetagebücher, H. Weigelt (Hg.). Teil 1 : Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764 (TGP 8/3), 1997, 65. 115. 420. 537 u.ö.; Spaldings „Briefe an Gleim" (s. Anm. 27), 29,9-12; 42,4-8 u.ö. 40 A. Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1900), ND 1970, Bd. 1.1: Von der Gründung bis zum Tode Friedrich's des Großen, 470 Anm. 35

1. 41

Ebd., 376.

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außerordentlichen, fünf Jahre später zum ordentlichen Mitglied der Akademie ernannt worden42. Immerhin scheint der König die religionsdiplomatische Kompetenz Spaldings durchaus gekannt und gewürdigt zu haben. Zweimal ließ er ihm eine intrikate Kommissionsarbeit übertragen: gegen den aufgrund von Pflichtverletzung und Frömmelei mißliebig gewordenen Abt von Kloster Berge Johann Friedrich Hähn (1770)43 und, noch delikater, in der Scheidungssache des Thronfolgers Prinz Friedrich Wilhelm (1769)44. Die skeptische Distanz, die er gegenüber seinem König zeitlebens wahrte, durchbrach Spalding nur ein einziges Mal, überwältigt von der Freude über den Abschluß des Friedens von Teschen. Mit ihm war am 13. Mai 1779 der Bayerische Erbfolgekrieg zu Ende gegangen45. Zehn Tage später hielt Spalding über Ps 46,10-12 („[...] Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz") eine „Predigt am Friedensfeste"46. Sie geriet zu einem panegyrischen Lobgesang47 auf den königlichen „Friedens- und Freyheitsstifter" (14), „den großen Mann" (13), in welchem sich, als dem „Vater des Vaterlandes" (21), jünglingshafter Kampfesmut (14) mit gemeinsinnigem Patriotismus (20f) auf einzigartige Weise verbinde: „Suchet die Fürsten, die ein gleiches thun" (20). Wer jetzt noch über partikulare Beschwernisse Klage fuhren und kleinliche Kritik üben zu sollen glaube, dessen Seele habe sich „ein unedler Geist der Unzufriedenheit und des Mißvergnügens" bemächtigt (21): nichts als „ehrerbietige Liebe" und „treuen Gehorsam" (22) schulde man nunmehr dem König. Hatte er diesen noch eingangs als ein Werkzeug der „Fürsehung des Höchsten" erkannt - „Gott ist der Stifter unsers Friedens" (6)48 - , so änderte Spalding in dem auf die

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Ebd., Bd. 3 : Gesamtregister [...], 259. Spalding, Lebensbeschreibung (s. Anm. 27), 165,30-166,30. Vgl. Ch. Spehr, Das Magdeburger Neologentreffen im Jahre 1770 (in: Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche und Religion in der Aufklärungszeit, A. Beutel/V. Leppin/U. Sträter (Hg.) [AKThG 19], 2006, 87102), 89-94. 44 Spalding, Lebensbeschreibung (s. Anm. 27), 164,25-165,5. 45 Bereits in einer am Sonntag Reminiscere (28. Februar) 1779 gehaltenen Predigt hatte Spalding seine Friedenshoffnung mit warmherzigen Worten für den König verbunden: „Welch innigen Dank unserer Seele werden wir ihm [sc. Gott] nicht schuldig seyn, wenn er so bald dem angegangenen Verderben steuret, Ruhe und Sicherheit wider befestiget, den König mit glücklichem Erfolge s[einer] edlen und großen Absichten gekrönt, zu uns zurück bringt, und so unsere Besorgniß in Freude verwandelt" (Barther Predigtbuch, s. Anm. 31). 46 J.J. Spalding, Predigt am Friedensfeste, dem 23ten May 1779, 1779; Nachweise aus dieser Schrift sind nachfolgend dem Fließtext in Klammern beigefugt. 47 Spalding, Lebensbeschreibung (s. Anm. 27), 174,24-27: „Nicht leicht habe ich bey Feyerlichkeiten dieser Art mit mehr theilnehmender Empfindung eine Predigt gehalten, als die hernach gedruckte Friedenspredigt". 48 Hvhg. A.B. 43

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Predigt folgenden Bittgebet die kausale Zuständigkeit: „Vergilt ihm [...] alles das Große und Gute, was er [!] gethan hat" (25). Nun aber, in der Gedächtnispredigt auf den verblichenen Monarchen, waren derartige religionspatriotische Anwandlungen längst wieder verflogen. Mit ihr unternahm Spalding vielmehr eine feinsinnig austarierte Gratwanderung zwischen pflichtschuldiger patriotischer Ehrenbezeugung und sublimer religiöser Distanznahme. Unterscheidet sich die Memorialrede Spaldings schon dadurch von den anderen erhaltenen Predigten jenes Tages, so erst recht durch ihren exzeptionellen theologischen Tiefgang. Der Prediger nutzte den Anlaß, um sein lebenslanges Nachdenken über das „Wesen des Christenthums"49 in eine hier erstmals programmatisch gebrauchte Formel zu bringen, die wenige Jahrzehnte später, in der „Glaubenslehre" Schleiermachers, dann abermals für - nunmehr anhaltende Aufmerksamkeit sorgen sollte50.

3. Die Gedächtnispredigt 3.1 Kanzelgebet und Exordium Bereits in dem auf die Predigt einstimmenden Kanzelgebet läßt Spalding das Grundmotiv seiner religiösen Situationsdeutung anklingen: die gänzliche Abhängigkeit des Menschen von der göttlichen Omnipotenz. Gott als der „Allerhöchste" wolle „uns Geschöpfen von Staube" - eine in der philanthropischen Theologie Spaldings höchst außergewöhnliche Wendung! die Weisheit erschließen, „daß wir in Allem, was da geschieht, deine allwaltende Hand erkennen"51. In der Gedächtnispredigt hat Spalding diese leitmotivisch verwendete Grundeinsicht für den gegebenen Anlaß konkretisiert. Gleich der Eingangssatz eröffnet, in unerschrockener Anspielung auf den gängigen Beinamen des Verstorbenen, die Antithese: „Wir wollen Gott, der allein groß ist und über Alles gebietet, [...] in Demuth anbeten" (3f). In religiöser Perspektive würden die für Friedrich II. „sonst gebräuchlichen Beywörter und Ehrenbenennungen [...] entbehrlich" (4). Allerdings kann Spalding, nachdem der In fiindamentaltheologischer Bedeutung begegnet die Wendung erstmals in J.J. Spalding, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung ('1772; 2 1773; 3 1791), T. Jersak (Hg.) (SpKA 1/3), 2002, 129,9. - Vgl. dazu A. Beutel, „Gebessert und zum Himmel tüchtig gemacht". Die Theologie der Predigt nach Johann Joachim Spalding (in: Ders., Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, 2007,210-236), 221. 50

Vgl. hierzu Abschnitt IV. dieser Studie. Spalding, Gedächtnißpredigt (s. Anm. 25), 3 (Hvhg. A.B.); Nachweise aus dieser Schrift sind nachfolgend dem Fließtext in Klammern beigefügt. 51

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Ermöglichungsgrund aller irdischen Macht festgestellt ist, den Verblichenen auch wieder ganz unbefangen als „großefn], außerordentliche[n] Mann" (5) und ,,unser[n] großen König" (9 u.ö.) ansprechen. Neben der Einstimmung in die homiletische Situation leistet das Exordium vor allem eine die ganze Predigt tragende Unterscheidung der Perspektiven. Während die Würdigung dessen, „was dieser König für Sich, für die Welt und fur uns gewesen ist", in die Zuständigkeit der „Geschichtsschreiber und Lobredner" falle, sollten „wir, die wir Christen sind", unseren Sinn „zu demjenigen hinauf erheben, der uns diesen König, und Ihm Seine Größe gab" (6). In der Durchführung wird Spalding dann freilich zeigen, daß die dem Verstorbenen coram mundo zukommende Bedeutung für die coram Deo situierte religiöse Reflexion keineswegs irrelevant ist, sondern von ihr überhaupt erst in rechter Weise verstanden und ausgelegt werden kann. Auf die Verlesung des Bibelwortes, das „uns für die heutige Gedächtnißfeyer vorgeschrieben worden" (7)52, folgt eine knappe, durch die innerbiblische Parallelstelle 2Sam 7,9 bestätigte exegetische Analyse (7f), aus der Spalding die aktuelle Applikation dann unmittelbar hervorgehen läßt: „Friedrichs Nähme ist groß geworden, und Gott hat ihn groß gemacht" (9). Im irdisch Vordergründigen leuchtet damit sein religiöser Hintersinn auf. Obschon die Gliederung der Predigt in vier Hauptteile deutlich zu erkennen ist, verrät Spalding seinen „christlichen Zuhörer[n]" (3) merkwürdigerweise zunächst nur die der Person Friedrichs gewidmete erste Hälfte der Disposition (9). In Absetzung von der „niedrigen Schmeicheley" gewinnt der Prediger die „ganz ander[e] und w a h r h a f t e r e ] Bedeutung" (10) des königlichen Beinamens zurück: Die eigentliche Größe Friedrichs lasse sich nacheinander darin studieren, daß Gott an ihm und durch ihn Großes getan habe.

3.2 Erster Teil: Die an Friedrich II. erwiesene Größe Gottes Kunstvoll ist die Ausführung des ersten Teils disponiert. Spalding rühmt die außerordentlichen Eigenschaften des Königs - seine Verstandesschärfe und Geistesgegenwart, seine Tatkraft und Entschlossenheit, seinen „unerschütterlich-standhaften Muth" (10) - , die alsbald auch nach außen hin sichtbar geworden seien: in seiner Arbeitsamkeit, seiner innen- und außenpolitischen Gestaltungskraft und, nicht zuletzt, „Seinen siegreichen Kriegen" (11). Auf die verwunderte Frage der „Fürsten und Völker [...], wie alle diese Dinge möglich wären", weiß der Prediger sichere Antwort zu geben:

Spalding beziffert die Stelle IChr 17,8 irrtümlich als IChr 18,8.

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„Gott machte sie möglich, indem er einen Geist, wie Friedrichs, schuf, und durch seine Fürsehung Ihn unterstützte" (12)53. Das Stichwort der göttlichen Providenz nimmt Spalding zum Anlaß, die außerordentlichen Gaben Friedrichs noch einmal, nun freilich im Lichte ihrer göttlichen Begabung, zu würdigen. Die Vorsehung fügte die Umstände, in denen Friedrich glückhaft agieren konnte. Die Vorsehung setzte ihn auf den Thron, der ihm seine Anlagen in größter Effizienz zu entfalten erlaubte. Die Vorsehung sandte ihm Mitarbeiter, deren Weisheit und Treue ihm nützlich wurden, und Situationen, in denen er seine Geisteskräfte entwickeln und üben konnte. Und schließlich war sie es auch, die in ausweglos scheinenden Konstellationen durch „Veränderungen im Leben und Tode" (13) Rettung und Sicherheit brachte. Kurzum: „Alles, meine Freunde, war Gottes Werk an Ihm" (13). Diese an Friedrich exemplifizierte göttliche Omnipotenz erweist Spalding sodann als die conditio humana schlechthin. In auffallender Häufung biblischer Zitate und Anspielungen (14f) legt er dar, daß nicht allein Dasein und Fähigkeiten des Menschen, sondern auch das, „was wir, in unserer Kurzsichtigkeit, glückliche Zufälle nennen", in Wahrheit der „Regierung eines allmächtigen und allweisen Oberherrn der Welt" untersteht: „Alles gehöret in die Reihe von Ursachen und Wirkungen, die er, mit seiner unübersehbaren Weisheit, vorausbestimmt, angeordnet und zusammengeknüpft hat" (15). Diese allgemeine christliche Wahrheit macht Spalding abermals an dem verstorbenen König konkret: Dessen angeborene Eigenschaften waren nicht weniger als die „glückliche [n] Fügungen" (16), die ihm zustatten kamen, allein das Werk Gottes an ihm. Und dann, als ob er es oben vergessen hätte, fugt Spalding dem eingangs gesungenen Loblied auf die Begabungen Friedrichs eine weitere Strophe hinzu, in welcher er die stoische Gelassenheit und Standhaftigkeit rühmt, die der König gegenüber seiner letzten, schmerzhaften Krankheit und dem herannahenden Tode bewiesen und damit sein Sterbelager zu einem „Bette der Ehre" (18) gemacht habe. Dieser Gesichtspunkt, den Spalding listig als ein aus scheinbarer dispositioneller Unordnung geborenes Postskriptum kaschiert (17), erfüllt tatsächlich eine doppelt bedeutsame strukturelle Funktion: einerseits als abschließende Spitze der den König auszeichnenden Begabungen, andererseits als ein im dritten, fundamentaltheologischen Predigtteil dann negativ respondierter Bezugspunkt. Bemerkenswert, obgleich erst vom Ende her zu verstehen ist dabei der Umstand, daß die von Friedrich zuletzt bewiesene ars moriendi

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unter den genannten Eigenschaften die einzige ist, deren Größe Spalding nicht als von Gott gewirkt kenntlich macht54.

3.3 Zweiter Teil: Die durch Friedrich II. erwiesene Größe Gottes Hatte der erste Predigtteil davon gehandelt, was Gott an Friedrich Großes gewirkt hat, so wendet sich Spalding nun der - davon schärfer als nötig unterschiedenen - Betrachtung zu, „was Gott durch Ihn that" (19). Sechs Aspekte ergänzen sich dabei zu einer Gesamtschau. Auch wenn Spalding das „für uns fremdere Feld" (19) der auswärtigen Angelegenheiten am liebsten gar nicht betreten hätte, rühmt er doch den die großen Taten des Königs krönenden Abschluß des Deutschen Fürstenbundes (1785), der ,jedem patriotischen Deutschen" (20) dankbare Verehrung abfordere. Sodann würdigt Spalding nacheinander des Königs aktive und kompetente Förderung der „Wissenschaften und Künste" (21), dessen fürsorgliche Arbeit an der „Aufklärung Seines Volks" (21), die von ihm eingeleiteten Maßnahmen zur Vorbereitung einer umfassenden Justiz- und Verwaltungsreform (22) sowie, in besonderer Detailliertheit, die von Friedrich verfolgte Beförderung des allgemeinen Wohlstandes, die sich beispielsweise in seiner Peuplierungs- und Schulpolitik, aber auch in der Urbarmachung von Landschaften - zumal an das Oderbruch dürfte dabei gedacht sein - , der kameralistischen Unterstützung von Handel und Gewerbe und nicht zuletzt in der persönlichen Freigebigkeit und Hilfsbereitschaft des Monarchen erzeigt habe (22-24). Schließlich habe der König auch darin Gutes gestiftet, daß durch ihn „dem Zwange und dem Verfolgungsgeiste in Ansehung der Glaubensmeinungen [...] gewehret, und jedem Gewissen seine eigene Ueberzeugung mehr frey gelassen worden" (25) sei. In diesem letzten Aspekt der unter Friedrich beförderten Gewissens- und Glaubensfreiheit kulminiert zwar die Liste seiner öffentlichen Wohltaten, doch ist er von Spalding nun nicht mehr, wie alles übrige, als die Frucht eines vom König aktiv betriebenen Engagements, vielmehr als der willkommene Effekt seiner religiösen Gleichgültigkeit kenntlich gemacht worden. Die darin subkutan angedeutete kritische Distanzierung dürften die Hörer und Leser der Predigt gewiß aufmerksam registriert haben. Um so eindringlicher schildert Spalding den für „das eigentliche [...] Christenthum" (26f) daraus resultierenden Nutzen. Abträglich sei diesem ebenso eine ungehinderte Verbreitung von Atheismus und Religionsspötte54 Die zusammenfassende Bündelung 18f bezieht sich auf den gesamten ersten Teil der Predigt und nicht mehr auf die Erwähnung der von Friedrich praktizierten ars moriendi.

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rei wie ein blindwütig ausgeübter Bekenntniszwang, mit dem seinerseits nur dem Aber- und Unglauben Vorschub geleistet werde. Auf dem zwischen diesen beiden „unseligen Abwegen" (27) sicher dahinführenden Mittelweg, der unter der Regentschaft Friedrichs so nachhaltig erleichtert worden sei, könne, unterstützt durch die jeder Zensur enthobene Freiheit der theologischen Forschung (27)55, die „göttliche Lehre Jesu in ihrer eigenthümlichen Reinheit und Würde" (28) erscheinen und damit dem „leichtsinnigen Unglauben" wehren, ,jeder verwirrenden Schwärmerey" steuern und dank ihrer vernünftigen Evidenz Tugend und Seelenfrieden befördern (28). Im resümierenden Blick auf alles, „was durch Friedrich Gutes ausgerichtet, veranlasset, oder auch aus Seinen Handlungen, dem Ansehen nach nur zufällig, erfolgt ist" (29), erinnert Spalding abermals an die Bewunderung und Verehrung, die man dem „großen König" (29) dafür schulde. Indessen fuhrt ihn dieser Gedanke sogleich wieder auf die basale religiöse Einsicht zurück, daß im Grunde allein Gott als der „eigentliche wahre Urheber" zu erkennen und zu preisen sei: „Es ist nur Eine ursprüngliche, allgemeine Quelle alles dessen, was wahrhaft und wesentlich gut ist" (30). Gleichwie Gott jedem Menschen die Eigenschaften, Fähigkeiten und Umstände zukommen lasse, durch die er „ein Werkzeug zu wohlthätigen und rühmlichen Wirkungen werden kann" (30f)56, so sehe Gott insonderheit auch, den verstorbenen König betreffend, ,¿ein Werk an Ihm verherrlichet, seine Absichten durch Ihn erfüllet" (31)". Das ist die bemerkenswerte Zwischenbilanz der Gedächtnispredigt auf Friedrich den Großen: Auch er war, in all seiner irdischen Größe, nichts weiter als ein Werkzeug des großen, allmächtigen Gottes.

3.4 Dritter Teil: Die Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit Hervorgehoben durch eine deutliche gliederungstechnische Zäsur, vertieft Spalding seine Gedächtnispredigt nun, als deren dritten Hauptteil, in eine fundamentaltheologische Besinnung, deren Allgemeinheit sich nur scheinbar von dem konkreten Anlaß der Kanzelrede entfernt. Im Schutze der jetzt einsetzenden grundsätzlichen Erwägungen kann der psychologisch versierte Prediger darauf vertrauen, daß die impliziten Applikationen, die seine Betrachtung durchziehen, von den unter dem Eindruck des königlichen Todes stehenden Hörern und Lesern umstandslos erkannt und verstanden werden,

Vgl. dazu A. Beutel, Zensur und Lehrzucht im Protestantismus. Ein Prospekt (RoJKG 28, 2009) (im Druck). 56 Hvhg. A.B. 57 Hvhg. A.B.

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ohne daß der Redner für solche situativ naheliegende Anwendung irgend haftbar gemacht werden könnte. Unmißverständlich hebt Spalding zu einer Grundsatzerklärung an: Aus dem Predigtext und dessen vorgetragener Auslegung ergebe sich eine „Lehre". „Und diese Lehre bestehet darin: daß die Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott [...] in Allem, was wir sind und haben [...] für uns von der höchsten Wichtigkeit sey" (32). Dieses schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl markiere, so Spalding, „den Anfang und die Grundlage aller wirklichen Religion" (32). In dieser religionstheologischen Ureinsicht sieht er nicht weniger als die Bedingung der Möglichkeit wahrer, christlicher Frömmigkeit zum Ausdruck gebracht. In ihrer Anwendung konstituiere sich christlicher Glaube, weshalb denn auch „der lebhafte Eindruck davon von einem jeden unter uns mit dem gewissenhaftesten Nachdenken erweckt und unterhalten werden müsse" (32f). Die „Lehre", die Spalding der Trauergemeinde entwickelt, ist mit Bedacht formuliert: Als das Wesen der Religion bestimmt er ein Gefühl, das der gänzlichen Abhängigkeit des Menschen von Gott inne wird und das durch reflexive Redlichkeit erweckt und erhalten zu werden vermag. Die konstitutive Bedeutung dieses Gefühls erhärtet Spalding gleichsam ex negativo. Wo das Gefühl unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott nicht lebendig sei - „kurz: wo Religion fehlet" (33) - , da könne es für den Menschen „nichts wirklich Befriedigendes" (33) und also keine Glückseligkeit geben. Ein von Gott abgewandter Mensch verfehle sein ,,wahre[s] innerliche[s] Glück" (33), für das ihm weder Weisheit noch irdisches Vergnügen, auch nicht Philosophie, Sarkasmus oder das Trugbild selbstbestimmter Autonomie zureichende Kompensation zu leisten vermöge (33) ein Schelm, wer dabei an Friedrich den Großen dächte! Spalding vertieft diese Überlegung durch einen Blick auf den natürlichen Alterungsprozeß des Menschen, der die Unersetzlichkeit des christlichen Gottesglaubens immer mehr offenbar werden lasse. Was er dabei zur Sprache bringt, sind allgemeine menschliche Erfahrungen, deren situative Applikation er abermals den Hörern und Lesern der Predigt stillschweigend anheimstellt. Mit fortschreitendem Alter würden „die Berauschungen der Sinnlichkeit [...] geschmacklos und leer" (34), wichen die gewachsenen Freundschaftsbande zunehmender Einsamkeit und verbliche die aus Würde, Ruhm und Pracht gezogene Freude gegenüber dem „Druck der gänzlichen Hinfälligkeit" (35), in der, so die von Spalding feinsinnig konnotierte Assoziation, die „Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott" (32) ihre trostlose säkulare Entsprechung erlebt. Als Höhepunkt solcher beschwerlicher Alterserfahrung riskiert Spalding eine kaum verhohlene, disjunktive Anspielung auf die oben gerühmte ars moriendi des Königs: Selbst eine „an sich starke standhafte Seele", die sich „durch eine lange voraus

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gefaßte Entschlossenheit" gegen die Schrecknisse des „letzten Feindes" (35) gerüstet hat, sei schlechterdings zu bedauern, da sie „die durch nichts zu ersetzenden seligen Erheiterungen in ihrem Innersten entbehren muß, die nur das getroste Hingeben in die Hände einer gnädigen Allmacht, und der zuverläßige frohe Vorausblick in ein besseres Leben wirken kann" (35f). Die amtlich verordnete Rechristianisierung des freigeistigen Königs wird in der Gedächtnispredigt des Berliner Propstes sublim konterkariert. Auch der konkrete, traurig-vornehme Anlaß dürfe eine konsequente Unterscheidung der eingangs genannten Perspektiven nicht unterbinden (36). Unumwunden präsentiert Spalding deshalb der im Gedenken an den freigeistigen König versammelten Gemeinde die Quintessenz seiner Predigt: „So viel hat der Christ voraus vor dem, der es nicht ist" (36). Und als sei er über den in solcher Antithese anklingenden Freimut nun doch erschrocken, fugt Spalding sogleich hinzu, es sei allein der Predigttext, der ihn „sehr natürlich und rechtmäßig" (36) zu der Einsicht gefuhrt habe, „daß Alles, was in der Welt groß ist und Gutes geschieht, dem ewigen Ursprünge alles Guten zuzuschreiben sey" (37).

3.5 Vierter Teil: Segenswünsche Im letzten Teil seiner Predigt widmet sich Spalding den Hinterbliebenen. Indem er nun, graduell unterschieden, auch die Frömmigkeit der Betroffenen würdigt, werden die Hörer und Leser abermals darauf gestoßen, bei wem der Prediger zu solcher Würdigung weder Grund noch Anlaß gefunden hat. Der höfischen Etikette entsprechend beginnt Spalding beim Thronfolger Friedrich Wilhelm II. An ihm rühmt er aufsteigend seine unermüdliche Tatkraft, seinen Gerechtigkeitssinn, seine Güte und, endlich, seine „unverhehlte öffentliche Verehrung Gottes und der Religion" (38). Ihm, als einem ,,unschätzbare[n] Geschenk von Gott" (38), schuldeten wir Ehrfurcht, Treue und „Gehorsam aus Liebe" (39). Von untertäniger Liebe war, nebenbei bemerkt, im Blick auf den verstorbenen König niemals die Rede gewesen, und fraglos wird Spalding, ernüchtert durch die mit dem Woellnerschen Religionsedikt heraufbeschworene Unbill58, auch die gegenüber Friedrich Wilhelm II. hier noch eingeforderte Liebespflicht alsbald revidiert haben59. Gegenüber den sich lediglich auf das Zeitliche erstreckenden Glückwünschen, mit denen Spalding die regierende Königin Friederike Luise bedenkt

U. Wiggermann, Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 2009. 59 Vgl. dazu eingehend Spalding, Lebensbeschreibung (s. Anm. 27), 178-190.

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(39f), fallt die innige Anteilnahme, die er der verwitweten Königin Elisabeth Christine zuteil werden läßt (41f), um so mehr ins Gewicht: Zwischen allerlei Segensbitten rühmt er sie - man bedenke: anläßlich des Todes ihres königlichen Gemahls! - als das „sichtbare Beyspiel von den seligen Wirkungen einer richtig erkannten und lebhaft empfundenen Religion" (41). In gebührender Abstufung gedenkt der Prediger dann auch noch der Geschwister des verstorbenen Königs (42) sowie der übrigen Angehörigen des preußischen Hofes (43). Spalding beschließt seine Gedächtnispredigt mit der an „meine Zuhörer" gerichteten Ermahnung, die „Eine große Wahrheit" (43), die er dargestellt habe, nicht zu versäumen. In dieser bündigen, durch das die Predigt beschließende Kanzelgebet (44f) fortgeführten Peroratio (43 f) wird die zentrale „Lehre" der Predigt, der gemäß „die Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott [...] den Anfang und die Grundlage aller wirklichen Religion" (32) in sich fasse, noch einmal eindrucksvoll paraphrasiert.

4. Zur Genese der religionstheologischen Leitformel 4.1 Ihre Bedeutung bei Schleiermacher Bekanntlich hat Schleiermacher in der fundamentaltheologischen Einleitung seiner „Glaubenslehre" (1821/22) als das „Wesen der Frömmigkeit" festgestellt, „daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig bewußt sind, das heißt, daß wir uns abhängig fühlen von Gott"60. Die zweite Auflage (1830/31) übernahm diesen Leitsatz fast unverändert61 und gab der Entscheidung, das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit als Gottesbewußtsein zu definieren62, eine ausführliche Erläuterung bei63. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), § 9 (KGA 1.7,1, 1980,31,2-5). 61 Ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (21830/31), § 4 (KGA 1.13,1, 2003, 32,10-15). 62 „Sich schlechthin abhängig [sie] fühlen und sich seiner selbst als in Beziehung mit Gott bewußt sein [ist] einerlei" (ebd., 40,5f). 63 Ebd., 33,1-40,30. - Eine exzellente Rekonstruktion der von Schleiermacher in der „Glaubenslehre" entwickelten Frömmigkeitstheorie bietet Ch. Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik (SehlAr 15), 1994, 195-260. Vgl. auch G. Ebeling, Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl als Gottesbewußtsein (in: Ders., Wort und Glaube. Bd. 3: Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, 1975, 116-136); Ders., Zum Religionsbegriff Schleiermachers (in: Ders., Theologie in den Gegensätzen des Lebens [Wort und Glaube Bd. 4], 1995, 55-75); J. Röhls, Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Zu Schleiermachers Religionstheorie in der „Glaubenslehre" (in: K.-V. Selge [Hg.], Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984 [SchlAr 1,1], 1985, 221-252); W. Schock, Abhängigkeitsge-

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Nun ist die theologische Aussage, der Mensch unterstehe in allem, was ihm gegeben ist und widerfahrt, der Allmacht Gottes64, nicht eben originell, und der Versuch, Schleiermacher gerade in dieser Hinsicht als einen unmittelbaren Schüler und Erben Johannes Calvins auszuweisen65, entsprechend absurd66: Schwerlich dürfte es einen kirchlichen Theologen gegeben haben, der sich nicht selbstverständlich die biblische Lehre zu eigen gemacht hätte, der Paulus mit der rhetorischen Frage „Was hast du aber, das du nicht empfangen hast? So du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dessen, als ob du es nicht empfangen hättest?" (IKor 4,7) ihren klassischen Ausdruck verlieh. Parallel dazu gehörte die Einsicht, daß die Welt mitsamt allem, was in ihr ist, der göttlichen Dependenz unterliegt, zum Kernbestand der abendländischen Metaphysik, von Aristoteles67 bis hin zu Descartes, Leibniz, Voltaire und dem vorkritischen Kant68. Allerdings hat Schleiermacher dieses theologische und philosophische Basalwissen nicht nur seinerseits fortgeschrieben, sondern erstmals auch zum Angelpunkt einer dogmatischen Prinzipienlehre erhoben: Nicht mehr irgendwelche Heilstatsachen oder Offenbarungswahrheiten, sondern das menschliche Abhängigkeitsgefühl und Gottesbewußtsein bilden das Materialprinzip seiner „systematisch verfahrende[n] Rechenschaft über den christlichen Glauben"69. In dieser Grundentscheidung war Schleiermacher zwei-

fühl und Sinneinheit. Zum Gottesbegriff in Schleiermachers Glaubenslehre (NZSTh 37, 1995, 4 1 56); G. Behrens, Feeling of absolute dependence or absolute feeling of dependence? (What Schleiermacher really said and why it matters) (RelSt 34, 1998, 471^181); H.-P. Großhans, Selbsterkenntnis als Gotteserkenntnis? Zum Verhältnis von schlechthinnigem Abhängigkeitsgefühl und schlechthinniger Ursächlichkeit bei Friedrich Schleiermacher (in: I.U. Dalferth/J. Fischer/H.-P. Großhans [Hg.], Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre. Festschrift für E. Jüngel zum 70. Geburtstag, 2004, 127-144); H. E. Finlay, .Feeling of absolute dependence' or .absolute feeling of dependence'? A question revisited (RelSt 41, 2005, 81-94); H.-P. Grosshans, Alles (nur) Gefühl? Zur Religionstheorie Friedrich Schleiermachers (in: A. Arndt/U. Barth/W. Grab [Hg.], Christentum - Staat - Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen SchleiermacherGesellschaft in Berlin, März 2006 [SchlAr 22], 2008, 547-565). 64 J. Bauke, Die Allmacht Gottes. Systematisch-theologische Erwägungen zwischen Metaphysik, Postmoderne und Poesie (TBT 96), 1998. 65 So zuerst A. Schweizer, Die Glaubenslehre der evangelisch-reformierten Kirche. Bd. 1, 1844, 40; vgl. dazu I. Werner, Calvin und Schleiermacher im Gespräch mit der Weltweisheit. Das Verhältnis von christlichem Wahrheitsanspruch und allgemeinem Wahrheitsbewußtsein, 1999, 130-139. 66 Zur berechtigten Kritik dieses genetischen Postulats vgl. A. Huijgen, Calvinrezeption im 19. Jahrhundert (in: H. Selderhuis [Hg.], Calvin Handbuch, 2008,480-490), 482. 67 Aristoteles, Metaphysik, 1072b. 68 Vgl. dazu die gelehrte Studie von G. Scholtz, Gefühl der Abhängigkeit. Zur Herkunft von Schleiermachers Religionsbegriff (Philotheos 4, 2004,66-81), 69-73. 69 G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. 1 : Prolegomena, Teil 1 : Der Glaube an Gott den Schöpfer der Welt, 3 1987, 11. Mit diesem Zitat soll zugleich daran erinnert sein, daß auch die Dogmatik G. Ebelings in einer Schleiermacher verpflichteten Weise entworfen und durchgeführt ist.

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fellos innovativ. Entsprechendes behauptet die ihm gewidmete Forschung allerdings auch - und daran sind Zweifel geboten - fur die gedankliche und sprachliche Ausformung seines fundamentaltheologischen Leitsatzes: Die „Formel"70, das Wesen der Frömmigkeit bestehe in dem Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen von Gott, habe Schleiermacher „gebildet"71 und damit einen „Paradigmenwechsel"72 vollzogen. Merkwürdigerweise konnte der gelehrte Hinweis eines Theologiehistorikers, bereits 1810 habe der Heidelberger Dogmatiker Carl Daub die Religiosität als „das Gefühl der Abhängigkeit von Gott"73 definiert74, weder das für Schleiermacher erhobene Originalitätspostulat erschüttern noch zu weitergehender Spurensuche anregen75. Indessen hat die vorstehende Predigtanalyse ergeben, daß Spalding mit Fug und Recht als der eigentliche Urheber jener religionstheologischen Leitformel reklamiert werden kann. Schleiermacher war dem ,,alte[n] Probst Spalding", diesem „herrlichen Mann"76, durch persönlichen Umgang verbunden77: Während seiner ersten Berliner Zeit verkehrte er regelmäßig in dessen Haus, und die dort herrschende „echt patriarchalische Eintracht und Pietät" hat ihn „immer fast bis zum Entzüken" erfreut78. In mehrfacher Hinsicht führte Schleiermacher die von Spalding gebahnten Denkspuren fort79 und besaß nicht nur selbstverständlich die Werke des bedeutenden Neologen80, sondern vermutlich auch dessen „Gedächtnißpredigt auf Friedrich den Zweyten, König von Preußen"81. In ihr war ein theologiegeschicht-

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Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 61), 40,5. H.-J. Birkner, Art. Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (HWPh 3, 1974, 98). 72 Röhls (s. Anm. 63), 221. 73 C. Daub, Einleitung in das Studium der christlichen Dogmatik aus dem Standpunkte der Religion, 1810, 34. 74 Röhls (s. Anm. 63), 242f. 75 Als nicht nur rühmliche, sondern höchst ponderable Ausnahme sei auf die Studie von Scholtz (s. Anm. 68) verwiesen. Die dort hinsichtlich C. Daub angestellten Erwägungen (ebd., 78f) dürften die oben getroffene Feststellung einer unableitbaren Innovationsleistung Schleiermachers zumindest als überprüfenswürdig erscheinen lassen. 71

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F. Schleiermacher, Brief an Ch. Schleiermacher vom 4.10.1797 (KGA V.2, 1988, 174,173-176,254), 174,186.192f. 77 Vgl. A. Beutel, Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) und Spalding (1797) (in: Ders., Reflektierte Religion [s. Anm. 49], 266-298), 2 7 4 278. 78 Schleiermacher, Brief an Ch. Schleiermacher (s. Anm. 76), 174,196-175,204. 79 Vgl. dazu insgesamt Beutel, Aufklärer höherer Ordnung? (s. Anm. 77). 80 G. Meckenstock (Hg.), Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer (SchlAr 10), 1993, 274f. 81 Der Rauchsche Auktionskatalog verzeichnet drei Mappen mit insgesamt 116 leider nicht spezifizierten „Predigten von verschiedenen Kanzel-Rednern" (ebd., 121), unter denen die Spaldingsche „Gedächtnißpredigt" zu vermuten nicht gänzlich abwegig sein dürfte. Diese Vermutung

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lieh höchst folgenreicher Begriffsbildungsprozeß zum Abschluß und zur Vollendung gelangt.

4.2 Ihre Entfaltung bei Spalding Ein erster, noch ganz beiläufiger und unspezifischer Niederschlag des Gedankens findet sich bei Spalding in seinen 1761 erschienenen „Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum" 82 . Zwei Jahre später, in den Erweiterungen der 7. Auflage seiner „Bestimmung des Menschen", ist die Wendung bereits fest in das semantische Repertoire integriert; die kleine lexische Variante, daß Spalding hier durchweg von „Abhänglichkeit" spricht, wird fur die Frage nach seinen Quellen noch von Bedeutung sein83: „Ich will ohne Unterlaß ein lebendiges Gefühl meiner gänzlichen Abhänglichkeit von ihm bey mir gegenwärtig erhalten" 84 . Zugleich findet der Ausdruck nun auch Eingang in die katechetische Unterweisung: Lavater weiß zu berichten, Spalding habe seinen Konfirmanden „den Glauben an Gott als die Erkenntniß unserer Abhängigkeit von ihm"85 erklärt. Bereits in diesem frühen Stadium zeigt sich, daß Spalding dabei zwischen Erkenntnis und Gefühl86 bzw. Empfindung der gänzlichen Dependenz keineswegs kategorial unterscheidet. Vielmehr ist sein religiöser Gefühlsbegriff von einem kognitiven Element durchgängig begleitet88, und bisweilen wird diese bipolare Bestimmung des religiösen Gefühls auch direkt zum Ausdruck gebracht: „Wer Gott und sich selbst recht kennet, der wird auch in diesem Stücke seine gänzliche Abhängigkeit von demselben [...] lebendig^w/z/e«"89.

wird unterstützt durch die augenfällige Entsprechung, in der beide Theologen das Wesen der Frömmigkeit bzw. der Religion auf den Begriff gebracht haben. 82 J.J. Spalding, Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum ('1761— 5 1784), A. Beutel/T. Jersak (Hg.) (SpKA 1/2), 2005, 124,22-30. Allerdings bekundet das von Lavater angefertigte Exzerpt einer - nicht erhaltenen - Epiphanias-Predigt, daß Spalding die Wendung bereits 1758 gebraucht habe: „Je mehr wir uns durch die Überzeugung unser Abhängigkeit von Gott mit ihm zu vereinigen suchen [...], desto näher sind wir, so zu reden, bey der rechten Quelle, bey dem wahren Ursprung unserer Wohlfahrt" (Lavater [s. Anm. 39], 139). 83

Siehe dazu bei Anm. 108f. Spalding, Bestimmung des Menschen (s. Anm. 32), 3 0 5 , 6 - 8 (1763); vgl. ebd., 201,12-20 (1763); 233,18-25 (1763). 85 Lavater (s. Anm. 39), 170. 86 Spalding, Bestimmung des Menschen (s. Anm. 32), 305,7 (1763). 87 Ders., Werth der Gefühle (s. Anm. 82), 120,1 u.ö. Die von Großhans, Alles (nur) Gefühl? (s. Anm. 63, 549) für das Zeitalter der Aufklärung nachgewiesene Unterscheidung von Empfindung und Gefühl hat Spalding nicht vollzogen. 84

88

Vgl. dazu Beutel, Aufklärer höherer Ordnung? (s. Anm. 77), 281-286. Spalding, Werth der Gefiihle (s. Anm. 82), 74,25-27 (1769; Hvhg. A.B.). In diesem Sinn ist auch zu verstehen, daß Spalding den in seiner „Bestimmung des Menschen" vollzogenen 89

106

Albrecht Beutel

In den nächstfolgenden Jahren setzt Spalding den Gebrauch der Wendung kontinuierlich fort, nicht nur in den gedruckten Schriften90, sondern auch auf der Kanzel". Eindringlich heißt es in dem der „Bestimmung des Menschen" ab der 1768 herausgebrachten 9. Auflage beigefügten Schlußgebet: „O daß ich doch niemal diese meine gänzliche Abhängigkeit von Dir vergessen möchte"92. Spaldings „Neue Predigten", ebenfalls 1768 erschienen, bieten die Wendung nicht allein in auffallender Häufung93, sondern dazu auch in zweifach signifikanter Spezifizierung. Zum einen wird das der natürlichen Religion94 eigene Gefühl der gänzlichen Abhängigkeit des Menschen von Gott nun auch explizit als christlich erwiesen95. Und zum andern beginnt sich jetzt erstmals die wenig später in jener Formel entdeckte Wesensbestimmung der Religion anzubahnen, wenn Spalding, sich gleichsam dorthin vortastend, zunächst festhält, „die beständige Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott" sei in der „wahren christlichen Frömmigkeit [...] enthalten"96. Entsprechend vermerkt die 177297 veröffentlichte Schrift „Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes" in ebenfalls noch nicht zureichend geklärter Bestimmtheit, die gänzliche Dependenzerfahrung gehöre „zu dem eigentlichen Wesen der Religion"98. Bemerkenswerterweise scheint sich der Durchbruch zur vollständigen Wesensbestimmung auf der Kanzel vollzogen zu haben. In zwei von Spalding nicht veröffentlichten Predigten des Jahres 1775 heißt es uneingeschränkt, „das Wesen der Religion und der Gottseligkeit" bestehe in der ,,beständige[n] herschende[n] Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von ihm"99. Der literarischen Öffentlichkeit teilte Spalding diese religions-

Reflexionsgang als „die Geschichte der Empfindungen eines ehrlichen Mannes" bezeichnen konnte (Spalding, Bestimmung des Menschen [s. Anm. 32], 214,7f [Hvhg. A.B.]). 90 Ders., Werth der Gefühle (s. Anm. 82), 120,1 (1764); 182,lf (1764); 183,12 (1764). 91 „Da die geringste ernsthafte Ueberlegung einen jeden lehret, daß doch unsre Abhängigkeit von Gott und unsre Verbindung mit ihm niemals zerrissen werden kann [...]" (J.J. Spalding, Predigten ['1765- 3 l775], Ch. Weidemann (Hg.) [SpKA II/l], 2009, 35,11-14). 92 Spalding, Bestimmung des Menschen (s. Anm. 32), 195,22f (1768); leicht verändert in "1794 (ebd., 221,26f). 93 Ders., Neue Predigten (' 1768; 21770; 31777), A. Beutel/O. Söntgerath (Hg.) (SpKA II/2), 2008, 73,3-18; 77,14-21; 94,25-95,3; 212,17-213,5; 2-9; 260,4-15; 268,23-269,2. 94 Ders., Bestimmung des Menschen (s. Anm. 32), 201,17 u.ö. 95 Ders., Neue Predigten (s. Anm. 93), 219,29-220,9 (in direkter Auslegung von IKor 10,31). 96 Ebd., 268,23-28; Hvhg. A.B. 97 Für die Zwischenzeit vgl. Spalding, Werth der Gefühle (s. Anm. 82), 51,9-21 (1769); 120, lf (1769). 98 Ders., Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes (s. Anm. 49), 70,23; vgl. ebd., 193,19-23; 200,18-29. 99 Ders., Barther Predigtbuch (s. Anm. 31), Cantate 1775; entsprechend ebd.: „Unser zeitliches Glück als Segen Gottes zu betrachten" sei die „unausbleibliche Folge bey einem Gemüthe,

,Die Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott"

107

theologische Grunderkenntnis erstmals in einem 1784 erschienenen Predigtband mit: „Religion haben" bedeute, „sich stets des guten Gottes, von dem er gänzlich anhängt, mit Freuden bewußt zu seyn"100. Nachdem Spalding diesen Gedanken in der Neuauflage der „Vertrautefn] Briefe" von 1785 noch einmal erprobt hatte101, gab er ihm schließlich, ein Jahr später, in der oben eingehend analysierten Gedächtnispredigt auf Friedrich II. seine fundamentaltheologisch ausgereifte Gestalt102.

4.3 Spalding und Schleiermacher Obwohl Spalding seit 1735 bereits etliche Schriften und Aufsätze veröffentlicht hatte, begegnet die einschlägige Wendung erst seit dem Beginn der 1760er Jahre. Nun war 1758 im Berliner Verlagshaus Christian Friedrich Voß die deutsche Übersetzung eines abendmahlstheologischen Buches von Benjamin Hoadly erschienen103, in dem das Dependenz-Motiv mehrfach, beginnend mit der Vorrede, gebraucht und betont wird104. Spalding besaß105

das wirklich Religion hat, das sich in seiner beständigen Abhängigkeit von Gott erkennet" (5. Sonntag nach Trinitatis 1775). 100 Ders., Neue Predigten. Zweyter Band (1784), M. v. Spankeren/Ch. E. Wolff (Hg.) (SpKA II/3), 2009, 265,15.23f; vgl. ebd., 42,18-29 (hier in ausdrücklicher Bezugnahme auf IKor 4,7); 192,22-33; 255,10-20. 101 Ders., Vertraute Briefe, die Religion betreffend ('1784, 2 1785, 3 1788), A. Beutel/D. Prause (Hg.) (SpKA 1/4), 2004, 80,22-81,10; vgl. 118,18-119,2 (1784). 102 Für die Rezeption der Dependenz-Formel in Spaldings Alterswerk vgl. Ders., Religion, eine Angelegenheit des Menschen ('1797- 4 1806), T. Jersak/G.F. Wagner (Hg.) (SpKA 1/5), 2001, 29,8-11; 36,18-31; 97,8-19; 98,28-99,2. 103 B. Hoadly, Deutlicher Unterricht von der Natur und dem Zwecke des Heiligen Nachtmals worinn alle Stellen des Neuen Testaments, so sich darauf beziehen, angefiihret und erkläret sind, und die ganze Lehre von dieser heiligen Handlung daraus hergeleitet wird. Aus dem Englischen übersetzt; mit einer Vorrede des königl. Preußischen Hof-Predigers A.F.W. Sacks von der Redensart: Seine Andacht haben, 1758. Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel: A plain account of the nature and the end of the Sacrament of the Lord's Supper. In which all the texts in the New Testament, relating to it, are produced and explained. To which are added, Forms of Prayer, 1735, 8 1772 (ND 1986). 104 Hoadly, Deutlicher Unterricht (s. Anm. 103), 177: „Der große Zweck der Pflicht der Gebets ist, unter einem lebhaften Gefühl der göttlichen Allgegenwart, diejenige gute [sie] Empfindungen und gottselige Gesinnungen auszudrücken, die wir als abhängliche vernünftige, und gesellschaftliche Geschöpfe, und besonders als Geschöpfe, die im Stande sind, ihren höchsten Schöpfer und Bekenner zu erkennen und fiir ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen zu werden, in uns zu unterhalten und zu verbessern verbunden sind. Die Empfindungen, von denen ich rede, sind solche, die aus unsrer Abhänglichkeit von Gott, aus unsrer Verbindlichkeit und Verpflichtung gegen ihn, und aus unsern Verhältnissen, in welchen wir uns einer gegen den andern als Besitzer einer Natur und als Glieder einer Gesellschaft befinden, entstehen". Vgl. etwa auch ebd., 188: „Ich flehe deine väterliche Barmherzigkeit an, und ich bitte dich um Schutz und Gnade, Herr, der du der Regierer der ganzen Welt bist, und von dessen Wahrheit, Macht und Güte ich

108

Albrecht Beutel

und kannte die Schrift und hat sie des öfteren lobend erwähnt106. Denkbar wäre wohl beides: daß sie ihm von seinem Verleger Voß oder von seinem Freund und Kollegen August Friedrich Wilhelm Sack, der die Übersetzung mit einer eigenen, thematischen Vorrede versehen hatte107, zugestellt wurde108. Für die Vermutung einer unmittelbaren literarischen Anregung durch Hoadly spricht überdies, daß das in der deutschen Übersetzung aufscheinende, ungewöhnliche Lexem „Abhänglichkeit"109 zunächst auch von Spalding fortgeschrieben worden ist110. Während er, angeregt durch seine Hoadly-Lektüre, jene Wendung schrittweise zur Wesensbestimmung der Religion ausformte, setzte bereits deren zeitgenössischer Rezeptionsprozeß ein. Andere Neologen wie Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem"1, Johann August Nösselt" 2 oder Johann Salomo Semler"3 machten von ihr nun ebenso Gebrauch wie beispielsweise der Philosoph Gottlob Ernst Schulze114, und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gänzlich a b h ä n g e " . Vgl. f e r n e r ebd., 21, 198 u. passim. - F ü r seine e b e n s o u n e r m ü d l i c h e w i e findige S p u r e n s u c h e gilt H e r r n Dr. des. M a l t e van S p a n k e r e n m e i n sehr herzlicher D a n k . 105

V e r z e i c h n i ß d e r v o m verstorbenen Oberkonsistorialrath u n d Probst zu Berlin Herrn Spal-

ding hinterlassenen sehr a n s e h n l i c h e n u n d wichtigen S a m m l u n g v o n [...] B ü c h e r n , L a n d k a r t e n , K u p f e r s t i c h e n , B ü c h e r s p i n d e n mit G l a s t h ü r e n u. Repositorien [...], 1804, 180 N r . 249b. 106

Vgl. Lavater (s. A n m . 39), 4 1 6 . 665. 7 1 8 f 723f.

107

A . F . W . Sack, Seine A n d a c h t h a b e n (in: H o a d l y , D e u t l i c h e r Unterricht [s. A n m . 103], I I -

XII); W i e d e r a b d r u c k in M . P o c k r a n d t , Biblische A u f k l ä r u n g . B i o g r a p h i e u n d T h e o l o g i e der Berliner H o f p r e d i g e r A u g u s t Friedrich W i l h e l m S a c k ( 1 7 0 3 - 1 7 8 6 ) u n d Friedrich S a m u e l G o t t f r i e d S a c k ( 1 7 3 8 - 1 8 1 7 ) ( A K G 86), 2003, 6 9 7 - 7 0 2 . 108

Sack, d e r bereits in d e m 1748 v e r ö f f e n t l i c h t e n z w e i t e n S t ü c k seiner S c h r i f t „Vertheidigter

G l a u b e der C h r i s t e n " v o n d e r E r k e n n t n i s „unsere[r] g ä n z l i c h e [ n ] A b h ä n g i g k e i t v o n I h m " gesproc h e n hatte (zit. n a c h P o c k r a n d t [s. A n m . 107], 242f),

d ü r f t e dazu v o n d e r 1735 erschienenen

englischen O r i g i n a l a u s g a b e H o a d l y s inspiriert w o r d e n sein; vgl. P o c k r a n d t (s. A n m . 107), 158f 3 6 5 . 553. Die v o n S a c k 1748 g e b r a u c h t e W e n d u n g scheint allerdings f o l g e n l o s geblieben zu sein. 109

Hoadly, D e u t l i c h e r Unterricht (s. A n m . 103), 177.

110

Spalding, B e s t i m m u n g des M e n s c h e n (s. A n m . 32), 2 0 1 , 1 2 f ; 2 3 3 , 2 0 ; 305,7.

'"

J . F . W . J e r u s a l e m , B e t r a c h t u n g e n über die v o r n e h m s t e n W a h r h e i t e n d e r Religion, 1768

( N D 2007), 335: „ D i e s e E r f ü l l u n g seines W i l l e n s w ü r d e a u c h schon unsre erste u n d heiligste Pflicht seyn, w e n n wir a u c h keine a n d e r e Relation mit d i e s e m höchsten W e s e n hätten, als diese, d a ß er durch die S c h ö p f u n g u n s e r oberster H e r r ist. A u c h bleibt diese Relation ewig, und alle B e t r a c h t u n g seiner Güte, darf diese E m p f i n d u n g unserer D e p e n d e n z k e i n e n A u g e n b l i c k in u n s schwächen". 112 4

J.A. Nösselt, V e r t h e i d i g u n g d e r W a h r h e i t u n d Göttlichkeit der Christlichen Religion,

1 7 7 4 , 17: „Sie w ü r d e n einsehen m ü s s e n , [...] d a ß keine w a h r e Religion sey, die uns nicht i m m e r

d a r a u f weiset: d a ß w i r von G o t t a b h ä n g e n " ( A u c h diesen H i n w e i s v e r d a n k e ich H e r r n Malte van Spankeren). 113

J.S. Semler, M a g a z i n f u r die Religion. Z w e i t e r Theil, 1780, 2 4 A n m . 16. - Vgl. dazu G .

Hornig, S c h l e i e r m a c h e r u n d Semler. B e o b a c h t u n g e n z u r E r f o r s c h u n g ihres B e z i e h u n g s v e r h ä l t n i s ses (in: Selge, Internationaler S c h l e i e r m a c h e r - K o n g r e ß [s. A n m . 63], 8 7 5 - 8 9 7 ) , 885; H.-E. Hess, T h e o l o g i e und Religion bei J o h a n n S a l o m o S e m l e r . Ein Beitrag zur T h e o l o g i e g e s c h i c h t e des 18. Jahrhunderts, Diss, m a s c h . , Berlin 1974, 201. 3 9 6 A n m . 22. 114

175.

G . E . Schulze, G r u n d r i ß d e r p h i l o s o p h i s c h e n W i s s e n s c h a f t e n , B d . 2, 1790, 153; vgl. ebd.,

„Die Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott"

109

fand sie, als eine offenbar längst geläufige religionstheologische Grundbestimmung, bereits Eingang in eine weit verbreitete Enzyklopädie 115 . Der Bochumer Philosophiehistoriker Gunter Scholtz gab unlängst seine Einschätzung kund, die „Bestimmung der Religion als ,Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit' dürfte der berühmteste Religionsbegriff der Neuzeit sein"116. An dessen Ausbildung hat Spalding, Jahrzehnte vor der „Glaubenslehre", maßgeblichen Anteil genommen. Insofern konnte Scholtz - mit mehr Berechtigung, als ihm selbst dabei bewußt war - konstatieren: „Schleiermacher fand jedenfalls seinen Religionsbegriff in populären und leicht zugänglichen Schriften bereits vor"" 7 . Dafür spricht im übrigen auch, daß Schleiermacher die Wendung bereits in einer 1801 veröffentlichten Predigt gebrauchte, hier allerdings noch in eindeutig negativer Konnotation: „Wen das Gefühl der Abhängigkeit am meisten zum Gedanken an Gott erwekkt, der denkt gewiß sonst gar nicht an ihn, und der Geist des Christenthums fehlt ihm gänzlich"118. Indessen fügt sich dieser Befund nahtlos in das Profil des Berliner Charitépredigers ein: Der junge Schleiermacher, der (nicht nur) an der Universität Halle in aufklärungstheologisch temperierter Denkungsart geschult worden war, begann sich, namentlich unter dem Einfluß von Frühromantik und Spinoza-Renaissance, von den geistigen Kräften, die ihn geprägt hatten, in juvenil zugespitzter Radikalität abzusetzen, wofür seine Reden „Über die Religion" (1799) zweifellos das eindrücklichste Beispiel abgeben. Doch in der „Glaubenslehre" hatte er sich, mittlerweile im sechsten Lebensjahrzehnt stehend, längst wieder in ein gelasseneres Verhältnis zur Tradition eingefunden: Nun war er nicht allein zu dem in den „Reden" verschmähten christlichen Gottesbegriff zurückgekehrt, sondern hatte auch die von Spalding ausgebildete Wesensbestimmung der Religion aufgegriffen und sich konstruktiv zu eigen gemacht. In seiner „Gedächtnißpredigt auf Friedrich den Zweyten" äußerte Spalding die Erwartung, selbst noch die künftigen Jahrhunderte würden des Königs „mit bewundernder Ehrfurcht gedenken"119. Nicht minder dürfte auch seine Predigt zwar nicht „bewundernde Ehrfurcht", aber doch ein fortdauerndes historisch-kritisches Gedenken verdient haben.

115 G.S.A. Meilin, Art. Abhängigkeit (Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, J.S. Ersch/J.G. Gruber (Hg.), 1. Teil, 1818, 115-117). 116 Scholtz (s. Anm. 68), 66. 117 Ebd., 78. 118 F. Schleiermacher, Die Kraft des Gebetes, in so fern es auf äußere Begebenheiten gerichtet ist (1801) (in: Ders., Kleine Schriften und Predigten, H. Gerdes/E. Hirsch (Hg.), Bd. 1, 1970, 167-178), 178. 119

Spalding, Gedächtnißpredigt (s. Anm. 25), 4.

Jörn Leonhard Konfession und Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert Eine Beziehungsanalyse im deutsch-englischen Vergleich

1. Einführung: Religion und früher Liberalismus als Interaktionsgeschichte

Als wichtigste politisch-soziale Bewegung des langen 19. Jahrhunderts war der Liberalismus vielfältig mit der christlichen Religions- und Konfessionsgeschichte verbunden. Diese Verknüpfung darf nicht als einseitige Wirkung mißverstanden, sondern muß als komplexe Interaktion mit vielfaltigen Rückkopplungseffekten beschrieben werden. Nur vor diesem Hintergrund läßt sich von einem religiösen Liberalismus sprechen, der sich auf protestantischer Seite mit Namen wie Schleiermacher, Harnack und Troeltsch verbindet und in den charakteristischen Zwischenräumen und Übergängen zu suchen ist, welche starre und eng gezogene Grenzen zwischen Politik und Religion, Gesellschaft und Konfession nicht zulassen. Wie auch in der jüdischen Religionsphilosophie, für die man die Trias Geiger, Cohen und Baeck nennen könnte, kam es im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Ausprägung einer über einzelne theologische Schulrichtungen hinausgehenden neuartigen Religionskultur. Sie war Teil der Aneignung eines dynamischen und krisenhaften Erfahrungswandels und stellte im religiösen Liberalismus einen Bezug zur aufgeklärten Emanzipationsidee her. Die Prinzipien individueller Freiheit und rechtlicher Gleichheit sollten auch in religiöskirchlicher Hinsicht zur Geltung gebracht, autoritätskritische und emanzipatorische Autonomieerwartungen sowie antihierarchische Egalitätsansprüche sollten zur Richtschnur in religiösen Gemeinschaften und Institutionen gemacht werden. Idealtypisch formuliert verstand der religiöse Liberalismus seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Religion als Privatsache des mündigen Bürgers, trat für die Trennung von Religion und Politik, Kirche und Staat ein und suchte die Religion mit der zeitgenössischen Kultur durch die vernunftgeleitete Vermittlung religiöser Sinngehalte zu verbinden. Dem entsprach die Kritik an Dogmatismus und Ritualismus. Der damit einhergehenden ethischen Aufladung des Religiösen und der Rückbindung an das Individuum entsprach die Fokussierung auf die je individuelle Einsicht in

Konfession und Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert

111

die Praxis religiöser Sinnstiftungen, welche die unhinterfragte Unterordnung unter kirchliche Autoritäten ersetzen sollte. 1 Die komplexen Wechselwirkungen zwischen Religion und Liberalismus bildeten als Symptome und Bestimmungsfaktoren einen Teil der Erfahrungskrisen der Moderne nach dem Verlust der Deutungssicherheiten altständischer Gesellschaften in Europa. Im langfristigen Ergebnis entwickelten sich vielfaltige Synkretismen. Gerade die semantische Offenheit des Liberalismus-Begriffes im frühen 19. Jahrhundert verweist auf eine Phase der Verunsicherung und Neuausrichtung, in der sich politische und religiöstheologische Diskurse verbinden konnten.2 Religiöse Symbolsprachen und Semantiken blieben präsent, ja verstärkten ihre Wirkung sogar, aber sie verselbständigten sich gegenüber kirchlich-religiösen Kontexten und wurden auch von anderen politischen oder sozialen Akteuren aufgegriffen. Das Ergebnis hat der Historiker Thomas Nipperdey als eine „vagierende Religiosität" um 1900 beschrieben.3 An die Stelle der kirchlich verfaßten Religiosität trat die Religionserfahrung als Teil der gesellschaftlichen Vermittlung vielfältiger Deutungsmuster, an die Seite der religiös-konfessionellen trat die mediale Integration von Gesellschaften. Der Fokus der folgenden Überlegungen liegt im Blick auf die Interaktionen zwischen religiös-theologischen Strömungen und dem frühen Liberalismus seit etwa 1800 in zwei unterschiedlichen europäischen Ausprägungen. Für diesen Zusammenhang wurde der Rückgriff auf religiöse Symbolsprachen und ihre Politisierung durch Verknüpfung mit den neuen Deutungsmustern Freiheit, Individuum und Emanzipation wichtig. Der Beitrag soll zeigen, daß die vielfältigen und wechselseitigen Interaktionen zwischen Religion und den politisch-sozialen Positionen zeitgenössischer Liberaler in der ersten Jahrhunderthälfte kein bloß deutsches Phänomen darstellten, sondern auf europäische Zusammenhänge hindeuteten. Dazu wird diesen Verbindungen in einem symptomatischen Vergleich zwischen Deutschland und England nachgegangen, wobei diese Auswahl den unterschiedlichen Ausprägungen protestantischer Religiosität und ihrer historischen Grundlagen sowie dem bereits von Zeitgenossen angewandten Vergleich zwischen den liberalen Ausprägungen in beiden Gesellschaften geschuldet ist. Es geht im Folgenden ausdrücklich um die Perspektive des Historikers, nicht des Theologen: Der Blick geht vom Liberalismus als der 1 Vgl. Wilhelm Gräb, Religiöser Liberalismus, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch fur Theologie und Religionswissenschaft, Hans Dieter Betz/Don S. Browning/Bernd Janowski/Eberhard Jüngel (Hg.), Bd. 5, Tübingen 4 2002, Sp. 321-323. 2 Vgl. Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001. 3 Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918, München 1988, 143-153.

112

Jörn Leonhard

wichtigsten politisch-sozialen Bewegung der ersten Jahrhunderthälfte aus und fragt von hier aus nach politischen Positionen, sozialer Verankerung und Mobilisierungswirkungen. Innertheologische Fragen und Konflikte im engeren Sinne bleiben daher ausgespart. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Konzentration auf eine politisch-gesellschaftliche Kontextualisierung des theologischen Rationalismus, der Lichtfreunde und Deutschkatholiken in Deutschland sowie der protestantischen Nonkonformisten in England. Es geht also weniger um die Ausprägungen „liberaler Theologie", sondern um die Perspektivierung des religiös imprägnierten Liberalismus als eine mögliche Konsequenz der Verknüpfung von Aufklärung und Protestantismus.

2. Deutschland: Theologischer Rationalismus, Lichtfreunde und Deutschkatholiken im Kontext des Frühliberalismus Für das Verhältnis von Religion und politischer Bewegung konstatierte der Hegelianer Karl Rosenkranz 1843, daß der Begriff der Partei „von der Kirche aus durch die Belletristik, Schulphilosophie in den eigentlichen Staat gewandert" sei.4 Auf dem Höhepunkt seiner Auseinandersetzung mit der Theologie Luthers schrieb Ludwig Feuerbach im gleichen Jahr an Arnold Ruge: „Uebrigens bleibe ich dabei: die Theologie ist fur Deutschland das einzige praktische und erfolgreiche Vehikel der Politik, wenigstens zunächst."5 An diesen Entwicklungen hatten in Deutschland die religiösen Oppositionsbewegungen des Vormärz entscheidenden Anteil. Für Rudolf Haym war der „kirchliche Liberalismus" schlicht die „Übungsschule für den politischen."6 Die Verbindung zwischen zeitgenössischen religiösen Strömungen und politischen Forderungen verwies insofern auf einen wichtigen Formationsfaktor des Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert. Den besonderen Stellenwert der kirchlich-religiösen Bewegung, die weit mehr Menschen erreichte als der politische Liberalismus im engeren Sinne, reflektierte auch die regierungsamtliche Obrigkeit sehr genau. So konstatierte ein Polizeibericht an das Zentral-Informationsbureau in Mainz 1845 die außerordentliche Teilnahme an der kirchlichen Bewegung in beiden Konfessionen [...] eine Teilnahme, die jetzt so groß ist, daß sie fast das Interesse an den rein kirchlichen Fragen und Verhältnissen in den Hintergrund gedrängt hat. Es gibt jetzt keinen deutschen Staat mehr, in welchem nicht die kirchliche Bewegung und alles, was sich

4

Karl Rosenkranz, Über den Begriff der politischen Partei, Königsberg 1843, 13. Zitiert nach: Heinz-Hermann Brandhorst, Lutherrezeption und bürgerliche Emanzipation. Studien zum Luther- und Reformationsverständnis im deutschen Vormärz (1815-1848) unter besonderer Berücksichtigung Ludwig Feuerbachs, Göttingen 1981, 10. 6 Zitiert nach: Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, 38. 5

Konfession und Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert

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darauf bezieht, das Hauptthema der Tagesdiskussion bildet, ja, man kann keine Zeitung in die Hand nehmen [...], ohne auf kirchliche polemische Artikel zu stoßen, die in manchen politischen Blättern sogar den Hauptinhalt bilden.7

Den Hintergrund für diese Entwicklung in Deutschland bildete unter anderem der theologische Rationalismus der 1820er Jahre. Innerhalb des Protestantismus betonte er in enger, häufig aber auch vereinfachender Anlehnung an die Philosophie der Aufklärung, die grundsätzliche Vernünftigkeit des Christentums.8 Für das frühe 19. Jahrhundert war dies weniger im Blick auf die intellektuelle Bedeutung des theologischen Rationalismus wichtig, sondern aufgrund seines großen Einflusses auf die Durchschnittsbildung der Zeit und die möglichen Verbindungen zum Liberalismus. K. G. Bretschneider hob 1830 hervor, daß der theologische Rationalismus „unter den Gelehrten und Gebildeten unserer Kultur die herrschende Denkungsart", „ein Erzeugnis der allgemeinen Kultur aller Wissenschaften" und „eine allgemeine Bewegung des Zeitalters" sei, „welche die Theologen nicht hemmen können, sondern von der sie mehr oder weniger fortgezogen werden."9 Sein politisches Wirken, so H. G. Tzschirner 1824, verfolge die „auf die Grundsätze des Rechtes und der Sittlichkeit gegründete politische Reformation." Das „leitende Prinzip der neueren Zeit und der Mittelpunkt der Bewegung"10 war für ihn gleichbedeutend mit bürgerlicher Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz und Religionsfreiheit. Dies umzusetzen, sei in der Gegenwart der vernünftigste Weg zur Verhinderung von Revolutionen: „Man muß vernünftig reformieren, damit nicht gewaltsam revolutioniert werde."" Reformation markierte hier also einen programmatischen Gegenbegriff zur Erfahrung der gewaltsamen Revolution. Noch deutlicher beschrieb Tzschirner die Verbindung zur liberalen Oppositionsbewegung 1824, indem er aus einem von ihm als richtig verstandenen Christentum die Ansicht ableitete, „die Sache des Protestantismus" sei „die Sache der Freiheit und des Lichts."12 Von hier aus ergab sich der „wahre Liberalismus" für den theologischen Rationalisten als konsequente Fortbildung der „richtigen religiösen 7 Zitiert nach: Karl Glossy (Hg.), Literarische Geheimberichte aus dem Vormärz, Bd. 2: 1833-1842, Wien 1912,219. 8 Vgl. im folgenden Hans Rosenberg, Theologischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgärliberalismus, in: Ders., Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen 1972, 18-50, hier: 19f. 9 K. G. Bretschneider, Sendschreiben an einen Staatsmann über die Frage: ob evangelische Regierungen gegen den Rationalismus einzuschreiten haben?, Leipzig 1830, 84f. 10 Zitiert nach: Rosenberg, Rationalismus, 33. 11 K. G. Bretschneider, Die Theologie und die Revolution. Oder: die theologischen Richtungen unserer Zeit in ihrem Einflüsse auf den politischen und sittlichen Zustand der Völker, Leipzig 1835, 165. 12 H. G. Tzschirner, Protestantismus und Katholizismus aus dem Standpunkte der Politik, Leipzig 1824, 83.

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Grundideen."13 Für den süddeutschen Publizisten Carl Theodor Welcker konnte kein Zweifel daran bestehen, daß das Christentum die Prinzipien „nicht der despotischen und der theokratischen Verfassung, sondern die des freien Rechtsstaates, nämlich die Vorherrschaft der freien prüfenden sittlichen Vernunft, der geprüften freien Gewissensüberzeugung" begründe.14 Der theologische Rationalismus zeigte, wie innerkirchliche und theologische Debatten in einem besonderen Kontext begannen, in einem politischen und öffentlichen Kommunikationsraum zu wirken, der sich nicht mehr auf die Kirchen beschränken ließ. Unter dem Druck verschärfter politischer, sozialer und innerkirchlicher Verhältnisse bildete sich zu Beginn der 1840er Jahre eine eigene protestantische Oppositionsbewegung. Gegen die kirchliche Reaktion, die nach einer Maßregelung des Magdeburger Pastors Sintenis einsetzte, der sich im Sinne des theologischen Rationalismus polemisch gegen die Anbetung Christi gewandt hatte und für die Verteidigung der individuellen Überzeugung eingetreten war, fand im Juni 1841 in Gnadau eine Theologenversammlung statt, von der aus sich bald eine festere Organisation entwickelte.15 Die protestantischen Freunde, von ihren Gegnern Lichtfreunde genannt, hielten von 1842 an regelmäßige Zentralversammlungen zu Pfingsten und im Herbst in Kothen ab. Diese überregionalen Treffen wurden durch zahlreiche Kreisversammlungen, öffentliche Volksversammlungen und fest organisierte Vereine ergänzt, die sich vor allem in Sachsen und Schlesien, bald auch in Mittel- und Ostdeutschland konzentrierten. Die Lichtfreunde wandten sich nicht nur gegen jeden Dogmenzwang, den sie etwa im apostolischen Glaubensbekenntnis erkannten, sondern auch gegen die kirchliche Bevormundung durch die neue Regierung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. und dessen Verständnis von einer engen Verbindung von Thron und Altar im Sinne eines patriarchalischen Gottesgnadentums. 16 Damit gewann die zunächst innerkirchliche Opposition unmittelbar politische Züge, die durch die Forderungen nach Reformen innerhalb der Kirche, nach einer Aufwertung des Laienelements und nach repräsentativer Kirchenverfassung verstärkt wurden. Eine jüngere Generation von Pastoren bildete das Rückgrat und stellte mit Gustav Adolf Wislicenus die führende 13

Zitiert nach: Rosenberg, Rationalismus, 39. Carl Theodor Welcker, Christentum, christliche Religion und Moral in ihrem Verhältnis zur politischen Kultur oder zum Recht und Staat, in: Carl von Rotteck/Carl Theodor Welcker (Hg.), Staats-Lexicon oder Encyclopädie der Staatswissenschaften, in Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands, 15 Bd., Altona 1834-1843, hier: Bd. 3, 1836, 4 7 3 ^ 8 2 , hier: 477. 14

15 Vgl. Jörn Brederlow, „Lichtfreunde" und „Freie Gemeinden". Religiöser Protest und Freiheitsbewegung im Vormärz und in der Revolution von 1848/49, München 1979, 26. 16 Vgl. Rosenberg, Rationalismus, 42; vgl. Martin Friedrich, Die preußische Landeskirche im Vormärz, Waltrop 1994.

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Persönlichkeit der Bewegung. Seine kontrovers diskutierte Erklärung in Kothen 1844 unterstrich einen doppelten Primat des individuellen Gewissens gegenüber der Bibel sowie der freireligiösen Gemeinden gegenüber den etablierten landeskirchlichen Verbänden: Solange die Bibel als offenbarte Wahrheit angesehen wird, ist sie Norm und Richtschnur unseres Glaubens; aber sie hört sofort auf, es zu sein, wenn wir anfangen, sie wie ein anderes Buch mit der Vernunft zu beurteilen. Es ist Täuschung, wenn der rationalistische Theologe behauptet, auf dem Prinzip der normativen Autorität der Schrift zu stehen. Verwerfen wir auch nur einzelne Erzählungen der Bibel, wie jeder Rationalist [...] tut, so stellen wir unser eigenes Urteil über die Autorität der Schrift, somit ist nicht sie oberste Autorität, sondern der uns selbst innewohnende, lebendige Geist der Wahrheit.17

Angesichts der großen Resonanz der Bewegung war es keine Übertreibung, wenn Metternichs Mitarbeiter Jarcke das kirchliche Leben „in eine zitternde Bewegung geraten" sah. Vor dem Hintergrund der wachsenden mobilisierenden und politisierenden Wirkung der deutschen Dissenter konstatierte er, die Religion sei ,jetzt schon und wird in kurzer Zeit noch mehr die Achse sein, um welche sich die Welt und mit ihr die Politik bewegt."18 Zumal die Forderung nach einer kirchlichen Repräsentatiwerfassung entwickelte sich parallel zu den Konflikten um die Konstitutionalisierung des Staates: „durch die Freiheit der religiösen Überzeugungen" solle „der Freiheit überhaupt eine Gasse gebahnt werden."19 Zeitgenossen bezogen im Sprechen über Religion, Kirche und Gemeinde zugleich politisch Stellung, indem sie Analogien zwischen Kirche und Staat sowie zwischen Gemeinde und Gesellschaft herstellten und so politische Positionen zu vermitteln suchten. Mit der Verschärfung der politischen und sozialen Konflikte seit Beginn der 1840er Jahre rückten damit genuin politische Fragen auch in den religiösen Oppositionsbewegungen immer mehr in den Vordergrund.20 In Halle fanden unter der Leitung des Theologen Karl Schwarz, des Historikers Max Duncker und des Philosophen Rudolf Haym große Versammlungen statt, welche die Forderungen des politischen Liberalismus verbrei-

Zitiert nach: C. Thierbach, Gustav Adolf Wislicenus. Ein Lebensbild aus der Geschichte der freien, religiösen Bewegung, Leipzig 1904,26f. 18 Zitiert nach: Glossy, Geheimberichte, Bd. 3, 70. 19 Zitiert nach: ebd., 43. 20 Vgl. Brederlow, Lichtfreunde, 31f: „Mit den Schlagworten .Freiheit' und .Vernunft', die gegen die pietistische Partei verwandt wurden, konnte man auch die politische Praxis des preußischen Staates messen. Das Interesse der bürgerlichen Schichten an den Versammlungen der .Lichtfreunde' ist wohl auch auf diese politischen Implikationen zurückzufuhren. Die Gefährdung des etablierten Herrschaftssystems, die von den .Lichtfreunden' ausging, durfte man genau so hoch einschätzen, wie die intellektuelle Opposition der Bauer, Ruge oder Heß, die durch die Exklusivität ihrer Theorie und Rhetorik von vornherein begrenzter bleiben mußte."

