Frömmigkeit: Historische, systematische und praktische Perspektiven [1 ed.] 9783737006507, 9783847106500

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Frömmigkeit: Historische, systematische und praktische Perspektiven [1 ed.]
 9783737006507, 9783847106500

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Wiener Jahrbuch für Theologie

Band 11/2016

Herausgegeben im Auftrag der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien von Uta Heil und Annette Schellenberg

Die Bände des Wiener Jahrbuchs für Theologie sind peer-reviewed.

Uta Heil / Annette Schellenberg (Hg.)

Frömmigkeit Historische, systematische und praktische Perspektiven

V&R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1607-4289 ISBN 978-3-7370-0650-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien. © 2016, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Stefan Fischer Persönliche Frömmigkeit. Gottesnähe im Alten Testament und in Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Annette Schellenberg Was charakterisiert einen Frommen? Antworten des Hiobbuchs

. . . . .

39

Rainer Gugl Gebet in den Häusern der Antike als Ausdruck von Frömmigkeit . . . . .

49

Michaela Durst Olfaktorische Reize als Anleitung zur εὐσέβεια. Die Geruchsdimension in In Canticum Canticorum Homiliae Gregors von Nyssa . . . . . . . . . . .

65

Uta Heil Ein Sonntag in Cividale. Bemerkungen zum Concilium Foroiuliense (Cividale) im Jahr 796 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Michael Murrmann-Kahl Kultfrömmigkeit statt Lehre. Eine Erinnerung an Wilhelm Boussets »Kyrios Christos« aus systematisch-theologischer Perspektive . . . . . . . 111 Christian Danz Frömmigkeit als Religion. Zur Vielfalt theologischer Religionskonzepte

. 125

Susanne Heine Spiritualität ohne Gott. Das Paradigma der »göttlichen Natur« als Herausforderung für die christliche Theologie . . . . . . . . . . . . . . . 141

6

Inhalt

Marcus Hütter »Spirituell – aber nicht religiös!« Untersuchungen zum Spiritualitätsbegriff als Modewort unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 165 Sabine Hermisson Nicht fromm, sondern spirituell kompetent. Beobachtungen und Anmerkungen zur aktuellen Ausbildung zum Pfarrberuf . . . . . . . . . . 187 Reinhold Becker Sprachfähig – vernetzt – authentisch. Kompetenzorientierte Ausbildung für den Pfarrberuf im Kanton Bern/Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Wilfried Engemann Glaube und Gefühl im Kontext seelsorglicher Theorie und Praxis . . . . . 217 Karl W. Schwarz Zur »entschiedene[n] Wahrung des reformierten Criteriums«. Eine fakultätsgeschichtliche Annäherung an den Systematiker Eduard Böhl . . 233 Ulrich H. J. Körtner Inklusion von Menschen mit Demenz – Vision oder Illusion? Die gesellschaftliche Herausforderung der Demenz aus sozialethischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Ulrike Swoboda Bezüge zum Leben. Eine empirisch-qualitative Analyse evangelischer Stimmen in Europa zur Reproduktionsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . 275 Wilfried Engemann Akademische Theologie nach der Wiedervereinigung

. . . . . . . . . . . 289

Michael Bünker Predigt anlässlich der 650-Jahr-Feier der Universität Wien, gehalten am 12. März 2015 im Wiener Stephansdom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Vorwort

»Frömmigkeit« ist ein schwer fassbarer Begriff, der heutzutage für viele antiquiert klingt und häufig im Sinn von »Frömmelei« verstanden wird. »Spiritualität« scheint da moderner zu sein, überdies mit dem anglo-amerikanischen Sprachgebrauch kompatibel (»spirituality«) und nicht so negativ konnotiert wie »Frömmigkeit«. »Spiritualität« scheint außerdem die »Frömmigkeit« der alten Debatte um »Rechtfertigung und Heiligung« oder um »Glaube und Werkgerechtigkeit« zu entheben, in der es darum geht, in welcher Form der christliche Glaube Gestalt annehmen sollte und welche Bedeutung dieser christlichen Lebensgestaltung beizumessen sei. Noch mehr aber scheint »Spiritualität« dem Bedürfnis nach dem persönlichen Erleben des Glaubens entgegenzukommen. Wie sehr der Begriff »Spiritualität« im Trend liegt, zeigt der Beitrag von Marcus Hütter, ebenso aber auch, dass er selbst ähnlich unscharf ist wie »Frömmigkeit«, sodass man sich fragen kann, was mit ihm eigentlich gewonnen werde (RGG4 7, 1590 Rainer Köpf). Dennoch ist der Begriff »Spiritualität« inzwischen sogar in die kirchlichen Beschreibungen der Ausbildungsziele des Vikariats eingedrungen und benennt einen Aspekt der zu erwerbenden Kompetenzen und Fähigkeiten (s. den Beitrag von Sabine Hermisson). Aber: »Ist Spiritualität lehr- oder lernbar?« (S. 202). Wenn ja – sollte diese dann besser schon während des Studiums vermittelt werden (vgl. z. B. Reinhold Becker zum »Berner Ausbildungsmodell«)? Es stellt sich ferner die Frage, ob es »Spiritualität« auch ohne eine Religion geben kann und wie das Verhältnis zwischen Spiritualität und Religion bzw. Spiritualität und Christentum aussieht. »Spiritualität« eines Menschen ohne jeden kulturellen Kontext oder religiöse Prägung ist jedoch eine Illusion. Wäre dann aber nicht allgemein »Religiosität« angemessener – wenn Frömmigkeit als »die subjektive Seite der Religion« (LThK2 4, 398 Elmar M. Kredel; der Artikel in der 3. Auflage bleibt ohne Definition) oder als »die Ausdruckformen gelebter Religiosität« (RGG4 3, 388 Ansgar Jödicke) bezeichnet wird? »Fromm« kann ja im Englischen auch mit »religious« übersetzt werden bzw. »Frömmigkeit« mit »religiousness«. Die Vielfalt der Religionen in Vergangenheit und Gegenwart, und damit verbunden die Vielfalt der »Religiosität«, führt hier zu neuen Fragen:

8

Vorwort

Weisen die vielen »Religiositäten« letztlich doch auf einen anzunehmenden Gott? Gibt es dann unter- und höherentwickelte Formen der Religiosität? Um die Vielfalt und letztliche Unableitbarkeit von Religion geht es im Beitrag von Christian Danz. Eine Religion könne nicht bewiesen, sondern nur beschrieben werden. Nach Danz gibt es Religion »allein in ihrem individuellen Vollzug« – aber: Gibt es eine »Religiosität« oder »Spiritualität« auch ohne Gott? Susanne Heine stellt Entwürfe zwischen Spinoza und Manfred Josuttis vor, in denen die Natur verehrt und spirituell erfahren wird. Trotz aller Schwierigkeiten ist der Band mit dem Begriff »Frömmigkeit« betitelt, denn dieser bleibt ein klassischer protestantischer Begriff: »›F.‹ ist ein v. a. im ev. Christentum seit der Reformation gebräuchlicher, rel. Praxis umfassend bezeichnender dt. Begriff (die Übers. braucht drei lat. Wortstämme: pietas, devotio, religio).« (RGG4 3, 389 Walter Sparn). Nimmt man noch die dahinterstehenden lateinischen, griechischen und hebräischen Begriffe hinzu, so erweitert und konkretisiert sich die »religiöse Praxis«. Luther übersetzte allerdings εὐσεβής oder εὐσέβεια (im Lateinischen pius, pietas) nicht mit »fromm« oder »Frömmigkeit«, wie etwa zu erwarten wäre, sondern mit »gottselig« (vgl. 2 Petr 2,9). Wo Luther »fromm« verwendet, würden wir heute eher »treu« oder »rechtschaffen« setzen: »das wir auf deutsch sagen: das ist ein frumm Mann, da sagt die Schrift, der ist iustus, rechtfertig oder gerecht« (Predigt zu Mt 21,1–9 in der Kirchenpostille zum 1. Advent; vgl. auch die Auslegung der Brotbitte des Vaterunser im Kleinen Katechismus: »Was heißt denn täglich Brot? Alles, was zur Leibes Nahrung und Notdurft gehört, wie Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und treue Oberherren, gut Regiment, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.«). Die Bedeutung des Begriffs »Frömmigkeit« wuchs und wandelte sich daher erst durch den Pietismus und dessen Anliegen der gelebten Glaubenspraxis (praxis pietatis). Eine überragende Dominanz erhielt »Frömmigkeit« schließlich durch Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), der als »Herrnhuter höherer Ordnung« jede Religion im Gemüt (in seinen Reden über die Religion) bzw. Gefühl (in seiner Glaubenslehre) verankert und das Christentum in seiner Glaubenslehre vom »christlich frommen Selbstbewußtsein« aus beschreibt: »Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich von allen anderen Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, dass wir uns unser selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung zu Gott bewusst sind.« (Glaubenslehre § 4). Schleiermacher folgend heißt es in der »Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche« (1. Auflage 1855, Band 4, 613–614 H. Baret; ähnlich Carl Burger in der 2. Auflage 1879, Band 4, 700–

Vorwort

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701, und 3. Auflage 1899, Band 6, 295–296), dass Frömmigkeit »die subjektive Religion« sei, a) die Erkenntnis Gottes, b) das subjektive Gefühl der Abhängigkeit von Gott und c) die Hingabe des Willens an Gott umfassend. Nach der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg wurde jedoch besonders infolge der dialektischen Theologie kritisiert, die gesamte christliche Glaubenslehre in Aspekte der subjektiven Frömmigkeit und ihrer gesellschaftlichen bzw. kulturellen Ausprägungen zu übersetzen. Damit trat auch der Frömmigkeitsbegriff in den Hintergrund; die Kritik an falscher Gesetzlichkeit und Frömmelei überwog. Erst mit neuen Ansätzen wie beispielsweise aus der Sozialwissenschaft oder der Religionspsychologie trat »Frömmigkeit« wieder mehr in den Vordergrund – inzwischen zusammen mit »Spiritualität«. Wilfried Engemann fragt in seinem Beitrag danach, ob nicht trotz aller Kritik an Schleiermacher der Zusammenhang von »Glaube und Gefühl« in die theologische Reflexion mit einbezogen werden sollte, um überhaupt die persönliche Aneignung des Glaubens ausdrücken zu können. Die weiteren Beiträge bestätigen die Notwendigkeit, sich mit verschiedenen Aspekten von »Frömmigkeit« zu beschäftigen, und nähern sich dem Thema aus ganz unterschiedlichen Perspektiven an. Wie ist beispielsweise heute mit der Übersetzung Luthers umzugehen? Was steht hinter den Begriffen, die Luther mit »fromm« übersetzt? Kann man diese auch heute noch mit »fromm« übersetzen? Was wird in der zum Reformationsjubiläum 2017 erscheinenden revidierten Ausgabe der Lutherbibel zu erwarten sein? Stefan Fischer gibt einen ersten Überblick über den alttestamentlichen Befund und setzt diesen zu ägyptischen Traditionen in Beziehung, wobei er insbesondere auf sog. persönliche Frömmigkeit eingeht. Im AT selbst zählt die Gestalt des Hiob exemplarisch zu den vorbildlich Frommen. In ihrem Beitrag fragt Annette Schellenberg danach, was einen Frommen nach dem Hiobbuch charakterisiert, und zeigt dabei u. a. auf, dass das Hiobbuch am zu »frommen« Hiob des Prologs Kritik übt. Wenn Gebete allgemein als »Kommunikationsvorgang« zu beschreiben sind, gehören auch Zorn und Anklage zur Frömmigkeit dazu. Gibt es hier aber Unterschiede zwischen alttestamentlichen und neutestamentlichen Vorstellungen? Sieht christliche Frömmigkeit anders aus als jüdische? Oder gar pagane? Was kennzeichnet eine spezifisch christliche Frömmigkeit – abgesehen von dem fehlenden Opferkult? Rainer Gugl beschreibt in seinem Beitrag über Gebetszeiten, -personen und -orte, wie sehr das frühe Christentum im Kontext jüdischer und paganer Praxis stand. Liegt das Christliche schlichtweg darin, dass sich die Gebete auch an Christus richten? Michael Murrmann-Kahl erinnert in seinem Beitrag an Wilhelm Boussets »Kyrios Christos« (1913), der meinte, dass der Christus-Kult, eine Verehrung des als göttlich zu denkenden Jesus Christus, für die frühen Christen zentral gewesen sei. Aus diesem sei dann die sogenannte »hohe Christologie« bis hin zur

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Vorwort

Trinitätslehre und Christologie im vierten und fünften Jahrhundert erwachsen. Vor der Lehre oder Dogmatik stehe also die Kultfrömmigkeit. Wie sehr die hohe Christologie im vierten Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit geworden ist, zeigt der Beitrag von Michaela Durst über die Hoheliedauslegung Gregors von Nyssa. Selbst solche praktischen, lebensnahen Aspekte wie die der Parfümierung und Gerüche werden christologisch gedeutet. Erwächst also aus einer Frömmigkeit wie der kultischen Verehrung Christi eine Lehre oder gibt es auch umgekehrte Fälle? Entsteht aus einer Lehre eine Frömmigkeit? Geht also der Weg eher »von unten nach oben« oder »von oben nach unten«? Der Beitrag von Uta Heil zeigt, dass es auch den Weg von der Lehre, in diesem Fall eines Gesetzes, »nach unten« zu einer Praxis gibt: die Sonntagsverehrung. Erst lange nach dem Sonntagsgesetz des Kaisers Konstantin entsteht ab dem sechsten Jahrhundert zunehmend eine Verehrung des Sonntags als heiligen Tag mit entsprechenden Regelungen. Der zweite Teil des Jahrbuchs bietet wie gewohnt Beiträge zu aktuellen Projekten von Mitgliedern der Fakultät. Karl W. Schwarz untersucht die Bedeutung des Systematikers Eduard Böhl, Ulrich H. J. Körtner reflektiert aus sozialethischer Perspektive über die gesellschaftliche Herausforderung der Demenz, Ulrike Swoboda stellt ihr Dissertationsprojekt über evangelische Dokumente zur Reproduktionsmedizin vor, und Wilfried Engemann zeichnet die Entwicklungen der akademischen Theologie nach der Wiedervereinigung nach. Die Predigt von Bischof Michael Bünker über Apg 17,16–34 (Paulus auf dem Areopag), gehalten im Wiener Stephansdom anlässlich der 650 Jahr-Feier der Universität Wien, beschließt den Band. Wir danken Antje Klein für die redaktionelle Betreuung der Beiträge! Die Herausgeberinnen wünschen eine anregende Lektüre! Uta Heil und Annette Schellenberg Wien, August 2016

Stefan Fischer

Persönliche Frömmigkeit. Gottesnähe im Alten Testament und in Ägypten

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Der Begriff der Frömmigkeit

Mit dem für dieses Jahrbuch gewählten Thema Frömmigkeit wurde eine Themenvorgabe gemacht, die in der christlichen Alltagssprache geläufig ist, aber in den Bibelwissenschaften gewöhnlich nicht vorkommt. Bezeichnend ist, dass es in der »Theologischen Realenzyklopädie« (TRE) zwar einen kurzen religionsgeschichtlichen Artikel sowie einen systematisch-theologischen und einen praktisch-theologischen Teil gibt, aber keinen zur Frömmigkeit im Alten oder Neuen Testament. Biblische Referenzen sind allein in einer kurzen Auseinandersetzung zu Luthers Verständnis von Frömmigkeit zu finden.1 Die TRE unterscheidet Frömmigkeit in dreifacher Abstufung als Pietät (pieté), Hingabe (dévotion) und Religiosität (religiosité).2 Frömmigkeit als religiosité steht für den Vollzug einer Frömmigkeit mit den entsprechenden Handlungen im Allgemeinen, also »einer Religion gemäß leben, tun und lassen, was sie lehrt«3. In diesem weiten Sinn lässt sich Frömmigkeit als Religionsausübung fassen, verliert so aber an Spezifität. Wenn in diesem Aufsatz von »persönlicher Frömmigkeit« gesprochen wird, so geht es um pieté, Ehrfurcht und dévotion, Gottergebenheit. Die rationale und die soziale Dimension treten hinter der individuell-religiösen der Gottesnähe zurück. Das mittelhochdeutsche »vrom, vrum« wird positiv gebraucht und zwar als »brav, ehrbar, gut, trefflich, vornehm, wacker, tapfer« und »förderlich, nützlich, helfend, brauchbar«4. Luther verwendet »fromm« im Sinne der Vortrefflichkeit 1 Manfred Seitz: Art. Frömmigkeit, II. Systematisch-theologisch, in: TRE 11, Berlin/New York 1983, (674–683) 676. 2 Hans-Jürgen Greschat: Frömmigkeit, I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 11, Berlin/New York 1983, (671–674) 671. 3 Greschat: Frömmigkeit (s. Anm. 2), 671. 4 Katrin Bernhard/Sebastian Ruhnau: vrum, in: Wortgeschichten. Etymologische Essays zu mittelhochdeutschen Begriffen, 2002/2003, verfügbar unter: https://homepages.uni-tuebingen. de//henrike.laehnemann/etymologie.html#vrum [14. 06. 2016].

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Stefan Fischer

für Menschen, die »rechtschaffen, gerecht« sind. So fand es Eingang in seine Bibelübersetzung. Wurde unter einem frommen Menschen anfänglich jemand verstanden, der ein nützliches und unverzichtbares Glied in einer Gemeinschaft war, so erhielt der Begriff der Frömmigkeit eine religiöse Färbung, indem er auf das Gottesverhältnis bezogen wurde und damit eine Verschiebung hin zu Individuellem, Innerlichkeit und Gefühlsmäßigem gelegt wurde.5 In Folge bekam »fromm, gottesfürchtig« eine moralische Konnotation, die mit negativer Färbung jemand als »artig, lammfromm, gottergeben« beschreibt.6 Dazu tritt der Aspekt einer anmaßenden, zur Schau getragenen Frömmigkeit, die Jesus bereits bei Pharisäern und Schriftgelehrten kritisierte (Lk 18,9). Sie werden zu »Frömmlern«. Dieser abwertende Sprachgebrauch scheint mir heutzutage der vorherrschende zu sein, auch wenn es im Sinne von »gottesfürchtig« ebenfalls noch vorhanden ist.7 Um sich dem Begriff der Frömmigkeit in der Bibel anzunähern, soll seine Verwendung in der Lutherbibel zum Ausgangspunkt genommen werden und diese auf das Wortfeld »fromm, Frömmigkeit« hin analysiert werden. Die verschiedenen Gebrauchsweisen sollen differenziert dargestellt werden. Das besondere Interesse liegt auf Ausdrucksformen persönlicher Frömmigkeit. Dieser aus dem christlichen Kontext stammende Begriff wurde in der Ägyptologie und später auch in der alttestamentlichen Wissenschaft gebräuchlich. In der Ägyptologie kam es zu einer größeren Diskussion mit einer sich wandelnden Forschungsgeschichte, die hier nachgezeichnet und für die alttestamentliche Wissenschaft fruchtbar gemacht werden soll. Dabei geht es nicht um die Frage einer literarischen Beziehung, obwohl diese punktuell gegeben ist,8 sondern um die Beobachtung der persönlichen Frömmigkeit als religiösem Motiv, seiner Ursachen und Phänomene und einer Schärfung der Begrifflichkeit in der alttestamentlichen Wissenschaft.

5 Vgl. Seitz: Frömmigkeit (s. Anm. 1), 676. 6 Bernhard/Ruhnau: vrum (s. Anm. 4). 7 Beispiele für beide Gebrauchsweisen verzeichnet das Deutsche Wortschatzportal (Universität Leipzig, Institut für Informatik, Abteilung Sprachverarbeitung: Wortschatz, 1998–2011, verfügbar unter: http://wortschatz.uni-leipzig.de/cgi-portal/de/wort_www?site=22&Wort_id= 4453220&bl=208 [14. 06. 2016]). 8 Bekanntschaft mit ägyptischen Texten ist, sobald Israel existent ist, jederzeit möglich und zwar in der ganzen historischen Spanne von kanaanäischer Vermittlung bis zum Hellenismus.

Persönliche Frömmigkeit. Gottesnähe im Alten Testament und in Ägypten

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»Frömmigkeit« in der Lutherbibel

Die spezifische Ausprägung von »Frömmigkeit«, wie sie in der Lutherübersetzung 19849 zum Ausdruck kommt, soll nun dargestellt werden, denn durch ihre weite Verbreitung war sie maßgeblich daran beteiligt, eine Vorstellung biblischer Frömmigkeit weiter zu führen.

2.1

Das Wortfeld Frömmigkeit

Das Wort »fromm« findet sich in der Lutherübersetzung neunmal im Alten Testament, vierzehnmal10 in den Apokryphen und siebzehnmal11 im Neuen Testament. Es wird zur Charakterisierung einer Person oder zur Beschreibung eines Lebensstils verwendet. Im Alten Testament fällt auf, dass es außer in der Genesis (Gen 4,7; 6,9; 17,1) nur in der Poesie und der Weisheitsliteratur verwendet wird (Hi 1,1.8; 2,3; 8,6; Ps 7,1; 37,37; Spr 12,2; 21,29),12 Gleiches gilt für das Nomen »Frömmigkeit«, welches viermal im Alten Testament (Hi 2,3.9; Ps 41,13; Spr 2,9), vierzehnmal im Neuen Testament13 und viermal in den Apokryphen14 auftritt. Der Begriff »Frommer« tritt im Singular und Plural etwa fünfzigmal15 auf und zwar fast ausschließlich16 in der Poesie und Weisheit von Hiob, Psalmen und Sprüchen. In den Apokryphen findet er elfmal17 zur Bezeichnung einer Person oder Personengruppe und im Neuen Testament nur einmal18 Verwendung.

9 Ein Vergleich mit der Vorabversion zur Lutherübersetzung 2017 (Stand 31. 07. 2015) lässt erkennen, dass für fromm* und frömm* die gleichen Verse wie in der Übersetzung von 1984 angezeigt werden. Dieses weist sie als eine der Tradition verpflichtete Übersetzung aus, die einem sich wandelnden Begriffsfeld der Frömmigkeit gegenüber resistent ist. 10 Tob 7,7.12; 9,9; 14,17; 2 Makk 1,19; 3,1; 12,45 (2x); Weish 2,22; Sir 1,18; 16,3.5; 39,17; Sus1,3. 11 Mt 1,19; 23,28; Mk 6,20; Lk 1,6; 2,25; 18,9; 20,20; 23,47.50; Apg 10,2.7.22; 1 Tim 5,4; 2 Tim 3,12; Tit 1,8; 2,12; 2 Petr 2,9; 3,11. 12 Dabei sind auch Psalm 37, wegen seines Inhalts und seiner Form (Akrostichon), und Ps 41 (ein Maschal, Lehrgedicht) zur didaktischen Weisheit zu zählen. 13 In Mt 6,1, Apg 3,12, Kol 3,22 wird es negativ zur Abgrenzung von einer heuchlerischen oder selbsterwählten Frömmigkeit verwendet. Erst in den Pastoralbriefen tritt es häufig auf und steht in einem positiven Gebrauch (1 Tim 2,2.10; 4,7–8; 6,5–6.11; 2 Tim 3,5; 2 Petr 1,3.6–7). Hier zeigt sich die Entwicklung zu etablierten Gemeinden mit verbindlichen Moralvorstellungen. 14 1 Makk 14,35; Weish 10,12; 14,30; Bar 5,4. 15 Die genaue Zahl schwankt, da Ausdrücke wie »frommes Herz« auch als Personifizierungen aufgefasst werden können. 16 Mi 2,7 spricht von einem Volk, welches rechtschaffen lebt. 17 Tob 4,18; 1 Makk 3,13; Weish 18,9; Sir 11,15.23; 12,2; 13,21; 16,13; 27,32; 39,30.32. 18 In 2 Petr 2,9 wird damit, wie in einigen Stellen der Apokryphen, eine moralisch qualifizierte Personengruppe, die im Kontrast zu den Ungerechten steht, bezeichnet.

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Stefan Fischer

Die Verwendung von »fromm, Frömmigkeit« erschließt sich bereits durch den Blick in die Neue-Zürcher-Übersetzung (2007), welche diesen Begriff nicht verwendet und die entsprechenden Stellen anders übersetzt, und zwar als »gut handeln« (Gen 4,7) bzw. »gut sein« (Spr 12,2), »vollkommen sein« (Gen 6,9; 17,1), »schuldlos sein/bleiben« (Hi 1,1.8; 2,9), »sich schuldlos halten« (Hi 2,3), »aufrecht sein« (Hi 8,6) und nominalisiert als »Getreuer« (Ps 12,2; 37,37), die »Treuen« (Jes 57,1), »Rechtschaffener« (Spr 21,29), »Unschuld« (Ps 41,13) und »Geradheit« (Spr 2,9). Die für dieses Wortfeld verwendeten Begriffe sind im Hebräischen Ableitungen der Wurzel ‫» טוב‬gut sein« (Spr 12,2) bzw. »gut handeln« (Gen 4,7), ‫תמם‬ »vollkommen sein«/»schuldlos sein« (Gen 17,1; Hi 1,1.8; 2,3.9; Ps 37,37; 41,13), ‫» ישר‬aufrecht sein« (Hi 8,6; Spr 2,9; Spr 21,29), sowie das Nomen ‫» ָחִסיד‬Frommer« (Ps 12,2) bzw. ‫» ַאנְ ֵשׁי־ֶחֶסד‬fromme Leute« (Jes 57,1). Während diese vier Wortfelder in der Lutherbibel alle unter »fromm«/ »Frömmigkeit« subsumiert werden, ist die Neue Zürcher-Übersetzung um eine vielfältige Anpassung an den Kontext bemüht, so dass ein differenzierteres Bild entsteht.

2.2

Vier Aspekte der Frömmigkeit

2.2.1 »gut handeln« Frömmigkeit zeigt sich im ethischen Verhalten. Der gesenkte Blick Kains (Gen 4,5.6) bringt seine innere Haltung, die sich später als Vorsatz zum Mord erweist, zum Ausdruck. JHWH fordert ihn deshalb auf, sich dafür zu entscheiden, ‫» טוב‬gut zu handeln« (Gen 4,7), zeigt aber sogleich die Möglichkeit auf, »nicht gut zu handeln«. Weshalb sein Opfer keine Annahme bei Gott fand, darüber wird nicht aufgeklärt. Ob dieses etwas mit seiner Frömmigkeit im Sinn von seiner inneren Einstellung zu tun hat, darüber ist im Verlauf der Auslegungsgeschichte viel spekuliert worden. Hier jedenfalls wird zu einem Entscheid zwischen gut und schlecht aufgefordert, der dem Menschen, seitdem er von der Frucht im Garten Eden aß (Gen 3,4–7), zugemutet werden kann. Frömmigkeit wird zu einer Entscheidung des rechten Handelns, die eine Rückwirkung auf das eigene Befinden hat, nämlich im positiven Fall den Blick erheben zu können, dem anderen unbefangen und ohne Groll zu begegnen.19 Bei einem negativen Entscheid bleibt die Gefährdung zur bösen Tat. Hier wird die Versuchlichkeit des Menschen, welche 19 Der moralische Aspekt des Handlungsentscheides tritt dort in den Hintergrund, wo mit »es gut sein lassen« im Sinne von »es auf sich beruhen lassen« übersetzt wird, welches sich auf die Ungleichbehandlung durch Gott bezieht. Vgl. Johanna Erzberger: Kain, Abel und Israel. Die Rezeption von Gen 4,1–16 in rabbinischen Midraschim (BWANT 192), Stuttgart 2011, 49–50.

Persönliche Frömmigkeit. Gottesnähe im Alten Testament und in Ägypten

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in der Metapher des »vor der Tür Lauernden« personifiziert zur überfallartigen Gefährdung wird, aufgenommen. Nun wird ein Weg aufgezeigt, dieser Verfehlung zu widerstehen. Sie ist nicht unüberwindlich, sondern Kain könnte Herr über sie werden.20 Hier ist Frömmigkeit keine innere Haltung, die eine spezifische Spiritualität zum Ausdruck bringt, sondern ein Handlungsentscheid. Eine Intervention Gottes braucht es dazu nicht.21 Da die Erzählung einen negativen Verlauf nimmt, bleibt im Verborgenen, was der gute Handlungsentscheid, wenn er mehr als die Negation des Bösen sein sollte, gewesen wäre. Der Weisheitsspruch »Der Gute [= »wer fromm ist«, Lutherübersetzung] erlangt Wohlgefallen von JHWH und den Mann der Heimtücke spricht er schuldig« (Spr 12,2) klingt wie ein Kommentar zur Kainerzählung. Die Struktur hebt die Option des Guten hervor,22 lässt aber die Option zum bösen Handeln offen, die sich einem »hinterhältigen Menschen«23 bietet, und in Spr 13,2 ist der Fromme/ Gute jemand mit verlässlicher Rede. 2.2.2 »vollkommen sein«/»schuldlos sein« Frömmigkeit gibt am häufigsten die Wurzel ‫» תמם‬vollkommen sein«/»schuldlos sein« (Gen 17,1; Hi 1,1.8; 2,3.9; Ps 37,37; 41,13) wieder. Im Unterschied zu ‫» טוב‬gut handeln« kommt hier der Mensch umfassender in den Blick. Gelegentlich wird das Vollkommensein mit der Wegmetapher verbunden, so dass sein Lebensweg und nicht die einzelne Tat den Menschen qualifiziert: Gott hält denen nichts Gutes zurück, die in Vollkommenheit (ihren Lebensweg) gehen (Ps 84,12). So jemand darf Gott dienen (Ps 101,6). Hier kommt es aus weisheitlicher Perspektive zu einer Ethisierung.24 Mit Abram und Hiob werden zwei hervorragende Personen als ‫ תמם‬bezeichnet. Gottes Bundesschluss mit Abram beinhaltet die Verpflichtung, den Lebenswandel im Angesicht Gottes zu führen und vollkommen zu sein (Gen 17,1). Dazu wird im Imperativ aufgefordert. 20 Vgl. Lothar Ruppert: Genesis. Ein kritischer und theologischer Kommentar 1. Gen 1,1–11,26 (FzB 70), Würzburg 1992, 199. 21 So jedoch Joseph Hermann Hertz: The Pentateuch and Haftorahs. Hebrew Text, English Translation and Commentary. Genesis, New York 1929, 35: »God mercifully intervenes to arrest the progress of evil thought.« 22 Jürg Luchsinger: Poetik der alttestamentlichen Spruchweisheit (Poetologische Studien zum Alten Testament 3), Stuttgart 2010, 110, zeigt auf, dass das durch die Massoreten mit einem zusätzlichen Trenner (rebia’ gadol) versehene ‫ טוב‬auf einer syntaktisch höheren Ebene liegt. 23 So die Übersetzung von Spr 12,2 bei Otto Plöger: Sprüche Salomos (Proverbia) (BKAT 17), Neukirchen-Vluyn 1984, 148, mit dem Hinweis (173), dass je nach Kontext ‫ ְמזִמּ ֹות‬als »Ränke« oder »abwägende Überlegungen« übersetzt werden kann. Wiederum liegt es also am Menschen, wie er das sich ihm bietende Potential nutzt. 24 Vgl. Frank-Lothar Hossfeld/Erich Zenger: Psalmen 51–100 (HThKAT), Freiburg i. Br. u. a. 2000, 508.

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Stefan Fischer

Durch die Erzählung des Schicksals von Hiob, der neben Noah (Gen 6,9 ‫)תמם‬ und Daniel zu den Vorbildern alttestamentlicher Gerechtigkeit gezählt wird (Ez 14,14.20), tritt die Konnotation »schuldlos« hinzu. Für einen Menschen machen materieller Wohlstand und körperliche Gesundheit seine Vollständigkeit (‫) ֻתּמּ ֹו‬ aus (Hi 21,23–25). Im Hiobbuch wird Frömmigkeit zu einem umfassenden ethischen Anspruch eines vorbildlichen Lebenswandels, welcher auch im Kultus auf eine umfassende Sündlosigkeit hin ausgerichtet ist (Hi 1,5). Dies findet bei Gott Anerkennung (Hi 1,8; 2,3) und gehört zu einem gottesfürchtigen Leben (Hi 1,9; 2,3). Hiob wird aus der Sicht des Erzählers als »vollkommen und aufrecht«/»fromm und rechtschaffen« (‫ תמם‬und ‫ )ישר‬qualifiziert (Hi 1,1.8; 2,3). Da die Gerechtigkeit des Vollkommenen nach traditioneller, oft auch deuteronomistisch genannter Vorstellung dazu führt, dass sich das Leben als ein ebener Weg eröffnet (Spr 11,5.6) und das Gelingen des Lebens garantiert scheint, ruft das Festhalten Hiobs an seiner Unschuld ‫ תמם‬den Widerstand der Freunde hervor und bestimmt die Reden Hiobs und seiner Freunde. Zwar wird ‫ תמם‬nur im Prolog mit »fromm« übersetzt, aber es findet auch in den Reden Verwendung. Dort verteidigt Hiob seine Unschuld gegenüber Gott (Hi 9,20–22; 31,6) und seinen Freunden (Hi 27,5), welche an der gleichen Lehrmeinung (Elifas: Hi 4,6; Bildad: Hi 8,20) festhalten, aber Hiob die Schuld zuweisen. Diese Haltung liegt auch in Ps 41,13 vor. Hier ist sich der Psalmbeter bewusst, vor Gott vollkommen zu sein, jedoch ist diesem ein Schuldbekenntnis (Ps 41,5) und ein Hilferuf (Ps 41,11) vorausgegangen, also das, was Hiobs Freunde einfordern. »Die Vollkommenheit des Geraden/Aufrichtigen« (Spr 11,3) verbindet die Wurzeln ‫ תמם‬und ‫ישר‬. Die mit der Wurzel ‫ תמם‬verbundene Vorstellung »von einer Ganzheit, einer Vollständigkeit ohne jeglichen Abstrich«25 bezeichnet also im positiven Bezug auf den Menschen jemanden, der in jeglicher Hinsicht vollkommen und damit in moralischer Hinsicht integer ist.26 Dabei sind Vollkommenheit und Aufrichtigkeit/Geradheit aufeinander bezogen und zeigen verschiedene Facetten auf. So werden der Vollkommene und der Aufrichtige in einem antithetischen Parallelismus synonym gebraucht (Spr 29,10). Dem Hass, den einem die Menschen entgegenbringen, welche den Vorsatz haben, einen zu vernichten, setzt der Vollkommene entgegen, das Beste für dessen Leben zu suchen.27 Häufig stellt die Weisheit ‫ תמם‬und ‫ ישר‬nebeneinander und lehrt so ein Leben, welches zum ganzheitlichen Wohlbefinden führt (Ps 37,37). Quasi als 25 Benjamin Kedar-Kopfstein: Art. ‫ תמם‬ta¯mam, in: ThWAT 8, Stuttgart u. a. 1995, (688–701) 691. 26 Hier fügt sich ein, dass in Hld 5,2 der Mann die Frau, die er liebt und verehrt und zu der er Einlass begehrt, als »meine Vollkommene« ‫ ַת ָמִּתי‬preist. Eine religiöse Konnotation wäre hier fehl am Platz. 27 Die Feinde werden als Blutgierige, wörtl. »Menschen des Blutes«, bezeichnet. Da in dem Blut das Leben ist (vgl. Gen 9,6), steht ihm der Aufrichtige, der dessen Leben sucht, entgegen.

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Antithese zu Hiob bzw. als Referenz zum Epilog wird dem Vollkommenen (‫)תמם‬ der dauerhafte Bestand seines Erbbesitzes zugesagt (Ps 37,18). Gott beschützt den Aufrichtigen und den Vollkommenen (Spr 2,7), sie bleiben im Land (Spr 2,21). 2.2.3 »gerade/aufrecht sein« Die Wurzel ‫» ישר‬aufrecht sein« tritt auch unabhängig von ‫ תמם‬auf und wird von Bildad als eine moralische Qualität angesehen, die zur kultischen oder/und moralischen Reinheit (Hi 8,6) gerechnet wird. Er ist ein redlicher Mensch. Er ist der Fromme (Ps 11,2.7; 32,11; 33,1; 36,11; 37,14; 49,15; 107,42; 111,1; 112,2.4; 140,14), der ein aufrechtes Herz hat (Ps 7,11; 64,11; 94,15; 97,11; 125,4) und recht redet (Spr 12,6). Gott hat »vertraute Gemeinschaft«28 mit ihm (Spr 3,32) und Wohlgefallen an ihm (Spr 11,20; 14,9). Durch ihn fließt Segen (Spr 11,11). Er hat Erfolg (Spr 14,11) und meidet einen schlechten Lebenswandel (Spr 16,17). Spr 21,18 kennt das temporäre Unrecht, sieht aber die Wiederherstellung der richtigen Ordnung für den Gerechten und Aufrechten. »Aufrichtigkeit/Redlichkeit« geht mit Recht und Gerechtigkeit einher und gehört zu einem guten Weg (Spr 2,9; 21,29), der im Gegensatz zu dem eines Frevlers steht. Exkurs: Der Weg des Aufrechten Der Gebrauch von »Weg« als Lebenswandel hat eine weite Verbreitung und nimmt etwa ein Fünftel aller Belege zu »Weg« ein. Jegliche Lebensbereiche können durch den Begriff »Weg« angesprochen werden. Nach Markus Philipp Zehnder steht das Verhalten im religiösen Bereich im Vordergrund, welches dann aber alle anderen Lebensbereiche prägt,29 so dass es um den (von Gott gebotenen) Lebenswandel geht. Alle Wegmetaphern, die mit ‫ ישר‬verbunden sind, fallen in diese Kategorie.30 Meist sind sie negativ konnotiert: Der Mensch kann sich bei der Wahl des geraden/rechten Weges verschätzen (Spr 14,12), sich damit als Narr erweisen (Spr 12,15) und sogar zu Tode kommen (Spr 16,25). Deshalb kommt es letztlich auf die Herzenshaltung an (Spr 21,2). Das Wissen darum, dass Gott das Herz prüft, prägt die Frömmigkeit. Er ist es, der den Pfad des Gerechten bahnt, dass er gerade (‫ )ישר‬ist (Jes 26,7), so die poetische Formulierung Jesajas. Derje-

28 So die Übersetzung von Arndt Meinhold: Die Sprüche 1. Sprüche Kapitel 1–15, Zürich 1991, 83. 29 Markus Philipp Zehnder: Wegmetaphorik im Alten Testament. Eine semantische Untersuchung der alttestamentlichen und altorientalischen Weg-Lexeme mit besonderer Berücksichtigung ihrer metaphorischen Verwendung (BZAW 268), Berlin/New York 1999, 328. 30 Zehnder: Wegmetaphorik (s. Anm. 29), 326–327.

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nige, der auf dem rechten Weg ist, wird vom Frevler mit Abscheu betrachtet (Spr 29,27) und im Extremfall sogar abgeschlachtet (Ps 37,14).31 Das Idiom »rechter/gerader Weg« tritt vor allem in Proverbien und weisheitlich geprägten Psalmen auf. Neben das durch die rechte Lebensführung erhoffte Wohlergehen tritt die Gottesfurcht, welche für die Weisheit als grundlegend angesehen wird (Spr 1,7; 4,7; 9,2). Beide gehören zusammen, denn Gott hat Wohlgefallen an denen, die einen vollkommenen (‫ )תמם‬Lebenswandel an den Tag legen (Spr 11,20). Hier spielt das Kultisch-Religiöse eine untergeordnete Rolle. Eine der Weisheit entsprechende Lebensführung gilt als Gottesfurcht, denn sie entspricht den Weisungen Gottes. Alle drei Begriffe werden in Spr 28,10 zueinander in Beziehung gesetzt: »Wer Aufrichtige irreführt auf einen bösen Weg, der fällt in seine eigene Grube; die Vollkommenen/Schuldlosen aber erlangen Gutes.«

2.2.4 »treu sein« In den Psalmen taucht der Begriff ‫ ָחִסיד‬häufig auf, wird aber nur selten mit »Frommer« (Ps 12,2: Lutherübersetzung; Ps 85,2; 97,10: Einheitsübersetzung) wiedergegeben. Die Lutherbibel spricht sonst von Heiligen (Ps 4,4; 18,26; 32,26; 97,10) bzw. Unheiligen (Ps 42,1) oder verwendet es als Eigentumsbegriff »ich bin dein« (Ps 86,2). Es handelt sich um Personen, die sich als Teil eines Gegenseitigkeitsverhältnisses sehen, in welchem sie Güte/Treue haben bzw. ausüben.32 Sie sind Loyale.33 Klärend ist hier das reziproke Verhältnis zwischen Mensch und Gott: »gegen den Treuen ‫ ָחִסיד‬bist du treu« (Ps 18,26), welches im prophetischen Lockruf auch gegen das Verhalten Israels aufrechterhalten wird (Jer 3,12). Deshalb sind sie ‫ַאנְ ֵשׁי־ֶחֶסד‬, Menschen der Treue/Güte (Jes 57,1). Im parallelen Satzglied kann ein weiterer Begriff aus dem Wortfeld der Frömmigkeit verwendet werden. So geht es dem Treuen/Gütigen (‫ )ָחִסיד‬wie dem Aufrichtigen (Mi 7,2) und den »frommen Leuten/Menschen der Treue« ‫ַאנְ ֵשׁי־ֶחֶסד‬, wie den Gerechten (Jes 57,1). Sie werden religiös-ethisch positiv wahrgenommen und gehören oft, aber nicht ausschließlich, der Kultgemeinde an.34 Sie können in einem Zug mit Gerechten, Vollkommenen und Aufrichtigen genannt werden und werden zu den Frommen gezählt, die des Schutzes und Segens JHWHs vergewissert werden (Spr 31 Hier wird ein Tun-Ergehen-Zusammenhang, wie er im Hiobbuch im Hintergrund steht, durchbrochen, aber nicht, um ihn generell in Frage zu stellen, sondern lediglich als temporärer Verzug (Ps 37,15.20). Bis dass die Ordnung wieder hergestellt ist, gilt es, auf Gottes Intervention zu warten (Ps 37,34). Dort, wo die religiöse Vorstellung eine Jenseitshoffnung entwickelt hat, kann die Wende auch ins Jenseits verlegt werden (Ps 73,24). Hier zeigen sich Ansätze zu einer Frömmigkeit, die aus der Krise erwächst. 32 Vgl. Hans-Jürgen Zobel: Art. ‫ חסד‬hæsæd, in: ThWAT 3, Stuttgart u. a. 1982, (48–71) 51. ¯ ˙ 33 Vgl. David Clines (Hg.): DCH 3, Sheffield 1996, 282, s. v. ‫ָחִסיד‬. 34 Vgl. Helmer Ringgren: Art. ‫ ָחִסיד‬ha¯sȋd, in: ThWAT 3, Stuttgart u. a. 1982, (83–88) 88. ¯

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2,7–22). Durch die Bezeichnung als ‫ ָחִסיד‬wird mit Treue/Loyalität eine moralische Qualität eingeführt, die sich von den vorherigen Begriffen partiell unterscheidet, da dort ethische Kriterien, die sich an Äußerem festmachen ließen, im Vordergrund stehen. Mit den ‫ ָחִסיד‬wird in den Psalmen eine bestimmte Weise der Frömmigkeit ausgeführt, die das Individuum besonders betont und im Gegensatz dazu ein ganzes Volk als illoyal und untreu qualifizieren kann (Ps 43,1). Der Gütige/Treue hingegen ist der ideale Gläubige; ein Mensch, der einen vollkommenen Lebensweg beschreitet und Gott dienen darf. Psalm 101 breitet dieses in der Abfolge Reflektion, Bekenntnis und Unterweisung zu einem didaktischen Zweck aus.35 Dieser ‫ ָחִסיד‬Treue ist zugleich – und hier wird ein weiterer Begriff eingeführt – einer der Treuen/Zuverlässigen im Land, ‫ ְבּנֶֶאְמנֵי־ֶאֶרץ‬, die in der Gottesnähe wohnen dürfen (Ps 101,6). Er scheint sich auf die gleiche Gruppe, die auch als die Stillen im Land, ‫ִרְגֵעי־ֶאֶרץ‬, bezeichnet werden (Ps 35,20), zu beziehen.36

3

Persönliche Frömmigkeit

3.1

Definition der persönlichen Frömmigkeit

Das Ägyptische kennt wie das Hebräische keinen einzelnen Begriff für Frömmigkeit.37 Jan Assmann fasst die Frömmigkeit der Ägypter unter dem Begriff der »Gottesnähe als einen kulturell geformten und spezifisch dimensionierten Erfahrungsraum«38 zusammen. In diesem begegnen Götter und Menschen einander und kommunizieren miteinander. Hier werden Riten durchgeführt und religiöse Erfahrungen gesammelt. Diese Form der öffentlich-kultischen Religionsausübung entspricht der Religiosität (religiosité). Der Begriff »persönliche Frömmigkeit« lehnt sich an christlich-religiöses Vokabular an und findet in der Ägyptologie seit Adolf Erman39 und James Henry 35 Vgl. Erhard S. Gerstenberger: Psalms 2, and Lamentations (FOTL 15), Grand Rapids 2001, 209. 36 Das Zitat der »Stillen im Land« aus Ps 35,20 wurde zur Selbstbezeichnung pietistisch-erwecklicher Kreise um Gerhard Tersteegen (1697–1769), zu deren späten Vertretern auch Johann Heinrich Jung (1740–1817) gehörte, der sich den Namenszusatz Stilling gab und so seine Zugehörigkeit zum Ausdruck brachte. Vgl. Erich Geldbach: Art. Stillen im Lande, Die, in: ders. u. a. (Hg.): Evangelisches Gemeindelexikon, Wuppertal 1978, 492. 37 Rainer Hannig: Die Sprache der Pharaonen. Grosses Handwörterbuch Deutsch-Ägyptisch (2800–950 v. Chr.) (Hannig-Lexika 3; Kulturgeschichte der antiken Welt 86), Mainz 2000, verzeichnet keinen Eintrag zu »fromm, Frömmigkeit«. 38 Jan Assmann: Ägypten. Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur (UTb 366), Stuttgart u. a. 1984, 15. 39 Adolf Erman: Denksteine aus der thebanischen Gräberstadt, in: SPAW.PH (1911), (1086– 1110) 1086–1087, schreibt über die thebanischen Denksteine der Handwerker und Arbeiter:

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Breasted40 Verwendung. Enka Elvira Morgan definiert in Anlehnung an Erman persönliche Frömmigkeit als die »religiöse Einstellung des einfachen Mannes, die gekennzeichnet ist durch ein unmittelbares, persönliches Verhältnis zwischen Gläubigem und Gottheit, getragen von Zuneigung und Zuversicht in die Haltung der Gottheit.«41 Schwerer zu fassen ist Frömmigkeit, die als Hingabe (dévotion) und Pietät (pieté) betrachtet wird und für die »persönliche und unmittelbare Hinwendung eines Individuums zu einer Gottheit«42 steht, wenn es sich dieser »in einem inneren Akt der Aufmerksamkeit zuwendet«43. Hilfreich scheint mir die Einteilung von Geraldine Pinch zu sein. Sie liefert ein Instrumentarium, um den allgemeinen Begriff der Frömmigkeit genauer zu bestimmen und verschiedene Aspekte der pieté und dévotion voneinander abzugrenzen, indem sie zwischen persönlicher Frömmigkeit, Volksglaube und Populärreligion unterscheidet: Personal piety – Individual rather than corporate piety, but centered on one or more of the deities of the state cults. Folk religion – Religious or magical beliefs and practices of the populace, independent from the state cults and centred on the home and the family. Popular religion – The religious beliefs and practices, whether corporate or individual, of ordinary Egyptians in daily life.44

Vergleichbar ist eine dreistufige Begrifflichkeit von Waltraud Guglielmi und Johanna Dittmar, welche »Laienfrömmigkeit«, »persönliche Frömmigkeit« und »Persönliche Frömmigkeit« unterscheiden: 1. »Laienfrömmigkeit«, […] [ist] Frömmigkeit außerhalb des Tempelkultes, der einer exklusiven Priesterschicht vorbehalten ist. 2. Die »persönliche Frömmigkeit« bezeichnet die persönliche Hinwendung des Menschen an Gott, die wiederum eine persönlich gedachte Hinwendung des Gottes zum Menschen voraussetzt.

40 41 42 43 44

»An Stelle der herkömmlichen Hymnen, die trocken den gefeierten Gott schildern, […] tritt uns hier der Ausdruck persönlicher Frömmigkeit entgegen. Der Gott ist nicht ein unnahbares Wesen […] er ist der freundliche Helfer eines jeden, und gerade der Arme und Unterdrückte darf auf ihn in seinen Nöten hoffen.« James Henry Breasted: Development of Religion and Thought in Ancient Egypt. Lectures Delivered on the Morse Foundation at Union Theological Seminary, London 1912, 344–370, hat ein Kapitel mit dem Titel »The Age of Personal Piety«. Enka Elvira Morgan: Untersuchungen zu den Ohrenstelen aus Deir el Medine (ÄAT 61), Wiesbaden 2004, 65. Maria Michela Luiselli: Die Suche nach Gottesnähe. Untersuchungen zur Persönlichen Frömmigkeit in Ägypten von der Ersten Zwischenzeit bis zum Ende des Neuen Reiches (ÄAT 73), Wiesbaden 2011, 1. Bernhard Lang: Persönliche Frömmigkeit. Vier Zugänge zu einer elementaren Form des religiösen Lebens, in: Hephaistos 28 (2011), (19–36) 27. Geraldine Pinch: Votive Offerings to Hathor, Oxford 1993, 325 [Hervorhebung im Original].

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3. »Persönliche Frömmigkeit« wird als Gattungsbezeichnung für die ausführlichen Gebete auf Votivstelen aus Dêr el Medine verwendet mit der Schilderung der Sündhaftigkeit des Beters, der Erfahrung der göttlichen b3w und der Gnade sowie der Einlösung des Gelübdes.45

Dabei entsprechen personal piety – persönliche Frömmigkeit, folk religion – Laienfrömmigkeit und popular religion – Persönliche Frömmigkeit in etwa einander. Offensichtlich ist nicht jede individuelle Glaubensäußerung der persönlichen Frömmigkeit zuzurechnen. Sie kann auch folk religion oder popular religion sein. Nach Pinch und Guglielmi/Dittmar ist persönliche Frömmigkeit individuelle Hinwendung zu einer anerkannten Gottheit mit vorhergehender Hinwendung dieser Gottheit zum Menschen. Battiscombe Gunn stellte die Theorie auf, persönliche Frömmigkeit hätte ihren Sitz im Leben in unteren Gesellschaftsschichten, denn die Gedenksteine »were set up in small temples by the humble draughtsmen, scribes and ›attendants‹ of that part of the great cemetery«.46 3.1.1 Folk Religion Eine erste größere Textsammlung, welche der persönlichen Frömmigkeit zugerechnet wurde, stammt von Gedenksteinen aus der thebanischen Arbeitersiedlung in Deir el Medine. Von diesen Stelen untersuchte Morgan eine Gruppe von zweiundzwanzig Ohrenstelen, die vor allem aus der 19. Dynastie stammen. Sie analysiert die Attribute der Gottheiten und weist nach, dass diese nicht gottesspezifisch sind. Sie sind Standardattribute, wie sie auch im offiziellen Kult Verwendung finden.47 Sie sind deshalb nicht als kreative Zeugnisse persönlicher Frömmigkeit anzusehen, sondern weisen auf ihre inhaltliche Nähe zum offiziellen Kult, der nun auch individuell übernommen wird.48 Wenn dazu noch in Erwägung gezogen wird, dass es eine große Anzahl von weiblichen Figurinen gibt, die in Deir el Medine aus Privathäusern stammen und 45 Waltraud Guglielmi/Johanna Dittmar: Anrufungen der persönlichen Frömmigkeit auf Gansund Widder-Darstellungen des Amun, in: Ingrid Gamer-Wallert/Wolfgang Helck (Hg.): Gegengabe. Festschrift für Emma Brunner-Traut, Tübingen 1992, (119–142) 121 (Anm. 14). 46 Battiscombe Gunn: The Religion of the Poor in Ancient Egypt, in: JEA 3 (1916), (81–95) 82. 47 Morgan: Untersuchungen (s. Anm. 41), 24. 48 Vgl. Susana Mota: The Household Religion in Ancient Egypt. Problems and Constraints, in: Res Antiquitatis 2 (2011), (71–81) 72–74. Sie hebt hervor, dass es zwar viele Möglichkeiten gab, am offiziellen Kult teilzunehmen, etwa bei Festen und Prozessionen, sowie durch Votivgaben und im Beerdigungskult, dass aber der zuhause ausgeübten Religion ein eigener Platz zukommt, der inhaltlich mit »Private, Practical, Popular or Personal Religion« (73) nicht einheitlich erfasst wird.

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zeitlich etwas früher anzusetzen sind (18. Dynastie) und gelegentlich andernorts als Votivgaben auftreten, und die in dieser Ausprägung (Typ 4) sonst sehr selten sind,49 so kann angenommen werden, dass es sich hier um einen Kult gehandelt hat, der in der Familie praktiziert wurde und sich neben dem offiziellen Kult etablierte. Die oben dargelegte Aufteilung nach Pinch legt es nahe, dies nicht als persönliche Frömmigkeit, sondern als folk religion zu bezeichnen, wie sie in Ägypten seit der Zweiten Zwischenzeit auftritt: The symbolic identification of donors with deities and the possible involvement in magical rites of some of the votive objects do not imply an impious attitude on the part of the donors. If the donor placed him or herself in the correct relationship with the goddess, she would respond with a blessing.50

Diese Weise der Religionsausübung erinnert in ihrer Konzentration auf das Familiale und dem Fehlen eines übergeordneten Kults an die häusliche Religion der Erzeltern. Hier finden sich ebenfalls aufgerichtete Gedenksteine, Mazzeben, die durch Salbung geweiht wurden und in kleinen Tempeln aufbewahrt werden sollten (Gen 28,18–22; 31,13.45), und Götterfiguren, die im Haushalt aufbewahrt wurden (Gen 31,30–35). Kultausübungen im Kreis der Familie finden sich etwa beim Heiligtum des Micha mit eigenem Priester (Ri 17–18), dem jährlichen Opferfest einzelner Familien, wie dem der Familie Davids in Betlehem (1 Sam 20,6). Hierbei handelt es sich nicht um die Verehrung eines persönlichen Gottes,51 sondern um folk religion bzw. Laienfrömmigkeit, die sich an den gleichen Gott wenden kann, aber keine Kultzentralisation kennt.

3.1.2 Popular Religion Pinch geht in ihrem Buch den Votivgaben an Hathor nach. Diese gehören zur popular religion bzw. zur Persönlichen Frömmigkeit, in denen zwar eine tiefe Hingabe sichtbar wird, die aber in den Texten konventionell sind, so dass die Persönlichkeit der Beter nicht und ihre Gefühle gegenüber der Gottheit kaum ersichtlich sind.52 Guglielmi/Dittmar verweisen auf tiergestaltige Amunbilder: 49 Pinch: Votive Offerings (s. Anm. 44), 204–205, und die Auflistung 230–231, welche mehr als 60 Figurinen aus Privathäusern verzeichnet, viel mehr als an allen anderen Fundstellen zusammen. 50 Pinch: Votive Offerings (s. Anm. 44), 355. 51 Vgl. die Auseinandersetzung von Rainer Albertz mit Hermann Vorländer, Rainer Albertz: Persönliche Frömmigkeit und offizielle Religion. Religionsinterner Pluralismus in Israel und Babylon (CThM.BW 9), Stuttgart 1978, 19. 52 Pinch: Votive Offerings (s. Anm. 44), 356: »Some of these pieces may have been offered out of deep personal devotion to the goddess […] but nothing of the personality of the individual donors, and little of their feelings towards the goddess, can be deduced from these texts.«

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Die Präferenz der Tiergestalt hat im persönlichen Bereich gelegen, etwa in der Verknüpfung eines individuellen Anliegens mit einem mythologischen Präzedenzfall oder in einem Bekenntnis, das auf dem Wortspiel zwischen smn (»der währen lässt«) und jmnw (»Der währt [in allen Dingen]«) beruht.53

Aus der Levante sind aus der Perserzeit Terrakottafiguren bekannt: Die männlichen stellen bärtige Männer oder Reiterfiguren dar, bei den weiblichen tritt, selten und untypisch für diese Periode, die nackte Frau auf. Typische Motive sind die schwangere Frau und die Frau mit Kind.54 Sie sind lange für Gottheiten gehalten worden.55 Sie könnten aber auch als Votivfiguren nicht die Gottheit, sondern die Anbetende repräsentieren, die entweder als Unfruchtbare um ein Kind bittet oder für das empfangene Kind dankt. Sie sind der Populärreligion des gewöhnlichen Volkes zuzurechnen56 und können als dauerhafte, stille Gebete angesehen werden. In der alttestamentlichen Wissenschaft wurde die persönliche Frömmigkeit von Rainer Albertz ausführlich thematisiert.57 Er geht dem Verhältnis von persönlicher Frömmigkeit und offizieller Religion nach und setzt sich ausführlich mit Mesopotamien58 und kurz mit einem religionsinternen Pluralismus auseinander.59 Er zeigt auf, dass »das Geschehen zwischen Gott und dem einzelnen Menschen […] sowohl in Israel als auch in Mesopotamien durch ein seinen Lebensweg begleitendes persönliches Vertrauensverhältnis bestimmt«60 wird. Er entwickelt die These einer »›Armenfrömmigkeit‹ der Unterschichtszirkel«61, die in der nachexilischen Zeit bedeutsam wird und sich von einer normalen persönlichen Frömmigkeit unterscheidet, da sie sich von einer »persönlichen Bindung des Schöpfers an sein Geschöpf« dergestalt verändert, dass sie an

53 Guglielmi/Dittmar: Anrufungen (s. Anm. 45), 142. 54 Izak Cornelius: East Meets West. Trends in Terracotta Figurines, in: Christian Frevel u. a. (Hg.): A »Religious Revolution« in Yehûd? The Material Culture of the Persian Period as a Test Case (OBO 267), Fribourg/Göttingen 2014, (67–93) 70–72. 55 Ephraim Stern: Votive Figurines from the Beersheba Area, in: Susanne Bickel u. a. (Hg.): Bilder als Quellen – Images as Sources. Studies on Ancient Near Eastern Artefacts and the Bible Inspired by the Work of Othmar Keel (OBO.S), Fribourg/Göttingen 2007, (321–327) 324–325, führt das Mutter-und-Kind-Motiv auf verschiedene Gottheiten zurück, die je nach Fundort auf Demeter, Kore oder Isis und Horus zurückgeführt werden. Er erwähnt die Möglichkeit, dass es sich um Votivfiguren von unfruchtbaren Frauen handeln könnte. 56 Cornelius: East Meets West (s. Anm. 54), 82. 57 Albertz: Persönliche Frömmigkeit (s. Anm. 51). 58 Da sein Interesse in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft liegt, ist diese Begrenzung räumlich und zeitlich legitim. Es steht dem aber nichts im Wege, dass ähnliche Phänomene auch in Ägypten beobachtet werden könnten. 59 Albertz: Persönliche Frömmigkeit (s. Anm. 51), 96–164. 60 Albertz: Persönliche Frömmigkeit (s. Anm. 51), 160. 61 Rainer Albertz: Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit 2. Vom Exil bis zu den Makkabäern (GAT/ATD Ergänzungsreihe 8,2), Göttingen 21997, 569–576.

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der Erfahrung anknüpft, »dass er die Unterdrückten befreit«.62 Er sieht es als Aufgabe der Armenfrömmigkeit an, »den unterdrückten Opfern der sozialen Krise ihre Würde und Lebenshoffnung wiederzugeben.«63 Dadurch bekommt sie eine weitergefasste politische Dimension, denn »die war nun nicht mehr einfach nur eine Angelegenheit des erbarmenden Gottes, sondern Gott musste seine ganze Macht als Richter und König der Welt einsetzen […], wenn die selbstherrliche Gewalt der Frevler gebrochen werden sollte.«64 Diese Gruppen hatten eigene »Gemeinschaftsgottesdienste«, die nicht im Tempel stattfanden.65 Hier wird eine individuelle Gottesnähe gemeinschaftlich erlebt und Kritik an der offiziellen Religion geäußert. Sie ist damit institutions- und in Folge kultkritisch und steht damit der popular religion nahe. 3.1.3 Persönliche Frömmigkeit: Gottesnähe Während Pinch ihre Definitionen der Gottesnähe nach Ort und Gebrauch, also dem Sitz im Leben, trifft, bedenkt Assmann Frömmigkeit als Ausdruck der Gottesnähe von seiner Funktion und Form her. Assmann unterscheidet dabei zwei Formulierungsmuster, die »Gegenseitigkeitsformel« und die »rhetorische Figur der Seligpreisung (Makarismos) mit begründetem Nachsatz«.66 Erstere findet sich häufig in hymnischen Redeformen. Inhaltlich gibt es Hymnen, die Gottes Güte dem hilfsbedürftigen Menschen gegenüberstellen, und Hymnen, die eine aktive Handlung Gottes verlangen. Die Worte des Schreibers Simut, genannt Keki, klingen so, als ob er angesichts der Schwäche des äußeren Totenkultes, der eigentlich durch Nachkommen praktiziert wird, auf Gottes Beistand vertraut: Kein Sohn von mir ist es, den ich gefunden habe, [um] mir das Begräbnis zu [veranstalten]. Das Begräbnis liegt in deiner Hand allein, du bist die Geburtsgöttin, die auch für mich sorgt mit einer untadeligen Mumifizierung, wenn es ans Sterben geht.67

Der Beter vertraut sich Gott an: »So mögest du mich nun vor allem Übel bewahren bis an mein Ende!«68, lobt ihn und trägt Gott, in diesem Fall als Ma’at, im Herzen: »Ich freue mich über deine Stärke, wie du so viel grösser bist als jeder andere 62 63 64 65 66

Albertz: Religionsgeschichte (s. Anm. 61), 572. Albertz: Religionsgeschichte (s. Anm. 61), 574. Albertz: Religionsgeschichte (s. Anm. 61), 572. Albertz: Religionsgeschichte (s. Anm. 61), 573. Jan Assmann: Weisheit, Loyalismus und Frömmigkeit, in: Erik Hornung/Othmar Keel (Hg.): Studien zu altägyptischen Lebenslehren (OBO 28), Fribourg/Göttingen 1979, (11–72) 21. 67 TT 409 = Ägyptische Hymnen und Gebete, Nr. 173,44–48 (Jan Assmann: Ägyptische Hymnen und Gebete [OBO.S], Freiburg/Göttingen 21999, 403). 68 TT 409 = Ägyptische Hymnen und Gebete, Nr. 173,51 (403 A.).

Persönliche Frömmigkeit. Gottesnähe im Alten Testament und in Ägypten

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Gott. Mein Herz ist erfüllt mit meiner Herrin, ich fürchte mich vor keinem Menschen. Ich verbringe die Nacht ruhig schlafend, denn ich habe einen Schützer.«69 Wenn man sich vorstellt, wie das im gleichen Text geäußerte Bekenntnis zur Göttin MUT »Ich will ihr mein Vermögen und alle meine Einkünfte geben« (Ägyptische Hymnen und Gebete, Nr. 173,18 [402 A.]) aussieht, so wird ihr Kultort finanziell gestärkt (Ägyptische Hymnen und Gebet, Nr. 173,25–28 [402 A.]), und Tempelangestellte werden wohl den Begräbnisdienst dafür übernehmen. Dieses relativiert die Vorstellung einer inneren Herzensfrömmigkeit und weist auf einen verlässlichen Kult hin. Assmann schreibt dazu: Die Möglichkeit, sich mit seinem Vermögen in das Patronat eines Mächtigen einzukaufen, muss in der Ramessidenzeit bereits auf die Tempel ausgedehnt worden sein […] die Gottheit übernimmt im Austausch für die übereigneten Güter vor allem die Verpflichtung, für das Begräbnis zu sorgen (V. 44–61).70

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Persönliche Frömmigkeit in Ägypten

4.1

Frühe Zeugnisse persönlicher Frömmigkeit

Ein frühes Zeugnis persönlicher Frömmigkeit findet sich in der Sinuhe-Erzählung. Sie war eine beliebte literarische Fiktion, deren älteste Handschrift aus dem Mittleren Reich stammt und die, wie Anspielungen und Zitate zeigen, auch noch im 1. Jahrtausend v. Chr. bekannt war. Bei Sinuhe kommt es zu einer direkten Hinwendung an Gott, die des Königs nicht bedarf, obwohl er ihn ebenfalls anruft und so eine gewisse Spannung aufrechterhält. Sinuhe betet: »Mögest du mir gnädig sein (htp)! (B 157) […] Möge mir Gott Gnade (htp.t) geben.«71 ˙ ˙ Elke Blumenthal führt aus, dass in der Sinuhe-Erzählung von einem Gott die Rede ist, der zornig und gnädig ist und über das individuelle Ergehen verfügt. Er erhört und antwortet auf Gebete, revidierte seine Entscheidungen und ist für den Beter erreichbar. Blumenthal kommt zu dem Schluss: »Sinuhes religiöse Überzeugung entspricht genau dem, was als neue, zusätzliche ›Dimension der Gottesnähe‹ die Religionsausübung von Privatleuten, aber auch von Königen der Ramessidenzeit charakterisiert.«72 Maria Michela Luiselli findet hier »den persönlichen Kontakt zu einem Gott und dessen Einfluss auf das eigene Leben.«73 69 TT 409 = Ägyptische Hymnen und Gebete, Nr. 173,97–102 (404 A.). 70 Assmann: Ägyptische Hymnen (s. Anm. 67), 406. 71 Zitiert nach Elke Blumenthal: Sinuhes persönliche Frömmigkeit, in: Irene Shirun-Grumach (Hg.): Jerusalem Studies in Egyptology (ÄAT 40), Wiesbaden 1998, (213–231) 218. 72 Blumenthal: Sinuhes persönliche Frömmigkeit (s. Anm. 71), 218. 73 Maria Michela Luiselli: Religion und Literatur. Überlegungen zur Funktion der »persönlichen

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Stefan Fischer

Blumenthal führt aus, wie Sinuhes Unschuld von allen Seiten erwiesen wird, denn Gott habe ihn in die Fremde geführt. Sinuhe […] seine Gottesvorstellung ist exemplarisch geblieben. Noch nach Jahrhunderten spielt Amenemope auf ihn an, als er mit der Ermahnung »Rufe nicht ›Sünde!‹ gegen einen Menschen; die Umstände der Flucht sind verborgen« die Gläubigen seiner Zeit auf Gott als undurchschaubaren Lenker menschlicher Schicksale verweisen und sie vor vorschnellem Urteilen bewahren will.74

Dem widerspricht Hans-Werner Fischer-Elfert. Für ihn knüpft Sinuhe an die Beschwörungsliteratur an und will für seine überstürzte Flucht nicht haftbar gemacht werden. »In ihm waltet nicht ein Gott der Persönlichen Frömmigkeit, sondern eine ihn steuernde und regelrecht besitzende numinose, genauer: dämonische Instanz.«75 Wenn auch Fischer-Elfert zu einer negativen Wertung kommt, so hat diese mit der von Blumenthal gemeinsam, dass Gott direkt angesprochen wird, aber die hier zum Ausdruck gebrachte Frömmigkeit nicht »durch die Merkmale einer inneren Haltung des Individuums definiert [wird] als vielmehr durch Eigenschaften einer namenlosen Gottheit.«76 Luiselli77 listet fünf Zeugnisse der Gottesnähe aus dem Mittleren Reich auf, in denen eine Gottheit jeweils direkt angesprochen wird. Beispielsweise im Gebet des Antefoker, welches in eine Harfnerszene eingebettet ist, betet dieser unter Einschluss der Zuwendung des Herzens: »Ich bitte, dass du hören mögest, o Majestät, Goldene! / Ich bitte, dass (du) [mir] dein Herz zuwendest.«78 Hier handelt es sich um frühe Zeugnisse einer persönlichen Hinwendung zu Gott im Gebet, die in der 18. Dynastie vor der Amarna-Zeit ihre Fortsetzung fand,79 aber erst durch die Amarna-Zeit Anstösse erhielt, die zu ihrer spezifischen Ausgestaltung führten.

74 75 76 77 78 79

Frömmigkeit« in der Literatur des Mittleren und Neuen Reiches, in: SAK 36 (2007), (157–182) 168. Blumenthal: Sinuhes persönliche Frömmigkeit (s. Anm. 71), 231. Hans-Werner Fischer-Elfert: Magische Poesie – Der altägyptische Sinuhe als sprechender Patient, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 11 (2013), (9–27) 9. Enka Elvira Morgan: Einige Bemerkungen zur Thematik der Persönlichen Frömmigkeit, in: SAK 34 (2006), (333–352) 334. Luiselli: Die Suche (s. Anm. 42), 311–317: TT 60, Glasgow Hunterian Museum and Art Gallery D1922.13, Stele Turin 1547, Stele Bologna EG 1911 und Stele BM (447) 893. Luiselli: Die Suche (s. Anm. 42), 311, TT 60. Vgl. die Zusammenstellung von vierundzwanzig Texten durch Luiselli: Die Suche (s. Anm. 42), 318–353.

Persönliche Frömmigkeit. Gottesnähe im Alten Testament und in Ägypten

4.2

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Die Amarna-Zeit

4.2.1 Die Amarna-Zeit als Wegbereiter persönlicher Frömmigkeit Erman80 und Breasted81 heben hervor, wie es in der Ramessidenzeit zu einer großen Verbreitung persönlicher Frömmigkeit kam. Sie betrachten diese als Reaktion auf die Amarna-Theologie. Brunner findet es naheliegend, persönliche Frömmigkeit als eine »Reaktion auf die religiöse Revolution in Amarna« anzusehen, denn in der 18. Dyn. kommt nach einigen Vorläufern eine religiöse Haltung auf und in der Ramessidenzeit zur Blüte, der das Gefühl völliger Abhängigkeit des einzelnen von der Gottheit zugrunde liegt. Geboren ist diese Frömmigkeit aus einer Lebensangst, wie sie die Isolierung des Menschen in der Gesellschaft mit sich brachte.82

Die Amarna-Religion schließt eine unmittelbare Frömmigkeit zwischen Gott und Mensch aus und sieht eine Beziehung zwischen Gott und dem König bzw. der königlichen Familie und den König als Mittler zum Volk.83 In der AmarnaReligion wird die königliche Familie als Ganze in die Gegenwart Gottes gerückt und zugleich dem Volk entzogen. So kommt es zu einer Selbstdarstellung des Königtums, welches am Naturalismus der Sonnentheologie anknüpfend den König in allen Situationen in der Nähe Gottes zeigt. Bildmotive in Amarna zeigen König Echnaton mit seiner Familie vor Aton, welcher sich ihnen mit vielen Händen und dem Anch-Zeichen des Lebens zuwendet. Beispielsweise sitzt Echnaton mit den Kindern auf dem Schoss vor Aton84 oder ist bei der Ausfahrt zusammen mit Nofretete im Wagen.85 In der Amarna-Zeit wurde der traditionelle Kult durch die Verfolgungssituation in seiner Ausübung ge- bzw. verhindert und so in den Untergrund gedrängt. Die gestörte Ordnung der Verfolgungszeit führt einerseits zu Bestrebungen, vermehrt das Leben im Diesseits zu betonen, so in den »häretischen Harfner80 Erman: Denksteine (s. Anm. 39), 1108–1110, sieht die persönliche Frömmigkeit als Teil einer großen geistigen Bewegung, die sich auch in der Tell-Amarna-Episode zeigt. Er stellt Texte zusammen, welche die Fürsorglichkeit Gottes für seine Geschöpfe und die einzelnen Menschen zeigen. 81 Breasted: Development (s. Anm. 40), 349: »An age of personal piety and inner aspiration of God now dawned among the masses.« 82 Hellmut Brunner: Art. Persönliche Frömmigkeit, in: LÄ 4, Wiesbaden 1982, (951–963) 951. 83 Assmann: Ägypten. Theologie (s. Anm. 38), 252. 84 Vgl. das Bild von Echnaton und Nofretete (Berlin Ägyptisches Museum 14145) mit zwei Kindern vor Aton. Assmann: Ägypten. Theologie (s. Anm. 38), 252 (Abb. 6). 85 Susanne Bickel: Theologie, Politik und Glauben in der 18. Dynastie, in: André Wiese/Andreas Brodbeck (Hg.): Tutanchamun. Das goldene Jenseits. Grabschätze aus dem Tal der König, Basel 2004, (45–56) 54 (Abb. 15).

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Stefan Fischer

liedern«86, und anderseits dazu, sich mehr auf die Innerlichkeit zu konzentrieren. Diese findet in Hymnen und Gebeten ihren Niederschlag, die geprägt sind von der inneren Erfahrung einer Gottesnähe, die sich von allen äußeren Zeichen abgelöst hat: Sättigung ohne Essen, Trunkenheit ohne Trinken, das sind sehr präzise Metaphern für die geradezu mystisch zu nennende Erfahrung der Gegenwärtigkeit Gottes auch ohne das Fest.87

In einer Zeit, in der die Kultorte geschlossen und die alten Götter verfolgt werden, entsteht eine Sehnsucht nach Gottesnähe, wie sie in diesem Gebet zum Ausdruck kommt: Wende dich und wieder zu, du Herr der Ewigkeit, du warst hier, als noch nichts entstanden war, und du wirst hier sein, wenn sie zu Ende sind. Du lässest mich Finsternis sehen, die du gibst – leuchte mir, dass ich dich sehe. (Ägyptische Hymnen und Gebete, Nr. 147,26–30 [370 A.]) Vertreibe die Furcht, gib Freude in das Herz der Menschen. Wie freut sich das Gesicht das dich schaut, Amun. Es ist im Fest Tag für Tag. (Ägyptische Hymnen und Gebete, Nr. 147,39–41 [370 A.])

Assmann nennt für das von Gott geleitete Herz Ausdrücke der Innerlichkeit wie »sich einen Gott ins Herz setzen« und »Gottesbeherzigung«.88 Guglielmi/Dittmar stellen spezielle Epitheta der persönlichen Frömmigkeit zusammen.89 Betende sind von der Hörfähigkeit der Götter überzeugt. Götter werden deshalb häufig mit »der die Bitte erhört« charakterisiert.90 So heisst es beispielsweise über Amun-Re: der erlauchte Gott, der die Bitte hört, der kommt auf die Stimme des Armen, wenn er traurig ist, der Luft gibt dem, der in Bedrängnis ist […] der die Gebete erhört dessen, der zu ihm ruft. Der kommt auf die Stimme dessen, der seinen Namen nennt, der die Bitten erhört dessen, der ihn in sein Herz gibt. (Ägyptische Hymnen und Gebete, Nr. 148,3–8 [371 A.]) 86 Stefan Fischer: Die Aufforderung zur Lebensfreude im Buch Kohelet und seine Rezeption der ägyptischen Harfnerlieder (Wiener alttestamentliche Studien 2), Wien 1999. 87 Assmann: Ägypten. Theologie (s. Anm. 38), 260. 88 Jan Assmann: Ägypten. Eine Sinngeschichte, Darmstadt 1996, 259–260. 89 »nfr jw ›mit schönem Kommen‹ und ‘n htp ›mit schöner (huldvoller) Gnade‹, sind als Formeln ˙ der gnädigen Zuwendung Gottes zu verstehen und dürften in etwa dem geläufigeren ‘nn ‹sw r› htp entsprechen. [Durch die Epitheta Amun-Res] ‘3 hmhm.t ›mit grossem Ruhm‹ und mrj.tj ˙›Liebeerweckender‹ dürfte im Kontext der persönlichen Frömmigkeit eine spezielle Bedeutung vorliegen im Sinne von ›mit grosser Popularität‹ und ›Liebeerweckender‹ bei den sich an ihn wendenden Betern: ›Amun-Re mit grosser Popularität, Herr in Ewigkeit, Herrscher der Unendlichkeit, der von selbst entstand, der Liebeerweckende, mit schönem Kommen und huldvoller Gnade, der sich selbst und seinen Namen schuf.‹« [Stele des Parennefer (BM 283)], Guglielmi/Dittmar: Anrufungen (s. Anm. 45), 136–137. 90 Pinch: Votive Offerings (s. Anm. 44), 251.

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4.2.2 Kritik an der Einschätzung der Amarna-Zeit als Wegbereiter persönlicher Frömmigkeit Den massiven Einfluss, welchen die Amarna-Zeit auf die persönliche Frömmigkeit der Ramessidenzeit gehabt haben soll, lehnt Morgan91 schon aus zeitlichen Gründen ab, da zwischen Echnaton und der Ramessidenzeit 50 Jahre, also knapp zwei Generationen, lagen. Sie geht davon aus, dass in der Ramessidenzeit eine sich schon länger entwickelnde Frömmigkeit mit einem »von der Tradition abweichenden, unkonventionellen Stil« literarisch greifbar wird, da sich damals »zum erstenmal schreibkundige Menschen artikuliert haben, die nicht dem hohen Beamtentum angehörten oder dem Kult nahestanden«.92 Morgan zeigt anhand des Standardwerkes zu Texten der persönlichen Frömmigkeit »Ägyptische Hymnen und Gebete«93 auf, dass Lobpreisformeln und göttliche Standardattribute in zwei Dritteln der Hymnen und Gebete, die zur persönlichen Frömmigkeit gezählt werden, anzutreffen sind. Sie sind weit zahlreicher vorhanden als die Wendungen der persönlichen Innerlichkeit, denn in »Ägyptische Hymnen und Gebete« fehlen diese in zwei Dritteln der Texte der persönlichen Frömmigkeit.94 Eine weitere Kritik stammt von John Baines und Elizabeth Frood, welche ihre Definition persönlicher Frömmigkeit der Assmanns entgegenstellen. Sie heben die Interaktion zwischen dem Menschen und einer Gottheit hervor, in welcher der Mensch Gott als wirkmächtig in seinem Leben ansieht, denn »piety may be defined as the sense of selection and active involvement between a deity and a human being or king […] the human worshipper states that the deity acted in a particular way toward him or her«.95 Ein Vergleich der Definitionen von Baines/Frood und Assmann zeigt, dass Baines/Frood »die Rolle des Menschen als aktiver Gestalter dieses Verhältnisses« und Assmann, »die göttliche Präsenz und deren Macht im Leben des Einzelnen«96 hervorheben. Dass letzteres durch eine Zeit der Krise, in der sich der Einzelne in seinem Handeln eingeschränkt weiß, Recht und Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt scheinen und er sich dem Schicksal ergibt, gefördert wird, liegt auf der Hand. Wolfgang Helck hält persönliche Frömmigkeit deshalb für einen Euphemismus, denn eigentlich kapituliert hier jemand »vor den übermächtigen chaotischen 91 92 93 94 95

Morgan: Untersuchungen (s. Anm. 41), 60. Morgan: Untersuchungen (s. Anm. 41), 60. Assmann: Ägyptische Hymnen (s. Anm. 67). Morgan: Einige Bemerkungen (s. Anm. 76), 336–337. John Baines/Elizabeth Frood: Piety, Change and Display in the New Kingdom, in: Mark Collier/Steven Snape (Hg.): Ramesside Studies in Honour of K. A. Kitchen, Bolton 2011, (1– 17) 3–4. 96 Luiselli: Die Suche (s. Anm. 42), 10.