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teten und sich für den Vereinigten Landtag als Etappe zur Konstitutionalisierung Preußens einsetzten.21 Parallel zum Aufstieg der Lichtfreunde zur Massenbewegung vollzog sich die Ausbreitung des Deutschkatholizismus.22 Wie bei der protestantischen Oppositionsbewegung erwuchs er zunächst innerkirchlich als Gegenbewegung zu romantischen und aufklärungsfeindlichen Strömungen innerhalb des Katholizismus und bezog Stellung gegen die Machtposition des Papsttums und die hierarchische Kirchenstruktur. Während der 1820er und 1830er Jahre konnten sich rationalistische Strömungen nicht wie im Protestantismus entfalten, weil in den Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche, zugespitzt im Kölner Kirchenstreit, der Staat diese Position gegen den Katholizismus reklamiert hatte.23 Die Ausstellung des Heiligen Rocks in Trier 1844, die mit ca. 500.000 Teilnehmern zur größten Massenveranstaltung des deutschen Vormärz wurde,24 demonstrierte machtvoll die ungebrochene Mobilisierungskraft der Religion,25 provozierte aber zugleich innerkirchlichen Widerstand: Der offene Brief des schlesischen Kaplans Johannes Ronge an den Trierer Bischof Arnoldi spitzte den Konflikt in dieser Situation zu. Das religiös-theologische Argument wurde von Ronge bewußt politisiert. So geißelte er „die Folgen, welche die götzenhafte Verehrung der Reliquien und der Aberglaube überhaupt für uns gehabt hat, nämlich Deutschlands geistige und äußere Knechtschaft."26 Noch weiter ging sein Aufruf an seine „deutschen Mitbürger", sich nach Kräften für eine Lösung von der hierarchischen Papstkirche einzusetzen, wobei er sich gleichermaßen an Katholiken und Protestanten wandte: Wenden Sie Alles an, daß dem deutschen Namen nicht länger eine solche Schmach angethan werde. Sie haben Stadtverordnete, Gemeindevorsteher, Kreis- und Landstände, wohlan, wirken Sie durch dieselben. Suchen Sie ein Jeder nach Kräften, um

Vgl. Rosenberg, Rationalismus, 43. Vgl. im folgenden Friedrich Wilhelm Graf, Die Politisierung des religiösen Bewußseins. Die bürgerlichen Religionsparteien im deutschen Vormärz: Das Beispiel des Deutschkatholizismus, Stuttgart 1978, 47-66. 22

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Vgl. Brederlow, Lichtfreunde, 34. Vgl. Wolfgang Schieder, Kirche und Revolution. Sozialgeschichtliche Aspekte der Trierer Wallfahrt von 1844, in: Archiv fiir Sozialgeschichte 14 (1974), 419^154, hier: 422; zur Kritik an Schieder vgl. Rudolf Lill, Kirche und Revolution. Zu den Anfangen der katholischen Bewegung im Jahrzehnt vor 1848, in: Archiv fiir Sozialgeschichte 18 (1978), 565-575. 24

25 Vgl. Schieder, Kirche, 454: „Daß es der katholischen Kirchenführung mit einer Unternehmung wie der Trierer Wallfahrt gelang, sich ihres konservativen Einflusses auf die Massen zu versichern, deutete auf die bremsende Rolle hin, die sie in der bürgerlichen Revolution von 1848/49 spielen sollte. Woran die bürgerliche Bewegung 1848 scheiterte, wozu die Arbeiterbewegung noch nicht in der Lage war, nämlich sich langfristig eine breite Massenbasis zu sichern, das schaffte die katholische Kirche auf Anhieb." 26 Johannes Ronges Offenes Sendschreiben an den Bischof Amoldi, zitiert nach: Graf, Politisierung, 198.

K o n f e s s i o n u n d L i b e r a l i s m u s i m frühen 19. Jahrhundert

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e n d l i c h e i n m a l e n t s c h i e d e n der t y r a n n i s c h e n M a c h t der r ö m i s c h e n Hierarchie z u b e g e g n e n u n d Einhalt z u thun [...] G e h e n S i e A l l e , o b K a t h o l i k e n o d e r Protestanten, a n ' s W e r k , e s gilt u n s e r e Ehre, u n s e r e Freiheit, u n s e r G l ü c k . 2 7

Von der liberalen Presse zu einer Luther gleichen Figur der Gegenwart stilisiert, erreichte Ronges Bekanntheit schnell nationale Ausmaße: Von seinem offenen Brief wurden in den von Robert Blum herausgegebenen Sächsischen Vaterlandsblättern in der zweiten Auflage 40.000 Exemplare publiziert.28 Ende 1844 gründete Ronge die Deutsch-katholische Kirche, die konzentriert auf Sachsen und Schlesien bis Sommer 1845 nicht weniger als 170 Gemeinden umfaßte und im Winter 1845/46 auf ca. 210, 1847 auf 230 Gemeinden anwuchs. 29 Die 67 Abgeordneten aus den 150 Gemeinden, die sich 1847 auf dem zweiten deutschkatholischen Konzil in Berlin trafen, repräsentierten ca. 70.000 Mitglieder, davon 28.000 in Schlesien. Die von Ronge intendierte Abgrenzung von der römisch-katholischen Kirche wurde in der liberalen Publizistik, etwa von Georg Gottfried Gervinus, als zukunftsweisendes Programm für eine deutsche Nationalkirche und damit als Instrument der nationalen Einigung Deutschlands begrüßt.30 Eine besondere Nähe zwischen der kirchlich-religiösen Bewegung und der von Liberalen getragenen frühen Nationalbewegung war keine deutsche Besonderheit. Sie existierte zumal in den 1840er Jahren auch in Italien, wo es aber anders als in Deutschland nicht zu einer populären Abgrenzung von der katholischen Kirche kam, sondern zu einer bemerkenswerten und programmatischen nationalpolitischen Identifikation mit dem Papst. Vincenzo Giobertis Buch über den moralischen Primat der Italiener von 1842 gab der neoguelphischen Bewegung ein Programm, das die nationale Einheit der Italiener in der Institution von Papsttum und katholischer Kirche erkannte und den Papst zum politisch-moralischen Garanten der italienischen Nationalstaatsbildung stilisierte.31 In Deutschland sollte wie in den Freien Gemeinden der Lichtfreunde die konkrete Ausformung von Glaubensinhalten der souveränen und demokratisch verfaßten Einzelgemeinde vorbehalten sein. Der Unterschied zu den Lichtfreunden, die anfänglich noch stärker als innerkirchliche Opposition eine Reform anstrebten, während Ronges deutsch-katholische Laienkirche

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Zitiert nach: ebd., 198f. Vgl. Glossy, Geheimberichte, Bd. 3, 195. 29 Vgl. Eduin Bauer, Geschichte der Gründung und Fortbildung der Deutschkatholischen Kirche, Meißen 1845. 30 Vgl. Graf, Politisierung, 65f, sowie Brederlow, Lichtfreunde, 35. 31 Vgl. Jörn Leonhard, Italia liberale und Italia cattolica: Historisch-semantische Ursprünge eines ideologischen Antagonismus im frühen italienischen Risorgimento, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 80 (2000), 495-542. 28

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einen offenen Bruch vollzog, verwischte dabei immer mehr.32 Angesichts der Resonanz der religiösen Oppositionsbewegungen konstatierte der protestantische Theologe C. B. Hundeshagen, die Dissidenten wirkten wie ein „Barometer für den durchschnittlich religiösen Bildungsstand unserer städtischen Mittelschichten, als bestätigendes Symptom der dort herrschenden Sympathien für die lichtfreundliche Form der Religiosität mit welcher der Deutschkatholizismus bis jetzt im Ganzen zusammenfällt."33 Ronges fünf Missionsreisen durch Deutschland entwickelten eine Massenmobilisierung, welche diejenige des Hambacher Festes vom Mai 1832 überstieg und die enorme Resonanz kirchlich-religiöser Reformpositionen in der Öffentlichkeit unterstrich: Allein am sogenannten „Cultus der Freiheit", den Ronge im Ulmer Münster zelebrierte, nahmen ca. 15.000 Menschen teil. In Offenbach bereiteten ihm die lokalen Frauen-, Turn- und Gesangvereine sowie die Bürgerwehr einen Empfang, an dem ca. 13.000 Menschen teilnahmen.34 Die massenhafte Unterstützung der religiösen Opposition basierte allerdings weniger auf aktiver Mitgliedschaft in einer Gemeinde, sondern vollzog sich primär in der Form regelrechter Huldigungen in der Öffentlichkeit. In diesen demonstrativen Akten kam ein Personenkult um Ronge zum Tragen, der die Behörden argwöhnisch werden ließ. Die von den Repräsentanten des politischen Liberalismus erhoffte enorme Rückwirkung auf das „Bewußtsein der Massen" formierte sich außerhalb der neuen Gemeindegründungen weniger als organisierte Opposition, sondern als „Akt momentaner Solidarisierung",35 durch welche die Teilnehmer an den Veranstaltungen ein allgemeines Partizipationsverlangen artikulierten, das offen für religiös-kirchliche, politische oder soziale Konnotationen war. Angesichts der sich vor allem durch den Pauperismus seit Beginn der 1840er Jahre sich verschärfenden sozialen Krise fielen die theologisch eher unspezifischen Reformforderungen auf fruchtbaren Boden: Mit der Forderung, Pauperismus, Arbeitslosigkeit, die Herrschaft des Kapitals und die mangelnde Volksbildung durch „tätige christliche Liebe" zu überwinden, waren praktisch alle von der sozialen Krise Betroffenen, insbesondere auch kleinbürgerliche Gruppen wie Handwerker, Kleinhändler und Kaufleute, die sich mit einem wirtschaftlichen Umbruch und einer generellen sozialpsychologischen Verunsicherung konfrontiert sahen, zu erreichen. In den Oppositionsbewegungen bündelten sich also äußerst heterogene Interessen Zu den Unterschieden vgl. Graf, Politisierung, 51, sowie Brederlow, Lichtfreunde, 35. Carl Bernhard Hundeshagen, Der deutsche Protestantismus, seine Vergangenheit und seine heutigen Lebensfragen im Zusammenhang der gesamten Nationalentwicklung beleuchtet von einem deutschen Theologen, Frankfurt a.M. 1847,423. 34 Vgl. Graf, Politisierung, 63. 35 Zitiert nach: ebd., 63f. 33

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und Erwartungshorizonte, die sich sozialhistorisch in der relativ breiten gesellschaftlichen Basis von Lichtfreunden und Deutschkatholiken niederschlugen. Auch Frauen spielten in den kirchlichen Oppositionsbewegungen eine aktive Rolle.36 Obwohl dem Deutschkatholizismus und den Lichtfreunden trotz einer zeitweise enormen Massenmobilisierung ein andauernder Erfolg versagt blieb - nach dem Höhepunkt um 1846 stagnierte die Zahl der neuen Gemeinden, und die enorme Resonanz in der Öffentlichkeit ließ nach37 - lassen sich doch wichtige längerfristige Auswirkungen nicht übersehen: So führte die Mobilisierung der Liberalen gegen die pro-katholischen Strömungen vor allem in Baden bereits anläßlich der Landtagswahlen von 1846 zu einer partiellen Zusammenarbeit zwischen gemäßigten Liberalen und der Regierung auf der Grundlage eines gemeinsamen Vorgehens gegen die unterlegene katholische Partei.38 In Umrissen wurde hier schon vor der Revolution von 1848/49 die Konstellation des Kulturkampfes faßbar, die dann seit den 1850er Jahren die innenpolitischen Konflikte in vielen deutschen Staaten prägte und zu einem entscheidenden Konstitutionselement des kleindeutschen Kaiserreichs von 1871 werden sollte. Welche Kennzeichen läßt diese allenfalls symptomatische Skizze der deutschen Situation vor 1848 für das Verständnis der besonderen Beziehung, Interaktion und Überlappung zwischen protestantischem Rationalismus und Liberalismus erkennen? Erstens existierte durch den programmatischen Fokus auf Individuum und Freiheitsbegriff ein gemeinsames Wertegerüst. Zweitens wirkten beide Bewegungen zusammen in der vormärzlichen Öffentlichkeit. Dem entsprachen das Ideal einer erweiterten politisch-sozialen Partizipation, eine öffentlich wirksame Mobilisierung der Anhänger und eine besondere kommunikative Praxis von Liberalismus und protestantischem Rationalismus. Drittens kam es zu einer Analogiebildung der Zeitgenossen zwischen innerkirchlicher und staatlicher Ebene, die um die Komplexe Reform, Teilhabe und Konstitution kreiste. Schließlich bildeten Nation und Nationalstaatsbildung eine gemeinsame Horizontlinie. Dazu trug vor allem die Ausbildung von antagonistischen Begriffspaaren bei, die für die protestantisch-bürgerliche Nationalbewegung von großer Bedeutung wurden: So wurde die „Nation" der „Knechtschaft" durch eine Fremdherrschaft gegenübergestellt, und „Reformation" wurde zum Gegenbegriff von „Revolution" und „Restauration". Vgl. Sylvia Paletschek, Frauen und Dissens. Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden 1841-1852, Göttingen 1990. 37 Vgl. Graf, Politisierung, 63f. 38 Vgl. Frank Eyk, Liberalismus und Katholizismus in der Zeit des deutschen Vormärz, in: Wolfgang Schieder (Hg.), Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz. Göttingen 1983, 133-146, hier: 145f.

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Die strukturellen und personellen Überlappungen zwischen diesen Bewegungen spiegelten nicht nur eine in Bewegung geratene Gesellschaft wider, sondern auch die steigende Nachfrage nach politischer und soziokultureller Sinnstiftung im Kontrast zu etablierten Institutionen und Hierarchien. Die überraschende Dynamik der Verbindung zwischen politischer und konfessioneller Oppositionsbewegung seit den 1830er Jahren war insofern Teil der Entwicklung eines politischen Massenmarktes und eigener Strategien der Medialisierung und Kommunikation von Erwartungen an die Zukunft. Dabei bot der Rückgriff auf religiöse Symbolsprachen, Deutungsmuster und Semantiken ein ganzes Reservoir an kommunikativsuggestiven Kommunikationsinstrumenten. Vor allem aber zeigte sich, daß und wie die Grenzen zwischen theologischen, sozialen und politischkonstitutionellen Reformerwartungen durchlässiger wurden.

3. England: Die Interdependenz von religious liberty und civil rights Religiöser Dissens als Basis des englischen Frühliberalismus Im Gegensatz zu Deutschland wirkte in England nicht primär die Aufklärung als entscheidender historischer Bezugspunkt für die Ausbildung einer rationalen Theologie. Hier kam vielmehr die in den Erfahrungen seit dem 16. Jahrhundert verankerte Tradition konfessioneller und politischer Selbstbehauptung zum Tragen, welche auch die protestantische Freikirchlichkeit geprägt hatte. Die Grundbegriffe „dissent" und „nonconformity" bezeichneten ursprünglich englische und walisische Protestanten, die außerhalb der etablierten Church of England standen. Konfessionelle Nonkonformität deckte dabei ein weites Spektrum theologischer Auffassungen und Praktiken ab, das von der Versammlungskirche der Independents bis zu einer presbyterianischen Staatskirche nach Genfer Vorbild reichte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts gehörten nur 6% der englischen Bevölkerung zur Gruppe der Dissenter, und um 1750 waren diese Anteile tendenziell eher rückläufig. Dann aber kam es zu einem dynamischen Anstieg durch eine breite evangelikale Erweckungsbewegung und die Trennung der Methodisten von der anglikanischen Staatskirche. In enger Anlehnung an die Brüder John und Charles Wesley betonten die Methodisten den Spiritualismus des Erweckungserlebnisses und bildeten auf dieser Grundlage eine Vielzahl lokaler christlicher Gemeinschaften. Die Berufung auf den freien Willen und die konsequente Wendung gegen das anglikanische Establishment, das die Verquickung von Staat und Kirche symbolisierte, führte in den 1790er Jahren zu immer neuen Mobilisierungswellen nach den Erweckungserfolgen der 1740er Jahren mit ihren charakteristischen Open-Air-Sermons. Hier verbanden sich eine Emanzipationsbewegung gegen etablierte staatsnahe

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Kirchlichkeit und programmatisches öffentliches Wirken, wie die enorm populären Predigtreisen Wesleys eindrucksvoll dokumentierten. Diese Expansion freikirchlicher Praxis setzte sich auch in der Phase der frühen Industriegesellschaft fort. 1851 gehörten nicht weniger als 17% der englischen Bevölkerung und 45% der walisischen Bevölkerung zu nonkonformistischen Gemeinden.39 Im europäischen Vergleich fällt die frühe und erfolgreiche Weigerung der Nonkonformisten auf, sich dem Druck einer die konfessionellen Minderheiten verfolgenden Staatskirche zu beugen. Das trug nicht nur konfessionell zur Ausprägung einer pluralistischen Gesellschaft bei. Dagegen spielte die Beziehung zwischen Aufklärung und Theologie in Großbritannien eine weniger dominante Rolle: Klassisch deistische Konzepte der Religionsphilosophie als Ausweis einer theologisch-kirchlichen Aufklärung wie bei Lord Herbert, in Tolands Idee eines geheimnis- und dogmenfreien Christentums oder in Collins' Beharren auf dem „free thinking" als deistisches Programm verschoben sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Der Apologetik der anglikanischen Kirche stand der aufkommende Methodismus der Wesley-Brüder und David Humes „Natural History of Religion" von 1757 gegenüber, in der er den Polytheismus als ursprüngliche Gestalt der Religion hervorhob. Auch John Locke betonte die Vernünftigkeit des Christentums, die sich darin erschließe, daß es die Notwendigkeit einer die Grenzen der Vernunft überschreitenden Offenbarung erkenne.40 Insgesamt verfugte der konfessionelle Dissent in England über viel ältere historische Bezugspunkte im 16. und 17. Jahrhundert als es die neuen Erfahrungen religiöser Erweckungsbewegungen und andere Entwicklungen aus dem Zusammenwirken von Aufklärung und Theologie im 18. Jahrhundert nahelegten. Die enorme Bedeutung der Dissenter als politischem und soziokulturellem Formationsfaktor der liberalen Bewegung in England ist für das 19. Jahrhundert nicht zu übersehen: Die Hochburgen der liberalen Wählerschaft lagen seit den 1820er Jahren zumeist in Gebieten mit überdurchschnittlich hohem Anteil an Nonkonformisten.41 In den lokalen Handelskammern, Reformgesellschaften und in den Zeitungen sowie Zeitschriften der „industrious middle classes" spielten Angehörige nonkonformistiVgl. Michael R. Watts, Dissenters (Nonkonformisten), in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, Tübingen 4 1999, Sp. 877-879; Callum Brown, A Social History of Religion in Scotland since 1730, London 1987; Hugh McLeod, Religion and the People in Western Europe, 1789-1970, London 1981; Ders., Religion and Society in England, 1850-1914, London 1996, sowie Gerald Parsons (Hg.), Religion in Victorian Britain, 4 Bde., Manchester 1988; Michael R. Watts, The Dissenters, 2 Bd., London 1978-1995, sowie James Munson, The Nonconformists, London 1991. 40 Vgl. Albrecht Beutel, Aufklärung (theologisch-kirchlich), in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, 4 1998, Sp. 941-948, hier: Sp. 943. 41 Vgl. Peter Wende, Grossbritannien 1500-2000, München 2001, 75.

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scher Glaubensgemeinschaften eine zentrale Rolle als Protestaktivisten und Meinungsfuhrer. Insofern bildete der Quäker John Bright als einer der fuhrenden Akteure der Anti-Corn Law League, die erfolgreich fur die Abschaffung der Kornzölle und den Freihandel kämpfte, keine Ausnahme, sondern war eher Symptom für die charakteristische Verknüpfung von Politik und Religion im Zeichen einer programmatischen Fortschritts- und Reformerwartung. Diese besondere Beziehung zwischen Liberalismus und Dissent bildete auch den Hintergrund für William Gladstones berühmtes Diktum, die religiösen Nonkonformisten seien „the backbone of British Liberalism" gewesen.42 Allerdings stand hinter der zeitgenössischen Identifizierung von Nonkonformismus und Liberalismus auch die geschickte geschichtspolitische Selbstinszenierung der englischen Liberalen im Rahmen der Whig interpretation of history. Danach erschien die englische Geschichte als eine kontinuierliche und evolutionär-gewaltfreie Entfaltung von immer mehr Freiheitsrechten. Für dieses Selbstbild war der Mechanismus der Abgrenzung der protestantisch-englischen Nation von den katholischen und absolutistischen Mächten Kontinentaleuropas seit dem 16. Jahrhundert konstitutiv. Ihren Einsatz für die Gleichberechtigung der konfessionellen Nonkonformisten in den 1820er Jahren interpretierten die reformbereiten Whigs als Teil dieses historisch begründeten und noch in der eigenen Gegenwart andauernden Kampfes um die „liberties of all Englishmen", in dem sie eine Führungsrolle als „trustees" beanspruchten.43 Auch in der Öffentlichkeit betonten Zeitgenossen den engen Zusammenhang zwischen diesen politisch-konstitutionellen und konfessionspolitischen Forderungen. So war die Emanzipation der Katholiken und die Abschaffung der letzten Diskriminierungen der Dissenter am Ende der 1820er Jahre in dieser Perspektive nicht von der Reform des Wahlrechts zu trennen, die 1832 in die Reform Bill mündete. Als historischer Hintergrund für diese im europäischen Vergleich besondere Konstellation ist zunächst auf den ausgesprochenen Pluralismus religiöser Gemeinschaften als Grundtatsache der neueren englischen Geschichte seit dem 16. Jahrhundert hinzuweisen. Mit dem Sieg der restaurativen Monarchie im 17. Jahrhundert hatte die anglikanische Kirche auch ihre puritanischen Konkurrenten abgedrängt, die seit dieser Zeit als Dissenter durch rechtliche Diskriminierung im politischen Abseits standen. Als historische Erfahrung aber wirkte die Verknüpfung von politischem und religiösem 42 Zitiert nach: David W. Bebbington, The Nonconformist Conscience. Chapel and Politics 1870-1914, London 1982, 10. 43 Vgl. Jörn Leonhard, „True English Guelphs and Gibelines": Zum historischen Bedeutungs- und Funktionswandel von whig und tory im englischen Politikdiskurs seit dem 17. Jahrhundert, in: Archiv für Kulturgeschichte 84/1 (2002), 175-213.

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Freiheitskampf in den Englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts bis weit ins 19. Jahrhundert fort.44 Diese besondere Konfliktkonstellation fungierte als historischer Deutungsspeicher, mit dem sich politische Krisen der Gegenwart immer neu in eine Beziehung zur Vergangenheit setzen ließen. Dagegen entfaltete die geschichtspolitische Erinnerung an die Reformation durch die Anhänger der liberalen Bewegung in Deutschland mit seiner ausgeprägten Bikonfessionalität nur eine begrenzte Wirkung. Im Kontext der Nationsbildung wirkte sie allenfalls polarisierend. Die anglikanische Staatskirche, deren Position durch Gesetze mit Verfassungscharakter garantiert wurde, entwickelte sich seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts zum Bindeglied zwischen Landadel und Geistlichkeit. Aber trotz dieser besonderen Vorrangstellung, die der Staatskirche eine wichtige Funktion für die Elitenrekrutierung innerhalb der englischen Gesellschaft sicherte, gelang es im Verlaufe des 18. Jahrhunderts nicht, die überkommenen Organisationsstrukturen an die dynamischen gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen.45 Auf Bevölkerungszunahme, Städtewachstum und die zunehmende Industrialisierung des Nordens reagierte die Staatskirche kaum.46 Zur Errichtung einer neuen Gemeinde bedurfte es noch immer eines formellen Parlamentsbeschlusses. Die Folgen wurden seit Beginn des 19. Jahrhunderts dramatisch erkennbar: So verfügte die Londoner Gemeinde St. Paneras 1820 über 15.000 Gemeindemitglieder, aber nur über eine Kirche mit 200 Sitzplätzen.47 In den entstehenden industriellen Zentren des Nordens büßte die anglikanische Kirche zusehends an Stärke ein: Während in den 1830er Jahren in den meisten der 41 englischen Grafschaften anglikanische Kirchengemeinden dominierten, standen in den zehn am stärksten

44 Vgl. Frank-Michael Kuhlemann, Protestantismus und Politik. Deutsche Traditionen seit dem 16. Jahrhundert in vergleichender Perspektive, in: Manfred Hettling u.a. (Hg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen. Festschrift fur Hans-Ulrich Wehler, München 1991, 301-311, hier: 306: „Die erfolgreiche Verbindung religiöser und politischer Freiheitsforderungen in den frühneuzeitlichen Revolutionen - aus welchen Gründen und auf welche Weise sie auch immer erfolgte - ist als kollektive historische Erfahrung für die spätere Ausbildung eines liberalen Politikverständnisses nicht geringzuachten." 45 Vgl. James Obelkevich, Religion, in: F. M. L. Thompson, The Cambridge Social History of Britain 1750-1950, 3 Bde., Cambridge 1990, hier: Bd. 3, 311-356, hier: 312-328. 46 Vgl. Nicholas Hope, Kirche in der Zeit des frühen Liberalismus. Großbritannien und Skandinavien im Vergleich, in: Schieder, Liberalismus, 115-132, hier: 125-127; vgl. ebd., 127: „Zwischen der Größe einer Industriestadt und ihrer Wachstumsrate auf der einen und einer geringen Präsenz der anglikanischen Kirche auf der anderen Seite scheint ein Zusammenhang bestanden zu haben." 47 Vgl. Peter Wende, Geschichte Englands, Stuttgart 1985, 220 und weiter: „Noch 1840 mußte in Leeds ein anglikanischer Geistlicher mit seinem Pfarrgehilfen 1000 Hochzeiten, 1300 Beerdigungen und 1800 Taufen abhalten."

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industrialisierten Grafschaften nur 3.013 anglikanische nicht weniger als 4.093 freikirchlichen Gemeinden gegenüber.48 In diesem Kontext vollzog sich die Entwicklung neuer Formen freikirchlicher Religiosität. So nahm in einem veränderten gesellschaftlichen und politischen Kontext die Religion im 19. Jahrhundert wieder eine ähnlich herausragende Rolle ein wie im 17. Jahrhundert. Bereits mit den Predigten John Wesleys, des Begründers des Methodismus, hatte sich im 18. Jahrhundert eine neue Organisationsstruktur abseits der Kanzeln und Gemeindegrenzen der etablierten Staatskirche etabliert. Wesleys Auftritte in den früh industrialisierten Bezirken des Nordens begleiteten den Aufbau einer eigenen Kirchenorganisation, die von örtlichen Gemeinden (societies) mit eigenem Versammlungshaus (chapel) ausgehend über überregionale Bezirksversammlungen und Landeskonferenzen in eine feste, straff zentralistische Hierarchie eingebunden war. Angeregt vom neuen Spiritualismus der Erweckungsbewegungen verfugten die Methodisten um 1820 bereits über 200.000 Mitglieder und zahlreiche Anhänger.49 Mit der Versammlung der Dissenting Ministers of London, in der Vertreter von Baptists, Independents bzw. Congregationalists sowie Presbyterians zusammenkamen und die auch von der Krone als Sprachrohr der Nonkonformisten anerkannt wurde, besaßen die Nonkonformisten ein effizientes politisches Instrument, das von erfahrenen und bekannten Juristen geleitet wurde. Hinzu kam mit der 1811 gegründeten Protestant Society for the Protection of Religious Liberty ein zentral agierendes Forum, in dem alle nonkonformistischen Kirchen Englands vertreten waren und das nach dem Vorbild von anderen evangelikalen Vereinen und Gesellschaften jährlich in London zusammentrat. Die Leitung der Protestant Society durch Persönlichkeiten mit weitreichenden politischen Verbindungen - John Wilks wurde während seiner Tätigkeit als Sekretär eine national bekannte Persönlichkeit und erkämpfte einen Unterhaussitz, Matthew Wood wurde zweimal Bürgermeister von London - sowie die Verbreitung ihrer Schriften durch die regionalen und lokalen Zeitungen der Dissenter garantierten eine kohärente Interessenartikulation nach außen und eine effiziente Mobilisierung nach innen.50 Neben dieser zentralen Organisation existierten zahlreiche andere Vereine der Dissenter, v.a. die London Missionary Society und die Religious Tract Society. Auch sie agierten zum Teil in enger Kooperation mit politischen Akteuren, etwa mit Unterhausabgeordneten. Dieses dichte Vgl. John Wade, The Extraordinary Black Book. An Exposition of Abuses in Church and State, London 1832, 85. 49 Vgl. Wende, Geschichte, 220f, sowie R. Gill, The Myth of the Empty Church, London 1993. 50 Vgl. Raymond Gibson Cowherd, Protestant Dissenters in English Politics 1815 to 1834, Phil. Diss. Philadelphia 1942, 23ff.

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Netz von Organisations- und Kommunikationsstrukturen erlaubte es dem Nonkonformismus, die erweiterten Instanzen der politischen Öffentlichkeit im Umfeld des Londoner Parlaments durch Protest, Petition und Publizität zu nutzen. Im Gegensatz zu Deutschland mit seiner historisch gewachsenen territorialen Vielfalt und dem Fehlen eines politisch-kulturellen Zentrums verfugten die englischen Nonkonformisten über eine festere organisatorische Verankerung und etablierte Verbindungen zum politischen Zentrum in London. Eine richtungweisende Verbindung von religiösem Engagement und politischem Handlungswillen dokumentierte das Anti-Slavery Movement, das von William Wilberforce und der Clapham-Sect begründet wurde, die ihrerseits innerhalb der etablierten anglikanischen Kirche als Antwort auf die neuen religiösen Bewegungen entstanden war.51 Die Durchsetzung der politischen Ziele mit außerparlamentarischen Mitteln erfolgte hier nach der Ablehnung eines entsprechenden Antrags von Wilberforce im Parlament 1791 durch eine Flugschriftenkampagne bisher nicht gekannten Ausmaßes. Mehrere tausend Flugschriften und über 500 Petitionen erreichten genau zum Zeitpunkt der angesetzten Debatten das Unterhaus. Mit dem ersten Teilerfolg der Bewegung, dem 1807 erzielten Gesetz über die Abschaffung des Sklavenhandels, setzte eine neue Mobilisierungswelle ein, welche die Regierung schließlich zur Durchsetzung einer entsprechenden Absichtserklärung in der Schlußakte des Wiener Kongresses zwang. Mit der Gründung der Anti-Slavery Society 1832 erreichte die Bewegung den höchsten Organisationsgrad: Sie verfugte nun über ca. 1.300 Ortsvereine, mit deren Hilfe sie in kurzer Zeit über 800 Petitionen mit über einer Million Unterschriften organisieren konnte.52 Die religiöse Bewegung verknüpfte sich während der 1820er und 1830er Jahre immer stärker mit politischen Forderungen, so daß religiöse und politische Opposition sich gegenseitig verstärkten. Dies läßt sich sozialhistorisch am überdurchschnittlichen Engagement von Nonkonformisten aus den bürgerlichen Mittelklassen, insbesondere aus den freien Berufen, in den liberalen Reformvereinen nachweisen: Von den 18 fuhrenden Ärzten Sheffields, die in den Vereinen Führungspositionen einnahmen, gehörten elf zu den Unitariern, vier zu den Quäkern und je einer zu den Congregationalisten, Katholiken und Rationalisten, während kein einziger mehr in der anglikanischen Staatskirche verwurzelt war.53 Während der relative Anteil von Mitgliedern des Wirtschaftsbürgertums, also von Händlern, Kaufleuten, 51

Vgl. Wende, Grossbritannien, 77. Vgl. Wende, Geschichte, 222. 53 Vgl. Sidney Pollard, Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in England: Mittel- und Oberklassen, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte. Göttingen 1979, 33-52, hier: 42f. 52

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Gewerbetreibenden und Fabrikbesitzern, in den nonkonformistischen Gemeinden und in der englischen Gesamtgesellschaft vergleichbar groß war, zeigte sich ein überdurchschnittlicher Anteil von Handwerkern und ein unterdurchschnittlicher Anteil von Industriearbeitern bei den Nonkonformisten. Für die Führungspositionen in den Vereinen allerdings spielte die besonders engagierte wirtschaftsbürgerliche Elite der Kaufleute und Gewerbetreibenden eine zentrale Rolle. Aus ihrem überdurchschnittlichen Engagement und der gesellschaftlichen Position der Dissenter resultierte wesentlich die zeitgenössische Verbindung von „dissent" und „middle classes", die in den 1830er Jahren zu einem verbreiteten Topos der öffentlichen Meinung wurde. Für viele Zeitgenossen waren der Aufstieg der Dissenter, ihre soziale Position und ihr politisches Gewicht in der Reformbewegung unmittelbar mit dem Selbstbewußtsein des prosperierenden neuen Wirtschaftsbürgertums verknüpft. Eine Politisierung religiös-konfessioneller Fragen zeigte sich in England auch in anderer Hinsicht. In der irischen Frage wurde die politische Einflußnahme auf dem Wege außerparlamentarischer Mobilisierung besonders virulent. Die Gründung der Catholic Association durch Daniel O'Connell in Irland ließ eine Massenbewegung entstehen, die dank des Einsatzes des katholischen Klerus bald das ganze Land durchzog und nicht allein die konfessionelle Gleichstellung, sondern darüber hinaus die Kündigung der Union mit England anstrebte. Nach ihrem Verbot 1825 entstand die Organisation unter dem neuen Namen Order of Liberation mit ca. drei Millionen Mitgliedern neu. Nachdem die protestantischen Dissenter 1828 mit Hilfe einer breit angelegten Petitionskampagne im Parlament die Abschaffung der Test Acts und damit die politische Gleichberechtigung durchgesetzt hatten54 und den Katholiken dieselbe noch verweigert worden war, ging O'Connell in die politische Offensive und kandidierte demonstrativ für einen Wahlkreis, der bisher als sichere Pfründe der protestantischen Familie der Fitzgeralds galt. Die gezielte Propaganda mit Hilfe von 150 Priestern ließ den Gegenkandidaten bereits vorzeitig aufgeben.55 Da O'Connell als Katholik das Mandat in Westminster nicht antreten konnte, erkannte die Regierung die Notwendigkeit zum Handeln. Die kontroverse Durchsetzung der Katholikenemanzipation durch die Tory-Regierung Wellingtons 1829 markierte einen wichtigen Schritt auf dem Weg hin zur staatsbürgerlichen Gleichheit und unterstrich die enorme Wirkungskraft außerparlamentarischer Protest- und Reformbewegungen gegenüber Regierung und Parla54 Zwar erreichten sie damit die Zulassung zu öffentlichen Ämtern, aber sie blieben von den Universitäten Oxford und Cambridge ausgeschlossen. Bis 1868 mußten alle Nicht-Anglikaner auch weiterhin Abgaben an die anglikanische Staatskirche zahlen; vgl. Gottfried Niedhart, Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert, München 1987, 61. 55 Vgl. Wende, Geschichte, 225.

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ment, wenn sich konfessionspolitische und konstitutionelle Forderungen verbanden. Will man den konfessionellen Faktor für den englischen Liberalismus angemessen bewerten, so spielt die enge Verbindung zwischen den Dissentern und den parlamentarischen, reformorientierten Whigs in den 1820er und 1830er Jahren eine entscheidende Rolle.56 Sie ergab sich zunächst historisch aus dem stilisierten Selbstverständnis der Whigs als Garanten der religiösen Freiheit,57 verstärkte sich am Ende des 18. Jahrhunderts unter Charles James Fox58 und wurde mit dem dynamischen Anwachsen nonkonformistischer Gemeinden in den neuen Industriezentren des Nordens revitalisiert, weil die Whigs nun die entscheidende Rolle der Nonkonformisten bei Wahlen erkannten.59 Ihr wachsendes politisches Gewicht dokumentiert die Tatsache, daß ihr Anteil an der Gesamtwählerschaft nach der Reform des Wahlrechts von 1832 auf ca. 20 Prozent anstieg.60 Inhaltlich wurde diese Allianz zwischen Whigs und Dissentern im frühen 19. Jahrhundert besonders an der programmatischen Verknüpfung von „religious liberty" und „civil liberty" durch fuhrende Nonkonformisten erkennbar. Schon am Ende des 18. Jahrhunderts hatte Joseph Priestley erklärt: So long as w e continue to be Dissenters, it is hardly possible that w e should be other than friends to civil liberty and all the essential interests o f our f e l l o w citizens. The friends o f this great cause [reform, J.L.] may always depend on us; but the statesmen w h o have other v i e w s may justly be jealous o f us, and they cannot give a clearer proof o f their hostile intentions towards the liberty o f their country than b y using us with rigor.61

Im Dissenters ' Catechism von Robert Robinson, einem bekannten baptistischen Prediger in Cambridge, standen religiöse und politische Positionen Vgl. Richard Brent, The Whigs and Protestant Dissent in the Decade of Reform: the case of Church Rates, 1833-1841, in: English Historical Review 102 (1987), 887-910. 57 So datiert Raymond Gibson Cowherd, The Politics of English Dissent, London 1959, 96, die Allianz seit dem Toleration Act 1689. 58 Vgl. Grayson Ditchfield, The parliamentary struggle over the repeal of the Test and Corporation Acts, 1787-1790, in: ante 89 (1974), 551-577, sowie John Seed, Gentlemen Dissenters: The Social and Political Meanings of Rational Dissent in the 1770s and 1780s, in: Historical Journal 28 (1985), 299-325. 59 „[Whig, J.L.] ministers knew that if their candidates were to be returned, they could not dispense with the Nonconformist vote" (Elie Halévy, A History of the English People in the Nineteenth Century, Bd. 3: The Triumph of Reform, o.O. 1950, 172); vgl. Norman Gash, Reaction and Reconstruction in English Politics 1832-1852, Oxford 1965,69. 60 Vgl. Roger Anstey, Religion and British Slave Emancipation, in: D. Eltis/J. Walvin (Hg.), The Abolition of the Atlantic Slave Trade, Madison/Wisconsin 1981, 51-53. 61 [Joseph Priestley] Theological and Miscellaneous Works, Bd. 12, T. J. Rutt (Hg.), London 1823,263.

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bewußt nebeneinander. Theologisch-konfessioneller Dissens führe, so Robinson, unmittelbar zu den Grundfragen der politischen Reform: Modern Nonconformity leads us to the study of government; Sidney, Locke, and Montesquieu teach the notions which we hold of government. All think the people the origin of power; and the administrators, responsible trustees.62

Im Verlauf der 1820er Jahre intensivierten sich die Beziehungen zwischen Dissentern und führenden reformorientierten Whigs, die sich als deren Fürsprecher im Parlament verstanden und so deren Interessen bereits vor der Parlamentsreform über soziale Netzwerke im Parlament vertraten. Einen Anlaß für diese Allianz bot zumal der Kampf gegen die Sklaverei. Das publizistische Hauptorgan der Anti-Sklaverei-Bewegung, der Anti-Slavery Monthly Reporter wurde von Nonkonformisten publiziert.63 Führende Whigs unterstützten die Petitionskampagnen der Dissenter für die Abschaffung der Corporation and Test Acts. Die nonkonformistischen Gemeinden bemühten sich darum, anstehende Unterhauswahlen zu nutzen, um direkten Einfluß auf Abgeordnete auszuüben. Kandidaten wurden öffentlich zu ihrer Haltung gegenüber der rechtlichen Diskriminierung der Nonkonformisten befragt. Die Protestant Society hatte alle Prediger angewiesen, Unterhausabgeordnete für die Abschaffung der Test Acts zu gewinnen.64 Die Katholikenemanzipation am Ende der 1820er Jahre bot schließlich eine besonders sichtbare Gelegenheit zur Kooperation zwischen führenden Whigs, Katholiken und Dissentern, die von den Whigs gezielt gegen die Tories instrumentalisiert wurde. Die nonkonformistischen Vereine und fuhrende Dissenter spielten seit dem Ende der 1820er Jahre auch eine herausragende Rolle, als es galt, die außerparlamentarische Unterstützung für die Wahlrechtsreformen zu mobilisieren. Vor allem der Protestant Society und der nonkonformistischen Presse kam dabei eine besondere Funktion zu.65 Von einer Reform des Wahlrechts und der parlamentarischen Integration der neuen großen Industriezentren, wo die Dissenter einen besonders hohen Anteil der prosperierenden Mittelklassen ausmachten, konnten sie die direkte Vertretung ihrer Interessen im Unterhaus erwarten. Die Aktionen der Protestant Society schufen eine nationale Plattform, von der aus die Whig-Führer einflußreiche Nonkonformisten des ganzen Landes erreichen und für ihre politischen Forderungen mobilisieren konnten, indem die in der 62

Robert Robinson, A plan of lectures on the principles of Nonconformity for instruction of catechumens, London 1781, O.S. 63 Vgl. Cowherd, Dissent, 72. 64 Vgl. Cowherd, Dissenters, 38f. 65 Vgl. ebd., 66: „Considered from the point of view of the various societies in which Dissent was interested, the alliance between Whig and Dissenter during the years preceding the Reform Bill was unmistakable."

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Protestant Society versammelten Führer in ihren Gemeinden als Multiplikatoren für die Reformbewegung wirkten. Programmatisch wirkte die Verbindung von „civil liberty", zugespitzt in der Forderung nach einer konsequenten Parlamentsreform, und „religious liberty" als entscheidender Integrationsfaktor.66

4. Zusammenfassung und Vergleich (1) In diesem Beitrag wurde nach der Beziehung und der Interaktion zwischen Konfession und Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert auf der Basis eines kontrastierenden Vergleichs zwischen Deutschland und England gefragt. Bei allen historischen und strukturellen Unterschieden zwischen beiden Gesellschaften spielte freikirchliche Religiosität außerhalb der etablierten kirchlichen Strukturen in Deutschland und der etablierten Staatskirche in England im frühen 19. Jahrhundert jeweils eine sehr wichtige Rolle als Formationsfaktor der liberalen Bewegungen. Diese besondere Wirkungskraft der Religion unterstreicht zunächst ihren Stellenwert in unterschiedlichen Gesellschaften des Übergangs: Im beschleunigten Wandel von der altständischen zur bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland und im Durchbruch der Industriegesellschaft in England kam es keinesfalls zu einer allgemeinen Säkularisierung, sondern vielmehr zu einer neuartigen Verbindung zwischen konfessionspolitischen und konstitutionellen bzw. parlamentarischen Reformbewegungen. Davon profitierte in beiden Gesellschaften der frühe Liberalismus. Damit wurden zugleich die Grenzen zwischen den politischen und den kirchlich-theologischen Kommunikationsräumen insgesamt fließender. Neben dieser allgemeinen Beobachtung unterstreicht der Vergleich aber sehr unterschiedliche Ursprünge und Voraussetzungen in beiden Ländern. Hatte sich in Deutschland seit der Reformation im 16. Jahrhundert eine charakteristische bikonfessionelle Struktur herausgebildet, so stand in England seit dem 17. Jahrhundert der etablierten und konstitutionell privilegierten anglikanischen Staatskirche eine Vielzahl religiöser Gemeinschaften gegenüber, deren Kampf gegen rechtliche und politische Diskriminierung sich im frühen 19. Jahrhundert mit der Forderung nach „civil rights" verband und damit eine Brücke zur liberalen Reformbewegung schlug. Die religiösen Oppositionsbewegungen im deutschen Vormärz hatten ihre Ursprünge dagegen zunächst in innerkirchlicher Kritik und Reformforderung. Dabei wirkte das zeitgenössische liberale Programm auf die inner- und außerkirchlichen Bewegungen zurück. Die Tendenz zur innerkirchlichen Vgl. ebd., 68.

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Konstitutionalisierung wurde von den Zeitgenossen als programmatische Parallele zur politischen Verfassungsgebung aufgefaßt. Im Gegensatz dazu stand in England die politisch-rechtliche Emanzipation der Nonkonformisten außerhalb der etablierten Staatskirche im Vordergrund. Das verwies einerseits auf die historische Exklusion der Dissenter, gewann aber erst angesichts des quantitativen Wachstums freikirchlicher Gemeinden in den neuen Industriezentren im frühen 19. Jahrhundert an Bedeutung, wo die anglikanische Kirche immer mehr in die Defensive geriet. Die große Bedeutung engagierter Dissenter als Vertreter der ökonomisch erfolgreichen „middle classes" unterstrich diese sozialhistorische Verbindung von Konfession und Gesellschaftswandel. (2) Vom theologischen Rationalismus innerhalb des deutschen Protestantismus ließ sich ohne große inhaltliche Schwierigkeiten eine programmatische Brücke zum Liberalismus schlagen, die sich auch aus dem Kampf um eine synodale Verfassung ergab, gleichsam in Vorwegnahme der politischen Konstitutionalisierung. Dieses Ineinandergreifen von religiösem und politischem Protest ermöglichte den Lichtfreunden und Deutschkatholiken eine enorme Massenmobilisierung, die in ihren Ausmaßen auch über den temporären politischen Aufbruch in der Folge der Julirevolution von 1830 in Frankreich hinausging. Wie bereits in der liberalen Vereinsbewegung erfaßte diese Bewegung neben bildungsbürgerlichen auch kleinbürgerliche Gruppen. Die Hochburgen der Lichtfreunde und Deutschkatholiken lagen in Gebieten, in denen sich kleinbürgerliche Handwerker und Gewerbetreibende von der drohenden sozialen Deklassierung besonders bedroht fühlten. Der weitreichende Mobilisierungseffekt der religiösen Oppositionsbewegungen in Deutschland, die über eine innerkirchliche Opposition hinaus bald unabhängige Gemeinden gründeten, die ihrerseits eng mit politischen Vereinen kooperierten und mit diesen zusammen auftraten, erklärt sich auch daraus, daß die religiös-kirchliche Opposition ein Forum bot, um ganz unterschiedlich begründete politische oder soziale Unzufriedenheit aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu artikulieren. Die Versammlungen der Lichtfreunde oder die Auftritte Ronges spiegelten eine im Umbruch befindliche Gesellschaft wider, in der krisenhafte Unruhe sich mit weitgespannten politischen und gesellschaftlichen Erwartungen verband. Dazu trug entscheidend die suggestive Kraft religiöser Symbolsprachen und Semantiken bei. Politik wurde durch Religion in neuer Form kommunizierbar. Doch stagnierte diese Mobilisierung, die sich zumeist in spontaner Begeisterung manifestierte, um die Mitte der 1840er Jahre, und die organisatorische Verfestigung in freien und deutsch-katholischen Gemeinden setzte sich nach 1846 nicht fort. Als sich in der Frankfurter Nationalversammlung 1848 immerhin noch acht Abgeordnete zum Deutschkatholizismus bekannten, hatte der Deutschkatholizismus bereits erheblich an Massenwirksam-

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keit eingebüßt. Mit dem Scheitern einer nationalkirchlichen Bewegung und dem damit verbundenen Synodalismus ging auf katholischer Seite eine gezielte Rekonfessionalisierung und Kurialisierung einher, gegen die sich nun der Liberalismus wandte. Hier wurde eine Frontstellung des deutschen Katholizismus gegenüber dem politischen Liberalismus erkennbar, der umgekehrt die Ablehnung des Katholizismus durch den kleindeutschen Nationalliberalismus entsprach. Der deutsche Kulturkampf hatte seine Wurzeln nicht erst in der Gründung des kleindeutschen Nationalstaats von 1871. Das protestantische Erbe einer engen Verbindung zum Liberalismus blieb insgesamt bestehen und sollte sich langfristig vertiefen. Das galt zum einen für die protestantische Grundfärbung der kleindeutschen Nationalbewegung seit den 1850er Jahren, die sich nicht nur gegen großdeutsche Pläne, sondern auch gegen den Katholizismus als vermeintlich anti-nationale Kraft wandte. Es galt zum anderen aber auch fur die programmatische Neuformulierung des deutschen Liberalismus um 1900, für die Versuche Friedrich Naumanns und Ernst Troeltschs, einen sozialen Liberalismus zu etablieren, der sozialen Frage zu begegnen und so der Gesellschaft des Kaiserreichs ein Integrationsinstrument anzubieten. Wenn es im 20. Jahrhundert um die Verbindung von Liberalismus und Protestantismus ging, dann konnten sich deutsche protestantische Theologen an Positionen orientieren, die um 1900 entscheidende Beiträge zur Reformulierung des Liberalismus geleistet hatten und zu Klassikern des kulturprotestantischen Sozialliberalismus geworden waren. (3) Während die religiösen Oppositionsbewegungen im deutschen Vormärz mindestens temporär eine erhebliche Massenwirkung erzielen konnten, verbanden sich in England in den 1820er Jahren politischparlamentarische Reformbewegung und nonkonformistische Emanzipationsbewegung. Politisch erfolgreich waren die Dissenter auch deshalb, weil die Whigs als Anwälte religiöser Freiheit auftraten und die Forderung nach rechtlicher Gleichbehandlung der Nonkonformisten vertraten, deren wachsende gesellschaftliche Bedeutung als Vertreter der ökonomisch prosperierenden Mittelklassen sie erkannt hatten. Die Reform des Wahlrechts und der parlamentarischen Repräsentation mit dem Neuzuschnitt von Wahlkreisen von 1832 kam gerade ihnen zugute. Eine solche Rolle konnten deutsche Liberale nicht übernehmen, weil es außerhalb der historisch gewachsenen bikonfessionellen Struktur kaum religiöse Minderheiten gab - mit Ausnahme der Juden, für deren Emanzipation sich die Liberalen „mit allerdings bezeichnenden Modifikationen"67 einsetzten. Rudolf Muhs, Deutscher und britischer Liberalismus im Vergleich. Trägerschichten, Zielvorstellungen und Rahmenbedingungen, ca. 1830-1870, in: Dieter Langewiesche (Hg.),

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Das politische Engagement der englischen Nonkonformisten fand seit 1800 seinen besonderen Ausdruck im Anti-Slavery Movement, der Kampagne gegen die Test Acts und seit 1829/30 in der Unterstützung der Parlamentsreform. Es entwickelte sich vor dem Hintergrund des überdurchschnittlich starken Anwachsens freikirchlicher Gemeinden im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in den besonders früh industrialisierten Zentren des Landes. In ihrem politischen Engagement konnten sich die Nonkonformisten auf eine eigene effiziente Presse- und Vereinsstruktur stützen, mit der sie einen hohen Organisations- und Mobilisierungsgrad erreichten. Die gezielte Beeinflussung von Unterhausabgeordneten und die Allianz mit den Whigs, die mit der Gruppe der Liberal Anglican Whigs weit über 1832 hinaus fortgesetzt werden konnte, sicherte den Nonkonformisten einen bedeutenden Einfluß im Parlament. Eine solche Verbindung zu einem politischen Zentrum und zu den politischen Akteuren fehlte in Deutschland. Das erklärte auch, warum die oppositionellen Religionsparteien des deutschen Vormärz eher einer Strategie der Fundamentalopposition folgten und über die Landtage kaum politisch konkret wirksam werden konnten. Während das Anwachsen des „militant Nonconformity" 68 dem Liberalismus in England eine Massenbasis verschaffte, die von nonkonformistischen Akteuren wie John Bright angeführt wurde, in der Breite der Mitglieder aber auch unabhängige Handwerker und Gewerbetreibende umfaßte, erwiesen sich die Vertreter der konfessionellen Oppositionsparteien in Deutschland zwar als liberal, aber kaum als militant.69 Einen vergleichbar integrativen Stellenwert wie in England konnten Religion und Konfession für das politische Handeln der Liberalen in Deutschland nicht erlangen; erst mit der Konstellation des Kulturkampfes sollte sich das um den Preis einer tiefgreifenden Polarisierung der deutschen Gesellschaft verändern. Für die dominante Figur des selbstbewußt-bürgerlichen Unternehmers, der seine ökonomischen Interessen zugleich mit dem Einsatz für seine Glaubensgenossen verband, gab es in Deutschland jedenfalls im frühen 19. Jahrhundert kein echtes Äquivalent. Die politische Orientierung der englischen „middle classes" verwies aus dieser Perspektive nicht allein auf den Durchbruch der Industriegesellschaft seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts, sondern auch auf die englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts als geschichtspolitischem Referenzraum.

Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, 2 2 3 259, hier: 243. 68 Vgl. Paul Adelman, Victorian Radicalism. The Middle-Class Experience 1830-1914. London 1984,67-86. 69 Vgl. Muhs, Vergleich, 244.

Claus-Dieter Osthövener

Erscheinungsformen der Frömmigkeit in der klassischen Moderne

Über die Erscheinungsformen der Frömmigkeit in der klassischen Moderne wissen wir sehr viel und sehr wenig. Sehr viel, denn es wäre in der Tat verwunderlich, wenn diese so überaus auskunftsfreudige Epoche, die wie kaum eine andere Zeit zuvor oder danach die Selbstkommentierung zum Stilprinzip erhob, nicht auch über ihre Neigungen und Abneigungen die Religion betreffend bereitwillig Auskunft gegeben hätte. Und so kann man in einem reichen Fundus verschiedenster Materialien diesen Auskünften nachgehen. Und doch ist eben dies auch der Grund, warum wir am Ende nicht sehr viel über die Frömmigkeit in der klassischen Moderne und ihre Erscheinungsformen wissen. Denn die meisten dieser Materialien liegen unerschlossen in den großen Archiven dieser Zeit, den Büchern, Broschüren, Zeitschriften und Zeitungen. Von Korrespondenzen, Tagebüchern, Manuskripten und anderen nicht edierten, nicht gedruckten Erzeugnissen gar nicht zu reden. Nimmt man sich vor, in dieses helle Dunkel ein wenig Kontur zu bringen, stößt man unweigerlich auf methodische Fragen und Probleme. Zu den einfachsten darunter zählen solche, über die man zwar sehr lange diskutieren kann, die sich aber auch in schwungvollem Pragmatismus entscheiden lassen, so etwa die Abgrenzung dieser Epoche. Wenn man sie 1890 beginnen läßt, liegt man nicht ganz falsch,1 und das deutsche Jahr 1933 ist ebenfalls ein Datum, das eine Schwelle markiert. Sobald man sich darauf verständigt, daß weder die Kultur- noch die Mentalitätsgeschichte sich sonderlich um Jahreszahlen kümmern, hat man die nötige variable Einstellung zur zeitlichen Eingrenzung gewonnen. Ein wenig komplizierter wird die Frage nach dem Gegenstand der Untersuchung. Denn auch hier ließen sich hitzige Debatten inszenieren über den Terminus der Frömmigkeit, über Religion und Religiosität, über konfessionelle Versäulungen und emanzipatorische Prozesse. Nicht zu vergessen die Großtheorie der Säkularisierung, die keinesfalls fehlen darf. Und wirklich sind all dies wichtige Fragen, die irgendwann zur Beantwortung oder doch zur Eingrenzung anstehen, aber eben auch hier: nicht sofort und nicht von Vgl. schon Horst Stephan: Religion und Gott im modernen Geistesleben. Zwei Vorträge, Tübingen 1914, 7.

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vornherein. Denn, das ist eine Grundvoraussetzung meiner Bemühungen um die religiöse Signatur der klassischen Moderne, diese Zeit hat nicht nur eine vielfach erscheinende Frömmigkeit aufzuweisen, die es zu erheben und zu erschließen gilt, sondern sie hat auch eine ganze Reihe von Bemühungen zur Erhebung und Erschließung ihrer eigenen Religion und der Religion anderer Epochen und Regionen aufzuweisen, die man heranziehen muß, wenn man der Frömmigkeit der Zeit nahekommen will. So stehe hier als erste Regel, daß es keines festgefügten Begriffs oder gar einer ausgeführten Theorie der Religion bedarf, um hier ins Reine zu kommen, sondern daß die klassische Moderne nach ihrem ureigenen, genuinen Beitrag sowohl zum Erscheinungsfeld des Religiösen als auch zur theoretischen Erschließung der Frömmigkeit zu befragen ist. Das schließt natürlich nicht aus, daß man auch anderwärts gewonnene Einsichten nutzt und ins Spiel bringt, seien sie älteren oder jüngeren Datums als die fragliche Epoche. Aber es empfiehlt sich zumindest, nicht sehr viel klüger sein zu wollen als die Zeitgenossen, deren intellektuelle Potenz ja denn auch sehr oft sehr beeindruckend ist. Mit den Zeitgenossen, das ist nun eine zweite Regel, die ich hier gleich erläutern will, sind keineswegs nur die üblichen Verdächtigen des akademischen, womöglich theologischen Betriebs gemeint. Zeichnet sich die Moderne doch gegenüber den früheren Zeiten durch eine ganz ungemeine Verbreiterung desjenigen Sockels aus, den man etwas vorläufig als öffentliche Meinung bezeichnen könnte. Hier durfte nicht nur jeder mitreden, sondern erstaunlich viele taten das auch, zumeist schriftlich. Wer nicht selber schreiben konnte oder wollte, fiel unter Garantie irgendeiner Umfrage zum Opfer, einer weiland höchst beliebten Gattung, die der ebenfalls ins Kraut schießenden Gattung der Magazine und sonstigen Blättchen neue Leserscharen zuführte. Auch für die Religion fallt da allerhand ab, Erkundungen der Großstadt, der proletarischen Jugend, der Jugend überhaupt, des Arbeiters, des Angestellten und so fort.2 Eine Erkundung der Frömmigkeit der Moderne muß hier eine Strategie von Kopf bis Fuß einschlagen, angefangen von der schlichten Aufarbeitung der verschriftlichten Ausdruckskultur in ihrer ganzen Breite bis hin zu den luftigen Gefilden der theoretischen Bemühungen und ästhetischen Verarbeitungen. Einige Probebohrungen auf diesen Gebieten werde ich im Folgenden vorstellen.

2

Ludwig Heitmann: Großstadt und Religion. 3 Bd. Hamburg 1913. 1919. 1920; Paul Piechowski: Proletarischer Glaube. Die religiöse Gedankenwelt der organisierten deutschen Arbeiterschaft nach sozialistischen und kommunistischen Selbstzeugnissen, Berlin M 928; Friedrich Falk: Die religiöse Symbolik der deutschen Arbeiterdichtung der Gegenwart. Eine Untersuchung über die Religiosität des Proletariats, Stuttgart 1930; Günther Dehn: Die religiöse Gedankenwelt der Proletarieijugend, Berlin 1926; Wilhelm Stählin: Die religiöse Lage des jungen Menschen, Erfurt 1928; Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt a.M. 1930.

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Eine dritte Regel sei genannt, eine kurze, lediglich der Vorsicht dienende. Bekanntlich ist die Moderne, wie schon das neunzehnte Jahrhundert, eine Zeit der Religionssurrogate, der Ersatzreligionen und des Religionsersatzes und wie all diese sichtlich um Fassung ringenden Benennungen nun immer lauten mögen. Je nach dem in Anschlag gebrachten Vorbegriff von Frömmigkeit und Religion fiele es nicht schwer, nach Belieben große Teile der Moderne einzugemeinden oder zu exkommunizieren, je nachdem. Daher habe ich es mir zur Regel gemacht, nur solche Artikulationen zur Religion zu rechnen, die sich selbst mit halbwegs klaren Worten in ein solches Feld hineinstellen, aber eben auch keine von vornherein auszuschließen, die sich selbst als religiös verstehen wollen. Kurz: es gibt im Feld des Religiösen keine Fremdzuschreibung, die nicht in irgendeiner Weise auf einer Selbstzuschreibung basiert. Und damit zum Terrain der Untersuchung.

1. Das Forschungsfeld Zu den gesicherten Erkenntnissen der Forschung zur Religion dieser Zeit gehört es, daß sich neben den herkömmlichen Religionen und Konfessionen ein neuer Typus bemerklich macht, den Thomas Nipperdey recht treffend als „vagierende Religiosität" bezeichnet hat.3 Freilich nimmt auch diese Metapher noch Bezug auf ein halbwegs geordnetes Feld, innerhalb dessen es dann eben auch seltsam fluktuierende Bewegungen auszumachen gilt. Doch möchte ich diese Voraussetzung hier gar nicht problematisieren. Es reicht aus, sich deutlich zu machen, daß natürlich auch innerhalb etwa des protestantischen Bereichs höchst unterschiedliche Frömmigkeitsstile präsent sind, die allesamt wiederum Entwicklungsprozesse durchmachen und in solcher Weise die interessantesten Wechselwirkungen mit den hier genannten heimatlosen Gestalten eingehen. Schon die Zeitgenossen haben das vielfach kommentiert, ein Blick in die „Christliche Welt" des Vorkriegsjahrzehnts bietet bereits eine ganze Fülle von Debatten über die Legitimität solcher Bildungen, ihre Religiosität sowie über ihren Beitrag zur Einschätzung der religiösen Lage. Auch die einschlägige Broschürenliteratur bietet reiches Material. Als kleines Beispiel sei hier nur ein Artikel aus dem lexikalischen Projekt der „Religion in Geschichte und Gegenwart" herangezogen, der über die Lage des Christentums in der Gegenwart Auskunft gibt und von Otto Baumgarten stammt. Er schreibt: Höchst ungünstig erweist sich für die Selbstbehauptung des Christentums die seit 100 Jahren ungemein gesteigerte ,Reizsamkeit' (Lamprecht), die Zugänglichkeit des Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Erster Band: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, 521.

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K u l t u r m e n s c h e n fur e i n e U n m e n g e äußerer R e i z e , die alle e i n g e w i s s e s

Interesse

a u s l ö s e n . D i e s e V i e l s e i t i g k e i t der Interessen, die alle d e n g a n z e n M e n s c h e n für s i c h b e a n s p r u c h e n - m a n d e n k e nur an Kunst, M u s i k , T e c h n i k , Sport - , läßt d e m r e l i g i ö s e n L e b e n nicht die b e h e r r s c h e n d e Stelle, die e s w o e s g e s u n d ist, u n b e d i n g t fordert. . . . andere I d e a l g e b i e t e drängen s i c h ins Z e n t r u m der inneren B i l d u n g u n d rauben der S e e l e die Konzentration.4

Wie man sieht, war das heute gern benutzte Stichwort der „Reizüberflutung" bereits vor hundert Jahren ein alter Hut. Wichtiger aber noch ist die Beobachtung, daß die der Religion seit je zukommende Bestimmung des Lebens als eines Ganzen ernsthafte Konkurrenz erhält. Und zwar nicht nur als äußerliche Ablenkung, sondern als Bestandteil der „inneren Bildung", des Personkerns. Das neunzehnte Jahrhundert war das erste Zeitalter, in dem ein Leben ohne Religion als sozial anerkannte und praktizierte Option möglich war. Die Moderne kennt dieses Phänomen erstmals als Massenerscheinung. Hier bedarf es ganz offenkundig dann auch neuer wissenschaftlicher Instrumente, einer „Statistik der inneren Lebenswerte", wie Baumgarten es nennt,5 ja einer „Religionsbiologie", wie andere es fordern.6 Dazu später noch ein wenig mehr. Vorerst soll die Art der hier genannten „inneren Bildung" genauer erkundet werden.

2. Individuelle Optionen: Siegfried Kracauer Daß Georg Simmel zu den profiliertesten Religionstheoretikern der klassischen Moderne gehört, ist mittlerweile bekannt,7 daß Robert Musil ebenfalls zu diesem Punkt zu nennen ist, wird sich wohl noch herumsprechen,8 doch Siegfried Kracauer, den ich hier vorstellen will, werden wohl die Wenigsten zu diesem Thema konsultieren. Dabei stammt einer der feinsinnigsten und 4

Otto Baumgarten: [Art.] „Christentum. Seine Lage in der Gegenwart", in: RGG 1, Tübingen 1909, 1681-1690 [1686], 5 „Noch immer ist die Statistik der inneren Lebenswerte und die wahre Kulturgeschichte, die den Einzelnen wie die Masse in der Entwickelung ihres Anteils an jenen erfaßt, in den ersten Anfangen; man begnügt sich mit der Entwickelungsgeschichte der fuhrenden Klassen und ihrer Ideale".(1682). Immerhin ist Baumgarten zuversichtlich, daß „die Intensität der christlichen Innenkultur steigt" (ebd.). 6 Otto Piper: Weltliches Christentum. Eine Untersuchung über Wesen und Bedeutung der außerkirchlichen Frömmigkeit der Gegenwart, Tübingen 1924, V. 7 Vgl. Wilhelm Knevels: Georg Simmeis Religionstheorie. Ein Beitrag zum religiösen Problem der Gegenwart. Leipzig 1920; Volkhard Krech: Georg Simmeis Religionstheorie, Tübingen 1998. 8 Vgl. Claus-Dieter Osthövener: Literarische und religiöse Deutungskultur im Werk Robert Musils, in: Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne, Roderich Barth/Claus-Dieter Osthövener/Araulf von Scheliha (Hg.), Frankfurt a.M. 2005, 286-300.

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aufschlußreichsten Texte zur Religion der Moderne von ihm, dem vielbeschäftigten Kritiker der renommierten „Frankfurter Zeitung", dem glänzenden Essayisten und Pionier der Filmästhetik, dem Erforscher des neuartigen Milieus der Angestellten. Er schrieb im Jahr 1922 einen Essay mit dem schlichten Titel „Die Wartenden".9 Wie viele andere Texte dieser Zeit auch, beginnt Kracauer seine Überlegungen mit einer Zeitdiagnose, die allerdings, anders als viele Texte dieser Zeit, nicht demonstrativ und kategorisch daherkommt, sondern tastend, behutsam. Es gibt gegenwärtig eine große Anzahl von Menschen, die, ohne voneinander zu wissen, doch alle durch ein gemeinsames Los verbunden sind. Jeglichem bestimmten Glaubensbekenntnis entronnen, haben sie sich ihren Teil an den heute allgemein zugänglichen Bildungsschätzen erworben und durchleben im übrigen wachen Sinnes ihre Zeit (160).

Der wesentliche Gesichtspunkt ist hier wohl der, daß es keine festumrissene Gruppe ist, es werden keine Milieus, keine miteinander verbundenen Adressaten genannt, auch keine gemeinsame Weltanschauung vorausgesetzt. Es sind „Kaufleute, Ärzte, Rechtsanwälte, Studenten", die ihrer Profession nachgehen und nur in Momenten des Inneseins und Innehaltens in „eine tiefe Traurigkeit" geraten: „Es ist das metaphysische Leiden an dem Mangel eines hohen Sinnes in der Welt, an ihrem Dasein im leeren Raum, das diese Menschen zu Schicksalsgefährten macht" (ebd.). Vermutlich gebraucht Kracauer den nicht ohne weiteres verständlichen Ausdruck des ,metaphysischen Leidens', weil die empfundene Sinnleere ihrerseits auf eine höhere Ebene verweist.10 Eben darin liegt dann auch die Tendenz seiner nächstfolgenden Überlegungen. Denn anders als noch in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gibt auch die Sphäre von Wissenschaft, Technik, positivistischer Weltsicht keinen Halt. Diese Menschen sind vielmehr nach langen Leidenswegen etwa bis zu dem Punkt vorgedrungen, von dem aus der religiöse Bereich allererst zugänglich wird. Aber die Pforte, durch die sie Einlaß

Er erschien am Sonntag, den 12. März 1922 in der „Frankfurter Zeitung" (Erstes Morgenblatt, Nr. 191, 1-3) und wurde später in der Essaysammlung Das Ornament der Masse (Frankfurt 1977) wieder abgedruckt. Ich zitiere im folgenden unter bloßer Angabe der Seitenzahlen nach Siegfried Kracauer: Aufsätze 1915-1926. Schriften Band 5/1, Frankfurt a.M. 1990 [160-170]. 10 Vgl. bereits Horst Stephan: „Man leidet unter der Oede der äußerlichen Kultur und der Mechanisierung alles Lebens. Man sucht eine neue Innenkultur und als innerste Seele dafür eine neue Frömmigkeit. In ihr soll das tiefste Sehnen und der edelste Besitz des Menschentums zur Geltung kommen; damit aber soll die Welt, das Leben und die gesamte Kultur wieder Sinn und Wert empfangen" (aaO., 16).

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begehren, öffnet sich ihnen nicht, und in dem vorgelagerten Zwischenbereich bereitet das Nichtglauben-Können ihnen Qual (161).

Es zeichnet Kracauers Essay aus, daß er sich jeder Eindeutigkeit in diesem Punkte konsequent verweigert. Zwar beschreibt er einige Gegenwartsströmungen, die offenkundig der hier angedeuteten Sinnleere entspringen oder auf sie bezogen sind, doch geht es ihm am Ende nicht um soziologische Fragen. Der Schwerpunkt des Essays liegt auf der Frage nach der Haltung, die einem solchen Menschen, einem so gestimmten Subjekt übrig bleibt. Hier gibt es nach Kracauer drei Möglichkeiten, sofern man die Extrempunkte ausschließt, deren einer darin besteht, vor der Sinnleere in nicht minder hohle Zerstreuungen zu fliehen, deren anderer der Eintritt in einen „echten Glauben" ist (165). Doch wer in dem genannten „Zwischenbereich" verbleibt, hat immer noch Alternativen. Zwei davon lassen sich vergleichsweise kurz schildern. Es ist erstens eine prinzipielle Skepsis, die Kracauer vor allem in Max Weber beispielhaft verkörpert sieht. Ein „Heroismus ... der selbstgewählten Unseligkeit", den der „Unterton der Entsagung" durchklingt (166). Und in der Tat ist ja die vielzitierte religiöse Nichtmusikalität Webers eine äußerst ambivalente Selbstkennzeichnung. Die zweite mögliche Haltung nehmen die von Kracauer so genannten „KurzschlußMenschen" ein, eine etwas lärmende Gruppe von Individuen, die sich Hals über Kopf einer ihnen gemäßen Gläubigkeit verschreiben. Es „ist mehr Wille zum Glauben als ein Weilen im Glauben" (166), ja am Ende eine Art „metaphysischer Feigheit" (167), die ganz deutlich weniger Sympathien vom Essayisten zu erwarten hat als der heroische Skeptiker. Was bleibt nun noch übrig, nach vier möglichen Umgangsweisen mit der religiösen Heimatlosigkeit? Es bleibt vielleicht nur noch die Haltung des Wartens. Wer sich zu ihr entschließt, der versperrt sich weder wie der trotzige Bejaher der Leere den Weg des Glaubens, noch bedrängt er diesen Glauben wie der Sehnsüchtige, den seine Sehnsucht hemmungslos macht. Er wartet, und sein Warten ist ein zögerndes Geöffnetsein in einem allerdings schwer zu erläuternden Sinne (168).

In der Wendung des „zögernden Geöffnetseins" sind eine positive und eine abgrenzende, negative Kennzeichnung enthalten. Nach der negativen Seite hin ist vor allem „die Tapferkeit" zu nennen, „die sich im AusharrenKönnen bewährt." Dazu gehört auch, daß die Wartenden es sich „möglichst schwer machen ..., um sich nicht von dem religiösen Bedürfnis übertölpeln zu lassen" (168). Es ist auch hier eine Skepsis vorhanden, die allerdings nicht zur prinzipiellen Skepsis geworden ist, allenfalls „eine gewisse Kühle" (169) ist ihnen eigen. Wichtiger noch ist aber die positive Seite, die sich im „Geöffnetsein" ausspricht. Es ist in Kürze „angespannte Aktivität und

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tätiges Sichbereiten". Es ist vor allem eine Haltung des ganzen Menschen, kein Programm, keine Lehre. Es „läßt sich nicht als Wissen vermitteln, da es gelebt zu werden verlangt". Es ist deutlich zu sehen, daß die Grenzbestimmung zwischen der hier skizzierten Haltung und der religiösen Sphäre Kracauer große Mühe bereitet. Ob es ein „Weg" ist, oder nicht doch ein „Sprung", inwiefern es sich bei dem Erwarteten um ein Erlebnis der Erfüllung handelt, vielleicht gar um eine neue „Verbundenheit der Menschen", das ist ihm eine offene Frage. Es geht dem Wartenden darum, „aus der atomisierten unwirklichen Welt der gestaltlosen Kräfte und der des Sinnes baren Größen einzukehren in die Welt der Wirklichkeit und der von ihr umschlossenen Sphären". Das ist eine sehr aufschlußreiche Wendung, da sie beim ersten Hören oder Lesen nach schlechter Kulturkritik klingt. Der Relativismus, das Atomisierte: in wie vielen Klagegesängen ist das nicht zu hören bis hin zu gegenwärtigen Verlautbarungen aus dem Vatikan. Doch scheint Kracauer hier weniger ein Lamento auf den Zeitgeist anzustimmen, als vielmehr das objektive Selbstgefühl der Wartenden in Worte fassen zu wollen. Die eingangs empfundene Sinnleere wird hier präzisiert. Das mag nicht ausschließen, daß über solchen Kontrasten auch verbindende Linien aufzuweisen sind. Das legen seine Schlußbemerkungen nahe, wenn er darauf verweist, daß man eben nicht plötzlich und ohne weiteres zu einem „Sein im Glauben" gelangt. Vielmehr wird sich der Wartende „langsam umstellen und emportasten in vormals ihm unzugängliche Bezirke".11 Und so schließt der Essay mit den Worten: Doch ist jeder Hinweis hier gewiß alles andere eher denn eine Weisung für den Weg. Muß noch hinzugefügt werden, daß das Sichbereiten nur Vorbereitung des Nichterzwingbaren: der Wandlung und der Hingabe ist? An welchem Punkte diese Wandlung nun eintritt und ob sie überhaupt eintritt, das steht nicht in Frage und darf auch die Sich-Mühenden nicht kümmern (169f).

Es ist unschwer zu erkennen, wie viele Merkmale aus der Sphäre religiöser Spiritualität hier aufzufinden sind. Das Sich-Bereiten, das Stillwerden, das unvorgreifliche Sich-Ausstrecken nach dem Guten, aber auch die Geduld, die Demut - all dies ist hier versammelt, wenngleich nun nicht mehr durch monastische, rituelle oder bußtheologische Traditionen bestimmt. Am nächsten aus der neueren Theologiegeschichte kommt dem hier exponierten „zögernden Geöffnetsein" vielleicht Schleiermachers Idee der „lebendigen

11 In den ,Schriften' und in ,Ornament der Masse' falschlich „unzulängliche"; hier nach dem Erstdruck.

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Empfänglichkeit".'2 Doch soll hier weniger von dem Gemeinsamen als von den Differenzen gesprochen werden. Da ist nun zunächst zu sagen, daß zwar Kracauer sich ganz in der Rolle des Beobachters hält, des Beschreibenden und Außenstehenden, daß man aber den sehr bestimmten Eindruck gewinnt, daß es sich bei dem Wartenden auch um eine Art Selbstporträt handelt. Das ist, jenseits aller möglichen biographisch-persönlichen Momente, ein sehr eigenes Charakteristikum all derer, die sich um die spezifisch moderne Frömmigkeit bemühen. Es ist dies bei Georg Simmel so, bei Robert Musil, bei Hans Henny Jahnn, Alfred Döblin und vielen anderen, mal mehr mal weniger offenkundig. Man besieht in der Erkundung dieses Zwischenreichs immer auch sich selbst, man lauscht in sich und seine Zeit hinein, eine sehr aufschlußreiche Verbindung von Produktivität und Rezeptivität. Denn produktiv, geistig und ästhetisch produktiv sind alle hier Genannten. Das macht sie so wichtig für unsere Fragestellung. Denn sie loten den Raum der Frömmigkeit auf eine Weise aus, die Theologen oder kirchlich gebundenen Personen kaum möglich ist. Gerade das so charakteristische Zögern, die undogmatische Skepsis, das Abwarten ist eine Haltung, die sich bei den der Religion fest verbundenen Zeitgenossen allenfalls ansatzweise findet. Als ein Beispiel mag hier nur Emanuel Hirsch dienen, gewiß neben Paul Tillich einer der profiliertesten unter denjenigen Theologen, die sich um ein konstruktives Verhältnis zur modernen Welt bemühen. Er hielt 1921 zum Abschied von der Bonner Fakultät einen Vortrag über das Gebet, der zum Tiefsinnigsten gehört, was man über dieses religiöse Urphänomen überhaupt lesen kann. Er zeichnet sich insbesondere durch einen sehr wachen Sinn für die religiösen und weltanschaulichen Nöte der Zeit aus und führt den Nachdenkenden mit eingehendem Besinnen die verschiedenen Stufen auf dem Weg zu Gott. Freilich schließt die Abhandlung, wenig erstaunlich, mit einem sehr starken Bekenntnis zum reformatorischen Rechtfertigungsgedanken. Aber zwischenein sind doch auch ganz eigene Gedanken zum „tastenden Gebet" zu finden, die sich in die hier skizzierte Haltung des Wartenden ganz wundervoll einfügen. Sieht man sich nun die zweite Ausgabe dieses Büchleins von 1928 an, dann sind all diese feinfühligen Perspektiven fast vollständig getilgt. Es ist nun ein theologischer Traktat wie jeder andere, bei dem in einem festen dogmatischen Rahmen das Gebetsleben eingezeichnet wird, freilich auf hohem Niveau, aber doch abgeschnitten von allen hier interes12 „Wir werden vielmehr sagen müssen, der Zustand des Menschen in der Bekehrung sei der einer lebendigen Empfänglichkeit, so wie der Zustand nach der Bekehrung der einer belebten Selbstthätigkeit" (Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube 1821/22. Studienausgabe, hg. von Hermann Peiter, Berlin/New York 1984, Bd. 2, 134). - Vgl. auch Johann Hinrich Claussen: Religion ohne Gewissheit. Eine zeitdiagnostisch-systematische Problemanzeige, in: Pastoraltheologie 94 (2005), 439-454.

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sierenden krisenhaft skeptischen Erscheinungen moderner Frömmigkeit. Auch bei Paul Tillich ist ja ähnliches zu beobachten, dessen kulturtheologische Anfange nach dem ersten Weltkrieg im Laufe der zwanziger Jahre an ontologischer Bestimmtheit sukzessive zunahmen, gewiß nicht zum Vorteil der Anschlußfahigkeit an die Breite der weltanschaulichen Zeitgenossenschaft. Aus all diesen Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit für eine methodisch kontrollierte Phänomenologie moderner Religiosität. Eine solche Erkundung müßte gerade auch diejenigen Denker (und Dichter), die sich nicht selbst ohne Weiteres der konfessionellen Christlichkeit zurechnen, sich gleichwohl aber einen wachen Sinn für „das Religiöse" bewahrt oder erworben haben, mit aufmerksamem Studium bedenken. Das gilt natürlich nicht nur für die klassische Moderne, sondern bis zum heutigen Tage. Dabei wird das Bedürfnis nach systematisierender Klarheit sich zunächst einmal bescheiden müssen. Denn wie sich bereits an Kracauers Überlegungen zeigte, sind all diese Erscheinungsformen hochgradig individualisiert, mehr noch als dies in den konfessionell geprägten Traditionen natürlich auch der Fall war. „Hinweise" allenfalls, aber „keine Weisung für den Weg" geben diese Denker.13 Über solche Wege hat sich auch die traditionelle Frömmigkeitskultur selbstredend immer schon ihre Gedanken gemacht. Daß die Moderne hier anknüpft und doch eigene Wege geht, möchte ich nun am Beispiel säkularer Andachtsbücher zeigen.

3. Anschluß an Gattungstraditionen: Moderne Andachtsbücher Zu den mancherlei Besonderheiten der klassischen Moderne gehört der doppelte Bruch, der sie auszeichnet. Sie ist vom neunzehnten Jahrhundert und seinen Vorgängern sehr deutlich geschieden durch eine anders gelagerte Wahrnehmung und Gestaltung des Religiösen.14 Und dann wieder gibt es auch eine deutliche Zäsur zur nachfolgenden Zeit, wobei man vielleicht die Nachkriegszeit als Vergleichspunkt heranziehen sollte, da die Zeit von 1933-1945 sich in all ihren Abgründen einem kulturgeschichtlichen Vergleich immer auch entzieht. Vielleicht ist sogar die Frömmigkeit besonders

Kracauer, ebd., 169f. Kracauer begab sich allerdings bald von dieser Position des Wartenden zu einer eher entschiedenen und entscheidungsfreudigen Profanität; vgl. hierzu Dirk Oschmann: Kracauers Ideal der Konkretion, in: F. Grunert/D. Kimmich: Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext, München 2009, 29-46. - Einschlägig fiir solche Wegweisung ist auch Kafkas kurzer, aber höchst gehaltreicher Text über die Gleichnisse (Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hg. von Jost Schillemeit, Frankfurt am Main 1992, 531 f). 14 Vgl. Claus-Dieter Osthövener: Erlösung. Transformationen einer Idee im 19. Jahrhundert. Tübingen 2004, 256-267.

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geeignet, diesen doppelten Bruch, bzw. die Zäsur, sichtbar zu machen. Denn so stark einerseits auch die Entfremdung von den traditionellen Kirchentümern sein mag, so sehr greifen doch auch die neuen freien Geister auf überlieferte Formen aus diesen Traditionen zurück. Ein markantes Beispiel dafür sind die säkularen Andachtsbücher. Eines davon möchte ich hier kurz vorstellen und einordnen. Es ist im Jahre 1912 im Ernst Reinhardt Verlag in München erschienen und trägt den Titel: „Die heilige Erde. Ein Hausbuch für freie Menschen", herausgegeben von Louis Satow, mit einem Geleitwort von Otto Ernst. Es ist im Geiste des Monismus verfaßt, oder, mit dem Herausgeber zu sprechen, der „Grundgedanke" ist „die freie, einheitliche Weltanschauung".15 In drei Teile gliedert es sich. „Kampf gegen die Finsternis", „All und Erde" und „Empor zum Licht!". Gerade letzteres ist ja für diese Zeit eine sehr viel gebrauchte Metapher, wie so vieles andere auch natürlich mächtig in Nietzsches starken Bugwellen segelnd. Die Finsternis, gegen die der Kampf des ersten Teils geht, ist der „Jenseitsglauben", als der grundlegende Ausdruck für einen Dualismus, der den Menschen von sich selbst entfremdet. In gewisser Weise ist das natürlich ein schon etwas älterer Hut, auch die frühe Aufklärung kennt derlei Gefechte, die Religionskritik à la Feuerbach ist ebenfalls schon in die Jahre gekommen, doch hier wird nun auf monistischer Grundlage für die Einheitlichkeit des Welt- und Naturerlebens gestritten. Dessen konstruktive Ausprägung bringt der zweite Teil. „All und Erde" versammelt „Dichtungen natürlicher Welt- und Lebensanschauung". Niemanden wird es wundern, daß Goethe ein wichtiger Gewährsmann hierfür ist. Für unser Thema ist natürlich der dritte Teil ganz besonders interessant, denn der Untertitel des Teils „Empor zum Licht" lautet: „Freie Andachten". Dieses Hausbuch für freie Menschen ist eben auch ein Andachtsbuch für freie Menschen. Es macht sich damit eine sehr spezifische Ausdrucksgestalt christlicher Frömmigkeitstraditionen zu eigen, gerade um diesen als inhuman charakterisierten Traditionen etwas Eigenes entgegenzusetzen. In den Worten des Herausgebers: Im letzten Teile endlich zeigt sich, wie auch die Kunst erfüllt ist von dem Sehnen und Suchen des menschlichen Geistes nach Vervollkommnung und Entwicklung, nach Übereinstimmung mit der Natur und dem Kosmos. Hier wird die Kunst zur Andacht, zur Andacht für freie Menschen, die gleich ihr emporstreben aus Nacht und Dunkel in Sonne und Licht.16

Nun könnte man natürlich vielerlei sagen über die offenkundig auch für den Monismus unverzichtbare dualistische Metaphorik von Licht und Finsternis. Doch interessanter noch ist die eindeutige Teleologie des Ganzen. Hier Louis Satow: Nachwort, in ders. (Hg.): Die heilige Erde. München 1912, 427-430 [427]. AaO., 428.

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gibt es eine Richtung vom Dunklen ins Helle, vom Fragmentarischen ins Ganze, von der Gebundenheit in die Freiheit. Wie sehr sticht das in seiner so ungescheuten Richtungsgewißheit ab von den tastenden und skeptischen Überlegungen Kracauers, Musils oder Simmeis. Vielleicht wird dieser Punkt noch ein wenig klarer, wenn man hier eine andere Anthologie heranzieht, die tatsächlich zu den Meilensteinen der modernen Lyrik gehört, die von Kurt Pinthus herausgegebene Sammlung „Menschheitsdämmerung" mit dem beziehungsreichen Untertitel „Symphonie jüngster Dichtung". Sie ist 1920 in Berlin erschienen und eines der Grunddokumente des literarischen Expressionismus. Auch diese Symphonie ist in thematische Abteilungen gegliedert, in vier, wie sich das für neuere Symphonien schickt. Sie sind überschrieben: „Sturz und Schrei", „Erweckung des Herzens", „Aufruhr und Empörung" und „Liebe den Menschen". Keine Frage, daß auch hier religiöse Anklänge deutlich genug wahrzunehmen sind. Und es gibt mancherlei Gemeinsamkeiten mit dem vorgestellten „Hausbuch", wenn der Herausgeber schreibt: „In diesem Buch wendet sich bewußt der Mensch aus der Dämmerung der ihm aufgedrängten, ihn umschlingenden, verschlingenden Gegenwart in die erlösende Dämmerung einer Zukunft, die er selbst sich schafft."17 Aber es bleibt nicht bei solchen eindeutigen Verlaufsformen und genau deswegen ist es eine Symphonie: „Man höre den Zusammenklang dichtender Stimmen: man höre symphonisch. Es ertönt die Musik unserer Zeit, das dröhnende Unisono der Herzen und Gehirne".'8 Und so sperren sich auch die Themen der vier Abteilungen gegen eine allzu lineare Interpretation. Immerhin, der „Finalsatz" gibt mit „Liebe den Menschen" eine Erfullungsgestalt vor, die den Vergleich mit christlicher Vollkommenheitsethik nicht zu scheuen braucht. Und doch wächst dieses Buch eben nicht aus einem vordergründigen Abgrenzen und Entlehnen von der christlichen Tradition heraus, wie dies für Satows Hausbuch eindeutig der Fall ist.19 Es nimmt in viel freierer Weise Bezug auf die religiöse Tradition und ist eben deshalb auch religiös produktiv.20

Kurt Pinthus: Zuvor, in ders. (Hg.): Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Hamburg 1955, 22-32 [25]. 18 AaO., 22. 19 Horst Stephan schrieb bereits vor dem ersten Weltkrieg: „Schon wenn man lediglich die Gedichte sammeln wollte, die von Gott und Jesus handeln oder die ausdrücklich als ,Gebet' bezeichnet werden, schon da würde ein stattliches Buch erwachsen - ganz zu schweigen von dem Hauch eigentümlicher Frömmigkeit, der unausgesprochen und doch deutlich spürbar durch die leidenschaftlichen Ergüsse wie durch die stillen Feierstunden dieser Dichtung weht" (aaO., 10). 20 Als ein Pendant zur anderen, zur kirchlich bestimmten Seite hin, wäre an dieser Stelle ein Buch von Heinrich Lhotzky zu nennen: Aus gottsuchender Zeit. Ein Andachtsbuch für neuzeitlich denkende Menschen, 2 1913. Dieses Buch versucht gleichsam vom Boden des konfessionell bestimmten Christentums eine Brücke zum modernen Denken zu schlagen, und zwar ebenfalls in der Form des Andachtsbuchs.

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Weder Satows Hausbuch noch Pinthus' Anthologie könnten in dieser Form in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg erschienen sein. Die klassische Moderne, das große Experimentallabor auch für die Ausdrucksformen moderner Frömmigkeit, hat eben viele Ausdrucksformen auch „verbraucht", wie das beim Experimentieren zu gehen pflegt. Immerhin sind solche Erzeugnisse recht gut geeignet, die individualistische Haltung der Wartenden zu vermitteln mit einem weiter verbreiteten Sinnbedürfnis. Doch bedarf es hier noch eines anderen Zugriffs, um zur religiösen Signatur dieser Zeit vorzudringen. Hierzu möchte ich, wiederum an einem eng begrenzten Beispiel, einige Überlegungen anstellen und Hinweise geben.

4. Methodische Perspektiven: Der „Eckart" Otto Baumgarten hat von der „Statistik der inneren Lebenswerte" gesprochen und in der Tat läßt sich die religiöse Signatur einer Epoche wie die klassische Moderne nicht allein an den gedanklichen und spirituellen Produktionen der großen Denker und religiösen Virtuosen erheben. Es bedarf vielmehr außer der zweifellos erforderlichen Kunst, den sprachlichen, gedanklichen oder eben ästhetischen Spuren der „großen Beweger" (Emanuel Hirsch) nachzugehen, eines Instrumentariums, das es erlaubt, die vielen kleinen, auf den ersten Blick kaum sichtbaren Spuren zu erkennen und in das Gesamtbild einzuzeichnen. Es bedarf, mit anderen Worten, eines religionssoziologischen Instrumentariums. Eines dieser Instrumente möchte ich hier vorstellen. Die vielsprachige und vielstimmige Moderne hat zur Erzeugung und zur Kanalisierung ihrer Stimmenvielfalt eine reich ausgebildete Publizistik hervorgebracht. Das vergleichsweise neue soziologische Phänomen der „Öffentlichkeit" und der „öffentlichen Meinung" zeigt sich in einer Fülle von Druckerzeugnissen (um nur diese zu nennen), von der meist mehrmals am Tag erscheinenden Tageszeitung über die illustrierten Magazine bis zu Zeitschriften und Broschürenreihen und Büchern. Schon lange wurde auch den Zeitgenossen der Überblick über das reiche Angebot schwer, und so traten zu allem noch begleitende Führer durchs Labyrinth auf den Plan, die mal mehr mal weniger kundig den interessierten Leser an die Hand nahmen. Auch die religiöse Perspektive war selbstverständlich vielfach Gegenstand der Aufmerksamkeit. Und hier muß ein quantitativ interessiertes Forschungsvorhaben ansetzen. Die seit einigen Jahrzehnten zu neuer Blüte erwachte Zeitungs- und Zeitschriftenkunde, die heute ein Zweig der methodisch hoch entwickelten Kommunikations- und Medienwissenschaft ist, wird nach und nach auch in der Theologie und der Religionssoziologie

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entdeckt.21 Was man allein aus einer methodisch pointierten Erforschung der „Christlichen Welt" machen könnte, wird jeder sich denken können, der einmal einen konzentrierten Blick in diese Zeitschrift getan hat.22 Denn sie versteht sich nicht zuletzt auch als ein Medium, das Gegenwartsdebatten aufgreift und gebündelt präsentiert. Daher ist sie sehr geeignet, gegenwartsrelevante Themen und die wichtigsten Positionen herauszufiltern aus der skizzierten Vielstimmigkeit. Noch effektiver lassen sich zu solchen Zwecken die mannigfachen Rezensionsorgane nutzen, welche die Bücherfülle für die verschiedenen Interessengruppen und Adressatenkreise ordnen und begutachten.23 Und hier gibt es gerade für unser Thema eine interessante Zeitschrift, nämlich den „Eckart", der den passenden Untertitel trägt: „Blätter für evangelische Geisteskultur".24 Er erschien erstmals 1924, in Anknüpfung an ein älteres Projekt, herausgegeben von August Hinderer,25 dem Präsidenten des Evangelischen Preßverbandes, also einem Mann, der die publizistische Landschaft von hoher Warte zu überschauen vermochte. Leitender Redakteur war Harald Braun,26 ein promovierter Germanist, der sich in den dreißiger Jahren dem Rundfunk zuwandte und sich nach dem Kriege einen Namen als Regisseur machte. Das monatlich erscheinende Blatt enthielt Aufsätze, Besprechungen, aber auch dichterische Beiträge. Es verschaffte sich bald einen guten Ruf auch unter denen, die sonst zu kirchlichen oder offiziös religiösen Bestrebungen eher skeptische Distanz wahrten, wie etwa Alfred Döblin oder Thomas Mann. Umgekehrt wußte sich das Blatt keinem bestimmten protestantischen Milieu oder gar einem theologischen Lager verpflichtet, sondern wollte beitragen zu einer evangelischen, aber eben offenen Haltung zur literarischen und künstlerischen Moderne. Alljährlich zur

21 Vgl. Karl-Werner Bühler: Presse und Protestantismus in der Weimarer Republik. Kräfte und Krisen evangelischer Publizistik, Witten 1970; Axel Schwanebeck: Evangelische Kirche und Massenmedien. Eine historische Analyse der Intentionen und Realisationen evangelischer Publizistik, München 1990; Roland Rosenstock: Evangelische Presse im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002. 22 Vgl. Reinhard Schmidt-Rost: Die Christliche Welt. Eine publizistische Gestalt des Kulturprotestantismus, in: Hans-Martin Müller (Hg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992, 245-257. 23 Vgl. Susi Stappenbacher: Die deutschen literarischen Zeitschriften in den Jahren 19181925 als Ausdruck geistiger Strömungen derZeit, Diss. Erlangen 1961. 24 Eine umfassende Untersuchung fehlt. Für einen ersten Einblick vgl. Rolf Stöver: Protestantische Kultur zwischen Kaiserreich und Stalingrad. Porträt der Zeitschrift „Eckart" 1906-1943, München 1982, sowie Klaus Goebel: Eckart - eine evangelische Literatur- und Kulturzeitschrift im 20. Jahrhundert, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 55, (2006) 265-284. 25

Vgl. Simone Höckele: August Hinderer. Weg und Wirken eines Pioniers evangelischer Publizistik, Erlangen 2001. 26 Vgl. Kurt Ihlenfeld (Hg.): Harald Braun. Ein Buch des Gedenkens, Witten 1961.

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nahenden Weihnachtszeit brachte die Redaktion zusätzlich einen „EckartRatgeber" heraus, der dem Suchenden wertvolle Hinweise für die Bestückung des Gabentische gab. Mir scheint nun, daß diese Zeitschrift eine wahre Fundgrube für die Bestimmung der Religiosität und also der Frömmigkeit der Moderne darstellt, weil sie eine sehr breite Basis beleuchtet, die dringend einer solchen heuristischen Vorauswahl bedarf. Allerdings bedarf es zur Auswertung eines solchen Publikationsorgans ebenfalls einiger methodischer Überlegungen. In der Kommunikationswissenschaft sind zu diesem Zweck ausgefeilte datenbankbasierte Projekte entwickelt worden, die es am Ende in der Tat erlauben, eine Art „Statistik innerer Lebenswerte" zu erstellen.27 Für eine qualitative Voruntersuchung genügen hier jedoch auch minder aufwändige Verfahren. Auf dem Weg zu einer Erfassung der modernen Frömmigkeit sind Zeitschriften wie der „Eckart" schon allein dadurch interessant, daß sie die damals schon beeindruckend hohe Literaturproduktion sichten und sortieren. Denn schließlich bestand die Weimarer Literatur nur zu einem sehr kleinen Teil aus den dichterischen Höhenlagen, die sich über die Zeiten hin erhalten haben, und die dem heutigen literarisch interessierten Zeitgenossen zuerst in den Sinn kommen, wenn es um die zwanziger Jahre geht. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist ein selbst wieder experimentierender Zugriff auf die Werthaltungen, die sich in der Literatur spiegeln. Denn zwar möchte der „Eckart" seinerseits eine „Wertungsschau" vornehmen um „zu einer bestimmten inneren Grundhaltung zu erziehen".28 Dennoch läßt man sich in einem bemerkenswert hohen Maß auch auf die Eigenlogik der zeitgenössischen ästhetischen Produktion ein, nicht zuletzt um seinerseits für die eigene Werthaltung zu profitieren. Insgesamt war man auf der Suche nach einem „methodischen Unterbau evangelischer Literaturkritik".29 Selbstverständlich wird in solchen beurteilenden Organen nun auch seinerseits ein vielstimmiger Chor hörbar, der sich keinesfalls zu einem homogenen Ganzen fugt. Im Einzelnen wären daher detaillierte Profilierungen der Rezensentinnen und Rezensenten nötig, die dann wieder abgeglichen werden müßten mit dem beurteilten Werk. Dann erst wäre ein literatursoziologisch hinreichender Grad von Objektivierung erreicht. Davon ist der derzeitige Forschungsstand noch sehr weit entfernt. Doch können einige vielversprechende Ansätze hier bereits vorgestellt werden.30 Vgl. Almut Todorow: Das Feuilleton der „Frankfurter Zeitung" in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung, Tübingen 1996. 28 Schriftleiter Harald Braun in der Vorbemerkung zum 5. Jg. des , Eckart-Ratgeber' (4). 29 Harald Braun: Zeitdichtung, in: Carl Schweitzer (Hg.): Das religiöse Deutschland der Gegenwart 2: Der christliche Kreis, Berlin 1929,400-421 [421], 30 Außer auf eigene Untersuchungen beziehen sich die folgenden Überlegungen auf die an der Bergischen Universität Wuppertal angefertigte Examensarbeit von Claudia Voigt: Der

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Man begibt sich in ein mehrfach unklares Gelände mit solchen Fragestellungen. Das läßt sich in einem kurzen Rückblick auf die ersten beiden Abschnitte deutlich machen. Die modernen Andachtsbücher stellen sich, in Anknüpfung und Abgrenzung, in ein charakterisiertes Feld, eine umrissene Tradition. Sie sind intentional auf ein Ziel orientiert, sprechen bestimmte Leserinnen und Leser, Kreise und Gruppen an. Daher lassen sie sich ebenso zur Erforschung der Signatur moderner Frömmigkeit heranziehen, wie sich die christlichen Andachtsbücher, Traktate und Ratgeber zur historischen Erforschung der Religiosität der Konfessionskulturen anboten. Hier jedoch liegt nicht nur eine quantitative Vielstimmigkeit vor, sondern auch qualitativ eine hochgradige Unbestimmtheit hinsichtlich des religiösen Gehalts und der religiösen Intention. Dies verbindet dieses Feld mit der Situation des „Wartenden". Nur war es dort eine individuelle, subjektiv stimmige Entscheidung, sich zwischen Skepsis und Glauben in einer aufmerksamen mittleren Position aufzuhalten, eine stets neu auszubalancierende individuelle Lebenshaltung. Hier aber liegt ein ganzes Spektrum mehr oder minder skeptischer, gläubiger, reformerischer, programmatischer Religiosität vor, ein Spektrum, von dem jeweils erst noch zu klären ist, ob es überhaupt einen abgrenzbaren Bezirk von „Religiosität" abdeckt. Die eingangs genannte methodische Kautele, keine Fremdzuschreibungen vorzunehmen, die sich nicht zumindest mittelbar auf Selbstzuschreibungen berufen können, wäre hier ebenfalls zu beachten, nochmals vermittelt allerdings durch die jeweilige Sicht der rezensierenden Person, die sich ja ebenfalls in einem Feld von Zuschreibungen und Abgrenzungen bewegt, das auf seine Weise wiederum aufschlußreich für die Signatur der Zeit ist. Solche methodischen Probleme entwickeln jedoch allzuleicht ein Eigenleben und können, so wichtig sie auch sind, den materialen Blick in die tatsächlich zur Sprache gebrachten Sachverhalte trüben. Daher ist es besonders wichtig, stets auch ein Tableau von grundlegenden religiösen Kategorien, und zwar gehaltvollen, inhaltlich umgrenzten Kategorien aus der Vielzahl der Stimmen zu entwickeln. Damit entsteht dann eine Art Weberscher Idealtypus, der methodische Funktionen der Bewährung und Erschließung übernimmt, aber eben auch einen gehaltvollen Begriff der modernen Religion zu entwickeln erlaubt, der sich nicht lediglich als Modifikation überkommener, zumeist dogmatischer Selbstverständlichkeiten erweist, sondern eben diese wiederum zu korrigieren und zu bereichern im Stande ist. Das dabei entstehende Bild könnte durchaus von der offiziellen Theologiegeschichte, die sich zumeist im Bezirk der akademischen Theologie und der kirchlichen Debatten bewegt, in nicht wenigen Punkten abweichen und „Eckart-Ratgeber" als heuristisches Instrument zur Erschließung der religiösen Signatur der Weimarer Republik. Hausarbeit zum ersten Staatsexamen, Wuppertal 2008.

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sehr eigene mentale Landschaften erschließen. Um einen Anschluß auch an die akademische Diskussionskultur zu gewinnen, bedarf es weiterer Vermittlungsstufen. Einmal sollten verstärkt auch die Beiträge aus der zweiten und dritten Reihe gewürdigt werden. Nicht selten ist es so, daß von dort interessantere, überraschendere und weniger erwartbare Positionen vertreten werden. 31 Umgekehrt bietet sich der W e g über die akademisch interessierte Zeitschriftenlandschaft an. Im „Eckart" beispielsweise werden nicht nur belletristische Bücher besprochen, sondern Bücher aus allen Themengebieten, auch aus dem akademischen Feld. Und Zeitschriften wie die bereits mehrfach erwähnte „Christliche Welt" sind ebenfalls sehr geeignet, das Spektrum zu vervollständigen. Die in der Vorkriegszeit sehr erfolgreichen Reihen der „Religionsgeschichtlichen Volksbücher" und der „Lebensfragen" wären hier ebenfalls heranzuziehen. Diese aus dem Kreis der religionsgeschichtlichen Bewegung, also bezeichnenderweise einer akademischen Minderheitenposition herausgewachsenen Popularisierungsbemühungen sind in der Weimarer Republik nicht mit gleichem Elan fortgeführt worden. Schaut man nun auf die inhaltlichen Akzente einer Auswertung der Rezensionsorgane, 32 dann macht sich sogleich bemerkbar, wie sehr die eingangs zitierte Analyse von Otto Baumgarten zutrifft, daß nämlich die Religion in einem vorher ungekannten Maße in Konkurrenzen zu anderen Lebenssphären steht, die gleichfalls einen umfassenden Lebensanspruch geltend machen. Daß die Kunst und die Nation (wahlweise: das V o l k ) solche Ansprüche stellen, war auch dem 19. Jahrhundert ein vielfach bekanntes Problem, neu dagegen sind die „Religion der Arbeit", die vor allem die Artikulation der Arbeiterschaft und ihres neu erworbenen Klassenbewußtseins im Blick hat und die „Religion der Technik", die in der Moderne in ganz neuer Weise das Lebensgefühl prägt. Sie steht in einem interessanten Spannungsverhältnis mit einer ebenfalls neuartigen Sicht auf die Natur, die durch die Bürokratisierung und Technisierung des Lebens auch gegenüber der romantischen Naturbegeisterung noch einen zusätzlichen existentiellen Impuls bekommt. Schließlich ist unsere Epoche auch die Epoche, in der erstmals zaghaft so etwas wie ein Bewußtsein für die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen des menschlichen Daseins entsteht. Auch die „Religion der Sinne", der Eros ist für die Moderne eine immer neu diskutierte Dimension des menschlichen Lebens. Es ist ganz gewiß kein Zufall, daß sich dieses Tableau von „Religionen", genauer: von sinnstiftenden Lebenssphä-

Der eingangs zitierte Otto Baumgarten ist ein gutes Beispiel, aber auch die ebenfalls zitierten Horst Stephan und Otto Piper. 32

Insbesondere für diesen Abschnitt stütze ich mich auf die sehr erhellende und perspekti-

venreiche Arbeit von Claudia Voigt.

Erscheinungsformen der Frömmigkeit in der klassischen Moderne

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ren, die in Konkurrenz zur Religion im engeren Sinne stehen, in weiten Teilen deckt mit Max Webers religionssoziologischer Analyse, wie er sie in seiner berühmten „Zwischenbetrachtung" vorgelegt hat.33 Kein Wunder auch, daß sich eben die Religion im engeren Sinne in sehr viel höherem Maß als Suchbewegung ausgestaltet, denn als Hort von Gewißheitserlebnissen. Neben dem immer noch vielfach umkreisten Gottesgedanken ist selbstverständlich auch Jesus Christus eine mannigfach variierte Bezugsfigur, weniger natürlich in der dogmatisch-lehrhaften Form christologischer Reflexionen, sondern als Spiegelbild exemplarischer Humanität, auch in ihrer Fragilität und Angefochtenheit. Als Kernthema und Leitkonstellation der Religion scheint das Begriffspaar „Zeit und Ewigkeit" eine wichtige Funktion innezuhaben. Damit lassen sich sowohl starke Differenzerfahrungen artikulieren als auch die Sehnsucht nach einer Einbindung der Transzendenz in die alltäglichen Lebensvollzüge auf einen gehaltvollen Begriff bringen. In vielen Variationen ist dieses Begriffspaar von Bedeutung. Auch läßt es sich ohne weiteres auf wichtige theologische Konzeptionen der Zeit beziehen, sei dies nun bei Adolf von Harnack oder bei Emanuel Hirsch.34 Hier wäre in jedem Fall lohnenswerte weitere Forschung zu betreiben.

5. Abschließende Überlegungen Probebohrungen in einem weiten Feld habe ich angekündigt, ob die Bohrungen erfolgversprechend scheinen, wäre zu diskutieren. Vorerst jedoch möchte ich noch einige abschließende und zusammenfassende Überlegungen zur Frömmigkeit der Moderne anstellen. Ich habe mich bewußt auf den breiter werdenden Bereich nichtkirchlicher Frömmigkeit bezogen, nicht etwa weil die Untersuchung konfessionell bestimmter Frömmigkeit etwa unergiebig oder in ihren Wandlungen nicht ebenfalls aussagekräftig für die Signatur der Zeit wäre. Sondern weil es sich um einen sowohl methodisch wie inhaltlich hochinteressanten und zumindest von der Seite der Theologie immer noch zu wenig beachteten Bereich handelt, der, wenn man ihn als Peripherie kirchlicher Frömmigkeit ansähe (eine räumliche Metapher, die freilich ihre Tücken hat), wertvoll zur Be-

Vgl. Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915-1920. Studienausgabe, Tübingen 1991, 209-233. - Zu einer Einbindung der „Zwischenbetrachtung" in eine Analyse der modernen Religionskultur am Beispiel Richard Wagners vgl. Claus-Dieter Osthövener: Konstellationen des Erlösungsgedankens, in: wagnerspectrum 2/2009, 51-80, bes. 64-66. 34 Vgl. Adolf von Hamack: Das Wesen des Christentums, hg. von Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 2 2007, 12. 33. 43. 45. 47. 85. 97. 101. - Zu Emanuel Hirsch vgl. Ulrich Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs, Berlin/New York 1992, 161-164.

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Claus-Dieter Osthövener

S t i m m u n g v o n d e r e n U m f a n g u n d R e i c h w e i t e ist. A u c h e r f o r d e r t er e i n e n variablen Einsatz vielfaltiger Instrumentarien, deren Erprobung und B e w ä h rung auch der Erforschung der christlichen F r ö m m i g k e i t z u g u t e

kommen

würde.35 Bereits die z e i t g e n ö s s i s c h e n protestantischen T h e o l o g e n suchten

nach

e i n e m a n g e m e s s e n e n W e g , die Signatur moderner Frömmigkeit zu erfassen. D a r a n läßt s i c h a u c h i m R ü c k b l i c k a u f u n s e r e E r k u n d u n g e n m a n c h e s lern e n . S o vertritt H o r s t S t e p h a n i m Jahre 1 9 1 4 d i e T h e s e , „ d a ß e i n e l i e b e v o l l e Beschäftigung mit d e m modernen Geistesleben k e i n e s w e g s a m

evangeli-

s c h e n C h r i s t e n t u m irre z u m a c h e n droht". V i e l m e h r w i r b t e r f ü r f o l g e n d e n Weg: [N]icht in einem Kompromiß mit dem modernen religiösen Suchen, etwa der Umbildung des Christentums zu einer reinen Diesseitsreligion, liegt die Lösung der gegenwärtigen Wirren, sondern allein darin, daß der evangelische Gottesglaube mit kraftvoller Betonung gerade seiner charakteristischen Züge an die Wirklichkeiten des modernen Lebens herantritt; in der inneren Auseinandersetzung mit ihnen muß er die Gedanken und Motive entwickeln lernen, in denen er sich selbst behauptet, das m o derne Leben sich innerlich aneignet und die Kultur in der Richtung auf das Reich Gottes fortbilden hilft; nicht theoretische Konstruktion oder ängstliche Berechnung, sondern die lebendige praktische Frömmigkeit wird W e g und Kraft dafür finden. 3 6

Darin liegt ein sehr wichtiger Hinweis: die Erscheinungsformen moderner F r ö m m i g k e i t w o l l e n auch dann als F r ö m m i g k e i t , als spirituelle P h ä n o m e n e wahr- und e r n s t g e n o m m e n werden, w e n n sie sich nicht o h n e weiteres den herkömmlichen christlichen oder konfessionellen Erwartungen fügen. Al-

35 Nur am Rande möchte ich anmerken, daß umgekehrt die Erforschung der modernen Frömmigkeit erheblich profitieren könnte von der im 19. Jahrhundert ausgearbeiteten theologischen Disziplin der vergleichenden Konfessionskunde. Sie ist - neben der Dogmengeschichte der eigentlich innovative Beitrag zu einer Theologie des aufgeklärten Protestantismus. Angefangen von Hundeshagen bis hin zu Harnack, Kattenbusch und Loofs hat diese Disziplin erstmals eine methodische Untersuchung der Religiosität ,νοη Kopf bis Fuß' konzipiert, eine vom sprachlich objektivierten Lehrbegriff, aber auch von einem allzu abstrakt gehaltenen Religionsbegriff sich ablösende Erforschung der Frömmigkeit als einer Haltung, die sich in den verschiedensten Hinsichten (spirituell, liturgisch, lebensführungspraktisch, weltanschaulich etc.) kulturell zu manifestieren vermag. Dieser Impuls ist dann um die Jahrhundertwende aufgenommen worden von anderwärts orientierten wissenschaftlichen Bestrebungen, sei es die schon genannte „Religionsgeschichtliche Bewegung", seien es die soziologisch orientierten Forschungen etwa von Ernst Troeltsch und Max Weber. Thomas Nipperdey, dem wir eine ebenso konzentrierte wie wirkungsmächtige Darstellung der hier einschlägigen „Religion im Umbruch" verdanken, hat auf solche Traditionslinien bereits vor langer Zeit hingewiesen (Thomas Nipperdey: Carl Bernhard Hundeshagen. Ein Beitrag zum Verhältnis von Geschichtsschreibung, Theologie und Politik im Vormärz, in: Festschrift fur Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971, Bd. 1. Göttingen 1971,368-409). 36 Horst Stephan: Religion und Gott im modernen Geistesleben. Zwei Vorträge, Tübingen 1914, III-IV.

Erscheinungsformen der Frömmigkeit in der klassischen Moderne

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lerdings rechnet Horst Stephan noch mit der Chance auf eine christlichkonfessionell geprägte Einbindung der Moderne: ,,[E]rst der Protestantismus hat wirklich die Fähigkeit, das moderne Sehnen zu erfüllen. Und wir erleben es, wie er in mannigfachen Versuchen dazu übergeht, die Aufgabe zu erfassen".37 Diese Zuversicht ist im Laufe des Weltkriegs und der zwanziger Jahre verloren gegangen. Harald Braun, der Schriftleiter des „Eckart" schlägt daher deutlich moderatere Töne an, wenn er ausführt: „[Vielleicht ist in dieser Zeit monologisch erstarrender Weltanschauungen der Raum rechten reformatorischen Christentums der einzige Ort, wo noch die Möglichkeit des Gespräches besteht. Des Gesprächs, das nicht auf dem Gegenüber sondern auf dem Miteinander beruht, das nicht Rufen sondern Hören ist, und das als Ende nicht die Macht sondern die Liebe meint".38 Nicht mehr Erfüllungsstrukturen werden intendiert, sondern die Eröffnung eines Gesprächsraums. Das scheint mir bis zum heutigen Tag ein gangbarer Weg und ein fruchtbarer Umgang mit moderner Frömmigkeit zu sein. Auf diesem Wege gewinnt dann auch die christliche Frömmigkeit neue Sinnschichten hinzu, wie Braun zumindest als ein wünschenswertes Ziel formuliert: ,,[E]s wäre ein schönes Ergebnis des Buches, wenn es dazu beitragen könnte, die Gestaltung der religiösen Verkündigung in allen ihren Formen von innen her bewußter zu machen".39 Wodurch nun zeichnet sich nun die moderne Frömmigkeit aus? Diese Frage läßt sich vermutlich nicht durch eine schlichte Entgegensetzung oder Abgrenzung zur „traditionellen" Frömmigkeit beantworten. Denn diese ist sehr reich und vielfaltig und dürfte kaum auf einen klaren Begriff gebracht werden können. Nur einige Akzente und Aspekte möchte ich nennen und erläutern, die sich mir bei meinen verschiedenen Untersuchungen bislang als hilfreich zur Charakterisierung erwiesen haben. 1. Frömmigkeit ist eine Haltung, die mit kognitiven und normativen Überzeugungen durchsetzt ist, sich diesen aber vorgeordnet weiß. Darin, daß sie eine Haltung ist, besteht ihr Ernst. Sie sucht nach einem Ganzen, sei es außerhalb oder innerhalb des Subjekts. Dieses Ganze ist bedeutsam für das Leben, das ganze Leben. Hierin dürfte eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den verschiedenenen Ausprägungen der Frömmigkeit bestehen. 2. Charakteristische Merkmale der Frömmigkeit in der Moderne sind Indirektheit, Skepsis, Variabilität. Die Indirektheit hat bereits Otto Piper beschrieben:

37

AaO., 45. Harald Braun: Einleitung, in: ders. (Hg): Dichterglaube. Stimmen religiösen Erlebens, Berlin-Steglitz 1931, 7-11 [9], 39 AaO., 11. 38

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Claus-Dieter Osthövener

Dieses neue religiöse Leben tritt vielfach gar nicht als eine besondere religiöse Bewegung zutage, sondern nur als Tendenz in anderen Gebilden und Tätigkeiten, und ist darum für den, der fur das Wesentliche der Religion die Gottesvorstellung und den Kult hält, nicht zu erkennen. 40

Wie schon bei Kraeauer verhält sich die moderne Frömmigkeit abwartend, sie scheut den direkten Zugriff, sie sieht sich bei ihren Vollzügen selbst zu und bevorzugt Ausdrucksformen, die sich jederzeit auch unabhängig von konfessionell geprägter Religiosität ausdeuten lassen. Daß etwa Georg Simmel seine späte Religionsphilosophie in einem Buch über Rembrandt entfaltet, entspricht einer solchen Haltung. Auch der Umgang mit anderen Künsten, etwa mit dem Musikdrama, führt auf diese Spur. Damit bindet die moderne Frömmigkeit ein Moment der Skepsis in ihre Vollzüge ein. Weit entfernt von allem Schwelgen in Gewißheitserlebnissen zeichnet sie sich oft genug nicht einmal durch die Sehnsucht nach Gewißheit aus, sondern begnügt sich mit einer schwebenden und fragilen Plausibilität, mit einem „perforierten Ernst", wie es Musil prägnant nennt. Ernst aber ist es auch dieser Frömmigkeit. Skepsis und Indirektheit sind keineswegs gleichbedeutend mit Unverbindlichkeit und spielerischer Indifferenz, die natürlich im Gesamttableau der Weltanschauungen nicht fehlen, die aber dem ersten Merkmal der Frömmigkeit, der Ausbildung einer Haltung, nicht förderlich sind. Aus beiden Momenten schließlich ergibt sich die Variabilität moderner Frömmigkeit. Auch diese sollte nicht als ein Merkmal verstanden werden, das etwa der vormodernen Frömmigkeit nicht zukäme. Aber die Variabilität erstreckt sich über andere und neue Materialien und Ausdrucksgestalten und sie wird anders und neu in den Dienst der Subjektivität genommen, so scheint es. In diesem Punkt ist jedoch noch sehr viel phänomenologische Arbeit zu leisten. 3. In allem verliert die moderne Religiosität an Eindeutigkeit. Oder anders gesagt: Ihre Eindeutigkeit ergibt sich nicht mehr auf der Ebene ihrer Vorstellungen, Symbole und Begriffe, sondern sie sind eindeutig wiederum nur je und je, relativ auf das fromme Subjekt, ablösbar auch und wandelbar im Strom des Lebensvollzugs. Man muß das nicht für einen Verlust halten. Es ist schließlich auch ein Zugewinn an Freiheit, an Spielräumen und an hermeneutischem Reichtum. Für den Religionsforscher allerdings wird die Aufgabe schwerer. Aber selbst das könnte am Ende durchaus als ein Zugewinn verstanden werden, sofern man sich auch in der wissenschaftlichen Erkundung auf einen Weg einzulassen bereit ist, dessen Verlauf und Ende nicht von vornherein absehbar ist.

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Piper, aaO., 37.

Johann Hinrich Claussen

Warten oder Schweifen - Kracauers Beitrag zur Wahrnehmung gegenwärtiger Intellektuellenreligiosität Ein Pastoralfeuilleton

Die beliebte Rede von der „Rückkehr der Religion" fußt auf zwei Fehlern. Zum einen auf der Annahme, als sei die Religion fort gewesen, wo sie doch nur den professionellen Gegenwartsbeobachtern aus dem Blick gerutscht war. Zum anderen auf der Vorstellung, als gäbe es in der Religionsgeschichte fixe Trends, wo sich doch hier alles in langen, dialektisch verdrehten Tendenzen entwickelt. Wer religiöse Zeitdiagnose betreibt, ist deshalb gut beraten, sich von der aktuellen Trendforschung abzuwenden und auf alte Texte zurückzugreifen. So hat Claus-Dieter Osthövener zu Recht wieder an ein Feuilleton-Stück erinnert, das Siegfried Kracauer 1922 unter dem Titel „Die Wartenden" in der „Frankfurter Zeitung" veröffentlicht hatte.3 Der Wartende ist für Kracauer ein neuer Typus in der Religionsgeschichte. Viele urbane Intellektuelle lassen sich ihm zuordnen. Der christlichen Herkunftsreligion sind die Wartenden entfremdet: „Der Glaube, ja beinahe die Fähigkeit des Glaubens ist ihnen abhanden gekommen und die religiösen Wahrheiten sind für sie zu farblosen Gedanken geworden, die sie höchstens noch zu denken vermögen." Doch in der säkularen Moderne finden sie keine Beheimatung: „Eingeschränkt durch ein Übermaß ökonomischer Beziehungen, leben sie ungebunden und vereinsamt in einer vom Prinzip des laissez-aller beherrschten geistigen Welt." Sie würden gern wieder glauben, können es aber nicht: „Die Pforte, durch die sie Einlass begehren, öffnet sich ihnen nicht". Ihr Verhältnis zur Religion ist ein „zögerndes Geöffnetsein". Sie haben mit der Religion nicht abgeschlossen, ' Eine erste Version dieses Textes erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. März 2009. 2 Siehe dazu dessen Beitrag in diesem Band. 3 Siegfried Kracauer, Die Wartenden. In: Ders., Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1963, 106-119. 4 Ebd., 107. 5 Ebd., 108. 6 Ebd., 107. 7 Ebd., 116.

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Johann Hinrich Claussen

drängen sich aber auch nicht in sie hinein. Das verlangt Selbstdisziplin. Die Wartenden müssen „tapfer" sein. Damit sie sich nicht vom eigenen religiösen Bedürfnis „übertölpeln" lassen, verordnen sie sich „eine gewisse Kühle" . Sie wollen nicht aufgeben, sich aber auch nichts anempfinden, was ihnen nicht gehört. So mündet Kracauers Beschreibung der Wartenden in einer Glaubenslehre der Kälte. „Zögerndes Geöffnetsein" ist eine gute Beschreibung der religiösen Gestimmtheit vieler Intellektueller in der klassischen Moderne. Man denke etwa an Georg Simmel oder Robert Musil. Heute kann man ihr in einigen Gedichten von Hans Magnus Enzensberger oder Michael Krüger begegnen. Anregend sind Kracauers Beobachtungen besonders für zünftige Theologen, die so an den Vollgestalten des Glaubens orientiert sind, dass sie nicht wahrnehmen, was religiös tatsächlich der Fall ist. In Kracauers fast einhundert Jahre altem Feuilleton steckt aber auch eine präzise Kritik dessen, was sich gegenwärtig als Intellektuellenreligiosität äußert. Es beschreibt eine eigentümliche religiöse Mangelerscheinung, die aber ein Niveau besitzt, das die heutigen „religionslos Religiösen" (Musil) zu oft vermissen lassen. Wie unzeitgemäß der Wartende ist, zeigt sich schon daran, dass Kracauer ihn als Schmerzensmann vorstellt, der schwer 11

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14

an seinem „metaphysischen Leiden" trägt. Wörter wie ,Traurigkeit', ,Qual', ,Verzweiflung', ,Schmerz', ,Schrecken' durchziehen den Text. Nichts ist hier spielerisch oder ironisch. Im Vergleich dazu haben sich Kracauers Nachfahren im metaphysischen Wartesaal sehr behaglich eingerichtet. Deshalb fehlt ihnen der Ernst, der einen wirklich Wartenden auszeichnet. Es fehlt ihnen auch sein Sinn für Qualität und Differenz. Der Wartende würde nie sein ,Irgendwie-spirituell-interessiert-sein' mit Religion verwechseln. Er weiß, dass ein voller Glaube viele Voraussetzungen hat: per8

Ebd., 117. Ebd. 10 Ebd. 11 Vgl. Volkhard Krech, Georg Simmeis Religionstheorie, Tübingen 1998. 12 Vgl. Claus-Dieter Osthövener, Literarische und religiöse Deutungskultur im Werk Robert Musils, in: Roderich Barth et al. (Hg.), Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne, Frankfurt a.M. 2005, 299-314. 13 Vgl. zu Enzensberger auch die Bemerkungen von Wolfgang Frühwald in diesem Band; vgl. ferner meine weiter gehenden Überlegungen: Johann Hinrich Claussen, Probebohrungen im Himmel. Neue religiöse Töne in der Lyrik der Gegenwart, in: Reformatio. Zeitschrift für Kultur, Politik, Religion 51/2 (2002), 125-129; „Den Wolken zusehen, den Wolken". Lyrische Meteorologien von Hans Magnus Enzensbeger und Johannes Kühn, in: Deutsches Pfarrerblatt 105. Jg. Heft 8, 2005, 395-398; Religion ohne Gewißheit. Eine zeitdiagnostisch-systematische Problemanzeige, in: Pastoraltheologie 94. Jg., 2005/10, 439-454; „Profane Offenbarungen" - Anmerkungen eines Lyrik lesenden Theologen, in: Protestantismus und Dichtung (Protestantismus und Kultur Band 2), Petra Bahr u.a. (Hg.), Gütersloh 2008, 11-30. 14 Kracauer, Die Wartenden, 109. 9

Warten oder Schweifen

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sönliche Gewissheit, rituelle Praxis, Gemeindebindung, Bewährung im Alltagshandeln. Ihm ist bewusst, dass er von all dem nichts vorzuweisen hat. Deshalb sieht er selbst in seinem zögernden Geöffnetsein höchstens die negative Bedingung der Möglichkeit dafür, dass ein Glaube entstehen könnte. Unzeitgemäß wirkt auch die Diskretion, mit welcher der Wartende religiöse Fragen behandelt. Die ungebremste Meinungsfreude, mit der gegenwärtig zu viele über die Religion sprechen, weil sie gerade ein ,Thema' ist, müsste ihn befremden. Er würde sich versagen, über das vorschnell zu urteilen, was Gläubige betrifft und bewegt, würde auch nicht auf sie herabschauen, nur weil er sich ihnen intellektuell überlegen fühlt, da ihm schmerzlich bewusst ist, dass er ihnen an einem entscheidenden Punkt unterlegen ist. Deshalb empfindet er so etwas wie Demut vor wirklich gelebter Religion. Diese Zurückhaltung unterscheidet den Wartenden vom Typus des „Schweifenden", von dem Kracauer in einem anderen Text geschrieben hat. Der Schweifende flaniert durch religiöse Kulturlandschaften, bedient sich hier und dort, fühlt sich manchem nah und bleibt doch allem fremd. Ihm fehlt der Leidensdruck, die Selbsteinschätzung, die Disziplin und Ehrfurcht, die den Wartenden auszeichnet. Wenn nicht alles täuscht, ist der Wartende heute ein selten anzutreffender Gast. Die Bühne der religiösen Debatten beherrscht der Schweifende - um nicht zu sagen: der Schwafelnde. Kracauer hat die moderne Intellektuellenreligiosität genau betrachtet, fein beschrieben und differenziert beurteilt. Sie ist für ihn vor allem ein Leiden und nur vielleicht ein Anfang. Einen Fehler, den viele religiöse Zeitdiagnostiker regelmäßig begehen, hat er allerdings vermieden. Er fallt nicht in pfaffischer Manier ein moralisches Urteil über diejenigen, die nicht glauben können, obwohl sie es wollen. Das „zögernde Geöffnetsein" hat für ihn seinen Grund in einer epochalen Tragik, ist also kein schuldhaftes Versagen, aber eben auch nichts, worauf man sich allzu viel einbilden sollte.

15 Vgl. Siegfried Kracauer, Katholizismus und Relativismus. Zu Max Schelers „Vom Ewigen im Menschen", in: Ders., Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1963, 196.

Wolfgang Frühwald

Hiob heute Über das Gedächtnis der Frömmigkeit in der Literatur der Gegenwart

1. Das Vorbild der Frommen

Wer in der literarischen Überlieferung nach dem Idealbild des Frommen sucht, wird auf Hiob treffen, den biblischen Dulder, der von den Erzählungen des Alten Testamentes bis zu Joseph Roths Romanfigur Mendel Singer (1930) oder Stewart O'Nan's 1999 erschienenem Hiob-Roman „A Prayer for the Dying" über das Ringen des Menschen mit Gott, über die Prüfungen des Glaubens und jene Leidensfähigkeit berichtet, von denen die Verhaltensforscher meinen, sie gehöre zu den charakteristischen Merkmalen der menschlichen Spezies. Der Mensch, sagen sie, halte einfach zu viel aus. Das Volk Israel hat (wie Theresia Mende sagte) seine bis zur Shoah gesteigerten, mehrtausendjährigen „Leiderfahrungen und sein Hadern mit Gott" immer wieder in die Hiobs-Gestalt eingetragen. Hiob aber wurde durch Martin Luther der Frömmigkeit gewonnen. In Luthers Übersetzung des Buches Hiob nämlich spricht der Herr zum Satan: „Denn es ist seinesgleichen im Lande nicht, schlecht und recht, gottesfürchtig und meidet das Böse und hält noch fest an seiner Frömmigkeit; du aber hast mich bewogen, dass ich ihn ohne Ursache verderbt habe." Als der Herr dann Hiob in die Hand des Bösen gibt und der seinen Leib mit Geschwüren schlagen darf, „von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel", sagt Hiobs Weib zu ihrem Mann: „Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Ja, sage Gott ab und stirb!" Doch der in der Zuversicht auf Gottes Weisheit, das heißt der in seiner Frömmigkeit gefestigte Hiob antwortet ihr: „Du redest wie die närrischen Weiber reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollen das Böse nicht annehmen? In diesem allem versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen." (Hiob 2,3.9-10) Die Leidensgeschichte Israels - und nicht nur die Israels - spiegelt sich durch die Jahrhunderte hindurch in einer Gestalt, deren Ursprung religiösliterarischer Natur ist. Seit dem großen Modernisierungs- und Rationalisierungsschub am Ende des 18. Jahrhunderts hat sie sich, wie andere einstmals öffentliche Wertbereiche auch, immer stärker in die erzählende Literatur zurückgezogen und ist dort nun Verwandlungen ausgesetzt, deren steinerne

Hiob heute

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Trauer dem hoffnungsträchtigen Grundtenor der biblischen Geschichte Hiobs widerspricht. Die Weltgeschichte, als der Bewegungsraum des Bösen, kann eben auch anders enden, als es der im 42. Kapitel des Buches Hiob über den Dulder ausgeschüttete Segen verkündet: „Und der Herr segnete hernach Hiob mehr denn zuvor, dass er kriegte vierzehntausend Schafe und sechstausend Kamele und tausend Joch Rinder und tausend Eselinnen. Und kriegte sieben Söhne und drei Töchter [...]. Und Hiob lebte nach diesem hundertvierzig Jahre, dass er sah Kinder und Kindeskinder bis in das vierte Glied. Und Hiob starb alt und lebenssatt." (Hiob 42,13-17) Die Erfahrung der Shoah war für das gequälte und zerstreute Volk Israel, das sich (zumindest in Deutschland) mehr als 150 Jahre lang in der säkularistischen Humanität moderner Zivilisation gesichert glaubte, so vernichtend, dass der neue, im blutigen 20. Jahrhundert erfolgte Eintrag in die Gestalt Hiobs letztlich sogar den Gottespakt in Frage stellte. Der kanadische Germanist Hans Eichner, wegen jüdischer Abstammung 1938 aus seiner österreichischen Heimat vertrieben, erzählt in der Familien-Saga „Kahn und Engelmann", die im Jahr 2000 zuerst in deutscher Sprache in Wien erschienen ist, die zu diesem Thema gehörende Geschichte des Rabbiners von Radsin. Es war im Herbst 1942, als im polnischen Wlodawa das überfüllte Ghetto aufgelöst wurde, in das u.a. jüdische Kinder aus Wien transportiert worden waren, ehe sie im benachbarten Vernichtungslager Sobibor ermordet wurden. In der Umgebung von Wlodawa, auf einem Nebengleis, sah der Rabbiner einen Viehwagen stehen: „Die Türen standen offen, er blickte hinein, erstarrte und ging zum nächsten Dorf. Dort bestach er mit dem Geld, mit dem er die Fahrkarte nach Warschau hatte bezahlen wollen, ein paar Bauern, die Leichen aus dem Wagen zu holen und zu begraben. Als die Leichen ausgeladen waren, hörte der Rabbiner im Wagen noch ein Geräusch. Er kletterte hinein und sah: In einer Ecke des Wagens saß Gott und weinte. Der Rabbiner weigerte sich, ihn zu trösten."

Es ist, als sei in dieser Geschichte Gott selbst zum leidenden Hiob geworden. Die Frömmigkeit, eingetragen in die Erzählfigur Hiob, hat ein Gedächtnis. Es ist ein Leidens- und ein Angstgedächtnis und reicht über die Erzählzeit der Geschichte Hiobs zurück in die Anfänge der Menschheit. Denn als sich der homo sapiens von seinen tierischen Vorfahren trennte, hat er - kenntlich an Bestattung, an Grabbeigaben und ritueller Körperbehandlung der Toten - über seine Sterblichkeit nachzudenken begonnen. Dieses Nachdenken und die aus ihm entsprungene Klage um die Vergänglichkeit des Schönen, um die Zerbrechlichkeit des Menschen sind ursprungsnahe Stammesmerkmale des homo sapiens, so dass Frömmigkeit, im Sinne von Gottesfurcht, unter welcher Gestalt sie auch immer erscheinen mag, zu den transkulturell wirksamen menschlichen Universalien gehört. Friedrich

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Wolfgang Frühwald

Schleiermacher hat bekanntlich die Herrschaftsgebiete im Geistesleben des Menschen kurzerhand unterteilt in das Gebiet der Frömmigkeit und das der Wissenschaft, in die gläubig-intuitive und die rational-analysierende Erfassung der Welt. Demnach ist Frömmigkeit auch ein Gedächtnis- und ein Erinnerungsakt, der die Transzendenz in den Blick nehmen kann, dies aber nicht unbedingt tun muss, um als „fromm" zu gelten. Seit Pietismus und Romantik (vor allem seit Schleiermacher) umschreibt der Akt des Eingedenkens, wie Hubert Frankemölle konstatierte, „ein religiöses Gefühl, die innerliche Hingabe an das Göttliche und Numinose, geprägt durch Ehrfurcht und Demut". Vorher (bis weit in die Antike zurück) galt sie, gefasst im Begriff der pietas, als ein sozialer und ein politischer Wertbereich, so dass zum Beispiel in Hamburg bis tief in das Jahrhundert der Aufklärung hinein die Stadttore nach den Gebetszeiten, nicht nach Auf- und Untergang der Sonne geschlossen und geöffnet wurden. Nun, in der „Sattelzeit" der Moderne (also seit dem späten 18. Jahrhundert), zieht sich dieser Wertbereich auf das Individuum zurück und wird vor allem im Umkreis der meditativen Privatlektüre gepflegt. Diese aber hat Jürgen Habermas zum Königsweg der bürgerlichen Individuation erklärt. Damit kann Frömmigkeit als ein habituell zum Menschsein gehöriger Akt des Eingedenkens - nun auch von Menschen gelebt werden, welche Transzendenz nicht als ,Jenseitig" erfahren, sondern als erinnernde Verbindung heute lebender Menschen mit Menschen und Kulturen, die längst von der Erde verschwunden sind. In diesem Vorgang, der ein Vorgang von Säkularisation ist, erhält sie neue Namen, sie heißt nun „moralischer Impuls", „Erinnerung", „solidarisches Handeln", „Moralität" etc. und steht wie eh und je in der Kontinuität dessen, was wir als menschentypisch verstehen: in der Kontinuität der poetischen Auferweckung längst zerstörter menschlicher Leiber aus dem Staub der Geschichte, ihrer Anverwandlung an unser Leben, so dass es ist, als lebten und litten diese Menschen noch einmal unter uns. An wenigen literarischen Beispielen nur versuche ich das Herrschaftsgebiet einer so verstandenen Frömmigkeit in der Moderne zu verdeutlichen; an Texten von Elias Canetti, von Patrick Roth, Thomas Hürlimann, Joseph H. H. Weiler und an einem Gedicht von Hans Magnus Enzensberger.

2. Hüter der Verwandlungen: Elias Canetti Als Elias Canetti, dessen Leben von 1905 bis 1994 fast das ganze 20. Jahrhundert umfasst, 1976 die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität München verliehen wurde, hat er eine Dankesrede gehalten, deren Erstdruck in der Wochenzeitung D I E Z E I T großes Aufsehen erregte.

Hiob heute

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In dieser Rede (gehalten fünf Jahre vor dem ihm 1981 verliehenen Nobelpreis für Literatur) plädierte Canetti entschieden für die Wiederbelebung des damals als antiquiert belächelten Namens und Begriffes des „Dichters". Aus einer kühlen und gleichwohl leidenschaftlichen Analyse der Gegenwart, aus einer heftigen Kritik an der damals grassierenden „Die-Literaturist-tot-Bewegung" hat er die Notwendigkeit von „Dichtern" gefolgert. Eine Menschheit nämlich, meinte Canetti zu Beginn des Zeitalters der elektronischen Datenverarbeitung, die ihre Prophezeiungen Maschinen anvertraue, habe diese Prophezeiungen wertlos gemacht: „Je mehr wir von uns abspalten, je mehr wir leblosen Instanzen anvertrauen, desto weniger sind wir Herren über das, was geschieht. Aus unserer wachsenden Macht über alles, Unbelebtes wie Belebtes und besonders über unseresgleichen, ist eine Gegenmacht geworden, die wir nur scheinbar kontrollieren. [...] Vielleicht ist es der Mühe wert, darüber nachzudenken, ob es in dieser Situation der Erde etwas gibt, wodurch Dichter, oder was man bisher dafür hielt, sich nützlich machen könnten."

Jürgen Habermas hat im Jahr 2001 eine ähnliche Gefahr unserer „wachsenden Macht über Belebtes und Unbelebtes und besonders über unseresgleichen" dort gesehen, wo „Naturbeherrschung umschlägt in einen Akt der Selbstbemächtigung". Er hat in der bis heute anschwellenden Embryonendebatte vor dem Verstummen der genetisch programmierten Nachgeborenen im Dialog der Generationen gewarnt, vor dem Ende des für unsere Kultur grundlegenden Prozesses von Frage und Antwort, an dem bis heute noch alle Generationen, die vergangenen, die lebenden und die ungeborenen, beteiligt sind. Er hat damit (nicht wörtlich, aber sinngemäß) vor dem Verschwinden von Frömmigkeit aus der menschlichen Gesellschaft gewarnt. Er meinte nämlich, dass unter dem Aspekt der Menschenzüchtung der „moralische Impuls" aus der Welt entschwinden könnte: „[...] warum sollten wir moralisch sein wollen [heißt es bei Habermas], - wenn die Biotechnik stillschweigend unsere Identität als Gattungswesen unterläuft. [...] Ohne das Bewegende von moralischen Gefühlen der Verpflichtung und der Schuld, des Vorwurfs und der Verzeihung, ohne das Befreiende moralischer Achtung, ohne das Beglückende solidarischer Unterstützung und ohne das Bedrückende moralischen Versagens, ohne die Freundlichkeit' eines zivilisierten Umgangs mit Konflikt und Widerspruch müssten wir, so meinen wir heute noch, das von Menschen bewohnte Universum als unerträglich empfinden."

Die Antwort Elias Canettis auf die 1976 offenkundig provozierende Frage, was in dieser Situation der Dichter bewirken könne, ist so einfach wie kompliziert: Aufgabe des Dichters sei es, „Hüter der Verwandlungen" zu sein, und dies in einem doppelten Sinn: zunächst, um das mythische Erbe der Menschheit so verwandelt zu bewahren, dass es immer wieder zu neuen Generationen spricht, in wenigen Spuren noch fassbare Erfahrungen längst

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zerstörter Kulturen, ausgestorbener oder vor unseren Augen hilflos sterbender Stämme. „Stämme [sagte Canetti], die manchmal aus wenigen hundert Menschen bestehen, haben uns einen Reichtum hinterlassen, den wir gewiss nicht verdienen, denn durch unsere Schuld sind sie ausgestorben [...]. Ihre mythischen Erfahrungen haben sie sich bis zum Schluss erhalten, und das Merkwürdige ist, dass es kaum etwas gibt, das uns mehr zustatten kommt, kaum etwas, das uns so sehr mit Hoffnung erfüllt, wie eben diese frühen, unvergleichlichen Dichtungen von Menschen, die, von uns gejagt, übervorteilt, beraubt, in Elend und Bitterkeit zugrunde gegangen sind. Sie [...] haben uns ein geistiges Erbe hinterlassen, das unerschöpflich ist. Für seine Rettung kann man der Wissenschaft nicht dankbar genug sein; seine eigentliche Bewahrung, seine Auferstehung zu unserem Leben, ist Sache der Dichter." Damit wird dem Dichter und der Dichtung eine Aufgabe zugewiesen, die nicht weniger meint als die Bewahrung von Frömmigkeit in einem Akt lebendigen Eingedenkens. Die Aufgabe des Dichters und des Dichtens ist die dynamische Aneignung und die Verlebendigung einer vom Untergang bedrohten kulturellen Überlieferung, welche Menschheit als Menschheit erst konstituiert und sie sich ihrer selbst in der Kette humaner Überlieferungen bewusst werden lässt.

3. Die „Hauptstadt des Vergessens" Eine solche Aufgabe widerspricht der vorherrschenden Tendenz unseres Zeitalters, in dem Geschwindigkeit und Effizienz, also gedächtnissprengende Momente, in allen öffentlichen Äußerungen kanonisiert werden. Viele heute schreibende Poeten meinen deshalb, das kalifornische Los Angeles sei zur heimlichen Metropole der nachmodernen Welt geworden. Diese Stadtlandschaft nämlich sei eine Landschaft ohne Mitte in einem mehrfachen Sinn. „Los Angeles, die ,Große Orange' - lauter Schnitze um ein Nichts", so hat der Schweizer Autor Hugo Loetscher schon 1982 diese Stadtlandschaft ohne Stadtmittelpunkt bezeichnet. Aus ihrem Flussbett steige eine Staubwolke auf und alles ist grün, aber nur künstlich grün, eine synthetische Traumlandschaft inmitten der Realität. Los Angeles sei eine Stadt, welche Leben und Fruchtbarkeit nur vortäusche, eine Stadt, in welcher der Tod unter grünem Plastikrasen lauert, wo das kapitalistische Prinzip von „Investitionen und Auslöschungen" unumschränkt herrsche. Diese Stadt sei die „Hauptstadt des Vergessens". So jedenfalls hat der 1962 in Dresden geborene Lyriker Durs Grünbein im Jahr 1998 Los Angeles genannt: „Los Angeles. Diese Stadt ist ein Frontalangriff auf das Gedächtnis. Ihr wucherndes Territorium, das die Urbanologen erschreckt und die Histo-

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riker zum Stottern bringt, ist ein Diagramm jener Amnesie, die am Jahrhundertende über den ganzen Globus fegt." Doch dann hat Patrick Roth (geboren 1953) gerade Schnitze aus der „Großen Orange" - in wahrhaft neuer Unbefangenheit - zum Schauplatz einer Christustrilogie genommen und die exegetisch-gestisch beschriebene Begegnung Magdalenas mit Jesus am Ostermorgen in die Kontrastszenerie des modernen, heruntergekommenen Hollywood verlegt. Vielleicht ist er durch solch ungewöhnliche Gesten zu einem Kultautor der jungen Generation von Germanisten und Theologen geworden, weil er die Realität der Straßenprostitution und eine der kostbarsten Szenen des Evangeliums schroff aufeinander prallen lässt, die Realität Hollywoods, in dem nur noch wenig an die Filmträume von Millionen erinnert, und die Trauer Maria Magdalenas, „an dem ersten Tage der Woche [...], früh, da es noch finster war", beim Anblick des leeren Grabes: „Maria aber stand vor dem Grabe und weinte draußen. Als sie nun weinte, guckte sie in das Grab und sieht zwei Engel in weißen Kleidern sitzen, einen zu den Häupten und den andern zu den Füßen, da sie den Leichnam Jesu hin gelegt hatten. Und diese sprachen zu ihr: Weib, was weinest du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hin gelegt haben. Und als sie das sagte, wandte sie sich zurück und sieht Jesum stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. [...] Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm: Rabbuni (das heißt: Meister)!" (Joh. 20, 1 und 11-17)

Was nicht im Johannes-Evangelium steht, dass nämlich Maria Magdalena an dem Auferstandenen, den sie für einen Gärtner hält, zuerst vorübergehen musste, um sich auf sein Wort hin umzudrehen, eine „Wende" im tiefsten Sinn des Wortes zu vollziehen, erkennt der Erzähler bei Patrick Roth in dem Moment, als er (in Los Angeles) die Szene „Magdalena am Grab" mit einer Schauspielerin gestisch erprobt: „Denn das Vorbeilaufen erst der Magdalena lässt Jesus sich wenden. Er dreht sich um nach ihr. Er muss sich gewandt haben, als er ihren Namen aussprach: ,Mary!' Maria. Hier bei dieser Namensnennung (einer Taufe) - setzt die Bibel wieder ein und sagt, dass Magdalena sich wandte. Es ist das vierte und entscheidende Mal, dass sie sich wendet und in diesem SichWenden: verwandelt wird [...]."