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Stefan Fischer

Kräften innerhalb der ägyptischen Gesellschaft«.97 Damit kommt er zu einer negativen Wertung dessen, was für die Person, welche die Gottesnähe erfahren hat, etwas Positives ist, und steht in der Tradition, persönliche Frömmigkeit als Krisenreaktion anzusehen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Amarna-Zeit als Katalysator gedient haben mag, um eine schon lange vorhandene Haltung sichtbar zu machen und zu fördern. Ihre Bedeutung für die Entstehung der persönlichen Frömmigkeit sollte eher gering eingeschätzt werden.98

4.3

Die Ramessidenzeit – ein Zeitalter persönlicher Frömmigkeit

Innere Gottesgewissheit und äußere Verfolgung sollen nach Assmann die treibenden Kräfte einer persönlichen Frömmigkeit sein, so dass eine neue Weise der Gottesnähe in der Ramessidenzeit-Zeit zum Ausdruck kommt: »Meine These geht nun dahin, dass es genau die in dieser Dialektik erfasste Erfahrung der Verfolgungszeit ist, die den religiösen Daseinsstil der folgenden Epoche bestimmt, des ›Zeitalters der Persönlichen Frömmigkeit‹«.99 Diese persönliche Frömmigkeit, die als Gottesnähe erfahren wird, manifestiert sich laut Assmann so: Gott tritt jetzt in die Nachfolge des Königs des Mittleren Reichs und des Patrons der Ersten Zwischenzeit, während der Fromme die Rolle des Schwachen, Armen und Schutzbedürftigen übernimmt, und zwar völlig unabhängig von der realen gesellschaftlichen Position. Jetzt ist die Gottheit ihm Vater und Mutter, Vater der Waisen, Gatte der Witwe, Zuflucht der Bedrängten, Schutzwehr der Armen, der gute Hirte, der Richter der Armen, der den Elenden rettet vor den Stärkeren […] Das Vertrauen in eine Gerechtigkeit, die von Angst und Not befreit […] wird jetzt mit der Metapher des Schweigens ausgedrückt. Das Schweigen, […] wird jetzt zur Zentraltugend der Frömmigkeit. Es bezeichnet denjenigen, der sich Gottes Willen unterordnet und sich vertrauend in den Schutz der Gottheit begibt, d. h. […] »sich in die Hand Gottes setzt«.100

97 Wolfgang Helck: Politische Gegensätze im alten Ägypten. Ein Versuch (HÄB 23), Hildesheim 1986, 71. 98 Baines and Frood fassen zusammen, »that the Amarna period was one in which new rules and conventions came to govern styles of religious display on monuments, but it need not follow that the underlying religious attitudes and practices were new. The specific developments of Akhenaten were self-evidently new, but in some areas they may have imparted ideological and relatively public value to existing, perhaps long-established forms. Amarna was probably the catalyst for this display, but it remains uncertain how far it also brought change in basic religious conceptions or actions.« (Baines/Frood: Piety [s. Anm. 95], 7). 99 Assmann: Ägypten. Theologie (s. Anm. 38), 261. 100 Assmann: Ägypten. Sinngeschichte (s. Anm. 88), 264.

Persönliche Frömmigkeit. Gottesnähe im Alten Testament und in Ägypten

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In der Ramessidenzeit verändert sich das Verhältnis zwischen Gott und dem König, und dem Fest kommt eine erweiterte Bedeutung zu. Eine innere Bedrohung erwuchs dem Königtum durch den Aufstieg Amuns zum Staatsgott. Materiell wurde das Königtum gestärkt, denn Amun war sein Schutzherr. Als Amun-Re stieg er auf und übernahm solare und kosmische Aspekte des Re sowie immer mehr Tätigkeiten anderer Götter.101 Die drei Dimensionen der Gottesnähe (kultisch, kosmisch, mythisch) 102 werden auf die Kosmische reduziert und eine neue Form der Gottesnähe setzte sich als »vierte Dimension«103 durch. Handelten die Götter zuvor vermittelt durch das Königtum, so kann Amun unmittelbar in der Geschichte erfahren werden. In den Sonnenhymnen des Neuen Reiches wird Amun-Re als Hauptgott verehrt, dem die anderen Götter zusammen mit Menschen und Tieren gegenüberstehen.104 Und seine Einheit und Einzigkeit Gottes proklamiert: 5 Du bist der Eine, dies alles ist unter deinem Befehl […] 9 Du bist allein, aber Himmel und Erde sind gegründet unter dir, 10 es gibt keinen außer dir. 11 Deine Ebenbilder sind »unsere« Tempel, jeder Gott ist dein Schatten […] 23 Was du bestimmt hast, geschieht.105

Assmann vermutet, dass sich diese Gottesnähe im Fest des Neuen Reiches zeigt: Das Fest ermöglicht dem einzelnen nicht nur eine unmittelbare Gottesbeziehung, sondern bestimmt auch seine soziale und politische Zugehörigkeitsstruktur […]. Im Laufe des Neuen Reichs aber tritt an die Stelle des Königs als Herrn des Begräbnisses der Gott, und zwar der Stadtgott. […] An die Stelle des Königsdienstes und der Königsloyalität treten Gottesdienst und Gottesloyalität. […] Der Fromme hält sich an die Stadt seines Gottes. Der Lohn für ein solches Leben ist ein schönes Begräbnis, das nun ganz in die Hand Gottes gelegt wird […].106

Wenn auch eine Häufung der Festteilnahme im Neuen Reich belegt ist, so wird die Gottesnähe im Fest schon im Mittleren Reich bezeugt. Luiselli107 führt insbesondere zu Stele Bologna EG 1911 aus, wie sowohl auf der Textebene als auch auf der Bildebene dieser Privatstele die Erfahrung der Gottesnähe im Fest gefeiert wird und zitiert: »Min viermal anbeten bei seinem Auszug.«108

101 102 103 104 105 106 107 108

Vgl. Bickel: Theologie (s. Anm. 85), 46–53. Assmann: Ägypten. Theologie (s. Anm. 38), 16. Assmann: Ägypten. Theologie (s. Anm. 38), 254. Assmann: Ägypten. Sinngeschichte (s. Anm. 88), 241–242. Ägyptische Hymnen und Gebete, Anhang, Nr. 1 (557 A.). Assmann: Ägypten. Sinngeschichte (s. Anm. 88), 262–263. Luiselli: Die Suche (s. Anm. 42), 52. Luiselli: Die Suche (s. Anm. 42), 315, Stele Bologna EG 1911 (Taf. 1).

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Stefan Fischer

Gottesverehrung im Fest, insbesondere der Prozession, ist ein öffentlicher Anlass. Inwieweit es auch ein Akt persönlicher Frömmigkeit ist, kann schwer beurteilt werden. Jedoch lässt sich zeigen, dass private Festkalender nicht mit offiziellen übereinstimmen. Das ist aber nicht zwingend ein Ausdruck persönlicher Frömmigkeit, sondern der folk religion.

4.4

Ma’at und persönliche Frömmigkeit

4.4.1 Ma’at im Kontext konnektiver Gerechtigkeit Im Ordnungsgefüge der Ma’at kommt es zu einer tiefgreifenden Veränderung. Die Ordnung der Welt, die als konnektive Gerechtigkeit angesehen wird und in den Bibelwissenschaften unter den Begriffen »Tun-Ergehen-Zusammenhang« oder »Tat-Folge Zusammenhang« diskutiert wird, wird personalisiert. Sie fordert den Menschen zu einem tadellosen Leben heraus. Keine Schuld auf sich zu laden entspricht dem ägyptischen Ideal des Menschen, der sich der Ma’at, die personifiziert als Mittler zwischen Gott und Mensch angesehen werden konnte, verpflichtet weiß. Die Ma’at sitzt im Totengericht in der einen Waagschale,109 so leicht wie eine Feder, und in der anderen liegt das Herz110 des Einzelnen, der sich der Wahrheit und Ordnung vollkommen verpflichtet wusste. Diese Haltung fand etwa im Totenbuch Spruch 125 seinen Niederschlag. Vor zweiundvierzig göttlichen Totenrichtern mussten die negativen Schuldbekenntnisse bestanden werden. Diese mündeten in eine Schlussrede, in der sich der Verstorbene brüstet, mit seinem Leben die Götter zufrieden gestellt zu haben: Ich bin zu euch gekommen, ohne Sünde, ohne Verbrechen, ohne Böses, ohne Anklage; es gibt keinen, gegen den ich Böses getan hätte. Ich lebe von der Wahrheit, ich ernähre mich von der Wahrheit. Ich habe das getan, was die Menschen sagen und womit die Götter zufrieden sind – Ich habe Gott mit dem, was er liebt, zufriedengestellt.111

109 Vgl. im Totenbuch Spruch 125, 3,32: »Waagschale, in der Maat gewogen wird« (Boyo Ockinga [Hg. und Übers.]: Totenbuch, Kapitel 125, in: TUAT 2,4, CD-Rom, Gütersloh 2005, [510–518] 517). 110 So z. B. in der Lehre des Papyrus Insinger, 5,7.8: »Gott legt das Herz auf die Waage als Gegengewicht. Er erkennt den Gottlosen und den Gottesfürchtigen am Herzen.« (Heinz J. Thissen [Hg. und Übers.]: Die Lehre des P. Insinger, in: TUAT 3,2, CD-Rom, Gütersloh 2005, [280–319] 286). 111 Totenbuch Spruch 125, 3,9–10 (TUAT 2,4, 515 O.).

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Sein rechtes Leben äußert sich im ethisch korrekten Handeln: »Ich habe Brot dem Hungrigen und Wasser dem Dürstenden gegeben, Kleider dem Nackten und ein Fährboot dem, der kein Boot hatte.«112 4.4.2 Ma’at als Loyalität zu Gott Die Unschuld und das Wiegen des Herzens werden im Loyalismus des Mittleren Reiches als Loyalität gegenüber dem König, der für einen sorgt, verstanden.113 In seinem Herzen trifft der Einzelne seine Entscheidung, die auf den König ausgerichtet ist: »Verehrt den König im Innern eures Leibes! Vertraut euch seiner Majestät in euren Herzen. Er ist SIA, der in den Herzen ist«114. Da der König als Sia, der Gott der Erkenntnis, gepriesen wird, erscheint er hier als göttliche Hypostase.115 Nun kommt es zu zwei Verschiebungen. An die Stelle des Königs tritt Gott, und die Gegenseitigkeit wird durch einen direkten Gottesbezug ersetzt. Bereits in der Lehre für Merikare deutet sich diese Haltung an, wenn es dort in Bezug auf Gott heißt, »wenn sie weinen, hört er«116. Jedoch ist sie dort noch eingebettet in ein Ordnungsgefüge, in welchem dem König eine Mittlerrolle zwischen Gott und Mensch zukommt, denn, »er schuf ihnen Herrscher ›im Ei‹ und Machthaber, um den Rücken des Schwachen zu stärken«117. Dort, wo der König aus dieser Mittlerrolle verdrängt wird und Gott zu einem Gott des Einzelnen wird, kommt es zu einer »›inneren Theokratie‹, die Errichtung der Gottesherrschaft im eigenen Herzen«118. Diese trägt auch dort durch, wo die äußeren Umstände nicht mehr tragen. So kommt es in der persönlichen Frömmigkeit, welche alle Herrscherbezüge hinter sich gelassen hat, sowohl zum Preis des Schöpfers, in dem sogar das Ei wieder Erwähnung findet, als auch zum Ausdruck der Gottesnähe durch die Metapher »in der Hand Gottes« zu sein: Der dem, der im Ei ist, Luft gibt, der Fische und Vögel am Leben erhält. Der für die Mäuse sorgt in ihren Höhlen Und für Würmer und Flöhe gleichermaßen

112 113 114 115 116 117 118

Totenbuch Spruch 125, 3,11 (TUAT 2,4, 515 O.). Assmann: Weisheit (s. Anm. 66), 48. Ägyptische Hymnen und Gebete, Nr. 226,13 (511 A.). Assmann: Ägyptische Hymnen und Gebete (s. Anm. 67), 512. Merikare P 135 nach Assmann: Weisheit (s. Anm. 66), 50. Merikare P 136 nach Assmann: Weisheit (s. Anm. 66), 50. Assmann: Weisheit (s. Anm. 66), 51.

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Er gebe ein schönes Begräbnis nach dem Alter, indem ich wohlbewahrt bin in deiner Hand […] 119

4.4.3 Ma’at als Leben in der Gunst Gottes In den Lebenslehren des Neuen Reiches bleibt die Ma’at zwar die ethische Richtschnur, nimmt aber keine Mittlerfunktion ein, sondern ist der personalisierte Ausdruck des göttlichen Willens. Das der Ma’at gemäße Leben wird in einer Gott-Mensch-Beziehung durch die Gunst Gottes ersetzt.120 So richtet sich der Mensch in Weisheit und mit Frömmigkeit auf den Willen Gottes aus.121 Diese Haltung, die ansatzweise in der Lehre des Ptahhotep und der Lehre des Ani aufgezeigt wurde,122 tritt besonders in der Lehre des Amenemope hervor. In ihr findet sich eine »individuelle Gottbezogenheit des Handelns und Ergehens«,123 welche Gott als Urheber eines gelungenen Lebens ansieht. Hier vergewissert sich der Einzelne durch seinen unmittelbaren Gottesbezug der göttlichen Gunst. Die Ma’at wird zur »Großen Gabe des Gottes, er gibt sie, wem er will« (Amenemope 21,5–6).124 Der gesellschaftliche Erfolg tritt hinter dem persönlichen Ergehen zurück.125 Zufriedenheit und Wohlergehen sind angesichts wechselnder Lebensumstände, die individuelle Unsicherheit und den sozialen Abstieg bedeuten, erstrebenswert.126 Der Mensch überlässt sich in der Metapher des Schiffes ganz der Führung Gottes: »Mache dich gewichtig in deinem Herzen, festige dein Herz, steure nicht mit deiner Zunge. Die Zunge des Menschen / das ist das Steuerruder des Schiffes;127 der Allherr128 ist sein Pilot« (Amenemope 20,3–6 [TUAT 3,2, 243 S.-G.]). Die Lehre des Amenemope wurde für verschiedene alttestamentliche Texte herangezogen. Kurz nach der Entdeckung der Lehre des Amenemope stellt 119 Ägyptische Hymnen und Gebete, Nr. 169,20–25 (395 A.). 120 Vgl. Stefan Fischer: Egyptian Personal Piety and Israel’s Wisdom Literature, in: AcT(V) 21 (2001), (1–24) 9–12. 121 Vgl. Heike Sternberg-el Hotabi: »Weisheitstexte« in ägyptischer Sprache. Einleitung, in: TUAT 3,2, CD-Rom, Gütersloh 2005, (191–194) 192–193. 122 Vgl. Luiselli: Religion und Literatur (s. Anm. 73), 159–164. 123 Assmann: Weisheit (s. Anm. 66), 12 (Anm. 2). 124 Irene Shirun-Grumach (Hg. und Übers.): Die Lehre des Amenemope, in: TUAT 3,2, CDRom, Gütersloh 2005, (222–250) 244. 125 Diese Frömmigkeit der Bildungsweisheit erinnert an das, was Albertz als persönliche Theologie einer frommen Oberschicht ansieht, welche die »ethische Verantwortung hat in der sozialen Krise über alle Enttäuschungen« (Albertz: Religionsgeschichte [s. Anm. 61], 574) hinweg zu helfen. 126 Vgl. Sternberg-el Hotabi: »Weisheitstexte« (s. Anm. 121), 193. 127 Die Metapher der Zunge als Steuerruder eines Schiffes hat sprichwortartigen Charakter und fand Eingang ins Neue Testament (Jak 3,4–5). 128 Eine Bezeichnung für den Sonnengott. Vgl. Shirun-Grumach: Die Lehre (s. Anm. 124), 243 (Anm. zu XX 3a).

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Erman die These auf, Amenemope sei eine Quelle der Sprüche Salomos.129 Dabei geht es vor allem um Spr 22,17–24,22. Unterdessen werden verschiedene Abhängigkeitsverhältnisse diskutiert.130 Jedenfalls ist von einer Wirkung auf alttestamentliche Texte auszugehen. Dies zeigt sich in der Verwendung gleicher Motive und in der Ausrichtung auf die Gunst Gottes.131 Dazu einige Beispiele: 1. Das freie Handeln Gottes in Bezug auf den Menschen. Eines sind die Worte, die die Menschen sprechen, ein anderes ist das, was der Gott tut. (Amenemope 19,16.17) Das Herz des Menschen plant seinen Weg, aber der JHWH bestimmt seinen Schritt. (Spr 16,9)

2. Eine Frömmigkeit, die sich in den Willen Gottes ergibt. Besser ist die Armut aus der Hand des Gottes als Reichtum im Vorratshaus. (Amenemope 9,5.6) Besser wenig in der Furcht JHWHs als viel Reichtum und Unruhe dabei. (Spr 15,16)

3. Eine Betonung des redlichen Handelns vor Gott, denn wer sich vergeht, bricht nicht nur das Gesetz, sondern vergeht sich gegen Gott, der persönliche moralische Instanz geworden ist. Sprich nicht lügnerisch mit einem Menschen; das ist der Abscheu des Gottes. (Amenemope 10,15–16) Dem Gott verhasst ist das Verfälschen der Rede, sein großer Abscheu ist der Aufruhr des Inneren. (Amenemope 14,2–3) Benachteilige nicht einen Menschen durch die Feder auf der Buchrolle; das ist der Abscheu des Gottes. (Amenemope 15,20–21) Ein Abscheu für JHWH sind Lippen der Lüge; wer aber Wahrhaftigkeit ausübt, hat sein Gefallen. (Spr 12,22) Ein Abscheu für JHWH sind die mit verdrehtem Herzen; aber sein Gefallen haben die vollkommenen Weges. (Spr 11,20) Ein Abscheu für JHWH sind Stein und Stein [d. h. zweierlei Gewichtsteine], und nicht gut sind Waagschalen des Truges. (Spr 20,23)

129 Adolf Erman: Eine ägyptische Quelle der Sprüche Salomos, in: SPAW.PH (1924), 86–93. 130 Zur Diskussion siehe die Zusammenstellung bei Vincent Pierre-Michel Laisney: Amenemope, Lehre des, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2009, verfügbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/66897/ [15. 06. 2016]. 131 Vgl. die Zusammenstellung bei Shirun-Grumach: Die Lehre (s. Anm. 124), 224 (Anm. 16). Sie nennt u. a. die Baumallegorie und das Töpferbild und die im Folgenden aufgeführten Beispiele mit Literaturangaben.

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Stefan Fischer

Persönliche Frömmigkeit im Alten Testament und in Ägypten

1. Die Verwendung des Wortfeldes »fromm« erweist sich nicht nur aus Gründen der Sprachentwicklung als missverständlich, sondern trifft in den meisten Kontexten nicht das Element der Gottesnähe. Von den vier Bereichen alttestamentlicher Frömmigkeit kommt »treu/loyal sein« dem Verständnis der Frömmigkeit als individueller Gottesnähe am nächsten. Doch gerade dieser wird fast nie mit »fromm« übersetzt. Persönliche Frömmigkeit wird in den Psalmen nicht als »fromm« charakterisiert, sondern als Sehnsucht nach – oder Erfahrung von – Gottesnähe in äußerer Bedrohung geäußert (Ps 69,19; 73,28; 119,150–151). 2. Die frühe Verwendung der Ma’at im Kontext des Totengerichts benötigt das rechte Leben und die dazugehörige Religionsausübung, aber keinen persönlichen Gottesbezug. Wie oben gezeigt wurde, gibt es Textstellen im Alten Testament, die Frömmigkeit mit ‫» תמם‬vollkommen sein/schuldlos sein« identifizieren. Die dort geprägte Erwartungshaltung zeigt sich insbesondere im sog. Reinigungseid Hiobs, der sowohl ein negatives Sündenbekenntnis als auch seine guten Taten hervorhebt (Hi 31,1–40) und sogar das Bild der Waage im Gericht aufnimmt (Hi 31,6).132 Wenn Hiob als ‫» תמם‬vollkommen sein/schuldlos sein« bezeichnet wird, so führt er ein gerechtes Leben nach den Ordnungen. Im Gerichtskontext werden seine Gerechtigkeit (‫)ֶצֶדק‬, welche in etwa der Ma’at entspricht, und seine Unschuld (meine Unschuld: ‫ ) ֻתּ ָמִּתי‬anerkannt werden (Hi 31,6). Da ‫ תמם‬in der Lutherbibel, und zwar auch im Buch Hiob, mehrfach mit »fromm« übersetzt wird, kommt ein Frömmigkeitsverständnis zum Ausdruck, welches für den modernen Leser den Eindruck persönlicher Frömmigkeit erwecken könnte. Aber vom Begriff her geht es nicht um die persönliche Gottesnähe. Diese zu finden ist eine Errungenschaft des Argumentationsgangs, denn erst im Erkennen der Größe und Übermächtigkeit Gottes kommt es zu Selbsterkenntnis und Reue und so zu einem neuen Gottesverhältnis, welches auf die Intervention Gottes hofft (Hi 42,5–6.10). Einen Übergang stellt Spr 11,20 dar. Wie in der Lehre des Amenemope ist der Einzelne auf die Gunst Gottes angewiesen, aber sein Lebenswandel (‫) ְתִּמיֵמי ָדֶרְך‬ wird hier mit der Wegmetapher und dem Vollkommenheitsbegriff ‫ תמם‬beschrieben. 3. Die Erfahrung des Verlustes einer konnektiven Gerechtigkeit kann in Zeiten der Krise zu einer Gottesnähe führen, die sich auf Gott allein ausrichtet. Diese Haltung, die in vielen ägyptischen Hymnen und Gebeten der Ramessidenzeit ausgesprochen wird, findet sich auch in weisheitlichen Individualpsalmen: 132 Vgl. Ronald E. Murphy: The Book of Job. A Short Reading, New York 1999, 74.

Persönliche Frömmigkeit. Gottesnähe im Alten Testament und in Ägypten

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»Wenn ich mit Dir bin, so habe ich an nichts Gefallen auf der Erde. […] Ich aber: Gott nahe zu sein ist gut für mich« (Ps 73,25.28). Dabei kann der Bezug zum Kultort bestehen bleiben. Dem Psalmbeter kommt seine innere Erkenntnis im Heiligtum Gottes (Ps 73,17). Hier findet sich, wie im Gebet des Schreibers Simut (Ägyptische Hymnen und Gebete, Nr. 173), eine individualisierte und zugleich institutionalisierte Frömmigkeit.133 4. Die Untersuchung von Morgan hat gezeigt, dass man nur sehr zurückhaltend von typischen Formeln und Wendungen persönlicher Frömmigkeit sprechen sollte, da diese quantitativ nicht repräsentativ sind und sowohl im Zusammenhang des Vertrauens als auch in dem einer konnektiven Gerechtigkeit von Gabe und Gegengabe stehen.134 Dies mahnt zur Vorsicht, hinter den etwa 80 Individualpsalmen des Alten Testaments einen individuellen Menschen in seiner persönlichen Frömmigkeit zu sehen, denn auch hier herrschen typische und allgemeine Aussagen vor.135 In Ägypten wird persönliche Frömmigkeit in standardisierten Formeln individueller Gottesnähe ausgedrückt. Diese Abkehr von der Betonung individualisierender Phrasen mahnt zur Vorsicht gegenüber der Innerlichkeit als Ausdruck persönlicher Frömmigkeit. Die Zeugnisse ägyptischer Frömmigkeit zeigen ihren Bezug zum Kult durch den Gebrauch von Standardattributen und Lobpreisformeln. Diese Beobachtung ist für die Bibelwissenschaften noch auszuwerten, indem die Epitheta, Beinamen und Titel Gottes in den Psalmen zusammengestellt und ihre Verwendung in Äußerungen persönlicher Frömmigkeit analysiert werden. Denn eine Frömmigkeit, die sich individuell auf Gott ausrichtet und zugleich gottesdienstlich und damit öffentlich ist, hat in den Psalmen weite Verbreitung. Insofern intendiert die »Tempelfrömmigkeit« eine umfassende Alltagsspiritualität,136 so dass die Ausgangsbasis, dass persönliche Frömmigkeit als pieté, Ehrfurcht und dévotion, Gottergebenheit individuell-religiöse Gottesnähe sei, weder auf eine Haushaltsreligion beschränkt noch gegen die soziale Dimension der (Kult-) Gemeinschaft abgegrenzt werden kann. 5. Die persönliche Gottesnähe, die in Ägypten durch die Krise vor der Ramessidenzeit verstärkt aufkam, führte nicht zu einer individualistischen Trennung 133 Assmann geht noch einen Schritt weiter und spricht von »einer existierenden Institution der Gott-Mensch-Beziehung« (Assmann: Ägypten. Sinngeschichte [s. Anm. 88], 267) und vergleicht dieses mit der israelitischen Bundestheologie, nur dass dort ein ganzes Volk seine Beziehung zu Gott institutionalisiert. Hier wird mit »Bund« ein weiteres Konzept eingeführt, welches nicht Teil der persönlichen Frömmigkeit ist. 134 Morgan: Einige Bemerkungen (s. Anm. 76), 336–339. 135 Vgl. Klaus Seybold: Die Psalmen. Eine Einführung (UTb 382), Stuttgart 21991, 130. 136 Hossfeld/Zenger: Psalmen (s. Anm. 24), 519.

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Stefan Fischer

vom Kult, sondern zu individuellen Äußerungen der Gottesnähe, in welcher sich andere Betende einfinden konnten. Diese Ausdrucksformen persönlicher Frömmigkeit sind im Unterschied zur popular religion und zur folk religion in Übereinstimmung mit der Gottesverehrung im offiziellen Kult. Persönliche Frömmigkeit ist keine simple Laienfrömmigkeit, die in den Bereich der popular religion gehört. Auf der literarischen Ebene ist sie nicht Ausdruck der Armenschicht, sondern liegt auf einem hohen ästhetisch-literarischen Niveau. Eine eigenständige »Armenfrömmigkeit« gehört in Ägypten nicht zur persönlichen Frömmigkeit, sondern bleibt im Bereich von folk und popular religion. 6. Übereinstimmung besteht in der Ägyptologie und den Bibelwissenschaften darin, »dass individualisierende Tendenzen nicht notwendigerweise in das Spätoder Endstadium einer Religion gehören. In der persönlichen Frömmigkeit wird das religiöse Leben des Einzelnen nicht erst geschaffen, sondern erhält nur eine Intensivierung und Höherbewertung.«137

137 Albertz: Persönliche Frömmigkeit (s. Anm. 51), 9.

Annette Schellenberg

Was charakterisiert einen Frommen? Antworten des Hiobbuchs

Zahlreiche Bibelübersetzungen verweisen in der Überschrift zu Hi 1,1–5 auf die »Frömmigkeit« Hiobs,1 andere auf seine »Gerechtigkeit« o. ä.2 Im hebräischen Text fällt weder das eine noch das andere Stichwort, Hiobs vorbildliches Verׁ ָ ָ‫)י‬, halten wird vielmehr über die vier Begriffe »schuldlos« (‫)ָּתם‬, »aufrecht« (‫שר‬ »gottesfürchtig« (‫ )יְֵרא ֱאל ִֹהים‬und »das Böse meidend« (‫ )ָסר ֵמָרע‬sowie einen Hinweis auf seine Opfertätigkeit beschrieben. Dass die einen Bibelübersetzungen diese Charakterisierung als »Frömmigkeit« zusammenfassen, die anderen aber als »Gerechtigkeit«, hängt mit Unterschieden zwischen der deutschen und der hebräischen Sprache zusammen: Die hebräische Wurzel ‫ צדק‬hat ein bedeutend größeres Bedeutungsspektrum als das deutsche »Gerechtigkeit« (»gerecht/Gerechter«), dafür gibt es im Hebräischen für »Frömmigkeit« (»fromm/Frommer«) kein Wort,3 sondern nur den Begriff »Gottesfucht« (‫ יְִרַאת ֱאל ִֹהים‬u. ä.), der einerseits enger ist als das deutsche »Frömmigkeit«, anderseits aber häufig auch im gleichen Zusammenhang wie (»Weisheit« und) »Gerechtigkeit« gebraucht wird.4 So wie im Deutschen zu »Frömmigkeit« auch ein (im Sinn der Hebräischen Wurzel

1 Vgl. so die Zürcher Bibel, Luther Bibel, Gute Nachricht, Menge-Bibel. 2 Vgl. so die Elberfelder Bibel, Einheitsübersetzung (»Rechtlichkeit«), Schlachter Bibel (»Rechtschaffenheit«). 3 Entsprechend ist in der alttestamentlichen Wissenschaft auch nur selten allgemein von »Frömmigkeit« die Rede, und das Stichwort fehlt in vielen alttestamentlichen Wörterbüchern (wie etwa dem »Anchor Bible Dictionary« und dem »Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament«; vgl. aber bald Stefan Fischer: Art. Frömmigkeit, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet [www.wibilex.de]). Wenn in der alttestamentlichen Wissenschaft von »Frömmigkeit« gesprochen wird, dann meist in Wortverbindungen, die diese genauer spezifizieren (wie z. B. »Torafrömmigkeit«, »Tempelfrömmigkeit«, »individuelle Frömmigkeit«). 4 Aufschlussreich sind die Parallel- und Gegenbegriffe: »Gottesfurcht« (»Gott fürchten« etc.) wird im Hiobbuch zusammen mit »schuldlos/schuldlosem Wandel« (‫ ;ֹּתם‬1,1.8; 2,3; 4,6), ׁ ָ ָ ‫ ;י‬1,1.8; 2,3), »Bosheit/Böses (meiden)« (‫ ;סוּר ֵמָרע‬1,1.8; 2,3; 28,28; ‫ ;ָרָעה‬22,4–5), »aufrecht« (‫שר‬ »Andacht vor Gott« (‫ ;ִׂשיָחה ִלְפנֵי־ֵאל‬15,4) sowie »Weisheit« (‫ ;ָחְכָמה‬28,28) gebraucht. Von der Tendenz her entspricht dies dem Befund in den anderen Weisheitsbüchern.

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‫ )צדק‬gerechtes bzw. gottgefälliges Verhalten gehört, so gehört im Hebräischen zu »Gerechtigkeit« auch die Frömmigkeit. Die soeben gemachten Beobachtungen zeigen, dass Begriffsdefinitionen schwierig sind, insbesondere auch, wenn man über Texte schreibt, die in einem anderen Kulturraum entstanden sind. In diesem Aufsatz soll es daher nicht um Begriffsdefinitionen gehen, sondern um einen konkreten Fall: Hiob bzw. das Hiobbuch. Hiob nämlich ist für seine Frömmigkeit/Gerechtigkeit5 berühmt (vgl. auch Ez 14,14.20) 6 – und entsprechend eignet sich das Hiobbuch, um an einem Fallbeispiel zu untersuchen, wie Frömmigkeit/Gerechtigkeit im Alten Testament konkret vorgestellt ist.7 Vordergründig sind sich im Hiobbuch alle einig, was einen Frommen charakterisiert. Zwischen den Zeilen aber erweist sich die Frage als kontrovers.

1

Allgemeines

Während sich Hiob und seine Freunde darüber streiten, ob Hiob an seinem Schicksal selbst schuld ist, wissen die Lesenden des Buchs ab dem ersten Vers, dass Hiob moralisch über jeden Zweifel erhaben ist.8 Die im Prolog insgesamt 5 Aufgrund der einleitend genannten Schwierigkeiten werden die beiden Wörter im Folgenden häufig wie hier mit Schrägstrich zusammen genannt. 6 Die Frömmigkeit/Gerechtigkeit Hiobs wird v. a. im Prolog betont, im Dialogteil hingegen bestreiten die Freunde, dass er fromm/gerecht ist, und er wird in einer Art charakterisiert (Protest gegen Gott), die fragen lässt, ob dieses Verhalten noch fromm/gerecht ist (s. u. 3). In der Rezeptionsgeschichte des Hiobbuchs wurde lange Zeit v. a. das Hiobbild des Prologs rezipiert. Vom rebellischen Hiob war nur noch selten die Rede, Hiob wurde vielmehr noch stärker als im Hiobbuch als Inbegriff des Frommen/Gerechten gezeichnet; vgl. Ernst Dassmann: Art. Hiob, in: RAC 15 (1991), 366–442; Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Hiob in jüdischer Antike und Moderne. Die Wirkungsgeschichte Hiobs in der jüdischen Literatur, NeukirchenVluyn 2003; Wolfram Reiss: Die Rezeption der Gestalt des Propheten Hiob im Islam, in: Wiener Jahrbuch für Theologie 8 (2010), 325–332; Stefan Schreiner: Der gottesfürchtige Rebell oder Wie die Rabbinen die Frömmigkeit Ijobs deuteten, in: ZThK 89 (1992), 159–171; Karla R. Suomala: The Taming of Job in Judaism, Christianity, and Islam, in: WorWor 31 (2011), 397– 408; Joanna Weinberg: Job Versus Abraham. The Quest for the Perfect God-Fearer in Rabbinic Tradition, in: Willem A. M. Beuken (Hg.): The Book of Job (BEThL 114), Leuven 1994, 281–296. 7 Das Hiobbuch ist dabei keineswegs repräsentativ für das gesamte Alte Testament. Im Vergleich zu anderen Büchern bleibt v. a. der Bereich des Kults (Besuch im Heiligtum, Opfer, etc.) unterbetont. Vgl. dazu auch Manfred Oeming: Hiob 31 und der Dekalog, in: Willem A. M. Beuken (Hg.): The Book of Job (BEThL 114), Leuven 1994, (362–368) 366, der im Blick auf Hi 31 feststellt, dass »überhaupt alle kultischen Gebote fehlen. Über Opfer, Tempelabgaben, Wallfahren etc. sagt Hiob bei seiner Gewissensprüfung nichts. Das mag daran liegen, daß in der Fiktion des Buchs Hiob […] ein Nicht-Israelit, ein Ausländer ist, der zu spezifischen jüdischen Kulthandlungen nicht verpflichtet wäre. Andererseits ist es doch […] bemerkenswert […], daß der ideale Weise ohne jegliche Einbindung in den jüdischen Kult dargestellt werden kann.« 8 Dass es nach dem Prolog gerade Hiobs außerordentliche Frömmigkeit/Gerechtigkeit ist, durch

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dreimal wiederholte (1,1.8; 2,3) Beschreibung Hiobs als »schuldlos« (‫)ָּתם‬, »aufׁ ָ ָ‫)י‬, »gottesfürchtig« (‫ )י ְֵרא ֱאל ִֹהים‬und »das Böse meidend« (‫)ָסר ֵמָרע‬ recht« (‫שר‬ charakterisiert ihn als den Inbegriff eines frommen/gerechten Menschen.9 Auffällig ist höchstens, wie stark Hiobs Frömmigkeit/Gerechtigkeit betont wird (s. u. 3); derart in den Himmel gelobt wird im AT sonst nämlich niemand.10 Im Fortgang des Prologs liegt das Augenmerk primär auf der Gottesfurcht Hiobs, insbesondere auf der Frage, ob er Gott lästert, wenn dieser ihm den Segen entzieht (s. u. 3). In den Dialogen zwischen Hiob und seinen Freunden und in Hiobs Anklagen gegen Gott aber geht es wie bei den vier Begriffen um das gesamte Spektrum menschlichen Verhaltens. Auch hier finden sich häufig Allgemeinaussagen, in denen nicht spezifiziert wird, was genau unter frommem/ gerechtem bzw. frevlerischem Verhalten vorgestellt ist. Das hängt damit zusammen, dass die Antwort auf diese Frage im Hiobbuch – vordergründig (s. u. 3) – als unkontrovers vorausgesetzt ist und sich die Diskussion darauf konzentriert, warum ein Frommer/Gerechter leiden muss.

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Konkretes

Trotz (scheinbarer) Einigkeit über das Grundverständnis von Frömmigkeit/Gerechtigkeit finden sich im Hiobbuch neben Allgemeinaussagen auch konkrete Beispiele von frommem/gerechtem bzw. frevlerischem Verhalten. Die Freunde nämlich nehmen Hiob seine Frömmigkeit/Gerechtigkeit nicht ab, sondern beschuldigen ihn, an seinem Leiden selbst schuld zu sein. Mit zunehmender Hefdie Gott und der Satan auf ihn aufmerksam werden, ist nochmals eine andere Geschichte (s. u. 3). 9 Alle vier Begriffe sind gebräuchlich und finden sich auch sonst im Hiobbuch. Für ‫( ָּתם‬sowie ׁ ָ ָ ‫ י‬vgl. 4,7; die verwandten Wörter ‫ ֹּתם‬und ‫ )ֻּתָּמה‬vgl. Hi 2,3.9; 4,6; 8,20; 9,20–22; 27,5; 31,6; für ‫שר‬ 8,6; 17,8; 23,7 (sowie 33,27); für ‫ יְֵרא ֱאל ִֹהים‬bzw. ‫ י ְִרַאת ֱאל ִֹהים‬u. ä. vgl. 4,6; 6,14; 15,4; 22,4; 28,28; für ‫ ָסר ֵמָרע‬vgl. 28,28. Alle vier Begriffe beschreiben Hiobs Untadeligkeit in einem umfassenden Sinn, haben dabei aber je verschiedene Konnotationen. Etwas vereinfacht könnte man zuׁ ָ ָ ‫( י‬ähnlich wie ‫ )ַצִּדיק‬die sammenfassen, dass ‫ ָּתם‬die persönliche Untadeligkeit betont, ‫שר‬ Untadeligkeit im Verhältnis zu anderen, ‫ י ְִרַאת ֱאל ִֹהים‬die religiöse Untadeligkeit und ‫ ָסר ֵמָרע‬die ethische Untadeligkeit; vgl. so Choon-Leong Seow: Job 1–21. Interpretation and Commentary ׁ ָ ָ ‫ י‬vgl. auch Stefan Fischer: (Illuminations), Grand Rapids 2013, 253. Allgemein zu ‫ ֹּתם‬und ‫שר‬ Persönliche Frömmigkeit. Gottesnähe im Alten Testament und in Ägypten, in diesem Samׁ ָ ָ‫ י‬neben der moralischen melband, 15–17. Eigens zu beachten ist, dass sowohl ‫ ָּתם‬als auch ‫שר‬ auch an die körperliche Integrität denken lassen; ausführlicher dazu vgl. Annette Schellenberg: »Mein Fleisch ist gekleidet in Maden und Schorf« (Hi 7,5). Zur Bedeutung des Körpers im Hiobbuch, in: Gregor Etzelmüller/Annette Weissenrieder (Hg.): Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie (TBT 172), Berlin/New York 2016, (95–126) 103 (mit Anm. 25). 10 Vgl. Athalya Brenner: Job the Pious? The Characterization of Job in the Narrative Framework of the Book, in: JSOT 43 (1989), (37–52) 39–41.

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tigkeit der Diskussion werden ihre Beschuldigungen immer direkter und konkreter, was Hiob zu entsprechenden Verteidigungen herausfordert. Besondere Beachtung verdient Hi 31, wo Hiob im Detail darlegt, was für ihn vorbildliches Verhalten bedeutet.11 Dieses Kapitel ist in mehrfacher Hinsicht typisch für die Ethik des Hiobbuchs insgesamt. Hiob beschreibt seine Frömmigkeit/Gerechtigkeit in Kap. 31 darüber, welche Untaten er nicht begangen hat. In unterschiedlicher Ausführlichkeit thematisiert er Lüsternheit und Ehebruch (31,1.9), Betrug (31,5), Missachtung von Rechtsansprüchen (31,13), Unterdrückung/Missachtung von sozial Schwächeren (31,13.16–21; vgl. auch 31,31), Gier und Überbewertung von Geld und Vermögen (31,7.24–25), Anbetung von Sonne und Mond (31,26–28), Schadenfreue und Verfluchung des Feindes (31,29–30), unterlassene Gastfreundschaft (31,31–32) sowie Heuchelei bzw. Vortäuschung von Gerechtigkeit (31,33–34). Die negative Form der Darlegung der Ethik ist in Kap. 31 gattungsbedingt (»Reinigungseid«),12 sie ist aber auch typisch für das Hiobbuch bzw. die alttestamentliche Weisheit insgesamt. Diese nämlich beschäftigt sich primär darum mit ethischen Fragen, weil es wichtig ist, dass sich der Fromme/Gerechte nichts zuschulden kommen lässt; Visionen von einer besseren Welt hingegen werden in der Regel nicht verfolgt.13 Das gilt insbesondere auch, wo es um das Verhalten den sozial Schwächeren gegenüber geht. Im Hiobbuch zeigt das besonders deutlich 30,1–2, wo Hiob zugibt, dass er schwache und ihm nichts nützende Menschen »verachtet« (‫)ָמַאס‬ 11 Zu Hi 31 vgl. Michael Brennan Dick: Job 31, The Oath of Innocence, and the Sage, in: ZAW 95 (1983), 31–53; ders.: The Legal Metaphor in Job 31, in: CBQ 41 (1979), 37–50; Georg Fohrer: The Righteous Man in Job 31, in: James L. Crenshaw/John T. Willis (Hg.): Essays in Old Testament Ethics (J. Philip Hyatt, In Memoriam), New York 1974, 1–21; Andreas KunzLübcke: Hiob prozessiert mit Gott – und obsiegt – vorerst (Hiob 31), in: Thomas Krüger u. a. (Hg.): Das Buch Hiob und seine Interpretationen. Beiträge zum Hiob-Symposium auf dem Monte Verità vom 14.–19. August 2005 (AThANT 88), Zürich 2007, 263–291; Manfred Oeming: Ethik in der Spätzeit des Alten Testaments am Beispiel von Hiob 31 und Tobit 4, in: Peter Mommer/Winfried Thiel (Hg.): Altes Testament. Forschung und Wirkung. Festschrift für Henning Graf Reventlow, Frankfurt a. M. 1994, (159–173) 160–167; ders.: Hiob 31 (s. Anm. 7), 362–368; Daniela Opel: Hiobs Anspruch und Widerspruch. Die Herausforderungsreden Hiobs (Hi 29–31) im Kontext frühjüdischer Ethik, Neukirchen-Vluyn 2010, 60– 119; Eva Oßwald: Hiob 31 im Rahmen der alttestamentlichen Ethik, in: ThV 2 (1970), 9–26. 12 Zum sog. Reinigungseid vgl. Dick: Job 31 (s. Anm. 11), 36–44; Melanie Köhlmoos: Art. Reinigungseid, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2007, verfügbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/33098/ [12. 07. 2016]; Opel: Hiobs Anspruch (s. Anm. 11), 60–61; zur Nähe von Hi 31 zu Totenbuch 125 vgl. Kunz-Lübcke: Hiob prozessiert (s. Anm. 11), 263–291; Opel: Hiobs Anspruch (s. Anm. 11), 75–78. 13 Allgemein zu diesem konservativen Zug der weisheitlichen Ethik vgl. Annette Schellenberg: Don’t Throw the Baby Out with the Bathwater. On the Distinctness of the Sapiential Understanding of the World, in: Mark R. Sneed (Hg.): Was There a Wisdom Tradition? New Prospects in Israelite Wisdom Studies (Ancient Israel and Its Literature 23), Atlanta 2015, (115–143) 130–133.

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und sie mit Hunden vergleicht.14 Dennoch bleibt es beachtenswert, dass das Verhalten sozial Schwächeren gegenüber in Hi 31 mit Abstand den meisten Platz einnimmt15 und auch im Rest des Hiobbuchs wiederholt thematisiert wird. Hiob und seine Freunde bzw. die Verfasser des Buchs lassen keinen Zweifel daran, dass es ganz wesentlich zu einem Frommen/Gerechten gehört, dass er sich um Sklaven, Arme, Witwen und Waisen und andere Schwache kümmert (26,2; 29,12– 13.15–16; 30,25). Und entsprechend erachten sie die Unterlassung solcher Fürsorge als typisch für frevlerische Menschen (6,27; 20,19; 22,6–9) und chaotische Zeiten (24,3–10.14.21; 35,9).16 Die Aufzählung von Hi 31 ist nicht allumfassend. Für den zwischenmenschlichen Bereich ist sie aber recht ausführlich und insgesamt repräsentativ. Viele der in Hi 31 angesprochenen zwischenmenschlichen Aspekte von Frömmigkeit/ Gerechtigkeit kommen auch anderswo im Hiobbuch zur Sprache und insgesamt findet sich in diesem nur weniges, das über Hi 31 hinausgeht. Anders ist das beim Religiösen im engen Sinn des Worts. Hiob kommt am Ende seiner Aufzählung zwar auch auf sein Verhältnis zu Gott zu sprechen (31,26–28), doch er nennt nur einen Aspekt (Verehrung von Sonne und Mond), der im Hiobbuch sonst keine Rolle spielt. In diesem kommen dafür noch zahlreiche andere Aspekte religiösen Verhaltens als für die Frömmigkeit/Gerechtigkeit eines Menschen relevant zur Sprache: Opfer und Fürbitte (1,5;17 42,8); Gebet und Gelübde (16,17; 22,27; 27,10; 33,26); Gottesfurcht (1,1.8–9; 2,3; 4,6; 6,14; 15,4.25; 22,4; 28,28; 37,24); Angemessenheit der Rede/Gedanken zu/über Gott (1,5.11.21–22; 2,5.9–10; 13,7; 15,4– 6.13; 33,13; 34,7.9.29; 42,7–8);18 Gefühle wie Demut, Vertrauen, Zorn, Überheblichkeit (5,17; 15,13; 18,4; 22,26.29; 27,10; 36,9.13.18); Umkehr/Schuldeingeständnis und Akzeptanz von Gottes Zucht/Belehrung (22,23; 33,27; 34,31–32; 35,9–12); Akzeptanz von Gottes Wirksamkeit (21,14–15; 22,17; 35,10–13); Beachtung von Gott und Gottes Worten/Geboten (6,10; 22,22; 23,12; 34,27; 35,12; 36,11–12; 42,9). Besonders wichtig ist die religiöse Dimension im Prolog und in den Reden Elihus (Hi 32–37); im Rest des Hiobbuchs bleibt sie wie in Hi 31 ein Aspekt vorbildlichen Verhaltens neben anderen. Eigene Beachtung verdient in Hi 31, dass vorbildliches Verhalten nicht nur an Taten und Worten des Menschen festgemacht wird, sondern auch an Vorgängen in seinem Inneren. Ähnlich lässt sich das auch im Rest des Buchs beobachten. In Hi 31 erwähnt Hiob als erstes, dass er nie einer Jungfrau nachgeschaut hat (31,1), 14 Man beachte die Ähnlichkeit der Beschreibung der Schwachen in Hi 30,2–8 und in Hi 24. 15 Vgl. Hi 31,13: Verhalten gegenüber Knechten und Mägden; 31,16–21: Verhalten gegenüber Armen, Witwen und Waisen; 31,32: Verhalten gegenüber Fremden. 16 Ähnlich gilt die Fürsorge für die sozial Schwachen im gesamten Alten Orient als ein zentrales Charakteristikum des Königs und Weisen/Gerechten. 17 Zum Opfer Hiobs s. u. 3 (mit Anm. 29). 18 Zur Frage der Angemessenheit der Rede über Gott s. u. 3 (mit Anm. 30, 33 und 34).

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und später betont er, er habe dem Reichtum nicht zu viel Bedeutung beigemessen (31,24–25) und sich nicht über das Unglück der Feinde gefreut (31,29).19 Andernorts werden Gefühle wie Zorn (18,4; 36,13.18), Übermut (20,6; 35,12) und Mitgefühl (6,14; 30,25) als negativ oder positiv hervorgehoben, insbesondere auch dort, wo es um das Verhältnis zu Gott geht. Bei einigen dieser sowie weiteren Stellen wird das Innere des Menschen erwähnt, weil sich an ihm (wie auch am Äußeren) zeigt, ob jemand Herr seiner selbst ist. In Hi 31 verweist Hiob auf sein »Auge« (31,1), seinen »Fuß« bzw. »Schritt« (31,5.7), sein »Herz« (31,7.9.27), seine »Hände« (31,7.27) und seinen »Gaumen« (31,30) und legt dar, dass er diese kontrolliert, sodass sie ihn nicht ins Verderben führen können (vgl. ähnlich 23,11; 27,4). Für Hiob und seine Freunde bzw. die Verfasser des Buchs zeichnet sich ein Frommer/Gerechter auch dadurch aus, dass er seine Körperteile – und das, wofür sie stehen – im Griff hat; der Frevler hingegen überlässt seinem »Herz« (15,12), seinen »Augen« (15,12), seinem »Mund« und seinen »Lippen« (15,5–6), seinem »Bauch« (15,35; 20,20–21) und seinen »Füßen« (18,8) die Kontrolle und wird durch sie schuldig.20

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Kontroverses

Die Gespräche von Hiob und seinen Freunden kreisen nicht darum, was einen Frommen/Gerechten charakterisiert, sondern darum, ob Gott einen Frommen/ Gerechten leiden lässt und ob Hiob tatsächlich ein Frommer/Gerechter ist. Leicht bekommt man den Eindruck, dass im Hiobbuch alle das gleiche Verständnis von Frömmigkeit/Gerechtigkeit teilen. Erst bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass manches doch auch kontrovers ist. Als erstes sind hier diejenigen Aussagen zu nennen, wonach kein Mensch vor Gott gerecht sein kann (4,17; 14,4; 15,14–15; 25,4–6). Sie stehen nämlich mit dem Rest des Buchs in einer gewissen Spannung, denn in diesem ist vorausgesetzt, 19 Einige Exegetinnen und Exegeten betonen in diesem Zusammenhang, dass im Hiobbuch nicht erst die Tat, sondern schon die »Gesinnung« wichtig sei und manche sprechen dann von einer »Gesinnungsethik«; vgl. so z. B. John Barton: Ethics in Ancient Israel, Oxford 2014, 164; Oeming: Hiob 31 (s. Anm. 7), 364, 366; Oßwald: Hiob 31 (s. Anm. 11), 10–17. Ersteres stimmt, neben der »Gesinnung« im Sinn von Intention kommen aber auch noch zahlreiche andere innere Regungen zur Sprache; um »Gesinnungsethik« im üblichen Sinn des Worts handelt es sich im Hiobbuch nicht; vgl. auch Opel: Hiobs Anspruch (s. Anm. 11), 69–72. 20 Ausführlicher zu diesem Phänomen vgl. David J. A. Clines: The Disjoined Body. The Body and the Self in Hebrew Rhetoric, in: G. A. van der Heever/S. W. van Heerden (Hg.): Biblical Interpretation. Only Study Guide for SCR111-Y, Pretoria 2001, 148–157 (Privatdruck ohne ISBN Nummer); als PDF verfügbar unter: https://www.academia.edu/2442039/The_Disjoi ned_Body_The_Body_and_the_Self_in_Hebrew_Rhetoric, 1–10 [12. 07. 2016]; Schellenberg: Mein Fleisch (s. Anm. 9), 100–101.

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dass der Mensch fromm/gerecht sein kann – andernfalls könnte Hiob im Prolog nicht so überschwänglich gepriesen werden und Hiob und seine Freunde müssten nicht darüber debattieren, ob Hiob an seinem Leiden selbst schuld ist. Drei der vier Aussagen über die Unmöglichkeit, ganz schuldlos zu sein, erfolgen aus dem Mund der Freunde. Sie sind als Reaktion auf Hiobs Unschuldsbeteuerungen (6,29; 9,20–21; 10,7; 13,18; 16,17; 23,10; 27,5–6; 31,6; weiter 11,4; 33,9; 34,5; 35,2–3) zu verstehen. Einmal macht aber auch Hiob selbst eine entsprechende Aussage (14,1.4) und spricht im gleichen Zusammenhang von eigener Schuld ׁ ַ ‫ ֶּפ‬und ‫)ָעוֹן‬, obwohl er sonst ja auf seiner Unschuld beharrt. (14,16–17 mit ‫ַח ָּטאת‬, ‫שע‬ Der Widerspruch löst sich, wenn man beachtet, dass bei den genannten Stellen neben Wörtern aus dem semantischen Feld von Gerechtigkeit auch solche aus dem semantischen Feld von Reinheit gebraucht sind (nämlich ‫ָטֵהר‬, ‫ָטהור‬, ‫ָטֵמא‬, ‫זכה‬, ‫ )זַָכְך‬21 und es stets um das Dasein des Menschen vor Gott geht. Zweimal wird die »Ungerechtigkeit« bzw. »Unreinheit« des Menschen mit seiner Geburt in Verbindung gebracht (14,1.4; 15,14) und einmal wird auf die Schöpfung bzw. den Schöpfer verwiesen (4,17). All das sind Hinweise, dass es nicht um die moralischethische Frage im engen Sinn geht, sondern um eine anthropologische Grundeinsicht – nicht um konkrete Schuld, sondern um eine im Gegenüber zu Gott (dem »Heiligen«) 22 erfahrene Unvollkommenheit des Menschen, die mit der Geschöpflichkeit gegeben ist. Für die Frage, warum Hiob leiden muss, trägt diese anthropologische Grundeinsicht nichts bei. Zusammen mit anderem wirft sie aber die Frage auf, ob Hiob im Prolog nicht zu fromm geschildert wird (s. u.). Im Prolog selbst bringt der Satan mit 1,9 eine weitere Kontroverse ins Spiel: ob es zu wahrer Frömmigkeit/Gerechtigkeit gehört, dass man sie auch »ohne Grund« (‫ )ִחנָּם‬23 beibehält. Die Ausführungen in 1,10–11 zeigen, dass die Frage mit der klassischen Lehre eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs in Zusammenhang steht bzw. genauer: mit der Vorstellung, dass Frömmigkeit/Gerechtigkeit von Gott »belohnt« wird. Der Satan weist Gott darauf hin, dass Hiob von seiner Frömmigkeit/Gerechtigkeit auch stark profitiert hat, weil sie ihm Gottes Schutz 21 Auch sonst werden im Hiobbuch auffallend häufig Wörter verwendet, die auch kultische Konnotationen haben. Meist geht es bei diesen Stellen um ethisch/moralische »Reinheit«; mancherorts ist aber doch zu vermuten, dass die Assoziationen an priesterliche Vorstellungen gewollt sind; vgl. Schellenberg: Mein Fleisch (s. Anm. 9), 103–104. 22 Vgl. Hi 5,1; 6,10; 15,15 mit Verweisen auf die Heiligkeit Gottes und der Seinen. 23 Ausführlich zur Bedeutung von ‫ ִחנָּם‬in Hi 1,9; 2,3 (und sonst im Hiobbuch/AT) vgl. Jürgen Ebach: »Ist es ›umsonst‹, daß Hiob gottesfürchtig ist?« Lexikographische und methodologische Marginalien zu ‫ ִחנָּם‬in Hi 1,9, in: Erhard Blum u. a. (Hg.): Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte. Festschrift für Rolf Rendtorff zum 65. Geburtstag, NeukirchenVluyn 1990, 319–335 (Grundbedeutung von ‫» = ִחנָּם‬ohne Äquivalent«); Rainer Kessler: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebet«. Sozialgeschichtlicher Hintergrund und theologische Bedeutung der Löser-Vorstellung in Hiob 19,25, in: ZThK 89 (1992), (139–158) 146–158 (mit Verweis, dass sich ‫ ִחנָּם‬von ‫» = חנן‬gnädig sein« ableitet).

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und Segen gebracht hat. Seine These lautet, dass Hiob seine Frömmigkeit/Gerechtigkeit aufgibt, sobald Gott ihm diesen Segen entzieht.24 Die erste Reaktion Hiobs widerlegt den Satan: Trotz Schicksalsschlägen versündigt er sich nicht (1,22) und bleibt so fromm/gerecht wie zuvor (2,3). Doch der Satan lässt nicht locker und fordert Gott noch ein zweites Mal zu einem Experiment mit Hiob heraus. Diesmal formuliert er seine Frage anders und ersetzt das »ohne Grund« durch »Haut für Haut« (2,4). Noch stärker als in der ersten Frage macht er damit (sowie mit 2,5) klar, dass es ihm um das do-ut-des geht, dass er vermutet, dass Hiob nur fromm/gerecht ist, weil ihm das auch etwas bringt.25 So pointiert hätte das im antiken Israel wohl niemand zugegeben; die Reaktion von Hiobs Frau (2,9), die Argumentation seiner Freunde und ähnliche Aussagen aus anderen Schriften (wie z. B. dem Proverbienbuch) zeigen aber, dass das Denkmuster durchaus weit verbreitet war. Die Argumentation des Satans impliziert, dass er die do-ut-des-Frömmigkeit/Gerechtigkeit als weit verbreitet, aber auch als minderwertig erachtet. Lobenswerter wäre eine Frömmigkeit/Gerechtigkeit auch »ohne Grund«. Das sieht offenbar auch Gott so – der deshalb zur Widerlegung der These des Satans darauf eingeht, Hiob »ohne Grund« (‫ )ִחנָּם‬zu verderben (2,3). Nach dem Prolog des Hiobbuchs besteht Hiob auch den zweiten Test: Obwohl er in diesem auch körperlich angegriffen wird (2,7) und von seiner Frau zur Verfluchung Gottes aufgefordert wird (2,9), bleibt er fromm (ergeben) und versündigt sich nicht gegen Gott (2,10). Er zeigt damit nicht nur, dass er wie Gott und der Satan findet, dass es zu wahrer Frömmigkeit/Gerechtigkeit gehört, dass sie auch »ohne Grund« erfolgt, sondern beweist auch, dass solche grundlose Frömmigkeit/Gerechtigkeit möglich ist.26

24 Vgl. Ebach: Ist es umsonst (s. Anm. 23), 321, der die mit Hi 1,9 angesprochenen Zusammenhänge wie folgt ausbuchstabiert: »Hängen Hiobs Frömmigkeit und Hiobs Wohlergehen zusammen? Ist der Wohlstand Folge der Frömmigkeit? Ist die Frömmigkeit Folge des Wohlstandes? Diese Frage steht im Hiobbuch in jeder der möglichen Korrelationen auf dem Prüfstand.« 25 Vgl. Ebach: Ist es umsonst (s. Anm. 23), 321–324, mit dem Stichwort »Lohnfrömmigkeit«; Kessler: Ich weiß (s. Anm. 23), 147–148, mit den Stichworten »Frömmigkeit des do ut des« und »Frömmigkeit als Äquivalentausch«. 26 Ebach: Ist es umsonst (s. Anm. 23), 333, weist darauf hin, dass das ‫ִחנָּם‬-Problem damit noch nicht gelöst ist: »Liest man die Frage des Satans, die Hiobs Leidensgeschichte einleitet […] in ihrer Bedeutung für das gesamte Hiobbuch, so steht mit ihr nicht allein die Frage zur Debatte, ob sich Hiobs Frömmigkeit als ›Lohnfrömmigkeit‹ erweisen werde, sondern auch die, ob ein weder an Lohn- noch an Sicherungsgedanken ausgerichtetes Festhalten an Gott, das in diesem Sinne also ‫ ִחנָּם‬wäre, sich zuletzt als ‫ִחנָּם‬, nämlich als ›vergeblich‹ und ›sinnlos‹ erweisen müßte. Wenn ‫ ִחנָּם‬bedeutet, daß etwas außerhalb der Logik des Tauschs (und einer in dieser Logik verorteten Gerechtigkeit) steht, so entsteht mit der Frage des Satans ein neues Problem: Kann es eine Gerechtigkeit, kann es eine Ordnung der Welt, kann es eine Stimmigkeit in Leben und Lehre geben, die nicht dieser Logik folgt?«

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Fraglich bleibt allerdings, ob die von Hiob im Prolog gezeigte Frömmigkeit/ Gerechtigkeit tatsächlich auch (die einzig) wahre Frömmigkeit/Gerechtigkeit ist. Bei modernen Leserinnen und Lesern hinterlässt der Prolog einen schalen Nachgeschmack. Unheimlich sind nicht nur der Satan (der die Idee einer grundlosen Frömmigkeit/Gerechtigkeit ins Spiel bringt) 27 und Gott (der sich darauf einlässt, dass Hiob zum Objekt eines grausamen Experiments wird), unheimlich ist auch Hiob. Bereits seine in 1,1–5 beschriebene Frömmigkeit mutet übertrieben an,28 insbesondere auch seine präventiven Opfer für allfällige Sünden seiner Kinder (1,5).29 Und die Gottergebenheit, mit der er auf die Schicksalsschläge reagiert (1,20–22; 2,10), wirkt unnatürlich.30 Im Dialogteil wird Hiob dann ja auch ganz anders gezeichnet: Hier nimmt er sein Schicksal nicht mehr fromm ergeben hin, sondern gibt seiner Verzweiflung und Frustration Ausdruck, bittet Gott um Antworten und greift ihn scharf an. Oft wird dieser Unterschied in der Zeichnung Hiobs mit einer unterschiedlichen Herkunft des Rahmens und des Dialogteils des Hiobbuchs erklärt.31 Möglicherweise bringt der Unterschied in der Zeichnung Hiobs aber auch eine implizite Kritik am Hiobbild und 27 Der Satan wird nur im Prolog erwähnt, nicht aber im Dialogteil und auch nicht im Epilog. Nach einer verbreiteten Erklärung wurde der Satan im Prolog eingeführt, um Gott zu entlasten. Beachtenswert ist aber auch die Erklärung von Brenner: Job the Pious (s. Anm. 10), 46, nach der »the epilogue, together with the poem, undermine the more simplistic religious world view of the source tale«. 28 Zur Beschreibung von Hiobs Frömmigkeit/Gerechtigkeit über vier Begriffe s. o. 1 (mit Anm. 9 und 10). 29 Vgl. Brenner: Job the Pious (s. Anm. 10), (39–41.)43–44, mit dem Fazit: »The religiosity of Job the pious is almost a parody of faith rather than a climactic manifestation of it.« (44); Ebach: Ist es umsonst (s. Anm. 23), 321–322, der von einer »Logik der ›Versicherung‹« und »Assekuranzfrömmigkeit« spricht; Konrad Schmid: Das Hiobproblem und der Hiobprolog, in: Manfred Oeming/ders.: Hiobs Weg. Stationen von Menschen im Leid (BThS 45), NeukirchenVluyn 2001, (9–34) 29–30, der Hiobs Versicherungsopfer als »theologische Absurdität« bezeichnet. Nochmals andere Probleme an Hiobs Opfertätigkeit sieht Manfred Oeming: »Il offrait un holocauste pour chacun d’eux« (Job 1,5). Pourquoi pas pour lui-même? Opfer und Nicht-Opfer im Hiobbuch, in: RHPR 93 (2013), 49–65. Er konzentriert sich darauf, dass Hiob nach Hi 1,5 nur für seine Kinder opfert, nicht aber für sich selbst, und interpretiert dies als »Ausdruck von menschlicher Hybris« (58) bzw. als ein Zeichen dafür, dass Hiob überzeugt sei, ganz ohne Sünde zu sein und von der gnädigen Sündenvergebung Gottes nichts wissen wolle. 30 Vgl. Brenner: Job the Pious (s. Anm. 10), 44–45. Ähnlich Walter Vogels: Job’s Empty Pious Slogans (Job 1,20–22; 2,8–10), in: Willem A. M. Beuken (Hg.): The Book of Job (BEThL 114), Leuven 1994, 369–376, allerdings nur für Hiobs Reaktion auf die erste Folge von Schicksalsschlägen. Nach ihm deutet der Unterschied von Hi 1,22 (»Bei alldem sündigte Hiob nicht«) und 2,10 (»Bei alldem sündigte Hiob nicht mit seinen Lippen«) darauf, dass Hiob nach dem zweiten Experiment zu einem anderen wurde, in seinem Herzen bereits die Fragen und Anklagen bewegte, die er dann ab 3,1 auch aussprach. 31 Vgl. z. B. Markus Witte: Art. Hiob/Hiobbuch, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2007, 4.3.4, verfügbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/11644/ [12. 07. 2016]; anders aber etwa Schmid: Hiobproblem (s. Anm. 29), 9–34.

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Frömmigkeitsverständnis des Prologs zum Ausdruck.32 Unabhängig von der literaturgeschichtlichen Beurteilung des Zusammenhangs von Rahmen und Dialogteil bleibt ja die Frage, was das Hiobbild des Dialogteils zur Frage der Charakterisierung eines Frommen/Gerechten beiträgt. Nach dem Prolog zeichnet sich ein Frommer/Gerechter dadurch aus, dass er sich Gott gegenüber ehrfürchtig verhält und nichts Törichtes bzw. Zorniges sagt (1,5.11.21–22; 2,5.9–10). Im Dialogteil aber teilen nur die Freunde Hiobs diese Meinung (15,4–6.12–13.25; 18,4; 21,15–17.21.29; 33,13; 34,7.9.29), er selbst hingegen erfüllt dieses Verständnis von Frömmigkeit/Gerechtigkeit nicht. Machen ihn sein Wunsch, mit Gott zu streiten (9,3; 13,3; 23,3–6), und seine scharfen Anklagen zu einem Unfrommen/Frevler? Sicherlich in der Sicht der Freunde, aber kaum in der Sicht der Verfasser des Buchs. Hiob ist im Dialogteil klar der Sympathieträger, während die Freunde als unsensible und traditionalistische Dogmatiker gezeichnet sind. Und im Epilog gibt Gott explizit Hiob Recht (42,7.8) und fordert Hiob zur Fürbitte für seine Freunde auf (42,8; vgl. 1,5). Wenngleich nicht explizit, vermutlich aber bewusst, üben die Verfasser oder Redaktoren des Hiobbuchs damit Kritik am Frömmigkeitsverständnis des Prologs und machen klar, dass Zweifel und Zorn gegenüber Gott nicht nur toleriert sind, sondern in manchen Situationen sogar angemessener als allzu »heilige« Frömmigkeit und gottergebenes Dulden.33 Wahre Frömmigkeit zeigt sich nach dem Hiobbuch auch daran, dass man sich um Verständnis und Wahrheit bemüht (10,2; 13,7.23; 23,5; 31,35; 42,7–8). Fromme Sprüche und pauschale Schuldeingeständnisse helfen hier wenig; wichtig ist hingegen, dass man die Kommunikation mit Gott aufrechtzuerhalten versucht34 – selbst wenn Gott (noch?) nicht antwortet und man Gottes Wirklichkeit als Mensch sowieso niemals ganz begreifen kann (9,11; 11,5–9; 23,8–9; 26,14; 28,12.20; 33,13; 35,14; 36,26; 37,23; 38–41; 42,3).35

32 Vgl. ähnlich Brenner: Job the Pious (s. Anm. 10), 37–52; weiter (aber mit anderen Akzenten) Bruce Zuckerman: Job the Silent. A Study in Historical Counterpoint, New York/Oxford 1991, 46–58 etc. In gewisser Weise »formuliert« bereits der Prolog Kritik an »allzu frommer« Frömmigkeit: Hiob wird nach diesem ja nicht trotz seiner (dann später kritisierten) Frömmigkeit/Gerechtigkeit ins Unglück gestürzt, sondern gerade wegen ihr bzw. darum, weil es ihm diesbezüglich auf Erden niemand gleichtut (Hi 1,8). Das erinnert an die Ermahnung von Koh 7,16 (»sei nicht übergerecht«). 33 Ähnlich zeigen das auch die Psalmen mit ihren Klagen und Anklagen. 34 Anders die Frevler, die sich wünschen, dass Gott ihnen fern bleibt (Hi 21,14; 22,17). Anders aber auch Hiob nach dem Prolog, der trotz schwersten Schicksalsschlägen keine einzige Frage an Gott richtet. Vgl. auch Brenner: Job the Pious (s. Anm. 10), 47. 35 Zur Begrenztheit des menschlichen Erkennens nach dem Hiobbuch vgl. Annette Schellenberg: Erkenntnis als Problem. Qohelet und die alttestamentliche Diskussion um das menschliche Erkennen (OBO 188), Freiburg/Göttingen 2002, 208–213.

Rainer Gugl

Gebet in den Häusern der Antike als Ausdruck von Frömmigkeit

»Frömmigkeit« ist ein Begriff, der bereits eine Vielzahl an unterschiedlichen Bedeutungsaspekten impliziert. Bezeichnenderweise finden sich für ihn meist sehr umfassende, allgemeine Definitionen, wie etwa jene von Ansgar Jödicke: Unter F[römmigkeit] in jüngster Zeit versteht man einerseits die Ausdruckformen gelebter Religiosität. […] Aussagekräftiger als der unklare Bedeutungsbestand sind die mit dem Begriff verbundenen Grenzziehungen: F[römmigkeit] ist die rel[igiöse] Praxis im Gegensatz zur reflexiven Theol[ogie], der subjektive Glaubensvollzug im Gegensatz zur institutionalisierten Hochrel[igion] […].1

Ein, wenn nicht der zentrale Teil dieser religiösen Praxis ist das Gebet, welches vorliegender Aufsatz für den häuslichen Kontext in den Blick nehmen will. Für eine Untersuchung des Gebets im frühen Christentum ist ein Blick auf die Gebetspraxis der Antike allgemein nötig. Das Gebet im frühen Christentum ist phänomenologisch nicht von Gebeten in anderen Religionsgemeinschaften zu unterscheiden. Edward Phillips definiert den allgemeinen Charakter des Gebets aus religionswissenschaftlicher Sicht folgendermaßen: »Prayer, both private and communal, is fundamentally a ritual activity, and ritual is resistant to change, especially on the levels of physical gesture and daily pattern.«2 Da der Fokus auf der Gebetspraxis liegt, will ich mich auf folgende konkrete Fragen beschränken: Wann betete man? Wer betete? Wo betete man? Untersucht werden all jene Texte, die die Gebetsthematik im Rahmen von Haus und Haushalt behandeln. Der Fokus auf die literarischen Quellen ergibt sich aus zweierlei Gründen: Zum einen sind wir auf sie angewiesen, da Inschriften, Papyri, Ikonographie und auch die Architektur für den Zeitraum bis ins 3./4. Jahrhundert leider keine Aufschlüsse geben können. Zum andern ist man auf die schriftliche Tradition angewiesen, da 1 Ansgar Jödicke: Art. Frömmigkeit, I. Religionswissenschaftlich, in: RGG4 3, Tübingen 2000, 388–389. 2 L. Edward Phillips: Prayer in the First Four Centuries A.D., in: Roy Hammerling (Hg.): A History of Prayer. The First to the Fifteenth Century (Brill’s Companions to the Christian Tradition 13), Leiden/Boston 2008, (31–58) 31.

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das Gebet – hier allgemein verstanden als Kommunikationsvorgang3 – vorrangig verbaler Akt war.4 Indem der Begriff des Gebets mit der Betonung auf dem Kommunikationsaspekt derart weit gefasst ist, gibt es im Folgenden keine Beschränkung auf einzelne griechische Begriffe (προσευχή, δέησις, ἔντευξις etc.)

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Gebetszeiten

Bei Platon heißt es, dass bei Griechen wie Barbaren der Aufgang von Sonne und Mond von Gebeten begleitet waren (Platon, Leges 10,887e). Ähnlich umschreibt es auch Horaz, wenn es heißt, dass man am Beginn und Ende des Tages Gebete verrichtete (Horaz, Carmina 4,5,37–40). Nimmt man nun an, dass auch das Aufstehen am Morgen und das Schlafengehen am Abend mit eben jenen Zeiten zusammenfallen, dann finden wir dafür noch weitere Belege, wie etwa bei Ovid, für den ebenfalls die Zeit morgens nach dem Aufstehen auch eine Zeit zum Beten ist (Ovid, Epistulae ex Ponto 4,9,111–112). Hesiod gibt noch eine nähere Auskunft, dass man zu beiden Zeiten Schenkeln opfern konnte, aber auch Libationen und Weihrauch konnten zu Opferzwecken dargebracht werden (Hesiod, Opera et dies 337–339). Auch in den griechischen Zauberpapyri taucht die Abendzeit als besonders geeignet für magische Handlungen auf (Papyri Graecae magicae 2,21; 8,363). Einer dieser Texte berichtet etwa von einem Zauberspruch, der kurz vor dem Schlafengehen ausgeführt werden soll (Papyri Graecae magicae 2,12). Ferner findet sich in der Odyssee der Vorschlag des Amphinomus, vor der Bettruhe noch ein Libationsopfer darzubringen (Homer, Odyssea 18,419). Von dem im 3 So etwa bei Karl-Heinrich Ostmeyer: Art. Gebet/Beten (NT), in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2010, 1., verfügbar unter: https://www.bibelwissen schaft.de/stichwort/48891/ [08. 04. 2016]; Kai Brodersen: Einführung, in: ders. (Hg.): Gebet und Fluch, Zeichen und Traum. Aspekte religiöser Kommunikation in der Antike (Antike Kultur und Geschichte 1), Münster u. a. 2001, (7–11) 7; Albert Gerhards u. a.: Identität zwischen Tradition und Neuschöpfung, in: dies. (Hg.): Identität durch Gebet. Zur gemeinschaftsbildenden Funktion institutionalisierten Betens in Judentum und Christentum (Studien zu Judentum und Christentum), Paderborn u. a. 2003, 13–19. Jörg Rüpke: Antike Religionen als Kommunikationssysteme, in: Kai Brodersen (Hg.): Gebet und Fluch, Zeichen und Traum. Aspekte religiöser Kommunikation in der Antike (Antike Kultur und Geschichte 1), Münster u. a. 2001, 13–30, betont den kommunikativen Aspekt (13–17), und bei Frédéric Chapot/ Bernard Laurot: Introduction, in: dies. (Hg.): Corpus de prières grecques et romaines (Recherches sur les rhétoriques religieuses 2), Turnhout 2001, (7–23) 7–9, ist das Opfer zentral, welches Kulminationspunkt des Gebets ist. Eine Reflexion darüber, was genau Gebet ist, fehlt in der älteren Literatur durchgehend, etwa bei Oscar Cullmann: Das Gebet im Neuen Testament. Zugleich Versuch einer vom Neuen Testament aus zu erteilenden Antwort auf heutige Fragen, Tübingen 21997. 4 Selbstverständlich war das Gebet in der paganen Tradition häufig von Opfern begleitet, was sich für die frühchristliche Tradition m. E. nicht feststellen lässt, weshalb dieser Aspekt hier nicht berücksichtigt wird.

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4. Jahrhundert schreibenden Heliodor wissen wir, dass man am Abend zu Merkur beten konnte, damit man gute Träume hatte und seine Liebsten im Traum sehen konnte (Heliodor, Aethiopica 3,4). Eine Verbindung von Gebet und Kultpraxis zeigen Horaz und Seneca (Horaz, Carmina 2,3,281–284; 4,5,37–40; Seneca, Epistula 95,47), die das Morgen- bzw. Abendgebet mit einer Begrüßung der Hausgötter verknüpfen.5 In den jüdischen Gruppierungen gibt es im »öffentlichen Raum« zwei Faktoren, die mit dem Gebet im Zusammenhang stehen. Einmal gab es eine zeitliche Orientierung an den Opferzeiten des Jerusalemer Tempels. Diese übernehmen wohl schon eine ältere Praxis, von der bereits in der Tora berichtet wird: Nach Ex 29,38–39 sollen zweimal täglich Opfer dargebracht werden: einmal am Morgen und einmal am Abend. Nähere Bestimmungen über die praktische Durchführung bei Opfern finden sich in Num 28,1–8. Das Opfer am Abend sollte zur neunten Stunde dargebracht werden, beim morgendlichen ist die genaue Uhrzeit nicht sicher geklärt. Ein Blick in spätere Texte weist zwar auf die dritte Stunde hin, es kann sich hierbei aber auch um eine Rückprojektion handeln.6 Daneben können Gebete auch mit bestimmten Tageszeiten in Verbindung gebracht werden7: Ps 4 scheint ein Abendgebet zu sein, das vor dem Schlafengehen gebetet wurde, und bei Ps 6 handelt es sich vielleicht um ein Morgengebet. Ps 55,18 berichtet von Gebeten am Morgen, zu Mittag und am Abend. Diese Orientierung an Zeiten findet sich schließlich auch in den Schriften in Qumran (1QS 10,1–3a).8 In der Forschung gab es auch Bemühungen, die Orientierung an den Opferzeiten mit dem Tagesablauf zu kombinieren.9 Auf jeden Fall zeigt sich durch die beiden 5 Vgl. dazu Emmanuel von Severus: Art. Gebet I, in: RAC 8, Stuttgart 1972, (1134–1258) 1141– 1152. 6 Vgl. zu den Gebetszeiten in der antiken jüdischen Praxis ferner Emil Schürer: Die Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi 2. Die inneren Zustände, Hildesheim 41907, 537– 544, und zur neueren Diskussion Phillips: Prayer (s. Anm. 2), 36, und Roger T. Beckwith: Daily and Weekly Worship. Jewish and Christian (Alcuin/GROW Liturgical Study 1 = GLS 49), Bramcote 1987, 13. 7 Es scheint m. E. gegen Karl-Heinrich Bieritz: Liturgik, Berlin 2004, 606–607, weniger einleuchtend, die Orientierung am Tagesablauf lediglich als einen nach der Zerstörung des Tempels notwendigen Ersatz anzusehen. Vgl. von Severus: Gebet (s. Anm. 5), 1167, wonach man aus den folgenden Belegen keinen Brauch oder ein Gebot ableiten darf. Vielmehr ist davon auszugehen, dass diese zeitliche Orientierung bereits eine längere Tradition hat. 8 Je nach Interpretation können für Qumran aber auch vier oder sechs Zeiten festgestellt werden. Zur Diskussion siehe Phillips: Prayer (s. Anm. 2), 33–37. 9 So bei Joachim Jeremias: Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 70–73, der dafür plädiert, dass man in der Früh und abends das Schema betete und jeweils danach und zusätzlich nachmittags auch noch die Tefillah. Dies würde dann bedeuten, dass man dann zusätzlich dazu Gebete für das Aufstehen am Morgen und das Schlafengehen am Abend benötigt. Eventuell hätten hier dann die Psalmen ihren Platz. Vgl. für eine Zusammenstellung aller Gebete auch Dieter Vetter (Hg.): Gebete des Judentums (Gütersloher Taschenbücher 712: Weisheit der Religionen), Gütersloh 1995.