Es ist ein eminent apokryphes Interesse, das Patrick Roth zu seiner 2002 gedruckten erzählenden Exegese antreibt. Es ist aber ein Interesse, das deshalb erlaubt ist, weil es den in der Bibel beschriebenen, zumindest scheinbar historischen Vorgang in eine begegnungslogische Reihenfolge setzt: „[Magdalena] wird von einer, die ihn nicht mehr kannte, nur lebend

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den Toten suchte, ihm ,tot' war, verwandelt in eine, die ihn erkennt - ihn zum zweiten Male ,gebiert': denn hier erst, in den Augen dieser leibhaftig sehenden Frau, kommt er zur Welt, als Auferstandener jetzt." Das sei meinte Patrick Roth - nicht mehr der verborgene und sterbende Gott der Neunten Stunde, „sondern jetzt ist er der Erkannte. Und Magdalena ist er erst darin - durch diesen Moment des Erkanntseins - auch auferstanden". Nicht inhaltlich, aber strukturell orientiert sich Patrick Roth an Pasolinis berühmter Verfilmung des Matthäus-Evangeliums, die in ihrer realistischen Bildlichkeit, als das Glaubenszeugnis eines Ungläubigen, die Moderne tief erschüttert hat. Arnold Stadler bezeichnet in seinem 2008 erschienenen Buch „Salvatore" das Matthäus-Evangelium geradezu als das Drehbuch Pasolinis, dessen Film sich Stadlers Protagonist „am Tag einer Himmelfahrt" im Gemeindesaal einer katholischen Pfarrei anschaut - und seither ein anderer Mensch ist. Das poetische Gedächtnis, die Fähigkeit der Dichter zur Verwandlung auch in das Geringste, meint demnach kein Gefäß, kein Archiv, nicht den Gestus des Schauspielers, sie meint den lebendigen Prozess der steten Anverwandlung alles dessen, was zur Entwicklung des Menschen als Menschen gehört, auch die Verlebendigung des christlichen Osterglaubens in der Erweckung der Maria Magdalena, jener Frau, die den Auferstandenen als Erste von allen Menschen gesehen hat. Das Menschheitsgedächtnis, als das Literatur hier verstanden wird, ist ein Erinnerungsort, der im Blick der Dichter ersteht, es ist das Kontinuum der Menschenwelt, da es nicht nur Kommunikation zwischen den Menschen (weit über die Grenzen des individuellen Lebens hinaus) herstellt, sondern in die geschichtslose Erosion der Natur die geschichtliche Spur des Menschen setzt. In diesem Sinne sind Religion und Dichtung urverwandt, weil beide auf den Ursprung und das Fortleben des Menschen bezogen sind, weil beide Rückbindung meinen (religio) oder anders ausgedrückt: Frömmigkeit, das heißt hier bewahrendes, erweckendes, verwandelndes Gedenken der Menschenspur.

4. Thomas Hürlimann „Fräulein Stark" Die Arbeitsnotiz zum „Einsiedler Welttheater" (nach Calderón de la Barca), das Thomas Hürlimann (2007) fur mehr als 300 Mitwirkende aus Einsiedeln und Umgebung geschrieben hat, beginnt mit folgender Geschichte: „Im August 1950 hatte eine junge, im fünften Monat schwangere Frau nicht die geringste Lust, ,Das Große Welttheater' zu besuchen. Da sagte ihr Bruder, ein Priester und Bibliothekar: ,Marie, in deinem Zustand tun dir Calderóne weise Worte über

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das Werden und Vergehen gut. Und wer weiß, vielleicht erreichen sie auch dein Kindchen.' Gehorsam reiste die junge Frau nach Einsiedeln und sah sich an einem schwülheißen Augustabend die Vorstellung an. Sie übernachtete im ,Storchen', ging anderntags in die Frühmesse, stiftete bei der Madonna eine Kerze, kehrte nach Zug zurück und wurde vier Monate später, im Dezember [1950], meine Mutter."

Der Bruder der Mutter, von dem hier die Rede ist, war Johannes Duft, der berühmte und streitbare Stiftsbibliothekar von St. Gallen, der sich im Jahr 2001 öffentlich (in einem korrigierenden elf Seiten umfassenden Sonderdruck) über die Erzählung geärgert hat, die sein Neffe Thomas über ihn, seine Bibliothek und seine Haushälterin, unter dem Titel Fräulein Stark, geschrieben hat. Thomas Hürlimann gehört zu den in der Schweiz beheimateten Autoren, die im Bild der eigenen Familie das an Fläche kleine, an wirtschaftlichem und wissenschaftlichem Einfluss aber große Land zum Modell einer Welt genommen haben, welche beginnt, sich im Grenzenlosen zu verlieren. Gegen den Heimat- und damit den Wirklichkeitsverlust, meint Thomas Hürlimann, suche er anzuschreiben, der Abstraktion der einen (globalen) Welt die Konkretion lebendiger, wenn auch poetisch verwandelter Menschen entgegenzustellen. In der soliden schweizerischen Erzähltradition von Gottfried Keller bis zu Hugo Loetscher sucht er das fremd gewordene Eigene im Spiegel der Literatur wiederzuerkennen. Literatur „schafft Welt, also Heimat. Sie ist ein Spiegel, und sie sorgt auch dann für das Bild, wenn es Herr Niemand ist, [...] der davor steht". Es geht also auch bei Hürlimann um die Herstellung einer „anamnetischen Kultur", in der Gedächtnis und Erinnerung noch zentrale Bedeutung haben. Und vielleicht ist die heute allerorten zu beobachtende „Memorialisierung" von Geschichte tatsächlich ein Akt der Wiederkehr lange verdrängter Frömmigkeit. Thomas Hürlimann beschreibt in Fräulein Stark eine Welt, die es kaum noch gibt, die Welt der alten Bibliotheken, die sich nicht als einen Informations-Speicher, nicht als einen Aufbewahrungs- und Sammelort von Wissen verstehen, sondern als „Psychesiatreion", das heißt als ein Hospital, als eine Apotheke für die Seelen. „Mein Onkel war Stiftsbibliothekar und Prälat [beginnt die bewusst altmodisch „Novelle" genannte Erzählung], seine Hüte hatten eine breite, runde Krempe, und gedachte er die Blätter einer tausendjährigen Bibel zu berühren, zog er Handschuhe an, schwarz wie die Dessous meiner Mama. An Bord unserer Bücherarche, sagte der Onkel, haben wir schlicht und einfach alles, von Aristoteles bis Zyste. Wie ein Zirkusclown hatte er einige Nummern einstudiert und seine Lieblingsnummer ging so: Im Anfang war das Wort, sprach der hochwürdige Stiftsbibliothekar, dann kam die Bibliothek, und erst an dritter und letzter Stelle stehen wir, wir Menschen und die Dinge. Dabei zeigte er zur Decke, wohl auf Gott, dann auf sich, die

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Bibliothek, und war vom Dritten und Letzten die Rede, ließ er den Blick in die Runde schweifen, von einer Besucherin zur andern."

Zwar ist die hier beschriebene Seelenapotheke, in der alle psychischen Krankheiten und ihre körperlichen Folgen geheilt werden können, im Blick des Herrn Prälaten eine Arche, ein rettendes Schiff in der unüberschaubaren Sintflut des Lebens. Im Blick des sich erinnernden Ich-Erzählers aber ist die Bibliothek ein kleines Paradies, bewacht von einem Erzengel, der Haushälterin des Herrn Prälaten, namens Fräulein Stark, die auch in der Realität Stark geheißen hat. Dass sie als Cherub ein Paradies bewacht, ist an dem Satz zu erkennen, den sie regelmäßig abends in die Räume der Bibliothek ruft: „Die Bibliothek ist geschlossen!/Sie rief es jeden Abend, und jeden Abend trat sie wie der Paradiesengel in den Portalrahmen, um mit strengem Blick zu warten, bis sich die letzte Besucherin mit einer hauchzarten Geruchsschleppe durch den Gang entfernte." In diesem Paradies der Körpergerüche gibt es natürlich auch die Sünde und ihre Verlockung. Der Neffe des Prälaten, ein halbwüchsiger Junge, der den Gästen der Bibliothek die Filzpantoffeln an die Füße schiebt, damit der Parkettboden aus dem Jahr 1760 nicht zerkratzt wird, erwacht zur Sexualität, zu allen ihren heimlichen Ängsten und Lüsten. So schaut er bei seinem Sklavendienst den Besucherinnen unter die Röcke. Über diese Beschreibung hat sich Johannes Duft besonders geärgert, weil sie dem Ansehen seiner Bibliothek natürlich schaden konnte. Aber Thomas Hürlimann erzählt nicht die im Grunde triviale Geschichte einer Pubertät, er erzählt in der Geschichte des Paradiesesengels, des Fräuleins Stark, auch die Geschichte einer Familie in der Schweiz unserer Tage; er erzählt die Vision eines wirklichen Paradieses, wo das von der Kinderlähmung gezeichnete Mädchen im Traum tanzend über das Parkett der Bibliothek schwebt. Das hat (in der Moderne) zu schreiben noch niemand unternommen, dem biblischen Engel mit dem Flammenschwert ein menschliches Antlitz zu geben, noch dazu das einer schweizerischen Pfarrhaushälterin. Und doch ist gerade die „Vermenschlichung" des Mythos vom Paradies die poetische Tradition, die seit Milton's Paradise Lost (aus dem 17. Jahrhundert) immer wieder christliche Erzähler fasziniert. So entwickelt sich Hürlimanns Erzählung ganz nach dem Augustinus-Motto, das ein von den nie katalogisierten Bücherbergen in St. Gallen entnervter Bibliothekar einst an die Wand der Stiftsbibliothek geschrieben hat: „Und sollte dich der letzte Tag nicht als Sieger finden, finde er dich wenigstens als einen, der gekämpft hat." Die alte Bibliothek in St. Gallen ist ein sehr irdisches Paradies, ein Paradies, in dem der Mensch (wie im 1. Buch Mose) nicht am ersten Schöpfungstag erscheint, sondern erst als Drittes alles Geschaffenen, nach dem Wort und nach der Fülle der Worte, also nach der Bibliothek, aber zusam-

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men mit den Dingen. „Nomina ante res" lautet der Wahlspruch des Stiftsbibliothekars. In diesem Paradies gibt es - wie gesagt - auch die Sünde, die Erkenntnis des Menschen in seiner Trieb- und Geschlechtsnatur. Der pubertierende Junge beginnt zu onanieren. Doch damit das Fräulein Stark dies nicht bemerkt und das befleckte Bettlaken ihr nicht von seinen heimlichen Lüsten erzählt, verwendet er dazu die schwarzen Kniesocken, die ihm das Fräulein Abend für Abend strickt. Diese Wollsocken verweisen (literarisch) durch ihre Verbindung mit den Gewissensbissen auf eine akute Bedrohung, nämlich auf den Tag, an dem sich der junge Mann buchstäblich „auf die Socken machen" muss, oder anders: auf den Tag seiner Vertreibung aus seinem Ferienparadies, an dem ihn das Auto ins Internat nach Einsiedeln abholen wird. Im Sommerparadies dieser Bibliothek aber gibt es auch die Verzeihung, die Erlösung von aller Angst und allem schlechten Gewissen. Als das Fräulein Stark und der ängstlich-beschämte Junge am Tag seiner Abreise den Deckel des randvoll mit schwarzen Kniesocken gefüllten Koffers zupressen, flüstert sie ihm zum Abschied zu: „Keine Angst, dummer Bub. Die Socken sind gewaschen." So hat Thomas Hürlimann in diesem Buch, am Beginn des digitalen Zeitalters, das Stück einer untergehenden Welt in die Literatur und damit in die Erinnerung der Menschen gerettet, ein Stück von Gutenbergs Galaxie, die alte, ehrwürdige, heilende Bibliothek, „Psychesiatreion". Mitten hinein in das Gemälde des (verlorenen) Paradieses aber, das seine heilende Macht an dem pubertierenden Jungen bewährt, setzt Hürlimann den konkreten Menschen; er (oder besser: sie) ist stark, glaubensstark, zornesstark, liebesstark, ausdauernd lebensstark für drei Generationen, denn Fräulein Stark diente schon dem Vater des Prälaten, diesem selbst und seinem Neffen. Sie ist eine erfahrene Frau und, was nicht mehr erzählt wird, sie ist vielleicht sogar sterbensstark. Hürlimann zeichnet das Gesicht eines Engels mit menschlichem Gesicht, das Bild einer Frau, die heilend wirkt, die der Engel ist im Bücherparadies. Verschwundene Gesichter, sagt Hürlimann, suche er zu finden, „die weggelogene Geschichte wiederzufinden", also die Verschollenen, die Vergessenen und die Verbrannten zu verwandeln in lebendig erinnernde Gegenwart. „[...] mit und dank unserer Literatur wachsen auch wir mit der Wirklichkeit wieder zusammen, werden auch wir wieder konkret. Man sehe den Wegen im Abendlicht an, hat Robert Walser geschrieben, dass sie Heimwege sind." Das ist Frömmigkeit heute, auch wenn sie nicht so genannt wird. Ihr Gedächtnis ist die Literatur. Übrigens: das Urbild des Fräulein Stark in der Wirklichkeit, das reale Fräulein, soll sich über das Buch nicht wie ihr Prälat geärgert, sondern den Thomas zu ihrem Universalerben eingesetzt haben.

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5. Joseph H. H. Weiler „Der Fall Steinmann" Wenn der Mensch nach Gottes Bild geschaffen ist, als Mann und als Frau, wie es im 1. Buch Mose heißt, dann ist die Suche nach dem Menschenbild, zu der sich unsere Zeit mit ganz und gar unbefangener Frömmigkeit plötzlich wieder aufgemacht hat, auch eine Suche nach dem Bild des Schöpfers. Joseph H. H. Weilers, auf Englisch geschriebenes, aber nur in deutscher Sprache erschienenes Buch Der Fall Steinmann, das ich für eine der schönsten Erzählungen des Jahrzehnts an der letzten Jahrhundertwende halte, ist buchstäblich das Buch einer Bildersuche. Von allem Vergangenen nämlich, dem Guten wie dem Bösen, sind uns nur Bilder geblieben, sie zum Leben zu erwecken, zu unserem Leben, damit Erinnertes Gegenwart wird, ist Aufgabe der Literatur. Der Ich-Erzähler im Fall Steinmann sucht und findet Fotografien einer jungen Frau, die im Dickicht nationalsozialistischer Verbrechen verschollen ist. Joseph Halevi Horowitz Weiler ist 1951 in Johannesburg als Sohn eines litauischen Rabbiners geboren und aufgewachsen in Jerusalem. Er ist heute ein bekannter Professor für Völker- und Europarecht an der Law School der New York University und zugleich am Europakolleg in Brügge. Das Buch Der Fall Steinmann ist sein erstes (bisher einziges) belletristisches Buch. Es trägt im englischen Original den Titel Removed, ist 1991 fertiggestellt und 1998 erstmals in deutscher Sprache gedruckt worden. Weiler siedelt seine Erzählung in einem ihm vertrauten Milieu an, in den Auseinandersetzungen und Intrigen der Juristischen Fakultät einer alten deutschen Universität. Dort ist der ehemalige Assistent und jetzige Nachfolger des Professors für Öffentliches Recht Theodor Steinmann auf der Suche nach den Gründen für die vorzeitige Emeritierung seines Lehrers. Er stößt dabei auf die Geschichte einer Freundschaft und einer Liebe und verliebt sich in eine ermordete Frau: „Wenn ich in pedantischer Stimmung bin [heißt es zu Beginn dieser Erzählung], [...] neige ich dazu, die Geschichte am 29. Februar 1908 in Bremen anfangen zu lassen, als am selben Tag und im selben Krankenhaus [...] Theodor Steinmann und Leon Oppenheimer geboren wurden. Sie begegneten sich zum erstenmal auf dem Gymnasium und wurden Freunde. [...] Aber vielleicht liegt der eigentliche Anfang auch in Oxford zu Beginn der dreißiger Jahre, als Oppenheimer und dann auch Steinmann Rachel da Silva trafen, die in ihrer Familie und bei ihren Freunden Claudel hieß. Manchmal ziehe ich es vor, dort anzufangen. Wenn die ganze Erinnerung auf mir lastet, macht dieser Anfang daraus sicherlich eine Liebesgeschichte, die zwar unbedeutend und traurig ist, mir aber nicht mehr aus dem Kopf geht. Haben Sie sich schon einmal in jemanden verliebt, dem Sie nie begegnet sind?

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Da ich der Erzähler bin, ist es auch meine Geschichte [...]."

Weiler erzählt die Geschichte einer detektivischen Suche nach verbrannten Gesichtern. Bei dieser Suche findet der Erzähler in den drei Fotografien schließlich auch drei Geschichten: die Geschichte einer Freundschaft, die einer Liebe und seine eigene Geschichte, in der sich Freundschaft (zu seinem Lehrer) und Liebe mischen. Der junge Jurist trifft bei seiner Spurensuche in Oxford auf die Lebensgeschichte von Claudel Oppenheimer, geb. Rachel da Silva, die mit ihrem Mann, Leon Oppenheimer, zu Beginn der dreißiger Jahre von England nach Deutschland ging und dort das Schicksal der deutschen Juden teilte. Er findet drei Bilder dieser toten Frau, in die er sich so verliebt, dass ihn die Entdeckung ihrer Ermordung trifft, als sei tatsächlich die Frau seines Lebens gestorben. Zwei Bilder des Glücks, aufgenommen in Oxford und in Calais, und ein Bild des Unglücks - ein Foto im Erinnerungsalbum des von ihm aufgestöberten ehemaligen KZ-Wächters aus dem Vernichtungslager Maidanek. Aber die Erzählung endet nicht im Schock der Entdeckung von der Vergewaltigung und der Ermordung der geliebten Toten, sie endet damit, dass der Sucher und der Entdecker von Menschenbildern Claudels Bruder, dem einzigen Überlebenden der Familie, in Brighton vom Ergebnis seiner Suche berichten will. So trifft er dort auf einen alten Mann und ein kleines, Claudel gerufenes, Mädchen, dessen Enkelin. „Mein Name ist Rachel Chaya da Silva", sagt sie zu dem unentschlossenen Besucher am Gartentor. „Mein Saba glaubt, du hast dich verlaufen ..." Dann stockt das Kind und aus der Vordertür hört man eine Stimme rufen: „Claudel, Claudel, und, als von dem Mädchen keine Antwort kam, noch einmal mit ärgerlicher Stimme: Rachel! Chaya! Komm jetzt bitte hinein." Das Kind aber schaut voll Staunen auf zu dem Mann, der vor ihm steht, der zu lächeln versucht, während ihm die Tränen über das Gesicht laufen. „'Sag deinem Großvater, dass ich mich nicht verlaufen habe', sagte ich, drehte mich um und ging den Hügel hinab zurück an die See." Und wenige Sätze später endet die Erzählung mit den Worten: „Falls es jemand nicht weiß oder nicht erraten hat: ,Saba' ist das hebräische Wort für ,Opa'; ,Chaya', wie ich erfahren habe, ein verbreiteter Name, bedeutet: ,Sie, die lebt.'" Dieses Buch erzählt die Geschichte einer Suche nach dem konkreten Menschen, seinen Bildern, seinem Glück und seinem Unglück, es ist also gerade kein Beitrag zur Holocaust-Literatur, keiner der zahllosen Texte zur Bewältigungs- und Entschuldigungsliteratur, sondern ein Buch zur Konkretion dessen, was im Dunkel der Verangenheit verlorenzugehen droht, es erzählt die Suche eines Mitlebenden nach den Bildern konkreter Menschen, bei deren Anblick es zumindest so ist, als ob sie lebten. Dieses Buch erzählt

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von einer Erinnerung, die gleichsam unter Strom steht (wie dies Aleida Assmann genannt hat). Chaya heißt das Kind: sie die lebt.

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In Florida hat im April 2006 ein Ozeanograph eine rationale Erklärung dafür angeboten, warum Jesus über den See Genezareth gehen konnte, ohne im Wasser zu versinken. Auch wenn dies nicht mehr als der Propagandagag eines amerikanischen Wissenschaftlers war, der seine klimahistorischen Arbeiten populär machen wollte, steht der Versuch doch ganz in der Tradition rationalistischer Wundererklärungen des 18. Jahrhunderts. Ihnen war noch Edzard Schaper in seinem „Leben Jesu" (1936) verfallen, ehe er sich 1955 in einem „Widerruf und Bekenntnis" überschriebenen Nachwort dazu selbst korrigierte. Aus im Nahen Osten periodisch einfallenden Temperaturstürzen und der Wasserkonsistenz des Sees nämlich haben die Klimahistoriker auf die Möglichkeit geschlossen, dass sich in den letzten 12.000 Jahren, auch zur Lebenszeit Jesu, begehbares Eis im See gebildet habe, über das Jesus hätte laufen können. Das ist die naturwissenschaftlich-naive Erklärung einer biblischen Erzählung, die sich einer solchen Erklärung entzieht. Hans Magnus Enzensberger (geboren 1929) hat in einem Gedicht die Wanderung über den See Genezareth im Rahmen jener immanenten Frömmigkeitsauffassung gedeutet, die heute Kennzeichen der neuen Unbefangenheit gegenüber Religion und Transzendenz ist. Auch sein Gedicht steht in der gedanklichen Tradition der europäischen Aufklärung, aber nicht in der Tradition ihrer Gott leugnenden, sondern in der ihrer Gott suchenden Linie. Ohnehin machen wir uns kaum eine Vorstellung von der Glaubensstärke der Menschen des 18. Jahrhunderts, da die mehrfachen Rationalisierungswellen, durch die wir hindurchgegangen sind, den Menschen der frühen Neuzeit völlig unbekannt gewesen sind. Der mathematisierende Verstand erkennt bei Enzensberger das nicht zu berechnende Wunder des Lebens und des Überlebens als den Kern des Gleichnisses der Bibel. Der Autor bedient sich einer typologisch-moralischen Bibeldeutung und bekräftigt damit, dass die Bibel (jenseits aller kreationistischen Verirrungen) ein Buch ist, das mehr über den Menschen, seine Herkunft, seine Entwicklung, sein zerbrechliches und gefährdetes Leben und sogar die mathematisch zu begründende Unwahrscheinlichkeit, im modernen Großstadtverkehr zu überleben, weiß, als alle anderen Bücher dieser Welt. Überschrieben ist das Gedicht Unbemerktes Mirakel und in dem Kiosk genannten Band neuer Gedichte 1995 gedruckt. Es spielt wohl im Jahr 1991; denn das Geburtsdatum des Siebzigjährigen, von dem es erzählt, ist die Schlacht am Anna-Berg

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in Oberschlesien 1921. So werden alle Gefahren eines Siebzigjährigen, zugehörig den Generationen aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, aufgezählt, die Sturzgeburt in der Scheune, während der Volkstumskämpfe in Oberschlesien, der Kindheitsunfall auf dem heimischen Weiher, beim Schlittschuhfahren, die Arbeitslosigkeit in jungen Jahren, die Teilnahme an der letzten, verlustreichen Großoffensive der deutschen Armeen in Russland, bei Kursk 1943, der Schlaganfall (offenkundig handelt es sich um einen Bürger der alten Bundesrepublik) auf der Ferieninsel und nun, in Rente, der tägliche Gang zum Milchholen. Doch die Alltäglichkeit ist gefahrlicher als alle exorbitanten Gefahren dieses Lebens. Nur - die Gefahr wird kleiner durch die Sicherheit der Gewöhnung, in welcher der Siebzigjährige die Straße überquert, täglich, zwar stolpernd, aber doch unverletzt wandelnd wie Jesus über den See: „Vom See Genezareth hat er vermutlich nie gehört, der Siebzigjährige dort an der Ampel. Die Mutter ging nicht in die Kirche. Wie geringfügig seine Chancen sind, heil über die Kreuzung zu kommen, mit dem Spitz an der Leine! Wunderbar, daß er überhaupt aufgetaucht ist aus dem Neolithikum, daß er die Sturzgeburt überlebt hat, [...] dann das splitternde Eis auf dem Weiher, mit sieben, beim Schlittschuhlauf, später jahrelang Stempeln, Trommelfeuer bei Kursk, Schlaganfall auf Mallorca, und dennoch tausendmal die tödliche Fahrbahn überquert beim Milchholen - unwahrscheinlich, sagen wir: zehn hoch minus neunzehn, daß er davongekommen ist bis auf den heutigen Tag, stolpernd, doch trockenen Fußes auf seiner langen, langen Wanderung über den See Genezareth, von der er so wenig weiß wie sein Hündchen."

Hinweise Das Manuskript des vorstehenden Textes wurde 2009 abgeschlossen. Die bis zum Druck erschienenen Forschungsbeiträge, insbesondere zum Werk

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von Patrick Roth, konnten nicht mehr einbezogen werden. - Zitiert werden folgende Texte und Studien: Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999 - Elias Canetti: Der Beruf des Dichters. In: Die Zeit, 6. Februar 1976, S.35f. Hans Eichner: Kahn und Engelmann. Eine Familien-Saga, Wien 2000 Hans Magnus Enzensberger: Kiosk. Neue Gedichte, Frankfurt a.M. 1995 Hubert Frankemölle: Frömmigkeit. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd.IV, Freiburg, Basel, Rom, Wien 1995, Sp. 166 - 168 - Wolfgang Frühwald: Das Gedächtnis der Frömmigkeit. Religion, Kirche und Literatur in Deutschland vom Barock bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2008 Erich Garhammer: „Erzählen: das Band zwischen Himmel und Erde". Zur Poetologie Thomas Hürlimanns. In: Stimmen der Zeit 226 (Mai 2008), S.350 - 353 - Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a.M. 2001 - Thomas Hürlimann: Fräulein Stark. Novelle, Zürich 2001 - Thomas Hürlimann: Das Einsiedler Welttheater 2007. Nach Calderón de la Barca, Zürich 2007 Hugo Loetscher: Herbst in der Großen Orange, Zürich 1982 - Theresia Mende: Ijob. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd.V, Freiburg, Basel, Rom, Wien 1996, Sp. 414f. - Johann Baptist Metz: Zwischen Erinnern und Vergessen. Der Christ im Umgang mit der Geschichte. In: Metamorphosen des Eingedenkens. Gedenkschrift der Katholisch-theologischen Fakultät der Karl Franzens-Universität Graz 1945 - 1995, Graz, Wien, Köln 1995, S.25 - 34 - Patrick Roth: Riverside. Christusnovelle, Frankfurt a.M. 1996 Patrick Roth: Magdalena am Grab, Frankfurt a.M. 2002 - Patrick Roth: Lichternacht. Weihnachtsgeschichte. Mit einem Essay von Michaela KoppMarx, Frankfurt a.M. 2006 - Edzard Schaper: Das Leben Jesu. Mit einem Nachwort ,Widerruf und Bekenntnis', Frankfurt a.M./Hamburg 1955 Arnold Stadler: Salvatore, Frankfurt a.M. 2008 - Joseph H. H. Weiler: Der Fall Steinmann. Aus dem Englischen von Michael Cochu, Bremen 1998.

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Wie trägt die Begegnung mit der Spiritualität anderer Religionen und Weltanschauungen bei zu einer aufgeklärten christlichen Frömmigkeit? 1. Vorbedingungen in der Religions- und Geistesgeschichte Europas

Seit der Renaissance wirkte sich die Kirchenfremdheit immer stärker aus. Sie setzte neben der theologischen bzw. christlich-philosophischen Behandlung von Religion Untersuchungsweisen durch, die in historischphilologischer und rationalistischer Kritik auf die Quellen zurückgriffen und ihre kirchenunabhängige Deutung auf der Grundlage der jedem einzelnen geschenkten Vernunft proklamierten. Ansätze zu einer Religionswissenschaft in der Antike konnten daraufhin neue Anstöße geben. Auch sie gingen von einem gewissen Bruch mit der angestammten religiösen Tradition aus und formulierten sich sowohl in mehr oder weniger negativer rationalistischer Kritik an der Religion als auch im positiven Versuch, das Phänomen der mystischen und bildlichen Darstellung zu verstehen. Diese wurde dann von ihrem Symbolcharakter her gedeutet, nach dem Begriffe und Namen auf das verborgene Wesen der Gottheit hinweisen, wie in der Philosophie Heraklits, oder rationalistisch als Allegorie, d.h. in dem Sinne, dass sie eigentlich etwas anderes als den Wortsinn meinten, nämlich Naturkräfte, Moralprinzipien, Lebenselemente. Oder sie wurden als bewusst in Bildform gekleidete rationale Wahrheiten verstanden, wie sie vor allem der Neuplatonismus aus jeder religiösen Überlieferung als relative Wahrheiten erhob. Statt Religion für eine verschieden motivierte bewusste Erfindung zu halten, wie von den Sophisten proklamiert, fand sich auch schon bei Aristoteles die Rückführung der Religion auf Erleben, nämlich auf innere seelische Erfahrungen und auf die Verwunderung über die Natur. Neben den an solche antike Tradition anknüpfenden Humanisten gab die Reformation einen Impuls, der an der machtbewußten Haltung der Kirche Kritik übte und den Einzelnen zum persönlichen Bemühen um die gottgewollte Religion rief und doch gerade den Rückbezug auf das biblische Evangelium zugrunde legte. Nachdem die Seereisen des 15. und 16. Jahrhunderts über die vereinzelten Beschreibungen fremder Kultur und Religion im Mittelalter hinaus eine Fülle neuen religionsgeschichtlichen Materials

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lieferten und weiten Kreisen in Europa ungekannte religiöse Welten außerhalb des Christentums sichtbar machten, hatte dann die Aufklärung den christlichen Glauben selbst der Religionsvergleichung unterworfen. Sie machte die verstandesmäßige Einsicht des Einzelnen bzw. den nur verschiedenartig ausgedrückten, überall gleichen religiösen Grundgehalt vernünftiger Art in der natürlichen Religion zum Maßstab der Gültigkeit der religiösen Tradition. 1 Wir verbinden aufgeklärte christliche Frömmigkeit mit dem Drama „Nathan der Weise" (1779), dem großen Aufruf des Pastorensohns und Aufklärers Lessing zur Toleranz: weil wohl der Gott, auf den sich Juden, Christen und Muslime beriefen, selbst allein nur urteilen könne, welcher Glaube der wahre sei. Sie alle sollten ihn und die Menschen je nach ihrem Glauben nur von ganzem Herzen lieben. Denn bisher trat die Gemeinsamkeit des Menschengeschlechts hinter der Unterscheidung zwischen Christen, Häretikern und Nichtchristen zurück. Als man im Zuge der Französischen Revolution 1794/95 einen nationalen Kult der Vernunft einrichtete, bekannte sich das Direktorium bis 1799 offiziell zum Deismus als natürlichem Gottesglauben jenseits der einzelnen Religionen. Doch dass man auf diese nicht verzichten könne, war Friedrich Schleiermachers großes Thema in seiner weit verbreiteten Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" von 1799: Religion gründet in einzelnen Anschauungen und Gefühlen und tritt so immer nur in Erscheinung, indem eine einzelne religiöse Anschauung als „Zentralpunkt" einer geschichtlich ausgestalteten Religion fungiert. 2 Lessing und mehr noch Herder und die Romantiker waren es schließlich gewesen, die den Konstruktionen der das Allgemeine betonenden Ratio gegenüber die geschichtliche Individualität und das Irrationale in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Religion wesentlich und das Gefühl zum Erkenntnisorgan werden ließen. Um 1800 hatte die Erschließung der Quellen der persischen, indischen, ägyptischen und babylonischen Religionen begonnen, hatte Schleiermacher mit der Bestimmung der Religion als Anschauung und Gefühl und ihrer Verankerung im Gemüt, mit dem der Mensch Teil des Unendlichen und Ewigen ist, den psychologischen Ansatz in der Theologie ausformuliert, hatte Hegel dem spekulativen Idealismus

1 Christoph Elsas, Selbstverständnis/Forschungsdisziplinen/Methoden der Religionenwissenschaft, in: Jürgen Lott (Hg.), Sachkunde Religion II: Religionen - Religionenwissenschaft (Kohlhammer - TB 1031/2), Stuttgart u.a. 1985, 253-282, hier 256; vgl. allgemein Ch. Elsas, Religionsgeschichte Europas, Darmstadt 2002, 179-221: Von Renaissance und Konfessionalisierung zu Aufklärung und Säkularstaat. 2

Christoph Elsas, Die Welt der Religionen aus protestantischer Perspektive, in: Richard Faber (Hg.), Zwischen Affirmation und Machtkritik. Zur Geschichte des Protestantismus und protestantischer Mentalitäten, Zürich 2005, 165-181, hier 168.

Die Begegnung mit der Spiritualität anderer Religionen

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historische Betrachtungsweisen verbunden. In der Religionskritik Feuerbachs (1804—1872) war es zum Umschlag des beiden in gewisser Weise gemeinsamen Bewusstseins des Unendlichen in die Unendlichkeit des menschlichen Bewusstseins gekommen. 3

2. Vergleichende Religionswissenschaft und Kant- und Schleiermacher-Rezeption im Protestantismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Mit Friedrich Max Müller kam es 1867 zur Begründung der Vergleichenden Religionswissenschaft. Sein Anliegen war es, herauszufinden, was Religion ist, wie sie in der menschlichen Seele verankert ist und welchen Gesetzen sie in ihrem geschichtlichen Wachstum folgt. Müller zitiert dabei Schleiermacher („Religion besteht in unserem Bewusstsein der absoluten Abhängigkeit") 4 für seine Theorie, dass Religion eine geistige Fähigkeit sei, das Unendliche aus innerlich bewegenden Naturphänomenen in wechselnden Gestalten und unter verschiedenen Namen zu erfassen, weshalb sie im Kontext der jeweiligen Gesamtkultur zu erforschen sei. Er diskutierte deshalb „sogar die möglichen Äquivalente, die sich zum Begriff ,Religion' in den einschlägigen Quellensprachen anderer Religionen finden lassen", und erfasste dabei etwa „durchaus den primär praktischen gesetzesbezogenen Aspekt des hinduistischen Begriffs dharma" 5 . Doch war für ihn wohl auf Grund seiner evangelischen Sozialisation Religion vor allem persönliche Gläubigkeit, ebenso wie dann für Rudolf Otto und Wilfred Cantwell Smith 6 als weitere Klassiker der Religionswissenschaft. 7 In der evangelischen Theologie begann 1874 mit Albrecht Ritsehl eine Kant-Rezeption, die sich in bedeutsamer Kritik an Schleiermachers passivem Verständnis der Religion niederschlägt: Mit Kant ist die Religion mit der psychischen Funktion des Willens verbunden zu sehen. Sie ist gemeinschaftliche ethische Aktivität im Verhältnis zu Gott und Welt, Herrschaft über die Welt unter dem Gesichtspunkt der erhabenen Macht Gottes, die die Seligkeit des Menschen zum Zweck hat. Eine Mittelstellung zwischen

Elsas, Selbstverständnis, ebd., 256. Friedrich Max Müller, Vorlesungen über den Ursprung und die Entwicklung der Religion (Lectures 1878), dt. Straßburg 1880, 19; vgl. Christoph Elsas, Abhängigkeitsgefühl I., religionswissenschaftlich, in: RGG 4 1 (1998), 63f. 4

5 Hans-Michael Haußig, Religion, Recht und Religionswissenschaft, in: Gesine Palmer u.a. (Hg.), Torah-Nomos-lus: abendländischer Antinomismus und der Traum vom herrschaftsfreien Raum, Berlin 1999, 108-122, hier 114. 6 Vgl. ebd., 112fr. 7 Elsas, Die Welt, ebd., 169.

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Schleiermacher und Ritsehl nahm Julius Kaftan ein, der 1881 für das Wesen der christlichen Religion unter Eliminierung des Willens die Lehre vom Gefühl mit der Theorie der Werturteile zu verbinden suchte, um an der Mystik eines mit Christus in Gott verborgenen Lebens der Seele festzuhalten. Ebenfalls auf Ritsehl fußend betonte demgegenüber Wilhelm Herrmann 1886 das individuelle Erleben, in dem ein Außen in das Subjekt eintritt, als Zugang zur Lebenswirklichkeit der Religion. Damit überwand er die, wenn auch transzendentale, „Gegebenheit" der frommen Gemütszustände im Sinne Schleiermachers. Da es Zweck der Religion ist, das Verhältnis des Menschen zur Welt zu regeln, ist eine Flucht in die sich selbst genügende Gefühlserregung der Mystik nicht möglich. Religion ist eine eigentümliche Wirklichkeitserfahrung auf der Grundlage der Offenbarung als einer Kundgebung des auf unsere Seligkeit gerichteten göttlichen Willens. Die Aneignung solcher Offenbarung geschieht da, wo die als Erscheinung reiner Güte erlebte geistige Macht für uns ein unserem Erlebnis reiner Hingabe entsprechendes Leben gewinnt.8 Nun proklamierte zur Jahrhundertwende innerhalb der liberalen protestantischen Theologie einerseits der Kirchengeschichtler Adolf von Harnack 1901 in seiner Antrittsrede als Rektor der Berliner Universität gegenüber der These Max Müllers: „Wer eine Religion kennt, kennt keine" (Introduction to the Science of Religion, 1893) dies vom Studium der „christlichen Religion": „Wer diese Religion nicht kennt, kennt keine, und wer sie samt ihrer Geschichte kennt, kennt alle." Harnack benannte dabei „den vereinfachten und ins große gesteigerten Weltverkehr mit den neuen Pflichten, die er uns auferlegt", betonte aber gleichzeitig: „Wahrhaft sichere Erkenntnisse können nur an der lebendigen Religion, an der Erkenntnis der Frömmigkeit selbst gewonnen werden."9 Eine Konsequenz daraus war, dass der zu Religionen in der Spätantike forschende evangelische Theologe Carl Clemen ab 1910 eine außerordentliche und 1920 eine ordentliche Professur für Religionswissenschaft in der philosophischen Fakultät der Bonner Universität erhielt, nachdem er zunächst als Neutestamentier programmatisch für eine sich wissenschaftlich verstehende Theologie die Anwendung der religionswissenschaftlichen Methode für notwendig erklärt hatte. Wie er vortrug,

8

Christoph Elsas, Problemgeschiehtliche Einleitung, in: Ders. (Hg.), Religion. Ein Jahrhundert theologischer, philosophischer, soziologischer und psychologischer Interpretationsansätze, München 1975,20f. (= Theologische Bücherei: Systematische Theologie, Bd. 56). 9 Adolf von Harnack, Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte nebst einem Nachwort, in: ders., Reden und Aufsätze, 2. Band, Gießen 2 1906, 159-187, hier 166 und 171, zitiert nach Rolf Schieder, Sind Religionen gefährlich?, Berlin 2008, 256-259, der den bei Harnack damit verbundenen Kulturimperialismus kritisiert, aber sein Plädoyer für theologische Fakultäten mit Verweis auf Verbesserung des Wissens nicht nur über die, sondern auch in den Religionen unterstützt.

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hinderte die Vergleichung des Christentums mit anderen Religionen keineswegs, dass der Wissenschaftler trotz jener vorläufigen Gleichstellung vom Vorzug einer bestimmten Religion und Kirche überzeugt sein kann, zwang auch nicht zur Relativierung der Idee des Christentums, während der Versuch, es aus anderen Religionen zu erklären, gerade zur Erkenntnis seiner inhaltlichen Originalität führt, die nur in entlehnte Formen gegossen ist.10 Andererseits hatte sich um die Jahrhundertwende, vorbereitet durch Paul A. de Lagardes orientalistische Studien und Verbindung von religiöser und nationaler Verwirklichung, aber auch durch Cornells P. Tieles Verständnis der religiösen Entwicklung als Reinigung von nichtreligiösen Elementen in einem inneren Prozess, für die sich klärende Idee vollkommenen Ausdruck zu finden, in Göttingen die sog. Religionsgeschichtliche Schule durchgesetzt. Dass ein auf den Wahrheitsgehalt der Religion abzielender Wesensbegriff kritisch auf die verschiedenen historischen Religionsbildungen angewandt werden muss, führte Ernst Troeltsch zu einer geschichtsphilosophischen Untersuchung. Seit seinem 1901 gehaltenen Vortrag zu diesem Thema konnte er die wissenschaftliche Befassung mit Religion nur auf vielfachem, hypothetisch nachempfundenem Erleben begründet sehen: „Die endgültige Entscheidung zwischen diesen so erlebten Werten ist dann freilich eine letzte axiomatische Tat, die aber ihr Motiv sich durch Abwägung und Abstufung der verglichenen Werte und damit durch Beziehung auf einen gemeinsamen Begriff verdeutlichen wird."11 Nur durch Metalogik erfassbar, bilde der Gottesgedanke „oder irgendein Analogon zu ihm" als Allgeist das Umgreifende, zu dem die individuelle Totalität (Monade) geschichtlichen Lebens in ein Partizipationsverhältnis zu setzen ist - wie er später anknüpfend an Malebranche und Leibniz ausführte.12 Diese „in der unbewussten Tiefe des einheitlichen menschlichen Geistes geheimnisvoll wirkende Bewegung des göttlichen"13 ermöglichte auch eine religiöse Gesamtgeschichte. Von hier aus konnte Troeltsch noch 1902 im Christentum den bisherigen Höhepunkt und „Konvergenzpunkt aller erkennbaren Entwicklungsrichtungen der Religion"14 sehen, weil es als gesammeltste Offenbarung personalistischer Religiosität auch den hochste10

Vgl. Elsas, Selbstverständnis, ebd., 259. Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Tübingen ('1902) 21912 = Gütersloh 1985, XVf; vgl. die neue Edition von Trutz RendtorfCStefan Pautler (Hg.), Kritische Gesamtausgabe Band 5, Berlin/New York 1998 und Elsas, Religion, ebd., 32f. 12 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Ges. Schriften III, Tübingen 1922, 183f; vgl. jetzt die neue Edition von Friedrich Wilhelm Graf/Matthias Schloßberger (Hg.), Kritische Gesamtausgabe Band 16/1-2, Berlin/New York 2008. 13 Ernst Troeltsch, Christentum und Religionsgeschichte (1897), in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Ges. Schriften II, Tübingen 21922, 340. 14 Troeltsch, Absolutheit, ebd., 73. 11

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henden indischen Erlösungsreligionen als Naturreligionen um die Erfahrung persönlichen Lebens voraus sei. In der Folgezeit - nach dem Weltkrieg kamen ihm allerdings Zweifel an einem gemeinsamen Sinn- und Kulturgehalt der Menschheit, sodass er nur noch für den jeweiligen Kulturkreis des Betrachters die Konstruktion einer „Sinneinheit kontinuierlicher Entwicklung" gegeben sah, auch wenn das anderen Kulturkreisen Zugehörige „als erläuternder Gegensatz, als Analogie" verwendet werden kann15. So traten in einem posthum 1924 veröffentlichten Vortrag von 1922 die individuellen religiösen Maßstäbe der verschiedenen Menschengruppen in den Vordergrund.16 Aufklärung und Frömmigkeit vereinten sich auch in Rudolf Ottos Ansatz „Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie", in dem er 1909 mit Fries die Wendung zu einer Erfahrungswissenschaft nahm: „Erscheinung ist nicht ,Schein', ist nicht ein aus unserer Subjektivität hervorgehendes Eigenprodukt unserer selbst, sondern ist Erscheinung der Dinge selber für uns".17 Für Otto bleiben alle religiösen Tatsachen stumm, wenn wir sie nicht durch eigenes Nachfühlen (Empathie) erschließen können. Der Ausgangspunkt der Philosophie Kants - bei den Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens - hat sich bei ihm auf die Möglichkeit des erkennenden Menschen verschoben, eigene Erfahrungen als religiöse zu qualifizieren. Deren Wirklichkeitscharakter sei auf alles das zu übertragen, was er selber aus jüdisch-christlicher Tradition als heilig kannte. Allerdings kann man die Daten der Religionsgeschichte so, wie man sie empfinden kann, nur auf die eigene Tradition religiöser Erfahrungen beziehen und mit der skeptischen Grundhaltung eines Nicht-Gläubigen zu einer dialogischen Religionspsychologie kombinieren.18 In einer Züricher Ringvorlesung Homo naturaliter religiosus: gehört Religion notwendig zum Mensch-Sein? argumentierte Ingolf Dalferth, dass die biologischen Anlagen den Menschen dazu bestimmen, im Rahmen der ihm jeweils offen stehenden Lebensmöglichkeiten selbst entscheiden zu müssen und dabei faktisch von einem bestimmten Verständnis von Menschsein geleitet zu sein: Theologisch gesehen ist der Mensch zur spezifischen Kommunikation als Person im Gegenüber zu Gott und Mitmenschen befähigt. Nicht mit einem religiösen Apriori, sondern mit allen jeweiligen

Troeltsch, Historismus, ebd., 75. Ernst Troeltsch, Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen, in: ders., Der Historismus und seine Überwindung, Berlin 1922 (= Aalen 1966); jetzt Kritische Gesamtausgabe Band 17, Berlin/New York 2006, 105-118. 17 Tübingen 1909, 50; zitiert nach Carsten Colpe, Wie universal ist das Heilige? In: HansJürgen Klimkeit (Hg.), Vergleichen und Verstehen in der Religionswissenschaft, Wiesbaden 1997, 1-12, hier 9. 18 Michael Utsch, Religionspsychologie, Stuttgart u.a. 1998, bes. 41, 132, 228-231. 16

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menschlichen Anlagen ist er dazu bestimmt, sich aktiv das Gottesverhältnis anzueignen, zu dem er sich verhalten muss19. Religionswissenschaftlich kann man mit Karl-Heinz Ohlig nur sagen, der Mensch habe immer mit ,Gott' zu tun, wenn Gott die Umschreibung der menschlichen Verwiesenheit auf einen Sinn in und hinter ,allem' ist und wenn der ,Sinn für uns' von uns nicht machbar, ,transzendent' ist - er orientiert sich an einem übermächtigen ,Plus' neben situativ effizienter Bewältigung.20 Mit solchen Abwandlungen sind die feinen religionspsychologischen Beobachtungen von Rudolf Otto weiter aktuell.21

3. Zur Hermeneutik interreligiöser Begegnungen im deutschen Alltag um die Jahrtausendwende Dem „Religionsmonitor 2008" der Bertelsmann-Stiftung zufolge haben ca. 30 % der Deutschen zu religiösen Fragen keinen Zugang und stimmen sonst 67% aller nach Eigeneinschätzung hochreligiösen und 26% aller religiösen Deutschen folgenden Aussagen zu: „Für mich hat jede Religion einen wahren Kern" und „Ich finde, man sollte gegenüber allen Religionen offen sein".22 Aber auch bei aufgeklärter Offenheit für Fremdes ist von bleibenden Konflikten bei interreligiösen Begegnungen auszugehen, und es kann nur darum gehen, sich bewusst zu halten, dass sie kein herrschaftsfreier Diskurs sind, und Konfliktfahigkeit einzuüben: „Sprache, Gestik, Kleider, Verhaltensregeln sind Grenzzeichen, ,limitische Symbole' (W.E. Mühlmann) nach außen und innen [...] Der Vereinfachungsmechanismus hilft, den Feind oder Freund auszumachen und Zuordnungen vornehmen zu können." Aus solchen ethnologischen Beobachtungen hat Theo Sundermeier zu Recht gefolgert: „Mit Sympathie den Zeichen der anderen entgegentreten, heißt an erster Stelle, sie nicht als gegen uns gerichtete Abgrenzungszeichen zu verstehen, sondern als Signale des Andersseins, als Schutzzeichen für

Ingolf Dalferth, Notwendig religiös? Von der Vermeidbarkeit der Religion und der Unvermeidlichkeit Gottes, in: Fritz Stolz (Hg.), Studia religiosa Helvetica. Jahrbuch 3, 1997, 200ff. 20 Karl-Heinz Ohlig, Religion in der Geschichte der Menschheit. Die Entwicklung des religiösen Bewußtseins, Darmstadt 2002, 16ff. 21 Christoph Elsas, Interreligiöser Dialog mit Außen- und Innensicht zu Bild und Wort: Personalisierung in der Religionswissenschaft, in: Hans-Martin Barth/ders. (Hg.), Bild und Bildlosigkeit. Beiträge zum interreligiösen Dialog. Rudolf-Otto-Symposium 1993 (Rissen 1994) 177ff; ders., Religionsdialog und Religionserziehung - Rudolf Otto weitergedacht, in: H.-M. Barth/ders. (Hg.), Religiöse Minderheiten. Potentiale fur Konflikt und Frieden. IV. Internationales RudolfOtto-Symposion (Schenefeld 2004) 390ff. 22 Bertelsmann Stiftung, Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007, 3 3 ^ 3 .

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beide Seiten, nicht voreilig Grenzen zu überschreiten."23 Wie Achtung des Anderen und Einigung zusammengehören, zeigt eine induktiv bei den Situationen ansetzende Untersuchung:24 Ein positiver Bezug zur anderen Religion wird nicht durch Einigung auf allgemeine Leitlinien oder Kriterien, sondern aus der Beziehungskonstellation der Alltagspraxis gefunden. Das bestätigt Sundermeiers praktische Hermeneutik: „Der abendländische Logos darf nicht universalisiert werden, wie das in der Kommunikationstheorie von Habermas geschieht." Denn „die Gleichheit und Gleichstellung aller Menschen als gegeben vorauszusetzen, ist das kostbarste Erbe der Aufklärung. Sie hat jedoch einen einebnenden Charakter. Die Anerkennung der spezifischen Ordnung, in der der Mensch sich jeweils zuhause fühlt, markiert dagegen die Differenz. Die muss in gleicher Wiese anerkannt werden."25 Michael Walzer hat hier von „Zivilisierung der Differenz" gesprochen.26 Dazu gibt es unterschiedliche Zugangswege: Säkularität und buddhistisches Einüben von Gleichmut (upekkha) ermöglichen Koexistenz im Sinne von tolerierendem Nebeneinanderleben mit verschiedenen Traditionen. Die monotheistischen Religionen - und besonders das Christentum mit seiner Überzeugung, dass Gott in Christus alle in Liebe einbeziehen will - drängen im Bewusstsein göttlicher Beauftragung darüberhinaus: auf Konvivenz im Sinne von Zusammenleben, das einander in Konfrontation mit der Wahrheit der Tradition bekannt macht und diese für gemeinsames Überleben auf Konvergenz hin interpretiert.27 Auch neue evangelische Dogmatik beginnt dem erfolgreich Rechnung zu tragen.28

Theo Sundermeier, Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen 1996; dazu Christoph Elsas, Zur Hermeneutik interreligiöser Begegnungen in unserem Alltag, in: Hans-Christoph Goßmann/André Ritter (Hg.), Interreligiöse Begegnungen, Hamburg 2000, 1-18, hier 6f. 24 Vgl. Christiane Paulus, Interreligiose Praxis postmodern. Eine Untersuchung muslimischchristlicher Ehen in der BRD, Frankfurt a.M. 1999. 25 Sundermeier, ebd., 154 und 184; vgl. Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a.M. 1995. 26 So lautet der Untertitel seines Buches von 1998 „Über Toleranz", immer wieder aufgenommen bei Peter Steinacker, Absolutheitsanspruch und Toleranz. Systematisch-Theologische Beiträge zur Begegnung der Religionen, Frankfurt a.M. 2006. 27 Vgl. Rudolf Otto, Parallelen und Konvergenzen in der Religionsgeschichte, in: Ders., Das Gefühl des Oberweltlichen (Sensus numinis), München 1932, 282-305, weitergeführt bei Christoph Elsas, Human Rights, Common Traditions, Varieties of Translations and Possibilities for Convergences in Secular, Christian und Muslim Discussion, in: Ders. u.a. (Hg.), Tradition und Translation. Zum Problem der interkulturellen Übersetzbarkeit religiöser Phänomene. Festschrift für Carsten Colpe, Berlin/New York 1994,435^51. 28 Hans-Martin Barth, Dogmatik: Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen. Ein Lehrbuch, Gütersloh 22002, darin das Literaturverzeichnis 826-836.

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4. Über Leben und Tod interreligiös ins Gespräch kommen mit Eckharts Verbindung von Mystik und Rationalität Zum Teil nicht recht mit neuen Entwicklungen vermittelt, gibt es zum Leben und Sterben in Deutschland eine christliche Frömmigkeitskultur in der Tradition der Bibel samt ihrer bildnerischen und literarischen Ausgestaltung und der Kirchenmusik. Ich nehme dafür die Definition von Carl Heinz Ratschow auf: „Frömmigkeit heißt Lebensgestalt des Glaubens aus und vor Gott"29, und verstehe unter Glauben Ausdrucksformen für ein Urvertrauen darauf, von einem letzten Grund im Leben getragen zu werden. Für Christen und Christinnen ist es das Offenbarwerden von Gottes Liebe in Jesus Christus, das durch „gelassenes Gottvertrauen" „fromm werden" lässt30, so dass man in diesem Sinne mit Walter Sparn auf die Frage nach dem „Wesen des Christentums" mit einem evangelischen Begriff von „Frömmigkeit" antworten kann: Zu einer evangelischen und wohl auch zu einer aufgeklärten Frömmigkeit wird ein Entsprechungsverhältnis „von individuellem Fürsich-Sein (,... niemand Untertan') und sozialer Solidarität (,... jedermann Untertan')" gehören und dann die „Realisierung der individuell und kulturell jeweils möglichen Bildungsfähigkeit in einem religiösen Synkretismus, dessen Bildungsregeln christliche sind".31 „Dieser Begriff, der allerdings weit über die Mitgliedschaft der historisch überlieferten evangelischen Kirchen hinausreicht, unterscheidet evangelisches Christentum von anderer christlicher Religionspraxis oder von andersreligiöser Spiritualität, erlaubt aber nichtsdestoweniger, es mit ,Christentum' im ganzen und ,Religion' überhaupt in ein bestimmtes Verhältnis der Gemeinsamkeit und der Verschiedenheit zu setzen".32 Daneben akzentuiert „Spiritualität" „im aktuellen Wortgebrauch nicht nur die Erfahrung des Geistwirkens, sondern vor allem dessen Pluriformität im individuellen und gemeinschaftlichen Leben und seine Universalität in der Überschreitung institutioneller und dogmatischer Grenzziehungen"33. Einige bei der Rostocker Tagung „Der freie Protestantismus und seine Spiritualität" im März 2009 von Mitreferentlnnen vorgetragene Verhältnisbestimmungen von Protestantismus, Aufklärung und Frömmigkeit helfen, meine Gedanken zu diesem Punkt weiterzufuhren:34 Mit Michael Murrmann-Kahl können aus der Seelsorge-Erfahrung auf Intensivstationen für 29

Carl Heinz Ratschow, Art. Frömmigkeit 2, in: EKL 3 1, 1986, 1397-1400, hier 1400. Walter Sparn, Frömmigkeit als „Wesen des Christentums", in: Dietrich Korsch/Cornelia Richter (Hg.), Das Wesen des Christentums, Marburg 2002, 125-141, hier 141. 31 Ebd., 140. 32 Ebd., 139. 33 Ebd., 136f. 34 Vgl. dazu die entsprechenden Beiträge in diesem Band. 30

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Religion die Emotion als Basis, die Willensäußerung als darauf aufbauende Entscheidung und die kognitive Aneignung für sich selbst dann als die abschließende Identifikation angenommen werden, die darüber entscheiden, was und wer eine Person und ihre Würde trägt. Religionspsychologisch ist mit Susanne Heine festzuhalten, dass Identifikation mit signifikanten Personen zu entsprechender Aneignung für sich selbst hilft. Das bietet durchaus Entsprechungen zu dem von Andreas Kubik herausgestellten Ruhen in allen Wechselfällen des Lebens und der Begegnung mit echten Persönlichkeiten, das die Autoren der „Christlichen Welt" um Martin Rade vergeblich über das Familienoberhaupt zu fördern suchten. In solcher aufgeklärtchristlichen Tradition ist das Ziel eine Lebensfrömmigkeit, die glücklich auf das Leben zurückblickt und dankbar-vertrauensvoll aufs Sterben vorbereitet. Mit Christopher Zarnow kann das an das Bedürfnis nach Verstetigung anknüpfen, das in der Schleiermacher-Tradition zum „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" gehört und die Ganzheitsperspektive der Religiosität als Bestandteil der Gesamtperson ansehen lässt. Mit den kognitiven Aspekten aus der Einheit des seelischen Erlebens - so Roderich Barth - kommt es dabei zu nicht-kirchlicher Frömmigkeit. Schleiermachers Idee der Empfänglichkeit kann sogar weitergedacht - dazu Claus Dieter Osthövener - die Leiblichkeit betonen und auch weitgehend nichttheistisch zum tätigen Sichbereiten des ganzen Menschen werden, der sich in skeptischer Kühle zögernd für die Einheitlichkeit des All- und Naturerlebens öffnet. Doch kann es - so Corinna Dahlgrün - auch etwa gerade durch die Kirchenmusik Bachs, die Christus an die Seite jedes/r Einzelnen stellt, in protestantischer Spiritualität zur Aneignung seines heilvollen Todes kommen. Wolfgang Frühwalds Ausführungen zum Gedächtnis der Frömmigkeit in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur ergänzten sich für mich eindrucksvoll durch ein TV-Interview mit ihm zu Meister Eckhart, das ich im Anschluss an die Tagung sah. Denn auch meiner Überzeugung nach kann man über die Tradition des „aufgeklärten Protestantismus" hinaus auf Verbindungen von Mystik und Rationalität35 zurückgreifen, um heutige Begegnung christlicher Frömmigkeitskultur und andersreligiöser Spiritualität mit von der Aufklärung geprägten Denk- und Verhaltensweisen ins Gespräch zu bringen. Und fur die Situation auch interreligiös bestimmter Fragestellungen in Westeuropa bietet sich dafür Meister Eckhart an, dessen philosophische Mystik einerseits inmitten des christlichen Lebens des 13. Jahrhun35 Ein unter diesem Titel von Hans-Dieter Zimmermann herausgegebener Band „Mystik und Rationalität" (Frankfurt 1981) vereint neuzeitliche Beiträge von Ernst Bloch, Martin Buber, Fritz Mauthner, Gustav Landauer, Robert Musil, Ludwig Wittgenstein und klassische von Angelus Silesius, Jakob Böhme, Dionysios Areopagita, Meister Eckhart, Hildegard von Bingen, Plotin; vgl. Kurt Flasch, Meister Eckhart - Versuch, ihn aus dem mystischen Strom zu retten, in: Peter Koslowski, Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie, Darmstadt 1988, 94-110.

D i e B e g e g n u n g m i t der Spiritualität anderer R e l i g i o n e n

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derts steht, andererseits viele Bezüge zur antiken, jüdischen und islamischen Philosophie und Mystik sowie zu Hinduismus und ostasiatischem Buddhismus hat36. Wenn ich das Nachdenken über eine lebendige, interreligiös offene „neue Spiritualität" von Eckharts Thema der Gelassenheit aus aufnehmen will, liegt dem die Arbeitshypothese zugrunde, dass Meister Eckhart eine besondere Verständnisbrücke zwischen Religionen und Kulturen der Welt sein kann.37 Für einen ganzheitlich orientierten Diskurs über Leben und Tod kommt hinzu, dass sein Verständnis vom göttlichen Schutzmantel auch den Brückenschlag zur palliativen Therapie ermöglicht. Palliativmedizin38 heißt nach dem lateinischen „pallium", das ist „Schutzmantel". Wie ein Schutzmantel schützt die palliative Therapie unheilbar Erkrankte vor unerträglichen Schmerzen, steht ihnen bis zum Tod bei und hilft auch den Trauernden in ihrem Schmerz. Meister Eckhart riet in seinen „Reden der Unterweisung" im 21. Kapitel: „Solange lerne man sich lassen, bis man nichts Eigenes mehr behält." Das ergibt sich aus seiner im 11. Kapitel ausgeführten philosophischen und mystischen Überzeugung für Sterben, Tod und Trauer: Fürwahr, ein M e n s c h , der s i c h d e s S e i n e n g a n z entäußert hätte, der w ü r d e s o m i t Gott u m h ü l l t , dass alle Kreaturen ihn nicht z u berühren v e r m ö c h t e n , o h n e zuerst G o t t z u berühren; u n d w a s an ihn k o m m e n sollte, d a s m ü s s t e durch Gott hindurch an ihn k o m m e n ; da e m p f ä n g t e s s e i n e n G e s c h m a c k u n d w i r d gotthaft. W i e g r o ß e i n L e i d e n a u c h sei, k o m m t e s über Gott, s o leidet zuerst Gott darunter [ . . . ] , s o w i r d e s naturgem ä ß gotthaft.

Es geht dabei keineswegs um eine Vernebelung klaren Denkens nach Art von Lenins Verständnis von Religion als „Opium für das Volk". Das schließt das vorangehende Kapitel 10 der „Reden der Unterweisung" gerade aus, in dem sich Eckhart gegen abgehobene mystische Gefühligkeit wendet: „Wäre der Mensch so in Verzückung, wie's Sankt Paulus war, und wüsste einen kranken Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich erach36

Vgl. nur Nikiaus Largier, Bibliographie zu Meister Eckhart (Dokimion 9), Freiburg (Schweiz) 1989, Kap. VIII/4: „Nichteuropäische Philosophie und Spiritualität, 95-99. Auch Michael von Brück, Ewiges Leben oder Wiedergeburt? Sterben, Tod und Jenseitshoffnung in europäischen und asiatischen Kulturen, Freiburg/Basel/Wien 2007 bezieht sich auf die EckhartTradition, bes. 270 u. 302-308. 37 Folgende Eckart-Zitate in der Übersetzung von Josef Quint, als Traktat 2 mit Originaltext und Anmerkungen abgedruckt in der handlichen Ausgabe von Nikiaus Largier (Hg.), Meister Eckart Werke II, Frankfurt a.M. 1993, 334fT. und 789ff. - Ausführlicher dazu demnächst Christoph Elsas, Religionswissenschaftliche Überlegungen zu menschengerechter Endlichkeit, Berlin 2011, in: Ders. (Hg.), Sterben, Tod und Trauer in den Religionen und Kulturen der Welt, Bd. II: Menschenwürde am Lebensende, Berlin 2011 (im Erscheinen); Ders., Gelassenheit. Ein multireligiöser und interreligiöser Konfliktlösungsansatz (erscheint in: Zeitschrift fur Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 2012). 38

Vgl. Stein Husebe/Eberhard Klaschik (Hg.), Palliativmedizin, Heidelberg 4 20 06.

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tete es für weit besser, du ließest aus Liebe von der Verzückung ab und dientest dem Bedürftigen in größerer Liebe". 5. Unterschiede in Beziehung bringen: interreligiös-christliche Sterbebegleitung fiir einen Muslim im heutigen Deutschland Entsprechend ist die Diakonie erstes Gebiet der Begegnung von christlich und anders begründeter Spiritualität, im heutigen Deutschland vor allem bei Hilfsbedürftigen aus muslimischen Familien. Die neutestamentlichen Schriften charakterisieren Jesus nicht durch heroisch erhabene Gelassenheit, sondern durch Willenseinheit mit dem mit leidenden Gott: dass trotz des Auferstehungsglaubens auch Jesus in die Trauerklage um seinen Freund Lazarus einstimmt; dass man Trost sucht in den Klagepsalmen, aber mit ihnen auch das Leiden vor Gott und an Gott herausschreit; dass der Auferstandene Gottes Solidarität in Schmerz und Tod bekräftigt, indem er im irdischen Leben mit klagt und unter tiefster Gottverlassenheit leidet.39 Im Grundgebet des Islam (Sure 1) wird Gott als „Herr der Welten, der Barmherzige, der Erbarmer" und als „König des Tages des Gerichtes" gepriesen. Das erinnert die Muslime in jedem Pflichtgebet daran, dass alles Leben der Menschen Gabe Gottes ist, um in seinem Dienst gebraucht zu werden, und auf den Tag der Belohnung für die guten und bösen Taten hinzielt. Dabei soll entsprechend einem dem Propheten Mohammed zugeschriebenen Wort „Sterbt, noch bevor der Tod euch ereilt!" die mystische Gottesliebe dazu anleiten, das Leben ganz an Gottes Willen statt am Eigenwillen zu orientieren. Zugleich betont die islamische Tradition: Auch wenn der Körper wieder zu Staub wird, braucht man ihn zur Ausführung der rituellen Pflichten und Werke auf dem Wege Gottes, von dem her der ganze Körper Segen (baraka) in sich trägt und am Jüngsten Tag neu zusammengefugt wird; deshalb sind alte Menschen zu ehren, auch die Körper nicht zu vernachlässigen und nicht zu verbrennen. Während an Altersgebrechen zu sterben weniger beängstigend erscheint, da von Gott vorbestimmt, sorgt man sich darum, etwas ungeregelt zu hinterlassen, wenn man etwa schwer krank ist. Dazu gehört nach traditioneller Frömmigkeit, möglichst die Gott als Zeichen der Dankbarkeit geschuldeten Pflichtgebete nachzuholen, die man bisher versäumt hat in der Hoffnung auf mehr Zeit am Lebensabend.40 39 Vgl. Angela Standhartinger, „... was sie bei ihren Verstorbenen zu tun pflegten" (EvPetr. 12,50), in: Elsas, Sterben II (Anm. 37). 40 Vgl. Christoph Elsas, Sterben im islamischen Kulturkreis und Sterbebegleitung fur Muslime in Deutschland. Von der Überfuhrung in die Heimat zur Übersetzung des Heimatlichen, in:

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Wer mit jüdisch-christlichem Hintergrund bemüht ist, für muslimische Sterbende und Angehörige da zu sein, kann an die Verwandtschaft der Bibeltradition und der Korantradition vom Leiden des Hiob/Ijob (Sure 21,83f.) anknüpfen. So soll der Prophet Mohammed eine seiner Töchter beim Tode ihres Sohnes getröstet haben: „Gott hat genommen, was Ihm gehört, so wie Er gegeben hat, was Sein war; alles geschehe so, wie Er es bestimmt hat." Das erinnert an das Bekenntnis Hiobs nach dem Empfang der sog. Hiobsbotschaften im biblischen Buch Hiob 1,12: „Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen; der Name des Herrn sei gelobt!" - ein Satz, der auch auf christlichen Todesanzeigen und Grabsteinen begegnet.41 Umgekehrt hat das Jesusbild im Islam durchaus Nähen zu aufgeklärter christlicher Frömmigkeit und kann das Wesen des Christentums zu reflektieren helfen.42 Durch religionsgeschichtliche Forschung und Anteilnahme aneinander ist deshalb daran zu arbeiten, Vorurteile sowohl der anderen als auch der eigenen Tradition gegenüber abzubauen: „Besonders der christlich-jüdische Dialog kann gemeinsame Ansatzpunkte finden, und im christlichislamischen Dialog kann man vor historische Differenzpunkte zurückgehen, von wo aus sich Chancen zeigen, die nur in den faktischen historischen Verläufen noch nicht wahrgenommen wurden".43 Einen persönlichen Versuch, Chancen zu interreligiös-christlicher Sterbegleitung zu nutzen, möchte ich - über die deskriptiv-analytische Auseinandersetzung hinaus - im Blick auf deontische Überlegungen zur Diskussion stellen: Meine Frau und ich teilten uns in Berlin eine Pfarrstelle. Bis zur Wahl eines neuen Kollegen stand dessen Pfarrhaus vorübergehend leer, inmitten des geräumigen, ruhigen, grünen Kirchengeländes. In unserem Bekanntenkreis hatten wir einen jungen Muslim aus Bangladesh, dessen Krebserkrankung nur noch einige Wochen Lebenserwartung zuließ. Dem Islam war er nur über die elterliche Familie in der Heimat verbunden. Partnerin, Freundinnen und Freunde waren alle aus Deutschland und kirchenfern sozialisiert. Unsere Kirchengemeinde stimmte zu, die Pfarrhaus-Oase ihm und denen, die sein Lebensende begleiteten, anstelle der Wohnung im Mietblock

Ders. (Hg.), Sterben, Tod und Trauer in den Religionen und Kulturen der Welt: Gemeinsamkeiten und Besonderheiten in Theorie und Praxis, Schenefeld 2 2008, 329-338. 41 Vgl. Hermann Brandt. Vom Umgang der Religionen mit Sterben und Tod, in: Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle fur Weltanschauungsfragen 11 (2003), 417-423. 42 Vgl. Christoph Elsas, Christentum und Islam - ein Wesensvergleich, in: Korsch/Richter, a. a. O. (Anm. 30), 75-82. 43 Carsten Colpe, Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen zwischen Judentum, Judenchristentum, Heidentum und frühem Islam, Berlin 1990, 247.

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zur Verfugung zu stellen. Der Beweggrund war Gottes- und Nächstenliebe aus christlicher Motivation. Interreligiös wurde die Sterbebegleitung durch ein sehr großes Poster vom islamischen Zentralheiligtum, der Ka'ba in Mekka, das ich früher von einem Muslim geschenkt bekommen hatte und nun für die Einrichtung im Sterbezimmer zur Verfugung stellte. Das sollte Beheimatung auch in dieser Hinsicht vermitteln: als Zeichen der Anerkennung, dass Gottes- und Nächstenliebe auch islamischer Motivation zugehören.44 Der Kranke wollte nicht, dass offizielle Vertreter einer Moschee sein Sterben und das Begräbnis begleiteten. Man trug die Aufgabe der Bestattungsfeier an mich heran - nicht als Pfarrer, sondern als Bekannter. Ich legte der Trauerfeier das angesichts des Leidens verbindende Hiob-Thema zugrunde. Im Klinikalltag gibt es Chancen dieser Art nicht. Hier geht es primär um Aufmerksamkeit: Fachleute für die jeweiligen Hintergründe einzubeziehen hilft den Pflegenden45, eigene Grenzen zu akzeptieren und die Selbstbestimmung des Sterbenden zu fördern; das dadurch gesteigerte Selbstwertgefuhl vermag der unkontrollierbaren Angst entgegen zu wirken, die aus Ohnmachtsgefuhl erwächst.

6. Besinnung auf monotheistische Spiritualität für einen reflektierten Umgang mit Elementen von Abstammungsspiritualität In der Religionsgeschichte Israels - die sich im Glauben an den einen Gott im Gegenüber zu den Abstammungsreligionen46 im Alten Orient entwickelte - waren mit dem Gedanken der Einzigkeit Gottes Fragen nach seinem Einfluss in Zorn und Gnade fur alle Welt einschließlich der Unterwelt entstanden: Alles hing von Gottes Zuwendung und vom Festhalten des Menschen an Gottes Bund mit dem wenig würdigen Israel ab. Deshalb kam es zu einer Verschiebung von der Abstammungsreligion zur Auferstehungsreligion. Denn das Leben galt als von Gott bestimmt, nicht von den Ahnen,

Beide Grundgebote werden jetzt als Gemeinsamkeiten, die der historischen Differenzierung vorausliegen, im Aufruf von 138 Islamgelehrten aus aller Welt vom Ramadan-Ende 2007 an die Christen hervorgehoben (http//www.accommonword.org, abgerufen am 24.04.08). 45 Arne Schäffler/Nicole Menche/Ulrike Bazlen/Tilman Kommereil (Hg.), Pflege heute, Stuttgart u.a., 1997, Kap. 15. 46 Als Idealtypen unterscheide ich Abstammungs-, Wiedergeburts-, Auslöschungs- und Auferstehungsreligionen im Anschluss an Andreas Feldtkeller, Grundtypen der Begründung von menschlicher Würde in der Religionsgeschichte, in: Marburger Jahrbuch Theologie XVII: Menschenwürde, Marburg, 2005, 25-4Ί und Hans-Jürgen Greschat, Typologische Annäherung an die religiösen Phänomene Sterben, Tod und Trauer, in: Elsas, Sterben II, a. a. O. (Anm. 37).

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auch wenn die Eltern und Alten nach Gottes Willen zu ehren sind: Auferstehungsreligionen wollen, dass der Mensch von Gott angenommen wird. Entsprechend sind jüdische Vorstellungen von Tod und Lebensziel davon geprägt, dass der menschliche Leib ein Werkzeug im Dienst Gottes und darum bei guter Gesundheit und nach dem Tod weiter in Ehren zu halten ist - auch wenn Organspende zur Lebensrettung aus 3. Mose 18,5 begründet werden kann, wonach der Mensch durch die Satzungen Gottes leben und nicht durch sie sterben soll. Dazu gehört, dass man sich in Krisensituationen gegenseitig hilft, damit der Mensch sein Leben zu einem guten Abschluss bringen und ansonsten im Schuldbekenntnis dem Willen Gottes überlassen kann - auch wenn im Extremfall Märtyrertod der Unterwerfung unter Götzendienst vorzuziehen ist. Abstammungsreligionen wollen Körper und Geist Verstorbener zugunsten der Gemeinschaft zusammenbringen. Sie sind in Situationen und Regionen wichtig, wo es um das alltägliche Überleben geht und Solidarität und Respektieren der Erfahrungstraditionen der Alten zählen. Warum man die Würde der Vorfahren durch die Verehrung der Gebeine der Ahnen betont, lässt sich auch durch einen Vergleich afrikanischer Traditionen mit der Verehrung christlicher Heiliger verdeutlichen: Verehrt werden vorbildhafte Menschen, die Mitglieder der Gemeinschaft bleiben, obwohl sie die Todesgrenze überschritten haben. In solchem Kollektivdenken kann Leben nur mit dem Herausfallen aus der Gemeinschaft enden. Die vorbildhaften Ahnen sind in ihrem Weiterwirken in der Gemeinschaft noch „lebendiger" als früher. Parallel dazu spricht man bei christlichen Heiligen vom Todestag als eigentlichem Geburtstag. In einer solchen Gemeinschaft findet der einzelne Mensch darin seine Identität, dass er in der Angleichung an die Ahnen bzw. Heiligen eine ihnen verbundene Lebensader weiterfuhrt. Der Abstammungsreligion des Ahnenkults entsprechend sollen Konfuzianer den Körper bis zum Tod als Pfand betrachten, wo kein Glied zu verlieren ist; ideal sind Unversehrtheit - auch als Mumie - und Unsterblichkeit im Nachruhm, das alles im Kontext intakt zu haltender familiärer und gesellschaftlicher Hierarchiestrukturen. Die Rationalität des Konfuzianismus war ein Ideal der Aufklärung. Dem entsprach im aufgeklärten 18. Jahrhundert, dass in Deutschland Familiengräber wichtig wurden und sich die Angst vor dem Tod in Trennungsangst von geliebten Personen äußerte. Gegenläufig zur fortschreitenden Individualisierung wurden mit der Geburt des Nationalismus nach dem alten Muster der Abstammungsreligion Volk und Vaterland zum Unterpfand der Ewigkeit, Zugehörigkeit und Opfer für die irdische Ewigkeit des Volkes zur

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Verpflichtung und Grundlage menschlicher Würde.47 Die modernen Rezeptionen von Lebenskraft-Traditionen48 und die Verbindungen neopaganer Hexenreligion, Spiritualität und Politik verdeutlichen die zu reflektierenden Potenziale der Earth-based Religions.49

7. Wechselseitige Anregung in der Begegnung mit Wiedergeburts- und Auslöschungsspiritualität Wiedergeburtsreligionen wollen den Geist von der Körperverhaftung erlösen. In der hinduistischen Brahmanen-Lehre von der ewigen Weltordnung (Dharma) ist der Tod nur eine Zäsur in einer Kette von Wiedergeburten (Samsära). Eigenes Handeln (Karma) hinterlässt seelische Prägungen mit automatischer Einwirkung auf neues Leben. Davon kann durch liebendes Vertrauen (Bhakti) auf eine der Gottheiten aus göttlicher Gnade befreit werden zur Erlösung (Mokscha). In solcher hinduistisch-theistischer Tradition wird die ständige gegenseitige Schau von Gottheit und Mensch zum Lebensziel. In der stärker am Erkennen religionsphilosophischer Art orientierten hinduistischmonistischen Tradition wird es zum Lebensziel, alles Biologische durch Meditation und Werke zu entfernen, um zugunsten nicht mehr individueller Geistigkeit die Einheit mit dem Absoluten wiederherzustellen. Denn woran man zuletzt gedacht, wenn man aus diesem Leben entweicht, in das wird man umgestaltet, sodass man ihm nach dem Tod gleicht [...]; wenn dein Herz mir zugewandt ist, erlangst du meine Wesenheit". So heißt es in der hoch geschätzten Bhagavadgita als Offenbarung des Gottes Krishna, wozu er den Menschen sich im Leben vorbereiten lehrt: „Wer wie ein Unbeteiligter im Leben steht, [...] Gelassenheit bewahrt [...], der steht als Sieger über dieser Welt [...], entgeht diesem Trug.50

Was schon im Leben auf Unbewegtsein vom Weltgetriebe eingestimmt werden soll, ist der Atman (übersetzt „Hauch, Seele, Atem, Selbst"). Mit Atman meint man das, was als ewiges, unwandelbares Bewusstsein des Menschen den Tod überdauere, wenn alle seine Hüllen vergehen. Aber 47

Nähere Nachweise zu den behandelten religions- und kulturgeschichtlichen Themen in meinen Einleitungen und den übrigen Beiträgen der von mir herausgegebenen Bände. 48 Vgl. Christoph Elsas, Potentiale religiös-kultureller Traditionen zur Achtung von Menschenrechten, in: Richard Faber (Hg.), Streit um den Humanismus, Würzburg 2003, 111-119. 49 Vgl. Donate Pahnke, Hexenreligion, Spiritualität und Politik, in: Hans-Martin Barth/Christoph Elsas (Hg.), Religiöse Minderheiten: Potentiale für Konflikt und Frieden (IV. Internationales Rudolf-Otto-Symposion, Marburg), Schenefeld 2004, 366-373. 50 Vgl. zu Zitaten Georg Schwikart, Tod und Trauer in den Weltreligionen, Kevelaer 2007, 91-105, in Anlehnung an Bhagavadgita 8,5-7 und 2,48-51.

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Individuelles gilt nicht als zum wahren Selbst (Atman) des Menschen gehörig, sondern als bloße äußere Form, die mit den veränderlichen Gestalten der Materie zu tun hat. Rudolf Otto hat in seinem erstmals 1926 veröffentlichten Werk „Westöstliche Mystik: Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung" Meister Eckharts christliche philosophische Mystik in Beziehung gesetzt zur hinduistischen philosophischen Mystik von Shankara, der um 800 die Bhagavadgita interpretierte. Auch wenn er christlich wertet51, hat Otto auf wichtige Übereinstimmungen in der Zuordnung von Mensch und Gottheit aufmerksam gemacht, die wechselseitig weiteres Nachdenken anregen können, gerade wenn die Unterschiede mit beachtet werden: Die für die Würde am Lebensende bedeutsame Gelassenheit gestaltet sich unterschiedlich, wenn Shankara das Universum als irreführende Illusion ansieht, für Eckhart das Universum aber in Gottes Willen gute Kreatur ist; wenn Sankara den Atman und das allem Seienden zugrunde liegende All-Eine (Brahman) als unveränderliche Art des Seins ansieht, für Eckhart das Seelenfünklein aber aus der Gnade der Gottheit resultiert, die sich wesensgemäß in Liebe trinitarisch entfaltet und jedem einzelnen Menschen an ihrem ewigen Leben teilgeben will. Der Buddhismus ist eine parallel zum Jainismus aus den Vorformen des heutigen Hinduismus entwickelte Wiedergeburtsreligion, die - vergleichbar dem Christentum - Abstammungsreligion aufhebt oder umgestaltet. Alle Formen von Buddhismus sind davon bestimmt, dass mit den vier Wahrheiten von Leidhaftigkeit (Dukkha) erkannt wird, dass alle Gefühle mit Schwierigkeiten angesichts der Unbeständigkeit des Lebens verbunden sind: In der Perspektive vom Kreislauf wiederholten Sterbens ist es Ziel, frei zu werden von Geburt, Alter und Tod und die Illusion zu überwinden, die ihre Verkettung nicht versteht. Der Mensch weiß zwar um seinen Tod, schafft sich in der Regel aber davon kein Bewusstsein. Entsprechend wird anders als im Hinduismus keine Seele im Sinne einer unveränderlichen Identität angenommen. Was bleibt, ist für Buddhisten nur die Qualifizierung der Prozesse des Einzellebens durch Karma als willentliche Entscheidung. Es gilt zu erkennen, dass einschließlich der von Buddha in Indien übernommenen Götterwelt alles Leben als ständige Veränderung mit zugehörigem Tod Teil dieses Kreislaufs ist. Wie früher im Christentum häufig mit dem Büchlein von der Kunst des Sterbens (ars moriendi) sollen buddhistische Meditationen über den Tod

51 Vgl. Annette Wilke, Keine Urmotive, nur Besonderungen. Rudolf Ottos West-Östliche Mystik, die Problematik des interreligiösen Dialogs und der Vergleich Eckhart-Sankara, in: Zeitschrift fur Religions- und Geistesgeschichte 1997, 34-70; Ottos Buch erschien 1971 in 3. von Gustav Mensching bearbeiteter Auflage.

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schon im Leben die Angst nehmen und Gelassenheit fördern. Buddha erkannte in seiner Erleuchtung, dass es Befreiung von der Leidhaftigkeit des Lebens nur geben könne, wenn man aus dem Geburtenzyklus ganz aussteigt und in den geburt- und todlosen Heilszustand des Nirvana eingeht. In Ostasien lehrt demgegenüber der Daoismus philosophischer Art im Sinne einer Auslöschungsreligion, den Tod in zuversichtlicher Gelassenheit hinzunehmen, weil wir in der Mutter Natur als einem Größeren aufgehoben seien. Auslöschungsreligionen wollen, dass der Einzelmensch im All aufgeht. Im damit verbundenen ostasiatischen Buddhismus konnte man im selbstlosen Hingeben des Lebens auf dem Hintergrund des BodhisattvaIdeals über die Regeln des alten Buddhismus hinausgehen, der in Konzentration auf die gleichmütige Erleuchtung die mutwillige Schädigung eines Anderen und auch des eigenen Körpers verbot52. Vor 50 Jahren hat der japanische buddhistische Philosoph Shizuteru Ueda seine Doktorarbeit in Marburg zu Meister Eckhart und Zen geschrieben.53 Einige seiner Gedanken zum Tod im Zen-Buddhismus mögen die dort vollzogene Verbindung von buddhistischer Wiedergeburts- und daoistischer Auslöschungsreligion verdeutlichen: Z u m L e b e n gehört v o n A n f a n g an w e s e n h a f t das S t e r b e n m ü s s e n [ . . . ] D e r T o d s a m m e l t d a s e i n m a l i g e G a n z e d e s L e b e n s , u m e s u n w i e d e r h o l b a r d e m N i c h t s z u überantw o r t e n [ . . . ] G e g e n s ä t z e , die trennen, w e r d e n dann u n b e d e u t e n d . D e r T o d lässt ahnen, d a s s d i e I c h l o s i g k e i t d i e B e s t i m m u n g d e s M e n s c h e n ist [ . . . ] Sterben, das m e i n t die A u f l ö s u n g des geschlossenen und verschlossenen Ich-bin-ich [ . . . ] Ich-los dagegen w i r d die Wahrheit in ihrer s c h ö p f e r i s c h e n Kraft erfahren, d a s heißt: a l l e s k o m m t u n d geht, a l l e s w i r d neu. 5 4

Die entscheidende Würde hat der Mensch hier, wenn er sich offen einlässt auf die Natur der Dinge in ihrem eigenen Lauf (ziran im Daodejing) mit nicht eigenwilligem Handeln (wu - wei). Dem entspricht bei Eckhart, dass der Mensch sich offen hält für den ihn in ewigem Leben umhüllenden göttlichen Urgrund alles Seins und sich darauf verlässt, dass er ihm innerlichst verbunden ist.55 52

Vgl. Christoph Kleine, Sterben für den Buddha, Sterben wie der Buddha, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 11/2003, 3^13; v. Brück, a. a. O. (Anm. 36), 120-126. 53 Shizuteru Ueda, Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des ZenBuddhismus. Gütersloh 1965; vgl. zuvor das 1957 in New York erschienene Buch „Mysticism. Christian and Buddhist" von Daisetz Taitaro Suzuki (deutsch: Der westliche und der östliche Weg. Essays über christliche und buddhistische Mystik, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1984). 54 Shizuteru Ueda, Der Tod im Zen-Buddhismus, in: Johannes Schwartländer (Hg.), Der Mensch und sein Tod, Göttingen 1976, 162-172, hier 162-165. 55 Uedas Kritik an mangelnder Konsequenz bei Eckhart scheint unangebracht die buddhistische Kritik am hinduistischen Atman und Brahman als unveränderlicher Art des Seins auf Eckhart

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8. Mit Synkretismus als Antwort auf die Herausforderung durch das Fremde zu einer aufgeklärten christlichen Frömmigkeit? Schleiermacher hat in seiner Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" 1799 darauf aufmerksam gemacht, dass selbst bei formaler Mitgliedschaft jedes Kirchenmitglied seinen eigenen Glauben und individuellen Zugang zum Religiösen hat. Der in den 1970er Jahren von dem amerikanischen Religionssoziologen Peter L. Berger geprägte Begriff „Zwang zur Häresie" und die Bestimmung postmoderner Identität als „Patchwork-Identität" beschreiben die jetzige Potenzierung der Wahlmöglichkeit, angesichts derer gesellschaftswissenschaftlich ein Trend zum „believing without belonging" und gleichzeitig zum „belonging without believing" diagnostiziert wird.56 In einer Analyse der heutigen Situation meint Walter Sparn aus dogmatischer Perspektive: Die wechselhafte Geschichte des theologischen Wortgebrauchs und die Uneinheitlichkeit der religionswissenschaftlichen Unterscheidungen [...] lassen zweifelhaft erscheinen, ob ,Synkretismus' zum dogmatischen, d.h. nicht nur heuristischen und beschreibenden, sondern auch deutenden und christlich orientierenden Begriff taugt. Es gibt neuerdings jedoch Phänomene eines spezifischen Religionswandels, die einen solchen Begriff erfordern, vergleichbar den ebenfalls neuen und noch unfertigen Begriffen des Fundamentalismus oder der Säkularisierung. Solche religiösen und dogmatischen Herausforderungen stellen vor allem die weithin interreligiöse Situation des Christentums und die religiöse Individualisierung in der modernen Kultur dar."

Damit „der gebrauchte Synkretismusbegriff auch normativ, d.h. in der Binnenperspektive des christlichen Glaubensbekenntnisses gerechtfertigt werden kann", verweist er auf die von Carl Heinz Ratschow inspirierte gemeinsame Studie der Arnoldshainer Konferenz (AKf) und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) von 1991: Nicht ein Prinzip, sondern die Buße ist der christliche Standort in der religiösen Interaktion (Religion 108ff.). So ist ein differenzierter, weder auf Beliebigkeit ausweichender noch auf Imperialismus zurückfallender Umgang mit religiösem Anderssein eröffnet: Dem Geist Gottes entspricht das missionarische Zeugnis, dem menschgewordenen Wort Gottes der lernbereite Dialog, der welterhaltenden Gegenwart Gottes die gewaltfreie Konvivenz (ebd. 117ff). [...] Die normative Frage lautet nicht, ob ein Synkretismus überlieferte christliche Sätze bewahrt, sondern ob er eine ,Ach-

zu übertragen; doch ist bei ihm Sein gerade nicht das, was keine Relation zu anderem hat, sondern, wie es auch die Rede von der Trinität ausdrücken will, positiv auf die Welt des Todes bezogen. 56 Vgl. Rolf Schieder, Sind Religionen gefährlich?, Berlin 2008, 166-177. 57 Walter Sparn, Art. Synkretismus VI. Dogmatisch, in: TRE 32 (2006), 552-556, hier 552.

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senverschiebung' (Hummel 159ff.) der religiösen Praxis in ihren Sprachhandlungen, Riten und Verhaltensformen bedeutet. 58

Dem entspricht die Beurteilung aus umfassenden religionsgeschichtlichen Studien bei Carsten Colpe, dass angesichts der zunehmenden Befassung mit dem Fremden im Zuge der Globalisierung „der Begriff ,Synkretismus' für eine neutrale Beschreibung kultur- und religionsgeschichtlicher Tatbestände nicht mehr zu entbehren" ist59. Wenn eine Religion zur Lösung von Problemen enttäuscht, mögen die andere Religion und deren Vertreterinnen Kompensation bieten. Darin entspricht eine synkretistische statt fundamentalistische Grundhaltung der konstruktivistischen Position in der Wissenschaft, die multiple Realitäten voraussetzt, die als mentale Konstruktionen in lokalen gesellschaftlichen Bedingungen und spezifischen Erfahrungen gründen.60 Eine interreligiös-christliche Sterbebegleitung arbeitet entsprechend mit multiplen Formen religiöser Realität. Damit es mit Synkretismus zu einer aufgeklärten christlichen Frömmigkeit in „Selbstveränderung durch Hereinnahme des Fremden" kommt, braucht es „eine gewisse Bereitschaft, das Fremde anzuerkennen, sei es, dass man dieses irgendwie in sich selbst spürt, sei es, dass man pragmatische Gesichtspunkte hat".61 Gerade mit der reformatorischen Tradition der individuellen Beziehung zu Gott ist deshalb Lernen im Kontakt mit anderen Standpunkten und neue Interpretation möglich, die Profil zeigt und doch über die religiöse Gemeinschaft hinaus das Zusammenleben fördert.62 In einem bekannten Pflegehandbuch heißt es: „Der einzelne Mensch erhält seine Würde vor allem dadurch, dass er immer sich selbst und das ganze Menschengeschlecht repräsentiert".63 Das geht zurück auf die dritte Form von Kants Kategorischem Imperativ: „Handle so, dass du die 58 Ebd., 553 mit AKf/VELKD (Hg.), Religionen, Religiosität und christlicher Glaube, Gütersloh 1991; vgl. auch Reinhart Hummel, Religiöser Pluralismus oder christliches Abendland?, Darmstadt 1994. 59

Carsten Colpe, Synkretismus als eine Antwort auf die Herausforderung durch das Fremde, in: Herfried Münkler (Hg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, 3 1 7 346; vgl. das den Anregungen aus seinen Synkretismus-Forschungen gewidmete Themenheft 1 2/2010 der Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft. 60

Vgl. André Droogers, Syncretism and Fundamentalism: A Comparison, in: social compass 52/2005, 463^171, hier 465. 61 Colpe, ebd., 317 und 322. 62 Vgl. Christoph Elsas, Ansätze zu interreligiöser Mediation. Heinrich Frick und interdisziplinär-interreligiöse Verständigung heute, in: Ders. (Hg.), Interreligiöse Verständigung zu Glaubensverbreitung und Religionswechsel (VI. Internationales Rudolf-Otto-Symposion), Berlin 2010, Kap. 4.6 „Interreligiöses Thema Religionsmischung als Gefahr und Chance". 63 Vgl. dazu Franco Rest, Sterbebeistand, Sterbebegleitung, Sterbegeleit, Handbuch für den stationären und ambulanten Bereich, Stuttgart, s 2006, 202.

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Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest".64 Aufseiten der Religionen klingt das mit buddhistischen Gedanken zusammen, dass jeder Mensch die Buddhanatur besitzt, und besonders mit Meister Eckharts Worten in seinem Traktat „Von Abgeschiedenheit": „Als Christus Mensch ward, da nahm er nicht an sich einen Menschen, er nahm an die menschliche Natur. Entäußere dich deshalb aller Dinge, so bleibt allein, was Christus an sich nahm, und so denn hast du dir Christus angelegt."65 Das ist bei Eckhart das Eine, was notwendig ist und andererseits offen ist für eine Vielzahl von Weisen, wie es schon das 17. Kapitel in „Reden der Unterweisung" festhielt: „Wir sollen ihm je auf eigene Weise nachfolgen". Weil ihm das offenbar wichtig war, hat er die Argumente dieses Kapitels im 22. Kapitel weitergeführt: Was Gott einer Weise an Gutem angetan und mitgegeben hat, das kann man auch in allen guten Weisen finden. In einer Weise eben soll man alle guten Weisen und nicht die Sonderheit (eben) dieser Weise ergreifen. Denn der Mensch muß jeweils nur eines tun, er kann nicht alles tun [...] Darum nimm Eines von Gott, und dahinein ziehe alles Gute [...] Darin kann man allezeit ohne Unterlaß zunehmen und wachsen und nimmer an ein Ende kommen des Zunehmens.

Entsprechend berief sich Eckhart für sein Verständnis christlicher Frömmigkeit auch auf heidnische, jüdische und islamische Philosophen als „Meister". Selbstverständlich hatte seine Anerkennung der je eigenen Weisen noch nicht einen säkularen Staat und demokratische Abstimmungsprozesse im Blick. Aber mit den Beiträgen von Bernd Auerochs,66 Albrecht Beutel und Jörn Leonhard auf der Rostocker Tagung zur Verbindung von Protestantismus, Aufklärung und Frömmigkeit lassen sich einige wichtige Konstellationen als Zwischenschritte erkennen: Bei Lessings „Nathan" wandte sich die Betonung der allgemeinen Menschengleichheit (II 5) gegen die eigene Religion, so dass jeweils auf Distanz zur eigenen Religion zu gehen Verständigung ermöglicht. Andererseits wurde die von Friedrich dem Großen gerühmte Freiheit, einzig von der wohltätigen Natur abhängig zu sein, Anlass für die Formel vom „schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl", indem Johann Spalding bei der Gedächtnispredigt an der Bahre des großen frei64 Dazu Wilfried Härle, Menschenwürde - konkret und grundsätzlich, in: Marburger Jahrbuch Theologie XVII: Menschenwürde, Marburg 2005, 135-166, hier 136-140 zum Zitat aus Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten". 65 Als Traktat 3 abgedruckt bei Largier (Anm. 37), 434-459 und 802ff., hier: 457; die folgenden Zitate wieder aus Traktat 2. 66 Bernd Auerochs' Vortrag trug den Titel: „'Menschenmäkelei' - Lessings Ringparabel." Er wurde für diesen Band nicht zur Verfügung gestellt [Anm. des Hg.].

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geistigen Königs, dessen stoische Gelassenheit rühmte, aber Christus mit der Hingabe in die gnädige Allmacht des allein großen Gottes die wahre Aufklärung bringen ließ. Auch wenn dann Religion als Privatsache unter Leitung der Vernunft proklamiert wurde und es in den Erfahrungskrisen der Moderne zu Synkretismen vielfaltiger Art kam, findet sich etwa bei dem zunächst distanziert jüdischen Neukantianer Hermann Cohen angesichts antijüdischer Polemik auch die andere Möglichkeit aufgeklärter Frömmigkeit verwirklicht, die sich bei Lessings „Nathan" (III 5) findet, nämlich: „Kein Jude geht noch weniger". Denn „UnUnterscheidbarkeit um des lieben Friedens willen - das ist Ulrich Becks Botschaft, nicht die Lessings."67

67

Rolf Schieder, Sind Religionen gefährlich? Berlin 2008, 208; gegen Ulrich Beck, Der eigene Gott. Von der Friedensfahigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt a.M. 2008, 244.

Corinna Dahlgrün Ars moriendi nach Noten Bachs Passionen als Gestalt evangelischer Spiritualität heute 1

An einem Nachmittag in jedem Frühjahr kann man vielerorts beobachten, wie Menschen unserer Zeit - die sogenannten Kirchenfernen, mehrheitlich in einem gemäßigt protestantischen Umfeld groß geworden, dennoch (oder deswegen) distanziert gegenüber Fragen des Glaubens - man kann beobachten, wie diese Menschen nicht übermäßig bequem, aber sehr still auf harten Holzbänken sitzen, viele Stunden lang, und sich Musik anhören, die einige hundert Jahre alt ist, und die sie in ihrem Alltag, etwa als Ausgleich zum Berufsstreß, nicht unbedingt hören möchten. Die Texte zu dieser Musik, vor allem die dichterischen, würden sie auf Befragen, aufgeklärt wie sie sind2, mindestens als unzeitgemäß bezeichnen, vom Verstand nicht mitzuvollziehen, Gestalten einer abständigen Frömmigkeit, die mit ihrem Leben nichts mehr zu tun hat. Dennoch nehmen eben diese Menschen die Unbequemlichkeit auf sich und setzen sich einer Erfahrung aus, die sie dann trotz des historischen Abstands, trotz denkerischer Einwände, trotz nüchterner Aufgeklärtheit auch in Fragen der Religion - in ihrem Gefühl, oft sogar in ihrem Herzen berührt, die ihnen etwas vermittelt, das sie kaum in Worte fassen können, und auch kaum in Worte zu fassen versuchen möchten, weil es eine so bewegende innere Erfahrung ist, ihr privates Gefühl eben. Nicht immer und nicht bei jedem, doch bei vielen von ihnen handelt es sich dabei um eine geistliche Erfahrung, die etwas bewegt, die etwas verändert, vielleicht nicht auf Dauer bleibend, aber doch so, daß sie im folgenden Jahr diese Erfahrung erneut suchen. Was fur ein Phänomen ha-

Einige Passagen sind älteren Veröffentlichungen entnommen: Die Botschaft des Evangeliums und die Sprache der Töne. Theologische Überlegungen zur Musik im Gottesdienst, in: LJ 56 (2006) 158-180; Die Karfreitagspredigt. Zu Aufgaben und Umsetzungsmöglichkeiten, in: Klaus Grünwaldt/Udo Hahn (Hg.), Kreuzestheologie - kontrovers und erhellend (FS Weymann), Hannover 2007, 183-194; (gemeinsam mit Christfried Brodel) Unter dem Kreuz. Impulse zur Vergegenwärtigung des Christusmysteriums durch Wort und Musik, in: Grünwaldt/Hahn, Kreuzestheologie, 195-201. 2 Der Begriff „aufgeklärt" ist nicht als Synonym für „rein kognitiv" oder gar „gefühlsarm" zu verstehen. Allerdings soll er durchaus die Ablehnung bestimmter Sprachformen des Glaubens, teilweise sogar bestimmter Inhalte aussagen, die dennoch - unabhängig vom Denken und oft unbewußt - das Gefühl erreichen können; das wird zu zeigen sein.

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ben wir da vor uns, mit dieser protestantischen und musikalischen Spielart von Spiritualität, und wie ist es zu verstehen? Ich nähere mich der Antwort in fünf Schritten mit einem kurzen Fazit am Schluß: 1. Kirchenmusik als Gestalt protestantischer Spiritualität; 2. Der Karfreitagsgottesdienst als Ort der Begegnung mit Sterblichkeit und Auferstehungshoffnung; 3. Musik als Berührung; 4. Der einzelne vor Gott; 5. Bachs Passionen als Gottesdienst für aufgeklärte Protestanten.

1. Kirchenmusik als Gestalt protestantischer Spiritualität Der Protestantismus hat sich seit seiner Entstehung einer Fülle von Texten, Traditionen und Methoden christlicher Spiritualität aus vielen Jahrhunderten gegenübergesehen. Manches hat er zunächst, für lange Zeit oder auf Dauer verworfen (wie die Heiligenverehrung, die Wallfahrten, den Rosenkranz), anderes hat er integriert (wie - wenn auch teilweise recht zögerlich und wenig breitenwirksam - das Tagzeitengebet und die Frömmigkeit der Mystik und natürlich den Gottesdienst als Zentrum aller Spiritualität, auch wenn nicht alle Protestanten ihn als dieses Zentrum tatsächlich wahrnehmen). Einige wenige Formen einer praxis pietatis, die ohne den Wurzelgrund des Protestantismus nicht denkbar wären, hat er selbst entwickelt. Eine dieser Formen ist die private, die häusliche Andacht mit regelmäßiger Bibellektüre, die ursprünglich von einer Hausgemeinschaft ausgehend zu denken ist (die erweiterte Familie nach dem Vorbild des Lutherschen Haushaltes), die jedoch immer stärker auf den einzelnen, das Individuum vor Gott, zulief. Eine andere, ursprünglich mindestens ebenso charakteristische Gestalt protestantischer Spiritualität ist die sehr reich entfaltete Kirchenmusik (inzwischen verlaufen hier die konfessionellen Grenzen nicht mehr ganz so klar), ursprünglich eine Äußerungs- und Erlebensform der Gemeinde, doch mit der Zeit, vor allem für die nicht aktiv musizierenden Rezipienten, eine vor allem individuelle Erfahrung. Die Entwicklung der Kirchenmusik insbesondere in den lutherischen Kirchen geht auf die Sicht Luthers zurück, die sich von der der anderen Reformatoren, Zwingli wie Calvin, ebenso unterschied wie von der katholischen Position in dieser Frage. Alle Reformatoren reagierten auf die von ihnen vorgefundene Praxis, jeweils aus ihrem Verständnis eines rechten und würdigen Gottesdienstes heraus, mit unterschiedlichen und theologisch unterschiedlich begründeten Bestimmungen hinsichtlich der Möglichkeiten und Aufgaben der Kirchenmusik; entsprechend tun dies auch protestantische Theologen späterer Epochen.

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Huldrych Zwingli verbietet in Zürich alle gottesdienstliche Musik, denn sie ist für ihn eine vollständig weltliche Kunst, als , Kunst' zu hören und damit ungeeignet für alle wahre Andacht. Gesang ziehe die Konzentration des Menschen von Gott ab und lenke sie auf das eigene Ich. Außerdem bestehe die Gefahr einer Vermischung. Für den Genfer Reformator Johannes Calvin ist Musik - insbesondere in der Form des Gesanges - eine Schöpfergabe, die jedoch nur im Gotteslob recht gebraucht wird. Eben wegen ihrer Möglichkeiten berge sie Gefahren, die er ähnlich einschätzt wie Zwingli: Sie sei leicht missbrauchbar, werde schnell dem bloßen Vergnügen, der Sinnenlust dienstbar gemacht. Zudem beeinträchtige Mehrstimmigkeit die Klarheit des Wortes Gottes. Orgelmusik, gregorianischer Gesang und Mehrstimmigkeit werden darum aus dem Gottesdienst verbannt. Die verwendete Musik, ausschließlich einstimmiger Psalmengesang, müsse sich überdies von aller sonstigen Musik abheben, dem Text angemessen, „würdig und maßvoll" sein, und unbedingt nicht nur mit dem Mund, sondern zugleich bewußt, „aus dem tiefen Drang des Herzens" ausgeführt werden3. Gemeinsames Singen im Gefolge dieser klaren Kriterien halte jedoch den unaufmerksamen und ablenkbaren Sinn bei Gott und diene so der Verkündigung4. Während die Schweizer Reformatoren in der Linie kynischer, stoischer und neuplatonisch-spiritualistischer Kritik über die Musik urteilen, steht Martin Luther in der aristotelisch-mittelalterlichen Tradition. Wie die Sprache gehört die Musik für Luther als Teil der vom Wort gedeuteten Schöpfung zu den conservatores rerum, zu den Kräften und Ordnungen, die ein Gegenmittel gegen Auflösung und Zerstörung der Welt durch die Kräfte des Bösen sind5. Insofern gehört die Bereitschaft zum Singen geradezu zu den Anzeichen des rechten Glaubens6 - insbesondere Lehrer und Theologen müssen nach seiner Überzeugung singen können und wollen. Darum duldet Luther nicht nur, sondern fördert verschiedene Arten der Musik gerade auch im Gottesdienst, ein- und mehrstimmigen Gesang, Orgel und auch andere Instrumentalmusik7. Für Luther ist darüber hinaus 3

J. Calvin, Institutio christianae religionis (nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von O. Weber, Neukirchen-Moers 1955, 595f) 111,20, 31 f. 4 J. Calvin, Institutio 111,20, 32. 5 Vgl. WA Tischreden Bd. 1 Nr. 1096. 6 Vgl. WA 35,477. 7 „Unterscheyd der dreyer woertter ,psalmen', ,lobsengen' und ,lieden', meyn ich, sey dise, Das er durch die psalmen meyne eygentlich die psalmen David und andere ym psallter. Durch die lobesenge die andern gesenge ynn der schlifft hyn und widder von den Propheten gemacht, als Mose, Dibora, Salomo, Isaías, Daniel, Habacuc, item das Magnificat, Benedictas und der gleichen, die man Cantica heysset. Durch geystliche liede aber die lieder, die man ausser der schrifift von Got singet, wilche man teglich machen kan. Darumb heysset er die selben geystliche, mehr denn die psalmen und lobesenge, wilche er wol wüste, das sie schon selbs geystlich sind. Aber ynn den lieden weret er

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alle Musik, nicht nur die gottesdienstliche, theologisch relevant und Vorschein der Ewigkeit. Alle Musik hat nicht nur die Bestimmung, Gott zu loben - das ist ihre erste im Schöpfungscharakter gegebene Bestimmung, und darin steht sie neben der Predigt - , sondern sie hat auch die Bestimmung, die großen Taten Gottes musizierend auszubreiten. Musik hat also eine explizite Verkündigungsaufgabe. Damit sie aber wirklich predigen kann, muß sie nach allen Regeln der Kunst, also mit hohem ästhetischkünstlerischem Anspruch ausgeübt werden8, das zeigt übrigens auch Luthers Vorliebe gerade für die Musik Josquins. Spezifische Anforderungen an eine explizit gottesdienstliche Musik erhebt Luther nicht, auch wenn er die an das Wort der Schrift gebundene oder von dorther inspirierte Musik besonders schätzte; doch wie der Gottesdienst für ihn nicht nur auf den Raum der Kirche beschränkt bleibt, sondern sich im Leben je neu verwirklichen soll, soll das auch die Musik. Musik kann also, Luther folgend, nicht nur loben, sie kann auch verkündigen. Musik predigt - und sie tut das, soweit wir von qualitativ guter Musik reden, nicht selten besser als das bloße Wort,jenseits aller theologischen Begrifflichkeit. In einem ganz bestimmten Moment des Kirchenjahres ist das heute auch erforderlich: Am Karfreitag. An diesem besonderen, für den christlichen Glauben wesentlichen Punkt des Kirchenjahres, der die Glaubenden ihres Heils im Leben und im Sterben versichern soll und ihnen damit zugleich die wesentlichen Grundlagen einer ars moriendi vermitteln kann, ist die musikalische Verkündigung für die meisten evangelischen Christen sogar eindrücklicher, wirkungsvoller als der gesamte Gottesdienst. Die Musik, besonders die Musik Bachs, nimmt evangelische Christen mit unter das Kreuz9, das sie ohne die Musik allenfalls denkend erinnern, kognitiv vergegenwärtigen würden. Die Ursache für diese besondere Bedeutung der Musik gerade bei diesem Anlaß ist ein liturgisches Defizit.

2. Der Karfreitagsgottesdienst als Ort der Begegnung mit Sterblichkeit und Auferstehungshoffnung Die Karfreitagsgottesdienste der katholischen Kirche sind seit dem 4. Jahrhundert wesentlich von eindrücklichen liturgischen Handlungen geprägt von Stationenliturgien, von der Einbeziehung der Gemeinde durch Oratiouns die welltlichen, fleyschlichen und unhubschen gesenge zu brauchen, Sondern will, das unser liede sollen von geystlichen dingen lautten, die da tüchtig sind uns ettwas zu leren odder zu vermanen, wie er hie sagt." (WA 17/11,121, 3-15, aus der Fastenpostille von 1525). 8 Vgl. WA Tischreden Bd. 1, Nr. 1258. 9 Zur ars moriendi wäre, im Hinblick auf Bach, natürlich zuerst der Actus tragicus zu betrachten, die Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit", B W V 106.

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nen und vor allem durch den Ritus der Kreuzesverehrung. Hervorzuheben ist bei diesen Gottesdiensten jeweils die Verbindung von Wort und Zeichen, einem Wort, das die Vergegenwärtigung des vieldimensionalen Paschamysteriums in seinem heilsgeschichtlichen Ablauf insbesondere im Hinblick auf den gekreuzigten Christus ermöglicht, und einer zeichenhaften Vertiefung, die zudem die persönliche Aneignung erleichtert - dies gilt in besonderer Weise hinsichtlich der „Hochschätzung der Kreuzverehrung durch die Gläubigen, die durch solche Teilnahme unter Zeichen sich das gefeierte Heilsgeschehen besonders intensiv zu eigen machen"10. Demgegenüber zeigt ein kurzer Blick auf die protestantische Karfreitagsliturgie das Defizit: Agendarisch ist ein Wortgottesdienst vorgesehen, der eher durch Weglassung sonst gebräuchlicher als durch Hinzufügung neuer Elemente ausgezeichnet ist. Je nach Prägung wird der Gottesdienst mit oder ohne Abendmahl gefeiert. Gelegentlich finden sich Gestaltungsbemühungen im Hinblick auf geschlossene oder verhängte Altäre und sparsamen (oder keinen) Schmuck, seltener begegnet der Verzicht auf die Orgel11. Inhalt und Ziel des liturgischen Geschehens ist vor allem die heilvolle Erinnerung, allenfalls die alten Passionschoräle - so sie denn noch Verwendung finden können der Gemeinde zu individueller Aneignung verhelfen. Die Liturgie bildet hier einen recht spröden Rahmen für die Predigt, die alles darüber Hinausgehende allein zu leisten hätte, was ihr in aller Regel nicht gelingt meist bleibt die Gemeinde nicht nur buchstäblich, sondern auch im Geiste in der Kirchenbank sitzen und muß kognitive Leistungen erbringen, um sich den Gehalt des Gottesdienstes anzueignen.

Martin Klöckener, Die „Feier vom Leiden und Sterben Jesu Christi" am Karfreitag. Gewordene Liturgie vor dem Anspruch der Gegenwart, in: LJ 41 (1991) 210-251, hier: 225. Klöckener kritisiert die Ordnung des Papstgottesdienstes allerdings als eine unbefriedigende und unausgereifte Vermischung zweier ritueller Formen (Wortgottesdienst und Kreuzverehrung als ergänzendes volkstümliches Element), die auf eine Neuentwicklung in der Spiritualität der Bevölkerung reagiert habe (225f) Auch das allmähliche und nicht unbedingt organische Hinzuwachsen der Eucharistiefeier ist unter diesem Aspekt zu sehen. 11 Das EGb (Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende fur die EKU und die VELKD, Kirchenleitung der VELKD (Hg.) und im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der EKU, Berlin/Bielefeld/Hannover 2000) gibt an: „Liturgische Farbe: schwarz oder violett. ,Ehre sei dem Vater', ,Halleluja' und ,Ehre sei Gott in der Höhe' entfallen. Es kann auf jede Farbe verzichtet werden. Der Altar kann auch ohne Kerzen, Blumen und jeglichen Schmuck bleiben." (312) Ein eigener Vorschlag zur Gestaltung dieses Gottesdienstes sieht folgenden Ablauf vor: [Glockengeläut], [Musik zum Eingang], [Gesang zum Eingang], Gruß, Anrede, Kyrie und Vaterunser, Psalm mit Agnus Dei, Tagesgebet, atl. Lesung, Lied/Gesang, Epistel, Lied, Evangelium, Lied/Gesang, Predigt, Lied/Gesang, Fürbittengebet/Litanei, Abkündigungen, Dankopfer, Sendungswort, Segen, [Musik zum Ausgang] (177), eine Verbindung mit der Abendmahlsfeier wird als Möglichkeit genannt. Weiter heißt es: „Für den Nachmittag des Karfreitags stehen weitere gottesdienstliche Formen zur Verfugung (Andacht in der Todesstunde Jesu, Kreuzweg, Meditaton)." (178) Die vorgeschlagene Form, ein Wortgottesdienst ohne weitere Ausgestaltung, entspricht der des Büß- und Bettages.

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Doch nur wenn das Geschehen fühlend mitvollzogen wird, kann auch Heilsgewißheit spürbar und angeeignet werden. Damit wir aber das Geschehen fühlend mitvollziehen können, müssen wir uns unter das Kreuz begeben, selbst ,dem Paschamysterium gegenwärtig' werden (Hans Urs von Balthasar). Aus den Gottesdiensten der frühen Kirche (übrigens auch aus den geistlichen Spielen des Mittelalters und selbst noch aus einem Film wie Mel Gibsons „Passion Christi") ist zu lernen, daß dies am ehesten möglich ist, wenn das Geschehen, gottesdienstlich oder auf andere Weise, wirklich aktualisiert wird. Das Wort kann nun, wiederum nach lutherischem Verständnis, viel leisten, es kann freisprechen, es kann das Evangelium lebendig werden lassen. Aber wenn es ganz allein an die Stelle von eindrücklichen Zeichenhandlungen mit großen emotionalen Wirkungen treten soll, ist es oft überfordert.

3. Musik als Berührung Das Wort kann überfordert sein. Die Musik ist es - in dieser Hinsicht nicht. Denn Musik schafft einen eigenen Raum, der so weit reicht wie ihre Schallwellen - er hat seine Grenze, wo diese Schallwellen auslaufen. Menschen können sich in diesem Raum zwar aufhalten, aber sie können ihn nicht „machen", nicht einmal durch das Musizieren (Musiker „machen" die Musik nicht, die sie spielen, sie stellen sich in ihren Dienst). Die Musik, die in einem Raum erklingt, erfüllt und definiert selbst diesen Raum - das ist gut zu merken, wenn ich mich in einem Raum aufhalte, in dem Musik erklingt, die ich nicht mag. Wenn ich sie nicht abstellen kann, bleibt mir nur zu fliehen. Die Musik definiert, strukturiert den Raum, indem sie sich in ihm ihre eigene Zeit schafft. Diese Zeit ist zwar in Sekunden- und Minutenmaßen zählbar, aber nicht von ihnen her bestimmt. Ein Musizieren allein nach dem Metronom wäre leblos und mechanisch. Jede Musik hat ihren eigenen Atem, ihren Puls, ihre Seele, die musizierend erspürt wird und hörend aufgenommen; der Hörer fügt sich, sofern er sich nicht dagegen sperrt, in diese Zeit ein. Und dann handelt die Musik am Hörer, denn ein solches Hören von Musik ist Beteiligung, insofern es, mit Vilém Flusser, immer zugleich ein Erleiden ist: Musik bringt nicht nur den Hörnerv, sondern den ganzen Körper zum Schwingen. [...] Der Musikhörende [...] konzentriert die ankommenden Schallwellen ins Innere seines Körpers. Das bedeutet, beim Musikhören wird der Körper Musik und die Musik wird Körper. [...] Man spürt sie, man weiß, daß man sie erleidet. Dieses wissende Erleiden heißt im Griechischen pathein. Der Empfang von Musik [...] ist Pathos, und sein

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Effekt ist Empathie in die Botschaft. Dieser pathetische Charakter ist buchstäblich nur fur akustische Botschaften wahr, für alle anderen gilt er nur metaphorisch.12

Wenn eine so beteiligende Musik nun die Passion Christi zum Inhalt hat, lenkt die Bewegung der Musik ihre Hörer zu Christus hin, dann wird beim Hören dieser Musik die Aneignung der Inhalte möglich. Das ist eine Erfahrung, die Menschen anhand der Passionen Bachs, einer genuin protestantischen Ausdrucksform christlicher Spiritualität, immer wieder machen: Die Musik Bachs fuhrt den Menschen, der sie hört (ebenso natürlich den, der sie ausübt), unter das Kreuz, auch den aufgeklärten und kirchenfernen Protestanten. Sie kann das, eben weil Musik Gegenwart ist, in Raum und Zeit. Sie umgibt den Menschen, der sie hört, mit dieser Gegenwart. Und damit macht sie ihn dem in ihr zum Ausdruck Gebrachten, dem Kreuz, gegenwärtig. Speziell diese Musik kann es auch, weil sie theologisch wie musikalisch von großer Dichte ist. Und sie kann es, weil sie den einzelnen Menschen, der sich auch nur ein wenig in diese Tonsprache hineingehört hat bzw. sich ihr jedenfalls nicht verweigert, in seinen Tiefenschichten erreicht und ihn dadurch Christus an die Seite stellt. Ob er dort dann auch eine Gemeinschaft findet, ist eine andere Frage.

4. Der Einzelne vor Gott Damit bin ich bei einer Eigenart des Protestantismus, auch der protestantischen Spiritualität, die aus ekklesiologischer und übrigens auch aus ökumenischer Perspektive als eine seiner größten Schwächen anzusehen ist. Doch zugleich ist diese Eigenart seine vielleicht größte Stärke. Seit Luther ist den evangelischen Christen deutlich, daß sie unvertretbar als einzelne vor Gott stehen, daß sie von ihm als je die Menschen, die sie sind, gerecht gesprochen werden und daß sie sich diese Rechtfertigung in ihrem je eigenen Glauben aneignen müssen. Diese Entwicklung wird zwar in der lutherischen Orthodoxie, die auf die Reformation folgte, nicht eigentlich weiter bestärkt, dennoch läßt sich eine fortschreitende Verinnerlichung und Individualisierung des Glaubens bereits in der unmittelbar nachreformatorischen Zeit erkennen. Diese kann u.a. an der Kirchenmusik abgelesen werden. So ist von verschiedenen Theologen wie Hymnologen (Lukas Christ, Karl Barth, Heinrich Vogel, Dietrich Bonhoeffer) die Entwicklung des Chorais in der Zeit nach Luther als eine einzige Niedergangsgeschichte aufgefaßt worden, weg von Christus, Kirche und Objektivität, hin zum einzelnen, seinem Gefühl, seiner Subjektivität. Dieser Niedergang sei bereits in den Vilém Flusser, Die Geste des Musikhörens, in: ders., Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt a.M. 1994, 154f.

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Dichtungen Paul Gerhardts zu erkennen; der Pietismus mit seinem Interesse für Seelenzustände und Seelenerlebnisse sowie der Hervorhebung des Subjekts und die Aufklärung mit ihrer Ersetzung des göttlichen Wortes durch das Menschliche hätten ein übriges getan, das Christusbekenntnis der Kirche durch Selbstaussagen der einzelnen Menschen in der Gemeinde zu ersetzen - zu denken ist, im Hinblick auf diese Weiterentwicklung, an Choräle einerseits Tersteegens, andererseits Gellerts13. Die Theologie Schleiermachers mit ihrer Betonung des frommen Selbstbewußtseins des einzelnen hat, ungeachtet und sogar entgegen seiner Gewichtung der Gemeinde, hier weiter verstärkend gewirkt. Und möglicherweise verdankt sich die durch Mendelssohns Neuaufführung der Matthäuspassion 1829 in Berlin bewirkte Bach-Renaissance unter anderem auch der Tatsache, daß diese Musik den je einzelnen Hörer so unmittelbar und so stark anspricht. Es trifft zweifellos zu, daß die Bedeutung der christlichen Gemeinschaft für den Glauben von Protestanten oft zu wenig gesehen wird, auch, daß uns gelegentlich der Sinn fur die Bedeutung der kirchlichen Einheit abgeht. Doch dafür wird der einzelne Mensch angeleitet, sich selbst in jedem Moment coram Deo zu sehen und sich in diesem Gegenüber Rechenschaft abzulegen über sein Denken, Fühlen und Tun, was auch darum von besonderer Bedeutung ist, weil ja schließlich jeder vor Gott als seinem Richter stehen und sein Leben verantworten wird, weil ja schließlich jeder in seinem Sterben allein ist. Die protestantische Kirchenmusik ist hierbei ein wichtiger Faktor, denn sie erreicht diesen einzelnen, diesen vereinzelten Christen. Sie hilft, sie bewegt, sie berührt, sie tröstet, selbst die, die mit dem zugrundeliegenden Text an sich wenig anfangen können und mögen und „nur" die Musik hören wollen. Denn die Musik ist das, was sie ist, nur auf der Basis des Textes, sie sagt, was der Text sagt, nur mit ihren Mitteln. Gerade bei den Passionen Bachs ist das nicht zu trennen, denn seine Musik drückt mit ihren oft äußerst kühnen Harmonien genau das aus, was die Worte des Textes über das Ärgernis des Kreuzes und seine rettende Kraft für den Glauben weiterzugeben versuchen. Doch anders als gegenüber den Worten verschließen sich die Hörer den Tönen meist nicht.

13 Eine ausführliche Darstellung der Positionen sowie die Anführung der jeweiligen Belege finden sich in der noch nicht veröffentlichten Dissertation von Matthias Biermann, „Das Wort sie sollen lassen stahn . . . " Das Kirchenlied im „Kirchenkampf' der evangelischen Kirche 1933-1945, IV.1.1-5, 167-183.

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5. Bachs Passionen als Gottesdienst fur aufgeklärte Protestanten Bachs Musik fuhrt, so habe ich gesagt, den einzelnen Hörer unter das Kreuz, sie macht ihm die Realität des Todes sehr deutlich. Doch sie läßt ihn damit nicht allein, sie beläßt ihn nicht im Schmerz über die Unvermeidlichkeit des Todes. Sie zeigt ihm Hoffnung angesichts des Sterbens, des allgemeinen wie des individuellen eigenen Sterbens, indem sie auch das tiefste Leid nicht ohne ein Moment des Trostes in Klänge faßt, und indem sie mitunter überraschend genau - den Ratschlägen in Luthers „Sermon von der Bereitung zum Sterben"14 (1519) folgt. Vor allem die in diesem Zusammenhang zu machenden Beobachtungen lassen mich die Passionen auch, unter anderem, als Formen einer ars moriendi ansehen. Ich werde dies im wesentlichen an der Johannespassion (JP) zu zeigen versuchen, an einem Punkt gehe ich kurz auch auf die Matthäuspassion (MP) ein. In der JP ist Christus, wie im Evangelium, der inkarnierte Logos und der präexistente Gottessohn, der in Einheit mit dem Vater steht, er ist immer zugleich schon der Erhöhte, auch als Mensch. In Christus ist Gott Mensch geworden, und dem Jesus der JP ist das durchaus bewußt. Der Eingangschor der JP, der sich zum Prolog des Evangeliums in Beziehung setzen läßt, macht diese Sichtweise von vornherein deutlich („Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich worden ist" - Joh 1,14: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit") [JP l]15. Doch der Prolog spricht nicht nur von der Herrlichkeit des fleischgewordenen Wortes, vom Licht, das mit ihm in die Welt gekommen ist, er spricht auch von der Finsternis, die das in sie hineinleuchtende Licht nicht ergreift. Diese Rolle haben in der JP die „Jüden"16, was einige Chöre sehr plastisch gestalten, so vor allem „Wäre dieser nicht ein Übeltäter" und die darauf folgenden Abschnitte und „Kreuzige" [JP 36], Dem wird dann die Reaktion des Gottessohnes in deutlichster Kontrastierung auch im musikalischen Gestus gegenübergestellt Auch die Welt steht im Gegensatz zu Gott. Doch während die Juden mit Zorn und Verneinung reagieren, reagiert die Welt, in

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WA 2,685-697. Die Bezifferung der Musikbeispiele erfolgt nach den Einspielungen, Johannespassion: Ton Koopman (© Erato Disques S.A. 1994); Matthäuspassion: John Eliot Gardiner (© 1989 Deutsche Grammophon GmbH, Hamburg). 16 Statt hier immer wieder zu versuchen, Bach und seine Passion gegen den stereotypen Vorwurf des Antijudaismus in Schutz zu nehmen, sollte zum einen an die Entstehungssituation des Johannesevangeliums gedacht werden (Verfolgung der Christengemeinde durch die Synagoge), zum anderen an die Typologisierung, um die es Bach hier geht: Für ihn steht Glaube gegen Unglaube. 15

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der JP durch die römische Obrigkeit und die Soldaten respräsentiert, mit Schrecken, kurzem Innehalten und Rückkehr zum Tagesgeschäft. Denn die Welt weiß zwar um die Möglichkeit des Heils und des wahren Lebens, verfehlt es aber ständig. Anflüge der Erkenntnis sind zu entdecken zum Beispiel im Chor „Jesum von Nazareth" und im Rezitativ „Da Pilatus das Wort hörete". Doch das wirkliche Erkennen ist nur dem Glauben möglich. Insofern im Sohn Gottes dessen Heilsangebot an die Welt offenbar wurde, geschieht damit eine grundsätzliche Scheidung zwischen Licht und Finsternis. Auf Seiten des Lichtes stehen schließlich nur die Glaubenden, die zum Glauben Kommenden, die Bach als seine Hörer anspricht. Die Glaubenden reagieren auf die Christus-Offenbarung auf vier verschiedene Weisen. Die erste Reaktion ist zuversichtliche Gewißheit und Mut, die Arie „Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten" ist ein Beispiel dafür. Die zweite Reaktion ist Verehrung, demütige Unterordnung und Dank für die große erwiesene Liebe Christi, so z.B. im Choral „Ach, großer König" [JP 27], Die dritte Reaktion ist Sündenerkenntnis und Reue, ausgelöst durch den Anblick, vor allem aber durch den Blick Christi, so im Choral „Petrus, der nicht denkt zurück". Hier liegt natürlich zum einen ein Motiv mittelalterlicher Theologie vor, eine Haltung der Passionsfrömmigkeit, die Zerknirschung angesichts des Leidens, zum anderen ist dies aber protestantisch gewendet, denn es erfolgt kein Mitvollziehen des Leidens, sondern eigene Sündenerkenntnis [JP 20], Die vierte Reaktion ist die betrachtende Vertiefung in Christi Leiden - die „Erwäge"-Arie steht noch deutlicher in mittelalterlicher Tradition, denn hier führt tatsächlich die Haltung der Passionsfrömmigkeit, das kontemplative Versenken in das Leiden Christi (blutgefarbter Rücken) zum Trost, ein Motiv, wie es sich besonders in der Mystik Bernhards von Clairvaux findet (später findet sich eine ebenso blutige Mystik bei Zinzendorf): „Erwäge, wie sein blutgefarbter Rücken in allen Stücken dem Himmel gleiche geht." Doch wird zugleich - wie im Johannesevangelium - die Auferstehung mitgedacht: „Daran, nachdem die Wasserwogen von unsrer Sündflut sich verzogen, der allerschönste Regenbogen als Gottes Gnadenzeichen steht" - die Lesung von Gen 8 gehört ja in die Osternacht. Ähnliches ist im Arioso „Betrachte, meine Seel" zu finden, allerdings ist hier vor allem der Einfluß Luthers spürbar, wenn deutlich wird, daß im Sterben allein der Blick auf Christus zu trösten vermag [JP 31]. Der Blick auf Christus übt ein in eine wichtige Kunst, die des guten, seligen Sterbens, die der Mensch zu Lebzeiten erlernen muß, weil es im Tod selbst zu spät dazu ist. Zu dieser Kunst gehören verschiedene Aspekte, so der, daß der Tod ein Abschied von der Welt ist, der geordnet vollzogen werden sollte. Die weltliche Habe ist zu verteilen, auch geistlich ist Abschied zu nehmen. Luther dazu: „Wenn so jedermann Abschied auf Erden gegeben ist, dann soll man

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sich allein zu Gott richten, wohin der Weg des Sterbens sich auch kehrt und uns fuhrt." - Ein Beispiel fur ein solches Sterben bietet in der JP Jesus selbst, wie der Choral „Er nahm alles wohl in acht" heraushebt: Das Vorbild Christi soll in die eigene Lebenspraxis übertragen werden, die ars moriendi soll vom Sterben Christi lernen [JP 56], Für mein Gefühl noch eindrucksvoller ist diese Verbindung von Christi Tod mit dem menschlichen Sterben in der MP gestaltet: Auf den Tod Jesu antwortet der Choral „Wenn ich einmal soll scheiden", der die Hoffnung des ,Ich' auf Jesu Sterben gründet [MP 62]. Anders sagt es die wohl schönste Stelle der Passion, der chorisch komponierte Ausspruch des Hauptmanns und derer, die bei ihm standen: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen" [MP 63]. Als ein letztes Beispiel aus der MP nenne ich die Arie „Mache dich, mein Herze, rein", die das Sterben Jesu nicht nur aneignet, sondern den toten Jesus tatsächlich verinnerlicht: „Ich will Jesum selbst begraben. Denn er soll nunmehr in mir für und für seine süße Ruhe haben." [MP 65] Doch zurück zu Luther und der JP. Daß auch ein geordnetes Sterben und ein Sterben auf Christus hin nicht leicht ist, ist sowohl Luther wie Bach bewußt. Dazu noch einmal Luther: „So muß man sich auch im Sterben auf die Angst gefaßt machen und wissen, daß danach ein großer Raum und Freude sein wird." Die Ängste sind verschiedener Art, kreatürlich, körperlich, seelisch, geistlich. Zu den geistlichen Ängsten gehören drei Bilder, das Bild des Todes, das Bild der Sünde und das Bild der Hölle und der ewigen Verdammnis. Diese Bilder wachsen, wenn der Mensch sich dem Sterben nähert. Der Tod wird groß und erschreckend dadurch, daß die schwache, verzagte Natur dies Bild zu tief in sich hineinbildet, es zu sehr vor Augen hat. [... Und] je tiefer der Tod betrachtet, angesehen und erkannt wird, desto schwerer und gefahrlicher das Sterben ist. Im Leben sollte man sich mit des Todes Gedanken üben und sie zu uns fordern, wenn er noch fern ist und einen nicht in die Enge treibt. Aber im Sterben, wenn er von selbst schon allzu stark da ist, ist es gefahrlich und nichts nütze.

Ebenso ist es mit dem Bewußtsein der eigenen Sünde und mit der Vorstellung von der Strafe, die diese Sünde verdiente, der Verdammnis. Im Sterben soll sich der Mensch diese Bilder nicht ins Haus laden, sie gehören in diese Zeit nur, um mit ihnen zu fechten und sie auszutreiben. [...] Wer nun gut mit ihnen fechten will und sie austreiben, dem wird es nicht genügen, daß er sich mit ihnen zerrt und schlägt oder ringt. Denn sie werden ihm zu stark sein, und es wird ärger und ärger. Die Kunst ist's ganz und gar, sie fallenzulassen und nichts mit ihnen zu schaffen zu haben. Wie geht das aber zu? Es geht so zu: Du mußt den Tod in dem Leben, die Sünde in der Gnade, die Hölle im Himmel ansehen und dich von dem Ansehen oder Blick nicht lassen wegtreiben [...]. Sondern du mußt deine Augen, deines Herzens Gedanken und alle deine Sinne entschlossen abkehren von diesem

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Bild und den Tod stark und beharrlich ansehen nur in denen, die in Gottes Gnade gestorben sind und den Tod überwunden haben, vornehmlich in Christus [...]. Denn Christus ist nichts als lauter Leben [...]. Je tiefer und fester du dies Bild in dich hineinbildest und ansiehst, desto mehr fallt des Todes Bild ab und verschwindet von selbst ohne alles Zerren und Streiten. Und so hat dein Herz Frieden und kann mit Christus und in Christus ruhig sterben [... Du mußt dich] um den Tod Christi allein bekümmern, dann wirst du das Leben finden.

Diese Gedanken Luthers finden ihre Entsprechung in der JP wiederum in einem Choral, „In meines Herzens Grunde". Der Glaube eignet sich das Kreuzesgeschehen an und schöpft Zuversicht aus dem Bild des Gekreuzigten, ganz so, wie Luther es empfiehlt. [JP 52] In der Nachzeichnung des Sterbens Christi folgt Bach dem Johannesevangelium, trägt aber, wohl zur Betonung der menschlichen Natur Christi und der darin gegebenen und im Glauben fruchtbar zu machenden Nähe zum Menschen, zugleich das Motiv des Leidens ein, zu denken ist hier besonders an die Arie „Es ist vollbracht" - er betont also die zwei Naturen, aber hebt, durchaus johanneisch, den Tod des „Helden" als Sieg hervor; zugleich geschieht hier die Aneingung des heilsgeschichtlichen Todes für die Glaubenden („Trost für die gekränkten Seelen"). Das knappe Rezitativ „Und neigte das Haupt" zeigt dann wiederum den Tod des Menschen Jesus und betont das Kreuz. Nun kann das Kreuzesgeschehen ja vor allem trösten, weil das Kreuz nicht das letzte Wort hat. Und es tröstet - noch einmal - , indem es sich der Glaubende zu eigen macht. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist das Ineinander von Arie und Choral in „Mein teurer Heiland". Der Solist fragt angesichts des Gekreuzigten, ob er vom „Sterben frei gemacht" sei, ob er durch Jesu Pein und Sterben das Himmelreich ererben könne, der Chor singt in diese Frage hinein seine Bitte: „Jesu, der du wärest tot, lebest nun ohn' Ende, in der letzten Todesnot nirgend mich hinwende, als zu dir, der mich versühnt! O mein trauter Herre! gieb mir nur, was du verdient, mehr ich nicht begehre." Auf diese zuversichtliche Bitte hin findet nun der Solist die Antwort auf seine Frage nach der Befreiung aus dem Tod: „Doch neigest du das Haupt und sprichst stillschweigend: Ja." Es wird nicht in der Betrachtung des irdischen Endes verweilt, die himmlische Fortsetzung, um die es bei dem Geschehen eigentlich geht, wird mitformuliert. [JP 60] Der zerreißende Vorhang des Tempels, den Bach aus dem Matthäusevangelium in die JP übernommen hat, zeigt die kosmische Dimension des Geschehens - das Heil ereignet sich nicht still im Herzen des Glaubenden, es betrifft die Welt, ergeht als Heil für die Welt oder, wenn es nicht angenommen wird, als Gericht über sie. Dennoch ist die individuelle Reaktion des einzelnen von größerer Bedeutung - die „Zerfließe"-Arie fuhrt erneut zur Aneignung des heilvollen Todes, diesmal auch, eher matthäisch, im

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Gestus der Trauer: „Zerfließe, mein Herze, in Fluten der Zähren, dem Höchsten zu Ehren. Erzähle der Welt und dem Himmel die Not, dein Jesus ist tot!" Hier liegt wiederum ein Beispiel für die schon mehrfach zu beobachtende mittelalterliche Passionsfrömmigkeit vor und ebenso ein Erbe der Mystik, die die Bitte um die „Gabe der Tränen" kennt. Der Schlußchor erinnert mit seinem „Ruht wohl" an den vollbrachten Tod, doch sollen die Glaubenden nun nicht länger beim Leiden und Sterben verharren, sondern an das Resultat denken: „Das Grab, so euch bestimmet ist, und ferner keine Not umschließt, macht mir den Himmel auf, den Himmel auf - und schließt die Hölle zu." Die Öffnung des Himmels wird in aufsteigender Linie zweimal ausgesagt, das Schließen der Hölle, leise und in absteigender Linie, nur einmal - das Werk ist getan, ein für allemal, eine Wiederholung ist nicht notwendig, weder in der Musik noch in der Wirklichkeit. Das Grab hat nicht das letzte Wort, die Trauer ist angesichts der kräftig ausgesprochenen Hoffnung nicht weiter erforderlich. Der vollbrachte Tod öffnet dem einzelnen Glaubenden den Himmel und schließt die Hölle, schafft damit den Frieden der Seele, die sich nach dem eigenen Sterben in der Ruhe in Abrahams Schoß wiederfindet und dort auf eine Auferstehung wartet, die vor allem die Gemeinschaft mit Gott schenkt. [JP 68]

6. Ein kurzes Fazit Musik ist Sprache, aber nicht begriffliche Sprache. Sie vermittelt Erkenntnis, aber eine nicht unmittelbar kognitiv faßbare Erkenntnis. Nachträglich kann sie beschrieben und dazu in begriffliche Sprache gefaßt, und so dem Diskurs, auch einer rationalen Überprüfung, zugänglich gemacht werden. Aber es ist sehr fraglich, ob so die durch Musik vermittelte Erkenntnis je ganz erfaßt werden kann. Bach hat nun die theologischen und spirituellen Aussagen seiner Texte in Musik geschrieben. Seine musikalische Sprache transportiert das theologische Wissen Luthers ebenso wie den diesem zugrundeliegenden geistlichen Gehalt - nicht unabhängig von den verwendeten Worten, aber doch auch nicht ausschließlich auf sie beschränkt. Die Sprache seiner Musik spricht den Gehalt der Worte dem einzelnen Menschen zu, sie spricht in ihn hinein, auch wenn sein aufgeklärter Verstand sich - für sich allein genommen gegen diese Inhalte aussprechen würde. Die Musik Bachs artikuliert seine Angst, seinen Schmerz, seine Zuversicht, seine Freude. Sie bindet alle diese Gefühle zuchtvoll ein in eine geformte Gestalt und macht sie so ertragbar. Darin dürfte eine wesentliche Ursache dafür liegen, daß Bachs Passionen auch solche Menschen unter das Kreuz führen und ihnen den Trost des

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Aufgehobenseins ihres eigenen Sterbens vermitteln, die den entsprechenden dogmatischen Sätzen nicht zustimmen können oder wollen. Freilich ist diese Wirkung wohl oft auf das Gefühl beschränkt, ein Gefühl, das nicht weiter reflektiert und nicht in bewußte Zuversicht überführt wird, somit also höchst anfechtbar und zerbrechlich bleibt. Doch eine Stärkung angesichts des Todes, eine vom kritischen Verstand vielleicht belächelte, vom Herzen aber wenn nicht geglaubte, so doch gewünschte Hoffnung bewirkt Bachs Musik bei vielen auch kirchenfernen ihrer Hörerinnen und Hörer. Und oft kann das gemeinsame Erleben der Musik, das je für sich in den Tiefenschichten Berührt-Sein durch sie zudem noch helfen, die Vereinzelung des hörenden Individuums zu überwinden. Bachs Passionen sind damit eine Gestalt evangelischer Spiritualität, die auch heute, in dieser dem christlichen Glauben nicht besonders freundlichen Zeit, diesen Glauben verkündigt als Halt im Leben wie im Sterben, und die dabei weit über die Grenzen der Kerngemeinde hinaus wirksam wird.

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Aufklärung und Anbetung Eine religionspsychologische Perspektive'

1. Charakteristika eines Phänomens

„Am Ende der Aufklärung steht das goldene Kalb" - diesen Titel hatte Max Frisch für seinen Vortrag anlässlich seines 75. Geburtstags 1986 gewählt. In dieser Rede zählt er auf, was alles im Rahmen des Projektes Aufklärung schief gegangen ist, für ihn im Grunde alles. Unter Aufklärung versteht er, dass sich die sittliche Vernunft in einer entsprechenden Praxis durchsetzt. Er wurde enttäuscht, denn an deren Stelle sei die Anbetung von Profit, menschenverachtenden Ideologien und vieles mehr getreten. Und doch bleibt er bei seinem Glauben an die sittliche Vernunft und hofft, dass es besser wird. Was Aufklärung ist und worin sie besteht, ist sehr unterschiedlich bestimmt worden. Ich greife einen Aspekt heraus, der auch zum Inventar der Aufklärungskultur zählt, nämlich den Versuch des Menschen, sich über sich selbst aufzuklären, einschließlich der Genese von Vernunft und Moralität. Die Vernunft ist in einem solchen Fall nicht Akteur, sondern, religionspsychologisch gesehen, Gegenstand der empirischen Forschung. Methodisch setzen empirische Zugänge voraus, die Wirklichkeit nüchtern zu beobachten und zu analysieren, um alles zum Objekt einer Analyse zu machen, auch sich selbst. Der Beobachter wird zum Beobachter seiner selbst. Was lässt sich beobachten? Dass Menschen offenbar nicht umhin können, irgendetwas zu verehren bzw. anzubeten mit fließenden Übergängen vom einen zum anderen: Anbetung als Steigerung von Verehrung. Ein erstes Beispiel2: Als die französische Revolution die alte Ordnung von Gott und König über Bord geworfen hatte, wurden diese Instanzen nicht einfach abgeschafft, sondern durch andere Objekte der Verehrung in rituellen Festen ersetzt. Der Auftakt war das Verfassungsfest vom 10. Au-

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Die religionspsychologische Perspektive geht auf den Wunsch des Veranstalters zurück. Vgl. Karlheinz Stierle, Die Friedensfeier - Sprache und Fest im revolutionären und nachrevolutionären Frankreich und bei Hölderlin, in: Das Fest, Poetik und Hermeneutik Bd. XIV, Walter Haug/Rainer Warning (Hg.), München 1989. 2

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gust 1793, im gleichen Jahr am 10. November folgten das „Fest der Vernunft" und am 8. Juni des nächsten Jahres das „Fest des Höchsten Wesens". Das Verfassungsfest bestand im Abschreiten verschiedener Stationen, die in Paris aufgebaut wurden. Die erste Station stellte den Brunnen der Erneuerung dar in der Gestalt der Göttin Isis als Symbolfigur der Natur, aus deren Brüsten das Leben spendende Wasser floss. Alle, zuerst die Deputierten, sollten davon trinken. Der nachfolgende Friedenskuss schloss ein Ritual ab, das die christliche Kommunion kopierte, um der neuen brüderlichen Gemeinschaft die entsprechende religiöse Weihe zu geben. Die zweite Station war der Triumphbogen des Königs, der vom jakobinischen Künstler Jacques-Louis David mit Reliefs guillotinierter Köpfe geschmückt wurde: Erst die Vernichtung der Feinde bahnte der Ankunft der neuen republikanischen Heilsordnung den Weg. Die sechste und letzte Station, zu der das Volk wie auf einen Kalvarienberg pilgerte, war das Monument für die toten Helden der Revolution, wo man eine Andacht zu Ehren der Märtyreropfer hielt. Der Vernunft, der Leben spendenden Natur, der Republik und den Revolutionären wurde durch öffentliche Inszenierungen polemisch-affirmativ anbetende Verehrung zuteil. Aber es ist nicht notwendig, so weit zurückzugehen. Die Events der Papstreisen mit einer Masse jubelnder Verehrer/innen, beliebte Sendungen wie die (österreichischen) „Seitenblicke", in denen alle möglichen Promis auftreten, oder Starmania, wo man sich selbst als Idol inszenieren kann, die Übertragung des Opernballs mit tausenden von Zuschauern oder die Beliebtheit von Zeitschriften, die skandalöse oder tragische Geschichten von gekrönten Häuptern erzählen - alles das weist in dieselbe Richtung: verehren und verehrt werden. Dieser empirische Befund zeigt: Aufklärung setzt anbetende Verehrung nicht außer Kraft, sondern fuhrt lediglich einen Objektwechsel herbei. Anbetende Verehrung gilt dann nicht mehr dem einen Gott, sondern kann sich viele unterschiedliche Objekte wählen. Daher teile ich nicht die verbreitete Freude der Theologenschaft, wenn sie religiöse bzw. christliche Symbole im säkularen Ambiente aufspürt und in diesen eine „Wiederkehr" des Religiösen zu erkennen meint; der Objektwechsel ist unübersehbar.