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Pole Tempel und Haus bereits eine Analogie zur Aufteilung in einen eher öffentlichen und einen weniger öffentlichen Bereich. Neben dem öffentlichen Gebet, das im Jerusalemer Tempel (und vielleicht auch in Synagogen) gebetet wurde, hatte auch das private in den eigenen vier Wänden einen hohen Stellenwert.10 Bei Emmanuel von Severus heißt es dazu: »Sein persönliches G. verrichtet der Israelit in seinem Hause, besonders in dem vom Lärm des Alltags abgeschirmten Obergemach.« Die hier zu nennenden Belege sind Tob 3,11 und Dan 6,11, wo beide Male am Fenster gebetet wird.11 Im letzten Fall übersetzt die LXX das hebr. Wort ‫ ִע ִלּיֵתּה‬mit ὑπερῷον, ein Begriff, der sich in neutestamentlichen Texten öfters wiederfindet. Die Fenster zeigen ferner Richtung Jerusalem (ähnlich auch 1 Kön 8,44). Dreimal am Tag betete Daniel dort kniend, Judith stellte auf dem Dach ihres Hauses ein Zelt auf, in dem sie fastete und trauerte. Interessant ist, dass in diesen – wenngleich auch relativ jungen – Texten des Alten Testamentes nicht nur das Haus selbst, sondern auch konkrete Teile darin als Gebetsort genannt werden.12 Es scheint zunächst klar, dass die ersten Christusgläubigen keine neuen Gebetszeiten erfanden, sondern bereits Vorfindliches übernahmen. Inwiefern aber jüdische Gruppierungen dafür Pate standen, ist schwer zu beurteilen. Im Neuen Testament zeigt sich jedenfalls eine Kontinuität zu einem an konkreten Zeiten orientierten Gebet13: In Apg 10,9 betet Petrus zur sechsten Stunde auf dem Dach (δῶμα) des Hauses, in Apg 3,1 gehen Petrus und Johannes zur Gebetszeit um die neunte Stunde hinauf zum Tempel, und auch Kornelius betet in Apg 10,30 zur neunten Stunde. Eventuell kann noch das Pfingstereignis in Apg 2,15, das zur dritten Stunde stattfindet, als Hinweis auf eine Gebetszeit gedeutet werden.14 Die dritte, sechste und neunte Stunde scheinen für die ersten Christusgläubigen jedenfalls eine besondere Rolle gespielt zu haben. So bestätigt spätestens auch die Didache, die als erste christliche Quelle Gebetszeiten vorschreibt, das dreimalige Beten des Vaterunsers (Didache 8,3), eine konkrete Uhrzeit wird aber nicht genannt. Auch wenn das »dreimal am Tag« (τρὶς 10 Phillips: Prayer (s. Anm. 2), 32. Das tägliche Schema wird nach Dtn 6,8–9 und Josephus, Antiquitates Judaicae 4,8,13 jedenfalls auch an den Türen der Häuser angebracht (ἐπιγράφειν δὲ καὶ τοῖς θυρώμασιν [Étienne Nodet (Hg.): Flavius Josèphe. Les antiquités juives 2. Livre IV et V, Paris 1995, 57*]) und zweimal am Tag gebetet. 11 Von Severus: Gebet (s. Anm. 5), 1166–1167, vgl. auch Anm. 4. Auch wenn die Exilszeit sicherlich einen großen Einschnitt in der jüdischen Kultpraxis mit sich brachte, so ist doch anzunehmen, dass schon vorher auch in den Häusern gebetet wurde. Siehe dazu auch Phillips: Prayer (s. Anm. 2), 33, der das Gebet im Haus neben jenem im Tempel anführt und letzteres als »primary location of public worship«. 12 Siehe zum Begriff ὑπερῷον und zum Gebetsort allgemein weiter unten den Abschnitt »Ort«. 13 Dies erinnert an die dreimaligen Tefillah, die zunächst als Gebete am Morgen und Abend um ein Nachmittagsgebet erweitert wurden. Vgl. dazu Phillips: Prayer (s. Anm. 2), 36–37. 14 So bei Bieritz: Liturgik (s. Anm. 7), 607. Interessant ist die Stelle außerdem, da der Ort des Ereignisses nach Apg 2,2 ein Haus sein soll.

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τῆς ἡμέρας) 15 noch recht unkonkret scheint, so ist möglich, dass genau diese Zeiten vorausgesetzt werden. Es wird jedoch noch an keiner Stelle deutlich, dass es sich um ein privates Gebet handeln muss.16 Diese Interpretation kommt erst dann zustande, wenn man das dreimalige Gebet bei den frühen Christen aus der jüdischen Praxis der Tefillah ableiten will.17 Insgesamt ist hier einerseits eine starke Verwurzelung im Judentum zu erkennen, andererseits aber auch eine klare Abgrenzung gegen »Heuchler« (ὑποκριταί) 18 in Didache 8,2. Die an Mt 6,5 erinnernde Texpassage lässt bei dem Begriff der ὑποκριταί zunächst an Menschen aus jüdischen Gruppierungen denken,19 m. E. ist dies aber nicht eindeutig. Die »Heuchler« könnten auch allgemeiner zu verstehen sein, da einerseits zwar der Hinweis auf die Synagogen in Mt 6,5 eindeutig ist, andererseits in Mt 6,7 eine Bezugnahme auf die ἐθνικοί, bzw. in Mt 6,32 auf die ἔθνη, zu finden ist. Eventuell nimmt hier erst die Didache eine Erweiterung vor, die auch das Beten paganer Menschen mit einschließt.20 In der Traditio Apostolica 41 werden diese drei Zeiten (morgens, mittags, abends) scheinbar um drei weitere Gebete ergänzt, nämlich um eines zum Aufstehen, eines zum Schlafengehen sowie eines um Mitternacht. Ab hier werden die Gebetszeiten auch mit der Geschichte des Lebens Jesu verknüpft. In der Didache werden sie mit der markinischen Chronologie der Kreuzigung Jesu verbunden, womit spätestens jetzt die Trennung von der jüdischen Praxis voll-

15 Didache 8,3 (SUC 2, 78 Wengst); Übersetzung nach Klaus Wengst (Hg.): Didache (Apostellehre), in: ders.: (Hg.): Didache (Apostellehre), Barnabasbrief, Zweiter Klemensbrief, Schrift an Diognet (SUC 2), Darmstadt 2004, (66–91) 79. 16 So vertreten bei von Severus: Gebet (s. Anm. 5), 1189: »Obwohl es sich bei dieser Aufforderung um privates G. handelt […]«, und Theodor Klausner: Apparat zu Doctrina XII Apostolorum 8,3, in: ders. (Hg.): Doctrina Duodecim Apostolorum, Barnabae Epistula (FlorPatr), Bonn 1940, 22 (Anm. zu Didache 8,3): De oratione privata agitur. Er erkennt hier eine Bezugnahme auf das Achtzehnbittengebet. 17 Vgl. hierzu Kurt Niederwimmer: Die Didache (KAV 1), Göttingen 21993, 167–168. 18 Siehe Anm. 21. 19 So u. a. Klaus Wengst: Didache (Apostellehre). Einleitung, in: ders (Hg.): Didache (Apostellehre), Barnabasbrief, Zweiter Klemensbrief, Schrift an Diognet (SUC 2), Darmstadt 2004, (5– 63), 29–30, 34, sowie Wengst (Hg.): Didache (s. Anm. 15), 79 (Anm. 63). 20 Vgl. Peter Fiedler: Das Matthäusevangelium (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 1), Stuttgart 2006, 162–164, und Ulrich Luz: Das Evangelium nach Mattha¨us (Mt 1–7) (EKK 1), Zürich/Braunschweig ³1992, 324–325, sehen hier eine Anspielung auf jüdische Praxis, und Luz weist darauf hin, dass der Text lange Zeit metaphorisch verstanden wurde, so dass hier die Kammer des Herzens und die Türen der Sinne gemeint sind. Ähnlich auch Klausner: Apparat zu Doctrina XII Apostolorum 8,2 (s. Anm. 15), 22, sowie Adolf von Harnack: Die Apostellehre und die jüdischen beiden Wege, Leipzig 21896, 3. Hubert Frankemölle: Mattha¨ us. Kommentar 1, Du¨ sseldorf 1994, 244, erkennt hier hingegen einen Vorwurf an die Heiden.

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zogen ist.21 Die dritte, sechste und neunte Stunde setzen sich jedenfalls durch, und so finden sich bei den Kirchenvätern ähnliche Aussagen. Clemens von Alexandrien stellt eine Verbindung zur Trinität her: »Aber auch die Stundeneinteilung mit ihren drei Abständen, die durch die gleichen Gebete ausgezeichnet ist, ist denen vertraut, die die selige Dreizahl der heiligen Wohnungen kennen.«22 Sein Zeitgenosse Tertullian schreibt von den drei Abschnitten des Tages, argumentiert mit den Gebeten in der Apostelgeschichte und bezieht sich gleichzeitig auf die drei Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist (Tertullian, De oratione 25). Cyprian verbindet das Morgengebet schließlich mit der Auferstehung, die schon der Heilige Geist in den Psalmen ankündigte (Ps 5,8–9). Auch beim Hinweis, dass man am Abend zu Christus beten soll, weil er die Sonne ist, zieht er ein Psalmzitat heran (Ps 117,22–23). Er schließt seine Bemerkungen damit, dass man als Christ aber eigentlich den ganzen Tag – und auch die ganze Nacht – beten soll (Cyprian, De dominica oratione 35). Dafür spricht sich auch Clemens von Alexandrien in Stromateis 7,7,40,3 aus. Auch dieser Topos ist nicht neu und findet sich bereits im Neuen Testament. Das Verb προσκαρτερέω (Apg 1,14; 2,42.46; Röm 12,12) kann hier als »andauerndes Beten« verstanden werden.23 Neben den festgelegten Zeiten gab es aber auch weitere situative Gebete. Hierfür können viele Belege angeführt werden, von denen aber v. a. das Tischgebet (Thomasevangelium 6; vielleicht 1 Tim 4,4–5) und das Abschiedsgebet (Apg 20,36; 21,5; Apokalypse des Mose 5) für den häuslichen Kontext relevant sind.24 Über ersteres berichtet uns auch Clemens von Alexandrien, Paedagogus 2,4,44, wonach man Gott vor dem Essen preist und beim Trinken Psalmen gesungen werden. Tertullian fügt in De oratione 25 noch hinzu, dass auch vor jedem Bad gebetet werden soll. Paulus spricht ferner noch von μνεία (1 Thess 1,2; Phil 1,3–6;

21 Für Deutungen und literarkritische Abweichungen der einzelnen Überlieferungen siehe die Kommentare bei Paul F. Bradshaw u. a.: The Apostolic Tradition. A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2002, 206–215. 22 Clemens von Alexandrien: Stromateis 7,7,40,4 (Ἀλλὰ καὶ τὰς τῶν ὡρῶν διανομὰς τριχῇ διεσταμένας καὶ ταῖς ἴσαις εὐχαῖς τετιμημένας ἴσασιν οἱ γνωρίζωντες τὴν μακαρίαν τῶν ἁγίων τριάδα μονῶν [GCS 17, 30,33–31,2 Stählin/Früchtel/Treu]); Übersetzung bei Otto Stählin: Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften 5. Des Clemens von Alexandreia Teppiche wissenschaftlicher Darlegungen entsprechend der wahren Philosophie (Stromateis). Buch VII, Register zu Band III–V (BKV 2. Reihe 20), München 1938, 46. 23 Der Aspekt einer zeitlichen Kontinuität wird etwa sichtbar bei Liddell-Scott, Oxford 1968, s. v. προσκαρτερέω, wo Begriffe wie »adhere firmly to […]« oder »wait for […]« als mögliche Übersetzungen angeführt werden. Ebenso weist auch das verwandte καρτερέω (»to be steadfast«; »patient«) in diese Richtung (s. v. καρτερέω). Jeremias: Abba (s. Anm. 9), 78, meint hingegen, es handle sich hier um eine Aufforderung zum strikten Einhalten der Gebetszeiten. 24 Vgl. Klaus Berger: Art. Gebet, IV. Neues Testament, in: TRE 12, Berlin/New York 1984, (47–60) 48–49.

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Röm 1,9–10), einem Fürbittengebet. Weitere Gebete lässt u. a. auch noch der Jakobusbrief (5,13–14) vermuten: Leidet jemand unter euch? Er bete. Ist jemand guten Mutes? Er singe Psalmen. Ist jemand krank unter euch? Er rufe die Ältesten der Gemeinde zu sich, und sie mögen über ihm beten und ihn mit Öl salben im Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird den Kranken retten, und der Herr wird ihn aufrichten, und wenn er Sünden begangen hat, wird ihm vergeben werden.25

Nicht zuletzt der Hinweis, dass jemand die Ältesten zu sich, also wohl nach Hause, rufen soll, macht eine Verortung des Geschehens im nicht-öffentlichen Kontext wahrscheinlich. Zu konkreten Gebetstexten der frühen Christusgläubigen schweigen die Quellen beinahe völlig. Neben dem Vaterunser, das nach Didache 8,3 eine Rolle gespielt hat, gab es freie Gebete; in Kol 3,16 und Eph 5,19 wird berichtet, dass auch noch Hymnen, Oden und Psalmen verbreitet waren. Bei den Psalmen ist unsicher, ob der Begriff allgemein verwendet wird oder ob er bereits jene des Alten Testaments meint. Zumindest die spätere Literatur gibt Hinweise für den Gebrauch von alttestamentlichen Psalmen in Abend- und Morgengebet.26 Andererseits bleibt zu fragen, inwiefern hier nicht vielleicht doch an eine gemeindliche Versammlung zu denken ist.

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Schwierig zu beantworten ist zunächst die Frage, ob bzw. wann man als Individuum oder als Gruppe betete. Traditionellerweise war der Familienvater als pater familias für die Kulte im Haus zuständig, wenngleich auch die restlichen Bewohner des Hauses samt Sklaven diese ausüben konnten.27 Er war es, der auch stellvertretend für sein Haus bzw. seine Familie betete, denn der Hauskult war identisch mit dem Familienkult. Dem pater familias oblag die Verantwortung für 25 Die Übersetzung der biblischen Texte hier und im Folgenden orientiert sich an der Elberfelder Bibel (revidierte Fassung 1993). 26 Siehe etwa die Belege bei von Severus: Gebet (s. Anm. 5), 1223–1224. 27 Für einen Überblick der Hauskulte der Antike siehe dazu allgemein Markus Öhler: Das ganze Haus. Antike Alltagsreligiosität und die Apostelgeschichte, in: ZNW 102 (2011), 201–234. Auf die Bedeutung von Sklaven im frühen Christentum weisen u. a. James Albert Harrill: The Domestic Enemy. A Moral Polarity of Household Slaves in Early Christian Apologies and Martyrdoms, in: David L. Balch/Carolyn Osiek (Hg.): Early Christian Families in Context. An Interdisciplinary Dialogue, Grand Rapids/Cambridge 2003, 231–254, und Dale B. Martin: Slave Families and Slaves in Families, in: David L. Balch/Carolyn Osiek (Hg.): Early Christian Families in Context. An Interdisciplinary Dialogue, Grand Rapids/Cambridge 2003, 207–230, hin.

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die korrekte Ausführung, diese Verantwortung durfte nicht delegiert werden.28 Dass dies nicht allein eine Eigenheit der römisch-griechisch paganen Tradition war, zeigt uns in diesem Zusammenhang eine Bemerkung aus den Psalmen Salomos, wo jemand morgens für sein ganzes Haus betete (Psalmen Salomos 6,4–5): Er steht auf von seinem Schlaf und preist den Namen des Herrn (ηὐλόγησεν τῷ ὀνόματι κυρίου), mit beständigem Herzen lobsingt er dem Namen Gottes (ἐξύμνησεν τῷ ὀνόματι), und er bittet vor dem Angesicht des Herrn für jeden aus seinem Haus (περὶ παντὸς τοῦ οἴκου αὐτοῦ) und der Herr erhört das Gebet jedes Gottesfürchtigen.29

Bei den neutestamentlichen Texten dürfte es nicht überraschen, dass es Gebete sowohl des Einzelnen als auch einer Gruppe gab, sei es die Familie oder eine größere Versammlung. Bei den Gebeten des Einzelnen ist wohl zunächst an eine Weiterführung der alltäglichen Praxis des dreimaligen Betens zu denken. In Mt 6,5–8 ist die Gebetsparänese in der 2. Person Singular verfasst, in der Apg beten v. a. Einzelpersonen zu den Gebetszeiten. Auch Traditio Apostolica 41 berichtet von Gebeten des Einzelnen zu den üblichen Gebetszeiten. Mit dem Hinweis, dass man sich beim Gebet zu Mitternacht vom Bett des »noch ungläubigen«30 Ehepartners entfernen soll, um alleine zu beten, ist umgekehrt auch die Möglichkeit eines gemeinsamen Gebetes von Mann und Frau explizit genannt (Traditio Apostolica 41,12). Eine Anspielung auf eine alltägliche Praxis erscheint hier doch sehr wahrscheinlich.31 Wenn man nicht alleine für sich betete, dann betete man wohl meist im Rahmen von Versammlungen, wie etwa in Apg 1,13–14 berichtet wird. Auch die Formulierung des Vaterunsers in der 1. Person Plural lässt auf eine Gruppe von Betenden schließen, und auch die Bitte »Unser tägliches Brot gib uns heute« weist m. E. stark auf eine alltägliche Verwendung im Rahmen einer Mahlzeit im Haus hin. In den Briefen finden wir häufig die Wendung, dass »wir« beten (2 Kor 3,17.19; Kol 1,3.9; 2 Thess 1,11), es bleibt aber unklar, wer damit genau gemeint 28 Siehe dazu allgemein z. B. Martin Ebner: Das Urchristentum in seiner Umwelt 1. Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen (GNT 1,1), Göttingen 2012, 168–169. Cato weist in De agri cultura 5,3 darauf hin, dass sowohl der Hausverwalter als auch die ihm zur Seite gestellte Frau nur in sehr begrenztem Ausmaß den Kult im Haus übernehmen darf: Rem divinam nisi Conpitalibus in conpito aut in foco ne faciat (Hartmut Froesch [Hg.]: Marcus Porcius Cato. De agri cultura. Lateinisch – deutsch [Reclams Universal-Bibliothek 18678], Stuttgart 2009, 16– 19). In De agri cultura 143,1 heißt es weiter: Rem divinam ni faciat neve mandet, qui pro ea faciat, iniussu domini aut dominae (160–161 F.). 29 Übersetzung nach Klaus Scholtissek/Georg Steins: Psalmoi Solomontos. Die Psalmen Salomos, in: Wolfgang Kraus/Martin Karrer (Hg.). Septuaginta deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2009, (913–931) 921. 30 Übersetzung nach Bradshaw u. a.: Apostolic Tradition (s. Anm. 21), 198, »not yet a believer«. Zu diesem literarischen Topos siehe auch Caroline Johnson Hodge: Married to an Unbeliever. Households, Hierarchies, and Holiness in 1 Corinthians 7:12–16, in: HTR 103 (2010), 1–25. 31 Vgl. dazu auch Phillips: Prayer (s. Anm. 2), 46.

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ist. Vielleicht ist hier auch an eine Fürbitte zu denken, die der Autor stellvertretend für eine hinter ihm stehende Gemeinde verfasst. In diesem Fall wäre vom allein familiären Kontext abzusehen. In der bisherigen Untersuchung noch unberücksichtigt sind die Witwen, derer es den neutestamentlichen Schriften zufolge wohl einige gegeben haben durfte. Einerseits führte eine Witwe den Haushalt und »verharrt in Flehen und Gebeten Nacht und Tag« (1 Tim 5,5), andererseits treten Witwen häufig als eine Gruppe auf (z. B. Apg 9,39–41; Akten des Petrus 21), weshalb auch mit gemeinschaftlichen Gebete zu rechnen ist. Fraglich bleibt, inwiefern neben dem pater familias auch die Frau religiös tätig sein durfte. Hier war das Ideal, dass die Frau ausschließlich jene Götter verehren durfte, die auch ihr Mann verehrte (Plutarch, Coniugalia praecepta 19). Während etwa in Apg (z. B. Apg 1,13–12; 17,4) das gemeinsame Gebet von Männern und Frauen scheinbar kein Problem darstellt, so zeigt sich in weiteren neutestamentlichen Schriften ein differenzierteres Bild. Mit Blick auf die Gemeindesituation werden Frauen von Paulus in 1 Kor 14,34 zum Schweigen ermahnt. Im Epheser- (Eph 5,22–28) und Kolosserbrief (Kol 3,18–19) gebietet der Autor den Frauen die Unterordnung unter die Männer. Konkret zur Frage des Gebets äußern sich die Pastoralbriefe in 1 Tim 2,8–12. Hier heißt es: Ich will nun, dass die Männer an jedem Ort (ἐν παντὶ τόπῳ) beten, indem sie heilige Hände aufheben, ohne Zorn und zweifelnde Überlegung, ebenso, dass auch die Frauen sich in würdiger Haltung mit Schamhaftigkeit und Sittsamkeit schmücken, nicht mit Haarflechten und Gold oder Perlen oder kostbarer Kleidung, sondern mit dem, was Frauen geziemt, die sich zur Gottesfurcht bekennen, durch gute Werke. Eine Frau lerne in der Stille in aller Unterordnung (ἐν ἡσυχίᾳ μανθανέτω ἐν πάσῃ ὑποταγῇ). Ich erlaube aber einer Frau nicht zu lehren, auch nicht über den Mann zu herrschen, sondern ich will, dass sie sich in der Stille halte […].

Während es für Männer also geboten ist, an allen Orten zu beten, werden betreffs der Frau nur die Äußerlichkeiten angesprochen. Daraus darf natürlich nicht abgeleitet werden, dass Frauen überhaupt nicht beten durften. Die modernen Kommentare sind sich einig, dass sich all diese Aussagen auf eine öffentliche Praxis, genauer gesagt, die gemeindliche Versammlung, beziehen.32 M. E. ist dies jedoch nicht zwingend notwendig, da ein konkreter Hinweis dafür nirgends zu finden ist. Beim »Lernen« und »Lehren« kann auch an die häusliche Gemeinschaft gedacht werden. Zwar werden Elemente angeführt, die auf Versamm-

32 So bei den gängigen Kommentaren wie William Hendriksen/Simon J. Kistemaker: New Testament Commentary. Exposition of Thessalonians, the Pastorals, and Hebrews, Grand Rapids ²2002, 105, und Jerome D. Quinn/William C. Wacker: The First and Second Letters to Timothy. A New Translation with Notes and Commentary (The Eerdmans Critical Commentary), Grand Rapids 2000, 215–216.

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lungen vor Ort hinweisen, wie etwa eine Hierarchie durch das Amt des Bischofs und der Diakone. Die Bestimmungen sind jedoch derart allgemein gehalten, dass sie auch eine Gültigkeit über den gemeindlichen Kontext hinaus haben könnten. Sie können daher sowohl als Anweisung für das richtige Verhalten in der gemeindlichen Versammlung als auch für jenes im Familienleben verstanden werden.33 Warum aber dieses Verbot von Schmuck und Putz? Diese Anweisung macht Sinn, da die Frau in ihrem Handeln – vielleicht auch im Gebet – sichtbar wird und von anderen gesehen wird. Für den häuslichen Kontext kann dies bedeuten, dass man in den eigenen vier Wänden unter sich ist und diese Wirkung für Außenstehende des Haushalts zunächst irrelevant war. Ein anderes Bild ergibt sich aber, wenn man Gott als Kommunikationspartner ansieht. Dann nämlich weisen die Forderungen auf ein korrektes Verhalten Gott gegenüber hin, das sich durch Bescheidenheit im Angesicht Gottes auszeichnet. Die Distanz von Mann und Frau wird hier – auch räumlich – vergrößert. Das »Beten an allen Orten« (1 Tim 2,8) steht klar im Gegensatz zur »Stille« (1 Tim 2,11–12), in der sich die Frau halten soll. Hier ist wohl auch die Unterscheidung von öffentlich und nicht-öffentlich mitzubedenken, welche man sich jedoch weniger als Entweder-Oder, sondern besser als einen bestimmten Grad an Privatheit vorstellen sollte34 Ferner ist auch die Zuteilung von Mann zu öffentlich und Frau zu privat bzw. eine, die den Geschlechtern konkrete Räume im Haus zuweisen will, zu kurzsichtig und vernachlässigt wichtige Aspekte des antiken Alltags.35 Eine Unterordnung kann demnach – ähnlich wie oben bei Plutarch erwähnt – auch in einem kultischen Sinne zu verstehen sein. Dem Ideal des einmütigen Hauskultes, welches auch 1 Petr 3,3–7 für Mann und Frau aufnimmt, und das auch die Sammelberichte der Apg in 2,43–47 und 4,32–35 zeigen wollen, stehen aber wiederum Zeugnisse entgegen, die ein anderes Bild zeigen: So berichten etwa 1 Kor 7,10–16 oder die Kirchenväter (Justin, Apologia 2,2; Tertullian, Ad uxorem 2,4–6) von Mischehen, in denen das Zusammenleben mit Konflikten einhergeht. Es stellt sich somit auch die Frage, ob Männer und Frauen im Hause gemeinsam beten konnten. Zumindest für den Gottesdienst lässt sich keine Trennung der Geschlechter nachweisen.36 Lässt sich davon aber auch eine Praxis 33 In diese Richtung weist zum Teil auch Norbert Brox: Die Pastoralbriefe. 1 Timotheus, 2 Timotheus, Titus (RNT), Regensburg 51989, 132, der darauf hinweist, dass der Schmuck zunächst allein für den Kultus verboten war und das Verbot dann auf das ganze Leben ausgedehnt wurde. 34 So bei Günther Schörner: Lokalisierung von Hauskulten im römischen Italien: Fremdbestimmte vs. individuelle Religion, in: Hephaistos 28 (2011), (135–147) 138. 35 Vgl. dazu Shelley Hales: The Roman House and Social Identity, Cambridge 2009, 208, und Lisa C. Nevett: House and Society in the Ancient Greek World (New Studies in Archaeology), Cambridge 1999, 154–155. 36 In den wenig erhaltenen Synagogen Galiläas lässt sich eine räumliche Trennung nicht mehr feststellen, und auch der hierfür oft angeführte Beleg bei Philon, De vita contemplativa 32–33,

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für das Haus ableiten? Dies erscheint aufgrund der archäologischen Zeugnisse wenig plausibel.37 Die mit Ausnahme von Apg 1,13–14 zugegebenermaßen wieder recht späten Quellen bieten hierzu ein ambivalentes Bild: In den Paulusakten wird etwa von einem einmütigen Gebet in einer Versammlung in einem Haus von Aquila und Priszilla berichtet (Akten des Petrus 10), ein andermal von einem Gebet des Petrus zusammen mit Witwen (Akten des Petrus 22), und in den Paulusakten erfahren wir dann, dass Frauen Tag und Nacht bei Paulus saßen und ihm u. a. beim Gebet zuhörten (Akten des Petrus 7). Die gnostischen Texte sind hier rigider und so bezieht sich der vielleicht in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts verfasste Dialog des Erlösers (NHC 3,5) auf ein fiktives Jesuswort, um das Beten der Männer abseits von Frauen zu begründen. Hier heißt es: »Betet an dem Ort, [wo] keine Frau ist.«38 Bei den Kirchenvätern erfahren wir schließlich von konkreten, den Alltag begleitenden Gemeinschaftsgebeten morgens und abends.39 Clemens von Alexandrien gibt den Hinweis, dass v. a. die Schlussworte eines Gebets gemeinsam gesprochen werden sollen (Stromateis 7,40,1), und Origenes beschreibt einen Gebetsraum, wo sich die Gläubigen versammeln sollen (De oratione 31,5). Traditio Apostolica 18 und 35 beschreiben morgendliche Zusammenkünfte, bei denen auch gebetet wird.

hilft nicht weiter, da er keine Zusammenkunft von Juden, sondern eine der Therapeuten in Ägypten beschreibt. Vgl. dazu Bernadette J. Brooten: Women Leaders in the Ancient Synagogue. Inscriptional Evidence and Background Issues (Brown Judaic Studies 36), Chico, California 1982, 103–138, die feststellt, dass es zwar Seitenräume und Galerien gegeben hat, für die Trennung aber jegliche Hinweise fehlen. Sie verweist (138) auch auf die Praxis der frühen Christusanhänger, die in ihren Hauskirchen auch keine Trennung der Geschlechter kannten. Ramsay MacMullen: The Second Church. Popular Christianity A. D. 200–400 (WGRW, Supplement Series 1), Atlanta 2009, 5, hingegen erkennt in der Hauskirche in Dura Europos eine solche Trennung. Selbst wenn dies stimmen sollte, bewegen wir uns bereits im 3. Jahrhundert. Siehe dazu auch die neuere Untersuchung von Chad S. Spiegel: Ancient Synagogue Seating Capacities. Methodology, Analysis and Limits (Text and Studies in Ancient Judaism 149), Tübingen 2012, 48–49. 37 Räume, für die eine kultische Verwendung nachzuweisen ist, sind v. a. jene, die der gesamten Familie zugänglich waren. Vgl. dazu für Pompeji Schörner: Lokalisierung (s. Anm. 34), 153, und für die östliche Reichshälfte Eric M. Meyers: The Problems of Gendered Space in SyroPalestinian Domestic Architecture, in: David L. Balch/Carolyn Osiek (Hg.): Early Christian Families in Context. An Interdisciplinary Dialogue, Grand Rapids/Cambridge 2003, 44–69. Vgl. Guy P. R. Metraux: Ancient Housing. Oikos and Domus in Greece and Rome, in: JSAH 58 (1999), 392–405, und allgemein Paolo Bonini: La casa nella Grecia romana. Forme e funzioni dello spazio privato fra I e VI secolo (Antenor: Quaderni 6), Rom 2006. 38 Übersetzung nach Hans-Gebhard Bethge: Der Dialog des Erlösers (NHC 3,5). Übersetzung, in: Christoph Markschies/Jens Schröter (Hg.): Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung 1. Evangelien und Verwandtes 2, Tübingen 2012, (1142–1151) 1150. 39 Vgl. dazu und im Folgenden Phillips: Prayer (s. Anm. 2), 46–48, der auch Tertullian, De oratione 25 im Sinne eines gemeinschaftlichen Betens versteht.

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Ort

Es stellt sich nun die Frage, wo genau im Haus man betete. Hier gab es in der Antike mehrere Räume, die auch für kultische Zwecke genutzt wurden. V. a. an jenen Orten, die durch ihre Funktion den Tagesablauf der Bewohner begleiteten, sind kultische Vollzüge nachzuweisen.40 Im Folgenden will ich kurz auf jene Begriffe eingehen, die in den biblischen Texten als Gebetsort auftauchen. Man kann sie grob in zwei Kategorien einteilen: Einmal geht es um einen erhöhten Bereich des Hauses. In den Übersetzungen finden sich für ὑπερῷον Ausdrücke wie »Obergemach«41 und »Obersaal«42, oder es bleibt unspezifisch ein Bereich, der sich oben im Haus befindet43; eine präzisere Deutung lässt sich erst aufgrund des Kontextes zeigen. Unklar ist aber, ob es einen eigenen geschlossenen Raum auf dem Dach bezeichnet oder ob der gesamte Bereich auf dem Dach allgemein so bezeichnet wurde. Ganz allgemein konnte damit auch ein Raum, der sich im oberen bzw. in einem der oberen Stockwerke befindet, gemeint sein.44 2 Kön 23,12 verweist eher auf Ersteres und berichtet bereits von der kultischen Verwendung: Ahas errichtet auf dem Dach des Obergemachs Altäre; Dan 6,10, Tob 3,10 und Apg 1,13 berichten davon, dass hier gebetet wurde, und in Apg 9,39 ist es schließlich der Ort eines Wunders. In Apg 1,13 und Apg 20,8 ist das ὑπερῷον ferner auch Versammlungsort.45 Nicht nur 40 Schörner: Lokalisierung (s. Anm. 34), 137, erkennt für Pompeji v. a. in Höfen im Frontbereich, im Hauptgarten und in Küchen eine starke Konzentration. Analog dazu zeigen auch die Hanghäuser in Ephesos ein ähnliches Bild. Siehe dazu allgemein die Beiträge von Elisabeth Rathmayr: Götter- und Kaiserkult im privaten Wohnbereich anhand von Skulpturen aus dem Hanghaus 2 in Ephesos. Mit 17 Abbildungen, in: RöHM 48 (2006), 103–133, und Ursula Quatember: Private Kulteinrichtungen im Hanghaus 2 in Ephesos, in: Beatrix Asamer/ Wolfgang Wohlmayr (Hg.): Akten des 9. österreichischen Archäologentages am Institut für Klassische Archäologie der Paris Lodron-Universität Salzburg, vom 6.–8. Dezember 2001, Wien 2003, 171–174. 41 Diese Übersetzung findet sich in der revidierten Lutherübersetzung (1984), im Münchener Neuen Testament (1998), in der Einheitsübersetzung (1980) und der Zürcher Bibel (2007) im NT durchgängig für ὑπερῷον (Apg 1,13; 9,37.39; 20,8). 42 Im Gegensatz dazu übersetzen die revidierte Elberfelder (1993) in Apg 1,13 und 20,8 sowie die Schlachter Bibel (2000) Apg 20,8 den Begriff mit »Obersaal«. 43 Dies findet sich v. a. bei den alttestamentlichen Belegen, z. B. in 1 Chr 28,11; Hes 41,7; 42,5; Jer 22,13 in den oben genannten Übersetzungen. 44 Vgl. dazu allgemein Alfred Hermann: Art. Dach II, in: RAC 2, Stuttgart 1957, (536–558) 548, und Roger W. Gehring: Hausgemeinde und Mission. Die Bedeutung antiker Häuser und Hausgemeinschaften – von Jesus bis Paulus (Bibelwissenschaftliche Monographien 9), Gießen 2000, 131–132. Der Begriff bleibt ferner auch unklar, da je nach Verortung der Texte auch mit einer unterschiedlichen Dacharchitektur zu rechnen ist. Siehe dazu etwa auch den Aufsatz Meyers: Problems (s. Anm. 37). 45 Zu ὑπερῷον als Versammlungsort siehe auch Hans Hubert Klein: Sie waren versammelt. Die Anfänge christlicher Versammlungen nach Apg 1–6 (FTS 72), Münster 2015, 75–92, v. a. Anm. 300.

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beteten hier jüdische Schriftgelehrte, sondern auch die Christen sollten von hier aus predigen (Mt 10,27). Hes 41,7 erfahren wir, dass auch der Tempel ein solches ὑπερῷον hatte. Möglich ist daher, dass bei einigen Stellen des NT vielleicht nicht das Haus, sondern sogar der Tempel in Jerusalem gemeint ist, wobei es sich dann eher um einen höher gelegenen Raum im Tempel selbst als um den Bereich auf dem Dach handeln würde. Apg 1,13 steigen die Jünger in Jerusalem in das ὑπερῷον und beten dort auch mit Frauen. Allein die Lutherübersetzung von 1984 übersetzt ὑπερῷον hier als »Obergemach des Hauses«, in anderen Übersetzungen findet sich hingegen »Obersaal«, womit wohl die Vorstellung eines größeren Raumes suggeriert werden will. Apg 10,9 nennt noch δῶμα, was im engen Sinne das Dach selbst meint, dann aber Pars pro Toto auch für das Haus, die Familie oder den Haushalt stehen kann.46 Das Dach selbst ist seit den frühesten Zeiten ein Ort für kultische Handlungen. Man denke etwa an die zahlreichen Tempel mit Flachdächern wie etwa die Zikkurats in Mesopotamien oder die ägyptischen Tempel, wobei selbstverständlich auch andere Dachvarianten verbreitet waren.47 Auffällig ist jedoch, dass die kultische Funktion des Daches im griechisch-römischen Bereich weitgehend zurücktritt und vorwiegend im Kontext von orientalischen Kulten wieder auftaucht. Auf dem ἀνάγαιον – ebenfalls eine Art Obergemach48 – wurde traditionellerweise das Passahmahl abgehalten, und auch Jesus nahm es hier mit seinen Jüngern zu sich (Mk 14,15; Lk 22,12). Es scheint, als wäre das Wort synonym mit ὑπερῷον, es ist jedoch mit Ausnahme der eben angeführten Stellen nicht bezeugt. Die andere Richtung weist auf einen Raum hin, der tief im Haus verborgen ist, im NT namentlich das ταμεῖον. Eine Übersetzung ist aufgrund der vielen Nuancen nur schwer möglich, so konnte es u. a. »Schatzkammer«, »Magazin«, »Vorratskammer«, »Kammer« bedeuten. Im Lateinischen wird es dann ab Hieronymus als cubiculum, häufig als »Schlafzimmer« wiedergegeben.49 Natürlich verwundert es nicht, den Schlafbereich als einen Gebetsort festzustellen, da, wie oben schon gezeigt wurde, das Aufstehen und Schlafengehen von Gebeten begleitet wurde. Interessant ist, dass wir auch von Sueton und der Historia Augusta wissen, dass man in seinem Schlafzimmer auch ein lararium50 haben konnte 46 Siehe den Eintrag bei Liddell-Scott (s. Anm. 23), s. v. δῶμα. 47 Für die einzelnen Belege siehe hierzu und im Folgenden Hermann: Dach (s. Anm. 44), 537– 540. 48 Vgl. Klein: Sie waren versammelt (s. Anm. 45), 78. 49 Siehe die Begriffe bei Liddell-Scott (s. Anm. 23), s. v. ταμεῖον: »treasury«, »aerarium«, »magazine«, »storehouse«, »chamber« etc. Zur Geschichte von ταμεῖον und cubiculum siehe den Aufsatz von Carolyn Osiek: »When you pray, go into your tameion« (Matthew 6:6). But Why?, in: CBQ 71 (2009), 723–740. 50 Dies war der Schrein in Häusern paganer Menschen, in dem man die Hausgötter verehrte. Siehe dazu allgemein Christoph Höcker: Art. Lararium, in: DNP 6, Stuttgart 1999, 1145.

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(vgl. Sueton, Divus Augustus 7,2; Sueton, Domitianus 17,5; Scriptores Historiae Augustae, Alexander Severus 29,2).51 In den Johannesakten ist das Schlafzimmer auch der Ort, an dem ein Kultbild des Johannes wider dessen Willen aufgestellt wurde (Akten des Johannes 27). Das cubiculum wurde in der Folgezeit dann immer mehr metaphorisch verstanden, z. B. als Herz des Menschen (Augustinus, Confessiones 8,8; 12,16), und so wurden schließlich auch die Begräbnisstätten der Katakomben so bezeichnet.52 Zusätzlich zum Schlafzimmer müssen aber natürlich noch weitere Orte genannt werden, die bestimmte Funktionen im Alltag innehatten, z. B. der Ort, an dem gegessen wurde, denkt man etwa an die oben angeführten Äußerungen der Kirchenväter, dass man auch vor den Mahlzeiten beten soll. In diese Richtung weisen die Segensworte beim letzten Passahmahl, und später zeugen auch die Apokryphen von dieser Praxis. Hier wird in einem Speisezimmer das Evangelium verlesen (Akten des Petrus 20), was wohl auch in irgendeiner Form mit einem Gebet verbunden war. Interessant ist hier noch, dass auch der archäologische Befund bestätigt, dass, je tiefer man in das Haus eindrang, umso eher sich Anzeichen für private Religiosität finden.53 Zunächst scheint es so, als würden beide Bereiche sogar in dieselbe Richtung weisen, zumal man, um in das obere Stockwerk zu gelangen, ohnehin tief in das Haus eindringen musste. Andererseits war das Obergeschoß aber oft nur durch eine Außentreppe zu erreichen und konnte von hausfernen Personen gemietet werden, wodurch es eher isoliert vom restlichen Gebäude war.54 Somit scheinen beide Bereiche doch als voneinander unabhängige Gebetsorte zu gelten, gemeinsam ist ihnen aber ein gewisser Rückzugsraum und somit ein Entzogensein vor der Öffentlichkeit. In anderen Schriften wird betont, dass das Gebet nicht an konkrete Räume gebunden ist, sondern dass man an allen Orten beten kann (1 Kor 1,2; 1 Tim 2,8). Das entspricht auch der Forderung, die wir bei den Kirchenvätern sehen. Tertullian z. B. schreibt in De oratione 2, dass man an jedem Ort beten darf, wo man will.

51 Vgl. dazu auch Robert Turcan: The Gods of Ancient Rome. Religion in Everyday Life from Archaic to Imperial Times, Edinburgh 2000, 15–16. 52 Siehe MacMullen: The Second Church (s. Anm. 36), 73–74. 53 Siehe hierzu etwas die Ergebnisse der Space-Access-Analysis, die Schörner auf den Befund in Pompeji angewendet hat. Vgl. Schörner: Lokalisierung (s. Anm. 34), 137–138. 54 Vgl. Gehring: Hausgemeinde (s. Anm. 44), 131–132.

Gebet in den Häusern der Antike als Ausdruck von Frömmigkeit

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Schluss

Beim Phänomen Gebet zeigen sich zahlreiche Gemeinsamkeiten in der Praxis von paganer Umwelt und frühen Christusgläubigen. Letztere entwickeln keine neue Gebetspraxis, sondern bewegen sich zumeist zwischen Kontinuität und Abgrenzung. Während man etwa Gebetszeiten aus der jüdischen Tradition übernimmt, zeigen das Matthäusevangelium und die Didache klare Abgrenzung zu den »Heuchlern«, wenngleich hier v. a. die innere Haltung der betenden Personen im Vordergrund steht. Auch bezüglich der Frage, wo man im Haus beten konnte, finden sich Parallelen sowohl zur jüdischen als auch paganen Kultpraxis. Von Beginn an scheint das Gebet unhinterfragt ein Bestandteil des religiösen Lebens der frühen Christen gewesen zu sein, konkrete Überlegungen zur Gebetspraxis finden sich v. a. bei den Kirchenvätern Tertullian und Clemens von Alexandrien. Da Gebete oft mit konkreten den Alltag begleitenden Ritualen einhergingen, die häufig innerhalb einer Gruppe mehrerer Menschen durchgeführt wurden, war genau geregelt, wer für das Beten zuständig war. Für Mann oder Frau wie auch für Bedienstete gab es hier durchaus genaue Vorgaben. Als zentrale Bereiche im Haus gelten v. a. jener tief im Haus (ταμεῖον) und jener im oberen Teil des Hauses (ὑπερῷον). Das Haus nimmt in der Frage des Gebets eine besondere Stellung ein, da Häuser als zentraler Ort für die Entwicklung des frühen Christentums gelten können. Gebetet wurde hier sowohl im Alltag in der Familie als auch im Rahmen gemeindlicher Versammlungen.

Michaela Durst

Olfaktorische Reize als Anleitung zur εὐσέβεια. Die Geruchsdimension in In Canticum Canticorum Homiliae Gregors von Nyssa1

Liebe und Geruch gehören eng zusammen. Die Nase als Sensor für die passende Partnerwahl spielt in der modernen kognitiven Forschung eine entscheidende Rolle.2 Als solch eine anthropologische Konstante einer Liebesbeziehung taucht der Duft bereits im alttestamentlichen Text des Hoheliedes auf – dort freilich in Form applizierter Parfümierung als Ausdruck von Schönheit und Attraktivität. Salböl-, Narde-, Weihrauch- und Myrrheduft sind im Hohelied geruchsintensives Lob aus dem Bereich ästhetisierter Liebespoesie.3 Die gegenseitigen Liebesbekundungen von Braut und Bräutigam scheinen in überbordendem Detailreichtum Einblicke in die intime – freilich literarisch stilisierte – erotische Beziehung zwischen Mann und Frau zu geben. Es verwundert daher kaum, dass das Hohelied in der Geschichte christlicher Frömmigkeit ambivalent beurteilt wurde: entweder als singuläres Plädoyer für die Erotik im biblischen Kanon4 oder in spiritualisierter Form als mystisches Lehrstück innigster Gottesliebe, als eigentümliche Beschreibung der Mensch-Gott-Beziehung.5 1 Für eine kritische Lektüre danke ich Prof. Dr. Uta Heil, Antje Klein und Alexander Schubach. 2 Zur Bedeutung des Geruchs in der Psychologie vgl. exemplarisch und komprimiert Jürgen Raab: Soziologie des Geruchs. Über die soziale Konstruktion olfaktorischer Wahrnehmung, Konstanz 2001, 31–33. Die reiche geruchsintensive Ausgestaltung etwa des Kusses in der antiken Literatur beschreibt Constance Classen u. a.: Aroma. The Cultural History of Smell, London u. a. 1994, 27–30. 3 Vgl. Hld 1,3 (Salböle/ὀσμὴ μύρων; Aromata/ἀρώματα); 1,12 (Nardenduft/νάρδος μου ἒδωκεν ὀσμὴν); 1,13 (Myrrhe/ἀπόδεσμος τῆς στακτῆς); 2,13 (Geruch/ὀσμή); 3,6 (Räucherwerk/ὡς στελέχη καπνοῦ τεθυμιαμένη); 4,10 (Geruch deiner Salben/ὀσμὴ ἱματίων σου ὑπὲρ πάντα τὰ ἀρώματα); 4,11 (Geruch des Libanon/ὁσμὴ ἱματίων σου ὡς ὀσμὴ Λιβάνου); 4,14 (Narde, Safran usw./νάρδος καὶ κρόκος, […]) u. ö., daneben zahlreiche Vergleiche mit Garten und Blumen, insbesondere der Lilie. 4 Vgl. exemplarisch zu unterschiedlichen Auslegungen des Hoheliedes Ludger SchwienhorstSchönberger: Das Hohelied und die Kontextualität des Verstehens, in: David J. A. Cline u. a. (Hg.): Weisheit in Israel. Beiträge des Symposiums »Das Alte Testament und die Kultur der Moderne« anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971). Heidelberg, 18.– 21. Oktober 2001 (Neues Testament und Moderne 12), Münster u. a. 2003, 81–91, bes. 83–84. 5 Vgl. zur Einordnung Gregors in den Kontext der Mystik Andrew Louth: Art. Mystik, II. Kirchengeschichtlich, in: TRE 25, Berlin/New York 1994, 547–580, für Gregor: 554–555. Vgl.

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Gregor von Nyssa wählt ausgerechnet das Hohelied als Gegenstand einer Homilienreihe,6 die nicht für einen engen philosophischen Zirkel gedacht ist oder auf individuelle Vervollkommnung in der Gottesliebe abzielt, sondern als Predigt ein breites Gemeindepublikum anspricht und als Leitfaden der εὐσέβεια7 auftritt. Die Sinnlichkeit und insbesondere die Dimension des Duftes nimmt bei ihm eine wichtige Rolle ein, indem er – in origenischer Tradition8 – die Sinne als Erkenntnismedium und Erfahrungsmedium Gottes einordnet. Gregors Auslegung fällt damit unter das in der Wirkungsgeschichte dominante Verdikt, das antiker christlicher Hohelied-Auslegung anhaftet: eine vehemente Enterotisierung zu betreiben.9 Andererseits blieb auch nicht unverborgen, dass hier eine bemer-

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dazu und zur Problematisierung der Beschreibung Gregors als Mystiker auch Anm. 29. Vgl. zur Auslegungsgeschichte des Hoheliedes auch: Ulrich Köpf: Art. Hoheslied, III. Auslegungsgeschichte im Christentum, 1. Alte Kirche bis Herder, in: TRE 15, Berlin/New York 1986, 508–513, sowie: Jean M. Vincent: Art. Hoheslied, III. Auslegungsgeschichte im Christentum, 2. Auslegungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, in: TRE 15, Berlin/New York 1986, 513–514. Zur abendländischen Rezeption des Hohenliedes vgl. Friedrich Ohly: Hohelied-Studien. Grundzüge einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200 (SWGF.G 1), Wiesbaden 1958. Franz Dünzl (Franz Dünzl [Hg. und Übers.]: Gregor von Nyssa, In Canticum Canticorum Homiliae/Homilien zum Hohenlied [FC 16/1–3], Freiburg i. Br. u. a. 1994) spricht von homiliae; in der Langerbeck-Ausgabe (Hermann Langerbeck [Hg.]: Gregorii Nysseni. In Canticum Canticorum [GNO 6], Leiden 1960) ist von orationes die Rede. Das entspricht dem Befund, dass die Gattungsgrenze zwischen Homilie und Rede fließend ist. In diesem Beitrag wird von Homilie gesprochen, die Stellenangaben aber mit oratio gemäß der Langerbeck-Ausgabe bezeichnet. Der griechische Text folgt der Langerbeck-Ausgabe, die Übersetzung Dünzl: Homilien zum Hohenlied. Für den antiken Kontext scheint das Konzept der εὐσέβεια passender als der erst einige Jahrhunderte später geprägte Begriff »Frömmigkeit«. Dieter Kaufmann-Bühler strukturiert seine Definition der christlichen εὐσέβεια für den antiken Kontext mit folgenden drei Unterpunkten, die sich auch in Gregors Homilien widerspiegeln: »1. Unterordnung unter Gottes Willen«, »2. Gotteserkenntnis u. Ethik« sowie »3. Hinwendung zu Gott« (Art. Eusebeia, in: RAC 6, Stuttgart 1966, [985–1052] 1024–1025). Der Begriff der Frömmigkeit und εὐσέβεια wird häufig im Kontext des Tugendwandels verwendet, ist aber untrennbar verbunden mit Überlegungen zur Selbst- und Gotteserkenntnis. Instruktiv ist in dieser Hinsicht auch die Arbeit von Sandra Leuenberger-Wenger über Ethik und christliche Identität bei Gregor von Nyssa, die zwar nicht mit dem Begriff εὐσέβεια arbeitet, aber die enge Verbindung von Ethik, Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis aufzeigt (Ethik und christliche Identität bei Gregor von Nyssa [STAC 49], Tübingen 2008). Vgl. den kurzen Abriss bei Niklaus Largier, der Origenes zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen der Sinne nimmt: Die Applikation der Sinne. Mittelalterliche Ästhetik als Phänomenologie rhetorischer Effekte, in: Manuel Braun/Christopher Young (Hg.): Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 2007, 43–60. Ekkehard Mühlenberg: Die Sprache der religiösen Erfahrung bei Gregor von Nyssa, in: ders.: Gott in der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze zur Kirchengeschichte (AKG 110), Berlin 2009, 367–379. Eine Interpretation, die dem Autor des Hoheliedtextes vorwirft, »die erotische Liebe zwischen Mann und Frau zu beschreiben oder gar zur körperlichen Liebe anzuregen«, hielt bereits Origenes für »höchst gefährlich« (Alfons Fürst/Holger Strutwolf: Einleitung, in: dies.

Olfaktorische Reize als Anleitung zur εὐσέβεια

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kenswerte »Versinnlichung«10 von Soteriologie im Raum spätantiker Frömmigkeitsgeschichte vorliegt. Gegenstand der folgenden Überlegungen soll ein Aspekt der »Versinnlichung« von Tugendwandel und Soteriologie sein, nämlich der Geruchssinn. Nach einigen einführenden Bemerkungen zu den Adressaten und dem Hauptgegenstand der Canticum-Homilien Gregors (1.1; 1.2; 1.3) wird die Analyse in zwei Teile systematisiert, um sich dem Verwendungszweck von Geruch zu nähern: Erstens wird die Rolle von Aromata/Salbölen in der Auslegung Gregors verfolgt (2.1), zweitens die Deutung der Gewürze Myrrhe und Weihrauch beschrieben (2.2).11 Abschließend wird die Verschränkung von neutestamentlicher Soteriologie, Tugendwandel und olfaktorischen Reizen des Hoheliedtextes als Ausblick knapp reflektiert (3).

[Hg. und Übers.]: Origenes. Der Kommentar zum Hohelied [Origenes. Werke mit deutscher Übersetzung 9/1], Berlin u. a. 2016, [3–54] 15); zur Rezeption chronologisch nach Origenes siehe die knappe Übersicht in Fürst/Strutwolf: Einleitung, 40–46, zur Hoheliedauslegung vor Origenes vgl. 6–10. Nicht alle spätantiken Autoren legten den Hoheliedtext allegorisierend aus. Theodor von Mopsuestia etwa erkennt darin – in einer wörtlichen Interpretation – eine pagane Liebesdichtung anlässlich der Heirat Salomos (1 Kön 3,1) (überliefert durch Aussagen in: Concilium universale Constantinopolitanum sub Iustiniano habitum. Actio quarta. Ex scriptis Theodori Mopsuesteni 77–80 [ACO 4,1 68–70 Straub]). Dünzl spekuliert auch, ob sich Gregor nicht dezidiert gegen solche Interpretationen abgrenzen und seine eigene legitimieren möchte (Franz Dünzl: Einleitung, in: ders. [Hg. und Übers.]: Gregor von Nyssa, In Canticum Canticorum Homiliae/Homilien zum Hohenlied [FC 16/1–3], Freiburg i. Br. u. a. 1994, [7–93] 30–31). 10 Vgl. Stephan Laqué: Bericht über die Diskussion der Vierten Sektion, in: Peter Strohschneider (Hg.): Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und früher Neuzeit. DFGSymposion 2006, Berlin/New York 2009 (1003–1013) 1010: »Der so produzierten Sinnlichkeit kommt der Status einer Habitusformung zu, die affektive Erfahrungen als eine zentrale Wahrnehmungsform gelten lässt. Den produzierten Erfahrungen wird eine Phänomenologie, ein Beobachtungssystem dieser Bewusstseinszustände gegenübergestellt.« Dabei erkennt Gregor dieses Paradox, »daß hier durch leidenschaftliche Worte zur Leidenschaftslosigkeit erzogen wird«, durchaus (Franz Dünzl: Braut und Bräutigam. Die Auslegung des Canticum durch Gregor von Nyssa [BGBE 32], Tübingen 1993, 62). 11 Verzichtet wird in diesem Rahmen auf eine ausführliche Analyse der vegetativen und insbesondere floralen Dimension des Geruchs (z. B. die zentrale Rolle des Apfels/Apfelbaums als ursprünglich erotisches, nun inkarnatorisches Symbol, sowie der Lilie als Reinheitssymbol).

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Michaela Durst

1

Adressaten, Handlungsbild und geistige Dimension der Canticum-Homilien

1.1

Die Canticum-Homilien und ihre Adressaten

Die Canticum-Homilien des Gregor von Nyssa12 waren ein Auftragsschreiben, das er – ermuntert durch eine Frau namens Olympias – wohl nach 391 verfasste.13 Die Anlage der Homilien weist aber nach Dünzl auf einen wesentlich weiter gefassten Adressatenkreis. Nicht die »asketischen Eliten der Kirche« scheinen ausschließlich angesprochen, sondern v. a. die σαρκωδέστεροι.14 Der Adressatenkreis sind somit nach Dünzl gewöhnliche Gemeindechristen.15 Dieser umfasste bereits Getaufte und bestand aus einem gemischten Publikum. Dünzl vermutet daher keinen katechetischen, sondern eher einen gottesdienstlichen Predigtkontext. Sensibel arbeitet Gregor anhand des Figurenrepertoires des Hoheliedes (Braut, Bräutigam, Mädchen) Niveauunterschiede seines Publikums in Bezug auf den tugendhaft christlichen Lebenswandel heraus; die christliche Gemeinde identifiziert er meist mit den Mädchen. Er integriert so sein Publikum als Gott-Suchende in unterschiedlichen Rollen in den Text. Die Braut ist zwar bereits wesentlich weiter fortgeschritten in ihrem Tugendwandel, stellt allerdings kein unerreichbares Ideal dar, sondern ein potenziell für jeden mögliches Ziel. Der Text, der scheinbar Einblicke in das intime Erleben zweier Liebender gibt, ist somit hier Teil der individuellen und gleichzeitig kollektiven εὐσέβεια-Anleitung.

12 Als Grundlage seiner Auslegung dient Gregor der Canticum-Text der LXX. Seine Auslegung bezieht sich auf Canticum 1,1–6,9, wobei er selbst im Prolog angibt, dass zu anderer Zeit eine Fortsetzung der Auslegung geplant sei (Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 113). Dünzl hält allerdings eine Fortsetzung »nach dem überzeugenden Schlußpunkt am Ende von hom. 15« für nicht wahrscheinlich (Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 113). Übersetzungsschwierigkeiten, die sich durch den LXX-Text ergeben, erkennt Gregor zwar an verschiedener Stelle, er macht sich diese jedoch interpretatorisch zunutze (vgl. Dünzl: Einleitung [s. Anm. 9], 39–47; vgl. auch Franz Dünzl: Die Canticum-Exegese des Gregor von Nyssa und des Origenes im Vergleich, in: JAC 36 [1993], [94–109] 100). 13 Zur Widmung des Prologs und der Datierung vgl. Dünzl: Einleitung (s. Anm. 9), 22–25.38. Sowohl die Abfassungszeit wie der -ort lassen sich kaum solide bestimmen, so dass Dünzl zum terminus ante quem 391 kommt und ex negativo davon spricht, die Homilien seien nicht in Konstantinopel verfasst (Dünzl: Einleitung [s. Anm. 9], 39). 14 Vgl. In Canticum Canticorum Prologus (GNO 6, 4,7 Langerbeck). 15 Dünzl: Einleitung (s. Anm. 9), 26, vgl. auch ders.: Braut (s. Anm. 10), 23–30.

Olfaktorische Reize als Anleitung zur εὐσέβεια

1.2

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Das Handlungsbild der Canticum-Homilien

Gregor beschreibt im Proömium, dass dem Hörer die Glaubens- und Handlungsgrundsätze (δόγματα) 16 in einem »Bild der Lebensgenüsse« (ει᾿κόνα τινὰ τῶν κατὰ τὸν βίον ἡδέων) 17 präsentiert werden. Das grundlegende Handlungsbild, das ihm als Auslegungsbasis dient, ist die Sehnsucht der Braut nach der Vermählung mit dem Bräutigam, wie Gregor schreibt: Das Bild aber ist eine Hochzeitsvorbereitung (ει᾿κὼν γαμική), bei der das Verlangen nach Schönheit (κάλλους ἐπιθυμία) Vermittler zur Sehnsucht (μεσιτεύει τῷ πόθῳ) ist. Dabei beginnt das Verlangen (τὴς ἐπιθυμίας) nicht nach menschlicher Gewohnheit beim Bräutigam, sondern die Jungfrau kommt dem Bräutigam zuvor, indem sie die Sehnsucht (τὸν πόθον) ohne Scham öffentlich kundtut und die Bitte äußert, endlich einmal im bräutlichen Kuß (φιλήματος) schwelgen zu dürfen. (vgl. Cant 1,2a) 18

Die sinnliche Direktheit dieses Bildes kann Gregor verwenden, weil er sowohl im Prolog als auch in homilia 1 seine Interpretation bereits gegen jede unvernünftige, leibliche Interpretation abgesichert hatte.19 Die imaginierte Hochzeitsszene20 mit den Details der sich schmückenden Braut, den Gaben21 der Brautwerber (Patriarchen, Propheten, Gesetzgeber), der unendlichen Anziehungskraft zwischen Liebenden, der »Intensität«22 des Eros,23 der sie antreibt und nie in Er16 Δόγματα ist hier eindeutig auch habituell konnotiert, weshalb ich von »Glaubens- und Handlungsgrundsätzen« sowie »Handlungsbild« spreche. 17 In Canticum Canticorum, oratio 1 (23,15 L.). 18 In Canticum Canticorum, oratio 1 (23,16–24,1 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 129. 19 Das wird bereits deutlich durch den programmatischen Beginn (»mystische Schau«, »unbefleckte Partnerschaft«, Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 117), den Dreischritt des Aufstiegs von Sprüche – Kohelet – Hohelied, einer klaren Ermahnung der Hörer, den Text nicht wörtlich zu verstehen als »tierische […] Vernunftlosigkeit« (Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 131), einem Vergleich aus der Malerei (die Farben ergeben die Gestalt; der Blick verweilt nicht bei Einzelfarben, d. h. einzelnen Bildern, sondern beim Gesamtanblick) (Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 137) sowie den im Prolog vorangegangenen Überlegungen zur Auslegungsmethode, die dem Prinzip des Nutzens folge (nach Röm 7), also nicht am Begriff hängt, sondern darüber hinaus geht. Vgl. die Konzeption der drei Schriften als drei Entwicklungsstufen bereits bei Fürst/Strutwolf: Einleitung (s. Anm. 9), 17–18; zu Überlegungen zur Funktion der »Erotik« vgl. Mühlenberg: Sprache (s. Anm. 9), 371–373. 20 Gregor greift die Bezeichnung νύμφη aus dem Hohelied auf und ergänzt sie frei durch das Gegenstück: νυμφίος (Dünzl: Einleitung [s. Anm. 9], 75). 21 Als »Brautgaben« werden in In Canticum Canticorum, oratio 1 (24,5–9 L.) genannt: »Nachlaß der Verfehlungen, Verzeihung des Bösen, Wegnahme der Sünde, Umwandlung der Natur, Veränderung des Vergänglichen ins Unvergängliche, Genuß des Paradieses, Würde der Königsherrschaft und Freude, die kein Ende hat« (Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 131). 22 Dünzl: Braut (s. Anm. 10), 388. 23 Vgl. für den Kontext von Liebe und Mystik auch: Mühlenberg: Sprache (s. Anm. 9); Thomas

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nüchterung umschlägt,24 der Sehnsucht nach dem erfüllenden Moment des innigen Kusses (Kontakt mit dem Logos) – all das bietet ausreichend Stoff, um in der Text- und Symbolwelt des Hoheliedes den Gedanken des unendlichen Aufstiegs zu beschreiben;25 den unendlichen Aufstieg einer ὁμοίωσις θεῷ als nie endenden Prozess der Sehnsucht nach Gott, der als Unerreichbarer dem Suchenden – paradox genug – entgegenkommt.26 Der Aufstieg und die nicht stillbare Sehnsucht implizieren einen »Fortschritt« der Braut, den Gregor dem Hoheliedtext erst einschreiben muss. Schließlich hat das Hohelied selbst weder einen Entwicklungsfortschritt noch im eigentlichen Sinne einen Handlungsfortschritt, sondern ist vor allem Liebespreisung. Gregor hingegen schafft »eine aufsteigende Linie, die allerdings eher mit rhetorischen Mitteln als durch eine bestimmte theologische Themenfolge herausgearbeitet wird.«27 Die CanticumHomilien stellen keine systematisch gegliederte und durchstrukturierte »Theologie« dar, worauf Dünzl zu Recht hinweist. Weniger die Logik theologischer Gedanken28 als die assoziativ verbundene Symbolwelt des Hoheliedes struktu-

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Böhm: Liebe und Tod. Elemente einer spätantiken Lebensform und deren Auswirkung auf eine Konzeption des »mystischen Todes«, in: Tobias Trappe (Hg.): Liebe und Tod. Brennpunkte menschlichen Daseins, Basel 2004, 23–49, sowie ausführlich zum Thema der erotischen Liebe in den Canticum-Homilien Gregors: Dünzl: Braut (s. Anm. 10), 253–390. Die Grundlagen dieses Eros-Begriffes finden sich etwa bei Platon und Plotin (etwa Platon, Symposion 201d–212a; Plotin, Enneade 3,5 »Über den Eros«). Grund dafür ist letztlich die ontologische Konzeption des Menschen: »Der Mensch kann niemals in einem Zustand verharren, er muß sich (als geschaffenes Wesen, dessen Existenz ganz vom Werden geprägt ist) wandeln.« (Dünzl: Einleitung [s. Anm. 9], 63). Daraus resultiert auch, dass der Mensch nie Gottes als Unendlichem überdrüssig wird (Dünzl: Einleitung [s. Anm. 9], 65). Vgl. dazu die Studien von Ekkehard Mühlenberg: Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa. Gregors Kritik am Gottesbegriff der klassischen Metaphysik (FKDG 16), Göttingen 1966; Thomas Böhm: Theoria – Unendlichkeit – Aufstieg. Philosophische Implikationen zu De Vita Moysis von Gregor von Nyssa (SVigChr 35), Leiden u. a. 1996. Als Entgegenkommen nennt Dünzl Inkarnation sowie Schöpfung (vgl. dazu Dünzl: Braut [s. Anm. 10], 315–318). Dünzl: Einleitung (s. Anm. 9), 61–62; ders.: Braut (s. Anm. 10), 263–272. Dünzl bestimmt den »Reiz« der Auslegung Gregors gerade »nicht unbedingt in der Vielfalt und Schwierigkeit der Themen oder der subtilen Logik der Argumentation, sondern in der Eindringlichkeit und dem verschwenderischen Bilderreichtum, mit dem Gregor dieselben Grundgedanken (das Verlangen nach Gott, den Aufstieg der Seele, das Mühen um Tugend, die Eckdaten der Heilsgeschichte) wieder und wieder variiert.« (Dünzl: Einleitung [s. Anm. 9], 28). Deutlich wird dies auch, wenn bei einer systematischen Gegenüberstellung die Überlegungen aus homilia 15 und homilia 6 in Spannung zu stehen scheinen, dies aber in der Textfolge selbst durch die Verwendung derselben Bilder nicht auffällt. Die heilsgeschichtliche Konzeption der ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen in der ersten Schöpfung und deren Wiedererlangung sind nicht völlig kompatibel mit der ontologischen Konzeption einer Veränderung zum Besseren, die mit der Schöpfung der geistigen Natur gegeben ist und unbegrenzt erscheint (Dünzl: Braut [s. Anm. 10], 254–255).

Olfaktorische Reize als Anleitung zur εὐσέβεια

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rieren die Auslegung.29 Gregor liest die verschiedenen Metaphern, und, wie sich zeigen wird, auch die Gewürze als fortschreitenden Prozess im Tugendwandel. Dieser Fortschritt zielt auf die »leiblose, pneumatische und unbefleckte Partnerschaft (συζυγίαν) der Seele mit Gott […]«.30

1.3

Die geistige Dimension des Geruchs in den Canticum-Homilien

Welchen Beitrag liefert die olfaktorisch reiche Beschreibung für diesen Fortschritt im Hohelied? – Zunächst ist der Geruchssinn, den Gregor hier verhandelt, keiner, der organisch »durch die Nase« wahrgenommen wird, »sondern durch ein geistig zu verstehendes, immaterielles Vermögen, das mit dem Einziehen des Geistes zugleich den Wohlgeruch Christi mit einzieht.«31 Die menschliche αἴσθησις sei nämlich von »zweifacher Art«: Neben einer leiblichen (σωματική) existiere eine göttliche (θειοτέρα) (Spr 2,3.5.10 LXX).32 Die Sinnesorgane des Leibes (τὰ τοῦ σώματος αι᾿σθητήρια) und die »seelischen Betätigungen« (ἐν τοῖς ψυχικοῖς ἐνεργήμασι) stehen im Verhältnis einer ἀναλογία, was Gregor an unterschiedlichen Beispielen verdeutlicht, etwa dem des Kusses: Der Kuß […] wirkt durch die Empfindung der Berührung (διὰ τῆς ἁπτικῆς αι᾿σθήσεως).33 Denn im Kuß berühren die Lippen einander. Es gibt aber auch eine Berührung der Seele, die den Logos berührt. Sie wirkt durch ein unkörperliches und 29 Die dezidiert exegetische Anlage ist auch relevant für die Frage, inwiefern Gregors Text der Mystik zuzuordnen ist. Dünzl sieht gerade in der Exegese die Leistung Gregors (Dünzl: Braut [s. Anm. 10], 345) und argumentiert, dass keine persönliche mystische Erfahrungen tradiert werde (Dünzl: Braut [s. Anm. 10], 350), sondern eine »paradigmatische, nicht subjektive Individualität« (Dünzl: Braut [s. Anm. 10], 350) präsentiert wird. Mit seiner Exegese liefere Gregor damit entscheidende Vorleistungen, auf welche die spätere Mystik zurückgreifen konnte. Unabhängig davon, ob man Gregor der Mystik im engeren Sinne zuordnet, ist sein Einfluss auf die spätere Entwicklung zentral, weshalb er mit Recht etwa im Art. Mystik der TRE aufgeführt ist (Louth: Mystik [s. Anm. 5]). 30 Dünzl: Braut (s. Anm. 10), 59 zu Canticum 1,2–4, homilia 1. Diese Bilder sind nicht gleichzusetzen mit der Idee der Einigung bei Plotin; vgl. zur Diskussion bei Böhm: Theoria (s. Anm. 25), bes. 80–95, mit dem Fazit, dass es strukturelle Parallelen zwischen Plotin und Gregor hinsichtlich der Unmöglichkeit des Gott-Sehens gebe, sie sich aber darin unterscheiden, »daß für Gregor aufgrund seiner Theoria-Konzeption gerade eine Einigung im Sinne Plotins unmöglich erscheint.« (Böhm: Theoria [s. Anm. 25], 94). 31 In Canticum Canticorum, oratio 1 (34,15–18 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 144. 32 Eine knappe Zusammenstellung und Interpretation von Aussagen Gregors zum Bereich »πνευματικαὶ αι᾿σθήσεις (geistige Wahrnehmungen – Empfindungen)« findet sich bei: Theodoros Alexopoulos: Die Paradoxie als Ausdrucksmittel tiefgründiger theologischer Gedanken bei Gregor von Nyssa, in: VigChr 60 (2006), (431–446) 434–438. 33 Zum spezifischen Verständnis von αἴσθησις bei Gregor vgl. Dünzl: Braut (s. Anm. 10), 302– 305.

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geistig zu verstehendes Anfassen, wie es derjenige ausdrückte, der sagte: »Unsere Hände betasteten den Logos des Lebens« (1 Joh 1,1).34

Die Gemeinsamkeit innerhalb der Analogie besteht zwischen der Berührung, die einmal auf der körperlichen Ebene den Kontakt der Lippen meint und einmal auf der geistigen Ebene das Anfassen des Logos durch die Seele. In den CanticumHomilien werden aber keine weiteren theoretischen Überlegungen zur Sinneswahrnehmung angestellt, sondern ausgehend von hermeneutisch-exegetischen Überlegungen das Sinnliche im Hohelied geistig gedeutet. Die »Rätsel- und Sinnbilder« (ἐν ὑπονοίαις τισὶ καὶ αι᾿νίγμασιν) sollen vor allem »nützen« (ει᾿ς ὠφέλειαν). Deshalb ist für Gregor die Bezeichnung seiner Auslegung, die man ihm zufolge sowohl als »Anagogie« als auch als »Tropologie« oder »Allegorie« charakterisieren könne, unerheblich. Wie Paulus solle man sich nicht bei der Bezeichnung der Exegese (φροντίζει δὲ τοῦ ὀνόματος) aufhalten, sondern so auslegen, dass die Text-Bedeutung einem tugendgemäßen Leben (κατ’ ἀρετὴν βίον) nicht widerspreche.35 Ähnlich wie mit dem haptischen Reiz der Berührung verfährt Gregor auch mit den olfaktorischen Reizen im Hoheliedtext: Geistig verstanden sind die Wohlgerüche erkenntnisleitend und lebensgestaltend.

2

Aromata und Salböle, Myrrhe und Weihrauch – exemplarische Analyse der Geruchsdimension in den Canticum-Homilien

2.1

Aromata und Salböle

Zum Habitus der Liebenden gehört es, die Boten- und Lockstoffe durch Parfümierung zu intensivieren.36 Welches Parfüm erzeugt nach Gregor Anziehungskraft? In homilia 1 veranlasst ihn eine als Komparativ formulierte Beschreibung

34 In Canticum Canticorum, oratio 1 (34,9–14 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 145. 35 Vgl. In Canticum Canticorum Prologus (5,1–6,16 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 99–101. Vgl. dazu auch das pädagogische Anliegen Gregors, durch den Schrifttext zu erziehen (Dünzl: Braut [s. Anm. 10], 224–243). 36 Als Nebennotiz sei an dieser Stelle betont, dass Gregor den Habitus der Frau in der Exegese zwar als Interpretament für den Tugendwandel verwendet und damit eine Entsinnlichung verbunden ist, es aber auf die konkrete Frage, in welchem Maße Frauen Kosmetik verwenden sollten, durchaus unterschiedliche Antworten gab (vgl. z. B. den kritischen Text von Gregors Zeitgenosse Gregor von Nazianz, Κατὰ γυναικῶν καλλωπιζομένων/Adversus mulieres se nimis ornantes; Gregor selbst dagegen vertrat wohl eine gemäßigtere Haltung hinsichtlich der Körperpflege von Frauen in der Ehe, vgl. Leuenberger-Wenger: Ethik [s. Anm. 7], 126–127).

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des Mannes, der ebenfalls durch seinen Geruch begehrenswert ist37 (»Denn deine Brüste sind besser als Wein und der Duft deiner Salböle besser als alle Aromata [Cant 1,2b–3a]«38), zu einer metatextuellen Erklärung: Dies scheint mir folgenden Sinn anzudeuten: Unter den Aromata (ἀρώματα) verstehen wir die Tugenden (ἀρετὰς) wie zum Beispiel die Weisheit, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Einsicht und so weiter; durch sie stehen wir im »Wohlgeruch« (ἐν εὐωδίᾳ) jeder auf andere Art, je nach seiner Kraft und Willensentscheidung (προαίρεσις), sobald er sich mit ihnen »parfümiert« hat (οἷς προσχρωννύμενος) 39 […].40

Das Zitat zeigt, wie Gregor seine Homilien verstehen will: Er arrangiert in ihnen die im Hohelied immer wieder auftauchenden Aromata und Salböle als zentrales Charakteristikum des Tugendwandels. Die Beziehung zwischen Braut und Bräutigam – d. h. Christus – setzt er dazu ein, um dieses Tugendstreben christologisch zu begründen. Indem Gregor also die Parfümierung als Beschreibungskategorie wählt, lenkt er den Blick von einer Beschreibung des Bräutigams, der ein solches Dufterlebnis sogar übertrifft, hin zum aktiven (προαίρεσις! 41) Gestus des Sich-Parfümierens der Braut mit Tugenden. Das negative Pendant zum Wohlgeruch der Tugend ist der Sündengestank. Diese Beschreibungskategorie füllt den Begriff »Sünde« weniger inhaltlich; sie dient eher dazu, die Sünde im Kontrast zur Tugendschönheit als hässlich i. S. von unästhetisch zu qualifizieren.42 In homilia 4 sowie homilia 15 formuliert Gregor das auch direkt: Das Salböl ist dabei im Gegensatz zur Sünde zu denken (»Tugend 37 Die eigentümliche Beschreibung der »Brüste« des Mannes ist einem Übersetzungsfehler der LXX-Übersetzer geschuldet (Dünzl: Einleitung [s. Anm. 9], 42). 38 Ich folge der bei Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 147, gegebenen Übersetzung der LXX. 39 Die Übersetzung mit »Parfümierung« durch Dünzl erscheint passend; das Wort selbst ist aber sehr offen, vgl. die Angabe im Liddell-Scott: »spread upon« (Liddell-Scott, Oxford 91940 [with a rev. supplement, 1996], s. v. προσχρώννυμι). 40 In Canticum Canticorum, oratio 1 (35,15–19 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 147. 41 Für Nemesios von Emesa, aber mit einigen Verweisen auf Gregor: Joachim Söder: Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa, in: Ludger Jansen/Christoph Jedan (Hg.): Philosophische Anthropologie in der Antike (Topics in Ancient Philosophy/Themen der antiken Philosophie 5), Frankfurt a. M. 2010, 363–380. 42 Vgl. zur Verbindung der olfaktorischen Dimension und Sünde bereits alttestamentliche Texte, z. B. Jes 34,3.9, auch Augustinus, Enarrationes in Psalmos 3; vgl. zur Wirksamkeit der Idee eines Wohlgeruchs als Signifikant von Heiligkeit bis in die heutige Literatur Joachim Kügler: I. Die Macht der Nase. Duftdeutungen und ihre psychophysiologischen Grundlagen, in: ders. (Hg.): Die Macht der Nase. Zur religiösen Bedeutung des Duftes. Religionsgeschichte, Bibel, Liturgie (SBS 187), (11–23) 19–23. Eine vergleichbare ästhetische Kategorie ist die von Schwarz-Weiß und dem Abspülen der Schwärze durch mystisches Wasser bzw. die Veränderung der Schwärze zum leuchtenden Weiß, vgl. z. B. In Canticum Canticorum, oratio 2 (45,16–63,8 L.) sowie oratio 4 (99,4–107,5 L.).

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nämlich meint das ›Salböl‹, weil es von allem üblen Geruch der Sünden geschieden ist.«),43 die Salböle führen zur Beständigkeit im Tugendwandel. Der Wohlgeruch der Aromata ist demnach ein Rätselbild (αἴνιγμα) dafür, »sich allem Sündengestank (τοῦ πάσης ἁμαρτιῶν δυσωδίας) gegenüber fremd zu zeigen.«44 Der eigene Wohlgeruch ist indes nur eine unvollkommene Annäherung an den Wohlgeruch des Bräutigams, wie das Eingangszitat aus homilia 1 zeigte (»[…] der Duft deiner Salböle ist besser als alle Aromata […]«), die gerade die Unerreichbarkeit des göttlichen Wohlgeruchs lehren soll. Gleichwohl sind die »Aromata« der Braut als passende Geschenke für den König (Gott) zu verstehen, sie sind: τῆς εὐσεβείας ἀρώματα.45 Die umsichtige aufwendige Kultivierung des Körpers durch die Salböle und Aromata ist ein Reflex auf das verlockende Geruchserlebnis, das der Bräutigam selbst darstellt. In homilia 1 findet sich eine Passage, die über die Sehnsucht der bereits jugendlichen46 »Mädchen« handelt: Die Seelen ziehen also die Sehnsucht (πόδον) nach dem unvergänglichen Bräutigam an sich, indem sie, wie geschrieben steht, hinter Gott, dem Herrn herziehen (vgl. Hos 11,10). Der Wohlgeruch (εὐωδία) des Salböls aber wird zum Grund ihrer Liebe; ihm laufen sie nach und strecken sich dabei nach dem aus (ἐπεκτείνονται), was vor ihnen liegt, während sie das vergessen (λήθην), was hinter ihnen liegt (vgl. Phil 3,13): »Hinter dir her, heißt es nämlich, werden wir laufen in den Duft deiner Salböle (Cant 1,4b).«47

Die Epektasis48 wird erkenntnistheoretisch über das Vergessen (λήθη) und das paulinische Sich-Ausstrecken nach Phil 3,13, das ebenfalls den Blick zurück verbietet, formuliert. Eine Beziehung wird nicht nur von Seiten der Mädchen hergestellt, sondern liegt auch im Wohlgeruch des Bräutigams begründet, welcher Grund (αι᾿τία) ihrer Liebe ist. Die Gewohnheit antiker Frauen, ihren Körper durch einen Duftbeutel unter dem Gewand in Wohlgeruch zu hüllen, bezieht Gregor auf Seele und Bewusstsein.

43 In Canticum Canticorum, oratio 4 (124,4–6 L.); Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 283, Auslegung zu: »Stützt mich mit Salbölen« Hld 2,5a. 44 In Canticum Canticorum, oratio 15 (438,11–12 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 779. 45 In Canticum Canticorum, oratio 7 (205,18 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 403. 46 Gregor baut hier wieder den Fortschrittsgedanken ein, indem das Kindesalter noch für den Eros des Bräutigams unempfänglich sei, das Jugendalter aber – der Mysterien des göttlichen Schlafgemaches bereits teilhaftig geworden – sich nach der Schönheit des Bräutigams sehne (vgl. In Canticum Canticorum, oratio 1 [38,8–39,9 L.]; Übers. s. Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 151–153). 47 In Canticum Canticorum, oratio 1 (39,9–15 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 153. 48 Vgl. z. B. Theodoros Alexopoulos: Das unendliche Sichausstrecken (Epektasis) zum Guten bei Gregor von Nyssa und Plotin. Eine vergleichende Untersuchung, in: ZAC 10 (2007), 302–312.