2. Psychodynamische Blitzlichter Wie entsteht Kultur? Wie kommt es zum Tötungsverbot oder zu Sätzen wie „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst"? Eine herausfordernde Frage für Sigmund Freud, für den der Mensch von mächtigen Trieben beherrscht wird. Wie wird der Mensch dieser Triebe Herr - die Voraussetzung für

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Kulturbildung? In der vierten Abhandlung seiner Schrift „Totem und Tabu", die er selbst als seine gelungenste Arbeit empfand, greift er zum ersten Mal auf Darwin und dessen Theorie von der Urhorde zurück, die dann auch in weiteren Arbeiten bestimmend bleibt. Die früheste Sozialform besteht nach Darwin, der Freudschen Rezeption entsprechend, darin, dass ein „gewalttätiger, eifersüchtiger Vater" herrschte, „der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt".3 Daran schließt Freud seine psychologische Interpretation an: Dieser Vater der Urhorde war frei, „absolut narzisstisch", „selbstsicher und selbständig", „liebte niemanden außer sich, und die anderen nur, insoweit sie seinen Bedürfnissen dienten"; er war „der Übermensch, den Nietzsche erst von der Zukunft erwartete".4 Somit waren die Söhne an der Befriedigung ihrer Bedürfnisse, wozu vor allem sexuelle Strebungen zählen, gehindert, was zu einer Ambivalenz der Gefühle führte. Einerseits hatten sie Angst vor dem Urvater, hassten und ermordeten ihn sogar, weil er ihren Bedürfnissen im Wege stand, andererseits wollten sie so sein wie er, verehrten sie ihn, waren sie an ihn durch eine libidinose Identifikation gebunden, die nur aufgrund des Triebverzichts möglich geworden war.5 Der Mord, der Urmord am Urvater, wurde verdrängt und doch blieb die Ambivalenz der Gefühle bestehen. Die Befriedigung des Hasses hob weder die Angst vor der Autorität noch deren Verehrung auf, so dass sich die Aggression in ein Schuldgefühl verwandelte, das, als Ich-Ideal oder Überich introjiziert, eine Instanz darstellt. Diese wacht noch strenger über das Ich, als es der Urvater getan hatte, und will dafür sorgen, dass die mörderische Tat nicht wiederholt wird6: für Freud der Ursprung von sozialen Organisationen, sittlichen Einschränkungen, auch durch die Verbote der Religion, mithin von Kulturentwicklung.7 Nur dadurch kann für ihn eine „Vereinigung vereinzelter Menschen zu einer unter sich libidinös verbundenen Gemeinschaft" entstehen, was in der Brüderschar seinen Anfang genommen hatte.

Sigmund Freud, Totem und Tabu (1912/13), in: Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt a.M. 1982,425 (zit. Freud, Totem). 4 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), in: Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt a.M. 1982, 115 (zit. Freud, Massenpsychologie). 5 Freud, Totem, 426, 427; Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt a.M. 1982, 258; vgl. 130, 116 (zit. Freud, Unbehagen); 129: „Die gehemmten Sexualtriebe haben vor den ungehemmten einen großen funktionellen Vorteil. Da sie einer eigentlich vollen Befriedigung nicht fähig sind, eignen sie sich besonders dazu, dauernde Bindungen zu schaffen, während die direkt sexuellen jedes Mal durch die Befriedigung ihrer Energie verlustig werden und auf Erneuerung durch Wiederanhäufung der sexuellen Libido warten müssen, wobei inzwischen das Objekt gewechselt werden kann". 6 7

Freud, Unbehagen, 258. Freud, Totem, 426.

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Diese Urhordentheorie ist für Freud ein historisches Ereignis, weil er der empirischen Methode folgt, Empirisches ausschließlich aus Empirischem zu erklären und dabei zu einer historischen Erstursache vorzudringen. Die Stichhaltigkeit dieses Vorgehens kann mit vielen Gründen bezweifelt werden. Interessant ist aber, dass Freud selbst von einem „Mythus" spricht.8 Auch wenn er diesen „wissenschaftlich" nennt, müssen wir dem nicht folgen und können beim ätiologischen Mythos bleiben, wie auch z.B. Plato immer dann einen Mythos einsetzt, wenn keine weitere dahinterliegende Ursache ausgemacht werden kann. So gesehen ist Darwins Urhordentheorie in Freudscher Abwandlung eine Sündenfallgeschichte. Dieser Mythos besagt dann, wie auch die Erzählung in Genesis 3: Der Mensch ist, wie er ist, und die Frage, wie er so geworden ist, lässt sich nicht mehr beantworten. Die Psychodynamik der Ambivalenz der Gefühle, die als Mechanismus unbewusst abläuft, hat Freud zuerst am Individuum entdeckt. Als Empiriker lehnt er jedes natürliche Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse ab, sondern führt dies auf einen äußeren Einfluss zurück. Den Grund, warum sich ein Mensch einem solchen Einfluss unterwirft, sieht er in der Hilflosigkeit und Abhängigkeit, wie sie dem kleinen Kind eigen sind, das den Vater - manchmal spricht Freud auch von Elterninstanzen9 - als übermächtig erlebt, ihn bewundert, verehrt und sein möchte wie er. Zugleich legt ihm der Vater Triebverzicht auf und löst damit Aggressionen aus - der Vaterkomplex. Alle unmittelbaren Bedürfnisse werden in die Schranken gewiesen, und Freud wäre nicht Freud, stünde dabei die sexuelle Komponente nicht im Vordergrund - der Ödipuskomplex. Auf die Verbote reagiert das Kind nach Freud mit Wut, die es sich aber aufgrund seiner Abhängigkeit nicht leisten kann, weil es damit auch den Schutz vor Gefahren einbüßen würde. Daraus resultieren die Angst vor der Strafe und ein unvermeidliches Schuldgefühl nicht nur in Bezug auf eine Tat, sondern bereits auf den Wunsch, eine solche zu begehen.10 Freud nennt das soziale Angst oder Angst vor dem Liebesverlust. Die Lösung dieses Ambivalenzkonflikts besteht nun in einer Art „Schubumkehr": Die Identifikation mit dem Vater bzw. mit der jeweils stärkeren Elterninstanz tritt in den Vordergrund, das Kind nimmt ihn zu seinem Ideal, woraus sich dann das Über-Ich als Quelle der Moral und als wertvoller Kulturbesitz entwickelt. Ohne weitere Begründung führt Freud als Prämisse die „Aufgabe des Zusammenlebens" ein, weshalb der Ambivalenzkonflikt auch dem Erwach-

Freud, Massenpsychologie, 126. Freud, Totem, 440. 10 Vgl. Herman Westerink, A Dark Trace. Sigmund Freud on the Sense of Guilt, Leuven University Press 2009. 9

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senen erhalten bleibt, wenn an die Stelle der Eltern die größere menschliche Gemeinschaft tritt." Damit überschneiden sich für ihn zwei ungleiche Strebungen, diejenige nach individueller Glücksbefriedigung und diejenige nach menschlichem Anschluss, denn der Mensch kann nicht in Vereinzelung leben.12 Freud spricht im Darwinschen Sinne von der „Anpassung an die menschliche Gemeinschaft", ohne die auch keine Glücksbefriedigung möglich sei.13 Aber auch in der größeren menschlichen Gemeinschaft greifen dieselben Mechanismen, wenn etwa eine Führerpersönlichkeit auftritt, die sich wie der Vater bzw. der Vater der Urhorde benimmt, die Massen in seinen Bann zieht und ein Kultur-Über-Ich zur Ausbildung bringt.14 Fazit: Billigt man dem Ambivalenzkonflikt Plausibilität zu, werden sich Menschen immer mit etwas Großem identifizieren, es verehren und anbeten als Voraussetzung für eine Kulturentwicklung, die nach Freud zur höheren Geistigkeit als seinem psychologischen Ideal fuhrt.15 Es ist gerade der Aufklärer Sigmund Freud, der so etwas Unaufgeklärtem wie Verehrung and Anbetung auf seine Weise Tribut zollt.

3. Subjektives Erleben Es gehört zum Profil des empirischen Zugangs, dass es sich um eine Außensicht auf den Menschen handelt, der einem gesetzmäßigen Zusammenwirken von Ursachen unterworfen ist. Aber das Objekt Mensch ist zugleich das Subjekt Mensch, das auf sich selbst schaut als ein Objekt verschiedenster, auch seelischer Umtriebe. Dieses Moment des Bewusstseins seiner selbst hat der amerikanische Anthropologe Ernest Becker (1925-1974), der Psychoanalyse zugetan, in die Theoriebildung aufgenommen. Als Darwinist sieht er das Bewusstsein als Folge der Evolution des Großhirns, was für ihn die Sache aber nur schlimmer macht: Der Mensch ist ein Organismus, der weiß, dass das Leben auf diesem Planeten ein blutrünstiges Spektakel darstellt, und auch weiß, dass er sterben wird.16 Sich als einen tierischen, ver11

Freud, Unbehagen, 251, 258. Ebd., 266. 13 Ebd., 265. 14 Ebd., 266f, 258. 15 Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt a.M. 1982, 563; vgl. Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927), in: Studienausgabe, Bd. IX, 186, 181 (zit. Freud, Zukunft). 16 Ernest Becker, Escape from Evil, The Free Press, New York 1975, Iff (zit. Becker, Evil): "[...] life on this planet is a gory spectacle, a science-fiction nightmare in which digestive tracts fitted with teeth at one end are tearing away at whatever flesh they can reach, and at the other end are piling up the fuming waste excrement as they move along in search of more flesh. [...] in man the search for appetitive satisfaction has become conscious: he is an organism who knows [...]"; 12

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dauenden und geschlechtlichen Organismus wahrzunehmen, führe vor allem einen Angriff auf die Selbstachtung, woraus die brennende Sehnsucht entstehe, als Individuum etwas zu zählen, nicht ohne Sinn auf diesem Planten gelebt, gearbeitet, gelitten zu haben und gestorben zu sein. Der Mensch ist nun einmal, schreibt Becker, „ein Wesen mit einem Namen in einer Welt voller Symbole und Träume und nicht nur voller Materie".17 Quellen für Symbole sind für ihn Wünsche und Verheißungen in Bezug auf sich selbst und auf eine Welt, die Befriedigung und „Glück" bereitstellt und damit Sinn macht. Daher nennt er die Gesellschaft „ein symbolisches Handlungssystem", das mit Ordnung, Stabilität und Dauer für das Individuum eine Mauer gegen das Eindringen des Todesbewusstseins schafft.18 Dafür wären nun die Religionen zuständig, für die die Überwindung des Todes - auf unterschiedliche Weise - im Mittelpunkt steht. Schön wäre es, meint Becker, aber gerade diese eschatologische Dimension sieht er zugleich als Schwäche im System, denn was soll, um mit Freud zu sprechen, „die Vorspiegelung eines Großgrundbesitzes auf dem Mond, von dessen Ertrag doch noch nie jemand etwas gesehen hat".19 Da das nun nicht zu funktionieren scheint, kommt es nach Becker zu Unsterblichkeitsz'úfeo/og/ew, entsteht der Faustische Mensch, der sich in den Besitz des Geheimnisses über das Wirken der Natur bringt und in der Realität schafft, was die Religionen verheißen: eine perfekte, gesicherte, von Zweifel und Unheil befreite Welt dauerhaften Wohlergehens und langen Lebens. Becker nennt das cawsa-swz-Projekte, deren Händler als säkulare Heroen auftreten, als verehrte und angebetete politische Führer, die unrealistische Verheißungen verbreiten und dafür einen Zoll einheben, der vielen das Leben kostet.20 Wirft man nun einen Blick auf das persönliche Erleben der Personen, also in die Biografie außerhalb der Theoriebildung, dann zeigt sich noch einmal ein anderes Szenarium. Sigmund Freud, durch den Antisemitismus gedemütigt und bedroht, hat sich sein ganzes Leben lang mit großen Gestalten identifiziert - und sie verehrt: mit Hannibal, Oliver Cromwell und vor allem mit Moses, dem Aufklärer, der dem jüdischen Volk Triebverzicht abverlangt hatte und dafür mit dem Tod bezahlen musste. Auch Freud, der Propagandist des Triebverzichts, sah sich als Aufklärer und - ebenfalls - als Opfer. Er zeigt die eher passive Variante der Ergebung ins Schicksal ohne große Freude an den Mitmenschen, die er gerne als „Gesindel" bezeichnete. vgl. Ernest Becker, The Denial of Death, The Free Press, New York 1976 (1973), 53f, 96 (zit. Becker, Denial). 17 Becker, Denial, 22. 18 Ebd., 24f. 19 Freud, Zukunft, 183. 20 Becker, Evil, 93; Becker, Denial, 228f.

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Hat sich Freud mit seinem Moses in einen Tagtraum begeben, einen Schonraum, um sich vor dem Schmerz von Verlust- und Enttäuschungserlebnissen zu schützen und sein Selbstwertgefuhl zu bewahren, wie GrubrichSimitis meint?21 Becker empfand den Körper als „Schicksalsfluch" und Quelle der Angst. Er vertritt eher die aktive, „heroische" Variante im Kampf gegen die causaswz'-Projekte und die Identifikation mit deren destruktiven Führern. Sein ganzes Leben lang polemisierte er gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, nahm an Antikriegsdemonstrationen teil, verlor seine Stelle an der Universität Syracuse, legte aus Protest eine Stelle an der San Francisco State University nieder, führte ein unstetes Leben. Darwin spielt in diesen Konzepten eine große Rolle mit einer Evolutionstheorie, die die Prinzipen entdeckt hat, nach denen sich das Leben von einfachen bis zu immer komplexeren Formen entwickelt: durch zweigeschlechtliche Organisation, den Kampf ums Dasein - survival of the fittest - , durch Selektion und den Tod der Individuen, der der Weiterentwicklung des Lebens dient. Darwin selbst war zwar dem Kampf ums Dasein nicht ausgesetzt; durch ein reiches Elternhaus und eine reiche Heirat konnte er in Ruhe seine Forschungen betreiben und seine Wehwehchen pflegen. Aber gegen Ende seines Lebens beklagte er einen Verlust an Glück, weil ihm die Freude an Kunst, Literatur und Musik völlig abhanden gekommen war, die Freude an Romanen mit happy end - alles andere sollte verboten werden und mit einer Figur, „die ich durch und durch lieben" kann: eine Suche nach Identifikation.22 Im Rücken szientistischer Wissenschaften scheinen Tagträume und der Wunsch nach Identifikation zu blühen. Das bedeutet nun aber, dass die Aufklärung des Menschen über sich selbst die Dynamiken, die sie entdeckt hat, nicht so einfach außer Kraft setzen kann. Zugespitzt gefragt: Landen solche Analysen nicht notgedrungen in einer Sündenfallerzählung? Offenbar helfen keine noch so katastrophalen Erfahrungen mit verehrten politischen Führern, keine Aufklärung über systemische Prozesse in der Wirtschaft, über die Grenzen des menschlich Möglichen gegen den Glauben an die ehrwürdigen Verheißungen der Fortschrittsidee, die im 19. Jahrhundert ihre Hochblüte hatte und bis heute virulent ist. Dass das Geld für uns arbeiten kann, ohne dass wir einen Finger rühren, die Wunderheiler zuwege bringen, was die Schulmedizin nicht schafft, die Natur es gut mit uns meint und der Tod wie ein Wintermantel ist, den man zu Beginn des

Ilse Grubrich-Simitis, Freuds Moses-Studie als Tagtraum. Ein biographischer Essay, Weinheim 1991,26, 40. 22 http://darwin-online.org.uk/content/frameset?viewtype=side&itemID=F 1452.1 &pageseq= 119, Übers, in: Otto A. Böhmer, Neue Sternstunden der Philosophie, München 1995, 121 f.

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Frühlings weghängt23 - alles das sind und bleiben aufklärungsresistente Seifenblasen, deren Zerplatzen dann als schuldhaftes Versagen einzelner gebrandmarkt wird. Und so kann man heute auch in Predigten viele moralische Appelle hören, manchmal auch historische Realienkunde, aber kaum etwas zu dem, was die Menschheit plagt: Wie können Menschen mit allem Begrenzten und Endlichen zurechtkommen, ohne Ideen und Führer zu verehren und anzubeten oder die Welt zu verfluchen?

4. Eine mögliche Haltung Interessant ist ja, dass beide, Freud und Becker, durch die Aufklärung über sich selbst auf eine Gefahr stoßen, die sie bannen wollen: hier der ungebremste Übermensch24, dort die großen Führer mit ihren causa-suiProjekten. Das Bewusstmachen der Prozesse, die dahin fuhren, soll den Fortschritt bringen. Freilich fragt sich, ob dieses Bewusstmachen schon die Lösung bedeutet, die Erfahrung spricht großteils dagegen. Bleibt man beim realistischen Blick, den dieses Aufklärungsprojekt zur Verfügung stellt, dann bedeutet das aber nun, z.B. mit Albert Schweitzer zur Kenntnis zu nehmen: „[...] nichts ändert sich weniger in der Geschichte als der Mensch und die Probleme des Verhaltens von Mensch zu Mensch."25 Dies sieht er in der apokalyptisch-pessimistischen „Weltanschauung" des Reich-GottesGedankens verankert, der nicht Anlass dazu geben wollte, Zustände dieses Reiches in der Menschheit zu etablieren26, sondern auf eine „übersinnliche" Größe verweist27, die erwartet sein will. Daraus resultiert für ihn eine „Gesinnung", die weder ausgreift, den „Sinn des Ganzen" der Welt zu erfassen, noch sich von äußeren und widrigen Umständen abhängig macht, eine Haltung, die nicht von der Welt ist28, aber in der Welt wirkt und Oasen gelingenden Lebens schaffen kann. Ich habe zu zeigen versucht, dass Aufklärung und Verehrung bzw. Anbetung keine Gegensätze sind, wie gemeinhin angenommen wird, sondern die Aufklärung über uns selbst bewusst machen kann, dass wir dazu geneigt 23

Vgl. Elisabeth Kübler-Ross, Über den Tod und das Leben danach, Neuwied 161994, 23, 77, 88 u.ö.; Elisabeth Kübler-Ross, Erfülltes Leben, würdiges Sterben, Gütersloh 1998, 56, 60 u.ö. 24 Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Jeffrey Moussaieff Masson (Hg.), Manuskript N, Franfurt/Main 1986, 269. Hier formuliert Freud zum ersten Mal, dass der Triebverzicht die Voraussetzung für Zivilisationsprozesse darstellt, denen er den „Übermensch" kritisch entgegenstellt. 25 Albert Schweitzer, Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben, Kulturphilosophie III, 1,2, Werke aus dem Nachlaß, Claus Günzler/Johann Zürcher (Hg.), München 1999, 121. 26 Ebd., 127. 27 Ebd., 120. 28 Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, München 7 1948, XII, 272f.

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sind, ja gar nicht umhin können, uns alle möglichen Objekte der Anbetung zu suchen. So kann Aufklärung zu Einsichten fuhren, die zwar bereits den biblischen Schriftstellern bekannt sind, aber zugleich deutlich machen, dass es nichts bringt, Polemik zu betreiben und die Menschheit dafür zu schelten, dass sie sich Ersatzobjekte fur Gott sucht, als sei Gott ein selbstverständliches und ursprüngliches Verehrungsobjekt, von dem sie abgewichen sind; oder den Menschen einzureden, endlich ihre Ersatzobjekte zu lassen und sich dem einen, einzig wahren Objekt der Anbetung zuzuwenden. Ebenso wenig macht es Sinn, innerhalb des Projektes Aufklärung Gott dort einzuschleusen, wo Erklärungen fehlen, wenn sich z.B. nicht mehr empirisch erklären lässt, wo die selbstregulierende Kraft in der Natur ihren Ursprung hat. Die andere Variante, diese Kraft göttlich zu nennen und daraus eine eigene Religion zu machen, ist zwar sehr beliebt, hat aber nichts mit einer biblisch-christlichen Frömmigkeit zu tun, um die es hier geht. Das Ganze weist in eine andere Richtung. Selbst wenn sich beweisen ließe, dass Gott „existiert", um eine heute gängige Formel aufzunehmen, kann das jedermann kalt lassen, solange nicht erkennbar wird, als wer und in welcher Weise Gott „für mich" da ist. Hans Blumenberg hat den Begriff „Bedeutsamkeit" geprägt29 und damit gegenüber dem Begriff der Bedeutung zum Ausdruck gebracht, dass ohne den Bezug „zu mir", „zu uns", eine Fülle von Bedeutungen durch die Gegend schwirrt, die niemanden bewegen. Dass mir „etwas" etwas bedeutet, andere Menschen mir etwas bedeuten, das Dasein mir etwas bedeutet, darum geht es. Die empirischen Wissenschaften bringen Nachrichten über die Wirklichkeit. Was der Poet Peter Hacks über die Kunst sagt, lässt sich gleichermaßen über den Glauben sagen: Er ist keine Nachricht über die Wirklichkeit, sondern die Nachricht über eine Haltung, die man der Wirklichkeit gegenüber einnehmen kanniü, freilich nicht einnehmen muss. Aus der Sicht des Glaubens büßt nichts von dem seine Gültigkeit ein, was die Psychologie - das war mein primäres Beispiel - an Einsichten über den Zustand des Menschen zu Tage fördert. Vielmehr umgekehrt und mit Max Weber gesprochen: „Die Erfahrung von der Irrationalität der Welt war ja die treibende Kraft aller Religionsentwicklung".31 Daher erübrigt sich auch, gegen eine Aufklärung über uns selbst anzukämpfen und Polemik gegen die Psychoanalyse zu betreiben, vielmehr lässt sich daraus gegenüber anderslautenden Prognosen eine andere Lehre ziehen - dass nämlich der Mensch in die Ambivalenz zwischen Hass und Liebe, zwischen Bewusstsein und natürli29

Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfort a.M. 1996 (1979), Kap. III. Peter Hacks, Das Poetische, Frankfort a.M. 1972,91 ; Hvhg. S.H. 31 Max Weber, Politik als Beruf, in: Horst Baier u.a. (Hg.), Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 17, Abteilung I: Schriften und Reden, Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter (Hg.), Tübingen 1992,241. 30

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chen Bedürfnissen, zwischen Begehren und Identifikation eingespannt ist und sich allen Anstrengungen zum Trotz nicht perfektionieren lässt. Diesem unseligen Zustand gegenüber eine heroische oder ergebene Haltung einzunehmen, gehört zu einer achtenswerten humanistischen Kulturleistung. Sie geht mit dem Verzicht auf unrealistische Wünsche einher, deren gewaltsame Durchsetzung - wie die Geschichte lehrt - immer zu Katastrophen geführt hat. Das biblisch fundierte Christentum gibt nun der menschlichen Ambivalenz eine doppelte Antwort, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint. Sie enthebt den Menschen nicht seiner Hinfälligkeit und sagt ihm zugleich die Erfüllung seines Wunsches zu, dieser Hinfälligkeit nicht ausgeliefert zu sein. Das Bedürfnis nach Bedeutung, der Wunsch, als Individuum wahrgenommen zu werden und im Tod nicht verloren zu gehen, die Fantasie einer heilen Welt, Aggressionen und die Neigung, alles Mögliche anzuhimmeln, werden anerkannt, aber unter das Einverständnis mit einem externen Akteur gestellt; paradigmatisch heißt es: Die Rache ist mein, spricht der Herr (Dtn 32, 35; Rom 12, 19). Anerkannt sind hier die Untat und das Rachebedürfnis, aber die Aktion bleibt einem anderen überlassen. Sich von Aggressionen lösen zu können, vor verehrten Helden nicht klein dastehen zu müssen und von der Furcht vor dem Tod nicht ein Leben lang in Knechtschaft gehalten zu werden (Hebr 2,15) sind weitere Momente einer Befreiung. „In jedem Augenblick meines Lebens habe ich meine kleine Omnipotenzerfahrung, bevor ich diese unbequeme Funktion Gott überlasse", schreibt Donald Winnicott augenzwinkernd.32 Die Erfüllung der großen Wünsche erst vom Eschaton zu erwarten, hat den Sinn, sich in dieser sehr unvollkommenen Welt besser beheimatet fühlen zu können, ohne die Wünsche in sich zu ersticken.

5. Protestantische Aspekte Damit komme ich auf eine andere Ebene, auch eine andere Sprachebene. Wenn jemand davon überzeugt ist, trotz seines unseligen Zustandes Gott etwas zu bedeuten, in ein Beziehungsgeschehen verwickelt zu sein, das es möglich macht, Ja zu sich selbst zu sagen, Ja zu dieser schrecklichen Welt und damit anbetend zu Gott, dann führen dorthin keine empirischen Verfahren. „Dem Vergangenen: Dank, dem Kommenden: Ja", schreibt Dag Hammarskjöld in seinen Meditationen33 und ich wähle ihn als Beispiel, weil ich

32 Donald W. Winnicott, Der Anfang ist unsere Heimat. Essays zur gesellschaftlichen Entwicklung des Individuums, Stuttgart 1990, 54. 33 Dag Hammarskjöld, Zeichen am Weg, übertragen und eingeleitet von Anton Graf Knyphausen, München-Zürich 1965, 83; vgl. 138 (zit. Hammarskjöld, Zeichen).

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meine, dass seine Art der Frömmigkeit starke protestantische Züge trägt. Er, als Generalsekretär der Vereinten Nationen ein führender Politiker und zugleich ein Frommer, wollte seine Meditationen veröffentlicht sehen, nicht um Menschen zu ermahnen, sich endlich Gott zuzuwenden, sondern um mit stotternder Sprache auf immer wieder neue Einsichten, „Aha-Erlebnisse", zu verweisen, die ein solches grundsätzliches Ja provoziert haben. Nicht zufallig schreibt Dag Hammarskjöld: „Glaube ist, er schafft und trägt. Er wird nicht hergeleitet, nicht geschaffen, nicht getragen von irgendetwas anderem als seiner eigenen Wirklichkeit".34 Das ließe sich auch mit Martin Luther sagen: Gott und Glaube gehören zuhauf.35 Hammarskjölds Frömmigkeit setzt ihre eigenen individuellen Wegzeichen, ohne große Freude am Ritus und an der kirchlichen Gemeinschaft, wie der Religionspsychologe Hjalmar Sundén diagnostiziert. Die Feiertage des Kirchenjahres sind für Hammarskjöld vor allem Anlass gewesen, seinen Intellekt zur Stellungnahme herauszufordern.36 Er war auch nicht an der Dogmatik orientiert, sondern zuerst an den Mystikern, bis er auch einen Zugang zur Lehrtradition fand. Mit Sigmund Freud spricht Sundén von einem Über-Ich der Tradition, dem Hammarskjöld sich verbunden hatte und dessen Forderungen er desto mehr folgte, je bedrohlicher die äußere Situation für ihn wurde; Sundén nennt das ein „Nachgeben des Ichs vor dem protestantischen Überich".37 In diesem Sinne schreibt Hammarskjöld: Das Ich, das in einer Welt von Bosheit und Tod sich retten will, sei „das Gleichgültigste von allem. Eine Einsicht, in der Gott ist",38 Was Freud das kulturelle Über-Ich nennt, schildert Dag Hammarskjöld, indem er aufzählt, wie viele Menschen ihm Überzeugungen „beigebracht" haben, die er freilich zuerst nicht verstand, bis Reflexionen über die Sprache etwas einleuchten ließen: „Die Sprache der Religion ist eine Reihe von Formulierungen, die eine grundlegende geistige Erfahrung festhalten. Sie darf nicht so betrachtet werden, als ob sie in philosophisch fixierten Ausdrücken die Wirklichkeit beschriebe, die für unsere Sinne zugänglich ist und die wir mit dem Rüstzeuge der Logik analysieren können. Es dauerte lange, ehe ich verstand, was das bedeutete. Als ich schließlich diesen Punkt erreicht hatte, wurde der Glaube, in dem ich erzogen worden war [...] von

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Ebd., 127. Martin Luther, Großer Katechismus, Auslegung des 1. Gebots. 36 Hjalmar Sundén, Die Christusmeditationen Dag Hammarskjölds in Zeichen am Weg, Frankfurt a.M. 1967,49 (zit. Sundén, Christusmeditationen). 37 Ebd., 20f; vgl. Sigmund Freud, Über libidinose Typen, Studienausgabe, Bd. V, 269-272; 271: Für Freud hat das Über-Ich eine höchst wertvolle Funktion durch die Beachtung der Gewissensforderung und eine große Selbstständigkeit gegenüber den Forderungen der Außenwelt. Überich-Menschen sind für ihn in besonderem Maße sozial und Träger der Kulturentwicklung. 38 Hammarskjöld, Zeichen, 78f, Hvhg. im Original. 35

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mir als mein eigener Glaube anerkannt".39 Der Glaube ist für ihn die Folge einer Einsicht, denn der „Weg zur Einsicht geht nicht durch den Glauben. Erst durch die Einsicht, die wir gewinnen, [...] vermögen wir zu erfassen, was Glaube ist." Das ist nicht nur ein sehr protestantischer Zug in Hammarskjölds Frömmigkeit, was sich noch durch andere Indizien ergänzen ließe40, sondern hat erkenntnistheoretische Relevanz: Einsicht bzw. Erkenntnis wird passiv empfangen, auch wenn sich dies nicht ohne Auseinandersetzung mit der Überlieferung, mit „beigebrachten" Überzeugungen, ereignet.41 Frömmigkeit, nicht nur eine protestantische, wäre somit, religionspsychologisch betrachtet, eine Sache der starken Bindung ans Über-Ich. Nun ist Hammarskjölds Sprache sehr persönlich-emotional und keine intellektuelle theologische Reflexion über Inhalte des Glaubens. Sie ist das, was Huub Oosterhuis die zweite Sprache nennt neben der Sprache „der klaren Logik, der objektiven Information, der exakten Wissenschaft, ... wo sprechen bedeutet, das Rätsel enträtseln, etwas definieren, abgrenzen." Diese zweite Sprache möchte sagen, „was einen erfüllt, was verborgen und fast unaussprechlich ist". Sie wird gesprochen, wenn es sich um Liebe und Tod, Gott und den Menschen handelt"42, auch bereits in der Bibel, die kontrafaktische Geschichten von Bedeutsamkeit erzählt - nicht „an sich", sondern „für mich". Mir scheint, dass viele Predigten daran kranken, dass sie mehr theologisch über Gott räsonieren - Gott als „Tätersubjekt" - als von den Menschen sprechen, die ihr Leben ohne Ressentiments durchstehen, wenn auch nicht ganz ohne Melancholie, weil Gott irgendwann einmal in ihrem Herzen seinen Anker geworfen und sie zu einer Erkenntnis geführt hat, die dann mit Verehrung und Anbetung notwendig verknüpft ist. Mein Vorgänger in Zürich, Walter Bernet, hatte das mit Paulus einen vernünftigen Gottesdienst genannt: „Aber nur in diesem einen Fall sollen Verehrung und Erkenntnis zusammenkommen. Überall sonst führt Verehrung in die Irre".43 Denn alle

Dag Hammarskjöld, This I believe, New York 1954, zitiert nach Sundén, Christusmeditationen 19f. 40 Dazu gehört neben einem deutlichen Christusbezug (Sundén, Christusmeditationen, 35), dass der Mensch ein Empfangender bleibt, um „horchen, sehen, verstehen zu dürfen" (106), dass Gott als der nach den Menschen Dürstende gesehen wird (84) und als einer, der den Menschen zermalmt, wenn er ihn erhebt (83). 41

Hammarskjöld, Zeichen, 32; „Ich weiß nicht, wer - oder was - die Frage stellte. Ich weiß nicht, wann sie gestellt wurde. Aber einmal antwortete ich ja zu jemandem - oder zu etwas. Von dieser Stunde her rührt die Gewißheit, daß das Dasein sinnvoll ist und daß darum mein Leben, in Unterwerfung, ein Ziel hat" (170). 42

Huub Oosterhuis, Im Vorübergehen, Wien 1969, 357fF. Walter Bernet, Verzehrende Erfahrung. Stationen einer theologischen Laufbahn, Susanne Heine/Helmut Holzhey (Hg.), Zürich 1995, 166. 43

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Erkenntnisse der Menschheit werden von ihr selbst hervorgebracht, die Erkenntnis Gottes aber wird empfangen. Nicht nur Gott und Glaube, sondern auch Glaube und Anbetung gehören zuhauf. Es fuhrt zum Gefühl einer quälenden Ohnmacht, wenn absichtliches Handeln in der Kirche sich zum Ziel setzt, die Menschen zum Glauben zu bringen und damit gar die leeren Kirchenbänke wieder zu füllen; das kann nicht funktionieren. Mit Freuds These vom kulturellen Über-Ich ließe sich aber das Ziel ändern in die Richtung, Menschen von Jugend an mit christlichen Überzeugungen zu konfrontieren, sie mit Glaubensinhalten zu beschäftigen, die sie zunächst nur lernen; das wäre dann eine Sache der Bildung. Aber auch bei der Bildung kommt es - wie bei Hammarskjöld darauf an, dass die Bezugspersonen, Eltern, Lehrer/innen, Pfarrer/innen zu Identifikationsfiguren genommen werden. Keinesfalls kann es um Identifikation mit Gott oder Christus gehen, was Hammarskjöld oft unterstellt wurde,44 denn das würde bedeuten, sich an deren Stelle setzen zu wollen, um die Welt zu erlösen; das entspricht eher einer fundamentalistischen Geisteshaltung. Vielmehr geht es um die Identifikation mit daseinsbejahenden, engagierten und hilfreichen Figuren, die keine Glaubenshelden sein müssen, Menschen, deren Leben auf Gott verweist, weil sie die Begrenztheit in allen ihren Dimensionen anerkennen und sich doch angenommen und gerechtfertigt wissen. Zugleich lässt sich von Freud lernen, dass niemand einen anderen zwingen kann, sich mit ihm oder ihr zu identifizieren. Die Wahl der Identifikationsfigur ist frei, sie ereignet sich eher, als das sie sich „machen" lässt, wie auch Frömmigkeit darauf angewiesen ist, dass irgendwann einmal, und nicht nur ein Mal, der Groschen fällt, um zu erkennen, dass „ich" diesem Gott am Herzen liege. Religion in frömmigkeitspraktischer Haltung kann heute kein gesamtkulturelles Über-Ich mehr sein, die Individualisierung ist unhintergehbar. Ich halte einerseits nicht viel davon, sich an Spuren religiöser Symbolik in unterschiedlichen Kontexten zu erfreuen unter Ausblendung des Wechsels der Objekte von Verehrung und Anbetung und ohne das Moment des passiven Empfangens von Einsicht und Erkenntnis zu berücksichtigen. Andererseits denke ich, dass kirchliches Reden und Handeln von der Polemik gegen den geschilderten Objektwechsel lassen kann, um der Dynamik der Identifikation eine Chance zu geben.

Gott und Christus bleiben bei Hammarskjöld ein Gegenüber, ein Du: „Du, der über uns ist, Du, der einer von uns ist, Du, der ist - auch in uns" (90). Damit grenzt er sich trotz aller Sympathie für die Mystik von dieser ab: „... ein Kontakt mit der Wirklichkeit, stark wie die Berührung einer geliebten Hand: Einheit in einer Selbstaufgabe ohne Selbstauslöschung [...]. Wie anders, als was die Weisen Mystik nennen" (99).

Andreas Kubik

„Einfach das Evangelium darlegen"? Frömmigkeit und Praktische Theologie der Andacht in Auseinandersetzung mit der .Modernen Theologie'

Ob das Generalproblem ,Aufklärung und Frömmigkeit' wirklich für die Vielen ein Problem darstellt oder doch auf bestimmte Milieus und religiöse Biographien beschränkt ist, wissen wir nicht. Empirische Studien müssten darüber Auskunft geben. Diejenigen, die es empfinden, haben dabei jedenfalls oft das Gefühl, eine paradigmatische Schwierigkeit anzugehen. Ihren klassischen Ausdruck hat sie in Schleiermachers bekannter banger Frage gefunden: Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehen; das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben? Viele freilich werden es so machen; die Anstalten dazu werden stark genug getroffen, und der Boden hebt sich schon unter unsern Füßen, wo diese düstern Larven auskriechen wollen, von enggeschlossenen religiösen Kreisen, welche alle Forschung außerhalb jener Umschanzungen eines alten Buchstaben fur satanisch erklären.'

Etwa hundert Jahre später fasst Martin Rade anlässlich des Todes seines Jugendfreundes Friedrich Loofs im Rückblick auf ihre gemeinsamen theologischen Anfange zusammen: Mit innerster Spannung nahmen wir die Tatsache hin, daß es zwischen unserer ererbten Frömmigkeit und der erkennbaren Wahrheit über die Dinge doch wohl nicht ganz stimmte. Aber es gab kein Gruseln oder Zurückweichen, denn schließlich mußte ja beides zusammenklingen.2

Das Problem wird als bedrohlich für die eigene Identität erlebt, und es wird als strukturelles Problem gedeutet.3 Fromme Identität ist unter den Bedin-

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Friedrich Schleiermacher, Zweites Sendschreiben über die Glaubenslehre an Dr. Lücke, in: Sämmtliche Werke. Erste Abteilung, 2. Bd., Berlin 1836, 605-653, 614. 2 Zit. bei Johannes Rathje, Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutschevangelischen Geistesgeschichte. Dargestellt an Leben und Werk von Martin Rade, Stuttgart 1952, 379. 3 Vgl. Christopher Zarnow, Identität und Religion. Philosophische, soziologische, religionspsychologische und theologische Dimensionen des Identitätsbegriffs, Tübingen 2010.

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gungen des aufgeklärten Bewusstseins als solche eine bedrohte Identität.4 Daraus entsteht eine theologische Aufgabe: Wie kann denn beides, die ,ererbte Frömmigkeit' und die ,erkennbare Wahrheit über die Dinge' zum Zusammenklingen gebracht werden? Beides ist offenbar für sich als gesetzt vorausgesetzt. Die Aufgabe kann in vielerlei Hinsicht entfaltet werden: für die historische Theologie als Anwendung der kritischen Methode, für die Dogmatik als Programm der Vereinigung von christlich und wissenschaftlich bestimmtem Bewusstsein. Die Aufgabe fordert aber noch mehr: nämlich auf der Ebene der Frömmigkeit selbst solche Formen zu finden, in welchen sich die bedrohte fromme Identität zur Darstellung bringt. Denn das ist klar, dass eine Reihe von Frömmigkeitsformen sich nicht mit dem Ringen um jene Identität vertragen.5 Und auch bei denjenigen, welche als praktikabel erscheinen, schleichen sich mitunter interne Schwierigkeiten ein, ein gewisser Selbstzweifel, was man da eigentlich tut. Nach meinem Dafürhalten hat sich diese Situation seit Rades Zeiten nicht wesentlich geändert. Es zeigt sich hier wie so oft, dass insbesondere die Praktische Theologie unserer Tage vielfältig die Problemstellungen wieder aufgreift - und aufgreifen muss - , die im Kreis der um die Zeitschrift „Die christliche Welt" versammelten Theologen bewusst waren und theologisch entwickelt wurden6; Theologen, die in der Literatur häufig mit dem unscharfen Begriff „Kulturprotestantismus"7 belegt werden, die ihre Strömung aber selbst zumeist „Moderne Theologie" nannten. Dass indes ihre Lösungen nicht in gleicher Weise einleuchten wie damals, wird sich auch in diesem Beitrag zeigen. Von daher liegt es nahe, sich hinsichtlich des hier zu verhandelnden Themas einmal mit einer Frömmigkeitsform zu beschäftigen, welche von

Noch einmal ein Jahrzehnt später klingt es wiederum ganz ähnlich bei Emanuel Hirsch, Christliche Rechenschaft, Bd. 1 (1938fi), Tübingen 1989, 21-23, 154f. Es geht um das Individuum in der „Ganzheit des Menschseins", gerade angesichts der zwischen Glaube und intellektueller Einsicht potenziell auftretenden „Spannungen": „Nicht Glaube und Einsicht sind identisch, sondern der Glaubende und Einsichtige ist ein ganzer" (alle Zitate 22; Hvhg. A.K.). 5 Protestantische Religionskritik war bereits von Haus aus niemals nur Kritik auf der Ebene der Lehrgrundlagen, sondern stets auch Kritik gelebter Religion; vgl. den Überblick bei Lucían Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005, 30-40. 6 Zur theoretischen Unterfutterung dieser These, die so manifest ist, dass sie keiner kleinteiligen Begründung bedarf, vgl. Volker Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie, Aspekte der theologischen Wende zur soziokulturellen Lebenswelt christlicher Religion, 2 Bd., Gütersloh 1988. Einen knappen ersten Überblick verschafft Eckhard Lessing, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritsehl bis zur Gegenwart, Bd. 1 1870-1918 Göttingen 2000. 424-^47. 7 Vgl. zu den Begriffsproblemen Friedrich Wilhelm Graf, Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theologiepolitischen Chiffre, in: Archiv fur Begriffsgeschichte 28 (1984), 214—268; Hans Martin Müller (Hg.), Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992.

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Rade und denen, die das Problem empfanden wie er, bevorzugt wurde: die regelmäßige Andacht - eine Ausdrucksgestalt, die ja in der einen oder anderen Form bis heute als attraktiv empfunden wird.8 Als Quelle ziehe ich vor allem das Andachtsbuch heran, das Rade im Auftrag der „Freunde der Christlichen Welt" 1909 herausgegeben hat;9 ergänzend treten Andachten, die in der „Christlichen Welt" im fraglichen Zeitraum abgedruckt wurden, hinzu. Die Form der gedruckten Andacht - die gleichwohl stets dazu bestimmt war, in einer ,wirklichen' kleinen Versammlung verlesen oder anders gebraucht zu werden - scheint mir auch aus dem Grund einer Untersuchung wert, weil sie vielleicht sogar paradigmatisch für eine Maxime der religiösen Mitteilung ist, welche im Kreise der ,Modernen Theologie' in hohem Kurs stand: Man solle nämlich „einfach das Evangelium in seinem Wesen und in seinen Folgerungen darlegen."10 Diese Maxime entspricht der Überzeugung, dass das Evangelium in seinem Kern selbst etwas Einfaches und Schlichtes ist,11 welche eine systematisch-theologische (gegen die Überfrachtung der christlichen Glaubensinhalte mit metaphysischen Spitzfindigkeiten) und eine praktisch-theologische Komponente (gegen sachfremdes Gekünstel und unnötige Verkomplizierung in der Verkündigung) besitzt. Man kann vermuten, dass die Autoren gerade in der kurzen Form der ,Andacht' relativ umstandslos und zielgenau auf das ihnen religiös wertvoll Erscheinende zusteuern werden. Im Folgenden werde ich zunächst die Entstehungsgeschichte jenes Andachtsbuchs kurz darstellen (1). Anschließend möchte ich den Stil der Andachten und die sich in ihnen widerspiegelnde Frömmigkeit charakterisieren (2), um in einem dritten Schritt nach Leistungen und Grenzen sowohl des Frömmigkeitstils selber als auch der Andachtshomiletik zu fragen (3). Kurze Überlegungen zur möglichen Aktualisierung des Programms schließen diese Studie ab (4).

8

Vgl. den Überblick bei Wolfgang Steck, Praktische Theologie. Horizonte der Religion, Bd. 1, Stuttgart 2000, 3 9 1 ^ 0 0 . 9 Morgenandachten für das ganze Jahr. Dargeboten von den Freunden der Christlichen Welt, Tübingen 1909. 10 Friedrich Niebergall, Die Kasualrede, Göttingen 2 1907, 26. Diese Maxime bezieht sich im Kontext zunächst auf die Kasualpredigt. 11 Adolf v. Harnack, Das Wesen des Christentums (1900), Claus-Dieter Osthövener (Hg.), Tübingen 2005, 17: „Wir werden sehen, daß das Evangelium im Evangelium etwas so einfaches und kraftvoll zu uns sprechendes ist, daß man es nicht leicht verfehlen kann."

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1. Die Entstehung des Andachtsbuchs der „Freunde der Christlichen Welt" Andachtsbücher haben im Protestantismus eine lange Tradition.12 „Entweder schuf sie die religiöse Kraft eines Einzelnen, oder ein dankbarer Kenner unserer erbaulichen Literatur stellte auserlesene Worte zusammen".13 Demgegenüber erachteten es Rade und sein Kreis als reizvoll, ein Buch mit Andachten in der Mehrstimmigkeit einer Vielzahl von Verfassern zu erarbeiten. Gegen Ende des Jahres 1901 schrieb Rade an die Mitarbeiter seiner Zeitschrift „Die christliche Welt" mit der Bitte, Beiträge zu einem geplanten Andachtsbuch für die häusliche Morgenandacht einzusenden. Angeregt hatte dieses Vorhaben der befreundete Berliner Pfarrer, Neutestamentier und Kirchenpolitiker Hermann von Soden (1852-1914). Die Redaktion wurde dem Praktischen Theologen Paul Drews übertragen, zugleich wurde eine Kommission gebildet, welche über die Aufnahme der Andachten in den entstehenden Band entscheiden sollte. Doch die Umsetzung lief nur äußerst schleppend an. Zunächst einmal war die Anzahl der eingesandten Beiträge weit geringer als angenommen. Ferner passierten von diesen wenigen noch weniger die offenbar recht anspruchsvolle Auswahlkommission; Rade schrieb später, die „Kommission [...] erwies sich als gar zu strenger Areopag".14 Und schließlich gab es in der Redaktion Uneinigkeit, ob nicht besser ein Einzelner ein solches Werk hätte unternehmen sollen. Rade, der die Sache wie so oft vorantrieb, plädierte energisch für die harmonische Vielstimmigkeit: „Gerade das sollte der Reiz unseres Andachtsbuches sein, daß ein zusammenstimmender Chor Vieler darin zu Gehör käme, aus unserem Kreise fur unseren Kreis".15 Andachtsbücher von Einzelnen dieses Kreises lägen bereits vor.'6 Ein weiterer Appell folgte, die Kommission wurde aufgelöst und die Redaktion Friedrich Michael Schiele übertragen, seinerzeit im Hauptberuf verantwortlicher Redakteur der ersten Auflage des Lexikons „Die Religion in Geschichte und Gegenwart."17 Dennoch dauerte

Vgl. Rudolf Mohr, Art. Erbauungsliteratur III: Reformations- und Neuzeit, in: TRE 10 (1982), 51-80. 13 Martin Rade, Vorwort, in: Morgenandachten (Anm. 9), III. 14 Ebd. 15 An die Freunde. Vertrauliche, d. i. nicht für die Oeffentlichkeit bestimmte Mitteilungen Nr. 4 (10.5.1904), nachgedruckt und mit einer Einleitung versehen von Christoph Schwöbel, Berlin/New York 1993, 26. 16 Rade spielt (ebd.) auf zwei Erfolgsbücher direkt an: Friedrich Naumann, Gotteshilfe. Gesammelte Andachten, Göttingen 1895ff ( é 1926, N D in Auszügen Berlin 1964); Paul Wurster, Hausbrot für evangelische Christen, Karlsruhe 1903 (95. - 1 0 2 . Tsd. 1936). 17 Vgl. Ruth Conrad, Lexikonpolitik. Die erste Auflage der RGG im Horizont protestantischer Lexikographie, Berlin/New York 2006, 238-309.

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es noch weitere Jahre, bis der Band endlich - beim Verlag Mohr in Tübingen - erscheinen konnte.

2. Die Frömmigkeit im Andachtsbuch Gedacht war das Erbauungsbuch der „Freunde" für die häusliche Morgenandacht. Idealerweise traf sich dazu die ganze Familie samt der gegebenenfalls anwesenden Dienstkräfte, bevor das eigentliche Tagwerk begann. Im Hintergrund steht also die ehrwürdige Vorstellung des „Hauses" als Raum gemeinsamen Lebens und Arbeitens.18 Liturgisch dachte man sich die Andacht so, dass nach einem gemeinsamen Lied der „Hausvater"19 einen gedruckten Text verlas, worauf sich ein Gebet - vorformuliert oder frei - , ein Vaterunser oder ein weiteres Lied anschloss. Solche gedruckten Texte stellen die hiesigen „Morgenandachten" dar. In der Regel sind sie nicht länger als eine Seite. Von der Form her handelt es sich also um eine Variation der klassischen, letztlich auf Luther selbst zurück gehenden evangelischen Hausandacht, welche dem sonntäglichen Gemeindegottesdienst als Ergänzung und nötigenfalls als Korrektiv gegenüber gestellt war.20 Ganz bewusst war sie somit auch nicht als Andacht Gleichgesinnter konzipiert, die sich eigens zum Zweck der Erbauung trafen, welche Form aus dem Pietismus herstammt. Vielmehr dienten diese Hausandachten „auch als Instrumente zur rituellen Ordnung der Alltagszeit und zur religiösen Heiligung des in die Alltagswelt eingebetteten Familienlebens"21 und begleiteten das ,Haus' idealiter das ganze Jahr hindurch. Das Buch bietet eine ganze Reihe unterschiedlicher Andachtsformen. In der Regel legen die Andachten einen Bibelspruch aus, gelegentlich auch eine Gesangbuchstrophe. Es gibt Andachtsreihen: etwa eine fortlaufende narrative Ausmalung des Zusammenseins Jesu mit den Jüngern in der Passionszeit22, je eine Serie über den Propheten Jeremía23 (308-314) und die 12

18

Vgl. Karl-Heinrich Bieritz/Christoph Kahler, Art. Haus III, in: TRE 14 (1985), 4 7 8 ^ 9 2 . Rade, Vorwort (Anm. 13), IV. 20 Vgl. Wolfgang Ratzmann, Der kleine Gottesdienst im Alltag. Theorie und Praxis evangelischer Andacht, Leipzig 1999, 38-80. Die Hausandacht des Kulturprotestantismus fehlt dort freilich. 21 Steck, Praktische Theologie (Anm. 8), 396. 22 Morgenandachten (Anm. 9), 84-112. Seitenzahlen im Folgenden in Klammern im Text. Diese Reihe geht vom Sonntag Reminiszere bis zum Palmsonntag und wurde verfasst von dem Auslandspfarrer und Sinologen Heinrich Hackmann (1865-1935). 23 Die Beiträge sind gezeichnet mit „Liechtenhan"; es könnte sich um den Schweizer Pfarrer und späteren Neutestamentier Rudolf Liechtenhan d. Ä. (1875-1947) handeln. 19

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Apostel in der späten Trinitatiszeit24 (330-343), zwei fortlaufende Auslegungen des Vaterunsers, davon eine mit Motti unter anderem von Goethe, Mörike und Harnack25 (365-374), sowie - spannend und ungewöhnlich eine Reihe über das jüdische Achtzehnbittgebet (215-228).26 Auch musikalische Kantaten können zugrunde gelegt werden. Einige wenige Andachten sind gänzlich freie Texte. Welche Gemeinsamkeiten kann man nun hinsichtlich dieser Andachten feststellen? Gibt es so etwas wie ein gemeinsames Frömmigkeitsprofil? Bevor dieser Frage näher nachgegangen werden kann, wäre als erstes festzuhalten, dass viele Texte sich emphatisch zeitgenössisch geben.27 Die kleine Form der gedruckten Andacht wird häufig für wert erachtet, auf große und größte Debatten der Zeit anzuspielen: Das NaturalismusProblem, also die Frage nach der Verortung des Menschen im Naturganzen, welche durch Charles Darwin eine neue Schärfe bekommen hatte, wird ebenso angerissen (vgl. 1.3.52.62Í) wie das Thema des physikalischen Mechanismus (vgl. 29) oder des biologischen und sozialen Determinismus (vgl. 42). Es sind die großen naturwissenschaftlichen und soziologischen Debatten der Zeit um 1900, welche den Hintergrund der „Andachten" abgeben und vor welchem sich diese Theologie und ihre Frömmigkeit verorten will. Dazu gehört am Rande auch die Diskussion der damals so drängenden exegetischen Fragen nach Authentizität von Jesusworten, Echtheit der biblischen Autoren usw. (vgl. 114). Doch die Zeitgenossenschaft erschöpft sich nicht in der gelehrten Anspielung auf wissenschaftliche Debatten, sondern will darüber hinaus auch die Stimmung der Zeit ausdeuten, die Befindlichkeiten, welche gleichsam die Innenseite jener weltanschaulichen Kämpfe bildet. Der naturwissenschaftliche und technische Fortschritt und die zunehmende Geldbestimmtheit des Lebens (vgl. 48) erzeugen auf der einen Seite eine Atmosphäre des Realismus und der Nüchternheit (vgl. 43), in welcher der Glaube gewissermaßen zwangsläufig in die Defensive gerät (vgl. 56f), noch vor seiner intellektuellen Bestreitung. Das Gefühl des Überweltlichen - so deutet man - ist der Moderne entschwunden: „Ehrfurcht, Ehrfurcht, großes göttliches GeVon dem ursprünglich nationalkonservativen Pfarrer und späteren Kirchenrat und Widerständler Johannes Georg Kübel (1873-1953). 25 Von Heinrich Adolf Köstlin (1846-1907), Professor fur Praktische Theologie in Gießen. Vermutlich aufgrund der historischen Unechtheit der Schlussdoxologie des Vaterunsers wird diese nicht mit ausgelegt. 26 Von dem Neutestamentier und Talmudisten Paul Fiebig (1876-1949). Fiebig hat sich vielfaltig um verstärkte Rezeption jüdischer Wissenschaft und Frömmigkeit bemüht; vgl. auch ders., Ueber jüdisches und protestantisches Gelehrtentum, in: Christliche Welt 21 (1907), 6 3 1 637. 27 „Modernität" galt überhaupt als emphatisches homiletisches Prinzip; vgl. dazu Wolfgang Steck, Das homiletische Verfahren. Zur modernen Predigttheorie, Göttingen 1974, 83-115.

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fühl, du Anfang alles Glaubens, du Herold aller Offenbarung - wie bist du von diesem Geschlecht gewichen!" (58) Der zunehmende Behauptungsdruck im Arbeitsleben sowie die allgemeine Beschleunigung des Lebens führt auf der anderen Seite zur Wahrnehmung von „Hast" und „Unruhe unseres Innern" (83). Die Gesamteinschätzung in dieser Hinsicht lautet dahingehend, in einem nervösen Zeitalter zu leben. Zusammengefasst wird die Gegenwart als Zeit der „scharfen Dissonanzen" (47), die von einem ganzheitlichen Sinnverlust bedroht ist, ausgedeutet. Was kann nun diesem Debattenhintergrund und dieser Zeitdiagnose aus der Sicht des Glaubens entgegengestellt werden? Zunächst fallt das immer wiederkehrende Lob der Pflichterfüllung vor allem in der tagtäglichen Berufsarbeit auf. Schaut man näher hin, so kommt der Arbeit eine dreifache Funktion zu. Sie schafft zum einen die materielle Grundlage des Lebens. Sie ist zum zweiten konkrete Erfüllung des christlichen Liebensgebots. In der Arbeit sind wir ganz konkret unserem Nächsten zu Nutze, wobei der ,Nächste' gern mit dieser Sequenz ausgelegt wird: „Wir arbeiten für unsere Familie, für unsere Gemeinde, für unser Volk, für Gottes Reich." (51) Drittens aber, und dieser Gedanke tritt doch deutlich in den Vordergrund, ist die Arbeit das vorzügliche Mittel, den Menschen innerlich zu bilden. Die Bewährung in der Berufsarbeit formt den „Charakter" des Menschen und ist der fur jeden gangbare Weg, sich selbst zu einer „Persönlichkeit" zu entwickeln. Die religiöse Weihe der Arbeit sorgt dafür, dass diese erledigt und gestaltet wird, selbst wenn sie äußerlich ärmlich und unbedeutend erscheint. Ja gar die paulinische Trias „Glaube, Hoffnung, Liebe" kann als eigentlicher Ertrag der Arbeit angesehen werden: „Was bleibt mir von meiner Arbeit, der ich fast die ganze Zeit meines Lebens opfere? Der Apostel nennt drei Stücke: Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei." (51) Der eigentliche Wert der Arbeit ist mithin zumeist unter ihrer äußeren Erscheinung verborgen. An ihn zu glauben macht folglich das erste Grundelement dieser Frömmigkeit aus. Das bereits gefallene Stichwort der „Persönlichkeit" geht aber nun nicht in seiner Leistung zur Kontingenzbewältigung zweideutiger Arbeitserfahrung auf. Das Ideal der „Persönlichkeit" bildet vielmehr den eigentlichen Zielpunkt ethisch-religiöser Charakterentwicklung. Es ist nicht ganz leicht zu sagen, was damit eigentlich genau gemeint sein soll. In einer Andacht wird die Frage ganz explizit aufgeworfen: „Wissen wir, was Persönlichkeit ist?" (85) Sie entzieht sich der Definition, ist lediglich anschaubar und erfahrbar: „Es gibt Menschen, - nein, bei ihnen hört jede Beschreibung auf. Es haucht uns an, etwas Starkes, das in alle Poren unseres geistigen Wesens dringt. [...] Etwas in uns bebt vor diesem Mächtigen zurück, und etwas in uns drängt sich ihm entgegen." (85) Die Persönlichkeit wird hier geradezu als das eigentliche fascinosum et tremendum geschildert.

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Diese Auszeichnung der „Persönlichkeit" hat in letzter Zeit gerade auch in theologischen Kreisen, die der ,Modernen Theologie' an sich nahe stehen, kritische, ja gelegentlich allergische Reaktionen hervorgerufen.28 Man vermutet ein einheitsfixiertes, individualistisches Konzept, das mit den harten Realitäten ausdifferenzierter Gesellschaften nicht zurecht kommt und deswegen Religiosität als „selbstreferentielle Versenkung der frommen Persönlichkeit in sich selbst"29 praktiziert. Im Grunde braucht man derzeit lediglich das Stichwort aufzurufen, um die Sache schon diskreditiert zu haben. Dieser Umstand dürfte indes diesem zentralen Aufbaumoment der Frömmigkeit der ,Modernen Theologie' nicht gerecht werden, zumal meistens nicht recht klar wird, was eigentlich genau mit dem Konzept gemeint ist. Daher sei sein Inhalt hier, wie er sich in den „Morgenandachten" darstellt, kurz dargelegt. Zum ersten impliziert der Begriff eine Art Heiligung der konkreten Verantwortlichkeitsbeziehungen, vor allem in Familie und Beruf. Die Persönlichkeit weiß sich in religiös ausgedeuteter Pflicht an diese Beziehungen gebunden. Zweitens gehört zu dem Begriff eine spezifisch religiöse Kontingenzbewältigungskompetenz: Der Persönlichkeit eignet eine bestimmte Weise der Weltiiberhobenheit, ein In-Sich-Ruhen in allen Wechselspielen des Lebens und führt diese auf die Kraft Gottes zurück.30 Und drittens geht es um so etwas wie eine gesteigerte religiöse Empfänglichkeit, eine Art religiöse Empfindungsfahigkeit, aufgrund derer sich die Persönlichkeit in ihrem „innern Leben erhalten und weiterbilden"31 kann. Bei aller möglichen - berechtigten oder unberechtigten - Kritik wird man immerhin festhalten können, dass man zwar heute den Ausdruck in der Regel nicht mehr benutzt, dass sich aber die Begriffsmerkmale, wie sie hier aufgeschlüsselt wurden, in christlichen Bildungsidealen immer noch wiederfinden lassen dürften.

Vgl. Klaus Tanner, Von der liberalprotestantischen Persönlichkeit zur postmodernen Patchwork-Identität? In: Protestantische Identität heute, F. W. Graf/K. Tanner (Hg.), Gütersloh 1992, 96-104. 269f; Michael Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880-1920, Gütersloh 1992, 481-491; etwas ausgewogener, aber im Ganzen auch kritisch Friedrich Wilhelm Graf, Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums, in: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, R. v. Bruch et al. (Hg.), Stuttgart 1989, 103-131. Zu dieser Stoßrichtung gehört auch die wichtige Arbeit von Uwe Stenglein-Hektor, Religion im Bürgerleben. Eine frömmigkeitsgeschichtliche Studie zur Rationalitätskrise liberaler Theologie um 1900 am Beispiel Wilhelm Herrmanns, Münster 1997. 29 Steck, Praktische Theologie (Anm. 8), 391. Diese Kennzeichnung der Andacht ist bei Steck übrigens nicht polemisch gemeint. 30 In der Bitte des Vaterunsers „Dein Wille geschehe" bitten wir eigentlich um eine bestimmte Form der „Ueberlegenheit" (Paul Jaeger, Dein Wille geschehe, in: Christliche Welt 21 [1907], 2-4) über die Kontingenzen des Lebens. 31 Niebergall, Kasualrede (Anm. 10), 14.

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Gemessen an diesem Ideal - so wird es in vielen Andachten thematisiert - schneidet freilich der individuelle Jetztzustand häufig schlecht ab und es entsteht die Frage, wie das Ideal konkret angesteuert werden kann. Neben einer gewissen Methodik der Charakterentwicklung, wozu neben der getreuen Arbeitserfullung vor allem Gebet und Bibellektüre gehört, ist aber vor allem die Begegnung mit anderen, mit echten Persönlichkeiten hier einschlägig. Sie ist das eigentliche Hilfsmittel auf dem Weg, selbst eine Persönlichkeit zu werden. Somit stellt sich dann die Frage nach einem realen Urbild des hier verhandelten Persönlichkeitsideals. An dieser Stelle wird stets auf das Bild Jesu verwiesen. Viele Andachten, besonders die narrativ aufgebauten, versuchen dies Bild auszumalen. Auch an dem Jesusbild wird häufig eine eher spöttelnde Kritik geäußert, die dem Tenor nach auf Albert Schweitzer zurückgeht.32 Man hat hier eine Übertragung des im 19. Jahrhundert außerordentlich populären ,Helden'Ideals Thomas Carlyles auf Jesus erblicken wollen.33 Dies mag so sein oder nicht, in jedem Fall geschieht die Ausgestaltung des Jesusbildes nicht naiv, sondern aufgrund einer erkenntnistheoretisch und religionspsychologisch geschulten Theorie religiöser Phantasie. Religiöse Begriffs- und Symbolbildung hat allemal den Status „mehr oder weniger geschickt zusammengestellte!/] Analogieen vom irdisch-menschlichen Leben".34 Dieser Vorgang ist ganz unvermeidlich und kann prinzipiell auch durch Vergeistigung oder Sublimierung nicht verlassen werden. Im Hintergrund steht Kants Theorie religiöser Sprache und religiöser Symbole.35 Insofern die göttlichen Einwirkungen stets durch das menschliche „Gefühls- und Willensleben" vermittelt sind, unterliegen sie auch dem „psychischen Assoziationsmechanismus"36, welcher sich die geeigneten Bilder zu den gemachten Erfahrungen sucht. 32 Vgl. Albert Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-JesuForschung, Tübingen 1906. Martin Rade bemerkt zu der Erstauflage nicht ganz zu Unrecht: „Der geistreiche Verfasser gibt darin eine Menge treffender und eine Menge unverständiger Urteile ab (...); es kann den, der nicht zu kontrolieren [sie] vermag, nur verwirren." (Ist das liberale Jesusbild modern? In: Christliche Welt 21 [1907], 336-341, hier 337, Anm. 1). 33 Vgl. Heinrich Kahlert, Der Held und seine Gemeinde. Untersuchungen zum Verhältnis von Stifterpersönlichkeit und Verehrergemeinschaft in der Theologie des freien Protestantismus. Frankfurt a.M. 1984. Es wäre in jedem Fall festzuhalten, dass eine solche Übertragung allenfalls für Jesus selbst stattgefunden hat, der Persönlichkeitsbegriff davon aber unabhängig ist. 34 Friedrich Niebergall, Die religiöse Phantasie und die Verkündigung in unsere Zeit, in: ZThK 16 (1906), 251-285. Vgl. ferner Martin Rade, Glaubenslehre, 3. Band, Gotha 1927, 2 5 0 259 (es handelt sich um den § 88 der Pneumatologie unter dem Titel „Die fromme Phantasie"). 35

Vgl. dazu Andreas Kubik, Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Tübingen 2006, 51-80. Kant ist auch derjenige, der noch vor den Romantikem die Einbildungskraft zum zentralen Aufbaumoment der Produktionsästhetik macht; vgl. Andreas Kubik, Auf dem Weg zu Fichtes früher Ästhetik - Die Rolle der Einbildungskraft in der „Kritik der Urteilskraft". In: Christoph Asmuth (Hg.), Kant und Fichte Fichte und Kant, Amsterdam/New York 2009 [= Fichte-Studien, Bd. 33], 7-15. 36 Niebergall, Phantasie (Anm. 34), 257.

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Die Bild-Konstruktivität kann also per se noch kein Einwand sein, insofern die .Moderne Theologie' gerade die These vertritt, dass jedes Jesusbild von der religiösen Phantasie geprägt ist. Die Christologie dieses Kreises ist eine Christologie des am Persönlichkeitsbegriff orientierten Jesusbildes,37 und die Frömmigkeit ist ganz dezidiert eine Jesusfrömmigkeit, die sich an diesem Bild entzündet. Es ist das Bild eines angefochtenen, stets dann aber doch überlegenen und mit sich einigen Menschens, trotz seines schweren Ringens mit dem, was er als Gottes Willen erkannte. Indem Jesus also das Urbild der religiösen Persönlichkeit ist, ist er aber auch zugleich derjenige, an dem das, was Persönlichkeit überhaupt ist, allererst recht verstanden wird. Der Mensch Jesus ist folglich das eigentlich „Heilige".38 Die Betrachtung dieser Persönlichkeit ist das ultimative Hilfsmittel auf dem Weg der eigenen Personwerdung: „Vor allem schau auf zu Christus. [...] Will fleischliche Art sich in dir regen, setz' Christi heiliges Bild dagegen." (34) Die Geschichte des christlichen Glaubens ist also recht eigentlich die Weitergabe des Bildes Jesu von Person zu Person (vgl. 116) Und insofern es eine Geschichte weltweiter Ausbreitung ist, entzündet sich in den Andachten immer wieder Begeisterung über „Jesu weltgeschichtliche Kraft" (55). In diesen Zusammenhang gehört auch der Charakter dieser Frömmigkeit als Bibelfrömmigkeit. Insofern die evangelische Geschichte das Trägermedium des Jesusbildes ist, wächst ihr eine neue Art der Dignität zu, welche den alten Inspirationsglauben ersetzt. Die Bibel ist zu lesen als dasjenige Buch, welches exemplarisch die Höhen und Tiefen des Glaubenslebens abschildert. Diese Exemplarität kommt insbesondere der Jesusgeschichte zu. In der Auslegung wird demnach versucht, „gleichsam die verborgene Innenseite der Geschichte"39 - also die auf seine Persönlichkeit zielende aufzublättern. Jesus kann aber nur deswegen in dieser Weise als Urbild der religiösen Persönlichkeit fungieren, weil er sich in all seinen Lebensvollzügen auf Vgl. dazu aus systematischer Perspektive Roderich Barth, Liberale Jesusbilder versus dogmatische Christologie. Konstellationen des 19. Jahrhunderts, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.); Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2010, 111-139; im selben Band vgl. auch Ulrich Barth, Hermeneutik der Evangelien als Prolegomena zur Christologie, 275-305, besonders 290-301. Ähnlich plausibel hinsichtlich einer wirklichen Erhellung der Motive, welche der Kulturprotestantismus mit sich selbst verband, war bislang nur Kurt Nowak, Bürgerliche Bildungsreligion? Zur Stellung Adolf von Harnacks in der protestantischen Frömmigkeitsgeschichte der Moderne, in: ZKG 99 (1988), 326-353. 38 Bernhard Daab, Andacht zu Lk 12,13f, in: Christliche Welt 21 (1907), 193. 39 Johann Hinrich Claussen, Über die Frömmigkeit des aufgeklärten Protestantismus. Eine Erinnerung an Frederick William Robertson und seinen Einfluß auf die liberale Theologie in Deutschland. In: Roderich Barth (Hg.), Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne [FS Ulrich Barth], Frankfurt a.M. 2005, 191-201.

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Gott bezogen wusste. Das Gottesbild ist nun ebenfalls in spezifischer Weise bestimmt. Es ist der Gott, welcher weise lenkt und leitet, ja noch mehr, der wie ein guter Vater nur das Beste für seine Kinder bestimmt hat, mögen die Umstände aktuell sein wie sie wollen. Der Appell, sich ganz vertrauend an den „Vater" zu wenden, zieht sich wie ein roter Faden durch das Andachtsbuch. Der Vaterglaube ist das ultimative Deutungsschema zur Bewältigung innerweltlicher Kontingenz. So in diesem Glauben gehalten zu sein und damit allen Widrigkeiten des Lebens trotzen zu können, macht letztlich die religiöse Persönlichkeit aus. Fassen wir kurz zusammen. Es ist jener Ablauf über die religiöse Schätzung der Berufsarbeit über das Ideal der Persönlichkeit hin zum biblischen Bild des Menschen Jesus und seines Vaterglaubens, welcher inhaltlich die Frömmigkeit dieses Andachtsbuchs bestimmt. Religionsphilosophisch steht im Hintergrund eine Theorie religiöser Werturteile, wie sie in der theologischen Schule Albrecht Ritschis geläufig war.40 In inhaltlicher Hinsicht klingt als Vorbild besonders das Jesusbild an, welches Adolf von Harnack in seinem „Wesen des Christentums" in der berühmten Trias vom Vaterglauben, dem unendlichen Wert der Menschenseele und der besseren Gerechtigkeit geschildert hatte, wobei auffallig ist, dass die sozialethische Komponente der ,besseren Gerechtigkeit' im Andachtsbuch - anders als bei Harnack - zumeist auf den engen Kreis von Familie und Beruf beschränkt ist. Tritt man einen Schritt zurück und vergegenwärtigt sich noch einmal die emphatische Zeitgenossenschaft der Autoren, so wird der eigentliche Anspruch des Andachtsbuchs deutlich: Es soll diese Frömmigkeit sein, welche der Herausforderung der weltanschaulichen Lage gewachsen ist. Sie soll in der Lage sein, die religiös entfremdeten „Gebildeten" wieder mit dem Christentum zu versöhnen. Diese Frömmigkeit ist der „alte Wein", welchen es nach Drews in „neue Schläuche" zu gießen gilt.41 Es ist eben der ,alte Wein', weil er nach Auffassung dieses Kreises eben nichts anderes als der innere Gehalt des christlichen Glaubens selbst ist, der hier in modernisierter Gestalt (,neuen Schläuchen') dargeboten wird. Der bewusste Verzicht auf namentliche Kennzeichnung der einzelnen Andachten42 zeigt an, dass hier durchaus mit dem Bewusstsein einer B e wegung' operiert wurde. Nach Rade macht das „Andachtsbuch" deutlich,

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Vgl. Matthias Neugebauer, Lotze und Ritschi. Reich-Gottes-Theologie zwischen nachidealistischer Philosophie und neuzeitlichem Positivismus, Frankfurt a.M. 2002. 41 Drews, Das Andachtsbuch, in: Vertrauliche Mitteilungen (Anm. 15), 25. 42 Nur auf dem Wege eines recht unübersichtlichen Registers lassen sich die Autoren erschließen.

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dass bei aller individuellen Verschiedenheit der Verfasser doch eine „Gemeinsamkeit des Geistes"43 vorliegt.

3. Leistungen und Grenzen Gerade wegen der zuletzt geschilderten ,Gemeinsamkeit des Geistes' von insgesamt immerhin 49 Autoren unterschiedlichen Alters und Bildungsgrades kann das „Andachtsbuch" auf seine Weise als paradigmatisch für die ,Moderne Theologie' gelten. Es war ein Projekt, in das die Beteiligten große Hoffnungen gesetzt hatten. Wir sind auf den schwierigen Entstehungsprozess bereits eingegangen. Es wäre an dieser Stelle noch nachzutragen, dass die Schwierigkeiten nicht nur organisatorischer Art waren, sondern auch die inhaltliche Ausgestaltung berührten: [W]ir waren oft erstaunt über die Dürftigkeit des Gebotnen: arm an Gedanken und an Kraft, unbeholfen im Ausdruck, matt in der Empfindung, gesucht und geistreichelnd in Form und Gehalt waren viele, sehr viele der Andachten. Ich habe, um sie unmittelbar zu erproben, einen Teil derselben in der Morgenandacht verwendet, aber ich stand bald davon ab. Denn es berührte mich schmerzlich und peinlich, so Wenig empfangen und bieten zu können.44

Wie Drews' Urteil über das fertige Werk ausgefallen ist, wissen wir nicht. Der Eindruck einer Ambivalenz zwischen den hochfliegenden Erwartungen, „den Gebildeten ein wirklich gutes Andachtsbuch in die Hand legen"45 zu können und der von Drews ausgedrückten inhaltlichen Reserve, verstärkt sich noch, wenn man sich den buchhändlerischen Erfolg des Werks anschaut: Die Verkaufszahlen war gering, nach einem guten Jahr waren 1515 Stück verkauft, was bereits angesichts von beinahe 5000 Abonnenten der „Christlichen Welt" mehr als enttäuschend war. Aufgrund der mangelnden Resonanz wurden sowohl die avisierte zweite Auflage wie auch die geplanten „Abendandachten" ad acta gelegt.46 Die historische Rückschau wird gut daran tun, den Einschätzungen der Zeitgenossen nicht einfach zu folgen, sondern die Leistungen und Grenzen des Projekts einer nüchternen Betrachtung zu unterziehen. Als ein erster, grundlegender Sachverhalt ist hier mit Erstaunen zu konstatieren, wie weit verbreitet offenbar der Typus der Hausandacht im Kreis der „Christlichen Welt" gewesen ist und wie selbstverständlich alle Betei-

43 44 45 46

Rade, Vorwort (Anm. 13), III. Drews, Andachtsbuch (Anm. 41), 25. Ebd., 26. Vgl. Rathje, Welt (Anm. 2), 154-156.

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ligten davon ausgingen, dass allüberall Hausandacht gehalten wurde. Auf die internen Schwierigkeiten, welche Rade zum Teil sehr bewusst waren, sei gleich noch einmal eingegangen. Hier ist nur festzuhalten, dass der Typus der Hausandacht mit den vertretenen Inhalten der Frömmigkeit ein passgenaues Komplementverhältnis bildet: Die fromme Persönlichkeit stellt sich in ihr selbst dar, wie die Form wiederum als geeignetes Stabilisierungsmittel des inneren Charakters fungiert. Im Lichte dieses Umstandes kann nun generalisierend gefragt werden: Was war die ,Moderne Theologie' eigentlich? Sicherlich eine akademische Bewegung, ganz gewiss auch eine Bewegung mit volksaufklärerischen Absichten47. Geht man nun davon aus, dass die Frömmigkeit, wie sie sich im „Andachtsbuch" darstellt, nicht nur gepflegt, sondern auch propagiert werden sollte, so könnte man weiter gehend fragen, ob es nicht sogar denkbar wäre, die ,Moderne Theologie' auch als Frömmigkeitsbewegung zu interpretieren.48 Lebenswandel, Innerlichkeit und praktische Wirksamkeit sollten hier ein in sich stimmiges Ideal christlichen Lebens bilden, und dieses Ideal wurde ebenso nach außen vertreten. Es stellt ein Teilmoment des Lösungsversuchs dar, „ererbte Frömmigkeit und die erkennbare Wahrheit über die Dinge" zum Zusammenklingen zu bringen.49 Schon rein formal beeindruckt die große innere Geschlossenheit dieses Ansatzes, der im Übrigen auch eine gewisse Verbreitung in der Gesellschaft gehabt haben dürfte.50 Der Eindruck der inneren Stimmigkeit verstärkt sich, wenn man die ihn tragenden religiösen Momente und ihre gedankliche Entfaltung mit in den Blick nimmt. Im Vordergrund stehen ein von einem Providenzglauben getragenes Gottesbild sowie eine Christologie des Menschen Jesus als dem Urbild der Persönlichkeit', die zu werden nach den ,Modernen Theologen'

47 Zu denken wäre hier unter anderem an die auflagenstarken „Religionsgeschichtlichen Volksbücher" oder die erfolgreiche „Praktisch-theologische Handbibliothek". 48 Dies trifft durchaus auch deren Selbsteinschätzung. Martin Schian, Die moderne positive Theologie, in: Christliche Welt 21 (1907), 663-667. 695-699. 759-767: Die moderne Theologie „war die, welche sich von Albrecht Ritsehl beeinflusst wusste." (664) Sie „war vor allem geschichtlich orientiert (...) Sie war zugleich ganz energisch religiös interessiert; alles Theologisieren ohne religiöse Bedeutung lehnte sie ab." (664) Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die engen Verflechtungen, welche die ,Moderne Theologie' zur Äußeren Mission hatte, bedenkt, sowie auch die - nicht sehr erfolgreichen - Versuche, soziale Werke zu etablieren, in Rechnung stellt. 49 Hans Martin Müller, Frömmigkeit im Kulturprotestantismus, in: Ders. (Hg.); Kulturprotestantismus (Anm. 6), 165-182, vertritt die wenig plausible These, dass kein Vertreter des Kulturprotestantismus „sich als ,fromm' bezeichnet haben" (165) würde. Im Gegenteil dürfte der Kreis der ,Modernen Theologie' die letzte theologische Bewegung gewesen sein, welche den Begriff der Frömmigkeit noch ganz ungebrochen auf sich bezog und zu propagieren versuchte. 50

Lucian Hölscher (Anm. 5) handelt den „Neuprotestantismus" (377) demgegenüber auf einer halben Seite ab; er wurde seiner Auffassung nach geradezu überrollt von nicht-kirchlichen Formen der Bildungsreligionen.

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das eigentliche Bildungsziel menschlichen Lebens darstellt. Diese Christologie steht nicht nur wieder in klarer Korrelation zum erhobenen Frömmigkeitstypus, sie hat darüber hinaus auch den Vorteil, dass sie erkenntniskritischen und historisch-kritischen Einwänden, wie sie der klassischen altprotestantischen Christologie gegenüber erhoben werden müssen, weitgehend standhalten dürfte. Dies gilt um so mehr, wenn man in Rechnung stellt, dass zumindest den besonneneren Geistern unter den ,Modernen' völlig klar war, dass ihr Jesusbild nicht einfach ein Ergebnis historischer Forschung darstellt, sondern sich einem Akt religiöser Phantasie verdankt. Gleichwohl kann den Empfindungen von Paul Drews gegenüber den „Morgenandachten" mehr als nur ein Wahrheitsmoment nicht abgesprochen werden. Es zeigen sich bei näherem Hinsehen doch eine ganze Reihe von Problemen, welche vielleicht erklären, warum die , Moderne Theologie' als Frömmigkeitsbewegung im Grunde keine wirkliche Tradition stiften konnte.51 Ich möchte diese Probleme in drei Gruppen unterteilen, die in meinen Augen eng zusammengehören. a) die Soziologie der Andacht betreffend: Die häusliche Morgenandacht stellte - hinsichtlich der Abendandacht dürften analoge Probleme gelten bereits in organisatorischer Hinsicht ein Problem dar. Rade selbst gibt im „Vorwort" zu, derzeit gar keine Morgenandacht zu halten: Zunehmende Versachlichung und Bürokratisierung, die Zunahme von Verpflichtungen und Ansprüchen, die außerhalb des ,Hauses' gesetzt werden, wie etwa die allgemeine Schulpflicht,52 stehen quer zu der Selbstverpflichtung zur gemeinsamen religiösen Kontemplation.53 Doch auch dort, wo dieses Problem handhabbar gemacht wurde, stellt sich dem „Andachtsbuch" ein gewisses Zielgruppenproblem: Geschrieben eigentlich für die ,Gebildeten', soll es dann aber doch dem ganzen ,Haus' zur Andacht dienen; diese nicht austa-

51 Unbeschadet dieser eher skeptischen Einschätzung kann man davon ausgehen, dass sich durchaus Restbestände dieser Frömmigkeit im akademischen und pastoralen Milieu finden lassen dürften. Vgl. im Ganzen Friedrich Wilhelm Graf, Art. Kulturprotestantismus, in: TRE 20 (1990), 230-243. 52

Vgl. Rade, Vorwort (Anm. 13), IV. Vgl. auch die etwas galligen Bemerkungen von Hirsch, Rechenschaft (Anm. 4): „Es darf nicht vergessen werden, daß zur vollkommnen religiösen Reflexion in sich auch Muße gehört. Z.B.: Anfechtung und Verzweiflung als Erlebnisse religiöser Innerlichkeit kosten Zeit. Diese Muße zur zeiterfullenden Religiosität hatten die Menschen in den verschiedenen Zeitaltern und Berufen durchaus nicht auf die gleiche Weise: die 13 Stunden am Tage in Arbeitsbereitschaft stehende Dienstmagd ist da z.B. in ganz anderer Lage als der Pastor, bei dem sie dient. Die sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen [...] bringen es mit sich, daß die Menschen, die Muße haben, immer weniger werden, und auch die, die sie haben, davon weniger haben. Das muß in seinen Auswirkungen auch eine Veränderung der Religiosität bedeuten. (Auch wer noch betet, betet doch nur kurz.) [...] Es ist also auf die indirekten Formen der Religiosität zu achten" (261). 53

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rierte Zwitterstellung54 merkt man den Andachten in ihrem Schwanken zwischen theoretischem Höhenflug und gelegentlich unzulässig vereinfachenden ,Merksätzen' oft an. Geht man diesem Gedanken noch ein wenig nach, so muss man - etwas überspitzt - festhalten, dass die verpflichtende tageszeitliche Andacht im ,Haus' sich nur bedingt mit dem Gedanken religiöser Selbstbestimmung verträgt. Man hat sich nach der Frömmigkeit und den erzieherischen Intentionen des ,Hausvaters' oder der ,Hauseltern' zu richten: Ob „Kinder und Gesinde" in ihr überhaupt eine auch für sich adäquate Ausdrucksform ihres religiösen Lebens sahen, stand nicht zur Debatte. Diese Form der Andacht konstruiert eine häusliche religiöse Homogenität, die sich mit der Individualisierung und Demokratisierung des religiösen Lebens in der Moderne stößt. b) inhaltliche Probleme: Es deutete sich soeben an, dass die lutherische Hausandacht, der die ,Moderne Theologie' verpflichtet blieb, bereits der Form nach einen religiösen Paternalismus transportiert. Dieser Paternalismus spiegelt sich auch auf der inhaltlichen Ebene wider. Viele Andachten gelten expressis verbis dem Ansporn zu fleißiger Berufsarbeit.55 Doch die religiöse Überhöhung der Berufsarbeit, so verständlich sie historisch ist, konnte um 1900 natürlich nur noch unter weit gehender Ausblendung widerständiger Momente aufrechterhalten werden.56 Weder die Frage nach der internen Dignität mancher Berufe noch das Problem der entfremdeten Arbeit57 noch die Wandlung des modernen Berufs von einem Stand und Schicksal zu einem disponiblen Faktor in der persönlichen Chancenwahrnehmung noch schließlich das Thema der Arbeitslosigkeit kommen in den Andachten vor.58 Die ,Moderne Theologie' präsentiert sich hier in der Wahrnehmung eines für sie zentralen Phänomens als erstaunlich unmodern. Das ,Haus' inszeniert sich arbeitstheologisch als eine Art heile Gegenwelt. Bei näherem Hinsehen erweist sich dann die Wahrnehmung des modernen Kulturlebens überhaupt als relativ eingeschränkt. Der Gestus, mit der

5

„Kein Zweifel, daß Kinder und Gesinde (...) als Teilnehmer von mancher unserer Andachten wenig haben werden. Eigens auf sie Rücksicht nehmen konnten wir nicht." (Rade, Vorwort [Anm. 13], IV). 55 Dies trifft überraschenderweise besonders auf die Andachten von Friedrich Niebergall zu. 56 Nach Müller, Kulturprotestantismus (Anm. 49) war die religiöse Überhöhung der Arbeit bereits um 1900 „abstrakt": „Weder das Bildungsbürgertum noch das Proletariat vermochte diese Anschauung im tatsächlichen Berufsleben zu praktizieren." (181). 57 Einzelphänomene wie Routine und Langeweile im Immergleichen werden zwar besprochen, aber stets sogleich mit dem Hinweis versehen, das sei eben so und das von Gott gesetzte Mittel der Charakterentwicklung (vgl. 67). 58 Die ganze Qual, die auch sich selbst als modem ansehende lutherische Theologen bei dem Abschied von der ungebrochenen Berufsfrömmigkeit erfasst, kann man gut studieren bei Wolfgang Trillhaas, Ethik, Berlin 1959, 314-326.

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Entwicklung der Wissenschaft durch Entwicklung einer ,modernen Theologie' mithalten zu können, ist oftmals erkauft durch einen vorschnellen ,Sieg' in der Andacht über die Anfechtungen, welche das moderne Bewusstsein dem Christentum bringen kann. Auf einer Buchseite kann daher zugleich das Grauen vor der Angst, letztlich doch allein im Universum zu sein und das tröstende „siegreich errungene Bewußtsein demütig vertrauender Abhängigkeit unsere Lebens von dem großen Lebenserhalter GottVater" (28) abgehandelt werden. Zwar steht der „ehrliche Zweifler" (80) Jesus angeblich näher als der scheinheilige Fromme, aber letztlich geht es doch darum, dass alle Zweifel, etwa am Sinn des Lebens, niedergeschlagen' (vgl. 46f) werden.59 Die moderne geistige Entwicklung wird nur insoweit gerechtfertigt, als sie dem Werden der christlichen Persönlichkeit nicht im Wege steht, ansonsten werden in gelegentlich die Grenze zum Triumphalistischen streifender Manier die eigenen Trümpfe beschworen: der ,Vater', die Persönlichkeit Jesu', Jesu .weltgeschichtliche Kraft', welche dem Zweifel doch eigentlich Schweigen bedeuten müsste. Im Großen und Ganzen wird man den Verdacht nicht los, dass sich hier psychologische Selbstimmunisierungsstrategien gleichsam auf einer subtileren Ebene noch einmal wiederholen. Oder anders gesagt: Der theologischen Form nach unterliegen viele dieser „Morgenandachten" schlicht einem bestimmten Dogmatismus, nur mit anderen Dogmen.60 Das Frömmigkeitsleben ruht vielfach auf einer Art .aufgeklärter Gegendogmatik' 61 . Dies zeigt sich nun auch gerade am religiösen Herzstück, dem Jesusglauben. Wir hatten schon dargestellt, welche Rolle Niebergall der erkenntnistheoretischen Einsicht in die religiöse Phantasie beimaß. Er sieht völlig richtig, dass religiöser Fortschritt niemals in der „Abstreifung des Bildcharakters"62 der Christologie bestehen kann. Aber bei näherem Hinsehen münden seine Ausführungen in eine Art Kriteriologie der frommen Bildwelt, welche letztlich zum Zwecke der Reduktion der bildproduzierenden Eine Ausnahme stellt eine sensible Andacht von Hermann Gunkel dar, welche nach Mt 7,7 die moderne Unausweichlichkeit des suchenden Zweifels zum Thema macht und religiös noch einmal so zu deuten vermag, dass es Gott selbst ist, der die aus dem modernen Bewusstsein erwachsenden Fragen stellt (vgl. 194). 60 Die materialreiche, aber mit etwas wenig Distanz abgefasste Darstellung der kulturprotestantischen Predigt von Wilhelm Grab, Die Predigt liberaler Theologen um 1900, in: Friedrich Wilhelm Graf/Hans Martin Müller (Hg.), Der deutsche Protestantismus um 1900, Gütersloh 1996, 103-130, macht wahrscheinlich, dass selbst in den untersuchten Predigten die homiletischen Maximen stärker überzeugen als die religiöse Rede selbst. 61 Vgl. Trutz Rendtorff, Christentum außerhalb der Kirche. Konkretionen der Aufklärung, Hamburg 1969. Die schärfste Abrechnung mit dem .Modernen Theologie', sofern sie einem solchen Dogmatismus unterliegt, dürfte Ernst Troeltsch am Beispiel Friedrich Niebergalls gehalten haben; vgl. Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie (1900), in: Ernst Troeltsch Lesebuch. Ausgewählte Texte, Friedemann Voigt (Hg.), Tübingen 2003, 2-25. 62 Niebergall, Religiöse Phantasie (Anm. 34), 275.

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Phantasie entworfen wird. Das Hauptkriterium besteht aber eben nun gerade in dem Persönlichkeitsideal: Deshalb soll Jesus nicht als „der Lehrer oder der Wundertäter, der Strafgefangene oder das Lamm", sondern als „der hilfreiche Freund und der Vertrauensmann" 63 dargestellt werden. Soziale Missstände wie „die moderne Verwüstung des Familienlebens" 64 sind auch deswegen zu beklagen, weil sie das Bildmaterial des religiösen Lebens tangieren - wenn nämlich das „Bild der Familie"65 von vornherein als das höchste mögliche Bild für das religiöse Lebens feststeht. Dieser Theorie der frommen Phantasie und ihrer Restriktion entsprechen die „Morgenandachten" dann auch ziemlich genau. Die Weihnachtsandachten etwa halten sich gar nicht lang mit dem Bild des Kindes auf: „An die Stelle des Christkindes trat uns der erwachsene fertige Mann, Jesus Christus." (403)66 Die Karfreitagsandacht weiß in gleicher Weise nichts vom Schmerzensmann oder von der Anfechtung, sondern verfügt lediglich: Die „Geduld Christi ist nichts als lauter inwendige Kraft und Freiheit" (117): Die gewaltige Persönlichkeit steht eben über den Wechselfallen des Lebens, und wenn's auch wär der Tod. An diesen zentralen Festen fallt die Verarmung des Frömmigkeitslebens durch die dogmatische Restriktion der frommen Phantasie besonders ins Auge.67 c) Probleme der Form·. Der Vermutung, dass es sich unter der Hand um einen alterierten Dogmatismus handele, wird durch die Beobachtung bestätigt, dass im Sprachgestus die lehrhafte Darlegung eindeutig dominiert. Zwar gehen die Andachten häufig in ein Gebet über, doch nur selten ohne dass zuvor gesagt worden wäre, ,was Sache ist'. Gelegentlich werden sie in narrativer Form formuliert; in dem Fall wird zumeist eine biblische Geschichte ein wenig ausgemalt und im Hinblick auf die Begegnung mit Jesus akzentuiert. Selten wird auch eine Übertragung in eine heutige Erzählung versucht (vgl. etwa 66f). Die Narrationen bleiben aber weitgehend schematisch, und überhaupt muss die Sprache vielfach als pseudo-biblisierend und die Grenzen zum Kitsch nicht immer respektierend beschrieben werden, wenn der Jordan dahinflutet (vgl. 101), der Schnee in den Tannen glitzert 63

Ebd., 279.

64

Ebd., 283.

65

Ebd., 282.

66

„Nicht mehr nur das Christkind sehe ich, ich schaue Christus, den Mann, den gewaltigen,

herrlichen Mann" (404). Die Andachten zum 24. und 25.12. stammen nicht v o m selben Verfasser. 67

Sie ist aber nicht auf sie beschränkt: Auch zu dem grandiosen Bild aus Jes 40,31 fallt

Niebergall im Wesentlichen nur ein, dass man neue Kraft zur Arbeit bekommt, wenn man Gott vertraut (vgl. 274). Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass es auch Gegenstimmen gab: Alexander Faure, Jesus-Bilder, in: Christliche Welt 21 (1907), 4 4 lf, stellt die These auf: ,,[E]s ist mit die höchste und seligste Aufgabe des Christen, sich ein Jesus-Bild zu zeichnen, es den ersten Meistern [seil, den Evangelisten] nachzuzeichnen." (441) A m besten gelänge das dem, „der es hineinzeichnete als ein lebendiges, lebensfarbenstrahlendes Bild in sein eigenes Dasein" (442).

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(vgl. 27) und Baumstämme den christlichen Persönlichkeiten gleichen (vgl. 30). Auch die Ausmalungen Jesu sind ziemlich stereotyp: Immer wieder wird auf seine .ernsten' und durchdringenden' Augen verwiesen, oder auf sein ,ernstes' und ,tiefes' Wesen (vgl. etwa 8. 96. 108. 109). Um es noch einmal zu sagen: Es kann nicht darum gehen, dieses Jesusbild bloß aufgrund seiner Korrelation zu einem bestimmten Persönlichkeitsideal zu kritisieren. Jede Frömmigkeit hat ihr Recht, sich das ihr gemäße Bildmaterial zu suchen.68 Problematisch ist aber die Hypostasierung dieses Jesusbildes zur angeblich allein der Moderne angemessen Anschauung des Erlösers. Oben war das Bild von Drews zitiert worden, der Versuch sei gewesen, „alten Wein in neue Schläuche" umzufüllen. Meines Erachtens trifft dies Bild die Sache nicht so recht. Eher könnte man davon sprechen, hier sei neuer Wein in alte Schläuche gefüllt worden. Fragen wir uns, wie man die genannten Probleme andachtshomiletisch rekonstruieren kann. Zunächst einmal kann man festhalten, dass sich der Anspruch auf Modernität auf die Lehrinhalte beschränkt: Die Form bleibt, wie sie ist. Davon ist auch die Sprache betroffen. Wie dargestellt, bewegt sie sich in einem ganz traditionellen setting, was den Eindruck des Sozialkonservativen verstärkt. Der Gebrauch religiöser Sprache kann nicht mithalten mit dem dogmatischen Umformungsprozess. Volker Drehsen hat als ein Hauptmanko der ,Modernen Theologie' die mangelnde „Auseinandersetzung mit dem zunehmend zum Religionsäquivalent heranwachsenden - Bereich der zeitgenössischen Kunst, Literatur und Ästhetik"69 namhaft gemacht. Ich denke, die Durchsicht der „Morgenandachten" bestätigt diese These.70 Ein ähnlicher Befund zeigt sich, wenn man die fundamentaltheologische Dimension der ,Modernen Theologie' heranzieht. Sie beruht, wie gesagt, auf Albrecht Ritschis Theorie ethisch-religiöser Werturteile: Christentum besteht in der „völligen Umwandlung der ganzen Schätzung und Wertung".71 Und so zielen auch viele der „Morgenandachten" auf einen religiösen Umdeutungsprozess ab, vor allem wenn es um den Providenzglauben geht: Erlösung etwa wird vor allem so beschrieben, dass das Leben und auch das Leiden „einen anderen Sinn bekommen" (46) hat. Zu einer Deu-

Zur Bedeutung der Einbildungskraft als Aufbaumoment der Christologie und dem notwendigen Abbau von dogmatischen Restriktionen vgl. Kubik, Symboltheorie (Anm. 35), 400-405. 69 Volker Drehsen, Fachzeitschriftentheologie. Programm und Profil eines Gattungstyps moderner Praktischer Theologie, am Beispiel der „Monatsschrift für die kirchliche Praxis" ( 1 9 0 1 1920), in: Graf/Müller, Protestantismus (Anm. 60), 67-100, 100. 70 Die religiöse Dimension der modernen Ästhetik hat wie kein zweiter Arnold Gehlen zur Geltung gebracht; vgl. dazu Friedrich Ley, Arnold Gehlens Begriff der Religion. Ritual - Institution - Subjektivität, Tübingen 2009, besonders 405^431. 71 Niebergall, Religiöse Phantasie (Anm. 34), 273.

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tungstheorie der Religion will aber der vorherrschende assertorische Gestus nicht so recht passen. Es fehlt im Grunde an einer Sprache, welche den interpretatorischen Charakter des Glaubens angemessen fasst. Eine solche Sprache würde es erlauben, verstärkt Gebrochenheiten darzustellen und diese nicht nur als das zu bekämpfende Gegenüber zu verstehen.72 Auch an dieser Stelle zeigt sich, wie ästhetische und dogmatische Probleme miteinander korrelieren. Zusammengefasst: Die eingangs erwähnte Maxime Niebergalls, man wolle und solle einfach das Evangelium darlegen, hat ihre Tücken. Es scheint, als sei selbst diese auf den ersten Blick so einleuchtende Grundregel mit mehr Umständlichkeiten behaftet, als es Niebergall klar war. Der Grund dafür dürfte letztlich im eigentlichen Charakter religiöser Kommunikation bestehen: Nach der - im Wesentlichen zutreffenden - Analyse Sören Kierkegaards hat sie immer den Charakter einer „indirekten Mitteilung".73 Wenn der Glaube in einer eigenen Bewegung der Subjektivität besteht und nicht im kognitiven Auffassen einer ,Glaubenswahrheit', dann ist die lehrhafte Darlegung in Form von konstativen Sprechakten (Kierkegaard sprach vom ,Objektiven'), so ,einfach' oder ,schlicht' sie auch sein mag, in jedem Fall eine dem religiösen Akt selbst äußerliche, sekundäre Darstellungsform. Die jüngste homiletische Entwicklung in Auseinandersetzung mit der Ästhetik74 kann durchaus als Ringen mit dem Gedanken der indirekten Mitteilung interpretiert werden, wenn auch zumeist kein Rekurs auf Kierkegaard vorliegt.75 Zu Zwecken der Abgrenzung lässt sich Niebergalls Maxime sicherlich guter Sinn geben; als eigentliche (andachts-) homiletische Programmformel verschleiert sie, dass die Dinge bereits in der Grundstruktur religiöser Mitteilung selbst komplizierter sind. Das bedeutet natürlich nicht, dass die religiöse Mitteilung selbst ein komplizierter Akt sein müsste: Das Ideal der Schlichtheit scheint mir nach wie vor seine Diskussionswürdigkeit zu besitzen. Es heißt lediglich, dass diese Schlichtheit nicht in einer Verknappung Selbst eine der seltenen Andachten - von dem schon erwähnten Schiele (vgl. 113) - , die es sich leisten, einen Zweifel nicht nur theoretisch zuzulassen, sondern darzustellen, endet in einer Art dezisionistischem Entschluss. 73 Sören Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift (1846), München 2005, 390-459 [= SV VII, 227-287], 74 Rezeptionsästhetisch ist hierbei besonders an diese Arbeiten zu denken: Gerhard Marcel Martin, Predigt als „offenes Kunstwerk"? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik, in: Evangelische Theologie 44 (1984), 46-85; Wilfried Engemann, Semiotische Homiletik. Prämissen - Analysen - Konsequenzen, Tübingen/Basel 1993; produktionsästhetisch an die so genannte Dramaturgische Homiletik: Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2002. 75 Kierkegaards eigene Homiletik wird jetzt im Kontext des Gesamtwerks dargestellt - allerdings weitgehend ohne aktuelle homiletische Bezüge - von Albrecht Haizmann, Indirekte Homiletik. Kierkegaards Predigtlehre in seinen Reden, Leipzig 2006.

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auf zwei, drei Kernwahrheiten, die ansonsten in großer dogmatischer Gewissheit vorgetragen werden, bestehen kann.76

4. Schlussbemerkungen Auch eine aufgeklärte Frömmigkeit ist auf kulturell vermittelte Ausdrucksformen angewiesen und verbleibt nur selten in der rein innerlichen Zwiesprache. Die Andacht erweist sich in ihrer bleibenden Attraktivität als eine mögliche solche Form.77 Freilich sind Formulare und Funktionen von Andachten durchaus vielfältig' und kaum auf eine Grundidee zu reduzieren. Andacht kann ebenso als Identitätsmarker von Veranstaltungen im kirchlichen Raum fungieren wie eine kurze Zwischenstation für die verkarstete Großstadtseele darstellen. Gemessen an der Beliebtheit der Andacht und der Vielfalt ihrer Formen muss es nach wie vor erstaunen, dass ihr immer noch keine größere theoretische Reflexion zuteil wurde.78 Das Urteil Friedemann Merkels, die Andacht sei „nicht in die praktisch-theologische Reflexion einbezogen worden"79, gilt im Grunde noch immer. Dieses Defizit kann an dieser Stelle natürlich nicht einmal ansatzweise behoben werden. Stattdessen seien in Thesenform einige Gedanken aus den vorigen Ausführungen zusammengestellt und in der Fluchtlinie der Grundspannung von Aufklärung und Frömmigkeit zugespitzt. 1. Die Form der Hausandacht mag in einzelnen Kreisen weiterhin gepflegt werden, als Modell für das Nachdenken über die Gestaltung von Andacht hat sie ausgedient. 2. Die Andacht erweist sich ansonsten in vielfaltiger Gestalt als nach wie vor attraktiv. Das Nachdenken über die Homiletik und Liturgik der Andacht kann mit dieser Beliebtheit immer noch nicht Schritt halten. Insbesondere

76 „Es gilt vor ihm [= Jesus] nichts, aber auch wirklich gar nichts, als ein guter Wille." (4) „Also wonach beurteilt Jesus den Menschen? Nach der Gesinnung." (31) „Nicht auf das Was kommt's an, sondern auf das Verhältnis der Leistung zu den anvertrauten Gaben" (81). 77 Dabei ist noch von der grundlegenden Polysemie des Worts abgesehen, die neben der Andacht als Veranstaltungsform diese auch als die eigentliche fromme Haltung im religiösen Akt identifiziert; fur die aufgeklärte Tradition vgl. dazu Andreas Kubik. Spaldings „Bestimmung des Menschen" als Grundtext einer aufgeklärten Frömmigkeit. In: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 16 (2009), 1-20. 78 Die wichtige Arbeit von Ratzmann, Kleiner Gottesdienst (Anm. 20), bringt wichtige historische Einsichten und nennt eine Reihe praktischer Aspekte, ist aber im eigentlich theoretischen Teil (81-115) eher knapp geraten. 79 Friedemann Merkel, Andacht, eine vernachlässigte ,kleine Form' (1985), in: Ders., Sagen - Hören - Loben. Studien zu Gottesdienst und Predigt, Göttingen 1992, 69-81.

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die Frage nach dem Verhältnis zum sonntäglichen Gottesdienst ist nach wie vor ungeklärt.80 3. Der Versuch, die Andacht als Vehikel gerade auch einer spezifisch aufgeklärten Frömmigkeit zu inszenieren, ist nicht ohne Reiz, kann sich aber unter heutigen Bedingungen nicht mehr bruchlos auf das historische Vorbild der Andacht des Kulturprotestantismus beziehen. Dabei sind es weniger dogmatische Einzelheiten, welche einen Anschluss unmöglich machen, sondern es ist vor allem ihre letztlich bloß partielle Modernität, die die Einlösung des Programms einer spezifisch aufgeklärten Frömmigkeit verhindert. Die Praktische Theologie der Andacht kann aber gerade in der kritischen Auseinandersetzung mit ihr einiges lernen. 4. Der bloß partielle Charakter dieser Modernität ist, wenn man das Gesamtprogramm für verfolgenswert hält, entschlossen zu überwinden. Das geeignete Instrument dafür ist die so genannte Theologische Kulturhermeneutik,81 welche die Sinn- und Wertbestimmtheiten der modernen Kultur zunächst einmal unabhängig von christlichen Prämissen und apologetischen Zielsetzungen zu erheben versucht und ihre autonome , Wahrheit' zu durchdenken versucht. Denn für eine spezifisch aufgeklärte Frömmigkeit dürfte das Zugeständnis eines Immer-Schon-Verwobenseins der eigenen Religiosität in die Formen und Inhalte der Kultur typisch sein. 5. Als ein Hauptmanko der ,Modernen Theologie' erwies sich die mangelnde Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Ästhetik. Man darf vermuten, dass gerade die Ästhetik aber für das gegenwärtige Nachdenken über die Andacht einen wichtigen Leitgesichtspunkt abgeben könnte. Damit würde sich ein solches Nachdenken in die Gesamttendenz der derzeitigen Praktischen Theologie einzeichnen können.82 6. In liturgischer Hinsicht ist zunächst so etwas wie eine Phänomenologie der Andachtsliturgik ein dringendes Desiderat. In Auseinandersetzung mit einer solchen Überschau können dann ästhetische Prinzipien der Andachtsgestaltung reflektiert werden. 7. In homiletischer Hinsicht gilt es darüber nachzudenken, wie viel Wortanteil die Andacht ,braucht': von der eigenen Bibelauslegung über das Insofern die Andacht historisch immer wieder auch Korrektiv und Konkurrenzveranstaltung zum Hauptgottesdienst war, wie Ratzmann selber zeigt, ist die bruchlose Verrechnung unter die .kleinen Gottesdienste nicht recht einleuchtend (Ratzmann, ebd., 109f). 81 Vgl. Andreas Kubik, Kulturhermeneutik als theologische Aufgabe. Anzeige einer Baustelle, in: Martina Kumlehn et al. (Hg.), Lebenswissenschaft Praktische Theologie?! Berlin/New York 2011, 113-146. 82

Vgl. Albrecht Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Buch- und Forschungsbericht, in: IJPTh 2 (1999), 269-294. Grözingers eigene Entwürfe gehören auch in diese Reihe, verfechten aber eine eigene, inhaltlich bestimmte „theologische Ästhetik" (Albrecht Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1987, 73-152).

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bloße Verlesen etwa der Herrnhuter Losungen bis zur gänzlichen Verlagerung des ,Wortes' in Gesänge und Gebete ist vieles denkbar. Entscheidet man sich für die Auslegung, so ist diese in einem eigenen homiletischen Reflexionsgang zu bedenken, denn sie kann sinnvoll nicht als Schwundstufe' der sonntäglichen Predigt betrachtet werden. Das Ziel einer „Durcharbeitung moderner Existenzkrisen"83 dürfte die Form der Andacht schlicht sprengen. Die Maxime hingegen, man solle „einfach das Evangelium darlegen" klingt zunächst einleuchtend, scheitert aber an der internen Strukturverfasstheit religiöser Kommunikation. Deren indirekter Charakter nötigt zur Einführung von Brechungsmedien. 8. Für eine spezifisch moderne Bewusstseinslage hat die Andacht die Chance, das „Bedürfnis der nach Ausdrucksformen ringenden Seele" mit der „Verschonung von Daseinsmächtigkeit" und der „nichtartikulierbaren Sinnvermutung"84 zu kombinieren. Hierzu bieten sich geschmackvolle und niederschwellige Formen wie Kunst- und Literaturandachten, ,Auszeit am Mittag' und dgl. mehr an. Die ästhetische Ansprechbarkeit auf christliche Gehalte dürfte im Allgemeinen weit höher sein als gemeinhin angenommen.85 9. Die Andacht ist immer auch Artikulation von Laienfrömmigkeit gewesen. Pastoraltheologisch ergibt sich hier die Aufgabe, die Differenz zwischen der Rolle der/des Interpretierenden von in der Gemeinde vorkommender Frömmigkeit und dem Vollzug des je eigenen Glaubenslebens zu reflektieren. Anders als beim Sonntagsgottesdienst, wo die letzte Gestaltungshoheit in pastoraler Hand liegt, bietet die Andacht vielfältige Möglichkeiten für Gestaltungen durch Laien. Dieses zu fördern und - falls nötig und gewünscht - zu begleiten und zu bilden dürfte eine wichtige pastorale Berufsaufgabe sein. 10. Um noch einmal auf Rade zurück zu kommen: „Ererbte Frömmigkeit" und „erkannte Wahrheit" müssen in der Frömmigkeitsgestaltung und in der religiösen Sprache des aufgeklärten Bewusstseins zusammenklingen, aber vielleicht nicht immer so harmonisch, wie ihm das vorgeschwebt hat. Auch in der Religion haben Dissonanzen und deren Darstellungen durchaus ihren Reiz.

83

Claussen, Frömmigkeit (Anm. 39), 198. Alle Zitate stammen aus Arnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a.M. 3 1986, hier zitiert nach Ley, Gehlen (Anm. 70), 412—416. 85 Vgl. dazu auch den Beitrag von Corinna Dahlgrün in diesem Band. 84

Michael Murrmann-Kahl

„Credo, ut intelligam"1 Zur Wechselwirkung systematisch-theologischer Reflexionsleistungen und Seelsorgeerfahrungen

Wenn man die Lebensmitte erreicht hat, hat man sich auch die „midlife crisis" redlich verdient, obwohl das Erreichen eines bestimmten Lebensalters natürlich kein eigenes Verdienst darstellt. „Krise" bedeutet im Wortsinne („κρινειν") die Fähigkeit zu unterscheiden und zu urteilen, so wie Immanuel Kant es im Titel seiner drei großen „Kritiken" verwandte. Daher kommt es mir darauf an zu prüfen und zu unterscheiden, wenn auch nicht abstrakt zu scheiden, was sich an systematisch-theologischer Theoriebildung im Laufe der insbesondere seelsorgerlichen Praxiserfahrungen bewährt hat, inwieweit sie zu verändern und umzugestalten ist, entsprechend auch umgekehrt, wie Theorie die Praxis begleitet, erhellt und umgestaltet. Bewusst sollen mögliche Wechselwirkungen in den Blick genommen werden. Um es auf kurzem Raum darzustellen, beschränke ich mich auf zwei Grundbegriffe, die in Theorie und Praxis gleichermaßen relevant sind: „Religion" (1.) und „Seele2 (2.). Dass sie in den Debatten um Aufklärung und Frömmigkeit historisch dimensioniert sind, versteht sich ohnehin.

1. Religiöse Expeditionen Die Prominenz des leitenden Religionsbegriffs in der neuzeitlichen Theologie und im von Ernst Troeltsch so bezeichneten „Neuprotestantismus" braucht hier nicht eigens bewiesen zu werden. Es ist eine der herausragenden Leistungen der Aufklärung im Anschluss an den Pietismus gewesen, das orthodoxe Theoriedesign energisch auf den Religionsbegriff und damit von der dogmatischen Sach- auf die Zeit- und Sozialdimension umgestellt

Das war bekanntlich die Maxime des Theologen Anselm von Canterbury (1033-1109), der inhaltlich damit eine augustinische Überzeugung auf den Begriff brachte: auch wenn man den Glauben zunächst einmal voraussetzen kann und muss, will er doch begrifflich durchklärt werden. Das biographisch gesehen „Frühere" ist erkenntnistheoretisch legitimiert in Wirklichkeit das „Spätere".

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zu haben.2 Die von Emanuel Hirsch bis Falk Wagner vielfältig thematisierte „Umformungskrise"3 des traditionellen Protestantismus fährt in zeitlicher Hinsicht zur durchgängigen historischen Kritik von Bibel, Kirchen- und Dogmengeschichte einerseits, zur Umformung der Sachgehalte im Interesse der individuellen Religion, Freiheit und Selbstbildung andererseits. Diese „Religion der Moderne"4 ist in hohem Maße mit den Individuen unter der Bedingung einer funktional differenzierten Gesellschaft kompatibel. Angesichts der herausragenden Rolle, die der Religionsbegriff in philosophischen, theologischen, soziologischen und psychologischen Theorien spielt, möchte man freilich gerne wissen, was „die" Religion ist. Eine konsensföhige Definition aufzustellen kann man von vornherein unterlassen angesichts der Tatsache, dass zum Religionsthema mühelos ganze Bibliotheken beigebracht werden können. Für den hier zu verhandelnden Zusammenhang genügt es, sich auf ein Minimum des nicht kontrovers Gemeinsamen zu verständigen. Falk Wagner hat in seinem späten großen Religionsartikel fur die TRE nach dem umfangreichen Religionsbuch5 von 1986 die Quintessenz der Religionsforschung gezogen, in dem er die unzähligen Beiträge in drei Grundformen eingeteilt hat: voluntativ, emotiv und kognitiv verankerte Religionstheorien.6 Unschwer lassen sich als Referenz die Theorieklassiker Kant, Schleiermacher und Hegel erkennen. Die meisten auftretenden Religionstheorien können entweder diesen drei oder aber Mischtypen aus ihnen zugeordnet werden. Alle diese Versuche, Religion in ihrer Eigenständigkeit wahrzunehmen und zu würdigen, werden darüber hinaus von der von Wagner so bezeichneten „radikal-genetischen Religionskritik" in Frage gestellt, die Religion überhaupt als Epiphänomen psychosozialer Verhältnisse und Bedingungen entlarven will.7 An dieser Stelle soll zur Orientierung über das weite Feld der Hinweis genügen, dass die neuzeitlichen Theorien über Religion - sofern sie nicht in ihre grundsätzliche Bestreitung münden - diese drei Wurzeln aufweisen: Religion wird entweder im Kontext des individuellen moralischen Bewusstseins oder als eigenständige „Provinz im Gemüte" (Anschauung und Gefühl Dazu Falk Wagner, Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999, 20ff, 33ff. 3

Vgl. Falk Wagner, Geht die Umformungskrise des deutschsprachigen modernen Protestantismus weiter?, in: ZNThG 2 (1995), 225-254. Ders., Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995. 4 Wagner, Metamorphosen., ebd., 47. 5 Falk Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986 ( 2 1991). 6 Falk Wagner, Artikel „Religion II. Theologiegeschichtlich und systematischtheologisch", in: TRE Bd. 28, Berlin 1997, 522-545, hier 529ff. 7 Ebd., 535ff.

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beim Schleiermacher der „Reden", 1799) oder dezidiert als Gottesbewusstsein gefasst, das als Gottesgedanke expliziert werden muss. Auf diesen drei Ebenen - Wille, Gefühl, Vorstellung/Denken - kann Religion mit unterschiedlichen Theorieerfolgen und -folgen verhandelt werden. Soweit der Befund. Das alles ist natürlich vertraut. Ich wechsele darum die Ebene und gehe von der Religionstheorie zur Praxis. Mit Religion hat es der Pastor/Pfarrer auf allen sogenannten kirchlichen „Handlungsfeldern" zu tun. In besonders spannender Weise wird er in der Seelsorge damit konfrontiert. Spannend ist das darum, weil man hier im Kontext der modernen Klinikseelsorge mit Patienten zu tun hat, die genau eine von Wagner als typisch diagnostizierte individuelle Religiosität aufweisen, die überwiegend nicht kirchlich geprägt oder gar dogmatisch reguliert ist. Im Extremfall findet Seelsorge sogar unter der Bedingung statt, dass man über die eigenen religiösen Präferenzen des Patienten (noch) gar nichts weiß - dennoch aber handeln muss. Anders als Liturgie oder Unterricht oder Bildung gleicht die Seelsorge zum Beispiel auf Intensivstationen häufig einer „Reise ins unbekannte Land" (Peter Fror). Für sie muss man fürs erste Neugier mitbringen, die Bereitschaft, genau wahrzunehmen (θεορειν), und das Wagnis auf sich nehmen, dass man am Anfang noch nicht einmal wissen kann, um was es geht. Ich erzähle aus dem Erfahrungsschatz, der sich mir aus den KSA-Fortbildungen am Universitätsklinikum der Ludwig-Maximilians-Universität MünchenGroßhadern ergeben hat. Das ökumenische Seelsorgeteam im Klinikum Großhadern stand vor Jahren vor der grundsätzlichen Frage, auf welchen Stationen überhaupt Besuche der Haupt- und Ehrenamtlichen stattfinden sollen. Dass man auf „normale" Stationen gehen würde, war unstrittig. Was aber fängt man mit den ganzen Intensivstationen an, die einen großen Anteil an Universitätskliniken ausmachen. Landläufig und weit verbreitet war die Meinung, dass die Patienten dort , j a doch nichts mitbekommen". Dann wäre ein Besuch freilich überflüssig. Man hat sich zu Recht gegen diese Meinung entschieden und mit der Besuchstätigkeit auf Intensivstationen begonnen. „Zu Recht" deshalb, weil man dort erstaunliche Beobachtungen und Erfahrungen gesammelt hat und immer noch machen kann. Als Ergebnis sei vorweggenommen: Patienten erleben auf einer Intensivstation sehr viel und zum Teil äußerst Dramatisches, und sie bekommen mehr von dem mit, was um sie herum vorgeht, als man angenommen hatte. So konnte im Herbst 2005 in Großhadern erstmals ein großer internationaler und multiprofessioneller Kongress unterm Titel „Traumland Intensivstation" veranstaltet werden, in dem sich viele Fachleute über die außergewöhnlichen Bewusstseinszustände auf Intensivstationen austauschten. Man hatte nämlich bemerkt, dass nicht nur in Großhadern, sondern in vielen Kliniken in vielen

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Ländern inzwischen Erfahrungen mit Intensivpatienten gesammelt wurden und werden.8 Wie sieht nun ein solcher Besuch bei einem Intensivpatienten aus? Ich beschränke mich hier auf Besuche bei Patienten, die ins therapeutische Koma versetzt wurden, das heißt aufgrund Erkrankung oder Operation für eine Zeit sediert werden, um Schmerzen zu vermeiden. Dabei werden nicht nur unterschiedliche Grade erreicht, wie tief jemand im Koma liegt, sondern auch unterschiedliche Maßnahmen vorgefunden: zum Beispiel ob und in welchem Maße der Patient künstlich beatmet ist. Man kann davon ausgehen, dass die Mitteilungsfähigkeit eines Patienten sehr reduziert ist. In der Regel sind die Augen geschlossen. Eine sprachliche Antwort seitens des Patienten kann man nicht erwarten. Gleichwohl spielt sich im Bewusstsein der Patienten in diesem Zustand viel ab. Dazu möchte ich ein paar Beispiele geben: Nicht wenige Patienten erzählen etwa von Schlacht- und Kampfszenen, in denen sie involviert sind und einen Krieg auf Leben und Tod bestehen müssen: Ich b e f a n d m i c h a u f e i n e m S c h l a c h t f e l d , u m m i c h h e r u m e i n H ö l l e n l ä r m , Geklirr v o n W a f f e n u n d G e s c h r e i . A u f d e m B o d e n l a g e n d i e G e f a l l e n e n . Ich w a r f m i c h z w i s c h e n s i e u n d stellte m i c h tot. N u r so, g l a u b t e ich, k o n n t e ich überleben. 9

Dabei ist nicht zuletzt entscheidend, wer in dieser Bilderwelt als Verbündeter auftaucht, also auf der Seite des Patienten gleichsam mitkämpft. Denn tatsächlich werden häufig die Geräusche aus der Umwelt, der Geräte, der Stimmen der Pflegenden und Besucher, in dieses Kampfgeschehen auf eine verwandelte Weise integriert. Das ist eigentlich nicht wirklich erstaunlich, da der Hörkanal anders als das Sehen immer offen bleibt und insofern Wahrnehmungen je nach dem Grad der Sediertheit zulässt. In der Literatur wird als Beispiel für solche traumartigen Zustände („oneiroides Erleben"10) zum Thema Überlebenskampf der Traum des OpDazu Th. Kammerer (Hg.), Traumland Intensivstation. Veränderte Bewusstseinszustande und Koma, Norderstedt 2006. (Tagungsband). 9 Zitiert nach Th. Kammerer, Informationen und Hilfestellungen fur Angehörige von Menschen im Koma während einer akuten intensivmedizinischen Behandlung, Ökumenisches Seelsorgezentrum am Klinikum der Universität München-Großhadern, März 2004, 6; weblink: http://www.klinikseelsorge-lmu.de/images/stories/info_angehoerige.pdf [zuletzt aufgerufen am 15.3.2011], 10 Vgl. M. Schröter-Kunhardt, Oneiroidales Erleben Bewusstloser, und T. Anbeh, Träume bei Intensivpatienten, beides in: Kammerer (Hg.), Traumland Intensivstation, ebd., 171-229 und 295-314. „Oneiroid" heißt „traumähnlich", da es sich nicht um normale Träume handelt: Sie sind in dem Sinne kein Traum, dass „der Betreffende nicht fähig ist, zu erkennen, was Traum oder wirklich ist", wobei die Person als solche intakt bleibt (im Gegensatz zum paranoiden Erleben), siehe T. Anbeh, ebd., 296; vgl. M. Schröter-Kunhardt, ebd., 171, 173.

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fers eines Brandanschlags genannt, der gegen den Feuerteufel kämpfen muss. Ein anderer Bericht zeichnet den Überlebenskampf in den Rahmen einer amerikanischen Show ein, in der man Aufgaben erfüllen muss, um sich sein Leben zu verdienen: Was ich genau zu machen hatte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich einmal ziemlichen Mist gebaut habe und ich die Prüfung nicht bestanden hatte. Ich kam dann in einen Glaskäfig, der von Wasser umgeben war, riesige Fratzengestalten kamen auf mich zu von allen Seiten und ich konnte nicht mehr weg. Diese Fratzen sahen aus, wie so Wasserspeier an gotischen Kirchen oder diese Steinfiguren an französischen Kirchen. Ich hatte das Gefühl, entweder du ertrinkst oder erstickst hier drinnen, weil die sich dran machten, diesen Glaskäfig zu zertrümmern. Diese ausweglose Situation war grauenvoll.11

Auffällig ist, wie hier in einer ganz modernen Inszenierung kulturgeschichtliche Reminiszenzen an den gotischen Kirchenbau auftauchen! Einen vergleichbaren Angst- und Bedrohungstraum unter Einbeziehung der Situation im Krankenhaus schildert ein anderer Patient: Immer die gleiche Szene. Die Metzger, die eigentlich die Ärzte waren, hatten Fleischermesser in der Hand und beugten sich über so Metalltische. Die haben die richtig ausgenommen, wie in einer Schlachterei. Überall waren so weiße Kacheln, furchtbar ... und ich lag auch auf so einem Metalltisch, ich konnte alles beobachten, wie das alles so ablief ... halt wie in einer Schlachterei. Überall lagen die Leute auf den Tischen und bewegten sich nicht. Ich konnte ganz genau das Klappern des Besteckes hören, das auf einem Tisch lag, scheußlich. Den Traum habe ich immer wieder geträumt, aber nur den einen ... 12

Einer Studie von Tamara Anbeh (Medizinische Psychologin, Bonn) zufolge lassen sich die von ihr gesammelten, über hundert traumartigen Erlebnisse verschiedenen Themen zuordnen wie eben dem Überlebenskampf, dem Bedrohungs- und Angsttraum, Träume über die Belastungs- bzw. Entlastungsfaktoren einer Intensivstation (Beatmung, Ärzte), Orientierungslosigkeit, Träume über Sterben und Tod, Tunnelerlebnisse, intensive Farberlebnisse.13 Jemand, dem solche Erfahrungen nicht zuteil geworden sind, kann zweifellos an das eigene Traumerleben und die entsprechende Bilderwelt anknüpfen. Angst- und Bedrohungsträume kennen wir auch. Ich sehe an zwei Stellen allerdings die wesentlichen Differenzen zum „normalen" Traumerleben: Einmal in der Länge der geschilderten traumartigen Zustände. Der normale Traum ist meist kurz und endet oft mit dem Erwachen. Demgegenüber

12 13

T. Anbeh, Träume bei Intensivpatienten, ebd., 302. Zitiert ebd., 299. Ebd., 295ff.

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schildern Komapatienten ausgedehnte Sequenzen bzw. die Wiederholung ein und desselben Traums, ohne dass die Möglichkeit des Erwachens besteht. Zum anderen in der möglichen Realitätsüberprüfung: Beim normalen Traum kann man entweder schon während des Traumes oder nach dem Erwachen feststellen: „Das ist nur ein Traum." Bei Intensivpatienten, bei denen die höheren (kognitiven) Hirnfunktionen medikamentös ausgeschaltet sind, fehlt in der Regel diese Möglichkeit, Traum und Wirklichkeit abzugleichen. Darum können viele Patienten auch später oft keine Sicherheit über den Status des Erlebten gewinnen: „Besonders die reale Wahrnehmung, welche häufig eine Abgrenzung zur Realität erschwerte, und das gute Erinnerungsvermögen verdeutlichen die Intensität."14 Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass manche Patienten und Patientinnen lang anhaltend traumatisiert werden und deshalb später der Therapie bedürfen. Insbesondere gilt das von miterlebten Gesprächen, die auf der Station am Krankenbett zwischen Ärzten und Angehörigen gefuhrt wurden. Diese werden oft ins eigene Erleben als eine Art Verschwörung integriert, bei der sich Freunde und Angehörige gegen den Patienten verbünden (so schon die alte Erfahrung eines Kranken, die im 41. Psalm wiedergegeben ist!15). Selbst im Wachzustand und in der späteren Reflexion gelingt es dann oft nicht mehr, diesen Eindruck einer vermeinten Verschwörung zum Tode nachhaltig zu korrigieren. Alle diese Bewusstseins- und spirituellen Prozesse im Koma haben einen offenen Ausgang: Sie können zum Leben zurückführen, aber auch den Weg zum Sterben einschlagen. Für diejenigen, die diese Prozesse begleiten, kommt es entscheidend darauf an wahrzunehmen und zu unterstützen, in welche Richtung die Entwicklung geht. Darin besteht die Kunst der seelsorgerlichen Begleitung auf der Intensivstation, unabhängig davon, wer sie übernimmt (Angehöriger oder Profi). Damit komme ich von der Patientenseite zur Seite des Begleiters, der Angehörigen oder des Seelsorgers. Wie kann ein solcher Besuch gestaltet werden? Auszugehen ist dabei von der Tatsache, dass zwar der Komapatient in einer stark reduzierten, ganz nach innen gerichteten und für uns hilflos wirkenden Lebensform daliegt, dass aber der Besucher selbst gerade

Ebd., 312. Vgl. auch M. Schröter-Kunhardt, Oneiroidales Erleben, ebd., 173: „Der Erlebende ist dabei der ungesteuerten traumhaften Verarbeitung seiner Situation direkt und (zumeist) ohne Möglichkeit zur (ausreichenden) reflektiven Distanzierung ausgeliefert. [...] Das Ich wird also aus der Alltagserfahrung in eine .andere Welt' mitgenommen, bleibt erhalten". 15 Ps 41, 6ff: „Sie kommen, nach mir zu schauen, und meinen's doch nicht von Herzen; sondern sie suchen etwas, dass sie lästern können, gehen hin und tragen's hinaus auf die Gasse./Alle, die mich hassen, flüstern miteinander über mich und denken Böses über mich (...)/Auch mein Freund, dem ich vertraute, der mein Brot aß, tritt mich mit Füßen."

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nicht hilflos dieser Situation gegenüber steht. Denn er verfugt im Gegensatz zum Patienten über alle seine Sinne: Er kann sehen und hören, wahrnehmen, er kann sprechen und tasten, er hat die Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen und den Besuch zu gestalten. Freilich ist hier eine andere Weise zu kommunizieren gefordert als sonst üblich, die man einüben muss. Als Beispiel für diese Herausforderung, Patienten im Koma zu begleiten, berichte ich von meinen Seelsorgebesuchen auf einer Intensivstation des Universitätsklinikums Großhadern (Anästhesie). Es handelt sich dabei um einen Ausschnitt aus meinem Fallbericht über die Begleitung einer Komapatientin (künstliches Koma), die aufgrund eines Suizidversuchs eingeliefert wurde. Das ist ein zugespitztes Beispiel für die Seelsorge unter diesen besonderen Bedingungen. In der Sequenz von insgesamt sechs Besuchen über etwa einen Monat habe ich diese Patientin seelsorgerlich begleitet. Bei meinem zweiten Besuch traf ich einen Angehörigen von Frau P. am Krankenbett an: ihren Schwager. Wir standen auf Höhe der rechten Seite des Bettes etwa in der Mitte (also mit einem relativen Abstand zur Patientin). Der Schwager hat mir von den Hintergründen erzählt: Frau P. lebt getrennt von ihrem Ehemann und in Scheidung. Sie leidet schon seit langem an Depressionen, was zu spät erkannt und vor allem akzeptiert (und wohl auch therapiert) wurde. Es gibt zwei Kinder und ein Enkelkind, die beim Mann leben. Offenbar war Frau P. allein und hat sich aus dem Fenster ihrer Wohnung im dritten Stock gestürzt. Die näheren Umstände sind nicht bekannt. Frau P. wurde von ihren Angehörigen außer dem Schwager nicht besucht. Von den Pflegenden erfahre ich, dass die näheren Verletzungen, die sich Frau P. bei ihrem Sturz zugezogen hat, noch gar nicht präzise bekannt sind. Das macht die besondere Schwierigkeit deutlich: Seelsorge geschieht hier unter noch unklaren Bedingungen. Nicht einmal die Tatsache, ob Frau P. seelsorgerliche Begleitung will, ja ob sie überhaupt leben will, ist bekannt. Bei meinem vierten Besuch ,6 bei Frau P. stelle ich mich auf die linke Seite des Bettes etwa in Kopfhöhe. Ich achte zunächst auf die Atmung und die Unterstützung. Ich sehe, dass Frau P. mit Schläuchen durch die Nase unterstützend beatmet wird. Ihr Atem geht ruhig und gleichmäßig. Ihre Augen sind geschlossen. Das Kopfteil des Bettes ist aufgestellt (sie liegt also nicht flach im Bett wie sonst). Bei meinem Besuch war ich diesmal allein (ohne Pflegepersonal) und ganz ungestört. Ich s p r e c h e Frau P. n a c h einer W e i l e v o r s i c h t i g halblaut an.

16 Die Sequenzierung der Redebeiträge - „S" steht für „Seelsorger" - folgt den in der KSAFortbildung üblichen Standards fur ein Verbatim (Gedächtnisprotokoll).

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S 1 : Frau P., jetzt hören Sie wieder meine Stimme. Ich bin der Seelsorger hier auf der Station und komme Sie heute wieder besuchen. Ich heiße Michael Murrmann-Kahl. Ich habe Sie vergangene Woche schon besucht. Ich war letzten Donnerstag bei Ihnen. (Ich sehe, dass Frau P. leicht die Augen öffnet und wieder schließt.) S 2: Frau P., ich nehme wahr, dass Sie heute die Augen leicht öffnen und schließen. Ich glaube, dass Sie mich gehört haben. Ich bleibe jetzt eine Weile bei Ihnen hier am Bett stehen. (Pause) S 3: Frau P., ich möchte Sie gerne auf Ihrem Weg unterstützen. Hier wird viel getan, um Ihnen zu helfen. Ich weiß leider nicht, ob das für Sie überhaupt in Ordnung ist. (Ich warte und beobachte genau, ob die Patientin mir irgendein Zeichen gibt oder ob ich ein von ihr induziertes Gefühl spüre. Nach einer Weile spreche ich weiter.) S 4: Ich möchte Ihnen gerne etwas auf Ihren Weg mitgeben, wo er Sie auch hinfuhren mag. Ich weiß natürlich nicht, ob das für Sie gut ist und Sie damit einverstanden sind. Aber ich möchte Ihnen gerne einen Segenswunsch sagen. (Ich warte. Ich spreche dann langsam den Segen) S 5: „Der Herr segne dich und behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig, der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden. - Amen." (Ich sehe, wie sich der geschlossene Mund der Patientin langsam halb öffnet. Er bleibt so eine Weile und schließt sich dann wieder.) S 6: Ich sehe, Frau P., dass Sie Ihren Mund öffnen und schließen. Ich danke Ihnen für dieses Lebenszeichen. (Ich warte noch eine Zeit, ob die Patientin noch ein weiteres Signal gibt.) S 7: Frau P., ich verabschiede mich jetzt und wünsche Ihnen alles erdenklich Gute. Ich komme Sie wieder besuchen. Auf Wiedersehen. In der nachgängig begleitenden Analyse dieses Seelsorgebesuchs 17 ist herausgearbeitet worden, dass mein Part, den Lebenswillen der Patientin zu unterstützen, noch offensiver vertreten werden könnte. Entsprechend wäre auch das Lebenszeichen der Patientin noch viel stärker zu würdigen. E s ist geklärt worden, dass die Patientin den von mir gespendeten Segen deutlich mit einem Mehr an Leben beantwortet hat. Das lässt sich ganz vorsichtig als eine Tendenz interpretieren, dass die Patientin doch überleben „will". Aber was heißt eigentlich „Wille" in einem solchen außerordentlichen Bewusstseinszustand?

17

Vergleichbare Beispiele nennt A. von Heyl, Gebetsformeln als Überlebenshilfe im

Grenzbereich, in: Th. Kammerer (Hg.), Traumland Intensivstation, ebd., 3 7 7 - 3 8 9 , hier 388f, Anm.

llff.

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Die Verwendung dieses Segens ist der offenen Seelsorgesituation darum angemessen, weil der aaronitische Segen (Num 6, 24—26) als Entlass- und Ausgangsformel des christlichen Gottesdienstes tatsächlich „auf der Schwelle" (vom Gottesdienst zurück in den Alltag) angesiedelt ist. Damit wird zu den menschlichen Willensäußerungen - der Patientin und des Seelsorgers - der umfassende „Wille" Gottes ins Spiel gebracht. „Auf der Schwelle" befindet sich Frau P. selber, und zum Zeitpunkt meines vierten Besuchs war nicht absehbar, ob sie ihren Weg ins Lebens oder Sterben nehmen würde. Die Segensformel greift genau diese Schwellensituation entscheidungsoffen auf und unterstützt dennoch die spirituellen Prozesse der Patientin. Als Resultat lässt sich an dieser Stelle formulieren: Aus solchen und vergleichbaren Erfahrungen wird deutlich, dass der/die Seelsorger/Seelsorgerin unter den Bedingungen der Intensivstation wesentlich als „Anwalt/Anwältin des Lebens" (Peter Fror) auftritt. Aus Seelsorgebesuchen erinnern Komapatienten in der Regel keine (kognitiven) Inhalte, wohl aber: 1 ) Wer ich war. 2) Dass ich bei ihm (sc. bei ihr) war. 3) Dass dieses Dasein für ihn (sc. für sie) eine Bedeutung hatte.'8

Diese Bedeutung besteht sachlich darin, dass dem/der Patienten/Patientin von jemandem glaubwürdig vermittelt wird, überhaupt noch am Leben zu sein. Diese Gewissheit, am Leben zu sein, ist offenbar im Koma erschüttert und zweifelhaft. Ein Mensch in diesem Zustand weiß „das Allerwichtigste nicht mehr (...), nämlich dass er am Leben ist"19! Deshalb bedarf es jenseits der Ärzte und Pflegenden, also der Behandelnden, die häufig aufgrund der notwendigen medizinischen Eingriffe als feindlich erlebt werden, glaubwürdige Zeugen, die einem Patienten diese Gewissheit vermitteln und gerade so den Weg zur Heilung fördern und unterstützen. Denn die körperlichen Empfindungen und Belastungen werden vom Komapatienten „radikal auf die eigene Person bezogen und mit deren Existenzberechtigung und -gefährdung verknüpft. Es scheint, als würden jetzt die Fragen nach der eigenen Person, nach der eigenen Aufgabe, nach den wesentlichen Dingen im Leben ungefiltert und unabgeschwächt in den Vordergrund rücken, immer auf dem Hintergrund, dass das eigene Überleben-Wollen und Überleben-

18

P. Fror, Reisen und Begegnungen im unbekannten Land, in: Traumland Intensivstation, ebd., 11-17, hier 15. 19 Ebd.

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Können in Frage steht."20 Das ist die radikale Form der Frage nach der eigenen Identität. Was bedeuten solche und analoge Erfahrungen aus der Seelsorge bei Patienten in außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen fürs Verstehen von Religion? Denn darin bestand die Ausgangsfrage, was seelsorgerliche Praxis für Religionstheorien zur Folge hat? Wenn man sich an den Ordnungsversuch Falk Wagners erinnert, so sind die möglichen Theoriebildungen voluntativ, emotiv oder kognitiv verwurzelt. Wagner stellt diese Theoriegestalten gleichsam wie auf einer Fläche konkurrierend nebeneinander und arbeitet sich dann wesentlich an den kognitiven Begründungs- bzw. Bestreitungstheorien von Religion ab. Das folgt natürlich dem Duktus der eigenen, im Durchgang durch die Aufklärung und den philosophischen Idealismus gewonnenen, theologischen Theorie.21 Aufgrund der seelsorgerlichen Erfahrungen legt sich mir ein anderes Modell nahe: Man könnte sich die Religionstheorien in der Form einer Pyramide angeordnet denken. Aufgrund der außergewöhnlichen Bewusstseinszustände auf der Intensivstation empfiehlt es sich, als Basis dieser gedachten Pyramide die Emotion anzunehmen. Dass Religion emotiv verwurzelt ist und zwar sehr tief verwurzelt ist, dafür spricht aus meiner Sicht alles, was man bei Intensivpatienten beobachten kann. Darauf baut eine erste, sehr rudimentäre Form von Willensäußerung auf, die darin besteht zu entscheiden, ob man überhaupt weiterleben „will". Der kognitive Bereich dagegen gleicht der sprichwörtlichen „Spitze des Eisberges", die bekanntlich nur etwa ein Zehntel des Ganzen ausmacht. Tatsächlich liegen die entscheidenden Dimensionen der Religion wohl unter der Oberfläche, die einem bewusst und entsprechend der Reflexion bzw. rationalen Kritik zugänglich ist. Um ein solches Modell zu plausibilisieren, muss man noch einige weitere Erfahrungen benennen. Zunächst einmal bedeutet das künstlich herbeigeführte Koma, dass aus therapeutischen Gründen die Funktionen der Großhirnrinde (des präfrontalen Cortex) gleichsam „abgeschaltet" werden. Der Sinn besteht darin, dem Patienten entsprechende Behandlungsschmerzen zu ersparen. Damit wird man nicht nur auf sich selbst und den eigenen Körper zurückgeworfen, sondern wird zugleich durch die Jahrtausende der Menschheitsentwicklung auf ein pristines Niveau reduziert. Man stürzt gleichsam durch die Zeiten. Auf diesem pristinen Niveau gibt es, wie gezeigt, sehr wohl Bewusstsein und Lebensäußerungen, aber sie sind anderer 20

Ebd. Vgl. Wagner, Artikel „Religion II.", ebd., 535ff Dazu M. Murrmann-Kahl, Philosophische Theologie im Horizont der radikal-genetischen Religionskritik. Zum Grundthema der Theologie Falk Wagners, in: Chr. Danz/J. Dierken/ders. (Hg.), Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik, Frankfurt a.M. 2005, 55-80. 21

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Art als die gewohnte sprachliche Kommunikation. Damit dürfte auch zusammenhängen, dass die Umgebung vornehmlich im Freund/Feind-Schema wahrgenommen wird: Was von außen durchdringt, wird entweder als bedrohlich oder beschützend, Angst machend oder hilfreich erfahren. Die Emotionen dringen ungefiltert und meist in einer intensiven Bilderwelt ins Bewusstsein. Auf der Spitze medizinisch-technischer Naturbeherrschung wird man hier ganz auf die basalen Naturbedingungen zurückgeworfen. Wie die Verwandtschaft des „oneiroiden Erlebens" mit Träumen zeigt, tragen wir alle dieses stammesgeschichtliche Erbe in uns. Offenbar wird es unter den Bedingungen der Ausschaltung von Wachbewusstsein und Kognition revitalisiert. Damit hängt sodann zusammen, dass auf der Basis dieser sehr elementaren Gefühle und Bilderwelt entschieden wird und entschieden werden muss, wie es weitergehen soll, insbesondere, ob man leben und überleben „will". Nur was heißt Lebenswille unter diesen geschilderten Bedingungen? Es kann natürlich nicht rational abgewogen werden. Wohl aber lässt sich nachträglich rational konstruieren, was hier auf dem Spiel steht: auf der kognitiven Ebene müsste man entscheiden, ob der Wunsch: „Ich will leben." selbst gewollt werden kann („second-order volition"). Diese reflexive Distanznahme ist natürlich im Koma nicht möglich. So äußert sich die gefallene Entscheidung auch anders. Zum Beispiel: Die Ärzte setzen die sedierenden Medikamente ab oder möchten die künstliche Beatmung beenden. Nach den Regeln der ärztlichen Kunst müsste der Patient dann wieder selber atmen und langsam aufwachen. Es gibt jedoch Patienten, die trotz des Absetzens der Medikamente nicht aufwachen und auch nicht mehr selbst zu atmen beginnen. Der seelsorgerlichen Erfahrung zufolge bedarf es mindestens eines Menschen, um dessentwillen der Patient leben „will", das heißt die Mühen des Selber Atmens wieder übernehmen und aufwachen „will". In ganz zentraler Weise kommt hier das Familiensystem ins Spiel: also nicht nur, was einen trägt (spirituelle Ebene), sondern auch, wer einen trägt (soziale Beziehungen). Das Familiensystem eines Patienten ist, wie es ist; man kann es nicht ändern. Er hat kein anderes. Aber es bleibt als solches ambivalent: es kann zur Heilung helfen oder eine Rückkehr ins Leben behindern. Solche Phänomene sind in der Medizin eigentlich nicht vorgesehen. Sie zeigen aber, dass der Patient in einer sehr elementaren Weise über sich selbst „entscheidet", ob er weiterleben „will".22 Die seelsorgerliche

22 In philosophischer Hinsicht scheint dazu am ehesten das Willensverständnis von Th. Hobbes zu passen, demzufolge der Wille selbst unfreiwillig („the will is not voluntary") und nicht reflexiv sei, sondern nur die Ursachenkette des „appetitus" durch das Tun realisiere: vgl. T.-A. Ramelow, Artikel „Wille II.", in: HWPh Bd. 12, Sp. 796-783, hier 777f.

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Aufgabe besteht natürlich darin, diesen Lebenswillen zu unterstützen und zu bestärken. Aufgrund solcher Beobachtungen plädiere ich für ein Pyramidenmodell, in dem die emotive Verwurzelung von Religion die breite Basis, die voluntative den darauf aufruhenden Mittelteil und die kognitive die Spitze darstellt. In der Tat kann man in diesem Sinne über das Für und Wider, über Begründung und radikale Kritik der Religion rational (im bewussten Zustand) streiten, ohne damit doch überhaupt schon die wahren Lebensprobleme berührt zu haben. Insofern ist meines Erachtens der bislang beste und am ehesten zutreffende Vorschlag derjenige Schleiermachers, Religion als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche" und als „Anschauung und Gefühl" zu beschreiben. Nur müsste man diese Beschreibung von ihrer romantisierenden Harmlosigkeit befreien, um sofort die dramatischen Konsequenzen zu erkennen. Denn wo es ums nackte Überleben geht, und genau darum geht es auf der Intensivstation, müssen die elementaren und mächtigen Gefühle der Geborgenheit, der „Lebenswille", gestärkt und unterstützt werden, die die ebenso vorhandenen massiven Ängste überwinden helfen. In diesen außerordentlichen Bewusstseinsprozessen betritt man exakt die biblische Welt von Himmel und Hölle, Engeln und Dämonen, Mächten und Gewalten, die ein spezifisch protestantischer Rationalismus nur zu „entmythologisieren" trachtete.23 Mit solchen rationalen Konstrukten ist aber die tiefe emotive Verwurzelung von Religion noch gar nicht berührt. Um allen Missverständnissen an dieser Stelle vorzubeugen: Seelsorge liefert nicht die empirische Grundlage für die viel beschworene wesensmäßige Anlage der Menschen zur Religion (Schleiermacher, Pannenberg).24 Ob der Mensch wesentlich (von Natur aus) religiös ist, lässt sich auf der Intensivstation nicht entscheiden. Was man erfahren hat, ist das Folgende: Auf seiner Reise ins unbekannte Land der außergewöhnlichen Bewusstseinszustände ist man gut beraten, mit dramatischen und spirituellen Prozessen auf Seiten des Patienten zu rechnen. Hier geht es ums Überleben und um die Identität der ganzen Person. Ein Besucher und Begleiter kann all seine Sinne und die Sprache nutzen, um mit dem Patienten Kontakt aufzunehmen und ihn in seinen Prozessen hilfreich zu unterstützen. Dabei kann er sich auch der eigenen spirituellen Angebote und Riten bedienen, in unserem Fall der christlich-religiösen. Er wird mit Sicherheit im Raum der Intensivstation nur bestehen, wenn er dorthin mit dem Vertrauen geht und dort handelt, dass dies alles von Gottes Präsenz umgriffen ist. Dass er und alle anderen in

Bekanntlich R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie, in: H. W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos Bd. I, Hamburg 1948, 15-53. 24 Vgl. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. Kritisch dazu F. Wagner, Was ist Religion?, ebd., 498-522.