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Gregor bleibt also nicht auf der Ebene eines äußeren Habitus der Parfümierung, sondern verbindet diesen in homilia 3 mit anatomisch-physiologischen Überlegungen zum Riechen. Indem er eine Analogie zwischen dem Duftbeutel, der das Gewand in Geruch hüllt, dem Herzen als Steuerorgan, welches die Arterien lebensfähig erhält, sowie der Seele als leitendem Prinzip herstellt, kommt er zu folgendem Zusammenhang zwischen Körper und Seele über den Geruch: »Ich habe«, sagt sie, »als Beutel, den ich vom Nacken über die Brust hängen lasse und durch den ich meinem Körper Duft verleihe, nicht irgendein anderes von den wohlduftenden Aromata; vielmehr liegt der Herr selbst, zu ›Myrrhenbalsam‹ geworden, im ›Beutel‹ des Bewusstseins (ἐν τῷ ἀποδέσῳ τῆς συνειδήσεως), weil er direkt in meinem Herzen sich lagert.« Denn der Ort, die Lage des Herzens, sagten die, die solches untersuchen, sei in der Mitte der Brüste. Dort aber, sagt die Braut, habe sie den »Beutel«; an diesem Ort werde das Gute (ἀγαθὸν) aufbewahrt. Es heißt aber, das Herz sei auch Quelle des Warmen in uns; von ihr aus werde die Wärme durch die Arterien über den ganzen Körper verteilt; durch sie würden die Glieder des Leibes warm und lebendig, indem sie durch das Feuer des Herzens erwärmt würden. Die Seele also, die den Wohlgeruch des Herrn in ihrem leitenden Seelenprinzip (ἐν τῷ ἡγεμονικῷ) aufnahm und ihr Herz zu einem »Beutel« für solches »Räucherwerk« machte, bringt jede einzelne Betätigung ihres Lebens gleichsam wie Glieder eines Leibes zum Glühen durch den Geist (das Pneuma), der aus ihrem Herzen sich verbreitet; keine Ungesetzlichkeit kühlt dabei die Liebe zu Gott in irgendeinem Glied des Leibes ab.49

Die Aufnahme des Geruchs im hegemonikon wird damit ein sich auf den gesamten Körper beziehendes Ereignis, das sich in jedem Lebensvollzug äußert.50 Diese anatomische Genauigkeit51 verhilft Gregor dazu, den olfaktorischen Reiz 49 In Canticum Canticorum, oratio 3 ( 93,16–95,3 L.); Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 237–239. 50 Eine Darstellung zum Verhältnis von Denken und Körperlichkeit für Aristoteles, Galen und Nemesios und die Abwehr der kardiozentrischen Bestimmung des Steuerorgans des Körpers findet sich bei Sabine Föllinger: Das Denken als psychosomatischer Prozess in der antiken Medizin und Philosophie, in: Diego De Brasi/dies. (Hg.): Anthropologie in Antike und Gegenwart. Biologische und philosophische Entwürfe vom Menschen (Lebenswissenschaften im Dialog 18), Freiburg u. a. 2015, 139–154; instruktive Überlegungen zur Bewertung des Körpers bei Nemesios und Gregor finden sich bei: Diego De Brasi: Eine Neubewertung des Körpers. Anthropologie und Glauben in den Schriften zur menschlichen Natur des Nemesios von Emesa und Gregor von Nyssa, in: De Brasi/Föllinger: Anthropologie, 377–395, der in der »Verflechtung von deskriptiver und normativer Anthropologie nicht nur Traktate, die einen philosophisch bedingten, argumentativen Zweck verfolgen [sieht], sondern auch ein weiteres […] durch die preaching rhetoric geprägtes Beispiel in der Tradition des delphischen Spruchs γνῶθι σαυτόν (gnôthi sautón, ›erkenne dich selbst‹).« (De Brasi: Neubewertung, 395). Zum Verhältnis von Leib und Seele bei Gregor vgl. Johannes Zachhuber: Die Seele als Dynamis bei Gregor von Nyssa. Überlegungen zur Schrift De anima et resurrectione, in: Clemens Sedmak/ Małgorzata Bogaczyk-Vormayr (Hg.): Patristik und Resilienz. Frühchristliche Einsichten in die Seelenkraft, Berlin 2012, 211–231. 51 Dünzl verweist allerdings darauf, dass »[d]ie Ansicht, daß das Feuer im Herzen durch die Atmung genährt werde, […] bei Aristoteles, Resp. 6 (473a Bekker), ausdrücklich verworfen

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aus dem Hohelied auf die menschliche Seele und in ihrem Bezug auf das Göttliche zu übertragen. Das Herz als der Ort, an dem sich der Herr, zu »Myrrhenbalsam« geworden, lagert, wird in seiner Wirkung auf Leib und Seele bestimmt. Mit den Überlegungen zum hegemonikon formuliert Gregor bereits einen impliziten Kontakt zwischen der Braut und einem Gegenüber: Die Braut hat den Wohlgeruch des »Herrn« im »Beutel« des Bewusstseins. Kommen Braut und Bräutigam aber noch näher in Kontakt? Finden sich also die Liebenden, wenn der Bräutigam die Braut immer wieder zu locken scheint, ihr aber entflieht, sie ihn nicht sehen kann? – Oder anders formuliert: Wie kombiniert Gregor das Geruchsthema mit seiner theologischen Konzeption des endlosen Aufstiegs, der Sehnsucht als erfüllendes Ziel? Die Beziehung zwischen Braut und Bräutigam ist bei Gregor wesentlich komplexer gedacht als über die Anziehungskraft, welche der Geruch, der von einem der beiden ausströmt, evoziert. Theologisch gesehen schließt Gregor die Unerkennbarkeit Gottes ein, und – im Bild gesprochen – ist das Ziel nicht, dass die Braut den Bräutigam tatsächlich erreicht. Wie es aber dennoch dazu kommt, dass die Braut den Bräutigam erkennt, dafür hält die Tradition ein hermeneutisches Konzept parat: das Spiegelmotiv.52 In homilia 3 beschreibt Gregor, ausgehend von der Bekundung der Braut »Mir gibt meine Narde seinen Duft«, wie auf einer »bunten Wiese der Tugend« wohlriechende Blumen und Aromata gesammelt werden, das ganze Leben zum Salböl durch den Duft der einzelnen Betätigungen wird, und erläutert dann: [W]enn er [ jemand, M. D.] so durchwegs vollkommen würde, dann hat er zwar nicht die Wesensfähigkeit, zum Gott Logos selbst wie auf das Sonnenrund unverwandt hinzu-

[ist] – zugunsten ihres Gegenteils: die Atmung diene der notwendigen Abkühlung des Herzfeuers.« (Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 238). Vgl. auch Dünzl: Braut (s. Anm. 10), 83–84. 52 Zur vielgestaltigen Spiegelmetaphorik in der Antike vgl. etwa Platon, Phaidros 255d–e, sowie den Platon zugeschriebenen Alcibiades 1,133b–c; seinen biblischen Anhalt hat das Spiegelmotiv in 1 Kor 13,12 (vgl. Dünzl: Braut [s. Anm. 10], 294) oder auch in 2 Kor 3,18 (vgl. Augustinus, De Trinitate 15,8 u. ö.). Zur Spiegelmetapher bei Gregor vgl. Alberto Capboscq: Schönheit Gottes und des Menschen. Theologische Untersuchung des Werkes In Canticum Canticorum von Gregor von Nyssa aus der Perspektive des Schönen und des Guten (RSTh 55), Frankfurt a. M. 2000, 185–202; zum Spiegelmotiv allgemein vgl. z. B. Thomas Cramer: Das Subjekt und sein Widerschein. Beobachtungen zum Wandel der Spiegelmetapher in Antike und Mittelalter, in: Martin Baisch u. a. (Hg.): Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, Königstein/Taunus 2005, 213–229. In homilia 4 formuliert Gregor einen ähnlichen Gedanken, dieses Mal für den Sehsinn, in den klassischen Worten der platonischen Eidola-Tradition (vgl. In Canticum Canticorum, oratio 4 [105,8–17 L.]; Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 255). Ähnliches lesen wir über das Auge im Platon zugeschriebenen Alcibiades 1,133a, was Böhm folgendermaßen charakterisiert: »Wenn man in das Beste oder die ›Arete‹ eines anderen Auges sieht (Pupille), erblickt man sich in diesem Auge selbst wie in einem Spiegel.« (Böhm: Theoria [s. Anm. 25], 83).

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sehen, er erblickt aber in sich wie in einem Spiegel die »Sonne«. […] Durch die Tugenden entsteht in uns die Erkenntnis des Guten, das alle Vernunft überragt, so, wie es möglich ist, durch ein (Ab)Bild die urbildliche Schönheit analog zu erschließen.53

Obwohl die Braut den Bräutigam lediglich mittels der Spiegelung in sich sehen kann, trägt dieses (Ab)Bild Wesentliches zu ihrem Erkennen bei. »Selbstaufmerksamkeit«,54 die Gregor bereits in einer an das delphische Diktum erinnernden Formulierung an den Beginn seiner Homilien gestellt hatte (πρόσεχε σεαυτῇ55), ist der Schlüssel, um Zugang zu dem an sich nicht fassbaren Gott zu erhalten.56 Genau diesen Prozess der Gotteserkenntnis in der Selbsterkenntnis reformuliert Gregor auch auf der Ebene des Geruchs. Der angenehme Geruch der eigenen Salböle bewirkt, dass über eine Duftnote der Wohlgeruch des Bräutigams wiedererkannt wird: Und weil sie sich dem Ersehnten noch mehr angenähert hat, hat sie, bevor seine Schönheit vor ihren Augen erscheint, durch den Geruchssinn Kontakt (διὰ τῆς ὀσφραντικῆς αι᾿σθήσεως) mit dem Gesuchten; und nachdem sie mit der Fähigkeit des Geruchssinns so etwas wie die Eigenart einer Farbe57 bemerkt (κατανοήσασα) hat, sagt sie, sie habe seinen Duft wiedererkannt (ἐπεγνωκέναι) durch den Wohlgeruch des Salböls, das den Namen »Narde« trägt […]. So nahm auch ich durch den guten Duft meines Salböls (διὰ τῆς εὐπνοίας τοῦ ἐμοῦ μύρου) dessen eigenen Wohlgeruch mit der Sinneswahrnehmung (τῇ αι᾿σθήσει) auf. […] von daher meinen wir, der Text erziehe uns durch das Gesagte dazu, daß dasjenige, was über alle Konstitution und Einrichtung des Seienden hinausliegt – was auch immer es seinem Wesen nach ist – , zwar unzugänglich, unberührbar und unfassbar ist, daß uns an seiner Stelle aber der Wohlgeruch, der in uns 53 In Canticum Canticorum, oratio 3 (90,10–12; 91,1–4 L.); Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 233; vgl. auch In Canticum Canticorum, oratio 3 (90,14–16 L.): »[…] machen uns das Unsichtbare sichtbar und fassbar das Unzugängliche, indem sie die ›Sonne‹ auf unserem Spiegel malen […].« (Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 233). 54 So Theo Kobusch über die Selbsterkenntnis und ihre Rolle in der christlichen Metaphysik, die eben v. a. Hoheliedauslegung ist (Theo Kobusch: Epoptie – Metaphysik des inneren Menschen, in: Quaestio 5 [2005], [23–36] 31). Die Charakterisierung des Hoheliedinhaltes als »Epoptie« entstammt der Canticum Canticorum-Auslegung des Origenes (Kobusch: Epoptie, 29). Zur Dreiteilung von Proverbia – Ecclesiastes – Canticum bei Gregor vgl. auch Anm. 19. Kobusch markiert genau in diesem aktiven Habitus und der Idee der »Selbstverwandlung« bei Gregor den Unterschied einer – mit den Worten Kobuschs – »praktischen Metaphysik«, der es nicht primär an theoretischer Gotteserkenntnis gelegen ist, zu einer Metaphysik aristotelischen Typs (Kobusch: Epoptie, 34). 55 Vgl. In Canticum Canticorum, oratio 1 (67,17–18 L.) (Auslegung zu Hld 1,8; vgl. dazu auch Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 196 [Anm. 44], der zusätzlich auf die Referenz Dtn 15,9 LXX aufmerksam macht). 56 Gregor kann diesen Gedanken der Gotteserkenntnis in der Selbsterkenntnis auch über die paulinischen Worte Gal 2,20 und 2 Kor 13,3 ausdrücken: Christus lebe und spreche in Paulus (In Canticum Canticorum, oratio 3 [88,4–6 L.]; Übers. dazu vgl. Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 229). 57 Dünzl vermerkt hierzu: »Wir würden die ›Färbung‹ des Geruchs als Duftnote bezeichnen.« (Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 228 [Anm. 36]).

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durch die Reinheit der Tugenden »destilliert« wird (διὰ τῆς τῶν ἀρετῶν καθαρότητος μυρεψουμένη εὐωδία), zuteil wird.58

Was der Geruchssinn wahrnimmt und worin ihm das Unzugängliche zugänglich wird, ist der Tugendgeruch. Es handelt sich streng genommen nicht um den Eigengeruch der Braut, sondern um appliziertes Parfüm. Diese scheinbare Grenze des Geruchsbildes löst sich allerdings auf, wenn die bereits dargestellte enge Verbindung von Geruch, Seele und hegemonikon bedacht wird, wodurch der wohlriechende Tugendwandel sich unmittelbar auf Seele und Leib auswirkt und die Braut verändert. Spätestens hier, bei der Theoretisierung des Erkennens und Kontaktes der Liebenden als Gotteserkenntnis in der Selbsterkenntnis, hat die Braut jede Individualität verloren und ist typos. Die paulinische Selbstbeschreibung in 2 Kor 2,14–16 über den Geruch bietet sich Gregor förmlich an als Parallele. Warum also sollte nicht sogar Paulus selbst »Braut« genannt werden können? – Für Gregor ist die »Braut« des Hoheliedes so sehr ein Modell, dass er sich zu dieser ungewöhnlichen Identifikation hinreißen lässt und nun anhand des Paulus zeigt,59 was er vorher für die Braut ausführte: Der mimetische Nachvollzug des Bräutigams lässt Paulus Nardenöl in sich als »Wohlgeruch Christi« destillieren, so dass durch die Tugenden die Erkenntnis des Guten, die alle Vernunft überragt, entstehe.60 Selbst zum Dufterlebnis geworden, erzielt Paulus auch eine Reaktion bei anderen: So sagte auch Paulus, als61 Braut, der den Bräutigam in den Tugenden nachahmte, der durch ihren Wohlgeruch die unzugängliche Schönheit in sich abbildete und aus den Früchten des Geistes – (das heißt aus) Liebe, Freude, Frieden und dergleichen – dieses Narden(öl) destillierte, er sei der »Wohlgeruch Christi« (vgl. 2 Kor 2,15). Dabei roch er in sich jene unzugängliche und überragende Gnade und bot sich den anderen dar, um wie ein Räucherwerk (θυμίαμα), je nach Belieben (der anderen), angenommen zu werden. Für sie wurde der Duft entweder lebensspendend oder todbringend, je nach der gegenwärtigen inneren Verfassung eines jeden.62

Dieses Bild aus dem 2 Kor wird mithilfe eines Vergleichs aus dem Naturraum weitergeführt: Während die Taube durch den Geruch des Salböls gestärkt wird, 58 In Canticum Canticorum, oratio 3 (88,11–89,20 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 229–231. 59 Eine weitere Variante des Themas ist der Weg des Mose, wie er v. a. in orationes 11 und 12 expliziert wird. 60 In Canticum Canticorum, oratio 3 (91,1–2 L.); Übers. dazu s. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 233. 61 Die Übers. von Dünzl wurde hier geändert zu »als Braut« statt »die Braut« (Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 233). 62 In Canticum Canticorum, oratio 3 (91,4–13 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 233–235.

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stirbt der Mistkäfer. »Taube« und »Mistkäfer« beschreiben verschiedene Möglichkeiten menschlichen Verhaltens. Damit hat Gregor in seiner Vorlage aus dem 2 Kor etwas Wesentliches verändert: Hatte Paulus vom »Wohlgeruch für Gott« und dem »Wohlgeruch der Erkenntnis Gottes« als Ausbreitung der Verkündigung gesprochen,63 transformiert Gregor diese Formulierungen ins Innere als Erkenntnisprozess des Paulus: Paulus destilliert die Tugendöle und riecht den Wohlgeruch in sich; erst dann präsentiert er sich der Welt als Duft.Die eigentümliche Beschreibung des paulinischen Wohlgeruchs im 2 Kor gedeutet als doppelte Beziehung zum Transzendenten und zur Welt findet sich nicht nur bei Gregor, sondern hat auch andere Autoren, etwa den später schreibenden Johannes Chrysostomos dazu angeregt, den paulinischen Tugendgeruch in sein Paulusportrait aufzunehmen.64 Der Bräutigam wird so nicht nur erkannt, sondern honoriert die Mühe der Braut (bzw. die des Paulus) auch mit einem Lob in der als Rede und Antwort gestalteten Hoheliedkomposition. Er wählt dafür dieselben Worte, mit denen der Bräutigam selbst in homilia 1 beschrieben worden war: »Und der Duft deiner Salböle ist besser als alle Aromata!« (Hld 4,10). Als Vergleichshorizont, von dem sich der Duft der Braut als überlegen abheben kann, wählt er den Opferkult.65 Geruch im Opferkontext entstehe durch die Verbrennung mit Feuer; Gregor zählt darunter nicht allein tierische Opfer, sondern auch Opfer von Naturalien, u. a. auch Weihrauchopfer. Wie seine gesamte Auslegung den Geruchssinn auf eine spirituelle Ebene hebt, grenzt er auch hier die somatischen Düfte, welche Gott zwar angenommen habe (»Gesetzesaromata«), von den Aromata der Braut ab, denen Gott als Lobopfer den Vorzug gebe (vgl. Ps 51,19 LXX Ps 50,19). Resü63 Meist wird der Hintergrund der Metapher vom Wohlgeruch im Triumphzug (Ausbreitung) sowie im Opferkontext gesehen, d. h. der Präsenz-Charakter Gottes anhand des Weihrauches betont; der Wohlgeruch des Paulus sei im Opferkontext zu sehen, als »Opferduft, an dem Gott gefallen hat.« Vgl. exemplarisch dazu Martin Vahrenhorst: Kultische Sprache in den Paulusbriefen (WUNT 230), Tübingen 2008, 204. 64 Vgl. Margaret M. Mitchell: The Heavenly Trumpet. John Chrysostom and the Art of Pauline Interpretation [HUTh 40], Tübingen 2000, 193: »The portrait of Paul that emerges here, through this depiction of his very scent, is of a manly exponent of virtue who emits a delightful supernatural odor that endows the apostle and permeates his clothes with tremendous power. In the double meaning of the scent/perfume Chrysostom has found a deft vehicle for capturing the complex and mystifying relationship between the interior and exterior realities of the human self. Paul’s personal ›smell‹ conveys to the outsiders (that is, those with trained noses) the true virtuous nature which lies within his body. But just as a perfume is an external agent applied to the body, Paul’s virtuous life depended upon continual doses from a spiritual, heavenly aspirator which gave him a foretaste (or, rather, a ›foresmell‹) of heavenly sensory realities in his own flesh. And Paul in turn allows his devotees to share in that glimpse by catching his scent.« 65 Gregor verliert kein Wort über die zeitgenössische Opferpraxis und deren Geruchsdimension in der Umwelt, sondern gewinnt seinen Vergleich allein auf der Textebene aus dem Bezug auf alttestamentliche Texte.

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mierend schreibt Gregor: »Die Seele also, die nach Art des Paulus, der ›Christi Wohlgeruch‹ war (vgl. 2 Kor 2,15), auf geistliche Weise duftete, übertraf alle typosartigen ›Aromata‹ des Gesetzes.«66 Der Duft der Braut gleicht damit jeder Art von Aroma, die im Alten Testament genannt wird: dem Salböl des Priesters (Ex 30,22–33) genauso wie dem besonders zusammengesetzten Räucherwerk (Ex 30,34–38), weil die Braut durch vielfältige Zusammensetzung und Mischung Duft erzeuge.67 Deshalb ziehe die göttliche Sinneswahrnehmung68 den immateriellen und reinen Geruch, der »mit Hilfe der Tugenden destilliert wird« (διὰ τῶν ἀρετῶν μυρεψουμένεν εὐωδίαν),69 dem somatischen Gesetzesgeruch vor. Nicht mehr die durch Feuer erzeugten Gerüche sind Gott angenehm, sondern die mit Parfüm assoziierten Tugendaromata. Solche Aromata finden sich gerade nicht ausschließlich im kultischen Kontext, sondern insbesondere im Raum des Gartens, welcher im Hoheliedtext selbst präsent ist und von Gregor für seine Interpretation von Hld 4,16–5,2a verwendet wird: »Durchwehe meinen Garten, und meine Aromata sollen fließen.« (Hld 4,16); »[…] ich erntete meine Myrrhe mit meinen Aromata […]« (Hld 5,1). Gustatorischer, olfaktorischer und visueller Sinn gelangen hier in eine synästhetisch reiche paradiesische Genusslandschaft. Die Braut baut im Garten (der Kirche), einem locus amoenus gleichend, Aromata an; sie bittet den Gärtner (Gott) um Hilfe, welcher schon viele aromatische Quellen hervorbrachte wie die Evangelisten. Der Bräutigam kommt in den Garten, er genießt von den Früchten und verändert deren Beschaffenheit zu Wertvollerem. Jeder Wohlgeruch sei eine Lust (ἡδονή) für den Geruchssinn.70 Auch hier wird ein produktives, geschäftiges Szenario der Interaktion von Gärtner und Braut beschrieben; die Braut pflanzt die aromatischen Tugenden, der Gärtner vollendet sie. 66 In Canticum Canticorum, oratio 9 (268,5–7 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 499. 67 Vgl. In Canticum Canticorum, oratio 9 (268,5–10 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 499. 68 Geruchssinn des Bräutigams: τῇ ὀσφρήσει τοῦ νυμφίου (In Canticum Canticorum, oratio 9 [268,10–11 L.]), göttliche Sinneswahrnehmung nach Spr 22,12a LXX: ἡ θεία αἴσθησις (In Canticum Canticorum, oratio 9 [268,11 L.]) (Übers. dazu vgl. Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 498). 69 In Canticum Canticorum, oratio 9 (268,14–15 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 501. 70 In Canticum Canticorum, oratio 10 (305,6–13.18–23 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 557–559: »Er pflückte die Früchte der Aromata und sättigte sich an den Baumfrüchten der Tugend. Dieses Mahl hat er zu einer Erzählung (διήγημα) gestaltet, wenn er folgendes zur Braut sagt: Ich stieg hinab in meinen Garten, meine Schwester Braut, ich erntete meine Myrrhe mit meinen Aromata, ich aß mein Brot mit meinem Honig, ich trank meinen Wein mit meiner Milch. Eßt, meine Nächsten, und trinkt und berauscht euch, meine Brüder! (Cant 5,1). […] Jeder Wohlgeruch wird zu einer Lust (ἡδονή) des Geruchssinns […] Der (Gärtner) aber stieg herab zu seinem Garten und veränderte die Beschaffenheit der Früchte zu Größerem und Wertvollerem. […].«

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In homilia 15 schließlich laufen in der Auslegung zu Hld 6,2 – »Mein Brudersohn ging hinab in seinen Garten, hinein in Schalen von Aroma, um in Gärten zu weiden und Lilien zu sammeln.« – unterschiedliche Bilder der Produktion und der synästhetischen Erfahrungswelt ineinander, so dass die Schale, in der Aromata gemischt werden, auch Behältnis für den göttlichen Wein werden kann. Das ist keinesfalls eine Katachrese, sondern in seiner einfallsreichen Zusammenstellung von Disparatem eher ein concetto: Wenn jemand dem vorher erläuterten Textverständnis zufolge eine »Schale von Aroma« werden wollte, die hervorbringt, was zur Herstellung von Salbölen dient (vgl. Cant 5,13a), so wird ein solcher Mensch zu einem »Mischkrug der Weisheit« (vgl. Spr 9,2 LXX) und nimmt den göttlichen und lauteren »Wein« in sich auf, durch welchen demjenigen, der ihn zu sich nimmt, Freude zuteil wird (vgl. Ps 104,15a: LXX Ps 103,15a).71

Gerade das letzte Beispiel zeigt noch einmal sehr deutlich: Gregor bleibt in der genauen Bestimmung der Aromata, der Konkretisierung von Tugenden, vage. Was er aber bildreich gestaltet, ist die Wechselbeziehung zwischen eigener Salbölproduktion einerseits und der Aufnahme von göttlichem Wein andererseits, letztlich von Ethik und Soteriologie, dem Fortschreiten im Tugendwandel, der ohne das Entgegenkommen des Bräutigams nicht möglich ist. Das, was Braut und Bräutigam im Hohelied füreinander so reizvoll macht und wie sie in den Kategorien olfaktorischer Liebespreisung die Attraktivität des anderen fassen, sind die geruchsintensiven Aromata und Salböle. Gregor nutzt diese ästhetische Anziehungskraft für die Begründung und Veranschaulichung des Tugendwandels, grenzt diesen vom alttestamentlichen Gesetzes- und Opferverständnis ab und entwirft die angestrebte Tugendschönheit als Beziehung und Kontakt über den Geruch.

2.2

Myrrhe und Weihrauch

In der Reihe der Beschreibungen der Braut finden sich auch zwei spezifizierte Gewürze –Weihrauch und Myrrhe –, die aufgrund ihrer Kostbarkeit die Braut als besonders attraktiv auszeichnen, aber auch Verwendung im Kontext des Todes finden.72 Beide Gewürze sind in der christlichen Tradition für ihren symboli71 In Canticum Canticorum, oratio 15 (437,13–17 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 779. 72 Nicht eingegangen wird hier auf die Narde. Auch sie wird mit dem Todesereignis über Joh 12,3 verknüpft. Das Salböl verweise auf: τοῦ θανάτου μυστήριον (In Canticum Canticorum, oratio 3 [92,17–18 L.]). Als Salböl der Braut im Hohelied verleihe es den Duft des Bräutigams, als Salböl, das über den Herrn ausgegossen wurde, hülle es das ganze Haus in Wohlgeruch (vgl. Mk 14,8; Mt 26,12: »Sie nahm es vorweg für mein Begräbnis.«). Das Haus verweist klassischerweise auf den

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schen Überschuss bekannt. Ist in den Evangelien eine Deutung über die Kostbarkeit der Gaben hinaus allenfalls angedeutet,73 so entspinnen sich in der späteren christlichen Tradition weitreichende Deutungen. »Weihrauch« als Symbol des Göttlichen und »Myrrhe« als Symbol des Sterbens dienen als Prolepse auf die Passionserzählung,74 als Verweis auf die Göttlichkeit Christi und sein Sterben. Im Hohelied sind die Gewürze allerdings sowohl Charakteristika des Bräutigams als auch der Braut – die Mimesis der Braut ist damit der olfaktorischen Beschreibung bereits inhärent. In eine Reihenfolge gebracht – Myrrhe und Weihrauch – werden sie bei Gregor als Abfolge christlichen Wandels gedacht: Dem Mitsterben folgt die ὁμοίωσις θεῷ. Ein intertextuelles Spiel beginnt, welches die christologisch gedeuteten Gewürze über die antike Mimesis-Konzeption als Beziehung zwischen Braut und Bräutigam in mehreren Variationen entfaltet. Diese Gewürze verbinden das Tugendstreben zur Vervollkommnung mit dem paulinischen Gedanken des Mitsterbens als Heilsereignis. In homilia 6 ist das Bild für die Braut im Hohelied das Räucherwerk aus Myrrhe und Weihrauch: »Wer ist diese, die aufsteigt aus der Wüste wie Stämme von Rauch, als Räucherwerk entzündete Myrrhe und Weihrauch, von allen Pulvern der Salbölhersteller?« (Hld 3,6). Um den Fortschritt der Braut75 zu zeigen, werde die Braut mit einem Hain von Bäumen verglichen, ihre Gestalt ist so verändert, dass sich die Freunde über ihr Aussehen wundern, das aus dem Fortschritt in der Tugend resultiere. Die Braut, zuvor finstere Gestalt, ist zu einer gesamten Kosmos, so dass Gregor Mt 26,13 nicht allein als Weitergabe der Verkündigung im Kosmos, sondern auch als Weitergabe des Duftes des Salböls lesen kann (In Canticum Canticorum, oratio 3 [92,8–93,9 L.]); der Wohlgeruch des Hauses wird »Chrisma des ganzen Leibes der Kirche aus der ganzen bewohnten Welt und im ganzen Kosmos« (In Canticum Canticorum, oratio 3 [93,6–7 L.]; Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 237). Dazu passt auch das Kirchenverständnis Gregors, wie es Thomas Böhm beschreibt: Das Kirchenverständnis bei Gregor von Nyssa. Eine protreptische und anagogische Ekklesiologie?, in: Johannes Arnold u. a. (Hg.): Väter der Kirche. Ekklesiales Denken von den Anfängen bis in die Neuzeit. Festgabe für Hermann Josef Sieben SJ zum 70. Geburtstag, Paderborn 2004, 241–255. 73 Zur Diskussion der Deutung von Myrrhe und Weihrauch im Neuen Testament vgl. Joachim Kügler: VI. Duftmetaphorik im Neuen Testament, in: ders. (Hg.): Die Macht der Nase. Zur religiösen Bedeutung des Duftes. Religionsgeschichte, Bibel, Liturgie (SBS 187), (123–171) 150–158. 74 Vgl. dazu etwa ganz ähnlich wie Gregor von Nyssa: Gregor von Nazianz, oratio 19,12, der dort ebenfalls die Aromata mit Christi Gottheit, Königswürde und Inkarnation in Verbindung bringt. Gregor empfiehlt hier nicht solche Gaben, ἀλλὰ δῶρα μυστικά (PG 35, 1057). 75 In Gregors Interpretation von Myrrhe und Weihrauch ist selbst bereits ein Entwicklungsmodell eingeschrieben. Er findet aber – wie die Beispiele bei Dünzl zeigen – unterschiedliche Sprachformen, dem einfachen Entwicklungsmodell immer wieder noch neue Transformationen an die Seite zu stellen. Beispielsweise interpretiert er den lockenden Ruf an die Verlobte – »Komm hierher, vom Weihrauch her, Braut« (Hld 4,8c) – als weitere Motivation, nach noch Höherem zu streben (vgl. zur Auslegung des Verses In Canticum Canticorum, oratio 8 [247,119–250,7 L.]; Übers. s. Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 467–471).

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schneeweißen Schönheit in der asketischen Umgebung der Wüste herangewachsen. Ein Bild (ὑπόδειγμα), das die Schönheit der Braut vergleichend beschreibt, ist darin das Räucherwerk. Nicht ἁπλοῦς, sondern ὡς μίαν ἐξ ἀμφοῖν entstehe der Geruch als Mischung (μίξις) von Myrrhe und Weihrauch.76 Die Myrrhe erscheint hier als Einbalsamierung der Leiber, als Sterben.77 Die Braut muss die irdischen Glieder töten, indem sie mit jenem bestattet werde. So kann sie, als Weihrauch, zur Ehre Gottes als Räucherwerk angezündet werden. Einen deutlichen Beleg für seine Deutung findet Gregor in Joh 19,39–40, wo das Salböl bei Jesu Einbalsamierung für Jesu Begräbnis steht. Produktionstechnische Details beschreiben den Prozess, in welchem sich die Braut verändert und verändert wird: Mit Mörser werden die Gewürze zerkleinert, es entsteht ein Pulver, das geräuchert wird. Bei der Produktion wird der Duft »beim Atemholen« (ὁ ἀναλαβὼν ἐν τῷ ἂσθματι) eingesogen, und der Fertigende beginnt selbst, erfüllt von parfümierter Atemluft/Pneuma, zu duften.78 Dieses Bild ist ähnlich gestaltet wie die Überlegungen zu den Aromata, nur dass hier der Gegenstand der Inhalation nicht die Tugendaromata sind, sondern Weihrauch und Myrrhe. Der eigentümliche Duft, den die Braut annimmt, wird hier als ins Innere der Braut verlagertes Räucheropfer für Gott beschrieben. Während Gregor in homilia 6 den Vorgang des Riechens als Interpretament verwendet, entfaltet er in homilia 7 das auf die Passion verweisende Symbolsystem von Myrrhe und Weihrauch als Gnadentheologie, um vom Tod Jesu als Sühne zum Mitsterben der Braut zu gelangen und in ihren Lobpreis zu münden. Mithilfe von Hld 4,6b – »Ich werde für mich auf den Berg der Myrrhe gehen und auf den Hügel des Weihrauchs« – ist die Abfolge von Passion (Myrrhe) und Verherrlichung Jesu (Weihrauch) beschrieben sowie die Vernichtung des Machthabers über den Tod (Hebr 2,14).79 Gregor kombiniert das Bild dann mit dezidiert gnadentheologischen Aussagen: Denn nicht aufgrund unserer Werke nimmt er den Tod für die Sünder auf sich, damit niemand sich rühme, sondern aufgrund seiner eigenen Gnade. Dann aber lehrt er noch,

76 In Canticum Canticorum, oratio 6 (188,17–19 L.); Übers. s. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 379–381: »und auch dieser ist nicht von einfacher Beschaffenheit, sondern eine Mischung aus Myrrhe und Weihrauch, so daß ein gefälliger Duft aus den beiden Dämpfen entsteht, mit deren Hilfe die Schönheit der Braut beschrieben wird.« 77 Vgl. den Verweis auf Röm 6,4 und Kol 2,12, d. h. die Verbindung von Sterben/Tod, Taufe und Auferstehen. 78 Vgl. In Canticum Canticorum, oratio 6 (189,11–15 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 381. 79 Diese Idee scheint dem Hebräerbrief entnommen zu sein. Auffällig ist, dass Gregor auch mit dem Adyton, das er zu Beginn der Homilien mit dem Hohenlied verbindet, Motive aufgreift, die sich im Hebr finden bzw. in der alttestamentlichen Tradition (vgl. z. B. auch das Motiv des Zeltes in homilia 2 zu Hld 1,5–8, vgl. dazu Dünzl: Braut [s. Anm. 10], 68–70).

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daß die menschliche Natur nicht anders vom Tadel gereinigt werden kann, als daß das Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt, alle Bosheit durch sein Tun vernichtet.80

Das Sühnopfer, das die Menschheit zur Reinheit befähigt, führt in der Bildwelt des Canticum von der heilsgeschichtlichen Beschreibung des Bräutigams, der auf den Berg der Myrrhe und Hügel des Weihrauches geht, zum Lobpreis der Braut: »Ganz und gar schön bist du, meine Nächste, und einen Tadel gibt es nicht an dir« (Hld 4,7). Der Bräutigam ist angetan von der Schönheit der Braut, welche diese durch ihn erlangt. Mithilfe paulinischer partizipatorischer Kategorien beschreibt Gregor: Wenn jemand mit dem Bräutigam an der »Myrrhe« Anteil hat, wird er auch am »Weihrauch« mit ihm teilhaben, Mitleiden und Mitverherrlichtwerden lassen die Braut ὃλος γίνεται καλός (»ganz und gar schön werden«).81 Das Thema des Geruchs ist in diesen Passagen zugunsten des Verweissystems von Myrrhe und Weihrauch als Symbole für Mitsterben und Mitverherrlichtwerden in den Hintergrund getreten. Gregor gestaltet aus den intertextuellen Bezügen zwischen den Gewürzen im Hohelied als Schönheitspreis, dem Verweissystem auf die Passion Christi sowie den paulinischen Teilhaberelationen eine Narration über das Heilsereignis, das der Bräutigam mit dem Tod grundlegt, und das sich unmittelbar auf die Braut auswirkt. In homilia 9 wählt Gregor aus dem Hohelied wieder ein anderes Bild: die Kleidung der Braut, deren Duft wie Weihrauchduft sei (Hld 4,11c). Der Weihrauch verrät eine Nähe zum Göttlichen, die Braut ist hier bereits weiter fortgeschritten im Tugendwandel. Homilia 9 setzt zunächst programmatisch mit einer Anweisung an, welche bereits das Thema des Abschnittes vorgibt: das Gesagte so zu hören, als ob man für die Leidenschaften tot und bereits zu geistbestimmter Natur verwandelt sei. Inhaltlich geht es um Braut (hier die Kirche) und Bräutigam, die sich wechselseitig ihre Liebesgesinnung (τὴν ἐρωτικήν) bekunden, wobei Gregor in homilia 9 (Hld 4,10–15) das Lob des Bräutigams für die Braut analysiert. Der Bräutigam lobt die Brüste der Braut, die nicht mehr Milch, sondern Wein spenden, ihr Salböl sowie ihre zu Honig (für Vollkommene) und Milch (für Unmündige) gewordene Rede. Danach spricht er über die Kleidung der Frau: Der Duft ihres Gewandes sei wie Weihrauchduft. Später erklärt er: »Dadurch bezeugt der Text, sie habe Christus angezogen. Denn die Gemeinschaft (μετουσία) mit Gott – das Göttliche nämlich wird durch den Weihrauch angezeigt – wird zum Ziel jedes tugendhaften Lebens.«82 Die Braut erscheint hier also im Weihrauch80 In Canticum Canticorum, oratio 7 (243,8–13 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 457–459. 81 In Canticum Canticorum, oratio 7 (243,20 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 459. 82 In Canticum Canticorum, oratio 9 (280,10–12 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 519.

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gewand, sie umgibt sich mittels der Kleidung mit dem Geruch des Göttlichen, was freilich ein Analogon bleibt: »Der Duft Deiner Gewänder ist wie Weihrauchduft« (Hld 4,11c). Charakterisiert wird dieser Gewandschmuck über die Leidenschaftslosigkeit, die ἐνάρετη ζωή als Angleichung an das Göttliche (ἡ πρὸς τὸ θεῖόν ἐστιν ὁμοίωσις).83 Mithilfe der Beschreibung der Bekleidung durch einen Duft wie Weihrauch kann Gregor vermeiden, von der tatsächlichen Göttlichkeit der Braut zu sprechen – es bleibt ein Als-ob, eine sich annähernde Mimesis. Er greift mit dem Motiv der Bekleidung einerseits die paulinische Rede des »Christus-Anziehens« auf, andererseits schwingt wohl auch der längst bekannte Bezug auf die Transzendenz, wie er etwa von Priestergewändern her geläufig ist, mit; anders als das dem Kultpersonal vorbehaltene Kleidungsstück ist das Weihrauchgewand bei Gregor als »Christus-Anziehen« allerdings jedem zugänglich. Es folgt der Vergleich mit einem »verschlossenen Garten« und den darin vorfindlichen Gewürzen, demnach ὁ τῶν ἐπαίνων κατάλογος, eine »ganze Liste der Lobesworte«84 (zu Hld 4,14–15), in der sich wiederum Myrrhe und Weihrauch finden.85 Nicht bloßer Lobpreis seien die Worte, sondern ihr Sinn liege darin, Kraft (δύναμις) für den Aufstieg zu verleihen.86 Die »Aussendungen« (Hld 4,13– 14) dieser verschiedensten Gewürze markieren bereits einen enormen Fortschritt der Braut, deren Mund die Worte des Glaubens sendet, welche denen, die es aufnehmen, zum »Paradiesgarten« (παράδεισος) werden.87 Gregor erläutert daraufhin die Bedeutung der verschiedenen genannten Gewürze: Die »Weihrauchbäume« (Hld 4,14c) signalisieren, dass jemand »in allen Betätigungen des Lebens die Gottähnlichkeit (τὸ θεοειδές) bei sich zum Ausdruck bringt«.88 Die Rede von solchen »Wesenszüge[n] des göttlichen Bildes«89 (τἠς θείας ει᾿κόνος ἐφ’ ἑαυτοῦ) animiert Gregor dazu, den »Weihrauch« mit dem »Bild des Todes«90 83 In Canticum Canticorum, oratio 9 (271,11–12 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 505. 84 In Canticum Canticorum, oratio 9 (279,4 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 517. 85 Vgl. zu einer Analyse zweier weiterer Gewürze und Gregors botanischer Kenntnis Annick Lallemand: Le safran et le cinnamome dans les Homélies sur le Cantique des cantiques de Grégoire de Nysse, in: L’antiquité classique 71 (2002), 121–130. 86 Vgl. In Canticum Canticorum, oratio 9 (279,7 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 517. 87 Vgl. In Canticum Canticorum, oratio 9 (282,6 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 521. Hier ist das Hören der zentrale Punkt: Der Empfangende hört das Wort und pflanzt es in sein Herz ein, so dass ein Garten entstehen kann. 88 In Canticum Canticorum, oratio 9 (290,2–4 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 533. 89 In Canticum Canticorum, oratio 9 (289,17–18 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 533. 90 »Niemand aber wird Genosse der Herrlichkeit Gottes, wenn er nicht zuerst gleichgestaltet

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– d. h. Myrrhe, Aloe als Hinweise auf die Teilhabe am Begräbnis91 – und den Spitzenölen als Reinheitssymbol zu kombinieren. Letzteres verdeutlicht Gregor anhand von Am 6,4–6 LXX, woraus er das Reinheitsgebot für Wein sowie Salbölen, denen nichts beigemischt werden dürfe, um den guten Duft nicht zu zerstören,92 ableitet. Im Gegensatz zur Erzählung aus Amos zeige das Hohelied die Braut als rein (καθαρόν) in ihren Glaubenssätzen (τῶν δογμάτων), wenn sie Spitzenöle hervorbringe.93 Das der neuplatonischen Tradition entnommene Konzept des Todes als Selbsterkenntnis, das Absterben für die sinnlichen Leidenschaften hin zur Reinheit der Seele,94 wird hier als Teilhabe am Sterben Jesu greifbar. Dieser Tod ist eingefangen in dem olfaktorischen Bild der mit Myrrhe und Aloe umgebenen Braut und stellt somit sinnlich wahrnehmbar mit dem Absterben zugleich das Resultat einer Transformation durch einen solchen Tod vor Augen: die zum Geruchserlebnis gewordene schöne Braut. Die Braut zeigt sich in Wohlgeruch gehüllt und mit einem Weihrauchgewand umgeben. Durch die Beziehungskategorie im Hohelied verliert diese Veränderung der Braut aber nie ihren Bezug auf den Bräutigam: »Ich stand auf, meinem Brudersohn zu öffnen; meine Hände ließen Myrrhe tropfen, meine Finger reichlich bemessene Myrrhe.« (Hld 5,5a–c). Die Reinheit, welche ein Wollen der Braut einschließt, zeigt Gregor in homilia 12 in seiner Auslegung zu Hld 5,5a–c ebenso wie die göttliche Gnade. Der Bräutigam findet sich nicht »in uns« ein, wenn nicht zuvor die irdischen Glieder getötet wurden95 – deshalb zeigt die Braut dem Bräutigam die von Myrrhe tropfenden Hände. Die Bedeutung dieses eigentümlichen Bildes beschreibt Gregor so: Mit diesen Worten nämlich gibt sie an, auf welche Weise dem Bräutigam die Tür geöffnet wird: »Dadurch, daß ich mit ihm begraben wurde durch die Taufe in den Tod (vgl. Röm 6,4), erstand ich auf. Denn das Auferstehen hätte sich nicht wirksam erweisen können, wenn nicht das freiwillige ›Totsein‹ vorangegangen wäre.«96

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wurde mit dem Bild des Todes.« Diese Formulierung erinnert sowohl an Röm 8,29 als auch an Phil 3,10; Dünzl bietet keine möglichen biblischen Bezüge (In Canticum Canticorum, oratio 9 [290,6–7 L.]; Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 533). Gregor verweist hier auf Joh 19,39–40, aber auch auf den, der »für uns den Tod kostete«, worin ein Bezug auf Hebr 2,9 vermutet werden kann. Vgl. In Canticum Canticorum, oratio 9 (291,3–4 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 535. Vgl. In Canticum Canticorum, oratio 9 (291,13–15 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 535. Vgl. Böhm: Liebe und Tod (s. Anm. 23), bes. 24–30. Das wird hier mit dem Bild des Leibes als Vorhang kombiniert, was wohl auf den Hebr zurückgeht; Dünzl vermerkt keinen Bezug auf den Hebr; vgl. auch Anm. 77 (Dünzl: Homilien zum Hohenlied [s. Anm. 6], 619). In Canticum Canticorum, oratio 12 (343,7–10 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 619.

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Gregor ist es in seiner Deutung besonders an der Freiwilligkeit (προαίρεσις) der Braut gelegen, die selbst ihre Hände zu Myrrhe werden lässt, für die Leidenschaften tot ist, was die Myrrhe als Todessymbol (θανάτου δὲ σύμβλον) 97 deutlich zeige. Diesem Thema widmet er immerhin ausführliche Passagen und kommt dann in einem längeren Exkurs noch darauf zu sprechen, warum es notwendig sei, dass der Tod dem Leben vorausgehe, die Seele durch den Tod aus dem Tod auferstehe.98 Die Braut also, beendet Gregor seinen ausufernden Gedankengang, macht alles richtig, »weil sie durch ihr ›Totsein‹ (νεκρότης) in jeder Art von Bosheit aufersteht, um dem Logos den Zugang zu sich zu öffnen. Der Logos aber, den sie einziehen läßt, bedeutet Leben.«99 Die Achtsamkeit der Braut ist nicht vergeblich: Diese lässt die Braut sich dem Bräutigam soweit annähern, dass der Logos einziehen kann. Alle Passagen zu Myrrhe und Weihrauch beziehen sich lediglich peripher auf den Geruchssinn als solchen, auch wenn bisweilen Produktionsdetails bzw. Überlegungen zum Riechvorgang herangezogen werden. Der intertextuelle Bezug auf den Hoheliedtext allerdings bindet Mitsterben und Mitverherrlichtwerden (Myrrhe und Weihrauch) an die Gestalt der Braut – diese wiederum erhält ihre Schönheit gerade durch die mit den geruchsintensiven Gewürzen evozierte Liebespreisung. Dass sich die HörerInnen an eine solche ästhetische Gestalt annähern können, vermittelt Gregor, wenn er dem »Bild des Todes« zwar nicht Gott selbst, wohl aber die literarisch olfaktorisch ästhetisierte Braut an die Seite stellt.

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Die ästhetische Dimension olfaktorischer Reize als Impuls für die christliche εὐσέβεια – Ergebnis

Das Neue Testament, das als eher »geruchsarm« zu bezeichnen ist,100 kennt im engeren Sinne vor allem den spiritualisierten Opfergeruch, der einen Gaben-, Lob- und Transzendenz-Bezug impliziert, und den göttlichen Duft, wie er sich 97 In Canticum Canticorum, oratio 12 (347,13 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 625. 98 Vgl. In Canticum Canticorum, oratio 12 (345,5–352,5 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 621–633. 99 In Canticum Canticorum, oratio 12 (352,2–4 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 633. 100 Vgl. Ernst von Dobschütz: Die fünf Sinne im Neuen Testament, in: JBL 48 (1929), 378–411, zum Geruch bes. 383–387; Dobschütz weist darauf hin, dass das Heilige im Neuen Testament selbst keinen Geruch habe (Dobschütz: Sinne, 386–387). Zu zentralen Stellen im Neuen Testament, an denen sich Duftmetaphorik findet, vgl. auch Kügler: VI. Duftmetaphorik im Neuen Testament (s. Anm. 73), 123–171, der folgende neutestamentliche Stellen analysiert: Phil 4,18; Eph 5,2; Offb 5,8; 8,3–4; 2 Kor 2,14–16; Mt 2,11 sowie Joh 12,3.

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insbesondere in 2 Kor 2,14–16 artikuliert. In Gregors Canticum-Homilien hingegen verschwindet – vorgegeben durch den Hoheliedtext – eine explizite Opferdimension nahezu ganz;101 gleichwohl bringt Gregor den Text des Hoheliedes mit der neutestamentlichen Soteriologie über den Tod Jesu zusammen: An die Stelle des (spiritualisierten) Opfergeruchs tritt die ästhetisierte, symbolhaft aufgeladene und unter anatomisch-physiologischem Blickwinkel analysierte kulturelle und vegetative Dimension des Wohlgeruchs. Der in platonischer Tradition stehende Eros, das sehnende Streben, z. B. zum Schönen, öffnet das Hohelied und seine Gerüche einer weiten Perspektive, wodurch er zum pädagogisch-ethischen Leitfaden für die Gemeinde werden kann. Die bei Paulus angelegte mimetische Interpretation der Soteriologie im Tod Jesu erhält umgekehrt in der Canticum-Auslegung Gregors eine erstaunliche Ästhetisierung durch ihre neue synästhetische und philosophische Umgebung. Damit gelangt Gregor nicht zu einer Ästhetik der Hässlichkeit des Todes, auch nicht zu einer Passionsmystik, die menschliche Schwäche und Leiden in den Mittelpunkt rückt. Demgegenüber zielt das »Mitsterben« auf ein kollektives Verlangen, das auf 1 Kor 15,28 hinsteuert, der Veränderung aller, so dass Gott alles in allen wird, für die, welche »durch die Einheit miteinander in der Gemeinschaft des Guten verschmolzen sind in Christus […]«.102 Der Geruch ist dabei endgültig zu einer weniger sinnlichen als vielmehr ästhetischen103 Kategorie geworden, welche den Menschen sich selbst auf das Schöne hin entwerfen lässt und mithilfe des Bräutigams und seines Geruchs erst sich einem solchen annähern kann. Der Duft ist soteriologische memoria des eigenen und göttlichen Schönen. Die Flüchtigkeit des Geruchs, welcher Kant und Hegel später jeden Nutzen für die Ästhetik absprachen,104 und die physiologi101 Ausnahme: Opposition zu »Gesetzesaromata«. 102 In Canticum Canticorum, oratio 15 (469,7–8 L.); Übers. Dünzl: Homilien zum Hohenlied (s. Anm. 6), 829. 103 Ich verwende den Begriff »Ästhetik«, obwohl dieser im engeren Sinne erst ein Produkt der Philosophie des 18. Jahrhunderts ist. Er scheint aber passend, da er die wahrgenommene Schönheit der Braut beschreiben kann, was etwa durch den Begriff »ethisch« allein nicht erfasst wäre. 104 Sowohl Kant als auch Hegel äußern sich aus unterschiedlichen Gründen ambivalent bzw. dezidiert negativ über den Geruchssinn und begründen ihre Überlegungen u. a. mit der Flüchtigkeit des Geruchs. Vgl. dazu Kants Äußerungen in der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [Kant’s Gesammelte Schriften 7,1/Werke 7], hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1917), wo er den Geruchssinn als »subjectiv« (Kant: Anthropologie, 157) kategorisiert und schreibt, der Geruchssinn sei der »undankbarste«, den es nicht lohne zu kultivieren, da es »mehr Gegenstände des Ekels« gebe und der Genuss immer nur »flüchtig und vorübergehend sein« könne (Kant: Anthropologie, 158). Hegel äußert sich ebenfalls zur ästhetischen Dimension des Geruchs; bei ihm ist die Ästhetik allerdings auf das Kunstschöne beschränkt, wodurch ein anderer Akzent gesetzt ist. Er formuliert folgendermaßen: »[…] Denn Geruch, Geschmack und Gefühl haben es mit dem

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schen Erklärungsversuche, welche das Riechen (fälschlicherweise) mit dem Herzen verbinden, helfen dabei, die Soteriologie zu einer solchen Anthropologie werden zu lassen, die sich zeitgenössischer ästhetischer Beschreibungskategorien bedient. Genau den Aspekt, der den Geruch als fragil und defizitär für die Wahrnehmung erscheinen lässt, und – auf der Beziehungsebene gesprochen – das große Risiko markiert, dass die geruchsinsinuierte Anziehung zwischen Liebenden täuschen könnte, sich der liebliche Geruch verflüchtigt oder abstoßend (Sündengestank) wird, greift Gregor auf. Er schöpft dabei aus dem Vollen der sinnlichen Erfahrung in Natur, Kultur und Kult.105 Die unmittelbare und gleichzeitig sich immer wieder entziehende Präsenz des Geruchs wird so zum Analogon für den Kontakt mit dem Göttlichen. Das spiegelbildliche Verhältnis ästhetischer Odoration, die Interaktion und Prozesshaftigkeit des Riechens und des Geruchs und die Imagination der wohlriechenden Gestalt der Braut als Anleitung zur εὐσέβεια stehen dabei weder im Gegensatz zur gängigen christlichen Verwendung eines spiritualisierten oder auch personalisierten Opfergeruches noch im Gegensatz zum Verweissystem des Geruchs auf das Heilige,106 stellen dem aber auf der Ebene der Exegese einen eigenen Entwurf an die Seite, der innerhalb Gregors komplexer Überlegungen darüber einzuordnen ist, wer Gott ist und was der Mensch sein kann.

Materiellen als solchem und den unmittelbar sinnlichen Qualitäten desselben zu tun; Geruch mit der materiellen Verflüchtigung durch die Luft, Geschmack mit der materiellen Auflösung der Gegenstände, und Gefühl mit Wärme, Kälte, Glätte usw. Aus diesen Gründen können es diese Sinne nicht mit den Gegenständen der Kunst zu tun haben, welche sich in ihrer realen Selbständigkeit erhalten sollen und kein nur sinnliches Verhältnis zulassen. […]« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke 13. Vorlesungen über die Ästhetik 1 [Stw 613], hg. von Eva Moldenhauer/Karl M. Michel, Frankfurt a. M. 1986, 61). Vgl. allgemein zum Geruch in der Philosophie Raab: Soziologie des Geruchs (s. Anm. 2), 54–72. 105 Zur zentralen Rolle der Sinne in der Antike, welche das weite Geruchspanorama der antiken Welt zeigt, vgl. z. B. Jerry Toner (Hg.): A Cultural History of the Senses in Antiquity, London u. a. 2014; Classen u. a.: Aroma (s. Anm. 2); Robert Jütte: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München 2000. 106 Diesen Aspekt nutzte man etwa im christlichen Gottesdienst durch den Einsatz von Weihrauch, um eine räumliche Abgrenzung von Heiligem und Profanem zu erzielen. Setzte man den Weihrauch, dem antiken Zeitgenossen als Aroma des Göttlichen vertraut, im christlichen Kontext zunächst noch sparsam ein, konnte man sich in der Zeit Gregors längst nicht mehr diesem olfaktorischen Reiz entziehen (vgl. Jürgen Tubach: Art. Weihrauch, I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 35, Berlin/New York 2003, 472–475). Der Weihrauch implizierte hier v. a. die Aspekte der Ehrung Gottes mittels des Weihrauches, das Opfergedächtnis, die Heiligung und den Verweis auf das Heilige (Charakterisierung in Anlehnung an Peter Wünsche: VII. Liturgiewissenschaftliche Perspektive, in: Joachim Kügler [Hg.]: Die Macht der Nase. Zur religiösen Bedeutung des Duftes. Religionsgeschichte, Bibel, Liturgie [SBS 187], [173–191] 178–184).

Uta Heil

Ein Sonntag in Cividale. Bemerkungen zum Concilium Foroiuliense (Cividale) im Jahr 796

Der Sonntag im wiederkehrenden siebentägigen Wochenrhythmus ist ein markantes Kennzeichen einer christlichen Gesellschaft – auch wenn der Tag heute eher für Freizeitvergnügungen und Treffen mit den Freunden und der Familie genutzt wird denn für den Gottesdienstbesuch oder für eine andere Form der geistigen Einkehr. Die Wohltat einer regelmäßigen Auszeit und die Möglichkeit zur Regeneration werden aber sowohl von Christen als auch von Nicht-Christen geschätzt. Dennoch stellt sich ein Unbehagen ein, ob das noch ein Sonntag als ein »Tag des Herrn«, wie er auch genannt wird,1 ist, und ob Christen sich nicht stärker für eine Bewahrung des Sonntags einsetzen sollten gegenüber den Ansprüchen der Wirtschaft2 und der Dominanz der modernen Spaßgesellschaft. Aber was heißt eigentlich »den Tag bewahren«? Was meinen Christen, am Sonntag tun oder lassen zu müssen? Warum soll für Christen der Sonntag überhaupt so wichtig sein, wenn es aus evangelischer Perspektive noch nicht einmal eine Pflicht zum wöchentlichen Gottesdienstbesuch gibt? 3 Man könnte 1 Über die verschiedenen Bezeichnungen für »Sonntag« (1. Tag, 8. Tag, Tag des Herrn oder Herrentag, Tag der Auferstehung, Tag der Sonne oder Sonntag) vgl. Henri Dumaine: Art. Dimanche, in: DALC 4,1, Paris 1920, (858–994) 858–886. 2 Das deutsche Grundgesetz (Art. 140) bezieht sich auf Art. 139 der Weimarer Verfassung, in dem es heißt: »Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.« (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, verfügbar unter: https://www.bundestag.de/bundestag/aufgaben/rechtsgrund lagen/grundgesetz/gg_11/245152 [04. 07. 2016]). Weitere Regelungen sowie Ausnahmen finden sich im Arbeitszeitgesetz (AZG). Die österreichische Gesetzgebung zum Sonntag findet sich im Sonntagsruhegesetz 1895; im Arbeitsruhegesetz 1983; im Betriebszeitengesetz 1984 und in der Novelle von 1997 zum Arbeitsruhegesetz (es ermöglicht Ausnahmen von der Wochenend- und Feiertagsruhe in Kollektivverträgen). 3 Martin Luther schreibt im Kleinen Katechismus zum dritten Gebot, dass »den Feiertag heiligen« eigentlich »Gottes Wort heiligen« meine: »Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir die Predigt und sein Wort nicht verachten, sondern es heilig halten, gerne hören und lernen.« (Luthers Kleiner Katechismus, das erste Hauptstück. Die zehn Gebote, verfügbar unter: https:// www.ekd.de/glauben/grundlagen/kleiner_katechismus_1.html [07. 07. 2016]). Der Heidelberger Katechismus bietet in Frage 103: »Gott will zum einen, dass das Predigtamt und die christliche Unterweisung erhalten bleiben und dass ich, besonders am Feiertag, zu der Ge-

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weiter fragen, was eigentlich die sonntägliche Arbeitsruhe und der Gottesdienst miteinander zu tun haben außer einer praktischen Erleichterung eines Gottesdienstbesuches. Ein Blick in die Geschichte kann zwar viele dieser Fragen beantworten, aber auch wieder neue aufwerfen, die zum weiteren Nachdenken anregen. Die folgenden Überlegungen reflektieren, wie sich eine christliche Sonntagsverehrung bis zum Frühmittelalter hin entwickelt hat. Ansatzpunkt ist eine Synode in Cividale, Italien, im Jahr 796. Sie fand unter der Leitung von Paulinus von Aquileia (776–802 n. Chr.) statt, der ein gelehrter Bischof und einer der exponierten Gestalten der karolingischen Reform gewesen ist.4 Die Beschlüsse stehen daher im Kontext der vielen karolingischen Synoden, die kirchenrechtliche und theologische Fragen der Zeit behandeln. Bekannt ist die Synode von Cividale vor allem dafür, dass sie bzw. Paulinus für die Einfügung des filioque plädiert hat.5 Der längere canon 13 zum Sonntag bietet aber ebenfalls bemerkenswerte Ausführungen.

meinde Gottes fleißig komme. Dort soll ich Gottes Wort lernen, die heiligen Sakramente gebrauchen, den Herrn öffentlich anrufen und in christlicher Nächstenliebe für Bedürftige spenden.« (Heidelberger Katechismus – Der gesamte Text, revidierte Ausgabe 1997, 52012, verfügbar unter: http://www.heidelberger-katechismus.net/8103-0-227-50.html [07. 07. 2016]). Das katholisches Kirchenrecht formuliert eine »Sonntagspflicht«: Codex Iuris Canonici (1917), canon 1249: Verboten ist am Sonntag die Verrichtung knechtischer Arbeit, die Durchführung von Gerichtsakten und alle Formen des öffentlichen Handels (auch Wochenmärkte usw.). Geboten war, am Sonntag eine Messe zu hören. Codex Iuris Canonici (1983), canon 1246 § 1: »Der Sonntag, an dem das österliche Geheimnis gefeiert wird, ist aus apostolischer Tradition in der ganzen Kirche als der gebotene ursprüngliche Feiertag zu halten. Ebenso müssen gehalten werden die Tage der Geburt unseres Herrn Jesus Christus, der Erscheinung des Herrn, der Himmelfahrt und des heiligsten Leibes und Blutes Christi, der heiligen Gottesmutter Maria, ihrer Unbefleckten Empfängnis und ihrer Aufnahme in den Himmel, des heiligen Joseph, der heiligen Apostel Petrus und Paulus und schließlich Allerheiligen.« (Codex des Kanonischen Rechtes, 1983, verfügbar unter: http://www.vatican.va/archive/DEU0036/__P4N.HTM [07. 07. 2016]). 4 Vgl. allgemein Harald Krahwinkler: Friaul im Frühmittelalter. Geschichte einer Region vom Ende des fünften bis zum Ende des zehnten Jahrhunderts (VIÖG 30), Wien 1992, 158–166; Nicholas Everett: Paulinus, the Carolingians and famosissima Aquileia, in: Paolo Chiesa (Hg.): Paulino d’Aquileia e il contributo italiano all’Europa carolingia, Udine 2003, 115–154; Jennifer R. Davis: Charlemagne’s Practice of Empire, Cambridge 2015, 207–215. Eine Sonntagsgesetzgebung der karolingischen Reform findet sich auch in den Kanones der folgenden Konzile: Paderborn 785, canon 18; Aachen 789, canon 15; 77; 81; Frankfurt 794, canon 21; und nach Friaul 796 ferner in Arles 813, canon 6; Reims 813, canon 35; Mainz 813, canon 25; 37; Tours 813, canon 37; Chalôn 813, canon 50; Aachen 816, canon 72; Paris 829, canon 50. 5 Vgl. die lange Erklärung des Paulinus von Aquileia vor den Kanones in Concilium Foroiuliense (MGH.Conc 2,1 Aevi Karolini, 179,23–190,5 Werminghoff); vgl. dazu Peter Gemeinhardt: Die Filioque-Kontroverse zwischen Ost- und Westkirche im Frühmittelalter (AKG 82), Berlin/New York 2002, 69–74; Eugene Webb: In Search of the Triune God. The Christian Paths of East and West, Columbia, Missouri 2014, 169–170.

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Der Sonntag, ein verehrungswürdiger Tag

Der Kanon beginnt mit einer grundsätzlichen Aufforderung an alle Christen, den Herrentag zu verehren: Den Herrentag, beginnend mit der hereinbrechenden Nacht, das ist der Abend des Sabbats, an dem der erste Tag nach dem Sabbat anbricht, wenn die Glocke erklungen oder die Stunde der Vesperfeier ist, befehlen wir allen Christen mit aller Verehrung und ehrenvoller Gottesfurcht in Ehren zu halten, nicht zur Ehre des vergangenen Sabbats, sondern für die heilige Nacht des ersten Tages nach dem Sabbat, das ist des Herrentages.6

Die in Cividale versammelten Bischöfe befehlen (mandamus) also allen Christen (omnibus Christianis), den Herrentag zu verehren (venerari), und zwar cum omni reverentia et honorifica religione. Die Häufung der Wörter, welche eine religiöse Verehrung umschreiben (venerari, reverentia, honorificus, religio), unterstreicht die hohe Bedeutung des Sonntags und die gebotene Ehrfurcht dem Tag gegenüber. An den recht genauen Zeitangaben wird deutlich, dass es um den Tag an sich geht, der zu verehren ist, denn sein Beginn7 wird festgelegt, um keine Phase dieses Tages zu übersehen. Ein klingendes Signal8 läutet hier offensichtlich den Tag ein, nicht einen Gottesdienst. Der Kanon markiert damit eine Entwicklung, welche für die Christen in den ersten Jahrhunderten noch unvorstellbar war, da sie keinen heiligen Sonntag 6 Concilium Foroiuliense, canon 13 (194,21–25 W.): Diem autem dominicum inchoante noctis illius initio, id est vespere sabbati, quae in prima lucescit sabbati, quando signum insonuerit vel hora est ad vespertinum caelebrandum officium, non propter honorem sabbati ultimi, sed propter sanctam illam noctem primi sabbati, hoc est dominici diei, cum omni reverentia et honorifica religione venerari omnibus mandamus Christianis. Übersetzung nach Hans Huber: Geist und Buchstabe der Sonntagsruhe. Eine historisch-theologische Untersuchung über das Verbot der knechtlichen Arbeit von der Urkirche bis auf Thomas von Aquin (STMP 4), Salzburg 1958, 154. 7 Vgl. Dumaine: Dimanche (s. Anm. 1), 961–963. Der Tag beginnt also am Abend, eine nicht nur im Judentum verbreitete Vorstellung; vgl. die Beschreibung der verschiedenen Tagesanfänge bei Macrobius, Saturnalia 1,3 (Otto und Eva Schönberger [Hg. und Übers.]: Ambrosius Theodosius Macrobius. Tischgespräche am Saturnalienfest, Würzburg 2008, 28–30). Vgl. dazu Hans Kaletsch: Art. Tag, in: Lexikon der Alten Welt 3, Zürich/München 1990, 2974; Jörg Lanckau: Art. Tag/Tageszeiten (AT), in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2008, 3.2, verfügbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 32270/ [07. 07. 2016]; Walther Sontheimer: Art. Tageszeiten, in: PRE 2,4,2, Stuttgart 1932, 2011– 2023; vgl. aber Anja Wolkenhauer: Sonne und Mond, Kalender und Uhr. Studien zur Darstellung und poetischen Reflexion der Zeitordnung in der römischen Literatur (UALG 103), Berlin/New York 2011, 103. 8 Mit signum insonuerit ist wohl bereits eine läutende Glocke gemeint, auch wenn ein Glockenturm erst später aufkommt; vgl. Kurt Kramer: Art. Glocke VII. Die Glocke als liturgisches Instrument, in: LMA 4, München/Zürich 1989, 1499–1500; Christoph Daxelmüller: Art. Glocke, in: RGA 12, Berlin/New York 1998, 206–216, bes. 211–213.

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kannten.9 Natürlich traf man sich zu gottesdienstlichen Versammlungen.10 Der erste Zeuge dafür ist Justin († 165), der in seiner Apologie das Christentum so verteidigt, dass er auch beschreibt, was Christen machen, wenn sie sich regelmäßig treffen (Apologia 65–67). Deswegen erwähnt er in Apologia 67,3, dass sich Christen am sogenannten Sonntag versammeln; und nachdem er den gottesdienstlichen Ablauf beschrieben hat, erklärt er in Apologia 67,8, dass Christen den Sonntag wählen, weil er der sogenannte erste Tag sei, an dem Gott die Welt erschaffen habe, und überdies Christus an diesem Tag auferstanden sei: »Denn am Tag vor dem Saturntag kreuzigte man ihn, und an dem Tag nach dem Saturntag, welcher der Sonnentag ist, erschien er seinen Aposteln und Jüngern und lehrte sie das, was wir auch euch übergeben haben zur Einsicht.«11 Auf diese 9 Zum Sonntag allg. vgl. Thomas Bergholz: Art. Sonntag, in: TRE 31, Berlin/New York 2000, 449–472; Paul F. Bradshaw/Maxwell E. Johnson: The Origins of Feast, Fasts and Seasons in Early Christianity (ACC 86), Collegeville, Minnesota 2013; Franz Joseph Dölger: Die Planetenwoche der griechisch-römischen Antike und der christliche Sonntag, in: AuC 6 (1950), 228–238; Dumaine: Dimanche (s. Anm. 1), 858–994; Klaus Martin Girardet: Vom Sonnen-Tag zum Sonntag. Der dies solis in Gesetzgebung und Politik Konstantins, in: ZAC 11 (2007), 279– 310; Huber: Sonntagsruhe (s. Anm. 6); Willy Rordorf: Der Sonntag. Geschichte des Ruhe- und Gottesdiensttages im ältesten Christentum (AThANT 43), Zürich 1962; ders.: Sabbat und Sonntag in der Alten Kirche (TR 2), Zürich 1972; Jörg Rüpke: Kalender und Öffentlichkeit. Die Geschichte der Repräsentation und religiösen Qualifikation von Zeit in Rom (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 40), Berlin/New York 1995; Hubert Schiepek: Der Sonntag und kirchlich gebotene Feiertage nach kirchlichem und weltlichem Recht (AIC 27), Frankfurt ²2009; Reinhart Staats: Die Sonntagnachtgottesdienste der christlichen Frühzeit, in: ZNW 66 (1975), 242–263; Wilhelm Thomas: Der Sonntag im frühen Mittelalter. Mit Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte des christlichen Dekalogs (HeFo 6), Göttingen 1929; Rudolf Weiler (Hg.): Der Tag des Herrn. Kulturgeschichte des Sonntags, Wien u. a. 1998. 10 Neutestamentliche Zeugnisse sind jedoch spärlich: Paulus könnte in seinen Hinweisen für die Planung einer Kollekte eine sonntägliche Versammlung vor Augen haben (1 Kor 16,1–2); Apg 20,7 erwähnt eine Versammlung am ersten Tag der Woche; Apk 1,10 erwähnt einen »Herrentag« (als eschatologischen Tag?). Auf einen »Herrentag« verweist wohl auch die frühe Kirchenordnung Didache (14,1), auch wenn die Formulierung »wenn ihr euch am Herren des Herrn versammelt« (κατὰ κυριακὴν δὲ κυρίου συναχθέντες [SUC 2, 86 Wengst]) auffällig ist; vgl. auch Ignatius, Epistula ad Magnesios 9,1. Markus Vinzent versucht (Die Auferstehung Christi im frühen Christentum, Freiburg i. Br. u. a. 2014, 271–289, bes. 278– 279), das Gedenken an die Auferstehung und den damit verbundenen Sonntag erst als mit Markion ins Christentum eingedrungen zu verstehen und verneint auch, dass in Didache 14,1 der Herrentag gemeint sei. Seine Deutung »beim Herrn des Herrn« ist aber rein philologisch schon nicht überzeugend – das feminine κυριακήν ist mit »Tag« zu ergänzen (vgl. Ignatius, Epistula ad Magnesios 9,1); auch die anti-markionitische Deutung des Justintextes insgesamt ist zu konstruiert. 11 Justin, Apologia 67,3.8 (PTS 38, 129,6–8; 130,24–30 Marcovich; Übersetzung U. H.): καὶ τῇ τοῦ ἡλίου λεγομένῃ ἡμέρᾳ πάντων κατὰ πόλεις ἢ ἀγροὺς μενόντων ἐπὶ τὸ αὐτὸ συνέλευσις γίνεται, καὶ τὰ ἀπομνημονεύματα τῶν ἀποστόλων ἢ τὰ συγγράμματα τῶν προφητῶν ἀναγινώσκεται, μέχρις ἐγχωρεῖ. […] τὴν δὲ τοῦ ἡλίου ἡμέραν κοινῇ πάντες τὴν συνέλευσιν ποιούμεθα, ἐπειδὴ πρώτη ἐστὶν ἡμέρα, ἐν ᾗ ὁ θεὸς τὸ σκότος καὶ τὴν ὕλην τρέψας κόσμον ἐποίησε, καὶ Ἰησοῦς Χριστὸς ὁ ἡμέτερος σωτὴρ τῇ αὐτῇ ἡμέρᾳ ἐκ νεκρῶν ἀνέστη· τῇ γὰρ πρὸ τῆς κρονικῆς ἐσταύρωσαν αὐτόν, καὶ τῇ μετὰ τὴν κρονικήν, ἥτις ἐστὶν ἡλίου ἡμέρα, φανεὶς τοῖς ἀποστόλοις αὐτοῦ

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Weise versucht Justin, Verdächtigungen aus dem Weg zu räumen, die Christen würden die Versammlungen dafür verwenden, eine Verschwörung zu planen oder Anrüchiges anzustellen. Man scheint also recht früh einen wöchentlichen Rhythmus dafür gefunden zu haben, in Anlehnung an die jüdische Woche entweder am Abend des Sabbats oder am Morgen oder Abend des ersten Tages der Woche sich zu einem gemeinsamen Gottesdienst zu versammeln.12 Wie in den Passionsberichten festgehalten (Mt 28,1; Mk 16,1; Lk 24,1; Joh 20,1), galt der Sonntag als der Tag der Auferstehung Christi, was bei Justin über den Gedanken der neuen Schöpfung auch mit der alten Schöpfung der Welt aus Gen 1,1–5 verbunden wurde. Aber dieser Tag war ein normaler Tag, kein Ruhetag, und hatte schon gar nicht eine Heiligkeit in sich. Im Gegenteil: Die meisten Christen lehnten deutlich – und durchaus in einer polemischen Art – den jüdischen Sabbat und seine Gesetze inklusive Sabbatruhe ab. Gerne wurde dabei die prophetische Kritik am Sabbat aufgegriffen und entsprechend verwendet. So schreibt der Barnabasbrief (15,8–9), dass der Herr den Juden gesagt habe: »Eure Neumonde und Sabbate kann ich nicht ertragen!« (aus Jes 1,13), und stattdessen nun einen achten Tag als Anfang einer anderen Welt bevorzuge, an dem auch Jesus Christus auferstanden und in den Himmel aufgefahren sei.13 Auch der bereits erwähnte Justin äußert sich vergleichbar in καὶ μαθηταῖς ἐδίδαξε ταῦτα, ἅπερ ει᾿ς ἐπίσκεψιν καὶ ὑμῖν ἀνεδώκαμεν. In seinem apologetischen Kontext bezieht er sich in der Beschreibung der Tage nicht auf das Judentum, sondern auf die Planetenwoche mit dem Saturntag als Samstag und dem Sonntag. Evtl. ist die Erwähnung von stato die in dem Brief des Plinius an Trajan (Epistula 10,96) ebenfalls ein Hinweis auf regelmäßige Versammlungen der Christen. 12 Es ist umstritten, wann genau sich die Christen trafen, ob das Treffen im Kontext einer christlichen Sabbatpraxis steht und ob überhaupt ein überall einheitlicher Brauch anzunehmen ist. Vgl. dazu Gerard Rouwhorst: The Reception of the Jewish Sabbath in Early Christianity, in: Paulus Post u. a. (Hg.): Christian Feast and Festival. The Dynamics of Western Liturgy and Culture (LiCo 12), Leuven 2001, 223–266; Staats: Sonntagsnachtgottesdienste (s. Anm. 9). Vgl. zu dieser Frühzeit und der Auseinandersetzung mit dem jüdischen Sabbat ferner Samuele Bacchiocchi: From Sabbath to Sunday. A Historical Investigation of the Rise of Sunday Observance in Early Christianity, Rom 1977; Richard Bauckham: Sabbath and Sunday in the Post-Apostolic Church, in: Donald A. Carson (Hg.): From Sabbath to Lord’s Day. A Biblical, Historical and Theological Investigation, Grand Rapids 1982, 251–296; David W. D. Brattston: Sabbath and Sunday Among the Earliest Christians. When Was the Day of Public Worship?, New York 2014; Donald A. Carson (Hg.): From Sabbath to Lord’s Day. A Biblical, Historical and Theological Investigation, Grand Rapids 1982; Lutz Doering: Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum (TSAJ 78), Tübingen 1999; Ernst Haag: Vom Sabbat zum Sonntag. Eine bibeltheologische Studie (TThSt 52), Trier 1991; Andrea J. Mayer-Haas: »Geschenk aus Gottes Schatzkammer« (bSchab 10b). Jesus und der Sabbat im Spiegel der neutestamentlichen Schriften (NTA.NF 43), Münster 2003. Der Beitrag thematisiert nicht die Frage einer durchaus auch vorkommenden Bewahrung des Sabbats bei den Christen. 13 Barnabasbrief 15,8–9 (Andreas Lindemann/Henning Paulsen [Hg. und Übers.]: Die apos-

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seinem bekannten Dialog mit dem Juden Tryphon und betont sogar, dass die Sabbatgebote den Juden nur wegen ihrer Gesetzlosigkeit (ἀνομία) und Herzenshärte (σκληροκαρδία) auferlegt worden seien (Dialogus cum Tryphone Judaeo 18,2 [PTS 47, 99,9 Marcovich]). Das neue Gesetz Christi fordere dagegen, immerfort den Sabbat zu feiern, d. h. gottesfürchtig oder ohne Sünde zu sein (εὐσεβεῖν), und nicht nur an einem Tag (Dialogus cum Tryphone Judaeo 12,3: διὰ πάντος [90,13 M.]).14 Auch in canon 13 von Cividale wird eine Verehrung des Sabbats abgelehnt – alles diene also allein der Ehre des Herrentages, nicht des Sabbats. Hinzu kommt eine andere Frontstellung: Christen lehnten auch die in der paganen Welt verbreitete »Tagwählerei« ab, die einem Tag eine Besonderheit oder Qualität in sich zuwies aufgrund einer Sternenkonstellation. Das ist der Hintergrund der sogenannten Planetenwoche (Saturn – Sol – Luna – Mars – Merkur – Jupiter – Venus), die in einem siebentägigen Rhythmus jeden Tag unter ein bestimmtes Vorzeichen stellte. Hier galt der Saturntag (= Samstag) als Unglückstag, an dem besser keine größere Unternehmung begonnen werden sollte. Darüber hinaus gab es schlechte, sogenannte »schwarze Tage« (dies ater) bzw. »ägyptische Tage«.15 Viele christliche Autoren kritisierten dies als fragwürdige Astrologie und unannehmbaren Schicksalsglauben – er war einerseits bei Nicht-Christen verbreitet, aber offenbar auch bei Christen beliebt.16 Noch im Ausgang des vierten Jahrhunderts zitierte der berühmte Prediger Johannes Chrysostomus den Apostel Paulus (Gal 4,10: »Ihr haltet bestimmte Tage ein und Monate und Zeiten und Jahre.«) in seiner Neujahrsansprache: Es sei überaus töricht, unser Ergehen nicht von der eigenen Tätigkeit oder von dem eigenen guten Bemühen, sondern vom Verlauf bestimmter Jahrestage abhängig zu wähnen.17 Etwa gleichzeitig bezeugt im Westen Augustinus eine vergleichbare Kritik (Epistula 55,13):

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tolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe, Tübingen 1992, 64,18–23): Πέρας γέ τοι λέγει αὐτοῖς· »Τὰς νεομηνίας ὑμῶν καὶ τὰ σάββατα οὐκ ἀνέχομαι.« Ὁρᾶτε πῶς λέγει· »Οὐ τὰ νῦν σάββατα ἐμοὶ δεκτά, ἀλλὰ ὃ πεποίηκα, ἐν ᾧ καταπαύσας τὰ πάντα ἀρχὴν ἡμέρας ὀγδόης ποιήσω, ὅ ἐστιν ἄλλου κόσμου ἀρχήν.« Διὸ καὶ ἄγομεν τὴν ἡμέραν τὴν ὀγδόην ει᾿ς εὐφροσύνην, ἐν ᾗ καὶ ὁ Ἰησοῦς ἀνέστη ἐκ νεκρῶν καὶ φανερωθεὶς ἀνέβη ει᾿ς οὐρανούς. Vgl. Tertullian, Adversus Judaeos 4,2: sed per omne tempus (CChr.SL 2, 1348,11 Kroymann). Dölger: Die Planetenwoche (s. Anm. 9), (207–238) 203–210. Grundlegend hier: Rüpke: Kalender und Öffentlichkeit (s. Anm. 9), besonders 487–515. Vgl. zur Planetenwoche auch Johannes Divjak/Wolfgang Wischmeyer (Hg.): Das Kalenderhandbuch von 354 – der Chronograph des Filocalus 1: Der Bildteil des Chronographen, Wien 2014, 111–139. Vgl. die Kritik von Zeno von Verona, Liber 1, tractatus 15,6, an Christen, die abergläubisch auf bestimmte Tage achten und aus weißen Tagen schwarze ägyptische Tage machen. Johannes Chrysostomus, In kalendas (PG 48, 953–962, hier 955): Ἄλλως δὲ καὶ τῆς ἐσχάτης ἀνοίας ἂν εἴη ἀπὸ τῆς μιᾶς ἡμέρας, ει᾿ δεξιὰ γένοιτο, καὶ τοῦ παντὸς τοῦτο προσδοκᾷν ἐνιαυτοῦ· οὐκ ἀνοίας δὲ μόνον, ἀλλὰ καὶ διαβολικῆς ἐνεργείας ἡ κρίσις αὕτη, μὴ τῇ οι᾿κείᾳ σπουδῇ καὶ προθυμίᾳ, ἀλλὰ ταῖς τῶν ἡμερῶν περιόδοις τὰ κατὰ τὸν βίον ἐπιτρέπειν τὸν ἡμέτερον. Δεξιὸς ὁ

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Darum schließen wir auf den Erfolg unserer Handlungen nicht aus der Sonne, dem Mond, den Jahres- und Monatszeiten, um nicht in den gefährlichsten Stürmen des Menschenlebens gleichsam an den Klippen einer elenden Abhängigkeit zu zerschellen und am freien Willen Schiffbruch zu leiden.18

Inzwischen waren aber die Zeichen anders gesetzt, denn Kaiser Konstantin hatte im Jahr 321 n. Chr. ein Gesetz erlassen, nach dem der »verehrungswürdige Tag der Sonne« (venerabilis dies solis) ein arbeitsfreier Tag (quiescant) für Richter (iudices), für die städtische Bevölkerung (plebes) sowie für die Handwerker (artium officia cunctarum) sein sollte. Arbeit auf dem Felde wurde in Ausnahmen gestattet.19 Diese Ausnahmebestimmung weist darauf hin, dass Konstantin sich eher an der römischen ferial-Ordnung orientierte als an jüdischen Sabbatvorschriften, die keine dementsprechende Ausnahme vorsahen.20 Der Gesetzestext ist allgemein gehalten: Weder wird die verordnete Ruhe christlich begründet noch auf den dadurch möglichen Gottesdienstbesuch verwiesen. Es fehlen überhaupt genauere Informationen darüber, warum Konstantin den Tag der Sonne als verehrungswürdig ansah.21 Interessant ist aber die Beobachtung, dass

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ἐνιαυτὸς ἔσται σοι δι’ ὅλου, οὐκ ἐὰν ἐν νουμηνίᾳ μεθύῃς, ἀλλ’ ἐὰν καὶ ἐν νουμηνίᾳ, καὶ καθ’ ἑκάστην ἡμέραν τὰ τῷ Θεῷ δοκοῦντα ποιῇς. Augustinus, Epistula 55,13 (CChr.SL 31, 244,250–253 Daur): Non igitur nos de sole et luna annuis menstruisue temporibus actionum nostrarum euenta conicimus, ne in uitae humanae periculosissimis tempestatibus, tamquam in scopulos miserae seruitutis illisi, a libero arbitrio naufragemus. Übersetzung aus Alfred Hoffmann (Übers.): Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Briefe. Aus dem Lateinischen mit Benutzung der Übers. von Kranzfelder (Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften 9–10, BKV, 1. Reihe, 29–30), Kempten/München 1917, verfügbar unter: https://www.unifr.ch/bkv/ kapitel2795-13.htm [07. 07. 2016]). Vgl. auch seine bekannte Kritik an der Astrologie in den Confessiones: Hier sind vor allem die Zwillingsgeburten ein Argument gegen die Astrologie (Augustinus, Confessiones 7,6,10 [CChr.SL 27 99,76–77 Verheijen]: Et non erunt uera, quia easdem litteras inspiciens eadem debuit dicere de Esau et de Iacob; sed non eadem utrique acciderunt.). Relevant ist auch Augustinus’ entsprechende Galaterauslegung (Epistulae ad Galatas expositio 34). Codex Iustinianus 3,12,2 (CIC[B].C, 127 Krueger). Es gibt noch eine Zusatzbestimmung in Codex Theodosianus 2,8,1, dass trotz des Verbots richterlicher Tätigkeiten doch die Sklavenfreilassung auch am Sonntag möglich sein solle. Vgl. zu Konstantins Gesetz Girardet: Vom Sonnen-Tag zum Sonntag (s. Anm. 9); Rüpke: Kalender und Öffentlichkeit (s. Anm. 9), 462– 471. S. auch unten Anm. 21. Rüpke: Kalender und Öffentlichkeit (s. Anm. 9), 464; Dölger: Die Planetenwoche (s. Anm. 9), 235; ferner Karl Nicolai: Feiertage und Werktage im römischen Leben, besonders während der Zeit der ausgehenden Republik und in der frühen Kaiserzeit, in: Saec. 14 (1963), 194–220. Dennoch ist der Gesetzestext neuartig, indem er die Arbeitsruhe auf die städtische Bevölkerung und die Handwerker ausdehnt; vgl. Rüpke: Kalender und Öffentlichkeit (s. Anm. 9), 462. Die Arbeitsruhe war also nicht umfassend, beispielsweise waren an ferial-Tagen Transportbewegungen und auch Handel möglich (Nicolai: Feiertage, 203). Liegt eine Sonnenverehrung zugrunde (Martin Wallraff: Christus Verus Sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike [JAC.E 32], Münster 2001, 96–109) oder doch ein Bezug auf Bedürfnisse der christlichen Gemeinden (so Heinrich Dörries: Das Selbstzeugnis

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in Cividale 796 der Sonntag als zu verehren (venerari) beschrieben wird und schon Konstantin von venerabilis dies gesprochen hatte. Auch für Konstantin war offenbar der Tag selbst verehrungswürdig. Zwischen dem vierten und achten Jahrhundert liegen aber viele Jahre, und die Durchsicht der Quellen zeigt, dass eigentlich erst im sechsten Jahrhundert eine Verehrung des Sonntags einsetzte.22 Auch das Ruhegebot wurde nicht so prompt von Christen rezipiert, wie es das Gesetz Konstantins fordert. Im canon 29 der Sammlung, die einem Konzil von Laodicaea zugeschrieben wird (4. Jh.), heißt es, dass Christen nicht wie die Juden den Sabbat halten und auch am Herrentag nur insofern müßig sein sollen, als es Christen möglich sei.23 Überhaupt wird die kaiserlichen Gesetzgebung in christlichen Texten nicht aufgegriffen und die kaiserlichen Gesetze werden nicht in kirchliches Recht umgesetzt. Dagegen finden sich weitere Gesetze zum Sonntag, die von späteren Kaisern erlassen wurden:24 – Verbot der Steuereintreibung am Sonntag (368–373; Codex Theodosianus 8,8,1); – Verbot von öffentlichen Schauspielen am Sonntag (386–395; Codex Theodosianus 15,5,2); – Verbot von Gerichtsprozessen (389; Codex Theodosianus 2,8,19; Codex Iustinianus 3,12,6); – Verbot von Zirkusspielen am Sonntag unter Ausnahme des kaiserlichen Geburtstages (392; Codex Theodosianus 2,8,20); – Verbot von Zirkusspielen, Theaterschauspielen am Sonntag unter Ausnahme des kaiserlichen Geburtstages (399; Codex Theodosianus 2,8,23); Kaiser Konstantins [AAW.PH 3,34], Göttingen 1954, 181; Rüpke: Kalender und Öffentlichkeit [s. Anm. 9], 463; Charles und Luce Piétri [Hg.]: Das Entstehen der einen Christenheit [250– 430] [Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur 2], Freiburg i. Br. u. a. 1996, 224; Girardet: Vom Sonnen-Tag zum Sonntag [s. Anm. 9], 287), auch wenn eine dementsprechende Bitte seitens der Christen unwahrscheinlich ist? Euseb von Cäsarea erwähnt ebenfalls diese Sonntagsgesetzgebung und stellt sie in den Kontext von Maßnahmen für den kaiserlichen Hof und für die Armee (Vita Constantini 4,18–20). 22 Das heißt nicht, dass diese Gesetze ganz ohne Rezeption oder Wirkung waren. Zwei ägyptische Papyri bezeugen nämlich eine schnelle Anwendung dieses neuen Ruhetags in Rechtsangelegenheiten schon bald nach 321: Papyrus Oxyrhynchus 3759 (Zeile 37–40) vom 2.10.325 und Papyrus Oxyrhynchus 3407 (Zeile 14–17) aus dem 4. Jahrhundert; vgl. Mark Harding/ Stephen R. Llewelyn (Hg.): A Review of the Greek Inscriptions and Papyri – Published in 1986–87 (NDIEC 9), Grand Rapids/Cambridge 2002, 106–111. 23 Ὅτι οὐ δεῖ Χριστιανοὺς ᾿ιουδαίζειν καὶ ἐν τῷ σαββάτῳ σχολάζειν, ἀλλὰ ἐργάζεσθαι αὐτοὺς ἐν τῇ αὐτῇ ἡμέρᾳ, τὴν δὲ κυριακὴν προτιμῶντες εἴγε δύναιντο σχολάζειν ὡς Χριστιανοί. Ει᾿ δὲ εὑρεθεῖεν ᾿ιουδαισταί, ἔστωσαν ἀνάθεμα παρὰ Χριστῇ (Friedrich Lauchert [Hg.]: Die Kanones der wichtigsten altkirchlichen Concilien nebst den apostolischen Kanones [SQS 12], Freiburg/ Leipzig 1896, 75). 24 Vgl. die Liste bei Alexander Puk: Das römische Spielewesen in der Spätantike (MillenniumStudien 48), Berlin/New York 2014, 62–63.

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– Verbot aller Vergnügungen am Sonntag (409 und 425; Codex Theodosianus 2,8,25; 15,5,5); – Verbot des Flaute- und Lyraspielens am Sonntag (454–475; Johannes Malalas, Chronicon 14,39) Es ist bekannt, dass Christen damals immer wieder gegen den Besuch der Spiele und des Theaters als pompa diaboli25 wetterten, und wir finden auch die Bemängelung, dass Christen offenbar gerne den freien Tag für den Besuch ebensolcher Spiele nutzten, anstatt in die Kirche zum Gottesdienst zu gehen. Noch im fünften Jahrhundert beklagte Salvian von Marseille (De gubernatione Dei 6,7): Gibt es Ähnliches bei den Barbaren? Wo gibt es bei ihnen Zirkusspiele, wo Theater, wo das Laster der Unreinheit in den verschiedenen Formen, wo also den Tod unserer Hoffnung und unseres Heiles? […] Wo ist da unser Christentum, da wir nur dazu das Sakrament des Heils empfangen, um hernach nur um so ärger durch den Missbrauch zu sündigen? Wir ziehen die Schauspiele den Kirchen Gottes vor, wir verachten die Altäre und ehren die Theater; alles endlich lieben, alles verehren wir, nur Gott ist uns im Vergleich zu allem anderen von geringem Wert. Neben allen anderen Beweisen ist auch diese Tatsache eine Bestätigung meiner Behauptung. Wenn es sich nämlich trifft, was natürlich oft der Fall ist, dass am gleichen Tag ein Kirchenfest und öffentliche Spiele gefeiert werden, so frage ich alle auf ihr Gewissen, welcher Ort eine größere Menge christlicher Männer sieht, der Zuschauerraum der öffentlichen Spiele oder das Haus Gottes, und ob alle lieber in die Kirche eilen als ins Theater und die Reden der Evangelien mehr lieben als die der Chortänzer, mehr die Worte des Lebens als die des Todes, mehr die Worte Christi als die des Mimen.26 25 Der exponierteste Zeuge aus der frühen Zeit ist sicherlich Tertullian, der mehrere Traktate zu diesem Thema verfasst hat: De Spectaculis; vgl. auch Apologeticum 15,82–83; 42; 44; De idolatria 12–13 sowie Ad martyres 1,2; 5,1; Scorpiace 6. 26 Salvian von Marseille, De gubernatione Dei 6,7 (SC 220, 384,2–386,24 Lagarrigue): Quid simile apud barbaros? Ubi apud quod illos circenses, ubi theatra, ubi scelus diuersarum impuritatum, hoc est spei nostrae ac salutis excidium? […] ac per hoc ubi est christianitas nostra, qui ad hoc tantummodo sacramentum salutis accipimus ut maiore postea praeuaricationis scelere peccemus? Nos ecclesiis dei ludicra anteponimus, nos altaria spernimus et theatra honoramus, omnia denique amamus, omnia colimus: solus nobis in comparatione omnium deus uilis est. Denique praeter alia quae id probant, indicat hoc etiam haec res ipsa quam dico: si quando enum euenerit, quod scilicet saepe euenit, ut eodem die et festiuitas ecclesiastica et ludi publici agantur, quaero ab omnium conscientia, quis locus maiores Christianorum uirorum copias habeat, cauea ludi publici an atrium dei, et templum omnes magis sectentur an theatrum, dicta euangeliorum magis diligant an thymelicorum, uerba uitae an uerba mortis, uerba Christi an uerba mimi?; Übersetzung aus Anton Mayer (Übers.): Des Presbyters Salvianus von Massilia erhaltene Schriften. Aus dem Lateinischen (BKV, 2. Reihe, 11), Kempten/München 1935, verfügbar unter: http://www. unifr.ch/bkv/kapitel4395-6.htm [07. 07. 2016]. Vgl. auch Caesarius von Arles, Sermo 134,1; canon 88 der Synode von Karthago von 399 (CChr.SL 149, 352, 384–365 Munier): De his qui ecclesia praetermissa ad spectacula pergunt. Qui die solemni praetermisso ecclesiae conuentu ad spectacula vadit, excommunicetur.

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So scharf Salvian auch argumentiert, es fehlt ein Bezug auf die kaiserliche Gesetzgebung; er kritisiert zwar die Unmoral des Theaterbetriebs, stellt aber dem Theaterbesuch nur den Besuch des Gottesdienstes gegenüber, nicht aber eine Verehrungswürdigkeit des Sonntags an sich. Anders sieht es dagegen etwa ein Jahrhundert später aus. Da liest man in canon 1 der merowingischen Synode von Mâcon, Gallien (585): Wir sehen nämlich das Christenvolk in unbesonnener Weise den Herrentag verächtlich behandeln und wie an den gewöhnlichen Tagen sich ununterbrochener Arbeit hingeben. […] Haltet den Herrentag, der uns wiedergeboren und von allen Sünden befreit hat. Niemand von euch nehme sich Zeit, eine Streitsache zu schüren; keiner von euch prozessiere; keiner versetze sich in eine solche Notlage, dass er gezwungen ist, die Rinder einzuspannen. Seid alle mit Seele und Leib dabei, Gott zu loben und zu preisen. […] Eure Augen und Hände seien jenen ganzen Tag über zu Gott erhoben. Dieser ist ja der ewige Ruhetag. […] Es ist darum billig, dass wir diesen Tag einmütig feiern; durch ihn sind wir geworden, was wir nicht gewesen sind.27

In diesem Kanon und auch in weiteren Texten der Zeit28 ist es nun der Herrentag selbst, der zu verehren ist. Der Herrentag nämlich habe uns wiedergeboren, von Sünden befreit und zu Kindern der Gerechtigkeit gemacht, wie es weiter im Text heißt. Der Schluss des Kanons droht im Fall der Missachtung göttliche und kirchliche Strafen an. Vergleichbar setzt auch der canon 13 der Synode von Cividale von 796 seine Verehrungsforderung fort und konkretisiert sie: Vor allem sollen sie sich jeder Sünde und jedem fleischlichen Werk, auch vor der eigenen Ehefrau, und aller irdischen Werke enthalten, sich nur dem Gebet widmen und mit tiefster Andacht zur Kirche eilen. Alles Prozessieren soll aufhören. Preisen sollen sie mit inniger Liebe Gott, den Vater, loben mit allen Fasern ihres Herzens Gottes eingeborenen Sohn, der diesen Tag durch seine glorreiche Auferstehung geheiligt hat, und

27 Concilium Matisconense a. 585, canon 1 (CChr.SL 148 A, 239,31–53 De Clercq): Videmus enim populum Christianum temerario more die Dominica contemtui tradere et sicut in priuatis diebus operibus continuis indulgere. […] Custodite diem Dominicam, quae nos denuo peperit et a peccatis omnibus liberauit. Nullus uestrum litium fomitibus uacet, nullus ex uobis causarum actionis exerceat, nemo sibi talem necessitatem exibeat, quae iugum ceruicibus iuuencorum imponere cogat. Estote omnes in himnis et laudibus Dei animo corporeque intenti. […] Sint oculi manusque vestrae toto illo diem ad Deum expanse. Ipse est igitur dies requietionis perpetuus […]. Iustum igitur est, ut hanc diem unanimiter celebremus, per quam facti sumus, quod nun fuimus […]. Übersetzung aus Rordorf: Sabbat und Sonntag (s. Anm. 9), 229–231. 28 Vgl. aus Gallien die Synode von Narbonne 589, canon: 4; die zwölf Berichte über Strafwunder wegen einer Missachtung der Sonntagsruhe bei Gregor von Tours (Stellen bei Thomas: Sonntag [s. Anm. 9], 32), von denen dann acht mit ausgleichenden Heilungen durch Martin von Tours verbunden werden; und aus Spanien Martin von Braga, De correctione rusticorum 18; Isidor von Sevilla, De ecclesiasticis officiis 1,24–25 (eine Kompilation aus »Euseb von Alexandrien«, Martin von Braga, Augustinus, Epistula 55, Gregor dem Großen, Origenes und dem Ambrosiaster).

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lobsingen dem Heiligen Geist, der diesen Tag gesegnet hat durch seine wunderbare Ankunft, als er in Feuerzungen auf die heiligen Apostel herabkam.29

In Anlehnung an Mt 5,23–25 und 1 Kor 11,33 wird einerseits das Prozessverbot, was schon ein wesentlicher Bestandteil in Konstantins Gesetz war, aufgegriffen und auf alle Christen bezogen. Ferner wird das Ruhegebot übernommen (»aller irdischen Werke enthalten«30) und mit einem Aufruf verbunden, von jeder Sünde abzulassen (»sich jeder Sünde enthalten«). Das nimmt wiederum Gedanken auf, wie sie oben bei Justin greifbar waren, dass Christen einen geistigen Sabbat halten, d. h. ein gottgefälliges, sündloses Leben führen sollen. Das Sabbatgebot als Aufruf, von Sünde abzulassen, ist ein immer wiederkehrender Gedanke; gerne wird dabei auch auf Joh 8,34 (»Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.«) verwiesen.31 Zu der Aufforderung, am Sonntag von der Sünde zu ruhen, kann auch der Aufruf hinzukommen, den Tag zum Sündenbekenntnis und zur Versöhnung mit Gott und den Nächsten zu nutzen.32 In canon 13 von Cividale wird ferner explizit das Gebot der sexuellen Enthaltsamkeit (»von jedem fleischlichen Werk, auch dem eigenen Ehepartner, enthalten«33) genannt; es ist so in die Umschreibung des Ruhegebots hineingeschoben, dass sich eine etwas umständlich Reihung ergibt. Dieser Aspekt ist eine Neuerung gegenüber der Formulierung auf der Synode von Mâcon, auf der es noch hieß, dass der Herr nicht geboten habe, den Tag durch körperliche Enthaltsamkeit (corporalis abstinentia) zu feiern.34 In canon 13 von Cividale wird also sogar die Vorstellung der geschlechtlichen Enthaltsamkeit vor der Kommunion35 aufgegriffen und erweitert. 29 Concilium Foroiuliense, canon 13 (194,25–32 W.): […] abstinere primum omnium ab omni peccato et ab omni opere carnali, etiam a propriis coniugibus et ab omni opere terreno et nichil aliud vacare nisi ad orationem, concurrere ad ecclesiam cum summa mentis devotione, cessante omni causarum strepitu, cum caritate et dilectione benedicere Deum patrem et laudare totis medullis cordis unigenitum Dei filium, qui istam diem per gloriosam suam sanctificavit resurrectionem, et ymnum dicere sancto Spiritui, qui eam benedixit per admirabilem suum adventum, quando in igneis linguis super beatos descendit apostolos. Übersetzung korrigiert nach Huber: Sonntagsruhe (s. Anm. 6), 154–155. 30 So auch Gregor der Große, Epistula 13,3 (MGH.Ep 2 Gregorii I papae, 368,30 Hartmann): a labore terreno cessandum est. 31 Vgl. beispielsweise Hieronymus, Homilia 93, In die dominica paschae (CChr.SL 78, 546,30–36 Morin): Hoc tantum dico, quod uniuersa sabbati gratia et antiqua illa festiuitas populi Iudaeorum diei istius sollemnitate mutata est. Illi in sabbato non faciebant opus seruile: nos in die dominica, hoc est, in die resurrectionis opus seruile non facimus, quia uitiis et peccatis non seruimus. »Qui enim facit peccatum, seruus est peccati«. Der Sonntag als Tag der Auferstehung Christi ersetzt also den Sabbat, das Sabbatgebot ist aber übertragen zu verstehen als »Sabbat von der Sünde«. 32 Vgl. Homilia 16 der fiktiven Person Euseb von Alexandrien (PG 86, 415–418) in § 2. 33 Abstinere […] ab omni opere carnali, etiam a propriis coniugibus (194,25–26 W.). 34 Huber: Sonntagsruhe (s. Anm. 6), 119, bezieht das auf das Fasten; er lässt auch in seiner Übersetzung des Textes der Synode von Cividale (154) diese Worte aus! Es war aber explizit verboten, am Sonntag zu fasten; wohl gab es die Vorstellung, die Kommunion nüchtern zu

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In Cividale sind alle diese Forderungen auf den gesegneten Tag des Herrn bezogen; sie dienen nicht der Vorbereitung auf den Gottesdienstbesuch oder auf den Empfang der Eucharistie, sondern beschreiben das dem heiligen Tag angemessene Verhalten. Der trinitarische Lobpreis am Schluss dieser Passage in canon 13 ist sicher ein besonderes Anliegen des Vorstehers der Synode, Paulinus von Aquileia, der zuvor ausführlich Trinität und Christologie36 erläutert hatte. An die Erwähnung des Heiligen Geistes schließt sich eine Bemerkung an, dass auch dieser den Tag gesegnet habe, denn das Pfingstereignis sei ebenfalls auf einen Sonntag zu datieren.

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Die Heilsgeschichte des Sonntags

Der letzte Satz der obigen Passage des canon 13 von Cividale weist auf eine Entwicklung hin, auf den Sonntag verschiedene Daten der Heilsgeschichte zu verlegen. Aus Justin war bereits die Schöpfung der Welt neben der Auferstehung bekannt; hier wird nun auch das Pfingstereignis (Apg 2,1–13) auf den Sonntag gelegt. Das ist aber noch nicht alles; der Text von canon 13 fährt folgendermaßen fort: Ja, so glauben wir, beinahe jede Gottesgabe wurde der Welt an diesem hochheiligen Tage geschenkt. Denn an jenem Tag hat der Herr nach der Auferstehung den Heiligen Geist zur Vergebung der Sünden den Jüngern eingegossen (Apg 2,3). An ihm hat der Herr in der Wüste mit fünf Broten fünftausend Menschen ernährt (Mt 14,13–21 parr.). An jenem Tag fiel das Manna vom Himmel zuvor in der Wüste (Ex 16,14–15).37 Und viele andere geistige Gnadenakte sind an jenem Tag geschehen, der ganz lange dafür vorgesehen war. Er ist nämlich der dem Herrn geweihte Sabbat, von dem die Schrift sagt: »Wer an ihm eine knechtische Arbeit«, d. h. eine Sünde »tut, der soll des Todes sterben.« (Lev 23,30) 38

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empfangen (Peter Browe: Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht [Vergessene Theologen 1], hg. v. Hubertus Lutterbach/ Thomas Flammer, Münster 62011, 35–36). Browe: Die Eucharistie (s. Anm. 34), 173. S. auch unten Anm. 47. S. o. Anm. 5. Der Gedanke ist in der antijüdischen Argumentation präsent seit Origenes (In Exodum homiliae 5,5 [GCS 29, 210,22–211,17 Baeherens); vgl. auch Hilarius, Tractatus Mysteriorum 1,41 (CSEL 65, 5–19 Feder); Isidor von Sevilla, De ecclesiasticis officiis 1,25 (CChr.SL 113, 28,1– 29,29 Lawson): Am Sonntag geschahen die Schöpfung der Welt, die Schaffung der Engel, das Mannawunder, die Auferstehung Christi und das Pfingstereignis. Concilium Foroiuliense, canon 13 (194,32–39 W.): Sed et omnium penae dona carismatum in eadem sacratissima die creduntur in mundo conlata. Nam in ipsa die Dominus post resurrectionem in discipulis Spiritum sanctum ad remittenda peccata insufflavit. In ipsa in deserto Dominus de quinque panibus quinque milia hominum pavit. In ipsa die manna pluit de caelis

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Die genannten Daten der Heilsgeschichte implizieren keine Vollständigkeit, wie der Hinweis auf die vielen anderen Gnadenakte verdeutlicht.39 Damit steht der Kanon im Kontext anderer Texte, die ähnlich für die Bedeutung des Sonntags plädieren. Weit verbreitet, obwohl umstritten und immer wieder abgelehnt, war der sogenannte Himmelsbrief 40, in dem auf drastische Weise die Sonntagsverehrung eingefordert wird: Christus schreibt im Himmel einen Brief, wirft ihn auf die Erde, wo er gefunden wird, und droht schreckliche Plagen bis hin zur Vernichtung der Menschheit an, wenn die Christen auf Erden nicht seinen Sonntag verehren. Die erste Erwähnung eines derartigen Briefes findet sich im Ausgang des sechsten Jahrhunderts: Licinianus von Cartagena (Spanien) lehnt in einem Brief an Vincentius von Ibiza ab, sich auf diesen Brief zu berufen.41 Greifbar also ab dem sechsten Jahrhundert, gibt es viele Versionen dieses Textes in diversen Sprachen (Latein, Griechisch, orientalische Sprachen

primum in heremo, et multa alia spiritalium munificentia rerum in ipsa die sunt manifestata, que cuncta longum est per ordinem recenseri. Ipsum est enim sabbatum Domini delicatum, de quo scriptura dicit: Qui fecerit in eo opus servile, id est peccati, morte moriatur. Übersetzung nach Huber: Sonntagsruhe (s. Anm. 6), 155. 39 Vgl. die Übersicht über die Sonntags-Benediktionen bei Thomas: Sonntag (s. Anm. 9), 118– 119: Schöpfung, Durchgang durch das Meer, Mannaspendung, Empfängnis Jesu, Geburt Jesu, Taufe Jesu, Hochzeit zu Kana, Speisung der 5000, Einzug in Jerusalem, Auferstehung Christi, Apostelsendung, Pfingsten, Offenbarung an Johannes auf Patmos, Wiederkunft Christi zum Gericht, Erneuerung der Welt. 40 Reinhold Röhricht: Ein »Brief Christi«, in: ZKG 11 (1890), 436–442.619; Maximilian Bittner (Hg.): Der vom Himmel gefallene Brief Christi in seinen morgenländischen Versionen und Rezensionen (DAWW, Philologisch-historische Klasse 51), Wien 1905, 1–233; Hippolyte Delehaye: Note sur la légende de la lettre du Christ tombée du ciel (1899), in: ders.: Mélanges d’Hagiographie grecque et latine (SHG 42), Brüssel 1966, 150–178; Rudolf Stübe: Der Himmelsbrief. Ein Beitrag zur allgemeinen Religionsgeschichte, Tübingen 1918; Georg Graf: Der vom Himmel gefallene Brief Christi (nach Cod. Monac. Arab. 1067), in: ZS 6 (1928), 10–23; Robert Priebsch: Letter from Heaven on the Observance of the Lord’s Day, Oxford 1936; Wolfgang Speyer: Bücherfunde in der Glaubenswerbung der Antike (Hyp. 24), Göttingen 1970, 27–28; Michel van Esbroeck: La lettre sur le Dimanche, descendue du ciel, in: AnBoll 107 (1989), 267–284; Irena Backus: Lettre du Jésus-Christ sur le Dimanche, in: François Bovon/ Pierre Geoltrain (Hg.): Écrits apocryphes chrétiens 2 (Bibliothèque de la Pléiade 516), Paris 2005, 1101–1119; Dorothy Haines: Sunday Observance and the Sunday Letter in Anglo-Saxon England (Anglo-Saxon Texts 8), Cambridge 2010; Nigel F. Palmer: Art. Himmelsbrief, in: TRE 15, Berlin/New York 1986, 344–346; Aurelio de Santos Otero (Hg.): Los Evangelios Apócrifos. Colección de textos griegos y latinos, versión crítica, estudios introductorios y comentarios (BAC 148), Madrid 1988, 665–676. Van Esbroeck argumentiert für einen griechischen Ursprung des Briefes im fünften Jahrhundert, gefolgt von Klaus Sallmann (Hg.): Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur, 117 bis 284 n. Chr. (HLLA 4), München 1997, 411–412. Delehaye plädiert für lateinischen Ursprung. 41 Licianus von Cartagena, Epistola 3, ad Vincentium episcopum (PL 72, 699–700) von 584 n. Chr. Evtl. bezieht sich die Bemerkung, dass das Sonntagsgebot keines von Christus persönlich sei, im vierten Kanon von Mâcon (s. o. Anm. 34) auch kritisch auf diesen Himmelsbrief.

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und weit darüber hinaus); weitere Verurteilungen auch im achten Jahrhundert42 bezeugen indirekt die große Verbreitung des Textes. In seiner griechischen Fassung wird neben der Schöpfung und der Auferstehung auch der Besuch der drei Engel bei Abraham (Gen 18), die Begegnung zwischen Mose und Gott auf dem Sinai (Ex 31,18; 32,15), die Verkündigung des Erzengels Gabriel an Maria (Lk 1,26–28) sowie die Taufe durch Johannes (Joh 1,30–31; Mk 1,6; Mt 3,4) auf den Sonntag gelegt.43 Daneben gibt es eine andere Möglichkeit, den Sonntag heilsgeschichtlich aufzuwerten: Er wird, wie in dem canon 13 schon angedeutet, personifiziert und taucht unter den Himmelsmächten und Engeln in Beschreibungen des Jenseits auf. So liest man in der wohl ebenfalls im sechsten Jahrhundert entstandenen apokryphen »Didaskalie Jesus Christi«: Es kam auch Jakobus herbei und stellte folgende Frage: »Herr, was ist der Lohn für Mittwoch und Freitag?«44 Der Erlöser sagte: »Selig ist der, der sie im Glauben bewahrt, denn sogleich, nachdem er aus dem verkehrten Leben geworfen wird und mit Hilfe von Engeln weggeht zur Verehrung des makellosen Throns, begegnen ihm beim Hineingehen seiner Seele in den Himmel der vierte und der sechste Tag und sagen erfreut: ›Sei gegrüßt, unser Freund, der du dich viel gemüht hast auf der Erde, mit Fasten und Wachen zu Gott gebetet und dein ganzes Haus abgehalten hast von jeglicher Beschäftigung mit irdischen Dingen. Nun aber sei froh und erfreue dich am Paradies.‹ Und während sie reden, kommt auch der heilige Herrentag zusammen mit acht hellgewandeten Engeln und er in der Mitte geschmückt wie die Tochter Zions.45 Er legt Zeugnis ab für die Seele und grüßt sie und sagt den acht Engeln bei ihm: ›Wohlan, sehet eine gerechte Seele, die keinen Makel hat, die auf Erden gut gekämpft und sich von jeglicher Wirksamkeit des Teufels bewahrt hat.‹ Dann freuen sich die Engel und alle 42 Verurteilungen: Papst Zacharias im Jahr 745 (Concilium Romanum 745 [MGH.Conc 2,1 Aevi Karolini, 41,25–42,13 Werminghoff]) und Karl der Große (Admonitio generalis 789, § 78 [MGH.CRF 1, 60,34–39 Boretius]): Omnibus. Item et pseudografia et dubiae narrationes, vel quae omnino contra fidem catholicam sunt et epistola pessima et falsissima, quam transacto anno dicebant aliqui errantes et in errorem alios mittentes quod de celo cecidisset, nec credantur nec legantur sed conburentur, ne in errorem per talia scripta populus mittatur. Sed soli canonici libri et catholici tractatus et sanctorum auctorum dicta legantur et tradantur. 43 Himmelsbrief, Fassung a (Maximilian Bittner [Hg.]: Der vom Himmel gefallene Brief Christi in seinen morgenländischen Versionen und Rezensionen [DAWW, Philologisch-historische Klasse 51], Wien 1904, 18,3–15): Οὐκ οἴδατε, ἄνθρωποι, ὅτι τὴν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν τὴν πρώτην ἡμέραν ἐποίησα […] καὶ τὴν κυριακὴν ἐποίησα ἀνάστασιν διὰ τὴν τοῦ κόσμου σωτηρίαν […] οὐκ οἴδατε, ὅτι τὴν ἁγίαν κυριακὴν περῴκησα ἐν τῷ οἴκῳ τοῦ Ἀβραὰμ […] έφάνην τῷ Μωυσῇ ἐν τῷ ὄρει τῷ Σινά […] ἐμήνυσεν ὁ ἀρχάγγελός μου Γαβριὴλ τὸ Χαῖρε […] ἐδεξάμην τὸ βάπτισμα ὑπὸ τοῦ προδρόμου […]. Vgl. die wohl auf diesem Himmelsbrief beruhenden Listen der Taten Jesu Christi am Sonntag (CPL 1155ee). 44 Fasten am Mittwoch und am Freitag begegnet bereits in Didache 8,1. 45 Im Griechischen sind diese Personifizierungen der Tage Frauen, weil der Tag ἡμέρα oder ἡ ἁγία κυριακή weiblich sind. Vgl. zu diesen Personifizierungen auch Jane Baun: Tales from another Byzantium. Celestial Journey and Local Community in the Medieval Greek Apocrypha, Cambridge 2007, 93–94, 112, 139–142.

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Kräfte des Himmels über sie und begrüßen die Seele, die gut gewandelt ist. Dies ist also der Lohn für die, welche den heiligen Herrentag bewahrt und am Mittwoch und Freitag gefastet haben.«46

Die heilsgeschichtliche Aufwertung des Sonntags dient offensichtlich dazu, nachdrücklich ein entsprechendes Verhalten einzufordern. In der Didaskalie wird das mit den beiden anderen Tagen, Mittwoch und Freitag, und dem an ihnen geforderte Fasten verbunden. Auch in diesem Text wird eine sexuelle Enthaltsamkeit am Sonntag gefordert.47 In canon 13 von Cividale steht ebenfalls die ethische Ermahnung im Vordergrund. Das Zitat aus Lev 23,30 am Schluss der oben zitierten Passage nimmt ferner wieder den Gedanken auf, die Sabbatruhe im übertragenen Sinn auf das Ablassen von der Sünde zu beziehen. Es ist interessant zu beobachten, dass der Sonntagskanon von Cividale diese Tendenzen, wie sie in den apokryphen Schriften begegnen, aufgreift, obwohl zur selben Zeit der Himmelsbrief abgelehnt und verurteilt worden war.48 Christen sind also aufgefordert, am Sonntag nicht nur zur Kirche zu gehen – das reicht nun nicht mehr aus –, sondern darüber hinaus einige Dinge zu tun und andere Dinge zu lassen.49 Drei Jahrhunderte früher hatte sich Chrysostomus noch auf den Besuch des Gottesdienstes beschränkt und allenfalls eine Art »Nachbereitung« der Predigt gewünscht. So schrieb er in Homilia 5,1 zu Mt 1,22–2350:

46 François Nau: Une didascalie de notre-seigneur Jésus-Christ (ou: Constitutions des Saints Apotres), in: ROC 12 (1907), 225–254 (Text ediert nach zwei griechischen Handschriften mit französischer Übersetzung auf S. 230–254). Der Text hier ist eine Übersetzung auf der Basis einer eigenen Neuedition der Didaskalie (in Vorbereitung). 47 S. o. S. 101. In der Didaskalie § 13 heißt es: »Wehe denen, die die heilige Kommunion empfangen und an jenem Tag mit einer Frau zusammenkommen, oder kämpfen, oder lügen, oder schwören, oder lachen, oder schlecht daherreden, diese werden in die Hölle des Feuers herabsteigen. Wehe denen, die nicht den göttlichen Schriften glauben! Wehe denen, die nicht die Nacht des heiligen Herrentages bewahren vor jeglicher Begierde!« 48 S. o. Anm. 42. 49 S. o. S. 100: Ablassen von Sünde, vom fleischlichen Werk, vom Ehepartner, von allen irdischen Werken und allem Prozessieren; Hinwenden zu der Kirche, dem Gebet und dem Lobpreis Gottes. Ein Hinweis auf ein notwendiges vorausgehendes Fasten fehlt im Kanon. 50 Johannes Chrysostomus, Homilia 5,1 (PG 57, 55): […] παρόντες μέν καὶ τῆς ἀκροάσεως ἀπολαύοντες, συστελλόμεθα· ἐξελθόντες δὲ, ἕτεροι πάλιν ἀνθ᾿ ἑτέρων γινόμεθα, τὸ πῦρ τῆς προθυμίας σβεννύντες. Τί οὖν ἂν γένοιτο, ὅπως τοῦτο μὴ γίνηται; Σκοπήσωμεν ὅθεν γίνεται. Πόθεν οὖν γίνεται ἡμῖν ἡ τοσαύτη μεταβολή; Ἀπὸ τῆς διατριβῆς τῆς μὴ προσηκούσης, καὶ τῆς τῶν πονηρῶν ἀνθρώπων συνουσίας. Οὐ γὰρ ἐχρῆν ἀπὸ τῆς συνάξεως ἀναχωροῦντας, ει᾿ς τὰ μὴ προσήχοντα τῇ συνάξει ἐμβάλλειν ἑαυτοὺς πράγματα· ἀλλ᾿ εὐθέως ὄικαδε ἐλθόνθας τὸ βιβλίον μεταχειρίζεται, καὶ τὴν γυναῖκα καὶ τὰ παιδία πρὸς τὴν κοινωνίαν τῆς τῶν ει᾿ρημένων καλεῖν συλλογῆς, καὶ τότε τῶν βιωτικῶν ἅπτεσθαι πραγμάτων. Übersetzung aus Johannes Chrysostomus Baur (Übers.): Des heiligen Kirchenlehrers Johannes Chrysostomus Erzbischofs von Konstantinopel Kommentar zum Evangelium des hl. Matthäus. Aus dem Griechischen (Des heiligen Kirchenlehrers Johannes Chrysostomus ausgewählte Schriften 1, BKV, 1. Reihe, 23),

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So lange wir in der Kirche sind und die Predigt hören, sind wir zerknirscht; kaum sind wir aber draußen, so werden wir schon wieder anders und lassen das Feuer der Begeisterung erlöschen. Was sollen wir also dagegen tun? Geben wir acht auf die Ursache dieser Erscheinung. Woher kommt es denn, dass wir so leicht veränderlich sind? Das kommt davon, dass wir nicht so leben, wie es sich gehört, und dass wir mit schlechten Menschen umgehen. Wenn wir aus dem Gottesdienst kommen, sollten wir uns eben nicht alsbald wieder in den Strudel weltlicher Geschäfte stürzen, sondern, wenn wir nach Hause kommen, sogleich die Heilige Schrift zur Hand nehmen, Frau und Kinder zusammenrufen und mit ihnen das, was in der Predigt gesagt wurde, wiederholen und dann erst den zeitlichen Geschäften nachgehen.

Der Prediger Chrysostomus rückt die Predigt in den Vordergrund und wünscht eine nachhaltige Wirkung seiner Worte; eine darüber hinausgehende Sonntagsheiligung ist bei ihm nicht im Blick. Seine Aussage lässt sogar eine Fortsetzung der normalen Geschäfte auch an diesem Tag zu, der also gerade nicht als ein heiliger Ruhetag zu denken ist. Seine Vorbehalte gegen jedes »Judaisieren« sind als Hintergrund sicher zu vermuten.51 Diese anti-jüdischen Vorbehalte und Kritik am jüdischen Sabbat als Ruhetag wirken lange fort. Sie werden gerade dann erneut thematisiert, als im Christentum das Ruhegebot selbst rezipiert wird und eine anti-jüdische Abgrenzung erneut notwendig erscheint. Auch im Sonntagskanon von Cividale finden sich deshalb entsprechende Ausführungen am Schluss des Textes: Und wenn jemand von jenem Sabbat sagt, dass die Juden ihn feiern, dass er der letzte der sieben Tage sei, dass er auch von unseren Landbewohnern beachtet werde, dann sagte er doch nur »Sabbat« und fügt nicht noch »geliebter« und »mein« hinzu. Sondern, da er einen Unterschied machen wollte zwischen jenem und diesem, welcher der Herrentag ist, daher fügt er »mein« hinzu, und sagte »Meiner, nicht eurer, ist der geliebte, der nicht durch eure Observanz befleckt ist.«52

Die heilsgeschichtliche Bedeutung des Sonntags wird hier also zusätzlich betont, indem Christus den Sonntag selbst auszeichnet, vom Sabbat abgrenzt und über

Kempten/München 1915, verfügbar unter: https://www.unifr.ch/bkv/kapitel414.htm [07. 07. 2016]. 51 Vgl. Rudolf Brändle: Johannes Chrysostomus. Bischof – Reformer – Märtyrer, Stuttgart 1999, 36–39; Wayne A. Meeks/Robert L. Wilken: Jews and Christians in Antioch in the First Four Centuries of the Common Era (SBLSBS 13), Missoula, Montana 1978. 52 Paulinus argumentiert hier mit Bezug auf Jes 58,13. Concilium Foroiuliense, canon 13 (194,39–195,4 W.): Porro si de illo sabbato diceret, quod Iudaei caelebrant, quod est ultimum in ebdomada, quod et nostri rustici observant, diceret tantum »sabbatum« et nequaquam adderet »delicatum« et »meum«. Sed quia differentiam voluit facere inter illum et istum, quod est dominica dies, ideo addidit »meum«, acsi diceret »meum, non vestrum, delicatum, non in vestris observationibus maculatum«. Et ideo cum omni reverentia est a nobis honorandum atque colendum.

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ihn stellt. Hier kommen also eine anti-jüdische Abgrenzung vom Sabbat und eine heilsgeschichtliche Aufwertung des Sonntags zusammen und verstärken sich.

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Schluss

Bemerkenswert an dieser Übersicht sind mehrere Beobachtungen: a Ein regelmäßiger arbeitsfreier Ruhetag ist für das Christentum kein konstitutives Element, sondern allenfalls eine regelmäßige Versammlung, wann und in welchem Rhythmus auch immer sie stattfindet. Rein theoretisch wären auch andere Rhythmen und (Sonntags-) Gestaltungen möglich. b Kaiser Konstantin hat einen auch für Christen vorteilhaften Ruhetag eingeführt, nicht die Christen im Römischen Reich selbst. Es handelt sich also um eine frömmigkeitsgeschichtliche Entwicklung, die nicht von unten, sondern von oben initiiert wurde. Vielleicht rührt daher auch die zeitversetzte späte Rezeption eines Sonntags als eines »verehrungswürdigen Tages«. c Der Wunsch, einen wöchentlichen Gottesdienst (am Sonntag) zu feiern, und das Bestreben, einen ganzen Tag an sich zu verehren, sind zu unterscheiden. Während ersteres auf neutestamentlichen und frühchristlichen Zeugnisse beruhen kann, gesteht der Text des Kanons von Mâcon, der die bedeutende Wende kirchenrechtlich markiert, selbst ein, sich dafür nicht auf ein Wort Jesu berufen zu können. Diese Lücke versuchten offenbar die Autoren der apokryphen Texte auszugleichen. d Diese Entwicklung aber durch Dekadenzmodelle erklären zu wollen, bleibt unbefriedigend. Huber schreibt beispielsweise: Kirche und Staat hatten einen Tiefstand erreicht, dem auch der Herrentag in der Lehre und im praktischen Leben zum Opfer fiel. […] Weil die theologische Tiefe fehlte, mußte die gesetzliche Härte um so straffer eingreifen, um den äußeren Rahmen des christlichen Sonntags aufrechterhalten zu können.53

Es bestand aber keine etablierte Sonntagsverehrung, die in der Zeit der sogenannten »Völkerwanderung« zerstört wurde und durch eine strenge Gesetzlichkeit erneuert werden musste. Zusätzlich zu einer allgemeinen Verfallsthese weist Wilhelm Thomas54 auf »primitives Tabudenken« (38) hin, das den entscheidenden Ausschlag für diese Entwicklung gegeben habe. Zugrunde liege »eine germanisch-heidnische, die tabuistische Wurzel dieses Empfindens« (27), »Tabuideen der heidnischen Vergangenheit« (34), so »daß die primitiv-religiöse Tagesheiligung von außerhalb der Kirche« komme (37), auch wenn zur Zeit der 53 Huber: Sonntagsruhe (s. Anm. 6), 144–145. 54 Thomas: Sonntag (s. Anm. 9).

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Uta Heil

Karolinger die »tabuistische Welle« bereits abgeebbt sei (68). Das Hauptproblem an dieser These ist, abgesehen von den Werturteilen, die Zuschreibung an die Kelten oder Germanen, auch wenn er gelegentlich auf »spätantike Strömungen« (37) verweist. Bemerkenswerterweise treten aber ähnliche Entwicklungen sowohl im lateinischen Westen als auch im griechischen Osten auf, so dass die These eines Einflusses einer primitiven Religiosität der »Germanen«, die überdies kaum genauer beschrieben werden kann, problematisch wird. Eine dritte unzureichende Deutung basiert auf einer impliziten Übernahme der christlichen Kritik am Sabbat der Juden. Willy Rordorf 55 spricht zum Beispiel von der »judaistischen Gefahr, die die christliche Seite zugunsten des alttestamentlichen Erbes verrät« (289), die es zu vermeiden galt. Christen dürften nicht zurückfallen auf eine sabbataristische Begründung des Sonntags (292); aber »die Sabbatkasuistik (vor allem der karolingischen Zeit) unterschied sich in nichts von der jüdischen Sabbatkasuistik.« (170) Da solche Dekadenzmodelle in eine Sackgasse führen und Widersprüche aufweisen, sind andere Kategorien heranzuziehen. Hilfreicher ist es, die aufkommende Sonntagsverehrung in den Prozess einer christlichen Sakralisierung der Gesellschaft der Spätantike einzuordnen: Die Vorstellung eines besonderen verehrungswürdigen Tages steht im Kontext der im Christentum der Spätantike entstehenden verschiedenen Vorstellungen von Heiligkeit wie heilige Orte (Pilgerzentren, Heiliges Land), heilige Personen (Märtyrer, Mönche) und heilige Dinge (Reliquien, Kirchengebäude), zu denen auch heilige Zeiten treten.56 Konstantins Ruhetaggesetz bot dafür einen zeitlichen Rahmen, den die Christen langsam, aber sicher ausfüllten. Wird die Kirche zu einem sakralen Raum und die Eucharistie zu einem heiligen Opfer, dann wird auch der Tag, an dem der Raum betreten und das Opfer empfangen wird, zu einer besonderen, heiligen Zeit. Diese Ansätze werden ab dem sechsten Jahrhundert intensiv weiterentwickelt.57 Auf dieser Basis die Entwicklungen zu verstehen und nachzuzeichnen, ist aber ein Desiderat der Forschung. 55 Rordorf: Der Sonntag, (s. Anm. 9). 56 Anknüpfend an: Peter Gemeinhardt/Katharina Heyden (Hg.): Heilige, Heiliges und Heiligkeit in spätantiken Religionskulturen (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 61), Berlin/Boston 2012; Andrea Beck/Andreas Berndt (Hg.): Sakralität und Sakralisierung. Perspektive des Heiligen (BzH 13), Stuttgart 2013; Bernd Hamm u. a. (Hg.): Sakralität zwischen Antike und Neuzeit (BzH 6), Stuttgart 2007; Klaus Herbers/Larissa Düchting (Hg.): Sakralität und Devianz. Konstruktionen – Normen – Praxis (BzH 16), Stuttgart 2015. 57 Vielleicht ist auch der in dieser Zeit unter Justinian vertiefte Prozess einer Christianisierung der römischen Gesellschaft ein verstärkender Faktor gewesen. Ebenso wird der Rückgang der Bedeutung der traditionellen römischen Feiertage eine Wahrnehmung des Sonntags verstärkt haben. Für den Westen relevant könnte auch eine Rezeption der römischen Gesetzgebung in den Rechtskodizes der gentilen Nachfolgereiche gewesen sein, die zu einer Neuentdeckung und Übernahme der entsprechenden Gesetzgebung der römischen Kaiser zum Sonntag geführt hat.

Ein Sonntag in Cividale

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Paulinus von Aquileia hatte um 800 konkrete Vorstellungen davon, wie die Christen den Sonntag zu verehren haben und wie sie sich an diesem Tag verhalten sollen. Vor dem Hintergrund einer sakralisierten Zeit ist es für ihn selbstverständlich, nicht nur den Besuch des Gottesdienstes zu fordern, sondern für diesen Tag asketische, liturgische und moralische Maßstäbe zu entwickeln. Man mag daran kritisieren, dass Christen sich doch an jedem Tag ohne Unterschied so verhalten sollten, oder man mag den Sinn (sexueller) Askese hinterfragen oder – aus protestantischer Perspektive – eine werkgerechte Selbstheiligung ablehnen. Aber ohne diese Sakralisierung hätte der Sonntag nicht diese Bedeutung für das Christentum erhalten. Und eine Kenntnis der geschichtlichen Entwicklungen bietet auch die Basis dafür, in der Gegenwart mit einer größeren Gelassenheit mit dem christlichen Sonntag umzugehen.

Michael Murrmann-Kahl

Kultfrömmigkeit statt Lehre. Eine Erinnerung an Wilhelm Boussets »Kyrios Christos« aus systematisch-theologischer Perspektive

Vor 100 Jahren, mitten im Ersten Weltkrieg, erschien die kleine Kontrovers- und Streitschrift »Jesus der Herr«, mit der der gerade erst in Gießen lehrende Neutestamentler Wilhelm Bousset (1865–1920) auf Einwände repliziert, die sein »Kyrios Christos« hervorgerufen hatte.1 Zu diesem Zeitpunkt konnte man noch nicht ahnen, dass dieses 1913 publizierte Werk das summum opus der Religionsgeschichtler im Bereich der Exegese sein würde, weil Bousset allzu früh im Jahr 1920 bereits verstarb. So liefen viele Impulse dieses originellen Buches ins Leere, zumal sich die theologische Großwetterlage nach dem Krieg fundamental veränderte und religionsgeschichtliche Fragestellungen mehr und mehr aus dem Blick gerieten. In ihm bündeln sich die Versuche der Mitglieder der »kleinen Göttinger Fakultät«2 um Ernst Troeltsch und William Wrede, die zahlreichen

1 Überblick bei Klaus Berger: Nationalsoziale Religionsgeschichte. Wilhelm Bousset 1865–1920, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus 2. Kaiserreich 2 (GTBS 1432), Gütersloh 1993, 279–294; ausführlicher ders.: Exegese und Philosophie (SBS 123/ 124), Stuttgart 1986, 85–126. Siehe auch die Dokumente zu Bousset in Gerd Lüdemann/Martin Schröder: Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation, Göttingen 1987, 55–63, 137–147; Gerd Lüdemann: Das Wissenschaftsverständnis der Religionsgeschichtlichen Schule im Rahmen des Kulturprotestantismus, in: Hans Martin Müller (Hg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992, 78–107. Eine ordentliche Professur für Neues Testament erhielt Wilhelm Bousset erst spät Ende 1915 in Gießen (außerhalb Preußens!); eine akademische Karriere in Preußen wurde durch Boussets sozialpolitisches Engagement im Umkreis von Friedrich Naumann jahrelang behindert. Indes gab es bereits in der ersten Auflage der »Religion in Geschichte und Gegenwart« einen Personalartikel zu Bousset, der dessen Bedeutung als anerkannter Gelehrter widerspiegelt, vgl. Hermann Mulert: Art. Bousset, Wilhelm, in: RGG1 1, Tübingen 1909, 1320. 2 Ernst Troeltsch: Die »kleine Göttinger Fakultät« von 1890, in: ChW 34 (1920), 281–283 (Nachruf auf Wilhelm Bousset). Zu der lebenslangen Freundschaft von Troeltsch und Bousset siehe die ausführliche Rezension des Büchleins von Horst Renz: Ernst Troeltsch und Wilhelm Bousset als Erlanger Studenten. Mit unveröffentlichten Texten und Fotos, Erlangen 1993, durch Hartmut Ruddies: Ernst Troeltsch und Wilhelm Bousset. Eine Zwischenbilanz, in: METG 9, Augsburg 1995/1996, 185–203.

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Michael Murrmann-Kahl

Bemühungen um eine religionsgeschichtlich und rein historisch geleitete Rekonstruktion der Urchristentumsgeschichte einzulösen.3

1

Wilhelm Boussets Ansatz

Den Ausgangspunkt bildet dabei die Gegenwartsfrage nach der Geltung und Relevanz der im Frühchristentum vorgenommenen »vollen Vergottung der Person Jesu von Nazareth«.4 Das ist eine von vornherein den neutestamentlichen Kanon sprengende Problemstellung.5 Die auf der historischen Ebene liegende Antwort Boussets lautet: Diese Vergottung Jesu sei Produkt und Resultat des hellenistisch geprägten, christlichen Kyrios-Kultes. Daraus folgt: Die Christologie ist von Anfang an Ausdruck einer »unbewussten Kultusfrömmigkeit«6 (also primär des Lebens, nicht der Lehre im Gegensatz zu Adolf von Harnacks Dogmengeschichtsschreibung7), sprich: Sie entstand durch den Gemeindegottes3 Bousset integriert die Forschungen Adolf Deißmanns zum Kult, Hermann Gunkels zum Geist und die Synkretismusthese, William Wredes zum Messiasgeheimnis und Wilhelm Heitmüllers zu Taufe und Abendmahl, zuzüglich der eigenen Gnosis-Forschung. Vgl. Hermann Gunkel: Die Wirkungen des heiligen Geistes, nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus. Eine biblisch-theologische Studie [1888], Göttingen 3 1909; ders.: Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments [1903] (FRLANT 1), Göttingen 21910; William Wrede: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums [1901], Göttingen 31963. 4 Wilhelm Bousset: Jesus der Herr. Nachträge und Auseinandersetzungen zu Kyrios Christos (FRLANT 25 = NF 8), Göttingen 1916, 2, vgl. 40, 88. 5 1986 stellte Berger: Exegese und Philosophie (s. Anm. 1), 111, fest: »bis heute ist Boussets Werk die einzige Christologie, die die ersten beiden Jahrhunderte umspannt«! 6 Wilhelm Bousset: Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus (FRLANT 21 = NF 4), Göttingen 1913, V, vgl. XV. Vgl. zum Folgenden Michael Murrmann-Kahl: Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880–1920, Gütersloh 1992, 365–378, 396–404, 413–418; Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (BHTh 99), Tübingen 1997, 90–91, 135–138; zur Einordnung der Religionsgeschichtler und Troeltschs in die neuzeitliche Geschichtsschreibung insgesamt Michael Murrmann-Kahl: Art. Historiography V., Christianity B., Modern Europe, in: EBR 11, Berlin/Boston 2015, (1147–1153) 1150– 1151. 7 So zu Recht Rudolf Bultmann in seiner Auseinandersetzung mit dem Hauptwerk Boussets: Rudolf Bultmann: Die Christologie des Neuen Testaments, in: ders.: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze 1, Tübingen 91993, 245–267, zu Bousset 252–256, besonders 253–254: »Die Lehre dieser Religion ist nicht (Harnack) aus einer Hellenisierung des Christentums entstanden, d. h. aus dem spekulativen oder philosophischen Interesse der griechischen Christen unter dem Einfluß der griechischen Wissenschaft; vielmehr ist die Theologie bzw. Christologie nur Exponent der Kultusfrömmigkeit.« Es gibt eine Rezension Adolf von Harnacks der zweiten Auflage des »Kyrios Christos« von 1921 (Adolf von Harnack: Rezension zu Wilhelm Bousset: Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus. Zweite, umgearbeitete Auflage [FRLANT 21 = NF 4], Göttingen ²1921, in: ThLZ 47 [1922], 145–147).

Kultfrömmigkeit statt Lehre

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dienst! Die entscheidende Bruchstelle erblickt Bousset dabei im Übergang von Jesus und der palästinischen Urgemeinde in die hellenistische Religionswelt (schon bei Paulus und dem Johannesevangelium vorausgesetzt).8 Die jüdische Jesus-Sekte wird erst durch den Kyrios-Kult zur eigenständigen (neuen) Religion der Christen.9 Die Jesus-Jünger in Jerusalem partizipieren noch am allgemeinen jüdischen Vorstellungshintergrund, so dass die mit dem Titel »Menschensohn« verbundenen Vorstellungen auf Jesus übertragen werden (Erhöhung, Richterfunktion). Verändert werden sie nur insoweit, als die irdische Gestalt Jesu mit dem Menschensohn identifiziert wird.10 Die Vorstellungen werden nicht einfach übernommen, sondern im Lichte neuer Erfahrungen selektiv rezipiert und im Christentum partiell verändert. Bousset folgt dabei Wrede in der Auffassung, Jesu Leben sei selbst unmessianisch gewesen.11 Entscheidend ist deshalb die Zäsur mit dem Übertritt des Christentums in den Hellenismus, der von Paulus schon vorausgesetzt ist.12 Sie wird in Syrien verortet: »Hier in Antiochia war ohne persönliches Zutun des Paulus – das ist sehr bedeutsam – eine aus Juden und nicht erst zum Judentum übergetretenen Heiden bestehende Jesusgemeinde entstanden.«13 Jetzt rufen die Christen den Namen des erhöhten Herrn an; die Gegenwart des erhöhten Herrn in der Gemeinde ist also entscheidend, die Verehrung des Kyrios im Gottesdienst prägt sich aus, eben der Kyrios-Kult! 14 An die Stelle der Parusie des Menschensohns tritt die Gegenwart des erhöhten Kyrios. Das Korrelat zum erhöhten Herrn ist »zunächst die gottesdienstlich organisierte Einzelgemeinde«.15 Es ist dieser Kult, aus dem all diese Veränderungen auf einer ganz unbewussten Ebene hervorgehen, sie finden statt in der »unkontrollierbaren Tiefe der Gesamtpsyche einer Gemeinde; das gab 8 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), VI, XVI. 9 Zur anders gelagerten Kulttheorie Ernst Troeltschs aufgrund einer sozialpsychologischen Regel in seiner »Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben« (Tübingen 1911) vgl. Claussen: Die Jesus-Deutung (s. Anm. 6), 142–144. Diese Differenz kann an dieser Stelle beiseite gelassen werden. 10 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 12–17. 11 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 47–70, 91–92. Vgl. Wrede: Das Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 115, 129, 216–229, 242–251. Den scharfen Schnitt, den Bousset zwischen Jesus/ Urgemeinde und dem hellenistischen Milieu setzt, provoziert natürlich Fragen nach den Wurzeln der Christologie, wie sie zum Beispiel Ernst Troeltsch 1913 brieflich dem Freund gestellt hat: »Ich finde den Abschnitt über die Urgemeinde und Menschensohn vortrefflich, nur fehlt mir hier die Frage, ob die Urgemeinde schon kultische Verehrung des Menschensohnes gekannt hat; Herrenmahl, Taufe, Namen Jesu? Sind das Ansätze zum Kultus?« Zitiert nach Claussen: Die Jesus-Deutung (s. Anm. 6), 142 (Anm. 367). 12 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 92–125. 13 Zur Paulusdarstellung vgl. auch den großen Artikel Boussets in der RGG aus demselben Jahr: Wilhelm Bousset: Art. Paulus, Apostel, in: RGG1 4, Tübingen 1913, (1276–1309) 1280. 14 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 100–108. Vgl. ders.: Jesus der Herr (s. Anm. 4), 13–40. 15 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 107 [Hervorhebung M. M.-K.].

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sich von selbst«16, das heißt, sie sind nicht gewollt hervorgebracht. Die (dogmatische) Christologie wird folglich als sekundäre »Rationalisierung« (Max Weber) der gelebten Religion und Kultusfrömmigkeit interpretiert. Dieses Einrücken Jesu in das Zentrum des Kultus einer gläubigen Gemeinde, diese merkwürdige Verdopplung des Objekts der gottesdienstlichen Verehrung [scil. Gott und Jesus!; M. M.-K.] ist erst in einer Umgebung denkbar, in welcher der alttestamentliche Monotheismus nicht mehr mit absoluter Sicherheit […] herrschte.17

Paulus habe so den ihm schon vorgegebenen Kyrios-Kult aufgenommen und in bestimmter Hinsicht theologisch rationalisiert. Im Anschluss an Hermann Gunkel wird das Proprium der paulinischen Frömmigkeit in seiner Christusmystik gesehen. Im Wesentlichen stelle die Theologie des Paulus eine Generalisierung seiner Geisterfahrungen, der Wirkungen einer supranaturalen Kraft, fürs ganze Christenleben dar. Paulus mache »das Pneuma zu dem Element des gesamten neuen christlichen Lebens, nicht nur nach seiner speziell wunderbaren Seite hin, sondern in seiner gesamten ethischen und religiösen Haltung«.18 Von daher können dann die religionsgeschichtlichen greifbaren Analogien beim Pneuma- und Sakramentsverständnis (Taufe und Abendmahl) sowohl rezipiert als auch christlicherseits transformiert werden: Es kam hinzu, daß der Glaube an die Wirksamkeit dinglicher Mittel, heiliger Handlungen, Waschungen und Reinigungen, heiligen Essens und Trinkens usw. ungemein weit in der ganzen damaligen religiösen Welt verbreitet war. Unbewußt nahmen die hellenistischen Gemeinden ihn von dorther auf.19

Dennoch habe Paulus die Gestalt Jesu selber noch nicht vergottet, sondern die klare Differenz zwischen dem Menschen Jesus und dem einzigen Gott gewahrt.20 Entsprechend zur paulinischen wird auch die johanneische Theologie rekonstruiert.21 Die spätere Kirche mit ihrer Ausbildung des monarchischen Episkopats wird primär immer noch als Kultverein gesehen.22 Die altchristlichen Hymnen bilden die Brücke vom frühen Kyrios-Kult zur eigentlichen Vergottung

16 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 119. 17 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 120. 18 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 125–186, hier 128 [Hervorhebung M. M.-K.], auch 129, 142, 146–147. Vgl. ders.: Paulus, Apostel (s. Anm. 13), 1289–1291, 1305; ders.: Jesus der Herr (s. Anm. 4), 45–62. 19 Bousset: Paulus, Apostel (s. Anm. 13), 1298. 20 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 180–186. Vgl. ders.: Paulus, Apostel (s. Anm. 13), 1307. Im Paulusartikel schildert Bousset das theologischen Denken von Paulus übrigens als eine Synthese aus einer vertieften jüdischen Eschatologie und den genannten hellenistischen Mysterienelementen: Bousset: Paulus, Apostel (s. Anm. 13), 1291. 21 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 196–218. 22 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 275, 283–293.

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Jesu als Sohn Gottes: »Aus dem Kyrios wird der Theos Jesus Christos.«23 Bousset erblickt also in der anonymen Kultentwicklung der Massen den entscheidenden Motor zur Ausbildung der altkirchlichen Christologie: »Hat der Herr Jesus einmal eine solche Stellung im Kultus der Christen bekommen«, dann muss er auch schließlich Gott sein. In der gottesdienstlichen Praxis verschwinden mithin »alle Grenzlinien zwischen Christus und Gott«.24 Diese Entwicklung habe »sich beinahe ohne theologische oder gedankenmäßige Reflexion vollzogen. Es ist nicht gemacht und geschaffen, es ist geworden und gewachsen.«25 Sogar noch die Mysterienfrömmigkeit des Ignatius, die Logos-Spekulation der Apologeten und schließlich die mystische Theologie des Irenäus stellen so nichts anderes als entsprechende Rationalisierungen der kollektiven Kultusmentalität in ihrer Langzeitentwicklung dar.26 Es leidet keinen Zweifel, dass für diese Darstellung die eigene Gegenwart des Wilhelminischen Kaiserreichs mannigfache Anregungen gegeben hat: Boussets Interesse an Thomas Carlyles Heroenkult (hero-worship) einerseits und zugleich die Probleme der modernen Massen- und Industriegesellschaft um 1900 schlagen hier durch.27 Die Spannungen zwischen dem Einen und der Masse werden für die Beschreibung des Urchristentums fruchtbar gemacht.28 Auch diese historische Rekonstruktion entgeht natürlich nicht dem Problem, welche Geltung das Christentum unter den Bedingungen der Moderne haben soll. Es ist offenkundig nicht die kirchliche Christologie, die hier weiterhelfen könnte. Bousset geht dabei von der Unmöglichkeit aus, ein Leben Jesu zu schreiben. Schon er beschränkt sich im Wesentlichen auf die Verkündigung Jesu.29 Bousset nimmt aber nicht den Weg von dieser Verkündigung zum Kerygma (wie dann später Bultmann), sondern zeichnet Jesus vielmehr als religiöse Persönlichkeit par excellence: »Frömmigkeit durchflutet sein Leben wie ein elek-

23 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 301. 24 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 306 (Anm. 4). 25 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 317; ders.: Jesus der Herr (s. Anm. 4), 88–89 (Anm. 1). Vgl. Berger: Wilhelm Bousset (s. Anm. 1), 286–287. 26 Bousset: Kyrios Christos (s. Anm. 6), 342–346, 374–412, 413–449. 27 Vgl. Wilhelm Bousset: Thomas Carlyle. Ein Prophet des neunzehnten Jahrhunderts, in: ChW 11 (1897), 249–253, 267–271, 296–299, 324–327. Vgl. Thomas Carlyle: On Heroes, HeroWorship, and the Heroic. Six Lectures, London 1841. 28 Vgl. Berger: Wilhelm Bousset (s. Anm. 1), 288–289; Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit 2. Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, 64–65. Als »politische Exegese« kann man diesen heuristischen Zugriff auf die Vergangenheit aber gewiss nicht bezeichnen: gegen Berger: Wilhelm Bousset (s. Anm. 1), 284–285. 29 Wilhelm Bousset: Jesus [1904], Tübingen 31907, 9–10, 33–75. Siehe auch Wilhelm Bousset: Die Bedeutung der Person Jesu für den Glauben. Historische und rationale Grundlagen des Glaubens. Vortrag, Berlin 21910, 4: »Was wir vom pragmatischen Zusammenhang seines Lebens wissen, ist so wenig, dass es auf einem Blättchen Papier Raum fände.«

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trischer Strom, der niemals versagt.«30 Der Kern dieser Frömmigkeit bestehe (wie schon bei Harnack) im Gottvaterglauben.31 Das Evangelium sei insgesamt als »ethische Erlösungsreligion« zu verstehen.32 Insofern setzt Bousset auf die Möglichkeit einer direkten Kommunikation der individuellen sittlichen Persönlichkeiten in Vergangenheit und Gegenwart (zwischen Jesus und dem gegenwärtigen religiösen Bewusstsein) jenseits der Geschichte. Der Mensch Jesus kann so zum »Führer unserer Seele zu Gott« erklärt werden.33 »Für Bousset war Carlyle also wichtig, weil er das Gegenüber von Masse und großer Persönlichkeit gerade um der Lösung sozialer Probleme willen betont hatte.«34 Das Zeitbedingte und Unbefriedigende solcher Auskünfte liegt freilich auf der Hand, und so ist es nicht überraschend, dass sich an ihnen die Kritik der Späteren entzündete.35 Denn trotz einer an sich komplex entworfenen Religionsgeschichte mit inneren Spannungen und Polaritäten mündet diese dann doch allzu umstandslos ins liberal-theologische, ethische Persönlichkeitsmodell ein.36

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Zur Debatte am Beispiel der Gegenposition Albert Schweitzers

Natürlich kann man diese Herleitung der Christologie aus dem Kyrios-Kult auch fundamental bestreiten. Der Sache nach hat dies Albert Schweitzer im Zuge seines Paulusbildes getan, der von Anfang an den Gegenpol zu Boussets Überlegungen einnahm: Die Gegenthese lautet dann, dass die wesentlichen Grundzüge des frühen Christentums (insbesondere bei Paulus) nicht aus dem Helle30 31 32 33

Bousset: Jesus (s. Anm. 29), 47. Bousset: Jesus (s. Anm. 29), 51. Bousset: Jesus (s. Anm. 29), 74. Bousset: Jesus (s. Anm. 29), 99–100. Vgl. schon Wilhelm Bousset: Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum. Ein religionsgeschichtlicher Vergleich, Göttingen 1892; dazu Claussen: Die Jesus-Deutung (s. Anm. 6), 90–91. 34 Berger: Wilhelm Bousset (s. Anm. 1), 288; ausführlich ders.: Exegese und Philosophie (s. Anm. 1), 91–101. 35 Zum prägenden Hintergrund solcher Äußerungen durch Thomas Carlyle und den durch Leonard Nelson vermittelten Neofriesianismus seit 1909: Berger: Exegese und Philosophie (s. Anm. 1), 114–125; Rohls: Protestantische Theologie (s. Anm. 28), 159. Vgl. jetzt auch: Brent A. R. Hege: Jesus Christ as Poetic Symbol. Wilhelm Bousset’s Contribution to the FaithHistory Debate, in: ZNThG 16 (2009), 197–216. 36 Wilhelm Bousset: Das Wesen der Religion. Dargestellt an ihrer Geschichte [1903], Tübingen 4 1920, 202–219. Dazu Jörg Dierken: Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung (Forum theologische Literaturzeitung 24), Leipzig 2012, 94– 97. Zum Hintergrund der Popularisierungsstrategie der Religionsgeschichtler mit Hilfe zum Beispiel der Religionsgeschichtlichen Volksbücher (und der RGG) vgl. Nittert Janssen: Theologie fürs Volk. Der Einfluß der religionsgeschichtlichen Schule auf die Popularisierung der theologischen Forschung vor dem Ersten Weltkrieg (Studien und Texte zur religionsgeschichtlichen Schule 4), Frankfurt a. M. 1999, 149–179.

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nismus, sondern aus der jüdischen Eschatologie zu erklären seien. Eine direkte Auseinandersetzung über diese Frage war nicht möglich, da Schweitzer sein in den Grundzügen schon fertiges Paulusskript von 1911 erst im Jahr 1930 veröffentlichte, mit deutlicher Kritik unter anderem an Bousset, der natürlich zu diesem Zeitpunkt darauf nicht mehr reagieren konnte. Schon in der Vorrede macht Schweitzer seine Prämisse ausdrücklich, dass, wie schon bei Jesus, so auch bei Paulus eine rein eschatologische Auffassung zu wählen sei: »Die Hellenisierung des Christentums setzt nicht mit Paulus, sondern erst nach ihm ein.«37 Aus diesem Grund muss er der im »Kyrios Christos« gegebenen Darstellung Boussets fundamental widersprechen.38 Nach Bousset habe die Hellenisierung schon in Antiochia in Syrien eingesetzt und insbesondere auch das Sakramentsverständnis von Taufe und Abendmahl (vor)geprägt. Der Kyrios-Kult selber setzt zentral auf die Gegenwart des Erhöhten. Die von Paulus vorgenommenen Uminterpretation dieser Vorgaben wird von Schweitzer süffisant kommentiert: »Paulus ist also nicht so sehr der Hellenisator des Christentums als die Kläranlage, welche die durch die Hellenisierung getrübten Wasser des christlichen Glaubens passieren.«39 Schweitzer hält den Nachweis der Prämisse des Kyrios-Kultes grundsätzlich für nicht erbracht. Aber selbst wenn der Nachweis eines hellenistischen Kyrioskultes gelingen könnte, sei damit noch nicht bewiesen, dass »die hellenistischen Gemeinden ihn auch wirklich übernommen haben«.40 Für Schweitzer sind die Abendmahlsliturgie und der Gebetsruf »Maranatha« vielmehr gerade Belege für die Erwartung des kommenden Christus, so dass die behauptete Gegenwart des Kult-Kyrios in der Luft hängt: Denn dass »diese Feiern Gemeinschaft nicht nur mit dem zur Parusie erwarteten auferstandenen Christus, sondern auch mit dem gestorbenen wirken, bedeutet nicht, dass er im Kultus gegenwärtig ist«.41 Der Streitpunkt ist mit der Alternative klar benannt: entweder Übernahme von Grundzügen hellenistischer Mysterienreligionen (Gegenwart) oder reine Eschatologie (Zukunft) zumindest bei der Herleitung der Kerngedanken des Paulus, die in den gewiss äußerst problematischen und vieldeutigen Begriff der Mystik zusammengefasst werden.42 Ob eine solche Alternative dann eine ausreichend historisch differenzierte Wahrnehmung zulässt, wäre noch einmal eine ganz andere Frage. 37 Albert Schweitzer: Die Mystik des Apostels Paulus. Neudruck der 1. Auflage von 1930, mit einer Einführung von Werner Georg Kümmel, Tübingen 1981, Vorrede, VIII. 38 Siehe Schweitzer: Paulus (s. Anm. 37), 5, 30–34, 222–223. 39 Schweitzer: Paulus (s. Anm. 37), 31. 40 Schweitzer: Paulus (s. Anm. 37), 32. 41 Schweitzer: Paulus (s. Anm. 37), 34. 42 Zumal sich hier oft Mystik und antike Mysterien(kulte) vermengen, was den Begriffsgebrauch nicht gerade durchschaubarer macht: siehe Claussen: Die Jesus-Deutung (s. Anm. 6), 155.

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Abschließend lohnt es sich aller möglichen Einwände zum Trotz, sich noch einmal das von Bousset gewählte, komplexe Verfahren seiner historischen ReKonstruktion der Urchristentumsgeschichte in fünf Schritten vor Augen zu führen: Den Ausgangspunkt bildet erstens die allgemeine, unbewusst verlaufende innerchristliche Langzeitentwicklung des Gemeindegottesdienstes, des KyriosKults (in der Kollektivmentalität der christlichen Gemeinden). Diese lebendige Entwicklung wird zweitens immer wieder bewusst gemacht und spezifiziert durch theologische Rationalisierungen (der Theologen wie Paulus und Johannes): Der Weg führt also vom religiösen Leben zur Lehre. Die außerchristlichen, religionsgeschichtlichen Parallelen werden drittens bei auffälligen Vorstellungskomplexen herangezogen, die sich aus der rein immanenten Entwicklungslinie allein offenkundig nicht erklären lassen (Apokalyptik, Sakramente, Geist). Bloße religionsgeschichtliche Analogien sind dabei viertens von wirklichen kausalen Dependenzen zu unterscheiden. Nicht jede Parallele hat das Urchristentum wirklich beeinflusst. Bei tatsächlichen direkten Abhängigkeiten ist fünftens die Transformation in den christlichen Kontext hinein zu berücksichtigen! Das Modell ist demnach insgesamt als das eines allgemeinen Vorstellungshorizontes der hellenistisch geprägten Umwelt mit der jeweiligen Verbesonderung und Umbildung (innere Transformationsprozesse) durch die christliche Rezeption zu beschreiben. Es wäre folglich missverstanden, wollte man das Anliegen der Religionsgeschichtler auf den bloßen Nachweis einer Abhängigkeit des Christentums von seiner religiösen Umwelt reduzieren.43 Diese reduktionistische Anschauung der Leistung der Religionsgeschichtler steht nach wie vor zur Korrektur an.

43 So das typische Verdikt im Gefolge von Traugott Koch: Theologie unter den Bedingungen der Moderne. Wilhelm Herrmann, die »Religionsgeschichtliche Schule« und die Genese der Theologie Rudolf Bultmanns, 2 Bände, Habil. theol., München 1970, 113–147; bei Claussen: Die Jesus-Deutung (s. Anm. 6), 138: »Die Deutung der paulinischen Christologie beschränkt sich auf die Zuordnung zu Fremdreligionen, ohne die Frage nach dem ihr eigenen Sinngehalt zu beantworten.« Hier rächt sich dann doch, die Bedeutung der religionsgeschichtlichen Methode und ihrer materialen Konsequenzen unterzubelichten, deren vermeinte Überschätzung mir Claussen: Die Jesus-Deutung (s. Anm. 6), 7, 28–29 und passim, vorwirft.

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Zur systematisch-theologischen Relevanz der von Bousset aufgeworfenen Problemstellung

Die gegenwärtigen christologischen Debatten sind bekanntlich durch das weitgehende Auseinanderfallen von historischer Forschung und dogmatischer Arbeit gekennzeichnet.44 Die Third Quest hat den historischen Jesus energisch in seinen jüdischen Kontext zurückgestellt;45 aber dadurch wird der Weg zum christologischen Dogma noch rätselhafter: Wie kommt man vom Menschen und Juden Jesus seiner Zeit zum zweiten Gott oder dem Logos der Trinität? 46 Der Verweis auf die Dogmenbildung des vierten und fünften Jahrhunderts hilft hier nicht weiter, weil diese immer schon eine breite Plausibilität unter den Christen voraussetzt, damit man überhaupt über solche Dinge wie das trinitarische (Nicaeno-Constantinopolitanum) oder christologische (Chalcedonense) Dogma auf Synoden diskutieren kann. Der Hiatus zwischen dem historischen Jesus und der späteren Dogmenbildung der Alten Kirche, aber auch den neuzeitlichen Christologien, ist nur dann zu überwinden, wenn man sich der an sich naheliegenden, aber eben eigentümlich selten aufgeworfenen Frage Wilhelm Boussets stellt, wie überhaupt der realhistorische Prozess der Vergottung der Person Jesu in Gang gekommen ist. Die historische Suche nach dem eigentlichen Jesus interessiert sich meist nicht für den Fortgang in der frühchristlichen Rezeption, die Dogmatik beruft sich oft einfach auf die altkirchlichen Dogmen (positiv oder negativ-kritisch). Wie man aber von dem einem zum anderen kommt, das bleibt unaufgeklärt. Bousset weist in seinem Paulusartikel auf den Weg hin, den die frühchristliche Christologie schon vor und dann gerade auch bei Paulus eingeschlagen hat: weg von der Reichgottespredigt Jesu hin zum Messiasglauben. Diesen Weg sieht er als historisch unvermeidlich an: Erst durch die hier vollzogene Vereinigung der Gestalt Jesu mit dem in der hellenistischen Welt so weit verbreiteten Heilsmittlerglauben und Heilsmittlerkultus gewann das Christentum seine für die damalige Zeit wirksamste Form, in der es erst recht alles religiöse Sehnen des Zeitalters befriedigen konnte.47 44 Vgl. Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert (Dogmatik in der Moderne 1), Tübingen 22011. 45 Christian Danz: Der Jesus der Exegeten und der Christus der Dogmatiker. Die Bedeutung der neueren Jesusforschung für die systematisch-theologische Christologie, in: NZSTh 51 (2009), (186–204) 200. 46 Auch Christian Danz behilft sich an dieser Stelle so, dass er die Fortschreibung der Religionsgeschichtler durch Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, im Wesentlichen einfach übernimmt: vgl. Christian Danz: Grundprobleme der Christologie (UTB 3911), Tübingen 2013, 49–54. 47 Bousset: Paulus, Apostel (s. Anm. 13), 1306.