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diesem besonderen Raum in der umfassenden und einladenden Gegenwart und Nähe des dreieinigen Gottes stehen. Andernfalls wird man in möglichen Turbulenzen vorhersehbar untergehen.25 Dieser Voraussetzung auf Seiten des Seelsorgers muss freilich auf der Patientenseite nicht unbedingt etwas entsprechen. Wie gezeigt weiß man oft gar nichts über die religiöse Ausrichtung eines Patienten/einer Patientin. Manchmal kann man auch nur mutmaßen, ob ein Besuch oder die Begleitung überhaupt erwünscht ist. Dennoch werden solche elementaren Prozesse sich ereignen, die den Weg des Patienten bestimmen: hin zum Leben oder zum Sterben. Er wird diesen Weg gleichsam somatisch „entscheiden", und man kann an seinen Lebensäußerungen sehen, wohin die Reise geht. Der Begleiter hat dabei nicht die Aufgabe, es besser zu wissen als der Patient. Er kann ihn auf seinem Weg im besten Fall unterstützen. Das aber kann er wirklich, und für diese Begleitung sieht die religiöse Tradition entsprechende Handlungen und Riten vor. Die Kunst besteht darin, herauszubekommen, was bei einem Patienten gerade „dran ist", was ihm hilft. In der Reflexion (auf der kognitiven Ebene) kann ich die Wahrnehmungen und Erfahrungen mit Komapatienten so fruchtbar machen, dass ein Verständnis von Religion gefördert wird, das sich von der ausschließenden Konkurrenz von Theorien und dem Kampf der Theoriegötter verabschiedet und zur Einsicht gelangt: Es gibt verschiedene Ebenen und Dimensionen, in denen Religion verwurzelt sein kann, am tiefsten zweifellos auf der vorreflexiven Gefühlsebene, von der die kognitive Ebene eher als eine Rationalisierung dessen anzusprechen ist, was „unter der Oberfläche" des Wachbewusstseins liegt. Genau genommen sind diese unterschiedlichen Theorien gar keine Konkurrenten, sondern hängen alle miteinander zusammen, genauso wie das elementare religiöse Gefühl alle Willensäußerungen und Gedanken bewusst oder unbewusst durchdringt.

2. „Die Seele ist ein weites Land" (Arthur Schnitzler) Beim Religionsbegriff wurde darzulegen versucht, wie unter dem Einfluss der seelsorgerlichen Erfahrungen die Religionstheorie verändert und die aufgeklärte Religionstypologie selbst durch Erfahrung „abgeklärt" wird.26 An die Stelle einer Auflistung unterschiedlicher Theorietypen mag das Modell einer gewissen Hierarchisierung von Religionstheorien treten, was 25

Vgl. M. Murrmann-Kahl, Theologische Grundlegung einer Spiritualität im Raum der Intensivstation. Sicht eines systematische Theologen, in: Th. Kammerer (Hg.), Traumland Intensivstation, ebd., 125-139, hier 129ff. 26 Dazu Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, in: ders., Soziologische Aufklärung Bd. 1 (1970), Opladen 4 1974, 66-91, hier 66f, 82 ff.

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noch keine Bewertung impliziert, welchen Rang einer jeweils ausgearbeiteten Theorie des emotiven, voluntativen oder kognitiven Typs bzw. der Mischtypen zukommt. Der Seelenbegriff ist im Feld der Seelsorge zentral, und hier lässt sich zeigen, wie unter dem Einfluss systematischtheologischer Begriffsarbeit eine Präzisierung erreicht wird. Denn von welcher „Seele" ist eigentlich die Rede, wenn von „Seelsorge" gesprochen wird? Als Systematiker fallt einem auf, dass der Begriff „Seelsorge" überhaupt relativ unproblematisch, geradezu naiv, verwendet wird, als ob es hier in der Neuzeit keine einschlägige Problemgeschichte gäbe. Interessanterweise wird zum Beispiel vom „Klinikseelsorger" gesprochen, was in vielerlei Hinsicht irreführend ist. Denn weder ist der Seelsorger Teil des Klinikpersonals wie die anderen Professionen, Ärzte und Pflegende, sondern wird einer Kirchengemeinde zugeordnet und zur Arbeit in der Klinik abgestellt. Er wird überwiegend nicht von der Klinik, sondern der jeweiligen Kirche bezahlt. Noch ist die Klinik als komplexes System unmittelbar Gegenstand seiner „Seelsorge", auch wenn er das Gesamtsystem im Blick haben muss. Der Dienst verdankt sich dem einschlägigen Auftrag Jesu, Kranke zu besuchen, den die Christen aufgenommen und natürlich entsprechend auch professionalisiert haben. Allem alltagssprachlichen Gebrauch zum Trotz muss man feststellen, dass spätestens seit Kant dem Seelenbegriff allenfalls ein „Weiterleben in der Gemeinsprache" zukommt, dem kein angebbarer Gegenstand mehr entspricht.27 Bis ins 18. Jahrhundert bestand Konsens darüber, dass die „anima rationalis" als „unstofflicher, daher auch unsterblicher, im individuellen Leben [...] mit einem Körper und seinem vegetativen und sensitiven Leben vereinigte Substanz" aufzufassen sei.28 In dem Maße, in dem diese Gewissheit verging, wird die Seele im Begriff der „Seelsorge" (und nicht nur dort) zu einer Leerstelle. Analog prägte schon im 19. Jahrhundert Friedrich Albert Lange das Wort von der „Psychologie ohne Seele".29 Im Hinblick auf die rationale Psychologie liefert Kant im Paralogismuskapitel eine vergleichbare Destruktion des traditionellen Seelenbegriffs wie später der Gottesbeweise.30 Auch wenn es in der Theologie nicht so wahrgenommen wird, hat sich die Vorstellung von der unveränderlichen Seelensubstanz von dieser Kritik so wenig erholt wie das Thema der Existenz Gottes. Denn von einer substantiellen „Seele" kann nichts erkannt werden, wenn, wie Kant ausführt, die theoretische Vernunft den Versuch 27

Vgl. H. Holzhey, Artikel „Seele IV.", in: HWPh Bd. 9, Sp. 26-52, hier 27. Walter Spam, Fromme Seele, wahre Empfindung und ihre Aufklärung, in: D. Korsch/J. Dierken (Hg.), Subjektivität im Kontext, Tübingen 2004, 2 9 ^ 8 , hier 31. 29 E. Scheerer, Artikel „Seele V.", ebd., Sp. 52-89, hier 52. 30 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 341 ffbzw. Β 399 ff. 28

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macht, das aller Erkenntnis zugrundeliegende „Denk-Ich" zum Gegenstand zu machen, also an die Objektstelle treten zu lassen. Hier kann es nur zum Fehlschluss kommen, weil das Denk-Ich immer schon vorausgesetzt werden muss und beansprucht ist, wenn man über es etwas erkennen will (so die Argumentation insbesondere in der 2. Auflage!). „Die Seele ist, derart in transzendentale Subjektivität überführt, zur unhintergehbaren und nicht mehr objektivierbaren Voraussetzung allen Erkennens geworden."31 So zersetzen sich die vermeintlichen Gewissheiten über das „Ich denke", das nur in seinen Operationen gegenwärtig, aber nicht vergegenständlicht werden kann. „Mit dem Schein der substantiellen Simplizität und Immaterialität der Vernunftseele lösen sich auch der Schein ihrer Unsterblichkeit und die Hoffnungen auf Metempsychose oder Palingenesie in Nichts auf (...)." 32 Kant geht sonach „überhaupt nicht mehr auf Erwägungen zum Wesen der Seele ein".33 Natürlich kennt die „Sattelzeit" (R. Koselleck) ab 1750 eine Reihe von modernen Umbesetzungen des Seelenbegriffs namentlich im Blick auf „Subjektivität", „Selbstbewusstsein" oder einer romantischen Seelenmetaphorik (von Eichendorffs „Mondnacht"). Schon bei J. J. Spalding findet sich diese prinzipielle Umstellung der „Seele" auf „die Beschreibung einer geistigen Selbsterfahrung". 34 Allerdings können solche begriffstechnischen Innovationen nicht verbergen, dass sie einen Preis entrichten müssen. Dieser lässt sich als das unbewältigte Problem der Identität benennen: wie nämlich die personale Identität subjektivitätstheoretisch und nicht substantialistisch garantiert werden könnte, daran arbeitet sich schon John Locke vergeblich ab.35 So spricht viel für das von Walter Sparn gezogene Fazit, dass dieses Problem unter neuzeitlichen Bedingungen offenbleibt, „wie der einst im Begriff der ,Seele' verbürgte Anspruch empirischer Individualität auf die unverlierbare Würde seines leibhaften Daseins im Paradigma der Subjektivität erneuert wird".36 Vorerst hält die „Seele" diesen Mangel, mehr oder weniger eine Leerstelle, im Bewusstsein. Mit einem schönen Wort Georg Simmeis (anlässlich der Kunst A. Rodins) kann man diese Begriffsentwicklung abschließen: „Das Wesen der Moderne überhaupt ist Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen unseres

31

H. Holzhey, Artikel „Seele IV.", ebd., Sp. 41f. W. Sparn, Fromme Seele, ebd., 46. 33 H. Holzhey, Artikel „Seele IV.", ebd., Sp. 42. 34 W. Sparn, Fromme Seele, 38. 35 John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, II. Buch Kapitel XXVII. Vgl. dazu und zum obigen Kontext meine Darstellung in: M. Murrmann-Kahl, „Mysterium trinitatis"? Fallstudien zur Trinitätslehre in der evangelischen Dogmatik des 20. Jahrhunderts, Berlin/New York 1997, 263-280. 36 W. Spam, Fromme Seele, 47. 32

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Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der festen Inhalte in das flüssige Element der Seele, aus der alle Substanz herausgeläutert ist." So besteht wohl kein Zweifel, dass die Geschichte des Seelenbegriffs überwiegend eine Verlustgeschichte ist. Darum habe ich selbst den Vorschlag gemacht, den Seelsorgebegriff im Kontext der modernen Debatten ums Personverständnis zu rekonstruieren.37 Vom Seelen- auf den modernen Personbegriff umzustellen, könnte sich für die Person des Seelsorgers wie des Patienten als vorteilhaft erweisen. Denn der moderne Personbegriff fokussiert auf die Phänomene, mit denen alle Beteiligten zu tun haben: auf die leibhafte Person, Individualität, Bewusstsein, Beziehung. Die konstitutiven Elemente des modernen Personbegriffs lösen wohl noch am ehesten den Anspruch ein, das vormals mit „Seele" und ihrer unverlierbaren Würde Gemeinte unter den gegenwärtigen Wahrheitsbedingungen zum Zuge bringen zu können. Für den Seelsorger wie den Patienten gilt gleichermaßen: Es treten zwei individuelle, leibhafte Personen miteinander in Kontakt. Auf beiden Seiten sind sonach die unabschließbaren, je individuell geprägten Bewusstseinsprozesse im Spiel. Der Seelsorger agiert immer mit der Präsenz seiner ganzen Person, unabhängig davon, ob er sich aller Anteile selbst bewusst ist. Davon kann nicht abstrahiert werden. Gerade so aber repräsentiert er zugleich denjenigen, der den Raum fur die göttliche Gegenwart eröffnet. Unter Aufnahme der gegenwärtigen philosophischen Debatten um den Personbegriff (E. Tugendhat, U. Pothast, D. Sturma, R. Spaemann) ergibt sich, dass über die theoretischen, „metaphysischen", Bestimmungen der „Person" sich kaum Einigkeit erzielen lassen wird, dass sogar die Frage nach den definitiven Merkmalen der Person offen bleiben muss (Dennett).38 Deutlich wird aber, dass die Personwerdung eines empirischen Individuums moralisch, rechtlich und sozial als eine lebenslange Aufgabe gesehen wird. Insofern handelt es sich um einen nicht fixierbaren Prozess, der offensichtlich am Anfang und Ende offen an- und ausläuft, zumal über den Beginn und das Ende des Lebens empirisch (naturwissenschaftlich) keine Einigkeit hergestellt werden kann. Demnach ist nicht nur abstrakt von der Person als Vernunftwesen auszugehen, sondern spezifisch von der jeweils individuierten Person in ihrer Personwerdung (oder lebenslangen Realisierung: Pothasts „Einheitsarbeit"). Für die je individuelle Person ist nach neuzeitlicher Übereinkunft mindestens Bewusstsein, Zeitlichkeit und Leiblichkeit Vgl. M. Murrmann-Kahl, Theologische Grundlegung einer Spiritualität im Raum der Intensivstation, ebd., 132 ff. 38 Vgl. E. Tugendhat, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a.M. 1979; ders., Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a.M. 1993. U. Pothast, Philosophisches Buch, Frankfurt a.M. 1988; R. Spaemann, Personen, Stuttgart 1996; D. Sturma, Philosophie der Person, Paderborn et al. 1997.

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charakteristisch. Daher lässt sich die Identität der Person tatsächlich nicht mehr substantialistisch feststellen und definieren, sondern kann nur (auto-) biographisch ge- oder sogar erfunden werden. Freilich bin ich inzwischen selbst ein wenig skeptisch, ob nicht das, worüber man sich mit dem Begriff „Seelsorge" einigermaßen rasch verständigen kann, in einer umständlichen Erläuterung zum Personbegriff und dem Sinn der Begleitung der individuell-leibhaften Person in ihren besonderen Bewusstseins- und spirituellen Prozessen verloren geht. Wahrscheinlich würde es bloß zu erheblichen Irritationen möglicher Gesprächspartner im Krankenhaus fuhren. Schließlich: Wer den realen Medizinbetrieb mit seinen vielfältigen finanziellen Zwängen, Verteilungskämpfen und Hierarchien erlebt hat, dem wird die leicht antiquiert wirkende „Seelsorge" schon wieder als ein Fortschritt und Versprechen der Humanität erscheinen - als ein Hoffnungszeichen in einer radikal verdinglichten Welt.

Ulrike Wagner-Rau

Ein Ort der Auseinandersetzung über Gott und die Welt Kasualpraxis in den Transformationen der Frömmigkeit

1. Famiiiarisierung und Kasualisierung Weichenstellungen der Aufklärung

Die Aufklärung stellt in der Geschichte der Kasualien eine bis in die Gegenwart hinein bedeutsame Weichenstellung dar. Denn im Zusammenhang der Reform des Gottesdienstes und der Liturgie dieser Zeit wurden die Amtshandlungen in wachsendem Maß als ein Zyklus verstanden, der sich an das Leben der bürgerlichen Familie anschmiegt und der biographischen Entwicklung und dem Bildungsprozess der Einzelnen folgt. Auch von den Kirchenmitgliedern werden die lebensbegleitenden Gottesdienste seither in der Generationenfolge als ein sich wiederholender Zyklus von Ritualen in Anspruch genommen, der einschneidende Ereignisse im Leben der Familie strukturiert und begleitet.' Die Veränderung der Kirchgangssitte im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, so Peter Cornehl, hatte weit reichende Folgen. Mit dem Ende des Gottesdienstzwangs am Sonntag entstand bei der Mehrzahl der Kirchenmitglieder die Gewohnheit, den Gottesdienst nur an den hohen Festen des Kirchenjahres und den lebens- und familiengeschichtlich relevanten Wendepunkten zu besuchen. Dem entspricht die Transformation der religiösen Kultur insgesamt, die Dietrich Rössler als die Ausprägung einer dreifachen Gestalt des Christentums im Prozess der Moderne charakterisiert: Neben die kirchliche Gestalt des Christentums treten zivilreligiöse Überzeugungen und Begehungen der Gesellschaft und vor allem die individuelle Religiosität, die sich auch am Rande und jenseits der Grenzen des kirchlichen Lebens ihren eigenen Weg sucht.2 Die Einzelnen sind zwar auf die zuverlässige Tradierung des christlichen Glaubens und seiner Rituale und Symbole durch Theologie und Kirche angewiesen, nehmen aber in 1 Vgl. Peter Cornehl, Art. Gottesdienst VIII. Evangelischer Gottesdienst von der Reformation bis zur Gegenwart, in: TRE, Bd. 14, 54-85, hier: 63. 2 Vgl. Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 1986, 7 8 92.

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ihrer Mehrheit die Institution nur sporadisch in Anspruch. Wenn es allerdings zu einem Kontakt kommt - zum Beispiel im Weihnachtsgottesdienst oder bei einer Bestattung - entstehen oft intensive Berührungen, die in der Erinnerung der Einzelnen lange nachwirken und auch wichtige Orientierungspunkte im Gedächtnis der Familie darstellen können. 3 Nicht nur der Zyklus als ganzer entsteht in der Aufklärung. Auch die einzelnen Kasualien verändern im Zusammenhang dieser „Familiarisierung" und „Kasualisierung" 4 ihren Charakter und ihren Bezughorizont. Individuelles und Familiäres treten gegenüber dem Kirchlichen deutlicher in den Vordergrund. Religiöse Bildung und Mündigkeit werden im Zusammenhang der Konfirmation akzentuiert. Bei der Trauung rückt die Gründung der Familie und - mit der Romantik - die Liebe des Paares ins Zentrum. Besonders deutlich aber ist die Einbettung des kirchlichen Anlasses und seine Umdeutung in ein Fest der Familie bei der Taufe zu beobachten5. Das Sakrament der Initiation in den christlichen Glauben wird zum Fest des neuen Lebens, zum Anlass der Selbstdarstellung der prosperierenden bürgerlichen Familie. Typisch dafür ist die literarische Darstellung der Taufe in Thomas Manns Roman „Buddenbrooks". Auch wenn die Mutter mit ihrer Blässe und der kleine Hanno in seiner Zartheit bereits den Niedergang der Familie andeuten - der Tauftag ist hier vor allem ein Tag der familiären Bestätigung. Der Bürgermeister wurde als Pate gewonnen, die Großfamilie kommt zusammen, der dem Konsul ergebene Speicherarbeiter Grohleben hält eine Rede, die zwar auch auf den Tod zuläuft, aber an diesem Festtag trotzdem mit Humor quittiert wird... Tony Permaneder hat allen Grund, sich nach dem Fest mit einem triumphierenden Satz von ihrem Bruder Thomas zu verabschieden: „Wir Buddenbrooks pfeifen noch nicht aus dem letzten Loch, Gott sei Dank, wer das glaubt, der irrt sich im höchsten Grade! Jetzt, wo der kleine Johann da ist - es ist so schön, dass wir ihn wieder Johann genannt haben - jetzt ist mir, als ob noch einmal eine ganz neue Zeit kommen muss!" 6 Wer es sich leisten konnte, feierte die Taufe zu Haus und schaffte dafür die entsprechenden Ausstattungsgegenstände an: das mit Schleifen und

3

Vgl. Ulrich Schwab, Familienreligiosität. Religiöse Traditionen im Prozeß der Generationen, Stuttgart 1995. 4 Vgl. Peter Comehl, Zur Geschichte der evangelischen Taufe, in: Tausend Jahre Taufen in Mitteldeutschland, Katalog Hg. Bettina Seyderhelm, Magdeburg 2006, 80-93, hier: 87. 5 Entsprechendes kann man im Blick auf das Kirchenjahr beim Weihnachtsfest beobachten. Vgl. Matthias Morgenroth, Weihnachtschristentum. Modemer Religiosität auf der Spur, Gütersloh 2002. 6 Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Ende des 1.Kapitels des Siebenten Teils.

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Spitzen verzierte, fast an ein Brautkleid erinnernde Taufkleid, die silberne Taufschale, die prächtigen Leuchter für den häuslichen Altar. Die Haustaufen wurden nicht nur beim Adel, sondern auch beim gebildeten, wohlhabenden Bürgertum deutlich beliebter, insgesamt aber blieben sie eine - für die Gesamtentwicklung signifikante - Ausnahme.7 Diese Ausnahmen freilich sind so bedeutsam, dass Friedrich Schleiermacher sie in seinen Überlegungen zu den „Casualreden" erkennbar mit berücksichtigt.8 Der Ort der Reden liege in einem Spannungsfeld zwischen Sakramentsausteilung und spezieller Seelsorge, zwischen den Erfordernissen der Familie und dem kirchlichen Charakter der Handlung. Es sei ein Unterschied, ob die Handlung in der Kirche oder aber im Hause der Familie vollzogen werde und der Geistliche damit in ein „Privatverhältniß treten"9 solle. Immer wieder müsse man sich in diesem Spannungsfeld angemessen orientieren und unterschiedliche Voraussetzungen zueinander in Beziehung setzen: „So wie nun ein solcher Kreis Ursache hat zu verlangen daß er auf seine Weise religiös angefaßt und angeregt werde: so hat auch der Geistliche sein Recht zu verlangen daß sich die Zuhörer in seine Weise hineinverstehen. Hier sind also Ansprüche, die entgegengesetzt sein können, was zu einer Zeit wie die jetzige und in einem gebildeten Kreise schon immer wird erwartet werden können."10 Schleiermacher setzt unterschiedliche Weisen christlicher Religiosität voraus, deren Repräsentanten sich in der Situation des Kasualgottesdienstes begegnen und in einen dialogischen Prozess eintreten. Allen Beteiligten Geistlichen wie Zuhörern - wird zugetraut, dass sie sich artikulieren und verständlich machen können, beiden Seiten aber auch zugemutet, sich um Verständnis für die jeweils andere, unter Umständen entgegen gesetzte Seite zu bemühen. „Schon immer wird erwartet werden können"11, dass kirchlich-theologischer Deutungshorizont und Gottesdienstgestaltung in einer religiös aufgeklärten Öffentlichkeit nicht fraglose Akzeptanz finden, sondern dass mit individuellen Ausprägungen religiösen Selbstverständnisses mindestens unter den Gebildeten zu rechnen ist, die ihrerseits Anerkennung fordern. 7 Vgl. Cornehl, ebd. (vgl. Anm. 4). Im anderen sozialen Kontext bildeten sich im TaufVerhalten auch andere Familienverhältnisse ab: Bis in das 20. Jahrhundert hinein war es offenbar in vielen Familien die Ausnahme, dass die Väter mit zum Taufgottesdienst kamen. Vgl. Kathrin Ellwardt, Taufe zwischen Familienfest und Policey-Ordnung, in: Tausend Jahre Taufen in Mitteldeutschland, Katalog Bettina Seyderhelm (Hg.), Magdeburg 2006, 94-105, hier: 95. 8 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, Jacob Frerichs (Hg.), Berlin 1850, 321-326. 9 Ebd., 323. 10 Ebd., 324. 11 Ebd.

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Ulrike Wagner-Rau 2. Notwendige Auseinandersetzungen

Schleiermachers Beschreibung der Situation ist außerordentlich modern. Sie nimmt vorweg, was in der Kasualtheorie der Gegenwart durchgehend als notwendige Auseinandersetzung thematisiert wird: Es ist unvermeidlich, mit dem Konflikt zwischen der religiösen Bedürfnislage der Kasualbegehrenden und den theologischen Deutungsmustern der kirchlichen Professionellen konstruktiv umzugehen. Allerdings findet die Auseinandersetzung im 21. Jahrhundert in einer anderen gesellschaftlichen Situation statt als zur Zeit Schleiermachers: Die Kirchenmitglieder insgesamt sind wesentlich breiter gebildet und die Individualisierung hat sich, wie Ulrich Beck es beschreibt, demokratisiert.12 Entsprechend ist auch eine Individualisierung des religiösen Selbstverständnisses zu beobachten. Die Subjekte sind „selbständige und kreative Produzenten religiösen Denkens"13, die sich als solche gerade auch im Kontext der Kasualien immer aktiver zur Geltung bringen, indem sie ihre Überzeugungen und Gestaltungsvorstellungen im Prozess der Gottesdienstvorbereitung beachtet wissen wollen. Gleichzeitig wird freilich deutlich, dass mit der Individualisierung eine Pluralisierung des religiösen Selbstverständnisses einhergeht, die nicht nur sehr individuelle Variationen christlicher Überzeugungen hervorbringt, sondern in der sich auch die Präsenz anderer Religionen im gesellschaftlichen Zusammenleben und in den Medien widerspiegelt. In der Auswertung der qualitativen Ergebnisse des Religionsmonitors der Bertelsmann-Stiftung 2008 kommt Armin Nassehi zu interessanten Befunden im Blick auf das religiöse Selbstverständnis der Befragten.14 Man könne bei ihnen eine erstaunliche Kompetenz feststellen, eine religiöse Ansprache auch religiös zu beantworten und dabei ein „reichhaltiges Bild von Transzendenzerfahrungen"15 zum Ausdruck zu bringen. Selten aber lasse sich ein inhaltlich konsistentes individuelles Selbstverständnis in der Tradition einer Religion feststellen. Vielmehr sei deutlich, dass auch die Angehörigen der Kirchen ihre je eigenen Formen religiösen Selbstverständnisses und eine individuelle Praxis entwickeln und dabei mit Inkonsistenzen außerordentlich gut zurechtkommen. „Es lassen sich ... christliche und esoterische, 12 Vgl. Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften. Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: Dies. (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994, edition suhrkamp 1816, 10-39. 13 Henning Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjektes, Stuttgart 1992, 13. 14 Vgl. Armin Nassehi, Erstaunliche religiöse Kompetenz. Qualitative Ergebnisse des RELIGIONSMONITORS, in: Bertelsmann-Stiftung, Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007, 113-132. 15 Ebd., 117.

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buddhistische und animistische Formen miteinander kombinieren, ohne dass damit die einzelnen Formen diskreditiert werden"16. Dabei spiele eine große Rolle, dass durch die Medien eine beständige Gewöhnung an Inkonsistenzen eingeübt werde. Die Orientierung an den kirchlichen Institutionen und den von ihnen vertretenen Inhalten spiele offenkundig auch und gerade für die Hochreligiösen nicht mehr die entscheidende Rolle. Vielmehr gehe es darum, sich authentisch als religiös im eigenen Lebenszusammenhang und in der eigenen Lebenspraxis darzustellen und dafür unterschiedliche Momente religiöser Erfahrung und religiösen Selbstverständnisses zu benutzen. In eine ähnliche Richtung weist die Analyse Hubert Knoblauchs, der einen Prozess der Entgrenzung von religiöser Kommunikation in die populäre Kultur hinein beobachtet: Religiöse Formen, Themen und Symbole gewönnen im popkulturellen Zusammenhang für viele Menschen auch über Milieugrenzen hinweg eine Bedeutung. Die Herkunft dieser Phänomene und Deutungsmuster aus der institutionalisierten Religion werde dabei oft nicht mehr erkannt, weil die selbstverständliche Kenntnis der Traditionen aus einer religiösen Sozialisation fehle.17 Über die individuellen Anverwandlungen christlicher Religiosität hinaus gibt es also - folgt man dieser Analyse - in zunehmendem Maße eine im Kontext der Popkultur kommunizierte Religiosität, die massenmedial verbreitet eine große Zahl von Menschen erreicht und unweigerlich in ihre Überzeugungen einwandert. Die Bedeutung der Popkultur für die Gestaltungsvorstellungen der Kasualbegehrenden liegt auf der Hand. Immer wieder wird von Pfarrern und Pfarrerinnen beschrieben, wie Filme, in den Medien übertragene Kasualgottesdienste, Fernsehserien und populäre Musik die Erwartungen und Wünsche prägen, die mit dem auf die eigene Biographie bezogenen Gottesdienst verbunden werden. Die Entwicklungen sind also nicht eindeutig, sondern es besteht eine Spannung zwischen zunehmender Individualisierung und gleichzeitiger Uniformierung religiöser Vorstellungen. In vieler Hinsicht kann man eine wachsende Eigenständigkeit in religiösen Fragen konstatieren. Die Kasualbegehrenden kommen mit eigenen Vorstellungen bzw. entwickeln diese Vorstellungen im Prozess der Begegnungen mit dem Pfarrer/der Pfarrerin. Die Kasualgespräche sind ja ausgezeichnete Gelegenheiten, um Menschen im Sinne Nassehis „religiös anzusprechen", und die pastorale Erfahrung dürfte in vielen Fällen bestätigen, dass die angesprochenen Menschen tatsächlich in der Lage sind, nicht nur von ihrer biographischen Situation 16

Ebd., 119. Vgl. Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt/New York 2009, 197f. 17

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perspektivenreich zu erzählen, sondern diese auch mit Fragen und Erfahrungen in Beziehung zu setzen, die vielfältige transzendente Bezüge aufweisen. Gleichzeitig kann man ebenso wahrnehmen, dass die in den neuzeitlichen Individualisierungsprozessen verlorene Deutungshoheit der Kirchen nun an andere, kommunikativ mindestens ebenso mächtige Instanzen übergegangen ist. Nicht mehr allein und zuerst die Einflussnahme der Kirchen auf das Individuum fordert eine kritische Durcharbeitung. Mehr noch braucht solche Kritik die Sozialisation durch die Medien; denn diese erweisen sich mit ihrer Ästhetik und ihren Deutungsmustern als außerordentlich wirksam. Insofern ist die Auseinandersetzung zwischen Pfarrern und Kirchenmitgliedern im Kontext der Kasualpraxis noch zu undifferenziert beschrieben, wenn man sie als eine Begegnung des religiös mündigen Individuums mit den Vertretern der institutionellen christlichen Religionspraxis bestimmt. Denn diese Begegnung ist eingebettet in neue gesellschaftliche Repräsentanzen religiöser Kommunikation, die beständig mit zu bedenken sind. Nicht nur die Kasualbegehrenden werden durch diesen Kontext geprägt, sondern auch die Pfarrerinnen und Pfarrer. Indem sich die religiöse Situation in der Gesellschaft insgesamt transformiert, müssen sich auch das fromme Selbstbewusstsein und das theologische Verständnis der Wirklichkeit neu orientieren. Die Kasualpraxis ist ein Ort kirchlichen Handelns, der die Konflikte und Herausforderungen in diesem Zusammenhang besonders deutlich erkennen lässt.

3. Empirische Religionsforschung im Umfeld der Kasualien Die Kasualien bieten Anlass, um sich über Grenz- und Sinnfragen des Lebens intensive Gedanken zu machen und sich - meist vorübergehend - auf eine fromme Praxis einzulassen. Das zeigen nicht zuletzt die qualitativen empirischen Studien, die in den letzten Jahren entstanden sind und in denen ausführlich Menschen zu Worte kommen, die aus einem biographisch hervorgehobenen Anlass einen Gottesdienst gefeiert haben. Diese Religionsforschung ist zu einer wichtigen Quelle für die Überlegungen der Kasualtheorie geworden. Denn die Aussagen in den Interviews ermöglichen aufschlussreiche Einsichten in die Vorstellungen und Erfahrungen der Kasualbegehrenden. Ja, man kann sogar beobachten, dass sich in der Forschung selbst Momente einer frommen Praxis entwickeln; denn im Fortgang der Interviews werden emotional besetzte Erinnerungen und selbstreflexive Prozesse provoziert, die offenkundig für die Befragten eine erwünschte Gelegenheit bieten, sich mit religiösen Fragen auseinander zu

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setzen und ihre Überzeugungen zu formulieren. In einer Analyse des viel zitierten Interviews mit „Rita" zum Beispiel, das im Zusammenhang der dritten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD entstanden ist, arbeitet Petra Zimmermann heraus, wie die Erfahrung biographischer Schwellen und die mit ihnen verbundenen Kasualien als Katalysatoren einer phasenweise intensivierten Religionspraxis in der biographischen Erzählung dieser ostdeutschen Ärztin erkennbar werden.18 Zugleich hat auch das Interview selbst den Charakter einer religiösen Praxis, weil im Zusammenhang des Gesprächs erinnert, neu belebt und gedeutet wird, was im Gedächtnis als bedeutsame Erfahrung gespeichert ist. Die Kasualgottesdienste werden als ein wesentlicher Teil der persönlichen Frömmigkeitsgeschichte erfahren. Ihre Anlässe fordern dazu heraus, sich mit zentralen Fragen des Selbst- und Weltverständnisses auseinander zu setzen und dabei in der Begegnung mit der Kirche und der christlichen Tradition ein „Mehr" gegenüber der persönlichen Konstruktion in Anspruch zu nehmen.19 Auch die Erinnerung an die Ereignisse, an die seelsorglichen Begegnungen in ihrem Umfeld und ihre liturgische Begehung hat noch ein Moment religiöser Besinnung und religiösen Erlebens. Mit großer Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit wird (re)konstruiert, was damals geschehen ist. Im Umfeld des Gottesdienstes nimmt der Blick auf die Familien- und Lebensgeschichte eine spezifische Färbung an. Forscher und Forscherinnen in diesem Bereich berichten, dass die Grenze zwischen Interview und Seelsorgegespräch nicht selten verschwimmt. Was eigentlich im praktischtheologischen Erkenntnisinteresse unternommen wird, verwandelt sich im Vollzug in ein Geschehen, das für alle Beteiligten emotional bewegend ist und selbstreflexive Prozesse bei Befragten wie auch Fragenden evoziert. Durchgehend wird deutlich, dass viele Menschen sich im Kontext der Kasualien differenzierte Gedanken über das Geschehen machen, dass sie sensibel dafür sind, transzendente Bezüge ihres Alltags wahr- und anzunehmen. Viele Äußerungen, die in den Studien wiedergegeben sind, geben Anlass, gängige Erwartungen und Vorurteile im Blick auf die Voraussetzungen der Kasualbegehrenden zu überprüfen. Es gibt eben nicht nur die teilweise absonderlichen Gestaltungswünsche im Blick auf die Kasualgottesdienste, von denen allenthalben berichtet wird, sondern es werden auch von Menschen mit lückenhafter christlicher Sozialisation und begrenzter 1 Vgl. Petra Zimmermann, „... und trotzdem ist irgendwo 'ne Verbundenheit". Annäherung an die Religiosität einer „treuen Kirchenfernen", in: Karl Gabriel, (Hg.), Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Biographie und Gruppe als Bezugspunkt moderner Religiosität, Gütersloh 1996, 103-111. 19 Dass dies so sei, hat pointiert formuliert Wilhelm Gräb, Rechtfertigung von Lebensgeschichten. Erwägungen zu einer theologischen Theorie der kirchlichen Amtshandlungen, in: PTh 76 (1987), 21-38, hier: 33.

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Bildung Gedanken geäußert, die sie als die kreativen Produzenten religiösen Denkens ausweisen, deren Existenz Henning Luther postuliert hat. Aufschlussreich dafür, was Eltern mit der Taufe ihrer Kleinkinder verbinden, ist eine Studie von Regina Sommer.20 Wenige Wochen nach dem Taufgottesdienst hat sie nach der Perspektive der Eltern auf das Geschehen gefragt und dabei die Ereignisse um Schwangerschaft und Geburt wie auch die Lebenssituation der Familien insgesamt mit in die Untersuchung aufgenommen. Die Äußerungen, die in diesen Interviews zu finden sind, machen es schwer, weiterhin - wie es nicht selten zu hören ist - ungebrochen zu behaupten, dass meist nur eine naive, magische Schutzvorstellung mit der Taufe verbunden werde, die dem theologischen Gehalt der Taufe nicht entsprechen könne. Im Interview mit Herrn Meier, einem 26jährigen Koch mit DDRSozialisation, der selbst nicht getauft ist, kommt das Thema des Schutzes direkt zur Sprache.21 Die Schwangerschaft und die Geburt der Tochter Emily waren mit gesundheitlichen Risiken fur Mutter und Kind verbunden. Herr Meier und seine Frau haben zeitweise große Ängste erlitten. Der Glaube, so wird im Gespräch mit Herrn Meier deutlich, hat im Zusammenhang dieser Bedrohungen des Lebens eine wichtige Funktion, die freilich nicht so genau zu fassen ist: „Kirche, Glauben hin, Glauben her oder. Ich weiß nicht. Ich fühl' mich zufriedener, wenn das Kind getauft ist und wenn wir 'ne kirchliche Hochzeit haben."22 Im ersten Moment scheint sich hier zu bestätigen, dass die Kasualien vor allem die diffusen Schutzbedürfnisse der Menschen bedienen. Allerdings zeigt sich im weiteren Verlauf des Interviews, dass es so einfach nicht ist. Denn Herr Meier weiß selbst, dass eine solche naive Vorstellung des Schutzes durch Gott nicht realitätsgerecht ist und auch dem Glauben nicht entspricht. Auf die Frage der Interviewerin, wie sich Gottes Schutz und Segen seiner Vorstellung nach zeige, entwickelt Herr Meier Schritt für Schritt ein vielschichtiges Ineinander von kindlichen Vorstellungen, die er bei sich erkennt, und dem aufgeklärten Wissen, dass diese nicht weit tragen. Er weiß selbst, dass seine Suche nach Sicherheit für das Kind letztlich nicht erfolgreich sein kann. Darum sagt er am Ende dieses Gesprächsganges: „Aber, wie soll ich sagen: Er schützt nicht grenzenlos. Der Glaube auch nicht, der schützt auch nicht grenzenlos. Wir sind ja nicht unverwundbar. Wir schweben jetzt ja nicht auf einer Wolke oder sonst was. Oder im Glashaus. Wenn ihr halt was passiert, dann passiert halt was." Die Interviewerin wirft ein: „Hm. Aber es kann eben schützen." Das scheint

20 Vgl. Regina Sommer, Kindertaufe - Elternverständnis und theologische Deutung, Stuttgart 2009. 21 Ebd., 113-123. 22 Ebd., 118.

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Herrn Meiers Intention nicht zu treffen; denn er fahrt unbeirrt fort: „Aber in dem Moment, wo was passiert, hält man sich trotzdem an dem Glauben fest... Ich halt mich dann trotzdem an dem Glauben fest. Denn nur so geht's ja dann weiter."23 Herr Meier hat keine theologischen Sprach- und Deutungsmuster zur Verfügung, aber er weiß trotzdem, dass die Gewissheit des Glaubens eine andere Art des Vertrauens in das Leben meint, als die eigene Bemühung garantieren kann, und dass solche Gewissheit nicht identisch ist mit der unterkomplexen Vorstellung, dass einem im Leben nichts Böses passieren könne. Ähnlich wie dieses Interview zeigen viele der Gespräche, die Sommer dokumentiert, dass Eltern im Zusammenhang der Taufe neben der Freude über das neue Leben und das Wachsen der Familie innere und äußere Auseinandersetzungen mit der Gefahrdung des Lebens führen. Nicht nur die Verletzlichkeit ihrer Kinder haben sie dabei im Blick, sondern ebenso die Risiken, denen sie selbst ausgesetzt sind. Die Vergänglichkeit überhaupt wird zum Thema, wenn sich diese z.B. in Krankheit und Tod der vorhergehenden Generation zeigt. Es wäre interessant zu wissen, ob und wie die Pfarrer und Pfarrerinnen, die die von den Befragten erlebten Taufen jeweils vollzogen und Predigten im Blick auf die jeweiligen Lebenssituationen gehalten haben, der Selbstreflexion der Eltern gerecht geworden sind. Waren sie fähig, der Ambivalenz, ja Abgründigkeit der Lebenserfahrung, die in diesen Interviews auf unterschiedliche Weise artikuliert wird, theologisch zu entsprechen? Oder ist die Theologie der Taufansprachen und Gebete zuweilen im Versuch, auf Erwartungen der Tauffamilien zu antworten, selbst harmlos und naiv geworden? An vielen Stellen lesen sich die Interviews wie nachträgliche Taufgespräche, die dazu heraufordern, die eigene Theologie daraufhin zu überprüfen, ob sie der Tiefe der Fragen und Überlegungen der Taufeltern ein adäquates Gegenüber zu sein vermag. Sommer fuhrt ihren empirischen Befund dahin weiter, dass sie Anknüpfungspunkte in den Elternperspektiven fur die komplexen Taufmotive der Tradition aufweist. Es sei möglich und angebracht, auch die dunkle Seite der Erfahrungen der Eltern theologisch aufzunehmen und zum Beispiel die Bezüge zwischen Tod und Taufe, wie Paulus sie in Rom 6 herstellt, in die Deutung einzubeziehen.24 Auch die Studie von Simone Fopp zur Trauung fordert die pastorale Umgangsweise mit diesem Kasus dazu heraus, der ambivalenten und spannungsvollen Situation der Paare im Prozess der Kasualbegleitung Raum zu geben. Trauung, so schreibt sie, „ist kein ,Ritual der Versicherung'. Die Paare stehen zwischen Ja und Nein zur Eheschließung und Trauung, sie 23 24

Ebd., 128f. Vgl. ebd., 314-343.

268

Ulrike Wagner-Rau

stehen zwischen Ernst und Spiel im Ritual, sind sich bewusst, dass sich durch die Trauung nichts verändert und sich doch etwas ändert, und suchen Distanz und Kontinuität zum Familien- und Freundeskreis. Trauung bedeutet nicht nur Berufung, Bekenntnis, Vergewisserung, Stabilisierung, Integration und Artikulation, sondern auch Suche, Zweifel, Kritik, Destabilisierung, Separation und Verschleierung."25 Die genaue Wahrnehmung der Realität, so wird auch in dieser Arbeit betont, bringt die Komplexität des je einzelnen Kasus im familiären und gesellschaftlichen Kontext zur Geltung. Die Traupaare bewegen sich in einer vielschichtigen, oft widersprüchlichen Lebenssituation. Für diese suchen sie in der Begegnung mit dem Deutungsrahmen der christlichen Tradition, mit biblischen Erzählungen und kirchlichen Ritualen Möglichkeiten der Selbstartikulation. Sie gehen einen Weg des Erzählens und des rituellen Gestaltens, der umso wertvoller ist, je mehr an Ambivalenzen er integrieren kann. Gesucht werden von den begleitenden Pfarrern und Pfarrerinnen keine eindeutigen Antworten, sondern tragfahige Räume, die Offenheit, Konflikt und Spannungen aushalten können. In dieser Beschreibung der kasualpraktischen Aufgabenstellung liegt ähnlich wie in der Taufstudie von Regina Sommer - eine theologische Herausforderung. Denn sie fordert eine Theologie ein, die der Vielschichtigkeit und Uneindeutigkeit der biographischen Übergangserfahrungen entsprechen kann. Eine Praxis, die zur Frömmigkeit der Betroffenen im Feld der Kasualgottesdienste passt, so zeigt es sich in vielen Fällen, ist viel weniger eine bestätigende und Vertrauen stabilisierende Praxis als eine solche, die prozessorientiert und offen lebensgeschichtlich motivierte religiöse Suchbewegungen begleitet.26 Um diese Aufgabe immer besser wahrnehmen zu können, ist die Theologie auf die Wahrnehmung der religiösen Selbstdeutungen der Kasualbegehrenden und die Auseinandersetzung mit ihnen dringend angewiesen. Dabei ist vorausgesetzt, dass solche Wahrnehmung nicht bedeutet, den geäußerten Überzeugungen und Bedürfnissen bruchlos zu folgen. Die empirischen Materialien zeigen, dass auch die Kasualbegehrenden angewiesen sind auf ein Gegenüber, das ihnen weiterhilft in ihrem Bemühen, ihr Erleben und ihre Wünsche zu strukturieren und zu verarbeiten, sie deutlicher zu machen mit Hilfe der Glaubensüberzeugungen und Gestaltungsformen, die die christliche Tradition durch die Jahrhunderte hindurch entwickelt hat. Erwartet wird nicht nur Einfühlung und Wahrnehmung, sondern auch theologische und liturgische Kompetenz.

25 Simone Fopp, Trauung - Spannungsfelder und Segensräume. Empirisch-theologischer Entwurf eines Rituals im Übergang, Stuttgart 2007,415. 26 Vgl. dazu auch Ulrike Wagner-Rau, Segensraum. Kasualpraxis in der Moderne, Stuttgart 2 20 08.

Ein Ort der Auseinandersetzung über Gott und die Welt

269

Das gilt auch für das in vielen Fällen besonders konfliktreiche Gebiet der Kasualmusik. Gerade hier ist die popkulturelle Beeinflussung der Kausalpraxis mit den Händen zu greifen. Aber die Kasualbegehrenden sind offenbar in diesem Feld offener für die kirchlichen Anliegen und verhandlungsbereiter, als es in der Praxis manchmal erscheinen mag. Eine kleine Umfrage im Blick auf musikalische Bedürfnisse, die der Musikwissenschaftler Stefan Reinke in einer Studie zur Kasualmusik präsentiert27, zeigt jedenfalls, dass zwar die klare Erwartung besteht, dass eigene Musikwünsche bei Trauung und Bestattung durch Pfarrerinnen und Kirchenmusiker Berücksichtigung finden und nicht einfach zurückgewiesen werden. Zugleich und daneben aber äußern die Befragten auch Verständnis für die besondere musikalische Kultur der Kirche, akzeptieren offenkundig die Notwendigkeit, sich auf diese Kultur einzustellen, und äußern die Erwartung, in dieser Hinsicht gut und kompetent beraten zu werden. Wenn es möglich ist, diesen Befund auch auf andere Gestaltungsfragen der Kasualgottesdienste auszuweiten, kommt die von Kristian Fechtner so genannte „gemeinsame liturgische Arbeit"28 in den Blick. Ich verstehe solche Arbeit als einen Prozess der Auseinandersetzung und Gestaltwerdung, in den sehr persönliche Erfahrungen, ästhetische Prägungen und religiöse Vorstellungen eingehen. Der - Anstrengung und Kreativität implizierende Begriff der Arbeit ist hier insofern berechtigt, als gerade die Begegnung zwischen den unterschiedlichen Partnern im Prozess eine wechselseitige Herausforderung darstellt. Keinem der Beteiligten wird einfach bestätigt, was er oder sie an Voreinstellungen mitgebracht hat. Weder theologische Vorannahmen noch persönliche Wünsche oder mediale Muster werden schlicht wiederholt. Vielmehr sollte sich durch die gemeinsame Arbeit idealiter eine je spezifische Begehung und Deutung des Falls entwickeln, in der die Motive und Symbole der christlichen Tradition je und je neu zur Darstellung kommen, um die Situation der Anfechtung zu klären, die die Lebenswirklichkeit von der Hoffnung des Evangeliums trennt 29 bzw. zurückhaltender und im Blick auf die religiösen Voraussetzungen der Kasualbegehrenden heute vielleicht angemessener formuliert - um im Prozess der Auseinandersetzung mit dem Kasus unerwartete Spielräume zu entde-

Vgl. Stefan A. Reinke, Musik im Kasualgottesdienst. Funktion und Bedeutung am Beispiel von Trauung und Bestattung, Göttingen 2010. 28 Vgl. Kristian Fechtner, Kirche von Fall zu Fall. Kasualpraxis in der Gegenwart - Eine Orientierung, Gütersloh 2003, 142. 29 Diese Aufgabe gab Ernst Lange bekanntlich der Predigt überhaupt, die dafiir besonders von der Kasualpredigt lernen könne. Vgl. Ernst Lange, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, in: Ernst Lange/Peter Krusche/Dietrich Rössler (Hg.), Predigtstudien, Beiheft 1, Stuttgart 1968, 11-46.

270

Ulrike Wagner-Rau

cken sowie Möglichkeitssinn und Perspektiven der Hoffnung zu entwickeln. 4. Seismograph des Wandels der Frömmigkeit Bereits in der Aufklärung ist die Kasualpraxis ein Seismograph gesellschaftlicher und religiöser Veränderungen. Ähnliches kann man auch in der Gegenwart beobachten. Der kulturelle Wandel nötigt diesem Feld kirchlichen Handelns in besonderer Weise seine Themen und Herausforderungen auf. Das zeigt sich zunächst darin, dass die Anlässe für die Gottesdienste, die das Leben begleiten, sich verändern und vervielfältigen. Trauungen und Taufen fallen immer häufiger zusammen, die Einschulung ist zum weit verbreiteten Kasus mit hoher Akzeptanz avanciert, über die Notwendigkeit, Scheidungsprozesse auch gottesdienstlich zu begleiten, wird gestritten. Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich nennen. In vieler Hinsicht führen heutige Lebensformen und Lebensweisen über die in der Aufklärung entstandene Bindung an den Lebenszyklus der bürgerlichen Familie hinaus. Aber nicht nur die Anlässe für die Kasualgottesdienste erweitern und verschieben sich. In den Begegnungen der Kasualpraxis spiegeln sich zugleich die fundamentalen Veränderungen im Zugang zu religiösen Fragen. Es zeigen sich sehr individuelle Anverwandlungen christlicher Tradition, in die nicht selten Überzeugungen aus anderen Religionen integriert sind. Es äußern sich Vorstellungen und Wünsche, die medial vermittelte, ästhetische Ausdrucksformen der Religion reflektieren. Insgesamt spielen christliche Überzeugungen bei vielen Kasualbegehrenden nach wie vor eine wichtige Rolle, aber sie erscheinen in Brechungen und Mischungen, die exemplarisch verdeutlichen, wie stark die Frömmigkeit in der Gesellschaft im Fluss ist. Kann sich die theologische Reflexion und Praxis der kirchlichen Profis auf diese bewegte und oft diffuse Religionspraxis einstellen? Kann sie in einem überzeugenden Sinn klärend wirken, ohne die Spannungen und Fragen in den Geschichten und im religiösen Selbstverständnis der Menschen besserwisserisch oder in theologischer Harmlosigkeit zu übergehen? Der gesellschaftliche und der religiöse Wandel impliziert eine Krise der theologischen Deutung der Wirklichkeit. Die Fraglichkeit des Lebens, die Gebrochenheit von Sinn, die Vorsicht im Blick auf die großen Hoffnungen intensivieren religiöse und spirituelle Suchbewegungen. Die Kasualien sind eine Chance für die theologische Forschung und das kirchliche Handeln, solche Suchbewegungen von Fall zu Fall kennen zu lernen und sich von ihnen zum eigenen Lernen und Suchen anstiften zu lassen. Kenntnis der christlichen Tradition und theologisch gebildete Vertrautheit mit ihr sind

Ein Ort der Auseinandersetzung über Gott und die Welt

271

dabei vorausgesetzt. Allerdings heißt das nicht, dass die Antworten immer schon zur Hand wären. Im Gegenteil: Der Kasus gibt Anlass zum Austausch und Gespräch über Gott und die Welt, zur Auseinandersetzung über den Glauben, zum Gehen einer gemeinsamen Wegstrecke, zum Gottesdienst. Am Ende können potenziell alle Beteiligten durch diesen Prozess gewinnen: Die Kasualbegehrenden ein Moment der Klärung und performativen Anverwandlung der religiösen Dimension ihres Alltags, die im Auftrag der Kirche Handelnden eine Bewährung und Fortentwicklung ihrer Theologie und ihrer seelsorglichen und gottesdienstlichen Praxis im Dialog mit exemplarischen Gestalten religiösen Selbstverständnisses der Gegenwart.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Roderich Barth, geb. 1966, Privatdozent für Systematische Theologie an der Martin-Luther-Universität Halle, derzeit Vertretung des Lehrstuhls für Systematische Theologie und Ethik an der LudwigMaximilians-Universität München Dr. Albrecht Beutel, geb. 1957, Professor für Kirchengeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Dr. Johann Hinrich Claussen, geb. 1964, Privatdozent für Systematische Theologie an der Universität Hamburg, Hauptpastor und Probst in Hamburg Dr. Corinna Dahlgrün, geb. 1957, Professorin für Praktische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Christof Ellsiepen, geb. 1970, Pfarrer in Konstanz Dr. Christoph Elsas, geb. 1945, Professor für Religionsgeschichte an der Philipps-Universität Marburg Dr. Wolfgang Frühwald, geb. 1935, em. Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Susanne Heine, geb. 1942, em. Professorin für Praktische Theologie und Religionspsychologie an der Universität Wien Dr. Andreas Kubik, geb. 1973, Juniorprofessor für Praktische Theologie an der Universität Rostock Dr. Jörn Leonhard, geb. 1967, Professor für Geschichte des Romanischen Westeuropa an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Dr. Michael Murrmann-Kahl, geb. 1959, Privatdozent für Systematische Theologie an der Universität Wien, Pfarrer in Neustadt/Donau, Klinikseelsorger in Bad Gögging Dr. Claus-Dieter Osthövener, geb. 1959, Professor für Systematische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal Dr. Björn Pecina,· geb. 1967, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenznetzwerk Aufklärung - Religion - Wissen an der Martin-LutherUniversität Halle Dr. Ulrike Wagner-Rau, geb. 1952, Professorin für Praktische Theologie an der Philipps-Universität Marburg Dr. Christopher Zarnow, geb. 1975, wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik an der LudwigMaximilians-Universität München

Register zu Stellen aus heiligen Schriften

Bibel Gen 1-11

30

Gen 1,27 166 Gen 3 210 Gen 8 202

Lev 18,5

216

2Sam 7,9

96

Lk 12,13f

229

Joh 20,11-17 249

Dtn 32,35

182

Joh 1,14 201 Joh 11,33 182 Joh 20,1 161

185

Num 6,24-26

Mk 15,34

Rom 12,19

216

lKor4,7 103,107 IKor 13,13 226 Hbr 2,15

IChr 17,8

161

216

91

Jes 40,31 236 Ps 41,6ff. 247 Ps 46,10-12 94

Koran Sure 1 182 Sure 9,71 9 Sure 21,83f 183

Hi 1,12 183 Hi 2,3 156

Hi 2,9f

156

Hi 42,13-17 Mt 6,10 227 Mt 7,7 235

BhagavadGita 157 2,48-51 186 8,5-7 186

Namenregister

Abbt, Thomas 25 Adelman, Paul 132 Adler, Hans 32 Adorno, Theodor W. 11, 62 Albrecht, Christian 12, 103 Allport, Gordon W. 56 Alt, Peter-A. 11 Anbeh, Tamara 245f Aner, Karl 22, 25 Anselm v. Canterbury 242 Anstey, Roger 127 Aristoteles 50, 104, 171 Arnold, Günter 30 Arnoldi, Wilhelm 116 Assmann, Aleida 168 Auerochs, Bernd 191 Bach, Johann S. 17, 180, 193, 196, 199-206 Baeck, Leo 110 Balthasar, Hans U.v. 198 Barth, Hans-M. 178 Barth, Karl 199 Barth, Roderich 13, 22, 35, 180, 229 Barth, Ulrich 40f, 149, 229 Bauer, Bruno 115 Bauer, Eduin 117 Bauke-Ruegg, Jan 103 Baumgarten, Alexander G. 25 Baumgarten, Otto 16, 135f, 144,148 Baumgarten, Siegmund J. 25 Bazlen, Ulrike 184 Bebbington, David W. 122 Beck, Ulrich 192, 262 Becker, Ernest 211-214 Behrens, Georg 103 Berger, Peter L. 189

Bernet, Walter 218f Bernhard v. Clairvaux 202 Beutel, Albrecht 11, 15,23, 88, 95, 99, 105f, 121, 191 Bieritz, Karl-H. 224 Biermann, Matthias 200 Birkner, Hans-J. 39,42, 104 Bloch, Ernst 180 Blum, Robert 117 Blumenberg, Hans 215 Bobert-Stützel, Sabine 8 Böhme, Jakob 180 Bolz, Norbert 9 Bongert, Michael 9 Bonhoeffer, Dietrich 199 Bonnet, Charles 69-85 Brandhorst, Heinz-H. 112 Brandt, Hermann 183 Braun, Harald 145f, 151 Brederlow, Jörn 114-116, 118 Brent, Richard 127 Bretschneider, Karl G. 113 Bright, John 122, 132 Brown, Callum 121 Brück, Michael v. 181 Brummack, Jürgen 23 Bruyn, Günter de 89 Bry, Carl C. 9 Buber, Martin 180 Buddha 188 Bühler, Karl-W. 145 Burke, Edmund 28, 32 Bultmann, Christoph 32f, 253 Buttlar, Adrian v. 90 Calderón de la Barca 162 Calvin, Johannes 103, 194f

275

Namen Canetti, Elias 17, 158f

Elisabeth Christine v. Preußen 92f,

Carlyle, Thomas 228

102

Cicero 25

Ellsiepen, Christof 13, 38f, 44

Christ, Lukas 199

Ellwardt, Kathrin 261

Claussen, Johann H. 16, 154, 229, 240

Elsas, Christoph 17, 171-190

Clemen, Carl 174

Engemann, Wilfried 238

Cohen, Hermann 110, 192

Enzensberger, Hans M. 17, 154, 158,

Collins, Anthony 121

168

Colpe, Carsten 183, 190

Ernst, Otto 142

Conrad, Ruth 223

Eyk, Frank 119

Cornehl, Peter 259-261 Cortijo, Francisco A. y 88

Falk, Friedrich 134

Cowherd, Raymond G. 124, 127f

Faure, Alexander 236

Cramer, Johann Α. 25

Fechtner, Kristian 20, 269

Cramer, Konrad 41

Feldtkeller, Andreas 184

Cromwell, Oliver 212

Feuerbach, Ludwig 112, 142, 173 Fiebig, Paul 225

Daab, Bernhard 229 Dahlgrün, Corinna 17, 180, 193, 240 Dalferth, IngolfU. 176f Darwin, Charles 209-213, 225 Daub, Carl 104 David, Jacques-L. 208 Dehn, Günther 134 Demmerling, Christoph 36

Finlay, Hueston E. 103 Flasch, Kurt 180 Flusser, Vilém 198f Fopp, Simone 267f Foucault, Michel 11 Fox, Charles, J. 127 Franke, Johann G. 91 Frankemölle, Hubert 158

Dennett, Daniel 257

Freud, Sigmund J. 208-211, 213f, 217,

Descartes, René 104

219 Friederike Luise v. Preußen 102

Dionysius Areopagita 180 Ditchfield, Grayson 127 Döblin, Alfred 140, 145 Döring, Sabine A. 36 Drechsel, Wolfgang 19 Dreesman, Ulrich 15 Drehsen, Volker 221,237 Drews, Paul 223, 230f, 233, 237 Dubos, Jean-Baptiste 28

Friedrich II. 15,72, 88-107, 192 Friedrich Wilhelm I. 89 Friedrich Wilhelm II. 89-91, 94, 101 Friedrich Wilhelm IV. 114 Friedrich Heinrich C. v. Preußen 93 Friedrich, Martin 114 Fries, Jakob F. 176 Frisch, Max 207

Duft, Johannes 163f Duncker, Max 115

Fror, Peter 244, 250

Ebeling, Gerhard 103f Eichendorff, Joseph v. 256 Eichner, Hans 17, 157

Gardiner, John E. 201 Gash, Norman 127 Gehlen, Arnold 36, 54, 237, 240

Frühwald, Wolfgang 17, 156, 180

276

Register

Geiger, Abraham 110 Geliert, Christian F. 200 Gerhardt, Paul 200 Gervinus, Georg G. 117 Gibson, Mel 198 Gioberti, Vincenzo 117 Gladstone, William 122 Glock, Charles Y. 56 Glossy, Karl 113, 115, 117 Goebel, Klaus 145 Goethe, Johann W. 71, 142, 225 Gräb, Wilhelm 9, 111, 235, 265 Graf, Friedrich W. 116, 118f, 221, 227, 233 Greschat, Hans-J. 184 Grözinger, Albrecht 240 Grom, Bernhard 55-57 Großhans, Hans-P. 103, 106 Grubrich-Simitis, lise 213 Grünbein, Durs 160 Gunkel, Hermann 33, 235 Habermas, Jürgen 158f Hackmann, Heinrich 224 Hacks, Peter 215 Hähn, Johann F. 94 Härle, Wilfried 191 Hahn, Alois 59, 67 Haizmann, Albrecht 238 Halévy, Elie 127 Hamann, Johann G. 26 Hammarskjöld, Dag 18, 216-219 Hannibal 212 Harnack, Adolf 94, 110, 149f, 174, 222, 225, 230 Hauschild, Wolf-D. 90 Haußig, Hans-M. 173 Haym, Rudolf 112, 115 Hegel, Georg F.W. 23, 172, 243 Heilmann, David 25f, 28 Heine, Susanne 18, 56, 180, 207 Heitmann, Ludwig 134

Hellmuth, Eckhart 89 Henning, Herzeleide 90f Heraklit 171 Herbert, Edward 121 Herder, Johann G. 13, 22-26, 28-37, 172 Herrmann, Wilhelm 174 Heß, Moses 115 Heyl, Andreas v. 249 Hildegard v. Bingen 180 Hinderer, August 154 Hirsch, Emanuel 22, 25, 140, 144, 150, 221,233,243 Hoadly, Benjamin 107f Hobbes, Thomas 252 Höckele, Simone 154 Hölscher, Andreas 9 Hölscher, Lucían 8, 221, 232 Holzhey, Helmut 255f Homer 69 Hope, Nicholas 123 Horkheimer, Max 11 Huber, Stefan 54, 56 Huber, Wolfgang 8, 10 Hürlimann, Thomas 17, 158. 162-165 Huijgen, Arnold 103 Hume, David 30-32, 34, 121 Hummel, Reinhart 190 Hundeshagen, Carl B. 118, 150 Huseb0, Stein 181 Ihlenfeld, Kurt 145 Jaeger, Paul 227 Jahnn, Hans H. 140 Jarcke, CarlE.115 Jerusalem, Johann F.W. 25, 109 Jesus Christus 25, 43, 51, 71, 82, 86, 99, 174, 178-180, 182f, 19 lf, 199, 201,204, 228f Joas, Hans 53 Josquin Desprez 196

277

Namen

Kähler, Christoph 224

Lavater, Johann K. 14, 69-84, 93, 105f, 108

Kafka, Franz 141 Kaftan, Julius 174

Leibniz, Gottfried W. 104, 175

Kahlert, Heinrich 228

Leonhard, Jörn 15, 1 lOf, 117, 122, 191 Lessing, Eckhard 121

Kammerer, Thomas 245

Lenin, Wladimir I. 181

Kant, Immanuel 33f, 104, 173, 176,

Lessing, Gotthold E. 172,191f

191,228, 243,255

Leuenberger, Robert 7

Kattenbusch, Ferdinand 150 Keller, Gottfried 163

Ley, Friedrich 237, 240 Lichtenberg, Georg C. 71, 74

Kierkegaard, Sören 62f, 238

Lhotzky, Heinrich 143 Liechtenhan, Rudolf 224

Klaschik, Eberhard 181 Kleine, Christoph 188 Kletschke, Johann G. 88-90

Lill, Rudolf 116 Locke, John 121, 128, 256

Klöckener, Martin 197 Klopstock, Friedrich G. 34

Loetscher, Hugo 160, 163

Knevels, Wilhelm 136 Knoblauch, Hubert 263

Loofs, Friedrich 150, 220 Look, Verena 92

Longin 32, 34

Köstlin, Heinrich A. 225

Louise Amalie v. Preußen 93

Kommerell, Tilman 184 Koopman, Tom 202 Koselleck, Reinhart 256

Lovejoy, Alexander O. 70 Lowth, Robert 30-34

Kracauer, Siegfried 16, 134-139, 141, 143,152-155 Krappmann, Lothar 59, 68 Krech, Volkhard 136, 154 Krüger, Michael 154 Kubik, Andreas 7, 11, 18, 21, 33, 180, 220, 228, 237-240 Kübel, Johannes G. 225 Kübler-Ross, Elisabeth 214 Kuhlemann, Frank-M. 123 Kumlehn, Martin 51 Kunisch, Johannes 88, 90 Lagarde, Paul A.d. 175 Landauer, Gustav 180 Landweer, Hilge 36 Lange, Ernst 269 Lange, Friedrich A. 255 Langewiesche, Dieter 112 Largier, Nikiaus 181, 191

Luginbühl-Weber, Gisela 75 Luhmann, Niklas 254 Luthardt, Christoph E. 10 Luther, Henning 262, 266 Luther, Martin 38, 61, 112, 117, 156, 194f, 199, 201-205,217,224 Malebranche, Nicolas 175 Manger, Heinrich L. 90 Mann, Thomas 145, 260 Marées, Johann F. de 71 Martin, Gerhard M. 238 Mauthner, Fritz 180 McLeod, Hugh 127 Mead, George H. 54 Meckenstock, Günther 105 Meister Eckart 17, 180f, 187f, 191 Meilin, Georg S.A. 109 Menche, Nicole 184 Mende, Theresia 156 Mendelssohn, Felix 201

278

Register

Mendelssohn, Moses 14, 28, 69-85 Merkel, Friedemann 239 Metternich, Klemens W.L.v. 115 Michaelis, Johann D. 30,32 Middelbeck-Varwick, Anja 9 Milton, John 164 Mirabeau, Gabriel d.R. 88 Mörike, Eduard 225 Mohammed 182f Mohr, Rudolf 223 Montesquieu, Charles 128 Morgenroth, Matthias 260 Mosheim, Lorenz v. 25 Mühlmann, Wilhelm E. 177 Müller, Friedrich M. 173f Müller, Hans M. 221, 232, 234 Muhs, Rudolf 23 lf Munson, James 121 Murrmann-Kahl, Michael 19, 179, 227, 251,254-257 Musil, Robert 136, 140, 143, 152, 154, 180 Nassehi, Armin 262

Oschmann, Dirk 141 Osthövener, Claus-D. 16, 66, 133, 136, 141, 149, 153f, 180, 222 Otto, Rudolf 173, 176-178, 180, 187 Pahnke, Donate 186 Paletschek, Sylvia 119 Pannenberg, Wolfhart 36, 61-63, 253 Parsons, Gerald 121 Pasolini, Pier 162 Paulus 79f, 181,218 Paulus, Christiane 178 Pecina, Björn 14, 69 Piechowski, Paul 134 Pinthus, Kurt 143f Piper, Otto 136, 148, 151 Pius X. 7 Plato 69f, 211 Plotin 180 Pockrandt, Mark 108 Pollard, Sidney 125 Pothast, Ulrich 257 Preuß, Johann D.E. 88 Priestley, Joseph 127

Naumann, Friedrich 131, 223 Neugebauer, Matthias 230 Nicol, Martin 238 Nicolai, Friedrich 89 Niebergall, Friedrich 19, 222, 227f, 234-238 Niedhart, Gottfried 126 Nietzsche, Friedrich 142, 209 Nipperdey, Thomas 16, 111, 135, 150 Nösselt, Johann A. 109 Nowak, Kurt 11, 129 O'Connell, Daniel 126 O'Nan, Stewart 156 Obelkevich, James 123 Ohlig, Karl-H. 177 Oosterhuis, Huub 218 Opahle, Joachim 9

Rade, Martin 180, 220-223, 228, 230234, 241 Ramelow, Tilman A. 252 Rathje, Johannes 220, 231 Ratschow, Carl H. 179, 189 Ratzmann, Wolfgang 224, 239f Reinke, Stefan 269 Rendtorff, Trutz 235 Renn, Joachim 54 Rest, Franco 191 Ricoeur, Paul 65 Ritsehl, Albrecht 173f, 230, 232, 237 Robinson, Robert 227f Rodin, Auguste 256 Rössler, Dietrich 259 Rohbeck, Johannes 22 Röhls, Jan 12, 46, 103f

Namen

279

Ronge, Johannes 116-118, 130

Semler, Johann S. 109

Rosenberg, Hans 113, 116

Shankara 187

Rosenkranz, Karl 112

Sidney, Algernon 128

Rosenstock, Roland 145

Silesius, Angelus 180

Roth, Joseph 17, 156

Simmel, Georg 136, 140, 143, 152, 154, 256

Roth, Patrick 158, 161f Ruge, Arnold 112, 115 Sack, August F.W. 25, 108 Sack, Friedrich S.G. 89, 91 Satow, Louis 142-144 Sauder, Gerhard 23 Schäffler, Arne 184 Scharfenberg, Joachim 62 Schaper, Edzard 168 Scheerer, Eckart 255 Scheliha, Arnulf v. 9 Schian, Martin 233 Schieder, Rolf 174, 189, 192 Schieder, Wolfgang 116 Schiele, Friedrich M. 223, 238 Schleiermacher, Friedrich D. E. 1215, 19, 29, 37, 52, 56, 65-68, 87, 94f, 102, 105-110, 139, 157f, 172-174, 180, 189, 200, 220, 243f, 253, 261f Schmidt-Rost, Reinhard 145 Schmitz, Edgar 57 Schneider-Flume, Gunda 63 Schneiders, Werner 13,23 Schnitzler, Arthur 254 Schock, Werner 103 Scholtz, Gunter 104, 109 Schröder, Winfried 11 Schröter-Kunhardt, Michael 245, 247 Schulze, Gottlob E. 109 Schwab, Ulrich 260 Schwanebeck, Axel 145 Schwarz, Karl 115 Schweitzer, Albert 214, 228 Schweizer, Alexander 103 Schwöbel, Christoph 223 Seed, John 127

Sintenis, Wilhelm F. 114 Smend, Rudolf 30, 34 Smith, Wilfred C. 173 Soden, Hermann v. 223 Sokrates 71 Sommer, Regina 266-268 Spaemann, Robert 257 Spalding, Georg L. 94 Spalding, Johann J. 15, 25, 27f, 88, 92-110, 192, 256 Spankeren, Malte v. 108 Spam, Walter 179, 189, 255f Spehr, Christopher 94 Spener, Philipp J. 7 Spinoza 110 Stadler, Arnold 162 Stählin, Wilhelm 134 Standhartinger, Angela 182 Stappenbacher, Susi 154 Steck, Wolfgang 222, 224f, 227 Steffensky, Fulbert 8 Steinacker, Peter 178 Steiner, Uwe 90 Stenglein-Hektor, Uwe 227 Stephan, Horst 133, 137, 143, 148, 150 Stierle, Karlheinz 207 Stöver, Rolf 145 Straub, Jürgen 54 Sturma, Dieter 257 Sudbrack, Josef 8 Sulzer, Johann G. 94 Sundén, Hjalmar 217f Sundermeier, Theo 177f Suzuki, Daisetz T. 188 Tabataba'i, Seyyed M.A. 9

280

Register

Tanner, Klaus 227 Taylor, Charles 23f, 29f, 35,178 Teller, Wilhelm A. 91 Tersteegen, Gerhard 200 Thierbach, C. 115 Tiele, Cornells P. 175 Tillich, Paul 62f, 140f Todorow, Almut 146 Toland, John 121 Trillhaas, Wolfgang 234 Troeltsch, Ernst 110, 131, 150, 175f, 235 Trowitzsch, Michael 10 Tugendhat, Ernst 257 Tworalla, Johannes 9 Tzschirner, Heinrich G. 113 Ueda, Shizuteru 188f Utsch, Michael 176 Vogel, Heinrich 199 Voigt, Claudia 146, 148 Voltaire 104 Volz, Gustav B. 88 Wade, John 124 Wagner, Falk 60, 243, 251, 253 Wagner, Richard 149 Wagner-Rau, Ulrike 19f, 268 Walzer, Michael 178

Watts, Michael R. 121 Weber, Max 60, 138, 147, 149f, 215 Weiler, Joseph H. H. 17, 158, 166f Welcker, Carl Th. 114 Wellington, Arthur W. Duke 126 Wende, Peter 121, 123-126 Werner, Ilka 103 Wesley, Charles 120f Wesley, John 120f, 124 Westerink, Herman 210 Wichern, Johann H. 41 Wiggermann, Uta 102 Wilberforce, William 125 Wilke, Annette 187 Wilks, John 124 Winnicott, Donald 216 Wislicenus, Gustav A. 115 Wittgenstein, Ludwig 180 Woellner, Johann C. 102 Wood, Matthew 124 Wurster, Paul 223 Zarnow, Christopher 14, 53, 180, 220 Zelle, Carsten 28 Zimmermann, Hans-D. 180 Zimmermann, Petra 265 Zippert, Thomas 25 Zinzendorf, Nikolaus G.v. 202 Zoellner, Johann F. 92 Zwingli, Huldrych 194f