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Michael Murrmann-Kahl

Die damit verbundene Problematik und den Preis, der für diese Entwicklung zu entrichten ist, zeigt sich schon bei Paulus selbst: Trotz aller mystischen Glut seines persönlichen Verhältnisses zu dem erhöhten Christus ist das Bild, das er sich von ihm macht, ein wesentlich gedankenmäßiges. Der »Herr« ist ihm der Geist, der Quellpunkt des neuen Lebens; der Christus vor allem ein überweltliches Wesen, – ein Gebilde seines Denkens und des Dogmas.48

Daraus resultieren die fortlaufenden Spekulationen, die von der Tatsächlichkeit des in Jesus von Nazareth gegebenen Lebens abführten, das Schwergewicht in die übernatürlichen, vorweltlichen Daseinsbedingungen dieser Person verlegten und damit den klaren monotheistischen Gottesglauben mit den Schwierigkeiten belasteten, die schließlich in das Labyrinth des trinitarischen Dogmas führten.49

Das gilt unbeschadet des Streits darüber, ob speziell Boussets Darstellung dieses Vorgangs nun überzeugt oder andere Faktoren in Anschlag gebracht werden müssen. Über die Hellenisierung schon des frühen Christentums und die Annahme eines Kyrios-Kultes lässt sich lange debattieren. Freilich wird man heute in Anschlag bringen, dass schon das Judentum zur Zeit Jesu vielfältige hellenistische Einflüsse aufweist, was sich auch in der Bedeutung der griechischen Septuaginta-Übersetzung des für uns Alten Testaments widerspiegelt.50 Die historische Arbeit der Religionsgeschichtler führt jedenfalls zur Erkenntnis des breiten Volkes bzw. der Gemeinde als Ursprungsort und »Sitz im Leben« weiter Teile der urchristlichen Literatur sowie des Kults als des Mittelpunktes des religiösen Lebens überhaupt und zur Entdeckung des mit fremdreligiösen Elementen durchsetzten Judentums als entscheidender Vorstufe des urchristlichen Glaubens.51

Der eigentliche argumentative Gewinn liegt aber in Boussets Grundgedanken der Religionsgeschichtler, den Vorgang der fortschreitenden Vergöttlichung der Person Jesu primär nicht auf der Ebene theologischer Lehrbildung zu suchen und zu verfolgen, sondern vielmehr im religiösen Leben der frühen Christen selber zu verorten. Einen solchen Sitz im Leben kann man plausiblerweise tatsächlich am ehesten in den gottesdienstlichen Feiern (Kult) annehmen, wie bis heute der Gottesdienst der hauptsächliche Ort der Verwendung triadischer Formeln und von Gebeten ist, die sich an den erhöhten Herrn Jesus Christus richten, mag man dies dann auch als eine christliche »Sondergruppensemantik« (Niklas Luh48 Bousset: Paulus, Apostel (s. Anm. 13), 1306 [Hervorhebung im Original]. 49 Bousset: Paulus, Apostel (s. Anm. 13), 1306. 50 Darauf weist übrigens auch schon Bousset selber in seinem Paulus-Artikel hin: Bousset: Paulus, Apostel (s. Anm. 13), 1277. 51 Gerd Lüdemann: Die Religionsgeschichtliche Schule und ihre Konsequenzen für die neutestamentliche Wissenschaft, in: Hans Martin Müller (Hg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992, (311–338) 315.

Kultfrömmigkeit statt Lehre

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mann) 52 abtun. Schließlich dürfte auch die Annahme Boussets nicht ganz falsch liegen, dass der Motor, der zur faktischen Vergottung Jesu geführt hat, gerade in den kultischen Bedürfnissen der feiernden Gemeinden besteht, dass es sich also um einen unbewussten Verehrungsvorgang handelt, nicht um eine absichtsvoll herbeigeführte Lehre. Es ist auch schwer vorstellbar, dass die feiernden Christen Jesus nur als eine vergangene oder zur Parusie erwartete Person wahrgenommen hätten. Die Lehrbildung setzt vielmehr schon voraus, dass in der gelebten Frömmigkeit eine Mehrheit der Christen von der Gegenwart des Erhöhten längst überzeugt und ergriffen war, bevor man angefangen hat, die Verhältnisse von Gott Vater und Gott Sohn zueinander im Einzelnen genauer festzulegen. Dass solche Fragen überhaupt entstanden sind, ob Jesus Christus eben wahrer Gott vom wahren Gott wäre, setzt voraus, dass man diese Überzeugung in der christlichen Kollektivmentalität faktisch schon lange hegt. Die Lehrbildung macht nur ausdrücklich, was im Frömmigkeitsleben längst gilt. In seiner eigenen Positionsbestimmung vom Juni 1919 in der wirren Nachkriegszeit, die de facto zum Lebensrückblick geraten ist, geht Bousset von der Grundspannung von (irrationaler) Religion und rationaler Theologie aus. Er erläutert seine zweiteilige Stellungnahme im Anschluss an eine Promotionsthese »meines Freundes Troeltsch«, die er aus dem Gedächtnis zitiert mit: »Die Theologie ist für die Religion ebenso schwer zu ertragen, wie zu entbehren.«53 Denn einerseits bedeutet Theologie unverkennbar, dass die Religion der wissenschaftlichen und insbesondere historischen Methode ausgesetzt wird, was natürlich zu Verfremdungseffekten führt. Andererseits kann aber umgekehrt die Religion der Theologie auch nicht entraten, denn die Theologie habe das Ziel, »die Frömmigkeit in Beziehung zu setzen zum allgemeinen menschlichen Leben«, und das gelte für jedes Zeitalter (Vergangenheit wie Gegenwart) gleicher52 Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung der Religion, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft 3 (Stw 1093), Frankfurt a. M. 1993, (259–357) 350. 53 Wilhelm Bousset: Religion und Theologie (20. Juni 1919), in: D. Wilhelm Bousset: Religionsgeschichtliche Studien. Aufsätze zur Religionsgeschichte des Hellenistischen Zeitalters (NT.S 50), hg. v. Anthonie F. Verheule, Leiden 1979, (29–43) 30. Die Promotionsthesen von Ernst Troeltsch aus dem Jahr 1891 sind ediert in: Friedrich Wilhelm Graf/Horst Renz (Hg.): Troeltsch-Studien 1. Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte. Mit den unveröffentlichten Promotionsthesen der »Kleinen Göttinger Fakultät« 1888–1893, Gütersloh 1982, 299–300. Bousset zitiert nach über 28 Jahren die 16. Promotionsthese Troeltschs mit der bemerkenswerten Verschiebung vom ursprünglichen Kirchenthema zur Religion: »Die Theologie ist für die Kirche eben so schwer zu ertragen als zu entbehren.« Den Hintergrund leuchtet der Beitrag von Friedrich Wilhelm Graf aus (Friedrich Wilhelm Graf: Der »Systematiker« der »Kleinen Göttinger Fakultät«. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: ders./Horst Renz [Hg.]: Troeltsch-Studien 1. Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte. Mit den unveröffentlichten Promotionsthesen der »Kleinen Göttinger Fakultät« 1888–1893, Gütersloh 1982, [235–290] 266–271).

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maßen.54 Insgesamt verband also die Religionsgeschichtler der Sachverhalt, dass »dem Programm einer konsequent historischen Theologie ein systematisches Interesse an gelebter christlicher Religion und deren Eigentümlichkeit zugrunde lag.«55 Die evangelische Theologie ist – unter anderem – durch die Problematik charakterisiert, dass sie sich einerseits als Wissenschaft vornehmlich auf die historische Forschung beruft und konzentriert, zugleich aber ihre normativen Absichten über mehr oder weniger freihändige dogmatische Konstruktionen adressiert. Insofern ist der vom Soziologen und Religionskritiker Günter Dux geäußerte Verdacht, auch die evangelische Theologie folge aller oberflächlichen Historisierung zum Trotz doch letztlich einer fundamentalistischen Logik, nicht ganz von der Hand zu weisen.56 Obwohl man sich nämlich einer historischen Forschungslogik verpflichtet weiß, versucht man den unangenehmen Ergebnissen genau dieser Forschung über normative Konstrukte auszuweichen (zum mindesten: sie zu neutralisieren).57 Wilhelm Bousset hat dagegen zu Recht den konsequent historischen Weg beschritten, auch systematisch-theologische Problemstellungen wie die Gottheit Jesu Christi zunächst historisch aufzuhellen. Dieser Pionierleistung ist durch die anschließende Wort Gottes- und KerygmaTheologie die Spitze abgebrochen worden.58 Insofern lohnt es sich, nach einem

54 Bousset: Religion und Theologie (s. Anm. 53), 33–39, hier 38. Hier gibt es eine auffallende Kontinuität zur 19. Promotionsthese Boussets von 1890, die lautete: »Jede lebendige Religion ist mit bestimmten Vorstellungen und Begriffen unlösbar verbunden, daher das Interesse, das eine kräftige religiöse Gemeinschaft an Dogma und Spekulation hat.« Auch hier führt schon der Weg vom religiösen Leben (Kult, Frömmigkeit) zur theologischen Lehre. Die Thesen sind ebenfalls ediert in: Friedrich Wilhelm Graf/Horst Renz (Hg.): Troeltsch-Studien 1. Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte. Mit den unveröffentlichten Promotionsthesen der »Kleinen Göttinger Fakultät« 1888–1893, Gütersloh 1982, 297–298. Vom zeitgeschichtlichen Kontext her bietet Boussets Vorlesung übrigens eine interessante theologische Parallele zu Max Webers Vortrag »Wissenschaft als Beruf« von 1917 (Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre [UTB 1492], hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 71988, 582–613). 55 Graf: Der »Systematiker« (s. Anm. 53), 290 [Hervorhebungen M. M.-K.]. 56 Günter Dux: Die Religion im Prozess der Säkularisierung. Zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im politischen Fundamentalismus, in: ÖZS 26 (2001), (61–88) 63–64. 57 Vgl. die von Jens Schröter: Die aktuelle Diskussion über den historischen Jesus und ihre Bedeutung für die Christologie, in: Danz/Murrmann-Kahl: Zwischen historischem Jesus (s. Anm. 44), (67–86) 78–81, zu Recht vorgetragene Kritik an gegenwärtigen Entwürfen. Indem Christian Danz in seinem Schlusskapitel im Gefolge Paul Tillichs Christologie als Geschichtsdeutung und reflexive Selbstbeschreibung des Glaubens anempfiehlt, dispensiert er sich de facto dann doch von realen historischen Forschungsprozessen: vgl. Danz: Grundprobleme (s. Anm. 46), 193–249, besonders 213, 216, 220–222, 237–240. 58 Bultmann: Die Christologie (s. Anm. 7), 256–267, hier 260: »Was heißt dann Christologie? Sie ist nicht der theoretische Exponent der praktischen Frömmigkeit [scil. Bousset, M. M.-K.], ist nicht Spekulation und Lehre über das göttliche Wesen Christi [scil. Harnack, M. M.-K.],

Kultfrömmigkeit statt Lehre

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Jahrhundert sich noch einmal darauf zu besinnen.59 Für die Systematische Theologie kommt es gerade darauf an, die jeweils formulierte Gegenwartsbedeutung der Christologie für solche historischen Problemkomplexe anschlussfähig zu halten und zu gestalten und die primär lebenspraktische Dimension der Frömmigkeitsäußerungen nicht zu übersehen, die sich auf der kognitiven Ebene sekundär zu christologischen Theoriebildungen auskristallisieren (können).60

sondern sie ist Verkündigung, Anrede.« Dazu Lüdemann: Die Religionsgeschichtliche Schule (s. Anm. 51), 316–333; Rohls: Protestantische Theologie (s. Anm. 28), 454–455. 59 Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2 2001, 17–44, schließt zwar ausdrücklich an die Religionsgeschichtler (Wrede) an, übergeht aber Bousset mit Stillschweigen. 60 Vgl. Michael Murrmann-Kahl: »Es wird drauf los konstruiert, was das Zeug hält.« Ein Beitrag zur Diskussion über die Bedeutung der Lehre von der Person Jesu für die Christologie, in: Roderich Barth u. a. (Hg.): Erleben und Deuten. Dogmatische Reflexionen im Anschluss an Ulrich Barth. Festschrift zum 70. Geburtstag, Tübingen 2015, 217–234; Michael MurrmannKahl: Die universale Bedeutung der Person Jesu. Systematisch-theologische Erwägungen zu einer christologischen Konstellation (im Erscheinen).

Christian Danz

Frömmigkeit als Religion. Zur Vielfalt theologischer Religionskonzepte

Der religiöse Pluralismus gehört zu den unhintergehbaren Bedingungen der modernen Lebenswelten. Mit ihm ist jede theoretische Beschreibung der Gesellschaft konfrontiert. Auch die Theologie kann sich diesem Thema nicht entziehen. Die Ursachen für die rasanten Pluralisierungsschübe in den letzten 200 Jahren sind vielfältigster Art: Modernisierung, Globalisierung, Migration und anderes mehr. Vor allem die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit in den demokratischen Ländern der Welt hat für eine beschleunigte Transformationsdynamik der Religion gesorgt. Das betrifft nicht nur nichtchristliche Religionspraktiken, die in Europa zunehmend an Attraktivität gewinnen, auch das Christentum selbst existiert nur in einer Vielzahl von konkurrierenden Selbstdeutungen mit höchst unterschiedlichen Vorstellungen des »eigentlich« Christlichen.1 Frömmigkeit gibt es nur noch im Plural. Die Vielfalt der Religionen und religiösen Traditionen, die nicht alle auf friedliche Koexistenz eingestimmt sind, wirft sowohl die Frage nach einem konstruktiven Umgang mit ihr auf als auch die, wie der religiöse Pluralismus angemessen zu beschreiben ist. In der Theologie ist dieses Problem seit den 1980er Jahren wieder virulent geworden, nachdem es zumindest in der deutschsprachigen protestantischen Theologie lange Zeit ausgeklammert wurde. Die neue theologische Aufmerksamkeit für den religiösen Pluralismus schlug sich vor allem in der Ausarbeitung von sogenannten Theologien der Religionen nieder, zunächst in den USA, aber seit der Jahrtausendwende auch im deutschsprachigen Raum. In der jüngsten Gegenwart konkurrieren die unterschiedlichsten Beschreibungen der religiösen Lage miteinander. Dem Pluralismus der

1 Schon vor über zehn Jahren notierte der Soziologe Klaus Eder, die »Zahl der Religionen wie der Gläubigen« nehme täglich zu. »9900 eigenständige Religionen soll es heute geben, mit zunehmender Tendenz, und jeden Tag kommen zwei oder drei neue hinzu. Das Christentum kennt heute 33.000 Konfessionen, gegenüber 1.800 um das Jahr 1900.« Klaus Eder: Europäische Säkularisierung – ein Sonderweg in die postsäkulare Gesellschaft? Eine theoretische Anmerkung, in: Berliner Journal für Soziologie 12 (2002), (331–343) 333.

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Religionen scheint ein solcher der theologischen Religionskonzepte zu entsprechen. Damit ist das Thema der nachfolgenden Überlegungen benannt. Vor dem Hintergrund der theologiegeschichtlichen Entwicklung in der Moderne sind die religionstheoretischen Konzeptionen des Pluralismus der Religionen in den Blick zu nehmen. Diese sind mit einem eigentümlichen Dilemma konfrontiert. Um religiöse Traditionen überhaupt erfassen und thematisieren zu können, ist bereits ein Begriff der Religion in Anspruch genommen. Gemeinsames und Unterscheidendes im religiösen Feld sind ohne ein Verständnis dessen, was Religion sei, gar nicht zu benennen und von kulturellen Formen zu unterscheiden. Zugleich untergräbt jedoch der zugrunde gelegte Religionsbegriff die Vielfalt der Religionsformen. Versteht man Religion im Anschluss an maßgebliche Motive der protestantischen Tradition, wie sie sich in dem Stichwort Frömmigkeit sowie den mit dieser verbundenen Unterscheidungen (etwa von Religion und Politik) zusammenfassen lassen,2 dann wird es fraglich, ob man Religionsformen, in denen kultische Rituale im Fokus stehen, noch als Religion bezeichnen kann. Und doch kommt man ohne einen Begriff der Religion nicht aus. Es wird ja immer schon unterschieden: Der Lamaismus ist Religion, Fußball nicht, und bei der Kirche des fliegenden Spaghettimonsters ist man sich noch nicht ganz sicher. Das genannte Dilemma schlägt sich auch in der religionstheologischen Debatte nieder. In ihr führt es dazu, dass der zugestandene Pluralismus der Frömmigkeit auf der Ebene von dessen theologischer Reflexion wieder ausgeschlossen wird. Insbesondere in der sogenannten pluralistischen Religionstheologie, aber nicht nur in ihr, ist das unübersehbar. Es resultiert auch aus der theologiegeschichtlichen Entwicklung des 20. Jahrhunderts, mit der im ersten Abschnitt einzusetzen ist. Sodann wird im zweiten Abschnitt die Begründung des pluralistischen Modells in Augenschein genommen. Der dritte Abschnitt widmet sich neueren Umgangsstrategien mit dem Religionspluralismus. Abschließen möchte ich mit sechs Thesen zum Verhältnis von religiösem Pluralismus und theologischer Religionstheorie.

2 Vgl. etwa Luthers Fokussierung der Religion auf die Innerlichkeit des Gottesverhältnisses im Glauben im Freiheitstraktat, demgegenüber alle äußeren Vermittlungen zurücktreten, oder die durch die Aufklärung transformierte Konzeption der Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher im Unterschied zu Wissen und Handeln.

Frömmigkeit als Religion. Zur Vielfalt theologischer Religionskonzepte

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Zu den theologiegeschichtlichen Voraussetzungen der pluralistischen Religionstheologie

Im Jahre 1986 fand an der Claremont Graduate School in Kalifornien ein Symposium statt. Es wurde federführend von dem anglikanischen Theologen John Hick sowie dem katholischen Theologen Paul F. Knitter organisiert. Der ein Jahr später aus der Tagung hervorgegangene Sammelband mit dem Titel »The Myth of Christian Uniqueness. Toward a Pluralistic Theology of Religions«3 gilt als Programmschrift der sogenannten pluralistischen Theologie der Religionen. Um deren Anliegen würdigen zu können, sind kurz die problemgeschichtlichen Voraussetzungen in Erinnerung zu rufen. Im zweiten Abschnitt werden sodann die religionstheoretischen Grundlagen des pluralistischen Modells diskutiert. Der moderne Religionsbegriff verdankt sich bekanntlich einer bestimmten Religionskultur, die in ihm ihr Selbstverständnis reflektierte. Eingeführt zur Befriedung und Neutralisierung konfessioneller Wahrheitsansprüche durch den aufgeklärten Staat, erwies sich der Begriff der Religion als ungemein leistungsfähig.4 Er trat nach der Auflösung der vormaligen übernatürlichen Begründung des Christentums durch die geoffenbarte und inspirierte Bibel an deren Stelle. Die Destruktion der gleichsam göttlichen Autorität der Heiligen Schrift eröffnet den Blick auf die Religionsgeschichte. Diese wiederum wirft die Frage nach der Stellung des Christentums in ihr auf. Durch die zunehmende Kenntnis nichtchristlicher Religionskulturen im 19. Jahrhundert werden sodann die Möglichkeiten des Vergleichs von Religionen erhöht. Sie lassen sich zunächst noch durch Konstruktionen bearbeiten, in denen das Christentum als die höchstmögliche Entwicklungsstufe erscheint. Die Transformation der durch Gottes Offenbarung selbst gestifteten wahren Religion in die Frage nach der Stellung des Christentums in der Religionsgeschichte führte noch nicht zur Preisgabe des christlichen Überlegenheitsanspruchs. Er wurde lediglich mit anderen Mitteln reformuliert. Das ist bereits im Religionsbegriff angelegt. Seine Merkmale sind dem Christentum entnommen, welches dann folgerichtig dessen Erfüllung darstellt.5 3 John Hick/Paul F. Knitter (Hg.): The Myth of Christian Uniqueness. Toward a Pluralistic Theology of Religions (FMF), Maryknoll, New York 1987. 4 Zur Geschichte des Religionsbegriffs vgl. Falk Wagner: Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 21991; Ernst Feil: Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation (FKDG 36), Göttingen 1986; ders.: Religio 2. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs zwischen Reformation und Rationalismus (ca. 1540–1620) (FKDG 70), Göttingen 1997; ders.: Religio 3. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 17. und frühen 18. Jahrhundert (FKDG 79), Göttingen 22012; ders.: Religio 4. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert (FKDG 91), Göttingen ²2012. 5 Es ist das Verdienst von Ernst Troeltsch, diese Zirkelstruktur von Geschichtskonstruktionen herausgearbeitet zu haben. Vgl. nur Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die

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Der in der Bestimmung des Religionsbegriffs auftretende Zirkel wird in der protestantischen Theologie nach dem Ersten Weltkrieg zur methodischen Grundlage von Neubeschreibungen der Religion als Offenbarung Gottes. Zugleich lösen die theologischen Beschreibungen der Religion diese in ihren aktualen Vollzug auf und unterscheiden sie von kulturellen und anthropologischen Voraussetzungen. Die wahre Religion existiert nur als ein unableitbarer Vollzug. Dafür stehen der Offenbarungsbegriff sowie die mit diesem verbundene Kritik der Religion in den dogmatischen Entwürfen des 20. Jahrhunderts.6 Die Gehalte der überlieferten Dogmatik werden umformuliert. Sie beschreiben jetzt die reflexive Struktur des religiösen Vollzugs. Die im 19. Jahrhundert die Debatten beherrschende Frage nach der Stellung des Christentums in der Religionsgeschichte wird also gerade nicht verlassen, sondern in der Theologie selbst mit deren eigenen Mitteln reformuliert. Man kann die eben angedeutete Entwicklung der protestantischen Theologie im 20. Jahrhundert allerdings auch ganz anders lesen. Dann zielt sie auf einen Christomonismus und eine neue, nun offenbarungstheologische Begründung einer Überlegenheit des Christentums gegenüber den anderen Religionen. Dem kann man dann den Inklusivismus der römischen Kirche entgegenstellen, der den anderen Religionen wenigstens etwas Wahrheit und Heil einräumt, von denen sie in der protestantischen Offenbarungstheologie gänzlich ausgeschlossen sind.7 Die Theologen, die seit den 1980er Jahren die sogenannte pluralistische Religionstheologie prägten, haben die theologiegeschichtliche Entwicklung ihres Jahrhunderts jedenfalls so gedeutet. Im Christomonismus der protestantischen Theologie sowie dem Inklusivismus der römisch-katholischen erblickten sie lediglich eine Erneuerung der alten Behauptung von einer Absolutheit des Christentums. Die konkrete Begegnung mit Angehörigen anderer Religionen, deren vertiefte Kenntnis und vor allem die methodischen Probleme der Konstruktion von religiösen Überlegenheitsansprüchen forderten, wie sie geltend machten, eine neue und andere Form der theologischen Thematisierung der Religionen. Der Vielfalt der Religionen und ihrer jeweiligen Geltungsansprüche werde nur eine pluralistische Theologie der Religionen wirklich gerecht. Dieser geht es nicht mehr darum, theologisch eine Absolutheit oder Superiorität des

Religionsgeschichte (1902/1912). Mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe 5), hg. v. Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler, Berlin/New York 1998. 6 Vgl. Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik 1, 2. Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena, Zollikon-Zürich 51960, 304–397. 7 Die theologische Grundlage hierfür bot die anthropologisch fundierte Theologie Karl Rahners. Vgl. Karl Rahner: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg i. Br. u. a. ²1985.

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Christentums zu begründen. Vielmehr soll genau umgekehrt die Pluralität der Religionen und deren Gleich-Gültigkeit aufgewiesen werden. Die Vertreter der pluralistischen Religionstheologie haben ein Schema eingeführt, um die möglichen Weisen des Verhältnisses zwischen den Religionen zu klassifizieren. Es geht auf Alan Race, einen Schüler von John Hick, zurück.8 Dem Schema zufolge ist zwischen den drei religionstheologischen Positionen des Exklusivismus, des Inklusivismus und des Pluralismus zu unterscheiden. Eine exklusivistische Haltung zeichnet sich durch die Überzeugung aus, es gebe lediglich eine wahre Religion, nämlich die eigene. Ihr gegenüber sind alle anderen Religionen unwahr und bestenfalls Aberglaube. Es ist der oben erwähnte Christomonismus der protestantischen Theologie, der für die Fassung des religionstheologischen Exklusivismus Pate stand. Anders der Inklusivismus. Er rechnet mit mehreren wahren Religionen, räumt also nicht nur der eigenen ein, wahr zu sein. Allerdings sind für die inklusivistische Position die anderen Religionen nicht in der gleichen Weise wahr wie die eigene. In ihr ist die Wahrheit auf unüberbietbare Weise vorhanden, und deshalb kommt ihr gegenüber den anderen Religionen ein höherer Status zu. Unschwer erkennt man den Inklusivismus der römisch-katholischen Theologie hinter dieser religionstheologischen Position. Für den Pluralismus hingegen gibt es mehrere gleich wahre Religionen, von denen keine einer anderen überlegen ist. Der jetzt in Münster lehrende ehemalige katholische Theologe Perry Schmidt-Leukel hatte schon vor einigen Jahren den Versuch unternommen, dieses Schema gleichsam mit den Mitteln der Modallogik auszuarbeiten, um die religionstheologische Überlegenheit des pluralistischen Modells zu untermauern. In seiner Studie »Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen«, die im Jahre 2005 erschienen ist, hat er diesen Versuch noch einmal erneuert.9 Im pluralistischen Modell wird der Gedanke eines Fortschritts in der Religionsgeschichte aufgegeben. Die religionsgeschichtliche Entwicklung führt nicht zu einer höchsten Religion, die den anderen in irgendeiner Weise überlegen ist. Freilich entgehen auch die Vertreter der pluralistischen Religionstheologie nicht der in dem Entwicklungsgedanken angelegten Dialektik, verstehen sie doch ihr Modell als einen Fortschritt gegenüber Exklusivismus und Inklusivismus. Die pluralistische Konzeption soll ihnen überlegen sein.10

8 Vgl. Alan Race: Christians and Religious Pluralism. Patterns in the Christian Theology of Religions, London 1983. 9 Vgl. Perry Schmidt-Leukel: Zur Klassifikation religionstheologischer Modelle, in: Cath(M) 47 (1993), 163–183; ders.: Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005. 10 Vgl. Jörg Dierken: Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung (ThLZ.F 24), Leipzig 2012.

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Doch wie wird die gleiche Geltung der Religionen in dem pluralistischen Modell theologisch begründet? Deren religionstheoretische Voraussetzungen sind nun genauer in den Blick zu nehmen.

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Der Religionsbegriff des pluralistischen Modells

Das pluralistische Modell hat den Status einer Hypothese, benennt also die Bedingungen, unter denen die Religionen als gleich-gültig gedacht werden können.11 Den Ausgangspunkt bildet ein Begriff der Religion.12 Glaube und Religion, so John Hick, sind »an act of interpretation […] a response to a mysterious ambiguity«.13 Religionen werden als kulturgebundene Deutungen von Manifestationen des Transzendenten verstanden. Da dieser Begriff jedoch von einer bestimmten Religionskultur und dem mit ihr verbundenen personalen Gottesbild geprägt ist, schließt er andere Religionsformen aus bzw. lässt sich auf diese nicht anwenden. Der Religionsbegriff muss folglich so erweitert werden, dass er nichtpersonale Vorstellungen des Göttlichen nicht ausschließt. Wenn allen großen Weltreligionen, die in der sogenannten Achsenzeit entstanden sind,14 ein und dieselbe göttliche Realität zugrunde liegen soll, dann muss diese als unterschieden von ihren – personalen und nichtpersonalen – menschlichen Repräsentationen verstanden werden. Hick nennt dieses Absolute »Real an sich« und unterscheidet es von seinen Manifestationen.15 Nur so vermag das Göttliche als Bezugspunkt der großen Weltreligionen zu fungieren. Die theologische Begründung der Gleich-Gültigkeit der Weltreligionen resultiert aus der genannten Überlegung. Die göttliche Realität ist transzendent und von allen ihren menschlichen Repräsentationen kategorial unterschieden. Aus dem Gedanken der kategorialen Differenz folgt der weitere, dass keine der menschlichen Repräsentationen des Göttlichen dieses selbst erfasst. Eine Religion, die das Göttliche umfassend und erschöpfend darstellt, gibt es somit nicht. Damit existiert 11 Vgl. John Hick: An Interpretation of Religion. Human Responses to the Transcendent, New Haven 1989, 233–251 (»The Pluralistic Hypothesis«). Dass es sich beim pluralistischen Modell um eine Hypothese handelt, betont auch Schmidt-Leukel: Gott ohne Grenzen (s. Anm. 9), 184: »Wenn ein Pluralist die These aufstellt, dass die anderen großen Weltreligionen heilshafte Transzendenzerkenntnis in gleichwertiger, wenn auch anderer Form vermitteln, so handelt es sich dabei um eine Hypothese.« 12 John Hick konzipiert seinen Religionsbegriff im Ausgang von einer Theorie der Erfahrung. Erfahrung wird dabei verstanden als »experience-as«. Hick: An Interpretation of Religion (s. Anm. 11), 153. 13 Hick: An Interpretation of Religion (s. Anm. 11), 159. 14 Vgl. hierzu Hick: An Interpretation of Religion (s. Anm. 11), 21–35. 15 Vgl. Hick: An Interpretation of Religion (s. Anm. 11), 236: »We now have to distinguish between the Real an sich and the Real as variously experienced-and-thought by different human communities.«

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aber auch keine Religion, die einer anderen in irgendeiner Weise überlegen ist. Aus der Perspektive des transzendenten Göttlichen sind alle Religionen gleichrangig. Keine hat einer anderen etwas voraus, da sie allesamt menschliche Repräsentationen eines unzugänglichen göttlichen Einheitsgrundes sind. Die Gleichrangigkeit der nichtchristlichen Religionen mit der christlichen Religion resultiert aus der Hypothese, ihnen allen liegt ein und dieselbe göttliche Realität zugrunde. Alle glauben an denselben Gott, wenn auch jeweils etwas anders. Die einzelnen Religionen sind kulturspezifische Antworten auf Manifestationen des Absoluten. Der religiöse Pluralismus scheint somit begründet zu sein. Aber ist das auch wirklich der Fall? Es erhebt sich zunächst der erkenntnistheoretische Einwand, woher man wissen kann, dass allen großen Weltreligionen ein und dasselbe Absolute zugrundliegt, wenn dieses doch transzendent und unerkennbar sein soll. Der Gedanke ist, wie von den Vertretern des pluralistischen Modells auch eingeräumt wird, ein Postulat.16 Es soll die gleiche Geltung von verschiedenen Religionen plausibel machen. Es ist nicht unberechtigt, wenn auf theologiegeschichtliche Vorläufer der pluralistischen Religionstheologie im englischen Deismus und dessen Rezeption in der deutschen Aufklärung hingewiesen wird. Die aufgeklärte Vorstellung einer natürlichen Religion, von der auch Gotthold Ephraim Lessings Ringparabel aus dem »Nathan« Gebrauch macht, hat eine ähnliche begründungslogische Funktion.17 Hier wie dort werden die geschichtlichen Religionen durch einen rationalen Gottesgedanken begründet, und ihnen wird wie bei Lessing das Prädikat der Wahrheit abgesprochen. Das macht auf ein weiteres Problem der pluralistischen Hypothese aufmerksam. Die Pluralität der geschichtlichen Religionen soll theologisch begründet werden, aber das ist allein durch die Annahme möglich, ihnen liege allen ein invarianter religiöser Kern zugrunde. Das Wesentliche an ihnen ist die Ausrichtung auf das sie übergreifende Absolute sowie eine damit verbundene soteriologische Abkehr von menschlicher Selbstzentriertheit.18 Die konkreten geschichtlichen Formen werden demgegenüber geradezu nivelliert.19 Das liegt am zugrunde gelegten 16 Vgl. Hick: An Interpretation of Religion (s. Anm. 11), 236, 243, 249. 17 Vgl. hierzu Christian Danz: Lessings Ringparabel und die Anerkennung nichtchristlicher Religionen. Anmerkungen zu einer Theologie der Religionen, in: Christoph Bultmann/Birka Siwczyk (Hg.): Tolerant mit Lessing. Ein Lesebuch zur Ringparabel, Leipzig 2013, 184–195. 18 Vgl. Hick: An Interpretation of Religion (s. Anm. 11), 299–300. 19 An den inhaltlichen Bestandteilen der Religionen hängen die vermeintlichen Überlegenheitsansprüche. Erst wenn diese, zum Beispiel das Christusbild, abgebaut sind, so die Konsequenz, sei eine Gleich-Gültigkeit aller Religionen möglich. Vgl. Schmidt-Leukel: Gott ohne Grenzen (s. Anm. 9), 277: »Die Vorstellung, dass die universale, heilsstiftende Selbsterschließung Gottes durch Leben, Tod und Auferstehung des Menschen Jesus erst ermöglicht beziehungsweise verursacht worden wäre, ist mit einer pluralistischen Religionstheologie unvereinbar.« Vgl. hierzu Christian Danz: Grundprobleme der Christologie (UTB 3911), Tübingen 2013, 223–240; Folkart Wittekind: Absolutheit und Christologie im modernen

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Religionsbegriff. Er postuliert ein universales Wesen der Religion. Dadurch wird jedoch die Diversität und Pluralität der religiösen Formen monistisch reformuliert. Im Resultat bleibt nur eine Religion übrig.20 Angesichts der religionstheoretischen Schwierigkeiten, mit denen sich das pluralistische Modell konfrontiert sieht, wurden in der weiteren Debatte Alternativen vorgeschlagen. Ihnen müssen wir uns nun zuwenden.

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Der Religionsbegriff zwischen neuem Inklusivismus und komparativer Theologie

In der jüngsten Vergangenheit wurden vor allem zwei religionstheologische Konzeptionen diskutiert: einmal ein sogenannter wechselseitiger Inklusivismus und zum anderen komparative Theologien. Beide Modelle knüpfen an die Intention des pluralistischen Modells an, zu einer positiven Wertschätzung nichtchristlicher Religionen auf theologischem Wege zu gelangen. Das soll nun aber nicht mehr im Rekurs auf ein alle Religionen übersteigendes Göttliches geschehen, aus dessen Perspektive die geschichtlichen Religionen in den Blick genommen werden, sondern im Ausgang von der eigenen religiösen Tradition. Es ist der Religionsbegriff des pluralistischen Modells, auf den die Bedenken sich richten. Ich diskutiere zunächst den wechselseitigen Inklusivismus und sodann die komparative Theologie. Zahlreiche Theologen in den USA, aber auch in Europa, haben Modelle eines neuen Inklusivismus als Alternative zum religionstheologischen Pluralismus vorgeschlagen.21 Diesen Theorien geht es im Unterschied zu älteren Formen des Inklusivismus nicht darum, eine Überlegenheit des Christentums gegenüber den nichtchristlichen Religionen zu behaupten. Vielmehr soll ausdrücklich an die Intention einer positiven Würdigung der nichtchristlichen Religionen angeProtestantismus. Tillichs Rezeption von Troeltschs Absolutheitsschrift im Kontext, in: Ulrich Barth u. a. (Hg.): Die aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich (TBT 165), Berlin/Boston 2013, 229–270. 20 Vgl. hierzu auch Lene Kühle: Religious Pluralism in Multireligiosity, in: Viggo Mortensen (Hg.): Theology and the Religions. A Dialogue, Grand Rapids/Cambridge 2003, 419–429, bes. 427–428. 21 Vgl. Ulrich H. J. Körtner: Synkretismus und Differenzwahrnehmung als Problem einer Theologie der Religionen, in: Christian Danz/Ulrich H. J. Körtner (Hg.): Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2005, 57– 76; Christoph Schwöbel: Interreligious Encounter and the Fragmentary Experience of God, in: Concilium 37 (2001), 107–119; S. Mark Heim: The Depth of Riches. A Trinitarian Theology of Religious Ends (SacDo), Grand Rapids 2001; Jacques Dupuis: Toward a Christian Theology of Religious Pluralism, Maryknoll, New York 1997; Gavin D’Costa: The Meeting of Religions and the Trinity (FMF), Maryknoll, New York 2000.

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knüpft werden. Das geschieht im Unterschied zu der pluralistischen Religionstheologie nicht durch die Konstruktion einer die geschichtlichen Religionen übergreifenden Metaperspektive in Form eines Realen an sich, durch die die Gleich-Gültigkeit der geschichtlichen Religionen begründet wird. Vielmehr wird nun der Einsicht Rechnung getragen, dass eine solche Metaperspektive schon die Signatur einer bestimmten religiösen Tradition trägt. Trifft das aber zu, dann ist von einer Vielzahl von unterschiedlichen religiösen Standpunkten auszugehen, die jeweils aus ihrer eigenen Perspektive das Verhältnis zu anderen Religionen beschreiben. Ein die Religionen übergreifender Begriff wird damit problematisch. Der neue, nun betont wechselseitige Inklusivismus erfuhr höchst unterschiedliche Ausarbeitungen. So hat der römisch-katholische Theologe Gerhard Gäde ein von ihm »Interiorismus« genanntes Modell des Verhältnisses zwischen dem Christentum und den nichtchristlichen Religionen ins Gespräch gebracht, das sich von dem oben erwähnten religionstheologischen Dreierschema unterscheiden und einen völlig neuen Weg in der Religionstheologie eröffnen soll.22 Mit Interiorismus meint er ein solches Zuordnungsmodell zwischen dem Christentum und den nichtchristlichen Religionen, das dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament aus der Optik des Christentums entspricht. Ebenso wie das Neue Testament die Erfüllung des Alten darstellt, sei das Christentum die Erfüllung der nichtchristlichen Religionen.23 Anders gestaltet sich der neue Inklusivismus bei dem Baseler Theologen Reinhold Bernhardt. Ihm geht es um die Ausarbeitung eines solchen Modells des Verhältnisses zwischen dem Christentum und den nichtchristlichen Religionen, welches bewusst von der Binnensicht des Christentums ausgeht und auf eine religionsphilosophische Grundlegung der Religionstheologie verzichtet.24 Wo die Religionstheologie sich ihrer Standpunktgebundenheit bewusst ist, sei sie auch durch das Wissen um eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven ausgezeichnet. Ein solches Netz von unterschiedlichen religiösen Perspektiven, die sich ihrer Partikularität und Standpunktrelativität bewusst sind, ist mit dem von Bernhardt anvisierten mutualen Inklusivismus gemeint. Für eine christliche Religions22 Vgl. Gerhard Gäde: Christus in den Religionen. Der christliche Glaube und die Wahrheit der Religionen, Paderborn u. a. 2003. 23 Vgl. Gäde: Christus in den Religionen (s. Anm. 22), 170: »Die christliche Botschaft präsentiert sich anderen Religionen also immer als eine Religion, die sich bereits als die Universalisierung und Erfüllung einer anderen, nämlich der jüdischen Religion versteht.« [Kursivierung im Original]. 24 Vgl. schon Reinhold Bernhardt: Der Absolutheitsanspruch des Christentums. Von der Aufklärung bis zur Pluralistischen Religionstheologie, Gütersloh 1990. Aufgenommen und weitergeführt hat Bernhardt seine Position in: Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion (Beiträge zu einer Theologie der Religionen 2), Zürich 2005.

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theologie ergibt sich damit die Aufgabe, das Verhältnis zu anderen Religionen nicht im Rückgriff auf eine »traditionsübergreifende Rahmentheorie«25 zu beschreiben, wie in dem pluralistischen Modell, sondern mit Deutungsmustern aus der eigenen christlichen Religion. In den Blick rücken vor allem die Trinitätslehre und die Pneumatologie. Der wechselseitige Inklusivismus verzichtet auf eine religionstheoretische Grundlegung und begründet die Geltung nichtchristlicher Religionen christlichtheologisch. Fraglich ist, ob dieses religionstheologische Modell wirklich in der Lage ist, über die älteren Formen des Inklusivismus hinauszuführen. Zwar soll das Selbstverständnis der anderen Religionen anerkannt und nicht superioristisch überboten werden. Aber da diese Intention ohne eine religionstheoretische Grundlegung und somit ausdrücklich aus der Binnenperspektive des Christentums und mit deren Deutungspotentialen vorgenommen wird, scheinen die nichtchristlichen Religionen von vornherein so in die eigene Binnensicht integriert zu werden, dass von deren Eigenständigkeit nicht mehr die Rede sein kann. Bei Gäde kommt das nur offensichtlicher zum Ausdruck als bei Bernhardt. Damit hängt ein Weiteres zusammen. Die Verknüpfung von innerer Gewissheit der eigenen Religion und der aus dem Religionsvergleich gewonnenen Überzeugung von der Gleich-Gültigkeit der Religionen ist auch hier nur scheinbar erreicht. Denn eine solche lässt sich in den neuen Formen des Inklusivismus auch nur durch die Behauptung, es bestehe eine »grundlegende Unterschiedenheit des göttlichen Seinsgrundes von allem weltlichen Seienden«, begründen.26 Der theistische Gottesgedanke als Grundlage und Bezugspunkt aller Religionen bleibt damit erhalten, er wird lediglich religionsintern reformuliert. Hieraus resultiert die Spannung zwischen dem eigenen religiösen Standpunkt und der positiven Würdigung der anderen Religionen, die sich innerhalb der Religionstheologie als Ambivalenz von Anerkennung und Bestreitung der Eigenständigkeit der nichtchristlichen Religionen artikuliert. Ganz andere Wege gehen komparative Theologien. Aus den methodischen Problemen, mit denen sowohl das pluralistische Modell als auch der neue Inklusivismus konfrontiert sind, wird die Konsequenz gezogen, die Religionstheologie auf eine völlig veränderte Grundlage zu stellen, indem von Globaltheorien wie dem religionstheologischen Dreierschema Abschied genommen wird. Nachdem zunächst in den USA komparative Theologien als Alternativen zu der bisherigen Religionstheologie konzipiert wurden, haben inzwischen auch im deutschsprachigen Raum der in Münster lehrende katholische Theologen Nor25 Reinhold Bernhardt: Protestantische Religionstheologie auf trinitätstheologischem Grund, in: Christian Danz/Ulrich H. J. Körtner (Hg.): Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven protestantischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2005, (107–120) 113. 26 Bernhardt: Protestantische Religionstheologie (s. Anm. 25), 117.

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bert Hintersteiner sowie sein Paderborner Kollege Klaus von Stosch solche Konzeptionen vorgelegt.27 Wie der wechselseitige Inklusivismus, so verzichtet auch die komparative Theologie auf die Voraussetzung eines die geschichtlichen Religionen übergreifenden Religionsbegriffs, wie sie in dem pluralistischen Modell mit dem göttlichen Einheitsgrund unterstellt wird. An dessen Stelle tritt der methodische Ausgang von der eigenen Religion. Während der mutuale Inklusivismus die Vielfalt der Religionen aus der eigenen religiösen Perspektive begründen möchte, verzichtet die komparative Theologie darauf, Religionen als Ganze auf ihre Wahrheit oder Falschheit hin zu befragen. Sie wendet sich konkreten Elementen von zwei Religionen zu und vergleicht diese. Universale Konzeptionen wie der Religionsbegriff sowie der Anspruch, die Geltung aller Religionen zu begründen, werden aufgegeben. Die Unterschiede und Differenzen zwischen Religionen und religiösen Traditionen treten in den Fokus des theologischen Interesses. Stärker als in dem pluralistischen Modell und dem neuen Inklusivismus wird die Geltung der eigenen religiösen Position mit einer positiven Wertschätzung anderer religiöser Traditionen verbunden. Das mag zu einer Transformation der inhaltlichen Bestandteile der eigenen Religion im interreligiösen Dialog führen. Die Geltung des eigenen Glaubenssystems muss jedoch nicht vorauslaufend abgebaut werden, damit es zu einer Anerkennung der Anderen überhaupt kommen kann. Ob die komparative Theologie wirklich, wie es ihre Vertreter beanspruchen, eine weiterführende Alternative zu der bisherigen Religionstheologie darstellt, kann man bezweifeln.28 Fraglich erscheint zunächst, ob das von der komparativen Theologie eingeschlagene Verfahren eines Vergleichs unterschiedlicher religiöser Sprachspiele nicht spätestens an der Stelle mit den Problemstellungen der bisherigen Religionstheologie wieder konfrontiert wird, wo es um Schlussfolgerungen aus dem Religionsvergleich geht. Ringt sie sich zu Urteilen oder Bewertungen anderer religiöser Traditionen durch, muss sie unweigerlich Kri-

27 Vgl. Robert C. Neville: Behind the Masks of God. An Essay Toward Comparative Theology, New York 1991; Francis X. Clooney: Theology after Veda¯nta. An Experiment in Comparative Theology (SUNYTCP), Albany 1996; James L. Fredericks: Faith among Faiths. Christian Theology and Non-Christian Religions, New York 1999; Norbert Hintersteiner: Traditionen überschreiten. Angloamerikanische Beiträge zur interkulturellen Traditionshermeneutik, Wien 2001; ders.: Dialog der Religionen, in: Johann Figl (Hg.): Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, Innsbruck/Göttingen 2003, 834–852; Klaus von Stosch: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen (Beiträge zur komparativen Theologie 6), Paderborn u. a. 2012. 28 Zur Kritik an der komparativen Theologie vgl. Schmidt-Leukel: Gott ohne Grenzen (s. Anm. 9), 87–95; Bernhardt: Ende des Dialogs? (s. Anm. 24), 276–280; Paul F. Knitter: Introducing Theologies of Religions, Maryknoll, New York 2002, 202–215.

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terien heranziehen.29 Unklar ist aber auch schon der Ansatz der komparativen Theologie. Geht es ihr um eine religionswissenschaftliche Beschreibung von Vorstellungskomplexen einer anderen Religion oder um eine christlich-theologische Deutung religiöser Andersheit? 30 Der programmatische Verzicht auf allgemeine Kategorien ist schließlich ebenfalls nicht unproblematisch. Keine Beschreibung, auch nicht die der komparativen Theologie, kommt ohne allgemeine Begriffe aus, so sehr auch deren Allgemeinheit immer an eine bestimmte Perspektive rückgebunden ist. Wie ist aber dann von der Theologie mit dem religiösen Pluralismus umzugehen, wenn sowohl der religionstheologische Pluralismus als auch der wechselseitige Inklusivismus sowie die komparative Theologie sich als unzulänglich erweisen? Soll man auf den Religionsbegriff verzichten? Aber was wären dann die Alternativen?

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Religiöser Pluralismus und Theologische Religionstheorien

Der religiöse und kulturelle Pluralismus der modernen Gesellschaft schlägt sich – das hat der Überblick über die religionstheologische Debatte der letzten Jahre deutlich gemacht – auch noch in deren theoretischen Beschreibungen nieder. Der Pluralität der Frömmigkeiten entspricht eine Vielfalt theologischer Religionskonzepte. Ich möchte abschließend in Form von sechs Thesen der Frage nachgehen, welche Konsequenzen aus dem Dargelegten für eine Reflexion und Bearbeitung des religiösen Pluralismus in der Theologie zu ziehen sind. These 1: Beschreibungen des religiösen Pluralismus oder der modernen Gesellschaft kann es schon aus methodischen Gründen auch in der Theologie nur im Plural geben. Die Theologie hat den religiösen und kulturellen Pluralismus als Voraussetzung und Grundlage ihrer Beschreibung von Religion anzuerkennen. Er bildet den Horizont aller Theologie in der Moderne. Das bedeutet jedoch, dass es weder eine 29 Klaus von Stosch: Das Problem der Kriterien als Gretchenfrage jeder Theologie der Religionen. Untersuchungen zu ihrer philosophischen Begründbarkeit, in: Reinhold Bernhardt/ Perry Schmidt-Leukel (Hg.): Kriterien interreligiöser Urteilsbildung (Beiträge zu einer Theologie der Religionen 1), Zürich 2005, 37–57, versucht das Problem durch einen Rekurs auf die Philosophie zu lösen, die für die Kriterien zuständig sein soll. Damit ist die Bearbeitung des Kriterienproblems aber lediglich verschoben. Auch die Philosophie, so sehr sie auf Allgemeinheit zielt, ist an eine bestimmte Kultur gebunden. 30 Die Deutung des Verhältnisses von Christentum und Judentum bei von Stosch: Komparative Theologie (s. Anm. 27), 277, kommt beispielsweise bei aller Betonung von Differenz und Eigenständigkeit anderer religiöser Traditionen über eine inklusivistische Vereinnahmung des Judentums nicht hinaus.

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abschließende Deutung noch eine allein maßgebliche Theorie des religiösen Pluralismus geben kann. Theologien der religiösen Lage treten also notwendig im Plural auf. Eine allein richtige oder wahre Deutung kann es nicht geben. Wie sollte sie sich auch begründen lassen? Das bedeutet indes nicht, dass es keine Argumente gibt, durch die sich Religionstheorien als angemessen ausweisen ließen. Nicht jede Theologie des religiösen Pluralismus wird diesem auch gerecht. Theologische Religionsbegriffe, welche die Diversität der Religionen und religiösen Formen nivellieren, sind für die Beschreibung der Religionskultur der Moderne ungeeignet. These 2: Eine angemessene Beschreibung der Religion muss die Teilnehmerperspektive einbeziehen. In einer theologischen Reflexion des religiösen Pluralismus kann, wie die Debatten der letzten Jahrzehnte deutlich gemacht haben, von der Teilnehmerperspektive nicht abstrahiert werden. Religionstheologien wie die pluralistische blenden die Teilnehmerperspektive aus dem Religionsbegriff aus und lösen die geschichtlichen Religionen in einen sie übergreifenden abstrakten Begriff auf. Insofern bedeuten sowohl der neue Inklusivismus als auch die komparative Theologie eine Weiterführung der Debatte. Religion gibt es allein in ihrem individuellen Vollzug und seiner symbolischen Selbstdarstellung. Unabhängig von ihrem Vollzug – etwa als eine fixierte Wahrheit oder ein vorliegendes Heil – kann Religion nicht angemessen verstanden werden. Religion kann aber auch nicht funktional bestimmt werden. In solchen Theorien, die von dem Selbstverständnis der Akteure abstrahieren, ist es der Theoretiker, der darüber entscheidet, ob Religion vorliegt oder nicht. Gegenüber substantiellen und funktionalen Theorien ist Religion als ein geschichtlich gewordenes menschliches Selbstverständnis zu verstehen, welches sich selbst als solche bezeichnet. Religion ist kein anthropologisches Wesensmerkmal, das in irgendeiner Weise konstitutiv für den Menschen ist. Sie entsteht vielmehr unableitbar als eine Weise der Selbstdeutung menschlichen Lebens unter Aufnahme und Transformation von geschichtlich tradierten Formen. Die religiösen Gehalte entstehen zugleich mit dem Subjekt der Religion. In der theologischen Beschreibung des religiösen Pluralismus ist deshalb auf universale anthropologische Religionsbegriffe zu verzichten, nicht aber auf einen Begriff der Religion. These 3: Die Aufgabe einer theologischen Theorie des religiösen Pluralismus besteht nicht in einer Begründung der Vielfalt der Religionen. Die theologische Bearbeitung des religiösen Pluralismus in Form von pluralistischen Religionstheologien sowie deren Weiterführung in Konzeptionen eines wechselseitigen Inklusivismus hat deutlich gemacht, dass eine Begründung des Religionspluralismus gar nicht möglich ist. In den diskutierten Modellen werden

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entweder die geschichtlichen Religionen inklusive der eigenen auf eine übergeordnete Metaperspektive hin relativiert oder die nichtchristlichen Religionsfamilien durch deren christlich-theologische Begründung in die eigene Binnenperspektive vereinnahmt. Der Versuch einer Begründung des religiösen Pluralismus schlägt gleichsam dialektisch in sein Gegenteil um. Der Pluralismus entpuppt sich als Monismus und der neue Inklusivismus als Superiorismus. Die Frage, ob es eine absolute Religion gibt, taucht indes im konkreten religiösen Akt, also im Vollzug menschlichen Sich-Verstehens, gar nicht auf. In der religiösen Kommunikation stellt sich Gewissheit in symbolischen Formen dar. Zu einem ausdrücklichen Thema wird das Problem, ob es eine oder mehrere absolute Religionen gibt, erst auf der Ebene der theologischen Reflexion. Hier ist es aber auch unbeantwortbar.31 Weder die Religionsgeschichte noch ein Vergleich der Religionen können darauf eine Antwort geben. Nach welchen Maßstäben oder Kriterien sollte das infrage stehende Problem auch entschieden werden? Diese stammen stets aus einer bestimmten Religionskultur und können als solche nicht universalisiert werden. Eine Begründung für die Wahrheit oder Geltung einiger oder gar aller Religionen kann keine Theologie der Welt leisten. These 4: Die Aufgabe der Systematischen Theologie besteht nicht in einer Begründung der christlichen Religion. Der Gegenstand der Systematischen Theologie ist die christliche Religion. Sie stellt den religiösen Vollzug und seine Selbstbeschreibung auf eine reflexive Weise dar. Sie interpretiert die christliche Religion, sie begründet sie jedoch nicht. Alle Versuche, Religion zu bestimmen, fallen notwendig zirkulär aus. Sie greifen stets Aspekte als grundlegend für die Religion auf, die aus der religiösen Tradition stammen, in der der Religionstheoretiker steht. Die Systematische Theologie hebt diesen Zirkel auf die Ebene der methodischen Bewusstheit und beschreibt Religion als eine geschichtlich gewordene Form menschlicher Selbstdeutung. Auf diese Weise deutet und strukturiert die Theologie den Zusammenhang von individueller Gewissheit und deren symbolischer Selbstdarstellung. Das ist jedoch das Thema, welches hinter der Frage nach der Absolutheit einer Religion steht. Es wird von der Systematischen Theologie bearbeitet, in dem sie Religion in der Spannung von historischer Abhängigkeit und Transformation ihrer Gehalte reflektiert. Religion, auch die protestantisch-christliche, gibt es lediglich als vielfältige symbolische Selbstdarstellungen, die sich selbst als Religion bezeichnen. Die religiösen Gehalte symbolisieren gleichsam, wie ein symbolisch kommuniziertes Selbstverständnis funktioniert und wie sich ein Selbst 31 Vgl. Johannes Fischer: Christlicher Wahrheitsanspruch und die Religionen, in: Christian Danz/Ulrich H. J. Körtner (Hg.): Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2005, 187–203.

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mittels seiner Gehalte auf sich bezieht und sich so als ein solches in seiner symbolischen Selbstdarstellung erst herstellt. Der Vollzug der Religion, den die Systematische Theologie beschreibt, ist als Aneignung von bereits vorgegebenen symbolischen Formen zugleich deren Produktion.32 Frömmigkeit und deren Darstellung, so wird hier deutlich, kann es nur im Plural geben. These 5: Theologische Religionstheorien deuten die nur plural auftretenden religiösen Kommunikationen. Die Aufgabe einer Systematischen Theologie kann es nicht sein, die Geltung anderer oder gleich aller Religionen zu begründen. Aber welche Funktion hat die Theologie dann? Andere Religionen findet die Theologie ebenso wie das Christentum in seinen vielfältigen Denominationen stets schon vor. Sie sind als solche anzuerkennen und gegebenenfalls ebenso zu kritisieren wie die eigene. Die theologische Thematisierung nichtchristlicher Religionen zielt auf eine Erkundung der eigenen Religion im Horizont einer fremden. Religiöses Sich-Verstehen kann sich nur in symbolischen Formen darstellen, die bereits in eine bestimmte Kultur eingebunden sind. Jener Zusammenhang ist der Gegenstand der theologischen Reflexion der Religion. Die Systematische Theologie thematisiert ihn ebenso im Christentum wie in anderen Religionen und nichtreligiösen Bereichen der modernen Gesellschaft. Dadurch leistet sie einen Beitrag zum tieferen Verständnis der eigenen Religion und ihrer Transformationsdynamik vor dem Hintergrund sich wandelnder kultureller und gesellschaftlicher Lebenswelten. Wenn die Systematische Theologie bei ihrer Beschreibung der religiösen Lage nicht von einem anthropologisch universalen Religionsbegriff ausgeht, so kann das, was als Religion zu bestimmen ist, sich nur aus der Analyse der konkreten Phänomene ergeben. Als Religionstheologie arbeitet die Theologie am Religionsbegriff. Er muss folglich ständig erweitert und korrigiert werden, wenn anders Religion nichts substantiell Vorgegebenes ist, sondern lediglich als ein Vollzug symbolischer Selbstdarstellung existiert, der sich selbst als Religion bezeichnet. These 6: Das Kriterium zur Beurteilung des religiösen Pluralismus liegt in der reflexiven Selbstdurchsichtigkeit des religiösen Vollzugs. Die Theologie dient nicht nur der Beschreibung des religiösen Aktes. Ihre Aufgabe ist auch die einer normativen Bestimmung des Wesens des Christentums. Auch dieses liegt nicht als festumrissene Größe vor, sondern existiert nur als eine geschichtlich eingebundene und wandelbare Selbstbeschreibung. Eine normative 32 Vgl. Folkart Wittekind: Dogmatik als Selbstbewusstsein gelebter Religion. Zur Möglichkeit theologiegeschichtlicher Beschreibung der reflexiven Transformation der Religion, in: Christian Danz u. a. (Hg.): Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik. Perspektiven philosophischer Religion (BRTh 15), Frankfurt a. M. 2005, 122–152, bes. 149.

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Beurteilung der religiösen Lebenswelten der Moderne kann somit weder im Rückgriff auf die geoffenbarte Bibel noch auf einen universalen Vernunftbegriff der Religion erfolgen. Beides hat die Entwicklungsgeschichte der Moderne aufgelöst. Als Kriterium fungiert allein die reflexive Selbstdurchsichtigkeit desjenigen Aktes, in dem das Subjekt zugleich mit seinen Gehalten entsteht. An der Selbsterfassung der endlichen Freiheit als einer solchen sind die religiösen Traditionen zu messen.

Susanne Heine

Spiritualität ohne Gott. Das Paradigma der »göttlichen Natur« als Herausforderung für die christliche Theologie

Der Religionspsychologe Stanley Hall (1846–1924) war der erste Präsident der 1887 gegründeten Clark-Universität in Massachusetts/USA und Gründer der American Psychological Association. Er sah ein neues Zeitalter anbrechen und schrieb im Jahr 1904 das christliche Glaubensbekenntnis um. Statt »Ich glaube an den Heiligen Geist« heißt es beim ihm: »I believe in energy«.1 Für ihn ist die Natur ein eigenständiger Akteur, eine initiative, selbsttätige und von menschlichem Handeln unabhängige Energie, die alles hervorbringt und zur Vollendung treibt, was an Potentialen essentiell im Kosmos angelegt ist, und auch die menschliche Selbstentfaltung bzw. Selbstaktualisierung bewirkt. Dieses Konzept einer Spiritualität ohne Gott bedeutete für Hall den Beginn einer nächsthöheren Evolutionsstufe der Menschheit, in der die »göttliche Natur« die konkreten Religionen als vorausgehende Stufe ablöst.2 Hinter einem solchen naturphilosophischen Konzept, das in vielen Spielarten auftreten kann und sich verbreiteter Aktualität erfreut, steht eine lange Geschichte.

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Die Funktion von Religion

Religion kann mehrfache Funktionen erfüllen. Eine davon besteht darin, als persönliche Überzeugung einen existentiellen Sinnrahmen bereitzustellen; eine andere darin, Gemeinschaft zu stiften. Ist eine religiöse Gruppe groß genug, kann die persönliche Glaubensüberzeugung gegenüber der Bedeutung der Gruppenzugehörigkeit in den Hintergrund treten. Man ist dann gläubig weniger aus persönlicher Überzeugung als durch die Zugehörigkeit zur Gruppe. Die gemeinschaftsstiftende Funktion von Religion kann auch politisch genutzt werden, um eine Region, ein Land durch eine Religion zu einen. Ein frühes 1 Stanley Hall: Adolescence. Its Psychology and Its Relation to Physiology, Anthropology, Society, Sex, Crime, Religion and Education 2, New York 1904, 543. 2 Stanley Hall: Life and Confessions of a Psychologist, New York 1923, 596.

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Beispiel aus dem 4. Jahrhundert ist der römische Kaiser Konstantin, der angesichts der Pluralität von Völkern und Religionen in seinem Imperium nach einer einheitlichen Reichsideologie Ausschau hielt und diese im Christentum fand. Auf dem Weg des Christentums zur Staatsreligion wurden sukzessive andere Religionen verboten und deren Anhänger verfolgt. Das Modell der Einheit von Religion und Region kommt auch dann in Schwierigkeiten, wenn sich innerhalb einer Religion verschiedene Strömungen herausbilden. Das war auch im Christentum der Fall, weshalb die Kaiser und die römische Reichskirche versuchten, mit ihren Konzilien eine einheitliche Doktrin zu schaffen. Christen, die sich dieser nicht beugten, wie etwa die ost- und westsyrischen Christen, wurden verfolgt und vertrieben.

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Eine kurze geschichtliche Reminiszenz

In Europa wurde auch weiterhin die Vielfalt um der Einheit willen mit Gewalt bekämpft. Dies gipfelte im Kampf gegen die reformatorische Bewegung. Die Reformation konnte freilich nicht mehr unterdrückt werden, nachdem sich ihr viele deutsche Fürsten und Stände angeschlossen hatten. Daraus sind mit Protestantismus und römischem Katholizismus zwei Konfessionen und Kirchen hervorgegangen, deren Anhänger einander in einer Mischung aus religiösen und politischen Interessen blutige Kämpfe lieferten. Diese kamen im Deutschen Reich zunächst zu einem Ende durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555, der die freie Wahl der Konfession zuließ, aber durch das Rechtsprinzip cuius regio, eius religio an der Einheit von Region und Religion festhielt: Alle Bewohner eines Landes mussten der Konfession ihres Landesherrn angehören. Damit war der Zwang zum Konfessionswechsel innerhalb eines Landes zwar aufgehoben, aber das »Recht auf Emigration«, als beneficium emigrandi bezeichnet, öffnete der Vertreibung Andersgläubiger immer noch Tür und Tor. Die daraus folgende Aufteilung des Deutschen Reiches in konfessionelle Gebiete verstärkte die Souveränitätsinteressen der jeweiligen Herrscherhäuser, so dass Kaiser und Katholische Liga auf der einen Seite mit der Protestantischen Union auf der anderen um die Vormachtstellung stritten. Dies gipfelte im 30jährigen Krieg, der halb Europa entvölkerte. Der Westfälische Friedensvertrag von 1648 konnte zwar den Krieg beenden, schrieb aber die damals bestehenden konfessionellen Territorien nach dem »Normaljahr«, dem Stand des Jahres 1624, fest. Das Prinzip cuius regio, eius religio und das beneficium emigrandi blieben

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aufrecht, was weiterhin, wenn auch unter menschlicheren Rahmenbedingungen, zu Vertreibungen führte.3 Erst langsam kam es zu ersten Toleranzgesetzen: 1685 das Toleranzedikt von Potsdam durch Kurfürst Friedrich Wilhelm in Preußen, 100 Jahre später das Toleranzpatent durch Joseph II. von 1781 im römisch-katholischen Österreich. Dennoch blieb die jeweilige Konfession Staatskirche, und die Toleranz beschränkte sich auf ein »Privat-Exercitium«.

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Der nutzlose Gott

Diese Geschichte provozierte die Kritik durch Philosophen und Literaten, Stimmen der Frühaufklärung, die die Zeit gekommen sahen, sich von Religion zu verabschieden und die Vernunft in ihr Recht zu setzen. Dazu gehörte Voltaire (1694–1778), der fragt: »Warum haben wir uns seit dem Konzil von Nicäa fast pausenlos die Hälse durchgeschnitten?«4 Es sind die Kriege, die ihn immer heftiger gegen den Gott der Kirche, des Dogmas, der Rechtgläubigkeit und Verfolgung Andersgläubiger streiten lassen: Nun sieht man zu gleicher Zeit fünf bis sechs kriegführende Mächte, bald drei gegen drei, bald zwei gegen vier, bald eine gegen fünf, die sich alle gleichermaßen verabscheuen und sich abwechselnd verbünden und befehden. […] Und das Wunderbare an dieser höllischen Geschichte ist, dass jedes Mörderoberhaupt seine Fahnen einsegnen läßt und Gott feierlich anruft, ehe er hingeht und seinen Nächsten vertilgt.5

Voltaire beklagt, dass Gott, von dem die Menschen wohl wissen, bei ihnen nichts bewirkt gegen begehrliche Machtansprüche und Blutvergießen. Dieser Gott war nutzlos geworden. Dies hat sich 1789 in der Französischen Revolution niedergeschlagen. Die siegreichen Revolutionäre feierten 1793 das »Fest der Vernunft«, das die christliche Liturgie durch eine Prozession mit verschiedenen Stationen imitierte. Die erste Station war der Brunnen der Erneuerung in der Gestalt einer Isis als Symbolfigur der Natur, aus deren Brüsten das lebensspendende Wasser floss; alle

3 Martin Heckel: Zu den Anfängen der Religionsfreiheit im Konfessionellen Zeitalter, in: ders.: Gesammelte Schriften 5. Staat, Kirche, Recht, Geschichte (JusEcc 73), Tübingen 2004, 81–134. 4 François Marie Arouet Voltaire: Art. Tolérance – Toleranz, in: Dictionnaire philosopique, Genf 1764, verfügbar unter: http://www.correspondance-voltaire.de/html/phil-toleranz.html [24. 04. 2016]. 5 François Marie Arouet Voltaire: Wider den Krieg, in: ders.: Kleine philosophische Aufsätze, hg. v. Roland Welcker, 2008, verfügbar unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kleine-philoso phische-aufsatze-2437/22 [24. 04. 2016].

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sollten davon trinken.6 Der christliche Gott war in Misskredit geraten, und Vernunft und Natur traten an dessen Stelle.

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Die Prominenz der Natur

Zunehmend rückten die Phänomene der Natur in den Mittelpunkt der Betrachtungen, und die mathematischen Naturwissenschaften begannen, sich zu entfalten. Die erste Aufregung löste bereits Kopernikus (1473–1543) mit seiner These vom heliozentrischen Weltbild aus, ihm folgten Johannes Kepler (1571– 1630) und sein Zeitgenosse Galileo Galilei (1564–1642) mit ersten Berechnungen. Die Reformatoren wiesen die Theorie des Kopernikus als häretisch zurück, und die römisch-katholische Kirche setzte seine Werke, auch die von Kepler und Galilei, auf den Index der verbotenen Bücher. Galilei wurde von der Inquisition zum Widerruf gezwungen und bis zum Lebensende unter Hausarrest gestellt. Ironisch schreibt der Dichter Robert Musil in seinem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«: »[…] die handgreiflichsten Erfolge des Menschengeistes [sind] schier erst entstanden, seit er [der Mensch] Gott aus dem Weg geht«.7 Genauer müsste man sagen: seit die Machtstellung der Kirchen gebrochen war. Die Naturwissenschaften machen die Natur zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, analysieren deren Gesetzmäßigkeiten und ermöglichen auf dieser Grundlage eine Fülle von Technologien. Damit brachten sie einen enormen zivilisatorischen Fortschritt. Während sich die Naturwissenschaften sukzessive von den antiken und mittelalterlichen Traditionen der Naturphilosophie und Metaphysik verabschiedeten, trat die Naturphilosophie erneut auf den Plan und gegen Gott an.

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Die göttliche Natur

Einer der radikalsten Denker in diesen Umbruchszeiten war der jüdische Philosoph Baruch de Spinoza (1632–1677). Er versuchte, beide Naturverständnisse miteinander zu verbinden, und setzte die Natur, die er göttlich nennt, auf mathematischer Grundlage an die Stelle des biblischen Gottes, wie das Schlagwort Deus sive natura zeigt: Gott = die Natur.8 In seinem Hauptwerk »Ethik« nennt er 6 Vgl. Susanne Heine: Emanzipation und Ritual. Liturgie im Streit zwischen Feier der Heilsgeschichte und Inszenierung des Subjekts, in: Paul M. Zulehner u. a. (Hg.): Zeichen des Lebens. Sakramente im Leben der Kirchen – Rituale im Leben der Menschen, Ostfildern 2000, 235–255. 7 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, aus dem Nachlaß (Gesammelte Werke 4), hg. v. Adolf Frisé, Hamburg 1978, 1092. 8 Ich konzentriere mich hier auf den ontologischen Denkhorizont Spinozas. Die Begriffe Me-

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die Natur natura naturans, d. h. eine aus sich selbst heraus schaffende Natur, die alles bewirkt, die Ursache ihrer selbst ist (causa sui) und keines Anstoßes von außen bedarf, wie etwa eines Gottes als Weltenschöpfer und -lenker. Für Spinoza ist die Natur göttlich, weil der ganzheitliche, unteilbare, ewige und unendliche Grund,9 aus dem alles hervorgeht, was da ist (natura naturata), in den unterschiedlichen Gestalten, Existenzformen und Schicksalen. Zwar spricht Spinoza häufig von »Gott«, meint aber immer die »göttliche Natur«: »In der Natur gibt es nichts Zufälliges, sondern alles ist aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur [divina natura] bestimmt, in einer bestimmten Weise zu existieren und etwas zu bewirken.«10 Die Natur ist freilich »nicht nur die bewirkende Ursache der Existenz sondern auch die ihrer Essenz«, d. h. die Ursache des Wesens der Dinge; daraus folgt, »daß aus der gegebenen göttlichen Natur sowohl die Essenz [das Wesen] wie die Existenz der Dinge erschlossen werden muß«.11 Damit weist Spinoza alles außerhalb der Natur und ihren Hervorbringungen zurück: eine jenseits der Welt angesiedelte Transzendenz sowie die Vorstellung eines persönlich gedachten Gottes, der außerhalb der Gesetze der Natur steht und das Weltgeschehen lenkt,12 einem machtvollen König vergleichbar;13 einen Gott, der straft oder belohnt,14 ohne dass dafür ein ersichtlicher Grund erkennbar ist, weil beides die Frommen und die Gottlosen in gleicher Weise treffen kann.15 Für Spinoza sind das alles menschliche Einbildungen und verfestigte Vorurteile,16 denn »Gott ist die immanente, nicht aber die übergehende Ursache aller Dinge.«17 Das Göttliche sei der Natur inhärent, und die Natur unterscheide nicht zwischen gut und schlecht,18 daher »geschieht nichts in der Natur, was ihr selbst als Fehler angerechnet werden könnte«, auch nicht Erdbeben oder Krankheiten.19

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taphysik und Ontologie beziehen sich beide auf die Naturphilosophie, weshalb es möglich ist, sie synonym zu gebrauchen; vgl. Hans-Dieter Klein: Metaphysik. Eine Einführung, Wien 2 1993, 8. Ich ziehe den Begriff Ontologie vor, denn der Begriff Metaphysik weckt das Missverständnis, es handle sich um eine Art Übernatur, um irgendein Jenseits der dem Menschen fassbaren Wirklichkeit. Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt (Sämtliche Werke Lateinisch – Deutsch 2), hg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1999, 37 (Anmerkung zu Teil I: Lehrsatz 15). Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 66 (Teil I: Lehrsatz 29). Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 57 (Teil I: Lehrsatz 25). Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 83 (Teil I: Anhang zu Lehrsatz 36). Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 105 (Teil II: Beweis zu Lehrsatz 3). Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 591 (Teil V: Anmerkung zu Lehrsatz 41), 215 (Teil II: Anmerkung zu Lehrsatz 49). Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 85 (Teil I: Anhang zu Lehrsatz 36). Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 33 (Teil I: Anmerkung zu Lehrsatz 15). Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 49 (Teil I: Lehrsatz 18: imanens, non vero transiens [48]). Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 81 (Teil I: Anhang zu Lehrsatz 36). Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 85 (Teil I: Anhang zu Lehrsatz 36), 221 (Teil III: Vorwort).

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Susanne Heine

Für den Menschen, der Teil der Natur ist und deren notwendigen Ordnungen unterliegt,20 bedeutet dies zweierlei. Einerseits wirkt in der Natur ein Streben (conatus), das alle Lebewesen gemäß ihren Anlagen zur Entfaltung bringt. Daher folgen auch die Menschen dem Trieb der Selbsterhaltung und ihren Affekten,21 was ihnen nicht zum Vorwurf gemacht werden könne.22 Andererseits hat die göttliche Natur einen Geist in ihnen hervorgebracht, »dessen größter Teil ewig ist«. Daher vermag der Mensch nicht nur, seine Triebe zu regulieren, sondern muss auch den Tod »kaum fürchten«.23 Sterben bedeutet für Spinoza, in einen anderen Zustand versetzt zu werden, von der Bewegung zur Ruhe, wie ein Mensch ja von Kindheit an innerhalb der natürlichen Ordnung andauernd andere Zustände annimmt.24 Die Ewigkeit, die das Wesen (Essenz) der göttlichen Natur und des menschlichen Geistes ausmacht, bedeutet für Spinoza freilich keine zeitlich vorgestellte Dauer. Daher dürfe nicht fälschlich auf ein Leben nach dem Tod geschlossen werden.25 Spinoza spricht von Schicksal, und es gelte, dieses unter der Leitung der Vernunft zu beherrschen, »so viel wir können«, alles andere »mit Gleichmut erwarten und ertragen«.26 Wegen seiner häretischen Ansichten wurde Spinoza aus der Synagoge ausgeschlossen, und auch den Kirchen galt er als Atheist und Ketzer.

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Ein doppelter Erfolg

Diesem Verständnis einer aus sich selbst heraus wirkenden Natur war ebenso ein Erfolg beschieden wie den Naturwissenschaften. Beide konnten sich auch miteinander verbinden. Der Physiker Albert Einstein (1879–1955) wurde gefragt, ob er an Gott glaube. Seine Antwort: »Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in gesetzlicher Harmonie des Seienden offenbart, nicht an Gott, der sich mit 20 Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 391 (Teil IV: Folgesatz zu Lehrsatz 4), 525 (Teil IV: Hauptsatz 32). 21 Spinoza nennt drei Grundaffekte: Begierde, Freude, Trauer: Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 245 (Teil III: Anmerkung zu Lehrsatz 11). 22 Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 243 (Teil III: Anmerkung zu Lehrsatz 9), 477 (Teil IV: Anmerkung zu Lehrsatz 57). Der lateinische Begriff conatus, das der Natur immanente Streben, ist der Schlüssel zum Verständnis von Spinozas Philosophie; vgl. Thomas Cook: Der Conatus: Drehund Angelpunkt der Ethik, in: Michael Hampe u. a. (Hg.): Baruch de Spinoza – Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt (Klassiker auslegen 31), Berlin 2006, 151–170. 23 Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 587 (Teil V: Beweis zu Lehrsatz 39), 449 (Teil IV: Beweis zu Lehrsatz 39), 585 (Teil V: Anmerkung zu Lehrsatz 35). 24 Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 451 (Teil IV: Anmerkung zu Lehrsatz 39). 25 Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 579 (Teil V: Anmerkung zu Lehrsatz 34), 57 (Teil I: Folgesatz 1 zu Lehrsatz 24). 26 Spinoza: Ethik (s. Anm. 9), 463 (Teil IV: Anmerkung zu Lehrsatz 47), 215 (Teil II: Anmerkung zu Lehrsatz 49).

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Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt.«27 Einstein vertrat eine »kosmische Religiosität«, die »keine Dogmen und keinen Gott kennt, der nach dem Bild des Menschen gedacht wäre«.28 Erwin Schrödinger (1887–1961), ebenfalls Physiker, der sich von Jugend an mit Spinoza befasst hatte, ließ auf seinen Grabstein auf dem Friedhof des Tiroler Bergdorfes Alpbach seinen Ausspruch von 1942 schreiben: Denn das, was ist, ist nicht, weil wir es fühlen, und ist nicht nicht, weil wir es nicht mehr fühlen. Weil es besteht, sind wir, und sind so dauernd. So ist denn alles Sein ein einzig Sein. Und dass es weiter ist, wenn einer stirbt, sagt dir, dass er nicht aufgehört zu sein.29

Viele von denen, die in die USA emigrierten, waren in Europa als Abweichler verfolgt, flohen in die Neue Welt oder machten von dem »Recht auf Emigration« Gebrauch. Neben den Gruppen, die an ihrer religiösen Überzeugung festhielten, erhoben sich auch dort die kritischen Stimmen gegen einen Gott, der für Krieg und Blutvergießen herhalten musste. Dies ließ die »göttliche Natur« prominent werden, wie bei Stanley Hall, auch für die amerikanische Philosophin Susanne K. Langer (1895–1985), die in ihrem Konzept Naturwissenschaft und die selbsttätige Natur ebenfalls miteinander zu verbinden sucht.30 In dieser Art der Naturphilosophie lassen sich Ansätze Aristotelischer Substanz-Metaphysik erkennen sowie anderer vorneuzeitlicher Naturphilosophien wie Neuplatonismus oder Hermetik. Solche Konzepte können sich auch auf die Mystik berufen oder auf asiatische Traditionen, z. B. auf Buddhismus oder Taoismus. Sie verbinden sich oftmals mit der Vorstellung einer evolutionärfinalen Transformation, wie in Holismus oder Vitalismus, und nehmen Facetten konkreter Religionen auf. Das hat auch mit dem zu tun, was heute mit dem sehr vagen Wort »Esoterik« bezeichnet wird. Daher hat sich für diese Konzepte der Begriff »Patchwork-Religiosität« eingebürgert. Jedoch zeigt sich bei genauerer Hinsicht bei allen als gemeinsame Grundlage ein ontologischer Denkhorizont, wenn auch verschiedener Provenienz und auf unterschiedlichem intellektuellen Niveau; im Unterschied zu Spinoza, für den die Natur auch die menschliche Vernunft hervorgebracht hat, messen die jüngeren Vertreter solcher Konzepte dem Bewusstsein in der Regel eine margi27 Zitiert nach: Markus Mühling: Einstein und die Religion. Das Wechselverhältnis zwischen religiös-weltanschaulichen Gehalten und naturwissenschaftlicher Theoriebildung Albert Einsteins in seiner Entwicklung (RThN 23), Göttingen 2011, 220. 28 Zitiert nach: Mühling: Einstein und Religion (s. Anm. 27), 89–90. 29 Zitiert nach Gisela Holfter (Hg.): German-Speaking Exiles in Ireland 1933–1945 (German Monitor 63), Amsterdam/New York 2006, 274. 30 Vgl. Susanne Heine: Die Erfüllung von Religion im philosophischen Denken. Susanne K. Langers ontologisches Naturverständnis, in: Petra Bahr/Cornelia Richter (Hg.): Naturalisierung des Geistes – Symbolisierung des Fühlens. Susanne K. Langer im Gespräch der Forschung, Marburg 2007, 1–33.

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Susanne Heine

nale oder auch zerstörerische Rolle bei. Der Begriff Patchwork lässt sich dann auf die einzelnen Versatzstücke beziehen, die dem ontologischen Paradigma an- und eingegliedert werden.31 Je größer die Gefahr, dass Naturwissenschaften und Technologien die Grenze zur Zerstörung der Natur überschreiten, desto aktueller wird die göttliche Natur ohne Gott, die heute in vielen Varianten lebendig ist. Auch wenn sich die Konzepte im Einzelnen unterscheiden, tauchen immer dieselben Begriffe und Vorstellungen auf, welche die Klammer bilden: die selbsttätige Natur, eine zur Entfaltung der innewohnenden Potentiale drängende Energie, die kosmische Dimension, die unerhebliche Bedeutung des Ich und des Bewusstseins, die schmerzlose Verbindung von Gut und Böse sowie von Leben und Tod im Schicksal. Hinzu kommt oftmals der Versuch, ontologische Seinsvoraussetzungen durch empirisch gewonnene Daten zu beweisen. Dadurch werden unterschiedliche Denkkategorien vermengt, woraus sich ein Zirkelschluss ergibt: Das empirisch zu Beweisende wird ontologisch vorausgesetzt, so dass empirische Befunde von vornherein ontologisch interpretiert werden.32 Damit ist die Kritik an einem handelnden persönlichen Gott verbunden, an einem Jenseits der natürlichen Welt, an formelhaften Lehren und Glaubenssätzen, an einer Theologie von Sünde und Schuld und an veräußerlichten Riten. Wo die Natur an die Stelle Gottes tritt, tritt an die Stelle einer Religion der Gottesbeziehung eine Religion des Seins, und an die Stelle des Begriffs Frömmigkeit der Begriff Spiritualität. Solche Konzepte haben, wie nun exemplarisch gezeigt werden soll, Folgen nicht nur für die Einschätzung der Theologie, sondern auch für die Leistungen des Bewusstseins, somit für die Anthropologie, insbesondere für die Ethik.

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Maria Montessori

Im Mittelpunkt der Pädagogik von Maria Montessori (1870–1952) 33 steht die »kosmische Erziehung«, die davon ausgeht, dass das Kind sich nach seinem inneren Bauplan von selbst entwickelt. Die Umgebung, das Menschenwerk, ist 31 Vgl. Susanne Heine: Die Natur als religiöses Konzept. Eine aktuelle Sinnkonstruktion als Transformation von Religion, in: Spiritual Care 1 (2014), 18–27. 32 Der empirische Beweis unterscheidet sich von einer durch Beobachtung und Erfahrung gewonnenen Plausibilität. Willi Oelmüller: Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel (Stw 263), Frankfurt a. M. 1979, VIII–IX, nennt plausibel, was »man aufgrund von hinreichend vielen Beispielen mit guten Gründen vor sich und anderen rechtfertigen kann, nicht etwas, das man […] aufgrund empirischlogischer Beweise anerkennen muß.« 33 Zum Folgenden vgl. Susanne Heine: Montessori und die Vergottung des Kindes, in: Waltraud

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für Montessori ein »zweitrangiger Faktor«, der die natürliche Entfaltung nur fördern oder behindern kann, aber das lebendige Individuum nicht zu erschaffen vermag. Entsprechend versteht sie unter Freiheit in »tieferem Sinn« die »›Befreiung‹ ihres Lebens [der Kinder] von Hindernissen«34. Denn das Kind trage die göttliche Natur in sich, bzw. das göttliche Kind trage die Kräfte zur Selbstbildung in sich. Wörtlich: »Wir dürfen nicht nur das Kind sehen, sondern Gott in ihm. Wir müssen die Gesetze der Schöpfung in ihm achten. Wir dürfen nicht denken, wir könnten das Kind machen; wenn wir das tun, verderben wir das göttliche Werk«.35 Denn das »Universum ist eine eindrucksvolle Wirklichkeit und eine Antwort auf alle Fragen«.36 Zu dieser Erkenntnis sei sie durch »Intuition« gekommen, durch eine vom Kind selbst geschenkte »Offenbarung«.37 Auf dieser Grundlage gestaltete Montessori die von ihrem Sohn Mario überlieferten »kosmischen Erzählungen«, darunter die Erzählung von »Gott, der keine Hände hat«. Aber wenn sie von Gott spricht, meint sie immer die göttliche Natur. In dieser Erzählung für 6-jährige Kinder heißt es, Gott sei nicht sichtbar. Aber, ihr werdet sehen, daß alles, was existiert, ob lebendig oder nicht, in allem einfach durch sein So-Sein dem Willen Gottes gehorcht. Gottes Geschöpfe wissen nichts von ihrem Gehorsam. Die unbelebten Dinge existieren einfach; die lebendigen leben ihr Leben. Aber jedes Mal, wenn ein kühler Wind deine Wange streift, sagt seine Stimme, wenn du sie nur verstehen könntest: »Herr, ich gehorche«.38

Das Universum folgt dem kosmischen Plan, und Gott ist die Ur-Wirkmacht, der die Materie gehorcht. Diese Wirkmacht bringt alles hervor und leitet alles zur Vollendung.39 Montessori nennt diese Macht auch die universale Intelligenz.40

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Harth-Peter (Hg.): »Kinder sind anders«. Maria Montessoris Bild vom Kinde auf dem Prüfstand (Erziehung, Schule, Gesellschaft 11), Würzburg 1996, 227–242. Maria Montessori: Die Entdeckung des Kindes (Schriften des Willmann-Instituts), hg. v. Paul Oswald/Günter Schulz-Benesch, Freiburg i. Br. u. a. 1969, 70–71. Maria Montessori: Die Stellung des Menschen in der Schöpfung, in: dies.: Gott und das Kind (Kleine Schriften Maria Montessoris 4), hg. v. Günter Schulz-Benesch, Freiburg i. Br. u. a. 1995, (67–72) 71. Maria Montessori: Menschliche Potentialität und Erziehung, in: dies.: »Kosmische Erziehung« (Kleine Schriften Maria Montessoris 1), hg. v. Paul Oswald/Günter Schulz-Benesch, Freiburg i. Br. u. a. 31988, (35–114) 41. Maria Montessori: Grundlagen meiner Pädagogik (1934), in: Paul Oswald/Günter SchulzBenesch, Grundgedanken der Montessori-Pädagogik. Quellentexte und Praxisberichte, Freiburg i. Br. u. a. 42015, (15–34) 17; vgl. Günter Schulz-Benesch, der auch von einer »Bekehrung« Montessoris spricht: Montessori (EdF 129), Darmstadt 1980, 24–25, 71, 73, 101; vgl. auch Rita Kramer: Maria Montessori. Leben und Werk einer großen Frau, Frankfurt a. M., 5 2001, 419; Martin Pranieß: Das Godly Play-Konzept. Die Rezeption der Montessori-Pädagogik durch Jerome W. Berryman (ARPäd 35), Göttingen 2008, 93, 104. Mario M. Montessori: Gott, der keine Hände hat, in: Ela Eckert/Ingeborg Waldschmidt (Hg.): Kosmische Erzählungen in der Montessori-Pädagogik (Impulse der Reformpädagogik 14), Berlin 22007, (44–49) 45. Diese Wirkmacht benennt Spinoza mit dem lateinischen Begriff conatus, Montessori mit dem

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Susanne Heine

Dem stehen die Erwachsenen als Feinde gegenüber, die aus Bewusstsein und eigenem Willen handeln, die alles materialistisch betrachten und willkürliche ethische Regeln aufstellen, ohne auf die Natur zu hören.41 Daher müsse eine Wandlung geschehen, um den Bereich »des Bekannten, Willentlichen und Bewußten« zu überschreiten, in das Wirkungsfeld des Unbewussten zu gelangen und der Ur-Wirkmacht inne zu werden.42 Gut und Böse werden nicht durch eine äußere Autorität mit ihren ethischen Regeln bestimmt, sondern die Unterscheidungskraft entwickle sich im Kind von selbst, wenn es die Chance hat, im Einklang mit der Natur zu leben. Für Montessori handelt nicht Gott autonom, sondern die Natur. Deshalb mache es keinen Sinn, einen persönlich vorgestellten Gott, »der neben einer autonomen Welt steht und machtlos ist«, um Heilung zu bitten und dann darüber enttäuscht zu sein, dass der Bitte nicht entsprochen wird.43 Als Prophetin, als Johannes der Täufer, will Montessori dem messianischen Kind den Weg bereiten.44

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Carl Gustav Jung

In der Psychologie war es Carl Gustav Jung (1875–1961), der menschliches Handeln dem eigendynamischen Gang der Natur unterordnete.45 Für ihn ist die menschliche Psyche »vollständiger […] als das Bewußtsein«; er nennt es das kollektive Unbewusste, das jenseits des Menschlich-Persönlichen liege.46 Dieses Unbewusste enthalte oft ein Wissen, welches das Bewusstsein »nicht hervorzubringen vermöchte.«47 Das Unbewusste ruhe nun nicht, sondern sei selbständig und produktiv tätig, »eine eigene Realität, von der wir aussagen können, daß sie

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griechischen Begriff hormé: Maria Montessori: Das kreative Kind. Der absorbierende Geist (Schriften des Willmann-Instituts), hg. v. Paul Oswald/Günter Schulz-Benesch, Freiburg i. Br. u. a. 41978, 77. Peter Gebhardt-Seele: Maria Montessoris postmoderne Metapher vom Gott, der keine Hände hat, in: Ela Eckert/Ingeborg Waldschmidt (Hg.): Kosmische Erzählungen in der MontessoriPädagogik (Impulse der Reformpädagogik 14), Berlin 22007, (50–63) 52. Maria Montessori: Kinder sind anders, München 101995, 201, 193 u. ö. Montessori: Kinder sind anders (s. Anm. 41), 22. Gebhardt-Seele: Maria Montessoris postmoderne Metapher (s. Anm. 40), 62. Montessori: Kinder sind anders (s. Anm. 41), 157 u. ö. Zum Folgenden vgl. Susanne Heine: Grundlagen der Religionspsychologie. Modelle und Methoden (UTB 2528), Göttingen 2005; dies.: Natur statt Vernunft. Neuzeitliche ontologische Denkformen als Kultur- und Religionskritik, in: Franz Gruber u. a. (Hg.): Verstehen und Verdacht. Hermeneutische und kritische Theologie im Gespräch, Ostfildern 2015, 351–366. Carl Gustav Jung: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten (1928) (C. G. Jung-Taschenbuchausgabe), hg. v. Lorenz Jung, München 31991, 119. Carl Gustav Jung: Psychologie und Religion (1940), in: ders.: Psychologie und Religion (C. G. Jung-Taschenbuchausgabe), hg. v. Lorenz Jung, München 21991 , (7–111) 45.

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auf uns wirke«.48 Für Jung ist das Unbewusste ein »reiner Naturvorgang einerseits ohne Absicht, aber andererseits mit jenem potentiellen Gerichtetsein, das für jeden energetischen Vorgang schlechthin charakteristisch ist«.49 Jung nennt das eine »unbewußte Selbstregulierung« der Gesamtpsyche.50 Dazu darf allerdings nichts von außen störend dazwischenkommen. Für Menschen, die noch an Götter glauben, wäre es »ein törichtes und sinnloses Unterfangen, ein Unbewußtes erleben oder erforschen zu wollen, das nichts enthält als das stille, ungestörte Walten der Natur«.51 In die übergeordnete Größe des Unbewussten ist nach Jung das Ich-Bewusstsein eingebettet und bildet mit diesem zusammen ein Ganzes, das »Selbst« mit seiner »kosmischen Bedeutung« im Unterschied zum »Ich«.52 Den Ausdruck »Selbst« hat Jung, wie er selbst sagt, »übernommen in Übereinstimmung mit der östlichen Philosophie, welche sich seit Jahrhunderten mit denjenigen Problemen beschäftigt hat, die sich dann ergeben, wenn sogar die Menschwerdung der Götter überschritten ist«.53 Daher komme es darauf an, dass das Ich sich nicht verselbstständigt und versucht, das Selbst zu beherrschen. Vielmehr soll das Ich um das Selbst rotieren »wie die Erde um die Sonne«.54 Auch Jung beklagt die gängige Dominanz des Bewusstseins und verlangt, mit »der gefährlichen Autonomie des Unbewußten« zu rechnen.55 Gerade dann, wenn das Ich in einen ausweglosen Konflikt verstrickt ist, solle man dem Selbst die Führung überlassen.56 Diese Führung übernehmen die Archetypen, denn das Unbewusste verfüge über eine archetypische Struktur, die Jung »von jeder bewußten Absicht unbeeinflußte Naturprodukte« nennt.57 Diese autonom handelnden Archetypen58 würden sich in der Gestalt von archetypischen Bildern zeigen, meist in Träumen, die bestimmte Botschaften an das Ich schicken, vor allem dann, wenn das Ich sich anmaßend über das Unbewusste erhebt.59 In einem solchen Fall ergreife der 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

Jung: Die Beziehungen (s. Anm. 46), 70. Jung: Die Beziehungen (s. Anm. 46), 116. Jung: Die Beziehungen (s. Anm. 46), 63. Carl Gustav Jung: Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten (1934), in: ders.: Archetypen (C. G. Jung-Taschenbuchausgabe), hg. v. Lorenz Jung, München 41993, (7–43) 26. Jung: Die Beziehungen (s. Anm. 46), 63; Carl Gustav Jung: Zur Psychologie des Kinderarchetypus (1940), in: ders.: Archetypen (C. G. Jung-Taschenbuchausgabe), hg. v. Lorenz Jung, München 41993, (107–136) 127. Jung: Psychologie und Religion (s. Anm. 47), 86. Jung: Die Beziehungen (s. Anm. 46), 124. Jung: Psychologie und Religion (s. Anm. 47), 88. Jung: Die Beziehungen (s. Anm. 46), 100. Carl Gustav Jung: Der Begriff des kollektiven Unbewussten (1936), in: ders.: Archetypen (C. G. Jung-Taschenbuchausgabe), hg. v. Lorenz Jung, München 41993, (45–56) 51. Jung: Über die Archetypen (s. Anm. 51), 43; Jung: Psychologie und Religion (s. Anm. 47), 63. Jung: Die Beziehungen (s. Anm. 46), 100.

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Susanne Heine

Archetypus »die Psyche mit einer Art Urgewalt und nötigt zur Überschreitung des menschlichen Bereichs. Er veranlaßt Übertreibung, Aufgeblasenheit, […] und Ergriffenheit im Guten wie im Bösen.«60 Nach Jung nennen das naive Menschen Dämonen, Gott oder Götter. Nun bringt das Leben nicht nur Gutes mit sich, sondern auch Böses und Übles. Aber für Jung enthält die Natur beides, und beides werde durch Aktivitäten des kollektiven Unbewussten autonom geregelt, denn die Natur selbst sei auf ein Gleichgewicht bedacht. »Gut« ist daher dieses Gleichgewicht selbst.61 Die Antwort auf ethische Fragen müsse sich der Mensch daher vom Unbewussten geben lassen, das selbst »denkt und Lösungen vorbereitet«.62 Die Moral sei nämlich »eine Funktion der menschlichen Seele«. Sie wird »nicht von außen aufgenötigt« wie ein Gesetz, sondern ist »ein instinktives Regulativ des Handelns«.63 »Schuld« bedeutet für Jung die Abspaltung des Bewusstseins vom natürlichen Urgrund des Unbewussten: »Man will gut sein und muss darum das Böse verdrängen; damit nimmt auch das Paradies der Kollektivpsyche ein Ende.«64 Jung spricht häufig von Schicksalsmacht, da sich die seelische Aktivität gerade dadurch auszeichne, dass sie den »vorsätzlich geplanten Weg gewaltsam und rücksichtslos durchkreuzt« und den »Lebenslauf auf Gedeih und Verderb« in eine andere Richtung drängt.65 Aus dem Gefühl heraus, in ein größeres Ganzes eingebettet zu sein, entsteht für Jung dennoch das Vertrauen, dass das Unbewusste aus Sackgassen herausführt oder etwas mit Notwendigkeit zerstört, auch wenn es das Leben ist. Der Grausamkeit der Natur, ihrer Gewalt und ihrer destruktiven Kraft werde der Schrecken genommen, wenn man nicht mehr dagegen ankämpfen muss. Denn bei aller scheinbaren Unordnung walte in der Natur eine »geheime Ordnung«66, die auch den Menschen umfasst: »Der Platz der Gottheit scheint durch die Ganzheit des Menschen eingenommen zu werden«.67 Religion hat also für Jung mit einem handelnden Gott ebenso wenig zu tun wie mit Moral und Ethik. 60 Carl Gustav Jung: Über die Psychologie des Unbewußten (1943), in: ders.: Zwei Schriften über analytische Psychologie (Gesammelte Werke 7), hg. v. Marianne Niehaus-Jung u. a., Olten 1964, (1–130) 77–78. 61 Jung: Die Beziehungen (s. Anm. 46), 46. 62 Jung: Über die Archetypen (s. Anm. 51), 36. 63 Jung: Psychologie des Unbewußten (s. Anm. 60), 28. 64 Jung: Die Beziehungen (s. Anm. 46), 33. 65 Carl Gustav Jung: Brief an Mr. Leonhard vom 5. 12. 1959, in: ders.: Briefe 3. 1956–1961, hg. v. Aniela Jaffé, Olten 1972/73, (276–277) 276. Jung nennt Gut und Böse »principia unseres ethischen Urteils, aber auf die letzte ontische Wurzel zurückgeführt«, somit Prinzipen, die »sich unseres Urteils bemächtigt haben«: Carl Gustav Jung: Gut und Böse in der analytischen Psychologie (1959), in: ders.: Zivilisation im Übergang (Gesammelte Werke 10), hg. v. Lilly Jung-Merker/Elisabeth Rüf, Olten/Freiburg i. Br. 1974, (497–510) 500, 509. 66 Jung: Über die Archetypen (s. Anm. 51), 34. 67 Jung: Psychologie und Religion (s. Anm. 47), 84–85.

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Abraham Maslow und Carl Rogers

Ein weiteres Beispiel ist Abraham Maslow (1908–1970), der Begründer der transpersonalen Psychologie.68 Er vertritt eine »naturalistische Theorie über den Ursprung der Religion« (S. 122). Denn ohne »das Transzendente und Transpersonale« würden die Menschen krank werden, nihilistisch oder apathisch, und deshalb brauchen sie ein »Religionssurrogat«, »etwas ›Größeres, als wir es selbst sind‹, um Ehrfurcht davor zu empfinden« und sich in einer »nichtkirchlichen Weise zu engagieren« (S. 12). Dieses Religionssurrogat ist auch für Maslow die dynamisch wirkende transpersonale Natur, die aus sich heraus jedes Lebewesen zur Entfaltung bringt, indem sie alle dem Menschen innewohnenden Möglichkeiten realisiert. Das bedeutet für ihn, »voll menschlich zu werden, alles, was der Mensch werden kann« (S. 157): »Ein guter Mensch (oder ein Tiger oder ein Apfelbaum) ist gut in dem Ausmaß, in dem er den Begriff ›menschliches Wesen‹ (oder Tiger oder Apfelbaum) erfüllt« (S. 172). Maslow nennt sein Konzept ausdrücklich eine »Ontopsychologie« (S. 33), die auf der Basis eines »naturalistischen Wertesystems« steht (S. 204), und verbindet dies mit messianischen Visionen einer neuen Welt (S. 189). Da die Natur nicht zwischen Gut und Böse unterscheide, geht für Maslow die innere Natur des Menschen »dem ›Guten und Bösen‹ voran« (S. 193). Wer sich voll entfalten konnte, wisse, was richtig oder falsch, gut oder schlecht ist, und deshalb funktioniere er »reibungslos« (S. 77). Das ist gegen eine »Theologie der Sünde und des Bösen« gerichtet (S. 62). Auf die Frage, woran man das Wirken jener »inneren Natur« erkennen könne, antwortet Maslow: an »der freien, unbehinderten, unkontrollierten, vertrauensvollen Ausdrucksfähigkeit des Selbst, d. h. der psychischen Kräfte, bei minimaler Interferenz des Bewusstseins« (S. 197). Daher behindern auch für Maslow Einflüsse »der äußeren Umwelt« mit »ihren Wünschen und Zwängen« den Selbstentfaltungsprozess (S. 49). So komme es darauf an, Hemmungen und Zwänge abzubauen, damit ein Mensch er selbst sein kann. Reale Schuld ist nach Maslow die Folge dessen, »daß man weder sich selbst noch seinem eigenen Schicksal und seiner eigenen inneren Natur treu ist« (S. 129). Für einen voll entfalteten Menschen werde freilich auch ein Erdbeben, obwohl es vieles zerstört, einfach akzeptiert wie der Wechsel der Jahreszeiten: Ein Erdbeben, das tötet, stellt ein Problem der Versöhnung nur für den Menschen dar, der einen persönlichen Gott braucht, der […] die Welt erschaffen hat. Für die Men68 Abraham Maslow: Psychologie des Seins. Ein Entwurf (Fischer-Taschenbücher 42195. Geist und Psyche), Frankfurt a. M. 1994; die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese programmatische Publikation.

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Susanne Heine

schen, die sie natürlich, unpersönlich und als nicht erschaffen akzeptieren […] können, bietet ein Erdbeben kein […] Problem. (S. 197)

Für ihn ist es »im Prinzip möglich, die Schönheit der Überschwemmung oder des Tigers in dem Augenblick zu bewundern, bevor sie töten; […] je reifer ein Mensch ist, desto möglicher wird es« (S. 104). So hat sich für Maslow die Frage nach der Güte und Gerechtigkeit Gottes erledigt. Auch für Carl Rogers (1902–1987) ist in jedem Organismus »eine Grundtendenz zur konstruktiven Erfüllung der ihm innewohnenden Möglichkeiten« am Werk. Ähnlich wie Maslow sagt er: Ob wir von einer Blume oder einem Eichenbaum, einem Regenwurm oder einem schönen Vogel, einem Affen oder einem Menschen sprechen – wir tun meines Erachtens gut daran, uns vor Augen zu halten, dass das Leben nicht ein passiver, sondern ein aktiver Prozess ist.69

Damit ein Mensch sich voll entfalten kann, brauche es ein förderliches Klima ohne äußere Kontrolle.70 Jeder Organismus dränge zur Entfaltung des Selbst. Dieser Lebenstrieb lasse sich an Kartoffeln im dunklen Keller erkennen, die sich dem Lichtschein des Fensters entgegenstrecken und blasse Triebe entwickeln.71 Das Leben gebe nicht so leicht auf. Rogers hält die Selbstverwirklichungstendenz für eine durch Gesprächsprotokolle auf Tonband empirisch »überprüfte Hypothese«72. Er selbst versteht sich als einen voll entfalteten Organismus: »Ich stelle fest, dass von allem, was ich tue, eine heilende Wirkung auszugehen scheint, wenn ich meinem inneren, intuitiven Selbst am nächsten bin«.73 Visionär sagt er den Zerfall einer Kultur voraus, die »in wachsendem Maß auf der Eroberung der Natur« beruht, und erst aus den Trümmern werde »der neue Mensch« entstehen.74 Der Weg dorthin führe über Erziehungsreformen und eine neue Art der Seelsorge.

Carl R. Rogers: Der neue Mensch (Konzepte der Humanwissenschaften), Stuttgart 31987, 69. Rogers: Der neue Mensch (s. Anm. 69), 71. Rogers: Der neue Mensch (s. Anm. 69), 66–67. Carl R. Rogers: Rückblick. Sechundvierzig Jahre, in: ders./Rachel L. Rosenberg (Hg.): Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit (Konzepte der Humanwissenschaften), Stuttgart 1980, (35–52) 35, 37. 73 Rogers: Der neue Mensch (s. Anm. 69), 80. 74 Rogers: Rückblick (s. Anm. 72), 44. 69 70 71 72

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Elisabeth Kübler-Ross

Für die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross (1926–2004) meint es die Natur gut mit uns, und wer in Harmonie mit der Natur lebt, habe keine Angst vor dem Tod. Denn diese sei eine künstliche Angst, hervorgerufen durch die materialistische Wissenschaft, die mit ihren medizinischen Technologien den Glauben an einen Fortschritt in der Bekämpfung von Krankheit und Tod genährt und jede Spiritualität vernichtet habe (vgl. S. 44).75 Sie nennt den physischen Körper einen Wintermantel, den man zu Beginn des Frühlings weghängt (S. 34), oder einen Kokon, aus dem im Moment des Todes das unsterbliche Selbst wie ein Schmetterling schlüpft: »Sobald der Kokon, sei es durch Selbstmord, Mord, Herzschlag […] irreparabel beschädigt ist, wird er den Schmetterling, also Ihre Seele, freigeben« (S. 10).76 Fälle von Nahtoderlebnissen, von denen sie abertausend gesammelt hat, dienen ihr als empirischer Beweis dafür, dass es keinen Tod gibt. Sie selbst beruft sich auf Erfahrungen, in denen sie sich eins fühlte mit dem Universum. Anlässlich eines Symposions über Transpersonale Psychologie in Berkeley habe sie gelernt, dass es sich dabei um eine Urlichtquelle handle (S. 88–89), um eine spirituelle Energie (S. 78), ein Netzwerk von Energiestrukturen, aus dem wir kommen und zu dem wir zurückkehren (S. 79–80). Manchmal spricht sie auch von kosmischem Bewusstsein (S. 77), einem unsterblichen, allwissenden Selbst (S. 79) oder vom göttlichen Funken in uns (S. 48). Das Erdenleben ist für Kübler-Ross eine Schule inneren Wachstums, die vielen Prüfungen aussetzt, so dass ein Mensch die für ihn vorgesehenen Lektionen lernen und im kosmischen Bewusstsein bleiben kann, um nicht wieder zurückkommen und noch einmal von vorne anfangen zu müssen (S. 18, 28, 83). Zuletzt richte nicht ein Gott über uns, sondern tauchen wir in ein umfassendes Wissen ein, das die versäumten Chancen zum Wachsen erkennen lässt. Der Tod ist für sie ein Durchgang in einen Zustand größter bedingungsloser ewiger Liebe (S. 24– 25). Zuweilen nennt sie diese Liebe Gott, will das aber nicht mit Religion gleichgesetzt wissen, da es nicht um einen Glauben an etwas gehe, auch nicht um Auferstehung im christlichen Sinne, sondern um ein inneres Gewahrwerden aus 75 Franz Alt: »Der Tod ist ein wunderschönes Erlebnis«. Ein Fernsehteam zu Besuch bei der schwer erkrankten Todesforscherin Elisabeth, ohne Jahr, verfügbar unter: www.rpivirtuell.net (Der Tod ist ein wunderschönes Erlebnis – RPI-Virtuell) [16. 06. 2016]. 76 Elisabeth Kübler-Ross: Über den Tod und das Leben danach, Neuwied 161994. Diese »metaphysische« Wende in ihrem Leben, die sie für empirisch bewiesen hielt, schildert Kübler-Ross wiederholt in allen ihren Büchern, so dass ich mich hier auf das genannte Buch beschränke, auf das sich die Seitenzahlen in Klammern beziehen. Dass Kübler-Ross mit ihren »Interviews mit Sterbenden« (Elisabeth Kübler-Ross: Interviews mit Sterbenden, Stuttgart 1969) das Tabu des Todes gebrochen und den Sterbenden eine Stimme gegeben hat, ist ein Verdienst, das darüber freilich nicht vergessen werden sollte.

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sich selbst heraus. Menschen, die an Aids sterben, sieht sie als notwendige Opfer in einem evolutionären Prozess der Menschheit zu einer nächst höheren Stufe: »Es wird die Zeit kommen, da die Spreu vom Weizen geschieden wird, bevor große Veränderungen sich auf diesem Planeten vollziehen«.77

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Manfred Josuttis

In seinem Buch »Segenskräfte« mit dem Untertitel »Potentiale einer energetischen Seelsorge«78 geht auch der Praktische Theologe Manfred Josuttis (geb. 1936, em. 2001) vom Wirken ungeschaffener, daher göttlicher Mächte und Energien aus (S. 66, 113 u. ö.), die das Universum erfüllen und die Menschen überwältigen; wenn er die christliche Wendung »heiliger Geist« benutzt, meint er immer jene Energien. Die Menschen seien ein Machtfeld, »in dem energetische Potenzen miteinander und gegeneinander operieren« (S. 28, 52, 47–48, 60).79 Er spricht von der »Macht des Heiligen« als einer dem Menschen überlegenen machtvollen Realität, die schädigende Mächte vertreiben und Menschen mit Vitalkraft versehen könne (S. 39, 48, 141). Josuttis will mit seinem Konzept das Menschliche transzendieren (S. 29) und auch erstarrte orthodoxe Glaubenssätze überschreiten. Er verabschiedet die Illusion eines mündigen Menschen und richtet sich gegen die »Einseitigkeit des Rationalismus«, denn der Mensch sei »mehr als Bewußtsein« (S. 44, 108, 89, 10 u. ö.). Für ihn begegnen im seelsorgerlichen Gespräch daher einander keine autonomen Subjekte, sondern Objekte einer Macht (S. 113), »Machtfelder in personaler Gestalt« (S. 162). Der Leib der Seelsorger/innen »muß zum Kanal einer Lebenskraft werden, die durch ihn hindurchströmt« (S. 108, 112). Auch Josuttis bringt sein Konzept mit dem Begriff »Spiritualität« in Zusammenhang (S. 110, 113). Die kirchlichen Riten, wozu für ihn Segenshandlungen, Gebet oder Lesungen gehören, seien durch die Theologie und deren »Tendenzen zur Rationalisierung« in ihrer Wirkkraft reduziert worden (S. 148). Daher gelte es, den Riten durch eine transkognitive und transpersonale Seelsorge ihre Macht wiederzugeben. Das Evangelium ist für ihn keine kognitive Botschaft oder Lehre, sondern eine ungeschaffene Energie, für ihn die einzig mögliche Alternative (S. 40–41, 65). Die Trinität teilt er auf in einen unzugänglichen Gott »in seinem ewigen Sein« und in 77 Elisabeth Kübler-Ross: AIDS – Herausforderung zur Menschlichkeit, Stuttgart 1988, 286. 78 Manfred Josuttis: Segenskräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge, Gütersloh 2000; die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Publikation. 79 Josuttis nimmt Anleihen bei Hermann Schmitz und seiner Theorie von den überindividuellen, räumlich existierenden Machtfeldern, die den Einzelnen ergreifen, aber auch bei der Theorie der morphogenetischen Felder von Rupert Sheldrake, auf den sich die New-AgeBewegung als ihren Theoretiker berief; vgl. Heine: Natur statt Vernunft (s. Anm. 45).

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dessen ungeschaffene Energien von Liebe, Gnade und Frieden, durch welche die Macht des Heiligen zugänglich werde (S. 60). Einen empirischen Beweis sieht Josuttis durch Beobachtungen im Rahmen ethnologischer Forschungen erbracht, was er Phänomenologie nennt, daher: »Die Erfahrung des Heiligen ist eine Machterfahrung. Aber auch die Umkehrung ist möglich: Jede Machterfahrung ist eine Erfahrung des Heiligen« (S. 49). C. G. Jung liegt nicht ganz fern, auch wenn es bei ihm um eine innere Macht geht und keine äußere wie bei Josuttis: »Diejenige psychologische Tatsache, welche die größte Macht in einem Menschen besitzt, wirkt als ›Gott‹, weil es immer der überwältigende psychische Faktor ist, der Gott genannt wird.«80

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Schlechte Erfahrungen

In einer empirischen Untersuchung von 1997 hat der Praktische Theologe KlausPeter Jörns81 zu seiner Überraschung einen »neuen Glaubenstypus« entdeckt, für den die Natur im ganzen Kosmos, auch im Menschen selbsttätig wirksam ist (S. 83) als »kosmischer Geist« oder »übersinnliche Kräfte und Energien« (S. 214– 215). Laut Statistik ließe sich sogar von einer »neuen Konfession in der Kirche« (S. 215) sprechen. Hinter der »göttlichen Natur« stehen Erfahrungen, die viele von den oben vorgestellten Personen auch thematisieren. C. G. Jung wuchs in einem reformierten Pfarrhaus auf, mit einem Pfarrer als Vater, der ihn im Glauben unterrichtete. Er erlebte seinen Vater als einen einsamen Menschen ohne Freunde, einen Leidenden, der verzweifelt und vergeblich um seinen Glauben rang und diesen mit keinen Erfahrungen verbinden konnte. Er gab seinem Sohn entweder formelhafte und leblose theologische Antworten oder gestand ein, das alles selbst nicht zu verstehen. Dies schlug sich bei Jung in finsteren Träumen nieder und in dem Resümee: »Die Kirche war ein Ort, an den ich nicht mehr gehen durfte. Dort war für mich kein Leben, sondern Tod«.82 Maslow stammte aus einer jüdischen Einwandererfamilie und wandte sich gegen die Vorstellung, dass die menschliche Natur böse und gefährlich sei.83 Seine Religion war für ihn ein un-entfaltetes und unreifes Schielen nach einem »big Daddy«.84 Rogers wuchs in Illinois auf, in einer »engen vom Pietismus geprägten« Farmersfamilie mit biblizistischen »Werthaltungen«, die alle vitalen Kräfte er80 Jung: Psychologie und Religion (s. Anm. 47), 84. 81 Klaus-Peter Jörns: Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen wirklich glauben, München 1997; die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich alle auf diese Publikation. 82 Zitiert nach Aniela Jaffé (Hg.): Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung, Olten/ Freiburg i. Br. 122001, 61, 79–80. 83 Maslow: Psychologie (s. Anm. 68), 193. 84 David M. Wulff: Psychology of Religion. Classic and Contemporary, New York 21997, 605.

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sticken. »Ich bin nicht sicher, ob ich auch wirklich an sie glaubte«, zweifelte er rückblickend, aber er war sicher, danach gehandelt zu haben, um sich von der verdächtigen Außenwelt zurückzuziehen in ein »unbewusste[s] arrogante[s] Abseitsstehen«,85 das er erst spät überwinden sollte. Kübler-Ross hatte für den Religionsunterricht nicht viel übrig, denn wenn »Pastor R., der protestantische Dorfpfarrer, am Sonntag die Heilige Schrift auslegte, ging es vor allem um Furcht und Schuld«. So wurde die Natur zu ihrer Kirche: »Zeitlos und vertrauenswürdig war sie in all ihren Formen, schön und wohltätig im Umgang mit allen Wesen, verzeihend.«86 Menschen mit solchen Einstellungen gibt es auch heute viele. Sie müssen nicht alles selbst so erlebt haben, aber können sich damit identifizieren. Sie werfen den Kirchen vor, lebensferne Begriffsgebäude zu errichten mit sprachlichen Formeln, die außerhalb der Theologenschaft niemand versteht. Es würden Achtsamkeit für die Geschöpfe und Zutrauen zu den menschlichen Fähigkeiten, Vitalität und Begeisterung fehlen.

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Bausteine einer kritischen Analyse

Konzepte der Natur als eigenständiger Akteurin verabschieden sich nicht nur von Gott, sondern zeigen auch ein einseitiges und unrealistisches Verständnis vom Menschen. Dahinter steht freilich auch eine Antwort auf Defizite: Hermeneutisch unerschlossene und daher unverständliche theologische Formeln, die sich der Vernunft nicht erschließen, sind in der kirchlichen Praxis aller Konfessionen immer noch gegenwärtig. Sünde, Schuld und Tod bestimmen immer noch den religiösen Diskurs; jede Liturgie beginnt mit einem Schuldbekenntnis. Moralische Vorschriften belegen immer noch die angeblich verdorbene Natur des Menschen und seine Unfähigkeit, verantwortlich handeln zu können. Und die Riten werden oftmals lieblos abgespult, ohne darauf zu achten, dass Atmosphären spürbar sind. Die »Naturgläubigen« verfolgen eine Strategie der Abwehr und opponieren gegen alles, was mit Bewusstsein und Gewissen, mit menschlichem Handeln und Schuld zu tun hat, noch bevor Gott überhaupt ein Thema wird. Dies hat sich in den kirchlichen Handlungsfeldern niedergeschlagen. Besonders in der Seelsorgeausbildung, aber auch in der Homiletik oder der liturgischen Gestaltung wird

85 Carl R. Rogers: Meine Philosophie der interpersonalen Beziehungen und ihre Entstehung, in: ders./Rachel L. Rosenberg (Hg.): Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit (Konzepte der Humanwissenschaften), Stuttgart 1980, (185–198) 185. 86 Elisabeth Kübler-Ross: Das Rad des Lebens. Autobiographie, München 2002, 48–50.

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auf Konzepte der selbsttätigen Natur zurückgegriffen, was viele als Befreiung zu mehr Menschlichkeit erleben.87 Nun steht außer Frage, dass der Natur eine Kraft innewohnt, welche die in den Lebewesen angelegten Potentiale zur Entfaltung bringt, und dass diese Entfaltung durch äußere Umstände gefördert oder behindert werden kann. Die Theologie hat die Natur weitgehend den Naturwissenschaften überlassen und die Natur als Schöpfung vernachlässigt, die sich über naturphilosophische Reflexionen erschließen lässt. Damit ist sie einem Verständnis von Wissenschaft gefolgt, das sich auf den empirischen Zugang zur Wirklichkeit beschränkt und den ontologischen Denkhorizont aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen hat. In der Folge wurden auch die Naturmetaphern in der Gottesrede vernachlässigt, die sich in der biblischen Überlieferung und in der Geschichte der Theologie häufig finden, z. B. im Sonnengesang des Franz von Assisi, der auch die Beziehung zu den Tieren pflegte. Dass das Buch der Natur eine Erkenntnisquelle neben der Offenbarung darstellt, hat im Christentum durchaus Tradition, denkt man an Augustinus (354–430) 88 oder Hugo von Sankt Victor (ca. 1097–1141),89 der im Geschaffenen keine Erzeugnisse menschlicher Willkür sieht, sondern ein sichtbares Zeichen der unsichtbaren Weisheit Gottes. Auch nach Martin Luther sind alle geschaffenen Dinge von den Gestirnen bis zu jedem einzelnen Menschen »Vokabeln Gottes«90 und in ihrem Zusammenhang »Worte der göttlichen Grammatik«.91 Matthias Claudius (1740–1815) bringt ebenfalls sehr viele Metaphern aus der Natur ein, um von und zu Gott zu sprechen, z. B. im Lied »Der Mond ist aufgegangen«, oder in einem Gedicht, in dem er die Schöpfung preist: »Ich danke Gott und freue mich wie’s Kind zur Weihnachtsgabe, dass ich bin, bin! Und dass ich dich, schön menschlich Antlitz! habe.«92 Die Rede davon, dass der Mensch von Grund auf sündig sei, übersieht seine geschöpflichen Gaben und unterstellt, konsequent weitergedacht, dass Gott, im Gegensatz zur Aussage in Genesis 1, bei der Schöpfung gepfuscht und einen verdorbenen Menschen geschaffen hat. Das ganze Leben von Claudius war von Kriegen bestimmt, und dem äußeren Chaos 87 Es kommt allerdings darauf an, ob jeweils die gesamten Konzepte übernommen werden oder daraus nur einzelne methodische Zugänge. Freilich bleibt offen, ob sich ein solches eklektisches Verfahren vom Gesamtkontext so einfach abkoppeln lässt. Diesen zu kennen, kann jedenfalls helfen, nicht alles unbewusst mitzuschleppen und bewusst zu entscheiden, welche methodischen Aspekte für eine christliche Seelsorge hilfreich sein können. 88 Augustinus, De genesi ad litteram; Contra Faustum Manichaeum; Confessiones 13. 89 Hugo von Sankt Victor, De tribus diebus. 90 Vocabula Dei (Martin Luther: Genesisvorlesung [WA 42], Weimar 1911, 17,19). 91 Nomina divinae Grammaticae (Luther: Genesisvorlesung [s. Anm. 90], 37,8). 92 Matthias Claudius: Täglich zu singen, in: ders.: Sämtliche Werke, München 51984, (149–150) 149.

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setzte er Riten als eine Kultur des Lebens entgegen. Er erfindet eine Menge von neuen Festen mit genauen liturgischen Anweisungen: das Knospenfest, den Maimorgen oder den Grünzüngel im Frühjahr, den Herbstling oder den Eiszäpfel im Herbst und im Winter.93 Angesichts der vielschichtigen Säkularisierungsprozesse kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine stärkere Akzentuierung der Schöpfungstheologie die Konzepte der selbsttätigen Natur hätte verhindern können. Aber diese Konzepte legen doch den Finger auf eine Wunde. Daher sollten sie einerseits nicht in Bausch und Bogen verurteilt, andererseits aber kritisch betrachtet werden, denn die »göttliche Natur« enthält auch ein destruktives Potential durch ihre Einseitigkeit, mit der sie die vielfältigen Aspekte einer menschlichen Existenz in einem Monismus auflöst. Dazu im Folgenden einige Argumente in Thesen.

14

Abschließende Thesen

14.1

Dasein und Schmerz

Der Mensch findet sich in der Welt vor, und sein Dasein ist allem Denken und Handeln vorausgesetzt. Dieses Dasein ist freilich endlich und der Mensch jederzeit an seinem Leben bedroht. Kein Leben geht ohne Verluste und Schmerzen ab, welche die Frage aufwerfen: Macht das Leben überhaupt Sinn? Warum muss ich so leiden? So fragen viele Menschen wie Hiob. Diese Frage bleibt im Buch Hiob unbeantwortet, aber der auch heute noch gängige und erlebte Zusammenhang von Leiden und Schuld wird aufgebrochen. Anhänger der selbsttätigen Natur verleugnen Endlichkeit und Schmerz, oft auch das Mitgefühl, in ihrer existentiellen Bedeutung bei sich selbst und anderen. Der Mensch wird zum Spielball von Energien und Mächten. Dann ist ein zerstörerisches Erdbeben für Maslow nur wie ein Wechsel der Jahreszeiten, steht der Tod für Rogers im Dienste der evolutionären »Tendenz zu immer höherer Ordnung«94, und ist für Kübler-Ross nur wie das Schlüpfen aus einem Kokon.

93 Matthias Claudius: Neue Erfindung, in: ders.: Sämtliche Werke, München 51984, (220–222) 220–221. 94 Rogers: Der neue Mensch (s. Anm. 69), 75.

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14.2

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Sprache und Beziehung

Der Mensch ist ein sprachliches Wesen und findet sich in der Sprache vor. Verstummen, sprachlos werden und keine Worte mehr finden, setzt Sprachlichkeit voraus. Aufgrund der Sprache steht der Mensch in Kommunikation mit der Welt, wird angesprochen und spricht, fragt, denkt über das Gehörte nach und antwortet. Dadurch tritt er in Beziehung zu anderen Menschen und zu den Dingen, auch zu religiösen Traditionen, als Beziehungswesen, als Person, als Ich, das ein ansprechbares Du voraussetzt. »Im Anfang ist die Beziehung«, schreibt der Philosoph Martin Buber.95 »Naturgläubige« hingegen sehen den Menschen nicht als Beziehungswesen, sondern einem Feld energetischer Umtriebe eingebettet. Energien und kosmische Mächte sind jedoch von vornherein stumm, weshalb kein Mensch mit ihnen über Sinn und Bedeutsamkeit des Lebens kommunizieren kann. Der Mensch wird auch nicht als Person gesehen, was bedeutet, in kommunikativen Beziehungen zu anderen Personen zu stehen, die in ihrem jeweiligen Anderssein anerkannt werden wollen. Auch wenn das Wort Person verwendet wird, ist immer ein Individuum gemeint, ein unteilbares Einzelwesen. C. G. Jung versteht unter Person einen Menschen, der sich an die Umwelt anpasst, um nicht anzuecken, während sein Individuationsprozess darauf zielt: »zum Einzelwesen werden«96. Und Josuttis betont, dass in der Seelsorge nicht zwischenmenschliche Konflikte im Mittelpunkt stehen sollen, sondern machtvolle Energien.

14.3

Bewusstsein, Vernunft und Geist

Auch Bewusstsein und Vernunft gehören zum Menschen, sein Geist ist ein von Natur aus gegebenes Vermögen, von dem sich der Mensch nicht befreien kann. Ein anderer Psychologe, nämlich Erich Fromm, schildert das anschaulich: Bewusstsein seiner selbst, Vernunftbegabung und Vorstellungsvermögen haben jene »Harmonie« zerrissen, die für das tierische Dasein charakteristisch ist. […] Er [der Mensch] ist ein Teil der Natur […]; dennoch transzendiert er die übrige Natur. […] Er kann sich nicht von seiner Geistigkeit befreien, auch wenn er es wollte.97

Somit kann sich kein Mensch dem entziehen, sein Dasein denkend zu erhellen und sein Handeln in Freiheit, wenn auch einer begrenzten, zu gestalten. Nur unter der Voraussetzung einer gegebenen, sprachlich verfassten Vernunft lässt 95 Martin Buber: Ich und Du, Heidelberg 91977, 36. 96 Jung: Die Beziehungen (s. Anm. 46), 59. 97 Erich Fromm: Psychoanalyse und Religion (1950), in: ders.: Religion (Erich Fromm Gesamtausgabe 6), hg. v. Rainer Funk, Stuttgart 1980, (227–292) 242.

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sich von einem unvernünftigen Menschen sprechen, der seine Vernunft nicht angemessen gebraucht. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse als Bedrohung von Gott und Glauben zu sehen, ist unangemessen. Für Musil sind die großen Erfolge des Menschengeistes zustande gekommen, seit man von Gott abgesehen hat; besser sollte es heißen: weil man von Gott abgesehen hat, und zwar nur für die Zeit etwa einer physikalischen Berechnung. In den Konzepten der selbsttätigen Natur werden das menschliche Bewusstsein, die geistige Tätigkeit mit Sprache und Erkenntnisvermögen abgewertet, weil diese nur rigide dogmatische Lehren und knechtende Moralgesetze hervorbringen könnten. So wird der Mensch seiner Fähigkeit zur Reflexion, auch als Quelle eigenständiger Handlungsmotivation, beraubt und anderen Akteuren deterministisch unterworfen. Hinzu kommt eine Selbsttäuschung, denn Sollensforderungen und Ermahnungen werden zwar zurückgewiesen, aber die Texte der »Naturgläubigen« sind voll von »müssen« und »sollen«: Die Menschen müssen erkennen und akzeptieren, dass das Walten der Natur die Welt und auch sie selbst leitet. Sie sollen sich für die Mächte und Energien öffnen. Wie aber kann das möglich sein, wenn Bewusstsein und Geistigkeit kaum eine bis gar keine Rolle spielen?

14.4

Geschichte

Das Dasein des Menschen ist immer ein bestimmtes Dasein in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort mit einer bestimmten Biografie und nie davon losgelöst, also ein geschichtliches Dasein. Niemand kann sich aus der Geschichte z. B. des Christentums herausziehen, in der die Menschen das Wort »Gott« besudelt haben. Sie haben, schreibt Buber, »dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Fingerspur und ihrer aller Blut«.98 Aber es ist möglich, diese Geschichte kritisch zu bedenken und zu verstehen zu versuchen, worum es im Glauben geht. Die »Naturgläubigen« machen sich diese Mühe nicht, sondern wollen aus der Geschichte aussteigen und alles hinter sich lassen. Sie sind »Bekenner« ihres Konzepts, das ein neues Zeitalter und einen neuen Menschen verheißt, und propagieren damit einen Erlösungsweg, der alles andere ausschließt und verwirft. Wer auf solche Naturgläubige trifft, muss gewärtigen, zum Ziel missionarischer Bemühungen zu werden. Was der Religion vorgeworfen wird, ersteht hier neu unter anderen Vorzeichen.

98 Martin Buber: Begegnung. Autobiographische Fragmente. Mit einem Nachwort von Albrecht Goes, Heidelberg 41986, 68–69.

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14.5

163

Verfehlung und Schuld

Aufgrund seiner Vernunft kann sich der Mensch seinen Mitmenschen und der Gestaltung der Welt in Verantwortung zuwenden, aber ein Leben ohne Verfehlung ist nicht möglich. Denn die Vernunft ist immer als eine bestimmte, konkrete Vernunft tätig; sie ist nicht absolut, niemals nackt, sondern immer geschichtlich bekleidet.99 Das macht es möglich, etwas falsch einzuschätzen, ein Fehlurteil zu fällen oder den Emotionen aufzusitzen. Nun ist auch die Verfehlung keine abstrakte Angelegenheit, sondern immer eine bestimmte Schuld von Personen, die zugleich als Beziehungswesen mit anderen Personen und der Welt im Ganzen verbunden sind. Wer das erkennt, muss seine Fehlbarkeit nicht verleugnen durch eine Selbstgerechtigkeit, die ihn anderen Menschen gegenüber verschließt. Vergebung kann Beziehungen neu stiften und Oasen gelingenden Lebens entstehen lassen. Konzepte der selbsttätigen Natur sind hingegen ethisch indifferent. Damit fallen Fragen der Unterscheidung von richtig und falsch, Gut und Böse, unter den Tisch, Verfehlung und Schuld gibt es nicht, und Selbstentfaltung und -erhaltung werden zum egoistischen Programm, das sich gebotener Hilfe entzieht: Rogers war 80 Jahre alt, als er über seine seit fünf Jahren krebskranke Frau schrieb: »Während sie so krank war, empfand ich unser enges Zusammenleben […] als sehr belastend. Deshalb beschloss ich, um meiner Selbsterhaltung willen mein eigenes Leben zu leben. Meine Frau empfindet dies […] oft als sehr verletzend«.100 Der Unterschied von richtig und falsch fällt zwar theoretisch weg, aber die Vertreter dieses Konzepts wissen genau, wer falsch liegt: alle Erwachsenen, so Montessori, die »Kulturschulmeister« und vor allem Theologen, die nichts begreifen, so Jung,101 und die »ihre Arbeit nicht gemacht [haben], obwohl sie in den letzten zweitausend Jahren reichlich Gelegenheit dazu gehabt hätten«, so KüblerRoss.102

14.6

Begegnen, erkennen und gestalten

Für die Naturgläubigen ist es eben die selbsttätige Natur, die eine Erkenntnis als Intuition im Menschen aufsteigen lässt unter Umgehung von Bewusstsein und Geistigkeit. Alles, was mit Gott zu tun hat, wird auf bloß angelerntes Wissen im 99 Christoph Schwöbel: Gott im Gespräch. Theologische Studien zur Gegenwartsdeutung, Tübingen 2011, 31. 100 Rogers: Der neue Mensch (s. Anm. 69), 51–52; vgl. auch Jürg Willi: Koevolution. Die Kunst gemeinsamen Wachsens, Hamburg 1985, 47. 101 Jung: Psychologie des Unbewußten (s. Anm. 60), 78. 102 Kübler-Ross: Das Rad des Lebens (s. Anm. 86), 304.

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Rahmen von kirchlichen Institutionen zurückgeführt. Und die Gestaltung kirchlichen Handelns geschieht durch kosmische Energien, die durch den Leib von Menschen fließen, und diese auf einen »Kanal« reduzieren. Nun ist auch in der Theologie klar, dass Gott nicht gelernt werden kann, sondern eine Gottesbeziehung als Erkenntnis empfangen wird, freilich im Geist. Erkennen ist nicht das notwendige Ergebnis bewusster Bemühungen, aber die mögliche Folge dessen, dass einem Menschen ein Licht aufgeht. Der zündende Funke muss nicht, aber kann überspringen durch die persönliche Begegnung mit Menschen, in denen Gott in der Gewissheit des Herzens Wohnung genommen hat. Buber nennt das die gemeinsame Situation »der Bangnis und der Erwartung« von etwas,103 das von Menschen nicht hergestellt, nicht von etwas abgeleitet, aber empfangen werden kann. Wer empfangen hat, kann und wird dann auch keine lieblose Liturgie abspulen, sondern in überlegten Worten, Gesten und Bewegungen und in mit verschiedenen Formen und Farben ausgestatteten Räumen das Empfangene gestalthaft und sinnenfällig zum Ausdruck bringen. Diese Tradition bewussten poietischen Handelns geht auf Aristoteles zurück104 und sollte erinnert werden.

103 Martin Buber: Das dialogische Prinzip, Heidelberg 41979, 148–149. 104 Aristoteles, Ethica Nicomachea 4,4–5.

Marcus Hütter

»Spirituell – aber nicht religiös!« Untersuchungen zum Spiritualitätsbegriff als Modewort unserer Zeit

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Der Aufstieg eines Begriffs

»Spiritualität« ist ein Modewort unserer Zeit.1 Der Begriff wird viel diskutiert und noch mehr genutzt und benutzt. Vor nicht allzu langer Zeit war Spiritualität keineswegs ein massentaugliches Thema und wurde eher dem klösterlichen christlichen Leben zugeordnet. Dies hat sich grundlegend geändert. Der Begriff der Spiritualität erfreut sich einer nie dagewesenen Beliebtheit und hat in die verschiedensten Bereiche des Lebens Eingang gefunden. So ist von Spiritualität am Arbeitsplatz, Spiritualität in der Freizeit oder allgemein von Alltagsspiritualität die Rede. Im Wellnessbereich werden beispielsweise in Heil- und Kurbädern spirituelle Räume eingerichtet und spirituelle Programmpunkte wie spirituelle Massagen und Meditationen angeboten.2 Vermehrt werden in Städten spirituelle Stadtführungen und Stadtrundfahrten veranstaltet, manche Kinos und Restaurants stellen ganze Tage unter das Motto Spiritualität.3 Weltweit entstehen Gemeinschaften, die sich von etablierten Religionsgemeinschaften abgrenzen und neue (spirituelle) Wege suchen und beschreiten wollen.4 Nicht zuletzt zeugt die beachtliche Quantität an neuen Veröffentlichungen in der Po-

1 Dieser Artikel basiert auf den Erkenntnissen, die bereits im Rahmen der Diplomarbeit im Jahr 2014 veröffentlicht wurden, vgl. Marcus Hütter: Spirituell, aber nicht religiös! Untersuchungen zur Neubestimmung eines alten Verhältnisses (Diplomarbeit), Wien 2015. 2 Vgl. Anton A. Bucher: Psychologie der Spiritualität. Handbuch, Weinheim/Basel 2007, 22; Lucy Bregman: The Ecology of Spirituality. Meanings, Virtues, and Practices in a Post-Religious Age, Waco 2014, 103–150. 3 Vgl. Ulrike Popp-Baier: From Religion to Spirituality – Megatrend in Contemporary Society or Methodological Artefact? A Contribution to the Secularization Debate from Psychology of Religion, in: Journal of Religion in Europe (2010), (34–67) 41. 4 Vgl. bspw. die im Jahr 2013 in London gegründete Sunday Assembly. Mittlerweile haben sich weltweit über 150 weitere lokale Versammlungen gegründet (Sunday Assembly: Global Assembly List, 2016, verfügbar unter: http://www.sundayassembly.com/assemblies [04. 04. 2016]).

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Marcus Hütter

pulärliteratur bzw. in der populärwissenschaftlichen Literatur von dem Interesse und der Begeisterung für das Thema.5 Auch die Wissenschaft – namentlich vor allem die (Religions-)Psychologie und die Gesundheitswissenschaften – befasst sich mit dem Thema der Spiritualität, das hier ebenso breit wie viel diskutiert wird. Mögliche Definitionen und Konzeptionen sowie insbesondere mögliche Anwendungsgebiete der Spiritualität haben die Scientific Community die letzten zwei Jahrzehnte intensiv beschäftigt. Auch hier dokumentiert die Fülle an Publikationen zum Thema der Spiritualität in den verschiedenen Datenbanken für medizinische und (religions-) psychologische Publikationen den Aufstieg des Spiritualitätsbegriffs. War Spiritualität bis 1995 noch ein randständiges Thema, so stiegen in den folgenden Jahren die Publikationszahlen rasant an, sodass sich innerhalb der letzten zehn Jahre die Verwendung des Spiritualitätsbegriffs und des Religions- bzw. Religiositätsbegriffs zumindest angeglichen hat.6 Einschlägige Fachzeitschriften und Nachschlagewerke sind dazu übergegangen, in ihrem Titel entweder den Spiritualitätsbegriff dem Religionsbegriff beizustellen oder den Religionsbegriff durch den Spiritualitätsbegriff zu ersetzen.7 Dieser Trend der bereitwilligen und breiten Rezeption des Spiritualitätsbegriffs innerhalb der Religionspsychologie veranlasst Herman Westerink zu der (durchaus kritisch gemeinten) These, dass sich die Religionspsychologie unweigerlich im Wandel befinde – von der Religionspsychologie – hin zur Spiritualitätspsychologie.8 Denn glaubt man verschiedenen theoretisch wie empirisch arbeitenden Forschern und Forscherinnen, die den Spiritualitätsbegriff zurzeit empfehlen, so erleben wir mit dem 5 Vgl. Karl Baier/Josef Sinkovits: Einleitung, in: dies. (Hg.): Spiritualität und moderne Lebenswelt (Austria: Forschung und Wissenschaft Theologie 1), Wien/Berlin 2006, (1–4) 1; Niels C. Hvidt: Meaning Making and Health in Contemporary European Society, in: Kurt Appel u. a. (Hg.): Religion in Europa heute. Sozialwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche und hermeneutisch-religionsphilosophische Perspektiven (Religion and Transformation in Contemporary European Society 1), Göttingen 2012, (173–190) 175. 6 Vgl. u. a. Peter La Cour/Niels C. Hvidt: Research on Meaning-Making and Health in Secular Society. Secular, Spiritual and Religious Existential Orientations, in: Social Science & Medicine 71 (2010), (1292–1299) 1292–1293; Michael Utsch/Constantin Klein: Religion, Religiosität, Spiritualität. Bestimmungsversuche für komplexe Begriffe, in: Constantin Klein u. a. (Hg.): Gesundheit – Religion – Spiritualität. Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze (Gesundheitsforschung), Weinheim/München 2011, (25–45) 26. 7 Ein namhaftes Beispiel wäre etwa die Umbenennung der Abteilung 36 inklusive ihrer Publikationsorgane der berühmten American Psychological Association (APA), die nun Psychology of Religion and Spirituality heißt, vgl. Herman Westerink: Der Spiritualitätsbegriff in der Religionspsychologie und in den Gesundheitswissenschaften. Kontexte und Problemanalyse, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert (Dogmatik in der Moderne 7), Tübingen 2014, (161–174) 161 (Anm. 2). 8 Vgl. Herman Westerink: Spirituality in Psychology of Religion. A Concept in Search of Its Meaning, in: APR 34 (2012), (3–15) 3–4.

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derzeitigen Aufstieg des Spiritualitätsbegriffs den zeitgleichen Abstieg des Religions- bzw. des Religiositätsbegriffs als Leitbegriff der religionspsychologischen Forschung. Dabei wird argumentiert, dass Spiritualität der adäquate Begriff sei, um die Religiosität des modernen, säkularen Menschen im 21. Jahrhundert in einem Begriff zu erfassen. Spiritualität – so der Argumentationsgang – sei der ideale Begriff, um das »Religiöse nach der Religion«9 begreifen zu können. Betreffend seiner Konzeption und Funktion verbinden sich mit dem Spiritualitätsbegriff eine Fülle von unterschiedlichen Hoffnungen und Bedürfnissen, wodurch der Begriff als umbrella term bzw. als Containerbegriff bezeichnet werden kann. Bei aller Euphorie ist jedoch ausgesprochen unklar, was Spiritualität eigentlich ist. Nach einer einheitlichen Definition sucht man vergebens, und so wird unter Spiritualität in den unterschiedlichen Beiträgen oft das verhandelt, was der Autor bzw. die Autorin unter diesem Begriff versteht und verstehen will. Spiritualität kann daher alles sein und dadurch auch nichts. Äußerst treffend kommentiert Ulrich Köpf, dass der Begriff (auch im Protestantismus) inzwischen ein Modewort geworden ist, das umso hemmungsloser gebraucht wird, je weniger der Sinn des Gebrauches reflektiert wird.10 Das fast ebenso breit wie der Begriff selbst rezipierte Diktum Bernard Spilkas aus dem Jahr 1993 – das Konzept der Spiritualität sei insgesamt als »fuzzy«, als vieldeutig oder unscharf zu bezeichnen11 – trifft auch heute noch zu. Interessanterweise – und dies wird sich für die gesamte Diskussion als bezeichnend herausstellen – ist eine derartige Resonanz und v. a. Relevanz des Spiritualitätsbegriffs in Wissenschaftsdisziplinen wie der Religionswissenschaft und der Theologie, die fachlicher- und traditionellerweise vermeintlich prädestiniert wären für eine intensive fachliche Auseinandersetzung über eben diesen Begriff, nicht festzustellen.12

9 Westerink: Spirituality (s. Anm. 8), 4. 10 Vgl. Ulrich Köpf: Art. Spiritualität, I. Zum Begriff, in: RGG4 7, Tübingen, 2004, (1589–1591) 1590. 11 Bernard Spilka: Spirituality. Problems and Directions in Operationalizing a Fuzzy Concept, Paper Presented at the Annual Conference of the American Psychological Association, Toronto 1993. 12 Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 36–40. Dass der Begriff von der Religionswissenschaft noch mit Zurückhaltung behandelt wird, zeigt sich z. B. daran, dass dieser im fünfbändigen Nachschlagwerk »Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe« nicht aufscheint, vgl. Hubert Cancik u. a. (Hg.): HRWG 5, Stuttgart u. a. 2001. Das stark gegenwartsbezogene »Metzler-Lexikon Religion« bietet lediglich einen einseitigen Artikel, vgl. Christoph Bochinger: Art. Spiritualität, in: MLexR 3, Stuttgart/Weimar 2000, 360. Vgl. hierzu auch Köpf: Spiritualität (s. Anm. 10), 1589–1591.

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2

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Studien und Erhebungen

Der Aufstieg des Spiritualitätsbegriffs hat auch dazu geführt, dass in den letzten Jahren verschiedene Studien bzw. sozialwissenschaftliche Erhebungen durchgeführt worden sind, um ein Bild der gesamtgesellschaftlichen Verbreitung der beiden Begriffe der Spiritualität und der Religion/Religiosität zu gewinnen. Die Ergebnisse dieser Studien bzw. Erhebungen sind für viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wiederum Beleg für die Dringlichkeit der Spiritualitätsforschung. Die Erhebungen bzw. Studien sind dabei meist so angelegt, dass sie zu erheben versuchen, ob sich die untersuchten Personen als (eher bzw. ausschließlich) religiös, (eher bzw. ausschließlich) spirituell, beides oder weder noch verstehen. Repräsentative Zahlen zu präsentieren ist dabei nicht einfach. Die Umfragen und Untersuchungen unterscheiden sich in ihrem Design und sind oft kontextuell abhängig. Die Zahlen, die Michael Utsch und Constantin Klein in ihrem Buch darlegen, sind wohl am besten geeignet, um ein Bild von der Verbreitung des Spiritualitätsbegriffs unter der Bevölkerung zu gewinnen. Zum einen basieren ihre Berechnungen auf verschiedenen großangelegten repräsentativen Umfragen. Zum anderen bieten ihre Zahlen einen Überblick über die Situation in den USA wie auch in Deutschland, wo die wissenschaftliche Diskussion um die Begriffe besonders intensiv geführt wird.13 Quelle BRD Religionsmonitor 2008 ISSP 2008/ ALLBUS* USA GSS 2006**

Exklusiv/eher religiös 29,0 %

Exklusiv/eher spirituell 9,7 %

Gleich religiös/ spirituell 17,5 %

Weder noch 43,8 %

30,9 %

11,5 %

9,8 %

47,8 %

12,2 %

27,8 %

54,3 %

5,7 %

Religionsmonitor 11,4 % 31,3 % 45,5 % 11,8 % 2008 ISSP 2008/GSS 23,4 % 24,0 % 40,7 % 11,9 % 2008 * International Social Survey Programme (ISSP)/Die allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) ** General Social Survey (GSS)

Augenscheinlich ist die Divergenz der erhobenen Zahlen, sodass sich die Situation in den USA geradezu umgekehrt verhält als in Deutschland. In Bezug auf die Spiritualität ist erkenntlich, dass sich in Deutschland zwischen 9,7 % und 11,5 %

13 Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 29–30.

»Spirituell – aber nicht religiös!«

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als ausschließlich spirituell verstehen, während es in den USA immerhin zwischen 24 % und 31,3 % sind.14 Befürworter des Spiritualitätsbegriffs erkennen in den Zahlen eine Tendenz und sind der Überzeugung, dass diese Zahlen in den kommenden Jahren weiter ansteigen werden. Die Ergebnisse der verschiedenen Studien tragen so dazu bei, dass verschiedene Forscher und Forscherinnen eine »spirituelle Wende« (engl. »spiritual turn«15) zu erkennen meinen, dass derzeit eine »spirituelle Revolution«16 im Gange sei, die die Religion ablöse, oder dass die Anzahl jener, die sich bereits jetzt als eher/exklusiv spirituell definieren, als »the wave of the future«17 zu bezeichnen seien. Kritische Autoren und Autorinnen halten dem entgegen, dass die Zahlen für derlei Thesen keinerlei Grundlage oder gar Beweis böten und dass hier eher eine Minorität zur Majorität stilisiert werde.18 Was jedoch eindeutig und augenscheinlich ist, ist dass die verschiedenen Erhebungen Spiritualität und Religiosität unterscheiden. Dies mag zunächst banal klingen, jedoch beinhaltet dieses Vorgehen bereits eine weitreichende Prämisse. Nach Auffassung der Autoren und Autorinnen der Studien bzw. Erhebungen ist Spiritualität demnach ein anderes bzw. verschiedenartiges Konzept als jenes der Religion/Religiosität, sodass eine Befragung nach der selbsteingeschätzten Zuordnung der Befragten geboten sei.19 Vor allem die Religionspsychologie stellt sich indes die Aufgabe, den Spiritualitätsbegriff zu definieren und zu konzeptualisieren und dabei auch zu einer 14 Gerade bei der Frage, wie hoch der Anteil jener Menschen in den Vereinigten Staaten ist, lassen sich die größten Divergenzen erkennen. So geht Bregman – ohne ihre Quelle zu nennen – von 14 % aus, Brian J. Zinnbauer u. a. gehen in ihrer Studie aus dem Jahre 1997 von 19 % aus (bei beachtlichen 74 % der Selbstcharakterisierung als spirituell und religiös), Patrick Corrigan u. a. kommen in ihrer Studie aus dem Jahre 2003 auf 22 % (bei ebenfalls beachtlichen 63 % der Selbstcharakterisierung als spirituell und religiös), vgl. Bregman: Ecology (s. Anm. 2), 6; Brian J. Zinnbauer u. a.: Religion and Spirituality. Unfuzzying the Fuzzy, in: JSSR 36 (1997), (549–564) 561; Patrick Corrigan u. a.: Religion and Spirituality in the Lives of People with Serious Mental Illness, in: Community Mental Health Journal 39 (2003), (487– 499) 496–497. 15 Dick Houtman/Stef Aupers: The Spiritual Turn and the Decline of Tradition. The Spread of Post Christian Spirituality in 14 Western Countries, 1981–2000, in: JSSR 46 (2007), 305–320. 16 Paul Heelas/Linda Woodhead: The Spiritual Revolution. Why Religion is Giving Way to Spirituality (Religion and Spirituality in the Modern World), Oxford 2005. 17 Bregman: Ecology (s. Anm. 2), 6. 18 Vgl. Bregman: Ecology (s. Anm. 2), 6; Pär Salander: The Emperor’s New Clothes: Spirituality. A Concept Based on Questionable Ontology and Circular Findings, in: Archive for the Psychology of Religion 34 (2012), (17–32) 20. 19 Nicht außer Acht gelassen werden sollte dabei, dass dadurch, dass viele Fragebögen die Begriffe – und was unter diesen zu verstehen ist – vorgeben, die Religionspsychologie zur Kreierung des eigenen Forschungsobjekts beiträgt; sie beschreibt und analysiert ihr Objekt nicht lediglich. Man sollte daher nicht annehmen, dass sich das abgebildete Interesse an der Spiritualität allein aus den Entwicklungen im Forschungsfeld erklärt, vgl. Westerink: Der Spiritualitätsbegriff (s. Anm. 7), 173–174.

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Verhältnisbestimmung zum »alten« (Leit-) Begriff der Religion zu gelangen. Bevor die Debatten um diese Aufgaben kritisch beleuchtet werden, soll die Geschichte des Spiritualitätsbegriffs kurz dargestellt werden. Diese Geschichte und der Ursprung des Begriffs sind im religionspsychologischen Fachdiskurs weitestgehend unbekannt, obwohl sich die historische Spurensuche als aufschlussreich für die heutigen Debatten herausstellt und manch vorhandene Verwirrung und Trugbilder aufzuklären vermag.

3

Die Geschichte eines Begriffs

Der Spiritualitätsbegriff hat im Laufe der Geschichte des Öfteren einen starken Bedeutungswandel durchlebt. Die große Beliebtheit und breite Verwendung ist grundsätzlich ein Phänomen des späten 20. bzw. 21. Jahrhunderts.20 Ursprünglich stammt der Begriff aus dem Christentum. Das Adjektiv spirit(u)alis – welches sich von spiritus ableitet21 – ist die lateinische Übersetzung des griechischen Begriffs πνευματικός22 (geistlich, dem Geist gemäß) 23, welcher im Neuen Testament bei Paulus für ein Leben aus dem Geist Gottes steht.24 Das Adjektiv entsteht also schon bald im frühchristlichen Latein und wird geläufig. In der Spätantike wurde dann mit spiritualis die Wirkung des Heiligen Geistes charakterisiert. Erst ab dem 5. Jahrhundert kam das Substantiv spiritualitas auf, das allgemein die vom heiligen Geist bestimmte christliche Lebenspraxis bezeichnete. Gegen Mitte des 13. Jahrhunderts entsteht im Französischen das Substantiv spiritualité. Der Begriff bleibt dabei die folgenden Jahrhunderte großteils auf den französischen Sprachraum beschränkt.25 Ab dem 17. Jahrhundert wurde von spiritualité im Kontext des französisch-katholischen Ordenswesens gesprochen, womit die persönliche Beziehung des Menschen zu Gott in einem Begriff erfasst wurde und ein Leben aus dem Geist Gottes gemeint war.26 Ab dem 19. Jahrhundert sind zwei 20 21 22 23

Vgl. Köpf: Spiritualität (s. Anm. 10), 1589. Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 28. Zum Beispiel in 1 Kor 2,13–3,1 u. ö. Vgl. Rudolf Kassühlke: Kleines Wörterbuch zum Neuen Testament. Griechisch – deutsch, Stuttgart 42005, s. v. πνευματικός; Josef Sudbrack: Art. Spiritualität, I. Begriff, in: LThK 9, Freiburg i. Br. u. a. 2009, (852–853) 852. 24 Vgl. Ulrich H. J. Körtner: Spiritualität, Religion und Kultur – eine begriffliche Annäherung, in: ders. u. a. (Hg.): Spiritualität, Religion und Kultur am Krankenbett (Ethik und Recht in der Medizin 3), Wien 2009, (1–17) 9–10. 25 Vgl. Köpf: Spiritualität (s. Anm. 10), 1589–1590. 26 Vgl. Klaus Raschzok: Evangelische Aszetik. Zur Wiederentdeckung einer Disziplin der akademischen Praktischen Theologie und ihrer Forschungs- und Lehrgestalt, in: Ralph Kunz/ Claudia Kohli Reichenbach (Hg.): Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive (Praktische Theologie im reformierten Kontext 4), Zürich 2012, (13–36) 30.

»Spirituell – aber nicht religiös!«

171

Traditionslinien zu unterscheiden, die regional verortbar sind. Der Begriff trägt daraufhin unterschiedliche Bedeutung im kontinentaleuropäischen und im angelsächsischen Raum.

3.1

Die romanische Traditionslinie

Im französischen Sprachraum gewinnt der Begriff Ende des 19. Jahrhunderts an Breite und Bedeutung und ersetzt hier zunehmend die Begriffe dévotation und piété. Um das religiöse Leben in der Zeit der Säkularisation zu stärken, wurde in der französischsprachigen theologischen Literatur mit dem Begriff die eigene Tradition auf ihre spirituellen bzw. mystischen Ressourcen untersucht. Ab den 1930er Jahren wurde dem Verständnis der Spiritualität als Quelle für gelebte Religiosität im voluminösen Werk »Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique, doctrine et histoire«27 (Paris 1937–1995) Ausdruck verliehen. Zunächst wurde dieses Werk auf eine Befassung mit der asketischen und mystischen Dimension der eigenen Religion ausgelegt. Bald wurde es aber zusätzlich zum ausgesprochenen Ziel des von Jesuiten editierten Werkes, das interaktive Verhältnis zwischen spiritueller Erfahrung wie beispielsweise Offenbarungen, Visionen oder auch Heilungswundern, und der Theologie zu beschreiben und hervorzuheben, wobei die spirituelle Erfahrung den Ausgangspunkt der Betrachtungen bildet.28 Zu dieser Zeit wird Spiritualität in diesem Sinne zu einem wichtigen Begriff der christlichen Theologie und bekommt einen Stellenwert, den er zuvor nie hatte. Der Begriff fand in Folge auch rasch in Italien, Spanien und in den 1950er Jahren auch in Deutschland Verwendung, um die gelebte Religiosität in einen Begriff zu fassen. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts lässt sich zwischen einer evangelischen und katholischen Spiritualität unterscheiden, wobei in der protestantischen Literatur mit dem Begriff nicht so sehr die mystischen Erfahrungen, sondern der mentale Aspekt des Glaubens betont wurde.29 Im weiteren Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Spiritualitätsbegriff auch über die Grenzen des Christentums hinaus gebräuchlich.30

27 Marcel Viller/André Rayez (Hg): DSp, 17 Bände, Paris 1937–1955. 28 Vgl. Hvidt: Meaning Making (s. Anm. 5), 183; Westerink: Spirituality (s. Anm. 8), 6–7. 29 Vgl. Westerink: Spirituality (s. Anm. 8), 7. Zum Abbau des gelegentlich noch heute anzutreffenden Misstrauens gegenüber dem Spiritualitätsbegriff innerhalb des Protestantismus hat die vom Rat der EKD 1976 eingesetzte Arbeitsgruppe »Evangelische Spiritualität« – die 1979 ihre Studie vorlegte – beigetragen, vgl. dazu Köpf: Spiritualität (s. Anm. 10), 1590. 30 Die erste Verwendung des Spiritualitätsbegriffs außerhalb des Christentums lässt sich auf dem ersten Weltparlament der Religionen in Chicago 1893 belegen, wo der hinduistische Mönch und Gelehrte Vivekananda den Begriff mit Bezug auf den Hinduismus verwendete. Der im Christentum entstandene Begriff wird heute wie selbstverständlich auch auf nicht-

172 3.2

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Die angelsächsische Traditionslinie

Im angelsächsischem Raum wird spirituality bestimmt durch eine große Bandbreite an neuen religiösen, esoterischen und holistischen Weltanschauungen bzw. Praktiken, die sich aus verschiedenen Quellen speisen, von der christlichen Mystik über den Spiritismus des 19. Jahrhunderts hin zu dem stärker werdenden Einfluss indischer Philosophie und Spiritualität/Religion.31 Der Spiritualitätsbegriff, der seit dem Jahr 1870 nachweisbar ist, ist also weit bedeutungsoffener und unbestimmter als der in Frankreich zur selben Zeit. Charakteristisch ist allerdings der Fokus auf eine direkte, unmittelbare und persönliche Transzendenzerfahrung. Außerdem impliziert der Begriff Kritik, zum einen an den geistesgeschichtlichen Auswirkungen der Aufklärung und der Moderne, zum anderen an der vorherrschenden verfassten Glaubenskultur, konkret am Christentum. Spiritualität soll in dieser Abgrenzung die eigentliche, wahre Religion markieren.32 In den 1960er Jahren findet der Spiritualitätsbegriff in den Religionswissenschaften und in der Religionssoziologie größere Verbreitung, um das große Spektrum verschiedener New Age-Bewegungen zu beschreiben, was wesentlich zur weltweiten Popularisierung des Terminus beitrug.33 Mit dem Begriff Spiritualität werden verschiedene Aspekte dieser Bewegungen charakterisiert. Für einen der essentiellsten Aspekte haben Dick Houtman und Steff Aupers den Begriff der »Sakralisierung des Selbst« geprägt.34 Spiritualität weist hier auf die Suche des Individuums nach seinem Selbst hin, dem auch durch verschiedene spirituelle und/oder therapeutische Praktiken Ausdruck verliehen wurde. Die Grenzen von traditionellen Religionen, Nationen und Kulturen sollen dabei überschritten werden, um zur universal gedachten Religion und damit zum Kern des Menschen selbst zu gelangen. Auffallend ist hierbei der Eklektizismus, weshalb in der Literatur Begriffe wie »do-it-yourself-religion« oder auch »pickand-mix-religion«35 geprägt wurden.

31 32 33 34 35

christliche Religionen angewandt, vgl. Köpf: Spiritualität (s. Anm. 10), 1590, Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 28. Vgl. Westerink: Der Spiritualitätsbegriff (s. Anm. 7), 166. Vgl. Körtner: Spiritualität (s. Anm. 24), 9–10. Vgl. Westerink: Spirituality (s. Anm. 8), 7; Karl Baier: Unterwegs zu einem anthropologischen Begriff der Spiritualität, in: ders./Josef Sinkovits (Hg.): Spiritualität und moderne Lebenswelt (Austria: Forschung und Wissenschaft Theologie 1), Wien/Berlin 2006, (21–42) 25–26. Vgl. Westerink: Der Spiritualitätsbegriff (s. Anm. 7), 167; Houtman/Aupers: The Spiritual Turn (s. Anm. 15), 305. Westerink: Spirituality (s. Anm. 8), 7.

»Spirituell – aber nicht religiös!«

4

173

Spiritualität und Religion/Religiosität

Wie vielleicht zu erahnen ist, ist die gegenwärtige Spiritualitätsforschung in den Gesundheitswissenschaften wie auch in der Religionspsychologie von der angelsächsischen Traditionslinie bestimmt.36 Damit ist auch eine bestimmte, teils ausgesprochen negative Sicht auf den Religionsbegriff verbunden. Grundsätzlich steht die Religionspsychologie, wie bereits erwähnt, mit der Übernahme des Spiritualitätsbegriffs vor der Aufgabe, den »neuen« Begriff der Spiritualität in ein Verhältnis zum »alten« Begriff der Religion zu setzen, d. h. Gemeinsamkeiten bzw. Überschneidungen und Unterschiede zu benennen. Die Bandbreite der Kontrastierungen der beiden Begriffe reicht dabei von einer schroffen Polarisierung, wodurch Spiritualität und Religion bzw. Religiosität als zwei entgegengesetzte Pole verstanden werden, bis hin zu einer fast vollständigen Identifizierung der beiden Begriffe, wodurch unter Spiritualität und Religiosität fast das Gleiche verstanden wird und beide Begriffe lediglich durch einen Schrägstrich getrennt werden.

4.1

Polarisierungsmodelle

Wird Spiritualität scharf mit Religion/Religiosität kontrastiert, so steht Spiritualität für Individualität, Subjektivität und Authentizität, während Religion/ Religiosität mit starren und hierarchischen religiösen Strukturen und Institutionen, mit Dogmen und oft mit rigider Bevormundung in Verbindung gebracht wird.37 Religion/Religiosität wird damit mit Konservativismus verbunden, während Spiritualität flexibel und offen für Neues ist.38 Ganz in diesem Sinne geht es bei der Spiritualität – anders als bei der Religion/Religiosität – nicht um den (gemeinsamen) Glauben bzw. Glaubenssätze und um Zugehörigkeit, sondern um die individuelle (unmittelbare) Erfahrung. Spiritualität ist daher aktiv, es geht um das eigene Tun (Suchen, Erfahren, Erleben), und nicht so sehr um das bloße (passive) Glauben an sich.39 Spiritualität schließt dabei persönliche Ansichten, Werte und Tugenden und ein dementsprechendes Verhalten ein, während Religion/Religiosität die Involvierung in einer religiösen Tradition (inklusive deren Glaubenssätze und Rituale) kennzeichnet, womit Ansichten, Werte und Tugen36 Vgl. Raschzok: Evangelische Aszetik (s. Anm. 26), 30. 37 Vgl. Bucher: Psychologie (s. Anm. 2), 50. 38 Vgl. Ralph W. Hood u. a.: The Psychology of Religion. An Empirical Approach, New York ˇ ícˇan: Spirituality. The Story of a Concept in the Psychology of Religion, in: 2009, 9, 289; Pavel R ARPs 26 (2004), (135–156) 135. 39 Vgl. Bregman: Ecology (s. Anm. 2), 29, 96; Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 30–31; Bucher: Psychologie (s. Anm. 2), 9–12.

174

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den vorgegeben sind.40 Spirituell zu sein bedeutet, diese Logik fortführend, dem eigenen, inneren Pfad bzw. der eigenen, inneren Weisheit zu folgen und diese zur Entfaltung kommen zu lassen. Die individuelle Selbstentwicklung in Verbindung mit dem eigenen Wohlergehen steht dabei im Vordergrund.41 Spiritualität ist in diesem Sinne daher auch weniger eine Errungenschaft bzw. eine Leistung der Person, sondern vielmehr eine Fähigkeit des Menschen.42 Spirituell kann der Mensch daher – anders als religiös – in diesem Verständnis auch eigentlich nicht werden, er ist es bereits. Anders als bei der Religion/Religiosität wird der Mensch nicht durch die Verpflichtung an ein äußerliches gewähltes Ideal angetrieben (inklusive einer externen Autorität wie eine Institution, die dieses Ideal vorgibt und darüber wacht), sondern durch die im Selbst des Individuums vorliegenden Gefühle und Bedürfnisse.43 Spiritualität entspringt so gesehen der Natur des Menschen, während Religion/Religiosität ein Produkt der Sozialisation ist, d. h. anders als die Spiritualität ist Religion/Religiosität kein intrinsisches, sondern ein extrinsisches Phänomen.44 In diesen Konzeptionen wirkt sich Spiritualität ausschließlich positiv auf den Menschen aus, sowohl in somatischer als auch in psychischer Hinsicht, während Religiosität eher als kontraproduktiv für die Gesundheit bzw. das Wohlbefinden des Menschen gesehen wird.45

4.2

Überbietungsmodelle

Neben diesen Versuchen, die ich »Polarisierungsmodelle« genannt habe, gibt es noch andere Modelle, die ich »Überbietungsmodelle« nenne. In diesen wird einer plumpen Polarisierung mit dem ihnen eingeschriebenen binären Code gut/ schlecht bzw. positiv/negativ nicht das Wort geredet. Religion bzw. Religiosität kann in diesen Ansätzen durchaus positiv verstanden werden, da sie eng mit

40 Vgl. Bregman: Ecology (s. Anm. 2), 47. 41 Vgl. z. B. Gordon Lynch: The New Spirituality. An Introduction to Progressive Belief in the Twenty-First Century, London 2007, 1–17. Siehe dazu auch Popp-Baier: From Religion (s. Anm. 3), 41–44. 42 Vgl. Bregman: Ecology (s. Anm. 2), 16, 31–32, 47. 43 Vgl. Bregman: Ecology (s. Anm. 2), 32, 48. 44 Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 34–35. 45 Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 32–33; Brian J. Zinnbauer/Kenneth I. Pargament: Religiousness and Spirituality, in: Raymond F. Paloutzian/Crystal L. Park (Hg.): Handbook of the Psychology of Religion and Spirituality, New York 2005, (21–42) 28–29, 35; Peter C. Hill u. a.: Conceptualizing Religion and Spirituality: Points of Commonality, Points of Departure, in: Journal for the Theory of Social Behavior 30 (2000), (51–77) 55–56. Dass Spiritualität in gewissen Spielarten ebenso negative Auswirkungen auf die Gesundheit eines Menschen haben kann, wird dabei häufig nicht gesehen.

»Spirituell – aber nicht religiös!«

175

Spiritualität verbunden ist oder sich aus dieser speist. In diesem Fall ist die Rede davon, dass Spiritualität der eigentliche Kern auch der Religion sei.46 Spiritualität ist in dieser Denkrichtung die grundsätzliche Fähigkeit zu einem spirituellen Ausdruck eines Individuums. Dieser kann sich nun innerhalb der Grenzen einer bestimmten Tradition verwirklichen oder auch außerhalb dieser Grenzen, d. h. frei von einer konkreten Tradition. Spiritualität wird daher auch als der umfassendere bzw. grundlegendere Begriff erachtet, da der Religionsbzw. Religiositätsbegriff nur eine bestimmte Gruppe an Menschen (nämlich jene innerhalb einer religiösen Tradition) anbelangt, während Spiritualität auch unabhängig jeglicher Religionszugehörigkeit existiert.47 In der Religion ist Spiritualität notwendigerweise – als deren (innerster) Kern – involviert, es gibt aber auch eine nicht-religiöse Spiritualität. »Religiousness is a subset of spirituality, which means that religiousness invariably involves spirituality, but that there may be nonreligious spirituality as well – this is growing consensus.«48 Religion muss somit nicht als grundsätzlich negativ gelten, sondern nur als eine bestimmte Gestalt oder Form, in der bzw. als die sich Spiritualität ausdrücken kann.49 Alles Spirituelle (und damit auch Religiöse) geht also in dieser Konzeption vom Individuum aus, und diese Ebene ist die einzige Ebene, die von Interesse ist. Allgemein beschreibbare Elemente wie Traditionen, Glaubenssysteme, Gemeinschaftsformen und dergleichen sind ein möglicher Zusatz – von der Spiritualität an sich sind sie jedoch klar zu unterscheiden.50 Wenn man sich auf eine Unterscheidung zwischen Spiritualität und Religion/ Religiosität einlässt, so kann in jedem Fall Ansätzen, die Polarisierungsmodellen folgen, nicht beigepflichtet werden. Hierbei kommt es zu einer groben Verzerrung aus Interesse der Profilierung des Spiritualitätsbegriffs. Wenn die individuelle Erlebnisqualität, die innere, subjektive, individuelle Ebene bzw. Dimension ausschließlich für den Spiritualitätsbegriff gilt bzw. nur durch diesen zum Ausdruck kommt und der Religionsbegriff lediglich die äußere, objektive Dimension umfasst und mit dieser gleichgesetzt wird, fällt die personale, dyna-

46 Vgl. Hill u. a.: Conceptualizing Religion (s. Anm. 45), 64, 66; Zinnbauer/Pargament: Religiousness (s. Anm. 45), 35–36; Westerink: Der Spiritualitätsbegriff (s. Anm. 7), 168–169; PoppBaier: From Religion (s. Anm. 3), 47–48. 47 Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 36. 48 Hood u. a.: The Psychology (s. Anm. 38), 11 (»Religiosität stellt eine Teilmenge der Spiritualität dar, was bedeutet, dass Religiosität notwendigerweise Spiritualität einschließt, es aber auch eine nichtreligiöse Spiritualität geben kann – diese Sicht ist zunehmend konsensfähig« [Übersetzung M. H.]). 49 So bei Hill u. a.: Conceptualizing Religion (s. Anm. 45), 66–72; vgl. dazu Westerink: Der Spiritualitätsbegriff (s. Anm. 7), 168; Daniel A. Helminiak: Confounding the Divine and the Spiritual. Challenges to a Psychology of Spirituality, in: PastPsy 57 (2008), (161–182) 162. 50 Vgl. u. a. Bucher: Psychologie (s. Anm. 2), 56; Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 36.

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mische Qualität, die »Qualität des Religiös-Seins«51 aus dem Religionsbegriff heraus. Religion hätte dann nicht mehr die Qualität eines subjektiven Deutungsund Wertesystems, sie würde geradezu a-personal werden, sodass die Erlebniskraft aus dem Begriff ausgeklammert werden müsste und Religion/Religiosität zum unpersönlichen Ritual verkommen würde.52 Dem würden wohl nicht zuletzt Menschen widersprechen, die sich selbst als religiös verstehen. Religion/Religiosität kann nicht lediglich unpersönlich und sachlich begriffen und auf den sozialen Kontext limitiert und so vom Individuum getrennt gesehen werden, und so – wie Brian Zinnbauer und Kenneth Pargament es ausdrücken – als »frozen in time«53 verstanden werden. Passionslose Religion/Religiosität und gedankenlose Spiritualität sind zwar grundsätzlich denkbar, jedoch nicht als grundlegende Charakteristika verallgemeinerbar.54 Auch wenn bei Ansätzen, in deren Hintergrund der skizzierte Gedanke eines Überbietungsmodells steht, die Zuteilung von innerer und äußerer Dimension nicht derart plump geschieht und die Spiritualität wie gesehen als Kern der Religion verstanden wird, so bedeutet das für den Religionsbegriff doch, dass diesem eine nicht-spirituelle Seite inhärent ist. Die Individualität gilt daher nicht im gleichen Maße für den Religionsbegriff wie für den Spiritualitätsbegriff. Die subjektive Erlebniskraft bzw. die innere Dimension ist zwar auch im Religionsbegriff existent, sie ist aber nur in Verbindung mit einer äußeren Dimension zu erfassen, als persönliche Hingabe oder Einstimmen in Überzeugungen und Praktiken bestimmter Traditionen.55 Religiosität ist in ihrer Individualität also mal mehr, mal weniger, und doch immer zu einem gewissen Teil der persönliche Glaube an Geglaubtheiten.56 Damit verlässt die Religion aber die Ebene der Individualität, d. h. der Spiritualität, und wird mit der objektiven Dimension in untrennbarer Verbindung gesehen, womit sich erneut die kollektive, objektive Religion und die individuelle, subjektive Spiritualität gegenüberstehen.

5

Der blinde Fleck gegenwärtiger Spiritualitätskonzeptionen

Individualität in Reinform soll somit die differentia specifica der Spiritualität gegenüber der Religion sein. Es ist aber genau dieser Punkt, in dem sich der blinde Fleck der Spiritualitätskonzeption offenbart. Denn auch eine wie soeben 51 52 53 54 55

So Constantin Kleins Kritik in Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 37. Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 27. Zinnbauer/Pargament: Religiousness (s. Anm. 45), 27. Vgl. Zinnbauer/Pargament: Religiousness (s. Anm. 45), 28, 31–32. Vgl. Herman Westerink: Alter Wein in neuen Schläuchen? Der Spiritualitätsbegriff in der gegenwärtigen Religionspsychologie, in: GlLern 26 (2011), (177–189) 181. 56 Vgl. Horst G. Pöhlmann: Abriss der Dogmatik. Ein Kompendium, Gütersloh 62002, 90.

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beschriebene konzipierte Spiritualität hat zwangsläufig eine objektive Dimension, eine Außenseite zur individuellen existentiellen Innenseite. Spiritualität wird aber aus mehreren Gründen so konzeptualisiert, dass keine Verbindung bzw. kein Zusammenhang zwischen der Spiritualität des Individuums und der Verortung in Zeit, Raum und Tradition besteht.57 Aber auch die Spiritualität ist nicht kulturfrei, sie entsteht nicht ex nihilo im Individuum, sodass Spiritualität gewissermaßen in einem sozialem Vakuum ausgedrückt werden würde.58 In Anspielung auf den berühmten Psychologen William James formuliert Lucy Bregman: History, traditions, and cultures […] are all important to any successful understanding of religion, even one inclusive of personal experience. Unfortunately, it is exactly this parentless, »men in their solitude« approach that so many of the definitions and treatments of spirituality do pretend to offer. To do so, they must implicitly sever spirituality from the realm of groups and traditions, and […] from the world of social identity.59

Spiritualität entsteht nicht im kontextfreien Raum und in kontextfreier Zeit, selbst wenn sie als für den Menschen wesenhaft verstanden wird, so drückt sich diese Spiritualität in bereits bestehenden Traditionen bzw. Inhalten (und Formen) aus.60 Die Lösung der Spiritualität von konkreten Inhalten, von Glaubensinhalten und Traditionen, führt nicht etwa dazu, dass man der individuellen spirituellen Erfahrung des heutigen Menschen gerecht wird, vielmehr stiftet dieses Vorgehen Verwirrung und führt zu einem Trugbild. Auch die Spiritualität – wie allgemein menschlich und subjektiv-konzipiert sie auch verstanden werden mag – hat immer Glaubenssätze im Hintergrund, auch wenn diese oft nicht bewusst sind. Anders gesagt: Auch die Spiritualität kommt nicht ohne fides quae, ohne den Glauben bzw. das »für wahr halten« gewisser (Glaubens-)Sätze aus.61 Jede einzelne Form der neuen Spiritualität inkludiert das »für wahr halten«

57 Vgl. Bregman: Ecology (s. Anm. 2), 13. 58 Vgl. Zinnbauer/Pargament: Religiousness (s. Anm. 45), 27–28. 59 Bregman: Ecology (s. Anm. 2), 87 (»Geschichte, Traditionen und Kulturen […] sind allesamt entscheidend für jedwedes erfolgreiche Verständnis von Religion, sogar von einem, das vor allem die persönliche Erfahrung im Blick hat. Unglücklicherweise ist es genau jener, elternlose ›Menschen in ihrer Abgeschiedenheit‹-Zugang, den so viele der Definitionen und Behandlungen der Spiritualität vorgeben zu bieten. Um dies tun zu können, muss implizit die Spiritualität von dem Reich der Gruppen und der Traditionen und […] von sozialer Identität geschieden werden.« [Übersetzung M. H.]). 60 Vgl. Zinnbauer/Pargament: Religiousness (s. Anm. 45), 35–36; Susanne Heine: Grundlagen der Religionspsychologie. Modelle und Methoden (UTB 2528: Theologie, Religion), Göttingen 2005, 394. 61 Vgl. Hütter: Spirituell (s. Anm. 1), 60–68. Die konkreten Traditionsgeber, aus denen sich das speist, was heutzutage meist als Spiritualität verhandelt wird, können hier aus Platzgründen nicht dargestellt werden, siehe dazu Hütter: Spirituell (s. Anm. 1), 52–68.

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bestimmter Tatsachen und fußt auf bestimmten (u. a. anthropologischen) Prämissen. Unkenntnis und Unwissenheit bewirken dabei nicht, dass es diese nicht gäbe. Spiritualität soll aber eigentlich eben nicht jenen defectus haben, daher werden Inhalte und allgemein das fides quae dem Religionsbegriff zugeordnet und Spiritualität ausschließlich als fides qua betrachtet. Die Negierung dieser objektiven Dimension ist für die neue Spiritualität aus ihrer Konzeption heraus unumgänglich.62 Die Schwierigkeiten und die Aporien, die dadurch etwa bei Definitionsversuchen entstehen, sind der Preis, den Forscher und Forscherinnen für die Konzipierung ihres Desiderats einer von Religion (im Sinne des fides quae) befreiten Spiritualität zahlen. Spiritualität mag vielleicht eine andere objektive Seite als beispielsweise eine christliche Religiosität haben, aber sie hat eine, da auch Spiritualität innerhalb einer oder mehrerer bestimmten und bestimmenden Traditionen zu verstehen ist. Das einfache Etikettieren von Spiritualität als außerhalb einer bestimmten Tradition und Religiosität als innerhalb einer bestimmten Tradition stehend mag daher nicht überzeugen. Der Spiritualitätsbegriff und der Religionsbegriff werden also insgesamt auf unterschiedlichen Ebenen analysiert und definiert, die – zumindest beim Spiritualitätsbegriff – als einzig vorhandene Ebene dargestellt werden.63 Auch wenn die Spiritualität stets als subjektives und individuelles Phänomen bestimmt wird und das Individuum allein als Quelle der Spiritualität angesehen wird, sollte Spiritualität nicht alleinig von dieser Perspektive bzw. Ebene aus betrachtet werden. Denn wie auch die Religion/Religiosität ist die Spiritualität als multidimensionales und damit multiperspektivisches Phänomen zu beschreiben, das in der Wissenschaft auf individueller, sozialer, institutioneller, kultureller und globaler Ebene zu betrachten ist.64 Grundsätzlich werden Religionsgemeinschaften vom Standpunkt der Befürworter des Spiritualitätsbegriffs viel zu monistisch und monolithisch gedacht, da auch hier dogmatische Uneindeutigkeit und Ablehnung der Institutionen real sind.65 Individualisierungsprozesse als Markenzeichen der heutigen Zeit sind gesamtgesellschaftliche Prozesse. Sie untergraben ohne Frage die traditionellen, gewachsenen institutionellen Formen von Religion und verstärken u. a. die verschiedenen Formen der subjektiven Erfahrungsreligion. Diese Prozesse sind auch innerhalb der Religionen und innerhalb der traditionellen religiösen Institutionen Realität. Die Mitglieder der verschiedenen Religionen und der religiösen Institutionen sind in ihrem religiösen Denken, Erleben und Handeln 62 Vgl. Bregman: Ecology (s. Anm. 2), 87. 63 Vgl. Zinnbauer/Pargament: Religiousness (s. Anm 45), 27, 31–32, 34; Hill u. a.: Conceptualizing Religion (s. Anm. 45), 57. 64 Vgl. Körtner: Spiritualität (s. Anm. 24), 9. 65 Vgl. Elisabeth Gräb-Schmidt: Art. Spiritualität, V. Dogmatisch, in: RGG4 7, Tübingen 2004, 1594–1595.

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längst nicht derart monolithisch, wie sie aus der Perspektive der Spiritualitätsverfechter gedacht werden.66 »Individualisierungsprozesse finden auf dem weiten religiösen Feld durchaus statt. Sie vollziehen sich aber nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Kirche.«67 Auch diese Prozesse sind daher auf der begrifflichen bzw. konzeptuellen Ebene nicht so deutlich nur der Religion oder nur der Spiritualität zuzuordnen. Die Situation ist weit komplexer und kann nicht mit der bloßen Unterscheidung zwischen Religion und Spiritualität gefasst werden.68 Das vermehrte Aufkommen von spirituellen Organisationen und Gruppierungen lässt zudem erkennen, dass die oft bemühte Institutionsferne und -kritik, die mit dem Spiritualitätsbegriff verbunden sei, nur zum Teil den Tatsachen entspricht. Die kritische Haltung betrifft nämlich nur eine gewisse Art und Verfasstheit von Institution. Die Institutionskritik wendet sich – was wiederum Teil der Abgrenzungsstrategie ist, s. o. – gegen die traditionellen, gewachsenen Institutionen, also v. a. gegen die Kirchen. Wenn nicht ein verkürzter Institutionenbegriff herangezogen wird, dann ist aber klar, dass sich auch hier unterschiedliche institutionelle Strukturen ausbilden, die den Spiritualitätsbegriff propagieren und prägen.69 Der Vertrauensverlust in traditionelle, gewachsene Institutionen – wie eben die Kirchen – bedeutet daher nicht, dass Menschen in der heutigen Zeit nunmehr keinerlei Bedürfnis nach Orientierungshilfen in religiösen bzw. spirituellen Fragen hätten. Die neuen institutionellen Vermittlungsinstanzen, die etwa in Form von sich neu konstituierenden Gemeinschaften, Seminaren, Workshops oder auch diversen Ausbildungsgängen zu erkennen sind, können nicht als bloße Akzidenzien der individualisierten Spiritualität angesehen werden. Vielmehr sind sie als substantiell mit dem Spiritualitätsbegriff verbunden zu verstehen. Ihrer genuinen Produktivität ist daher auf jeden Fall Rechnung zu tragen.70 Es sollte daher auch von diesem Betrachtungspunkt 66 Vgl. Anette Wilke: Säkularisierung oder Individualisierung von Religion? Theorien und empirische Befunde, in: ZfR 21 (2013), (29–76) 29, 47, 52; Popp-Baier: From Religion (s. Anm. 3), 59; Volkhard Krech: Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft, Bielefeld 2011, 133. 67 Detlef Pollack: Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland. Tübingen 2003, 137. 68 Vgl. Popp-Baier: From Religion (s. Anm. 3), 59. 69 Dass die neue Spiritualität radikal institutionskritisch sei, hat im wissenschaftlichen Diskurs beinahe den Rang einer Grundwahrheit, vgl. u. a. Baier/Sinkovits: Einleitung (s. Anm. 5), 1. Dem soll mit Markus Hero im Folgenden widersprochen werden, s. u. 70 Vgl. Ulrich H. J. Körtner: Wiederkehr der Religion? Das Christentum zwischen neuer Spiritualität und Gottvergessenheit, Gütersloh 2006, 22; Markus Hero: Die neuen Formen des religiösen Lebens. Eine institutionstheoretische Analyse neuer Religiosität (Religion in der Gesellschaft 28), Würzburg 2010, 13, 35. Markus Hero geht in seiner institutionentheoretischen Analyse neuer Religiosität – die für ihn die Spiritualität mit einschließt – davon aus, dass er die »vielzitierte ›Spiritualität‹ […] an eine ganz bestimmte institutionelle Infrastruktur gebunden« sieht. »Die praktischen Ermöglichungs- und Verwirklichungsbedin-

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aus von der Vorstellung Abstand genommen werden, dass Spiritualität ausschließlich individualistisch ist und damit alleinig in der Privatsphäre des Individuums zu finden – und zu untersuchen ist. Spiritualität mag zum großen Teil Privatsache sein, deswegen bleibt sie jedoch nicht unsichtbar.71 Dass Spiritualität im Gegensatz zu Religion in gegenwärtigen Konzeptionen als rein individuelles Phänomen betrachtet wird, mag auch an linguistischen Grenzen liegen. Denn wenn das Adjektiv »religiös« und das Lehnwort »Religiosität« in den Begriffen »spirituell« und »Spiritualität« jeweils ihr Pendant finden, so fehlt dieses für den Begriff der Religion, der wie gesehen als Begriff für die Außenseite bzw. die objektive Dimension verstanden wird. Rein sprachlich mag so dem Eindruck Vorschub geleistet sein, dass Spiritualität, anders als Religion/ Religiosität, überhaupt keine Außenseite hat, womit hiermit diese Differenz suggeriert wäre. Spiritualität mag daher auch deswegen nicht mit einer oder mehreren bestimmten und (mit)bestimmenden Traditionen assoziiert werden und erscheint somit unvorbelastet. Die bis dato beschriebenen Unterschiede bzw. Konfusionen bilden sich also auch auf der begrifflichen Ebene ab. Eine so vorgenommene Unterscheidung zwischen den Begriffen der Religion und der Religiosität, verstanden als objektive und subjektive Dimension, wird auch von anderer Seite befürwortet.72 Als begriffliche Bezugskategorien könne Religion als soziales Phänomen bzw. als fides quae aufgefasst werden und Religiosität als anthropologisches Phänomen bzw. als fides qua. Dabei wird festgehalten, dass das eine vom anderen nicht isoliert verstanden werden darf.73 Es handelt sich m. E. jedoch hierbei um keine glückliche Aufteilung, da Religiosität zwar als Begriff für die subjektive individuelle Dimension fungieren könnte, der Religionsbegriff aber in seinem weiten Bedeutungsspektrum als facettenreicher Überbegriff gesehen werden sollte, der beide Aspekte, das fides qua und das fides quae, in sich vereint, statt Religion schlicht mit dem fides quae gleichzusetzen.

gungen der neuen religiösen Interessen basieren auf institutionellen Vermittlungsformen, die eine optionale Haltung des Aussuchens und des Auswählens ermöglichen und somit einer passageren und an den persönlichen Augenblicksbedürfnissen orientierten Religiosität den Weg bahnen.« (Hero: Die neuen Formen, 14). 71 Vgl. Wilke: Säkularisierung (s. Anm. 66), 72. 72 Vgl. Martin Rothgangel: Religiosität als menschliches Gesicht der Offenbarung Gottes. Evangelisch-theologische Perspektiven, in: Hans-Ferdinand Angel u. a. (Hg.): Religiosität. Anthropologische, theologische und sozialwissenschaftliche Klärungen, Stuttgart 2006, (175– 198) 175; Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 27. 73 Vgl. Rothgangel: Religiosität (s. Anm. 72), 193–194; Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 27.

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Der Spiritualitätsbegriff: (K)eine Notwendigkeit?

Wenn Religion nicht ausschließlich auf ihre objektiv-kollektive Dimension festgelegt werden kann, Spiritualität wiederum nicht allein als subjektiv-individuelles Phänomen zu beschreiben ist, stellt sich die Frage, wo der Spiritualitätsbegriff gegenüber dem Religionsbegriff eine differentia specifica hat und ob die Einführung des Spiritualitätsbegriffs als neue Leitkategorie der religionspsychologischen Forschung gerechtfertigt ist. Diese Frage ist mit einem klaren Nein zu beantworten. Die Bemühungen der letzten 100 Jahre v. a. der systematischen Religionswissenschaften um eine Klärung des Religionsbegriffs haben bereits in der Vergangenheit dazu geführt, dass der Religionsbegriff in seinem Deutungsspektrum so weit ausgeweitet wurde, dass auch die Religiosität und religiös anmutende Orientierungen unabhängig von jeder Religionszugehörigkeit erfasst werden können. Phänomene »fremder« Kulturen können so auch als Religion bezeichnet werden, auch wenn ein synonymer Begriff in vielen nichteuropäischen Sprachen gar nicht existiert. Die frühe Religionswissenschaft löste dadurch den Religionsbegriff von bekannten und heimischen Religionen, um eben auch jene »neuen« Phänomene und Formen de facto erlebter und gelebter Religiosität und deren Auswirkungen zu erfassen.74 Wo also früher mit dem Religionsbegriff ein multidimensionales und multiperspektivisches Konzept vorhanden war, fänden sich mit der Hinzunahme des Spiritualitätsbegriffs – inklusive des in Kauf zu nehmenden Reduktionismus – zwei eindimensionale Konstrukte, die in unterschiedlicher Schattierung in Opposition stehen würden.75 Von hier lässt sich wohl auch die bereits erwähnte Reserviertheit u. a. der Religionswissenschaften gegenüber dem Spiritualitätsbegriff erklären. Den Fokus auf die individuelle Ebene bzw. die Betrachtungsweise der subjektiv-individuellen Seite als Ausgangspunkt für das Verständnis der Religion haben zudem bereits Forscher wie Schleiermacher, James, und nicht zuletzt die Autoren des »Dictionnaire de la spiritualité« gelegt.76 Es ist jedoch etwas anderes, nicht nur das Hauptaugenmerk derart zu legen, sondern das fides qua als alleingültige Analyseebene zu erklären und das fides quae zu ignorieren. Mit dem Spiritualitätsbegriff verbindet sich daher, anders als oft postuliert, kein Neuansatz. Wenn der Religionsbegriff in der Vergangenheit bereits derart weit gefasst wurde wie beschrieben, ist es kaum vorstellbar, wie der Begriff der Spiritualität noch weiter gefasst werden bzw. etwas Neues zu der Debatte beitragen soll. Es würde bedeuten, hochkomplexe Diskurse und Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte, wie sie in der Philosophie, der Theologie, den Religi74 Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 27, 36; Heine: Grundlagen (s. Anm. 60), 19–20. 75 Vgl. Bregman: Ecology (s. Anm. 2), 9, 76; Körtner: Spiritualität (s. Anm. 24), 9. 76 Vgl. dazu Bregman: Ecology (s. Anm. 2), 85.

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onswissenschaften und den Sozialwissenschaften geführt wurden, zu ignorieren. Zudem stellt sich die Frage, warum gerade ein Begriff hinzugefügt werden sollte, der sich als derart vielseitig und unscharf (»fuzzy«77) erweist, sodass eine Definition und Konzeption nicht in Sicht ist und eine wissenschaftliche Erschließung des Begriffs fraglich erscheint.78 Gleiches gilt natürlich für den Religionsbegriff, aber warum sollte ein zweiter derart unerschlossener Begriff übernommen werden? 79 Zumal damit eine weitere, (unlösbare) Aufgabe entsteht, nämlich Gemeinsamkeiten und Differenzen, also allgemein das Verhältnis zwischen den Begriffen der Religion/Religiosität und jenem der Spiritualität zu klären. Heinz Streib und Ralph W. Hood treffen daher mit ihrer rhetorischen Frage den Nagel auf den Kopf: »The major question which we raise is this: Why do we need two concepts at all, when their difference is so marginal?«80 Abseits nicht sinnvoller Kontrastierungen gibt es schlichtweg zu wenige Unterschiede zwischen Religion/ Religiosität und Spiritualität, die die Kreierung einer neuen Leitkategorie rechtfertigen würde. Spiritualität müsste etwas bezeichnen können, das wissenschaftlich nicht als Religion zu begreifen ist und als Forschungsgegenstand den Verhältnissen entsprechend dennoch abgrenzbar ist.81 Es besteht daher die Gefahr von Doppelungen und unergiebigen Anstrengungen, wenn für die Spiritualität auf wissenschaftlicher Ebene z. B. eigene Operationalisierungsanstrengungen unternommen werden.

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Gründe für die Übernahme des Spiritualitätsbegriffs

Es stellt sich somit die Frage, was die Attraktivität des Spiritualitätsbegriffes ausmacht und aus welchen Gründen dieser so bereitwillig und schlagartig in den Wissenschaftsdiskurs aufgenommen wurde und diesen vielerorts bestimmt. Mit den Worten Herman Westerinks lässt sich fragen: »Weshalb haben Religionspsychologen das schwammige Konzept der Spiritualität so eifrig adoptiert?«82 77 Spilka: Spirituality (s. Anm. 11). 78 Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 35; Salander: The Emperor’s New Clothes (s. Anm. 18) 17: »The concept adds more confusion than clarity if it is not put into a meaningful theoretical and cultural context.« (»Das Konzept stiftet mehr Verwirrung als Klarheit wenn es nicht in einen sinnvollen theoretischen und kulturellen Kontext eingebettet wird.« [Übersetzung M. H.]). 79 Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 36–37; Heinz Streib/Ralph W. Hood: »Spirituality« as Privatized Experience-Oriented Religion. Empirical and Conceptual Perspectives, in: Implicit Religion 14 (2011), (433–453) 449. 80 Streib/Hood: »Spirituality« (s. Anm. 79), 444 (»Die wesentliche Frage, die wir stellen, ist folgende: Warum brauchen wir überhaupt zwei Konzepte, wenn der Unterschied zwischen ihnen lediglich derart marginal ist?« [Übersetzung M. H.]). 81 Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 35. 82 Westerink: Der Spiritualitätsbegriff (s. Anm. 7), 173.

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Es wird verschiedenenorts darauf hingewiesen, dass seitens der Wissenschaft ein besonderes Eigeninteresse in der Spiritualitätsforschung involviert ist. So halten Streib und Hood in ihrem Beitrag fest, dass empirisch gut dokumentiert ist, dass Forscher und Forscherinnen der Disziplinen der Psychologie zu den am wenigsten religiösen Menschen innerhalb der Forschungswelt zählen. »Psychologists neither believe, practice nor associate with the institutional aspects of faith (›religion‹) as they endorse […] ›noninstitutional forms of spirituality‹«.83 Ebenso hält Anton A. Bucher fest: »Zahlreiche Studien weisen Psychologen als die am wenigsten religiöse Berufsgruppe aus«.84 Somit kann mit Klein gesagt werden: »Es ist anzunehmen, dass sich in entsprechenden Definitionen auch ein eigenes Abgrenzungsbedürfnis der jeweiligen Autoren gegenüber dem, was sie unter Religion verstehen, ausdrückt.«85 Wie bereits andernorts erörtert, erscheint der Spiritualitätsbegriff – im Gegensatz zum Religionsbegriff und einer mit dem Begriff in Verbindung gebrachten (teils gewalttätigen) Vergangenheit – als unvorbelastet. Klein spricht in diesem Kontext von der »Moralisierung als Argument für die Unterscheidung beider Begriffe«, die er wissenschaftlich als wenig sinnvoll erachtet.86 Bestrebungen, Religion unabhängig von ihren geschichtlichen und konkreten Erscheinungsformen zu erfassen und sich von der Theologie und der Religionswissenschaft zu emanzipieren, hat es innerhalb der Religionspsychologie immer wieder gegeben. Die Religionspsychologie ist aber von theologischen und religionswissenschaftlichen Begriffsklärungen und Differenzierungen abhängig, wodurch eine Enttheologisierung, wie am Beispiel des Spiritualitätsparadigmas zu sehen ist, einen Verlust von Tiefe und Plausibilität der religionspsychologischen Theoriebildung zur Folge hat.87 Bregman geht mit einem weiteren Interesse seitens der Religionspsychologie, welches sich mit der Übernahme des Spiritualitätsbegriffs ausdrückt, hart ins Gericht. Es geht ihrer Ansicht nach eigentlich nicht darum, ob die Spiritualität die Religion ersetzt, sondern darum, dass mit der Spiritualität ein neues Forschungsgebiet erschaffen werden soll. »This is not a case of spirituality replacing religion; it is a case of remapping territory so that a perceived new ecological niche is created out of an older landscape.«88 In diesem Kontext ist auch inter83 Streib/Hood: »Spirituality« (s. Anm. 79), 434 (»Psychologen und Psychologinnen glauben, praktizieren und identifizieren sich nicht mit dem institutionellen Aspekt des Glaubens [›Religion‹], sondern befürworten die ›nichtinstitutionellen Formen der Spiritualität‹« [Übersetzung M. H.]). 84 Bucher: Psychologie (s. Anm. 2), 4, vgl. auch 12. 85 Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 38. 86 Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 37. 87 Vgl. Westerink: Der Spiritualitätsbegriff (s. Anm. 7), 173. 88 Bregman: Ecology (s. Anm. 2), 76 (»Es geht hierbei nicht um die Ablösung der Religion durch die Spiritualität; es geht darum, das Revier neu abzustecken, sodass eine vermeintlich neue ökologische Nische aus einem älteren Territorium erschlossen wird.« [Übersetzung M. H.]).

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essant zu sehen, wie die Prädisponiertheit des Menschen zur Sinngebung und Sinndeutung mit der Thematik der Spiritualität verzahnt wird. Sinngebung und Sinndeutung sind nicht mehr allgemein menschliche Prozesse, die spirituelle oder religiöse (und natürlich auch säkulare) Einstellungen hervorrufen können, sondern diese Prozesse werden nun per se als spirituelle Prozesse aufgefasst.89 Was früher als (eine) mögliche Antwort auf diese Fragen erachtet wurde, wird in der gegenwärtigen Forschungsdebatte als Frage selbst verstanden. Wenn die WHO jeden Menschen als spirituell ansieht, da sich dieser – spätestens angesichts des Todes – den existentiellen Fragen des Lebens stellen muss, so folgt dies genau dieser Denkrichtung.90 Pär Salander fragt in seinem auffallend kritischen Artikel zum Thema: »What is the rationale for replacing an existential frame of reference with a ›spiritual‹ frame of reference?«91 Wenn Spiritualität für die Suche nach existentieller Bedeutung und für existentielle Bedürfnisse des Menschen steht, proklamiert die Spiritualitätsforschung damit auch eine (enorme) Erweiterung ihres Zuständigkeitsbereichs und ihres Kompetenzbereichs. Bei diesem Vorgehen liegt auch der Verdacht nahe, dass mit dem Spiritualitätsbegriff nichtreligiösen Haltungen ein spiritueller Mehrwert verliehen werden soll, freilich ohne dabei auf den Religionsbegriff rekurrieren zu müssen. Damit ist allerdings die Problematik verbunden, dass Spiritualität nicht mehr von solch grundlegenden Konzepten wie Weltanschauung, Weltbild/Weltsicht oder Lebenssinn unterschieden werden kann.92 Das Spezifikum der Spiritualität – und damit auch das der Religionspsychologie gegenüber anderen Bereichen der Psychologie, der Philosophie und der anderen Geisteswissenschaften im Allgemeinen – wäre so nicht mehr auszumachen.93 Zu guter Letzt ist der Spiritualitätsbegriff wie zu Beginn gesehen en vogue, womit er sich wohl auch gut vermarkten lässt und sich eignet, um ein breiteres Publikum anzusprechen. Auch damit erhält die Kreierung eines neuen Forschungsfeldes Rückenwind.94 Die breite Übernahme des Spiritualitätsbegriffs bildet für die Religionspsychologie insgesamt ein Themenfeld, das einerseits 89 Vgl. Salander: The Emperor’s New Clothes (s. Anm. 18), 28; Westerink: Alter Wein (s. Anm. 55), 188. Dass Themen, die früher u. a. in der Existenzphilosophie verhandelt worden sind, heute als Monopol der Spiritualität verstanden werden, lässt sich gut sehen bei Helminiak: Confounding the Divine (s. Anm. 49), 161. 90 Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 34. 91 Salander: The Emperor’s New Clothes (s. Anm. 18), 29. 92 Vgl. Utsch/Klein: Religion (s. Anm. 6), 39. 93 Vgl. Zinnbauer/Pargament: Religiousness (s. Anm. 45), 27. Dieses Problem der Abgrenzbarkeit tritt ebenso bei einem rein funktionalen Verständnis bzw. bei rein funktionalen Definitionen der Spiritualität auf, die gegenwärtig sehr beliebt sind, während Religion und Religiosität meist substantiell definiert werden, vgl. Körtner: Spiritualität (s. Anm. 24), 7; Zinnbauer/Pargament: Religiousness (s. Anm. 45), 24. 94 Vgl. Popp-Baier: From Religion (s. Anm. 3), 34, 61; Westerink: Der Spiritualitätsbegriff (s. Anm. 7), 173.

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»eine neue Kontinuität und inneren Zusammenhang innerhalb der Disziplin anzeigt«, und andererseits die eigene »Existenzberechtigung nach außen aufzeigt«.95 Dass sich der Spiritualitätsbegriff dabei ideal eignet, um den Wandel im religiösen bzw. eben im spirituellen Erleben unter den geänderten Bedingungen der postsäkularen Gesellschaft in der Postmoderne Ausdruck zu verleihen, ist wie gesehen das vielvertretene Postulat der neuen Spiritualitätsforschung. Abschließend lässt sich generalisierend mit Ulrich Körtner, der auf die ursprüngliche Semantik des Spiritualitätsbegriffs anspielt, sagen: »Aber der Wind, den die neue Spiritualität macht, ist zum Teil von den Trendforschern selbst erzeugte heiße Luft«.96

8

Fazit

Das Konzept der Spiritualität, wie es derzeit vielerorts entworfen und befürwortet wird, kann bei eingehender Untersuchung als wissenschaftliches Konzept nicht überzeugen. Spiritualität sollte aus wissenschaftlicher Sicht nicht ausschließlich mit dem Stichwort der »radikalen Individualität« gefasst und verstanden werden.97 Spiritualität als Begriff zu verstehen, der auch auf einer Meta-Ebene sinnvoll und zielführend ist, bedeutet, neben der inneren Dimension, dem fides qua, die äußere Dimension, das fides quae, nicht außer Acht zu lassen. Der Religionsbegriff, wie er in der Vergangenheit in der zuvor beschriebenen Breite begriffen worden ist, erfüllt bereits alles, was ein realistisch konzipierter Spiritualitätsbegriff leisten kann. Einen zweiten solchen Begriff diesem derart gefassten Religionsbegriff hinzuzustellen ergibt wenig Sinn, zumal sich dann die unlösbare Aufgabe der Verhältnisbestimmung der beiden Begriffe stellt. Mit dem Spiritualitätsbegriff verbindet sich kein Neuansatz, der die Übernahme des Begriffs als neuen Leitbegriff der religionspsychologischen Forschung rechtfertigen würde. Auf der objektsprachlichen Ebene bzw. als emischer Begriff findet der Begriff natürlich in unterschiedlichen Kontexten weiterhin Verwendung. Im Forschungsdiskurs sollte Spiritualität sodann verstanden werden als Ausdruck für die innere, individuelle Dimension der Religion, das fides qua. Als solcher kann der Begriff gleichgesetzt werden mit Begriffen wie »Religiosität« oder »gelebter Religion«, freilich ohne damit die äußere Dimension des Phänomens und Konzepts der Religion, das fides quae, außer Acht zu lassen.

95 Westerink: Der Spiritualitätsbegriff (s. Anm. 7), 174. 96 Körtner: Wiederkehr (s. Anm. 70), 11. 97 Vgl. Ulrich H. J. Körtner: Leib und Leben. Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen (APTLH 61), Göttingen 2010, 96.

Sabine Hermisson

Nicht fromm, sondern spirituell kompetent. Beobachtungen und Anmerkungen zur aktuellen Ausbildung zum Pfarrberuf1 Welche Bedeutung hat Spiritualität – oder Frömmigkeit – in der aktuellen Ausbildung zum evangelischen Pfarrberuf ? Mit dieser Frage befasste sich das vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) geförderte Projekt »Spirituelle Kompetenz«.2 Im deutschen Sprachraum ist Spiritualität in der evangelischen Ausbildung zum Pfarrberuf ein junges Phänomen, das sich seit der Jahrtausendwende innerhalb nur weniger Jahre etabliert hat. Das Anliegen der Studie war es, einen umfassenden Überblick über den aktuellen Stand der kirchlichen Ausbildung im deutschen Sprachraum zu gewinnen. Auf dieses Ziel hin wurden die Ausbildungsstandards, die im deutschen Sprachraum gegenwärtig in Geltung sind, erhoben und ausgewertet. Das umfasst die Ausbildungsordnungen der 21 reformierten Landeskirchen der Deutschschweiz, der (zum Zeitpunkt der Datenerhebung) 22 lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen Deutschlands und der Österreichischen Evangelischen Kirche A. B. und H. B., die Ausbildungsstandards der Gemischten Kommission der EKD/Fachkommission I (2009) sowie das Dokument »Die Ausbildung für das ordinationsgebundene Amt« der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (2012). Analysiert wurden insgesamt 53 Texte aus den Jahren von 2000 bis 2012. Zusätzlich wurden exemplarisch Vorgängertexte er1 Dieser Beitrag basiert auf der Dissertation Sabine Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie zu Spiritualität in der Ausbildung zum Pfarrberuf (ARPäd 60), Göttingen 2016, sowie in Teilen auf Sabine Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitative Analyse aktueller Ausbildungsstandards für den Pfarrberuf, in: dies./Martin Rothgangel (Hg.): Theologische Ausbildung und Spiritualität (Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 12), Göttingen 2016, 63–88; dies.: Modelle zur Förderung von Spiritualität in Vikariat und kirchlicher Studienbegleitung, in: Ralph Kunz/Claudia Kohli Reichenbach (Hg.): Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive (Praktische Theologie im reformierten Kontext 4), Zürich 2012, 143–157; dies.: Spiritualität in der Ausbildung zum Pfarrberuf. Eine Bestandsaufnahme im Dialog mit George Lindbecks Überlegungen zum Thema, in: ZThK 108 (2011), 225–251. Die in diesem Beitrag zitierten unveröffentlichten Quellen sind abgedruckt in Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie, 275–349. 2 Projekt Nummer P23880-G15.

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hoben und ausgewertet sowie Umfeldtexte, d. h. Veröffentlichungen von kirchenleitender Seite, die explizit die Themen Spiritualität und Ausbildung bearbeiten. Für einen Außenvergleich wurden außerdem die Ausbildungsstandards der römisch-katholischen Priesterbildung sowie der anglikanischen Church of England und der Evangelical Lutheran Church in America untersucht. Die Analyse erfolgte mit der Grounded Theory, einer der etabliertesten Methoden qualitativ-empirischer Forschung.3

1

Terminologische Beobachtungen

In der Analyse der Texte kristallisierten sich zwei terminologische Charakteristika heraus. Zum einen sprechen die aktuellen Ausbildungsstandards nicht von »Frömmigkeit«, sondern von »Spiritualität«. Zum anderen thematisieren die Texte Spiritualität durchgängig im Zusammenhang mit Kompetenzen oder Fähigkeiten.

1.1

Spiritualität statt Frömmigkeit

Die Ausbildungsdokumente verwenden bevorzugt die Ausdrücke Spiritualität und spirituell. Die Texte beziehen sich auf die »eigene Spiritualität« oder »persönliche Spiritualität« der Vikarinnen und Vikare sowie auf deren »eigene spirituelle Praxis«, »spirituelle Identität« oder »spirituelle Identitätsentwicklung«. Sie thematisieren die »Klärung«, »Pflege«, »Entwicklung« oder »Weiterentwicklung« der persönlichen Spiritualität oder spirituellen Praxis und verwenden Termini wie »Woche der Spiritualität« oder »Wahlpflichtprogramm Spiritualität« als Bezeichnung für spezielle Kurse und Seminareinheiten. Auch das Adjektiv geistlich kommt vor und findet sich insbesondere in Formulierungen wie »geistliches Leben«, »geistliche Lebensführung« oder »geistlicher Lebensrhythmus«. »Geistliche Begleitung« wird als geprägte Bezeichnung für diese spezifische Form der Seelsorge verwendet. Darüber hinaus werden Termini wie »persönliche Praxis des Glaubens«/»Praxis pietatis«, »religiöse Praxis« und »theologische Existenz« gebraucht. Der Ausdruck Frömmigkeit taucht in den Texten dagegen nur vereinzelt auf. Er kommt vor in der Rede von den unterschiedlichen Frömmigkeitsrichtungen 3 Es wurde die Grounded Theory in der von Anselm Strauss und Juliet Corbin weiterentwickelten Variante verwendet, vgl. Anselm Strauss/Juliet Corbin: Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996. Für Details zu den Daten und zur Methode siehe Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 57–101.

Nicht fromm, sondern spirituell kompetent

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und Frömmigkeitsformen, denen (angehende) Pfarrerinnen und Pfarrer in den Gemeinden mit Verständnis, Toleranz und Respekt begegnen sollen. Das Adjektiv fromm ist in keinem der Dokumente belegt.4

1.2

Die Verbindung von Spiritualität und Kompetenz

Sämtliche Kirchen erwähnen im Zusammenhang mit den Zielen und Inhalten der Ausbildung Begriffe aus dem Wortfeld »Spiritualität«. Die Texte tun das allerdings in sehr unterschiedlichem Umfang. Das Spektrum reicht von knappen Erwähnungen wie »zur theologischen Kompetenz gehört geistliche Existenz«5 in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg bis zu ausführlichen mehrseitigen Texten zu »spiritueller Kompetenz« in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.6 Bemerkenswert ist jedoch vor allem, wie die Ausbildungsstandards Spiritualität thematisieren. Die Texte nennen Spiritualität durchgängig im Zusammenhang mit Kompetenzen oder Fähigkeiten – also im weitesten Sinn mit Können. Dies zeigt sich zunächst lexikalisch. Spiritualität wird mit einer Vielzahl von Wörtern aus dem lexikalischen Feld »können« verbunden (»können«, »Fähigkeit«, »fähig sein«, »Kompetenz«, »in der Lage sein«, »vermögen«, »gelingen«, »sich ausweisen«). Vikarinnen und Vikare sollen die eigene spirituelle Grundhaltung vermitteln7 oder andere in geistlichen Bildungsprozessen anleiten können.8 Sie sollen sprachfähig in Bezug auf die eigene Spiritualität sein.9 Sie sollen in 4 Zur Terminologie siehe Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 110–116. 5 Evangelische Landeskirche in Württemberg: Verordnung des Oberkirchenrats über die Ausbildung im Vorbereitungsdienst (Studienordnung), 2011, verfügbar unter: http://www. kirchenrecht-ekwue.de/document/17258 [10. 05. 2016], § 6 Abs. 1. 6 Siehe dazu insbesondere Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern: Broschüren Kirchliche Studienbegleitung, 2008–2012, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 299–305; Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern: Konzept Kirchliche Studienbegleitung, 2007, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 307–311; sowie Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern: Verordnung über die Kirchliche Studienbegleitung, 2007, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 311–316. 7 Vgl. Evangelische Landeskirche in Baden: Kompetenzprofil-Rückmeldebögen, ohne Jahr, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), (295–297) 296. 8 Vgl. Evangelische Kirche der Pfalz: Das Protestantische Predigerseminar Landau, 2010, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), (332– 335) 335. 9 Schweizer Kirchen im Konkordat: Ausführungsbestimmungen zur Prüfungsordnung des Konkordats, Anhang I. Inhalte der Kompetenznachweise, 2008, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), (281–284) 283; Evangelisch-

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der Lage sein, die Sozial- und Frömmigkeitsstruktur einer Kirchengemeinde zu gestalten.10 Sie sollen sich über Geschichte und Formen von Spiritualität ausweisen können11 und Menschen auf einem spirituellen Weg zu begleiten vermögen.12 Um diese Verbindung von Spiritualität und Können zum Ausdruck zu bringen, verwendet rund die Hälfte der Kirchen des deutschen Sprachraums, darunter auch die österreichische Evangelische Kirche A. B. und H. B., den Ausdruck »spirituelle Kompetenz«. »Spirituelle Kompetenz« wird in den Ausbildungsstandards dieser Kirchen als eine von mehreren Grundkompetenzen für den Pfarrberuf ausgewiesen, meist neben theologischer, kommunikativer und kybernetischer Kompetenz. Andere Texte verstehen Spiritualität als eine »grundlegende Fähigkeit« oder subsumieren sie unter »theologisch-pastoraler Kompetenz«. So formuliert die Gemischte Kommission der EKD/Fachkommission I: »Die theologisch-pastorale Kompetenz lässt sich wiederum in Teilkompetenzen ausdifferenzieren. Dazu gehören insbesondere – die theologische Reflexionsund Urteilsfähigkeit, […] – die Entwicklung einer persönlichen Praxis des Glaubens.«13 Um die Verbindung von Spiritualität und Können auf den Begriff zu bringen, wurden in der Studie die Termini »spirituelle Kompetenz«/»spirituell kompetent« als Oberbegriffe verwendet. Dies entspricht der breit rezipierten Definition von Franz Weinert, wonach Kompetenzen Fähigkeiten und Fertigkeiten umfassen.14 Das bedeutet, dass die Studie »spirituelle Kompetenz« als Theoriebegriff verwendete, der ein wesentliches Analyseergebnis auf den Begriff bringt.15

10 11 12 13

14 15

Lutherische Kirche in Bayern: Dienstzeugnis über den Vorbereitungsdienst, ohne Jahr, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), (305– 307) 306; Evangelische Kirche der Pfalz: Predigerseminar (s. Anm. 8), 335. Evangelische Landeskirche in Baden: Kompetenzprofil (s. Anm. 7), 295. Schweizer Kirchen im Konkordat: Kompetenznachweise (s. Anm. 9), 283. Schweizer Kirchen im Konkordat: Kompetenznachweise (s. Anm. 9), 283. Standards für die zweite Ausbildungsphase. Beschlossen am 10. September 2009 von der Gemischten Kommission/Fachkommission I, in: Michael Beintker/Michael Wöller (Hg.): Theologische Ausbildung in der EKD. Dokumente und Texte aus der Arbeit der Gemischten Kommission für die Reform des Theologiestudiums/Fachkommission I (Pfarramt, Diplom und Magister Theologiae) 2005–2013, Leipzig 2014, (137–144) 137–138. Franz Weinert: Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit, in: ders. (Hg.): Leistungsmessungen in Schulen (Beltz Pädagogik), Weinheim 2 2002, (7–31) 27–28. Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 105–106, 116–122.

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2

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Was ist »spirituell kompetent«?

Was macht eine spirituell kompetente Pfarrerin, einen spirituell kompetenten Pfarrer aus? Welche Fähigkeiten im Bereich der Spiritualität gehören nach den evangelischen Ausbildungstexten zur pastoralen Professionalität? a. Persönliche Spiritualität: Einige Ausbildungsordnungen erwähnen die persönliche Spiritualität angehender Pfarrerinnen und Pfarrer. Sie verstehen als berufsqualifizierend: – die Fähigkeit und Bereitschaft zur Klärung, Entfaltung und Pflege einer eigenen Spiritualität,16 – die Entwicklung einer persönlichen Praxis des Glaubens,17 – die Weiterentwicklung der persönlichen Spiritualität,18 – die Fähigkeit zu einer persönlichen geistlichen Lebensführung,19 – den reflektierten Umgang mit den Ressourcen Arbeitskraft und Zeit,20 – das Erleben der persönliche Spiritualität als konstitutiv für die eigene theologische und pfarrerliche Existenz.21 b. Sachwissen: Sachwissen über Spiritualität ist ein weiterer Teilbereich, den die Ausbildungsdokumente ausweisen. Dazu gehören: – Sachkenntnisse zu aktuellen spirituellen Wegen, Formen und Strömungen innerhalb und außerhalb der evangelischen Kirche,22 16 Evangelische Landeskirche Anhalts, Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens: Die Voten im Predigerseminar Wittenberg, 2006, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), (286–287) 286; Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck: Die Ausführungen zur Ausbildung im Predigerseminar der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, ohne Jahr, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), (324–326) 324. 17 Evangelische Kirche der Pfalz: Predigerseminar (s. Anm. 8), 333; Standards für die zweite Ausbildungsphase (s. Anm. 13), 138. 18 Schweizer Kirchen im Konkordat: Ausbildungsordnung, 2008, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), (280–281) 281. 19 Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa: Die Ausbildung für das ordinationsgebundene Amt, 2012, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 348–349. 20 Evangelische Landeskirche in Baden: Ausbildungsplan für das Lehrvikariat, 2005, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), (291–294) 294. 21 Österreich, Evangelische Kirche A. B. und H. B.: Richtlinien Ausbildung zum geistlichen Amt, 2010, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), (338–339) 339. 22 Schweizer Kirchen im Konkordat: Kompetenznachweise (s. Anm. 9), 283–284; Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn: Studienplan und Wegleitung für das Lernvikariat, 2011, zitiert

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– Sachwissen über die Geschichte von Spiritualität,23 – die Fähigkeit, spirituelle Strömungen zu unterscheiden,24 – die Fähigkeit zur Reflexion spiritueller Strömungen und Methoden.25 c. Kommunikation von Spiritualität: Schließlich geht es den Texten darum, dass angehende Pfarrerinnen und Pfarrer ihre persönliche Spiritualität reflektiert haben und in der Lage sind, diese zu kommunizieren. Die Texte nennen: – die Fähigkeit, zur eigenen spirituellen Sozialisierung und spirituellen Praxis in eine reflektierende Distanz zu treten,26 – Sprachfähigkeit in Bezug auf die eigene Spiritualität,27 – die Fähigkeit, anderen über die eigene Spiritualität Auskunft zu erteilen,28 – konkretisiert auf die Predigt: die Fähigkeit, den persönlichen spirituellen Zugang zum Text transparent zu machen.29 Die Fähigkeit zur Kommunikation von Spiritualität zielt darauf, dass Pfarrerinnen und Pfarrer anderen Menschen in geistlichen Fragen ein Gegenüber sein und diese auf ihrem je eigenen Weg begleiten können. Zum Umgang mit der Spiritualität anderer Menschen erwähnen die Texte: – die Fähigkeit, Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner auf der Ebene der Spiritualität wahrzunehmen,30 – die Fähigkeit, wertschätzend mit Menschen anderer spiritueller Prägung zu kommunizieren,31

23 24 25 26 27 28 29 30 31

nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), (276– 279) 278. Schweizer Kirchen im Konkordat: Kompetenznachweise (s. Anm. 9), 283. Österreich, Evangelische Kirche A. B. und H. B.: Richtlinien Ausbildung (s. Anm. 21), 339. Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn: Studienplan (s. Anm. 22), 278. Schweizer Kirchen im Konkordat: Die Entwicklungsorientierte Eignungsabklärung KEA. Ausführungsbestimmungen mit Anhängen für die KEA, 2009, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 284–285. Schweizer Kirchen im Konkordat: Kompetenznachweise (s. Anm. 9), 283; Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern: Dienstzeugnis (s. Anm. 9), 306; Österreich, Evangelische Kirche A. B. und H. B.: Richtlinien Ausbildung (s. Anm. 21), 339. Österreich, Evangelische Kirche A. B. und H. B.: Richtlinien Ausbildung (s. Anm. 21), 339. Standards für die zweite Ausbildungsphase (s. Anm. 13), 141. Evangelische Kirche in Hessen und Nassau: Rechtsverordnung über die Zweite Theologische Prüfung, 2010, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), (319–321) 320. Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern: Dienstzeugnis (s. Anm. 9), 306; Österreich, Evangelische Kirche A. B. und H. B.: Richtlinien Ausbildung (s. Anm. 21), 339.

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– aber auch die Fähigkeit, unterschiedliche Ausprägungen von Spiritualität kritisch zu befragen,32 – die Fähigkeit, Menschen in deren spirituellen Prozessen zu begleiten.33 Diese drei Teilbereiche haben in den Ausbildungsstandards unterschiedliches Gewicht. Wenngleich manche Ausbildungsstandards eine Reihe von Fähigkeiten in Bezug auf die persönliche Spiritualität nennen, so spielen diese für die Gesamtheit der Texte eine vergleichsweise geringe Rolle. Kommunikative Fähigkeiten im Feld der Spiritualität nehmen dagegen breiten Raum ein und werden mit weitem Abstand am häufigsten genannt. »Spirituell kompetent« im Sinne der Ausbildungsstandards ist vornehmlich ein Pfarrer, eine Pfarrerin, die die eigene spirituelle Sozialisation reflektiert hat, sie kommunizieren kann und in der Lage ist, wertschätzend Menschen anderer spiritueller Prägung zu begegnen.34

3

Die Evaluation »spiritueller Kompetenz«

»Zur Arbeit mit Standards und Kompetenzen gehören […] zwingend Angaben zur Messbarkeit und Prüfbarkeit.«35 Was bedeutet das für die Evaluation spiritueller Kompetenz? Evaluieren Prüfungskommissionen, ob Vikarinnen und Vikare ausreichend spirituell kompetent sind? Werden Noten für spirituelle Kompetenz vergeben? In der Analyse wurde deutlich: Viele Kirchen formulieren Ausbildungsziele, die Spiritualität mit einschließen, ohne diese zu evaluieren. Die Ausbildungsstandards bringen gelegentlich explizite Zurückhaltung in Bezug auf Evaluationen zum Ausdruck. »Authentizität«, »Glaubwürdigkeit« und »Spiritualität« in der Beschreibung eines kompetenten Pfarrers sind Begriffe, die zu Recht andeuten, dass sich manches in letzter Konsequenz der Beurteilung durch Menschen entziehen mag und erinnern innerhalb von Lern- und Prüfungsprozessen daran, dass nicht alles messbar ist, was einen guten Pfarrer, eine gute Pfarrerin ausmacht.36

Dagegen evaluiert jedoch die Mehrheit der Kirchen, die explizit von »spiritueller Kompetenz« sprechen und diese als professionelle Anforderung ausweisen, diese 32 Evangelische Kirche der Pfalz: Predigerseminar (s. Anm. 8), 335. 33 Schweizer Kirchen im Konkordat: Ausführungsbestimmungen zur Prüfungsordnung, 2008, zitiert nach: Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 281. 34 Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 126–130. 35 Friedrich Schweitzer: Bildungsstandards auch für Evangelische Religion?, in: ZPT 3 (2004), (236–241) 239. 36 Evangelische Kirche der Pfalz: Predigerseminar (s. Anm. 8), 334.

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auch am Ende des Vikariats.37 Die Kirchen tun das allerdings auf diverse Weise und mit unterschiedlicher Reichweite.

3.1

Modelle der Evaluation

Drei verschiedene Modelle der Evaluation spiritueller Kompetenz sind zu verzeichnen: a. Überprüfung von Mindestanforderungen: In Kirchen wie den 18 Schweizer Landeskirchen im Konkordat gibt es Eignungsabklärungen, in denen Kommissionen evaluieren, ob Vikarinnen und Vikare über Mindestanforderungen verfügen. Diese Empfehlungen können auch Kompetenzen im Bereich der Spiritualität berücksichtigen und entscheiden über die Zulassung zur praktischen Prüfung und damit über die weitere berufliche Laufbahn. b. Evaluation durch ein mehrstufiges Bewertungssystem: Daneben findet sich die Evaluation spiritueller Kompetenz durch ein mehrstufiges Bewertungssystem, das zwischen »besonderen Fähigkeiten«, »Normalbereich«, »Entwicklungsbedarf« und »gravierenden Mängeln« differenziert. Die Evaluation bezieht sich sowohl auf »spirituelle Kompetenz« als Integral wie auch auf einzeln ausgewiesene Teilkompetenzen. Das Dienstzeugnis der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern am Ende des Vikariats evaluiert auf diese Weise etwa die Sprachfähigkeit einer Vikarin, eines Vikars in Bezug auf die eigene Spiritualität. Abweichungen vom Normalbereich nach unten und oben (also »besondere Fähigkeiten«, »Entwicklungsbedarf« und »gravierende Mängel«) sind durch einen ausformulierten Kommentar zu begründen.38 c. Evaluation durch eine Notenskala von 1 bis 5: Schließlich evaluiert die Evangelische Kirche in Österreich in Anlehnung und Weiterführung des Modells der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern spirituelle Kompetenz durch eine Notenskala von 1 bis 5 (»sehr gut«, »gut«, »befriedigend«, »genügend«, »nicht genügend«). Spirituelle Kompetenz wird sowohl in der Gesamtbeurteilung als auch in einzelnen Teilkompetenzen (z. B. die Fähigkeit zur wertschätzenden Kommunikation mit Menschen anderer spiritueller Prägung) benotet. »Besondere Fähigkeiten«, »Entwicklungsbedarf« und »gravierende Mängel« sind wie-

37 Das sind die 18 Schweizer Kirchen im Konkordat, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern und die Österreichische Evangelische Kirche A. B. und H. B. 38 Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern: Dienstzeugnis (s. Anm. 9), 306.

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derum als Abweichungen vom Normalbereich durch eine verbale Beurteilung zu begründen.39 Damit ist festzuhalten: In den Ausbildungsordnungen sind sowohl Zurückhaltung gegenüber der Messbarkeit und Prüfbarkeit von Spiritualität zu verzeichnen als auch mehrere Modelle zur Evaluation von spiritueller Kompetenz. Die Spannbreite, die sich zwischen der Vorstellung, dass Spiritualität nicht messbar ist, und der Notenvergabe für spirituelle Kompetenz erstreckt, ist beträchtlich.

3.2

Reichweite der Evaluation

Was wird evaluiert, wenn die spirituelle Kompetenz einer Vikarin, eines Vikars beurteilt wird? Dass dies nicht offensichtlich ist, mag sich bereits aus den in Abschnitt 2 differenzierten Teilbereichen spiritueller Kompetenz erschließen. Das folgende Zitat der ehemaligen Personalreferentin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zeigt, dass die Frage, was Gegenstand der Evaluation sein soll und was nicht, durchaus diskutiert wird: Die Einführung der spirituellen Kompetenz in den neunziger Jahren war […] heikel. Bei dieser Einführung war es wesentlich, klarzustellen: Es geht nicht um die Beurteilung der Gottesbeziehung und es geht hier nicht um die Zensur des Glaubens, der allein Werk des Heiligen Geistes sein kann. […] Beurteilt werden kann und soll lediglich die Kommunikation und ihre Reflexion im Feld der Spiritualität.40

Aufgrund der Analyse der Ausbildungsstandards ist zunächst festzuhalten: Für alle drei in Abschnitt 2 systematisierten Teilbereiche sind Evaluationen belegt. Evaluiert wird a. Persönliche Spiritualität: – die Fähigkeit zur Klärung, Entfaltung, Weiterentwicklung und Pflege einer eigenen Spiritualität, – das Erleben der persönlichen Spiritualität als konstitutiv für die eigene theologische und pfarrerliche Existenz. b. Sachwissen: – Sachkenntnisse zu spirituellen Formen und Methoden, – Sachwissen über unterschiedliche spirituelle Strömungen, – Sachwissen über die Geschichte von Spiritualität. 39 Österreich, Evangelische Kirche A. B. und H. B.: Richtlinien Ausbildung (s. Anm. 21), 339. 40 Dorothea Greiner: Geistliche Begleitung – mehr als Personalentwicklung, in: dies. u. a. (Hg.): Wenn die Seele zu atmen beginnt …. Geistliche Begleitung in evangelischer Perspektive, Leipzig 2007, (300–317) 307.

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c. Kommunikation von Spiritualität: – die Fähigkeit, den eigenen spirituellen Weg darzustellen und zu reflektieren, – die Fähigkeit, über die eigene Spiritualität Auskunft zu geben, – die Fähigkeit zur wertschätzenden Wahrnehmung verschiedener Frömmigkeitsformen, – die Fähigkeit zur wertschätzenden Kommunikation mit Menschen anderer spiritueller Prägung, – die Fähigkeit, Menschen auf einem spirituellen Weg zu begleiten. Für den besonders sensiblen Bereich der persönlichen Spiritualität ist zu präzisieren: Zwar fragt rund die Hälfte der analysierten Kirchen auch nach der persönlichen Spiritualität von Vikarinnen und Vikaren. Entsprechend der zitierten Differenzierung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern begrenzt sich die Evaluation jedoch in der Regel auf die formale Ebene der Klärung, Weiterentwicklung und Kommunikation der persönlichen Spiritualität.41

4

Funktionale Fokussierung von Spiritualität

Wenn die Ausbildungsstandards der Schweiz, Deutschlands und Österreichs Spiritualität thematisieren, haben sie die künftige Berufsaufgabe im Blick. Das Anliegen der Texte sind die Anforderungen des Pfarrberufs. Leitend sind Fragen wie: Welche Fähigkeiten, welches Sachwissen braucht eine Pfarrerin, ein Pfarrer in einer Gemeinde, deren spirituelles Profil nicht dem eigenen entspricht? Was brauchen sie, um Menschen auf ihrem je individuellen spirituellen Weg begleiten zu können? Anders formuliert: Die Ausbildungsstandards fragen nicht danach, ob eine angehende Pfarrerin, ein angehender Pfarrer fromm ist. Die Ausbildungsstandards postulieren – und evaluieren – aber sehr wohl, ob angehende Pfarrerinnen und Pfarrer spirituell kompetent sind.

41 Diese formale Ebene wird ausschließlich in der Evangelischen Kirche in Österreich überschritten, die evaluiert, ob die persönliche Spiritualität als konstitutiv für die eigene theologische und pfarrerliche Existenz erlebt wird. Für weitere Details zur Evaluation siehe Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 136–141.

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4.1

197

Evangelisches Proprium des deutschen Sprachraums

Die funktionale Fokussierung von Spiritualität auf die Berufsaufgabe hin entspricht dem Kontext Ausbildung und ist insofern stimmig. Dies wirft jedoch die Frage auf, ob die Verbindung von Spiritualität und Können, die die evangelischen Texte durchzieht, ausschließlich durch den Kontext Ausbildung bedingt ist. Im Außenvergleich mit den Ausbildungsstandards der römisch-katholischen Priesterbildung sowie der anglikanischen Church of England und der Evangelical Lutheran Church in America erwies sich: Weder die Verlautbarungen zur katholischen Priesterbildung noch die Richtlinien der anglikanischen Kirche Englands oder der Evangelical Lutheran Church in America stellen Spiritualität in einen Zusammenhang mit Kompetenzen. Sie alle verhandeln Spiritualität nicht als spirituelle Kompetenz, sondern stattdessen als spirituelle Bildung bzw. spiritual formation. In charakteristischer Unterscheidung zu den evangelischen Standards des deutschen Sprachraums entwickeln die katholischen Texte zur Priesterbildung Spiritualität nicht funktional vom künftigen pastoralen Dienst als ihrem Ziel her, sondern vielmehr ontologisch als Einübung in eine Existenzweise. Auch die anglikanischen und amerikanisch-lutherischen Texte verstehen Spiritualität nicht funktional. Die Richtlinien der anglikanischen Church of England profilieren spiritual formation geradezu als kritische Anfrage an die Orientierung an Kompetenzen und Effektivität. Dies findet einen Widerhall in den amerikanisch-lutherischen Texten, die Spiritualität eng auf die Rechtfertigung sola gratia beziehen. Vor dem Hintergrund dieses Außenvergleichs kann daher festgehalten werden: Wenn evangelische Ausbildungstexte der Schweiz, Deutschlands und Österreichs Spiritualität in die Perspektive von Kompetenzen und Fähigkeiten einordnen, liegt dies nicht (nur) am Kontext Ausbildung. Die evangelischen Standards haben vielmehr weiterreichende Gründe, Spiritualität als spirituelle Kompetenz zu verhandeln. Hier kommt ein funktionales Verständnis von Spiritualität zum Tragen, das sich markant von den katholischen – und anglikanischen – ontologischen Entwürfen unterscheidet und auch in der amerikanischlutherischen Kirche nicht zu verzeichnen ist. Die funktionale Fokussierung von Spiritualität ist ein evangelisches Proprium des deutschsprachigen Raums.42

42 Zu Spiritualität in den Ausbildungsrichtlinien der Ökumene siehe Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 186–214.

198 4.2

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Funktionales Amtsverständnis und Kompetenzen für den Pfarrberuf

Dass die evangelischen Ausbildungsstandards der Schweiz, Deutschlands und Österreichs Spiritualität mit Blick auf die Berufsaufgabe thematisieren, entspricht der funktionalen Bestimmung des protestantischen Pfarrberufs, über die in der pastoraltheologischen Diskussion weitgehender Konsens besteht: Das protestantische Pfarramt trägt seine funktional orientierte Bestimmung in distinkter Gegenüberstellung zum katholischen Priester von Anfang an mit sich. Nicht eine durch die Weihe zugeeignete besondere Qualität, sondern allein in der mit der Ordination verbundenen Beauftragung zur Verkündigung des Evangeliums liegt das Wesen des geistlichen Amtes begründet. […] In der funktionalen Betrachtungsweise des protestantischen Pfarramts liegt durchaus »eine große Kontinuität«, die mit seinem Ursprung und seiner theologischen Ausdrücklichkeit in Übereinstimmung zu bringen ist.43

Dieser funktionalen Bestimmung des Berufs korrespondiert die Kompetenzorientierung der Ausbildung. In jüngerer Zeit wurde die Kompetenzorientierung insbesondere von Eilert Herms prononciert vertreten, der bereits rund zwei Jahrzehnte vor der Jahrtausendwende, als »Kompetenz« zu einem Schlüsselbegriff des Bildungsdiskurses avancierte, den Leitbegriff »theologische Kompetenz« in die Diskussion einbrachte.44 In der Folge kamen in der kirchlichen Ausbildung eine Reihe weiterer Kompetenzanzeigen wie »kommunikative Kompetenz«, »kybernetische Kompetenz« und eben »spirituelle Kompetenz« dazu.45

4.3

Stärken des Konzepts »spirituelle Kompetenz«

Die funktionale Fokussierung von Spiritualität hat mehrere Stärken. Sie trägt erstens der Professionalisierung des Pfarrberufs Rechnung. Durch die Verbindung mit dem harten Kompetenzbegriff bedeutet Spiritualität keine Aufgabe von Professionalität, sondern eine Erweiterung des Spektrums der Professionalität um den Bereich der Spiritualität. Vor dem Hintergrund, dass Spiritualität bisweilen mit Antiintellektualismus und Wissenschaftsfeindlichkeit gleichgesetzt wird, impliziert »spirituelle Kompetenz« zweitens die Vereinbarkeit von Spiri43 Birgit Weyel: Praktische Bildung zum Pfarrberuf. Das Predigerseminar Wittenberg und die Entstehung einer zweiten Ausbildungsphase evangelischer Pfarrer in Preußen (Beiträge zur historischen Theologie 134), Tübingen 2006, 2. 44 Eilert Herms: Was heißt »theologische Kompetenz«?, in: Albrecht Beutel u. a. (Hg.): Homiletisches Lesebuch. Texte zur heutigen Predigtlehre, Tübingen 1986, 189–202. 45 Siehe Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 225– 229.

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tualität und Wissenschaftlichkeit. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass die Dokumente, die den Terminus »spirituelle Kompetenz« explizit verwenden, diesen in der Regel »theologischer Kompetenz« nebenordnen. Drittens ist »spirituelle Kompetenz« anschlussfähig für andere Professionalisierungsdiskurse, die ebenfalls Spiritualität zu berücksichtigen suchen. Dies gilt insbesondere für Medizin und Psychologie, wo eine kaum mehr zu überblickenden Menge von Studien auf den salutogenetischen Nutzen von Spiritualität als Ressource und als Faktor von Resilienz fokussiert. In diesem Zusammenhang wird auch die spirituelle Kompetenz von Ärztinnen und Therapeuten – im deutschsprachigen Raum auch von Mitarbeitenden von Diakonie und Caritas – diskutiert.46

4.4

Kritik am Konzept »spirituelle Kompetenz«

Texte aus dem Umfeld der Ausbildungsstandards äußern jedoch bisweilen leidenschaftliche Kritik an der Ausweitung des Kompetenzbegriffs auf die Spiritualität: Problematisch ist […] der Kompetenzbegriff selbst. Er reduziert den Vorgang der Bildung auf das Anlegen von »Kompetenzkapital« um der Beschäftigungschancen willen. […] Menschen werden […] umgeformt zu »human resources«. Sie sind »Kompetenzmaschinen«, die auf einem Markt permanent miteinander konkurrieren. Diese Logik wirkt bis in die Spiritualität hinein. Demnach ist »die Entwicklung einer persönlichen Praxis des Glaubens, Spiritualität« in erster Linie die Aufgabe des Einzelnen, eine zu erwerbende Kompetenz.47

Tatsächlich versteht die theologische Diskussion Spiritualität geradezu als Gegenbegriff zu Funktionalität. So profiliert beispielsweise Christian Möller »Spiritualität« als hellen Kontrapunkt und »Hoffnungswort« in einer dunklen Welt, die er als funktional verwaltet und zielorientiert verplant zeichnet: Es gibt Begriffe, die einem Stern gleichen, der am Horizont aufgeht und heller und heller zu leuchten beginnt. »Spiritualität« scheint mir gegenwärtig so ein Begriff zu sein. Je dunkler eine funktional verwaltete und zielorientiert verplante Welt wird, desto heller leuchtet das Hoffnungswort »Spiritualität«. Es weckt Sehnsucht nach einer Welt, die sich funktional nicht in den Griff kriegen lässt, weil sie zwecklos ist und gerade deshalb das Leben lebenswert macht.48 46 Zu den Stärken des Konzepts »spirituelle Kompetenz« und zu Spiritualität in Medizin und Psychologie siehe Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 229–231, 234. 47 Jochen Cornelius-Bundschuh/Peter Scherle: Die zweite Theologische Ausbildung im Horizont der Bildung für den Pfarrdienst, in: PTh 97 (2008), (420–436) 434. 48 Christian Möller: Das Kloster im Alltag. Reformatorische Spiritualität als Leidenschaft für das Alltägliche, in: Ralph Kunz/Claudia Kohli Reichenbach (Hg.): Spiritualität im Diskurs. Spi-

200

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Was Spiritualität nach Möller ausmacht, ist ihre Zweckfreiheit. Sie orientiert sich nicht an Zielen und ist nicht auf Effizienz ausgerichtet. Spiritualität fügt sich damit nicht bruchlos in eine Welt, die nach dem Nutzen von Menschen und Handlungen fragt. Sie fügt sich damit ebenso wenig bruchlos in eine Ausbildung, die sich am pastoralen Output orientiert.49

5

Das Spannungsfeld von Funktionalität und Zweckfreiheit

Ist der Spiritualitätsbegriff ein Kontrapunkt zu funktionalen Weltzugängen, dann ist dies für die Frage nach Spiritualität in der Ausbildung zum Pfarrberuf zu berücksichtigen. Daran erinnert Michael Meyer-Blanck in einem Beitrag zum Gottesdienst als Zentrum praktisch-theologischer Didaktik: »Geistliches Leben hat seinen Zweck darin, zweckfrei zu sein. Darum darf die Ausbildung der geistlichen Persönlichkeit, oder schlichter: die Ausbildung zum geistlichen Beruf, nicht in einer schlichten Ziel-Mittel-Relation gedacht werden«.50 Als fruchtbarer Ansatz, um das Spannungsfeld von Funktionalität und Zweckfreiheit weiter zu bearbeiten, erwies sich in der Studie Friedrich Schleiermachers fundamentale Unterscheidung zwischen wirksamem und darstellendem Handeln. Als wirksames Handeln bezeichnet Schleiermacher die »productive Thätigkeit«51, die auf Zwecke richtet, Veränderungen erzeugen und etwas bewirken will. Im Gegensatz dazu ist das darstellende Handeln nicht an äußeren Zwecken ausgerichtet, zielt nicht auf Veränderungen und will nichts bewirken. »Es giebt Thätigkeiten, durch welche der Mensch nichts erreichen will, und alle Darstellung, alles Spiel ist allerdings dieser Art«52. Im darstellenden Handeln repräsentiert sich »eine andere und eigene Beziehung des Menschen zu sich selbst und zur Lebenswelt, die nicht durch Zwecke außerhalb ihrer selbst konstituiert ist. Der Zweck des darstellenden Handelns liegt vielmehr in ihm selber

49 50

51

52

ritualitätsforschung in theologischer Perspektive (Praktische Theologie im reformierten Kontext 4), Zürich 2012, (73–80) 73. Zu diesem Konfliktpotenzial siehe Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 231–235. Michael Meyer-Blanck: Geistliche Bildung. Wie lernen Pfarrerinnen und Pfarrer das öffentliche Gebet?, in: Roger Mielke/Heiner Süselbeck (Hg.): Grundlagen und Vollzüge pastoraler Existenz. Beiträge aus akademischer Theologie und kirchlicher Praxis. Festschrift für KarlAdolf Bauer zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2002, (51–59) 51. Friedrich Schleiermacher: Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen (Sämmtliche Werke 1,12), hg. v. Ludwig Jonas, Berlin 2 1884, 70. Schleiermacher: Christliche Sitte (s. Anm. 51), 37.

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[…].«53 Schleiermachers zentrales Beispiel für darstellendes Handeln im Bereich der kirchlichen Praxis ist der Gottesdienst. Im Gottesdienst sistiert alle sonstige, auf Zwecke gerichtete Geschäftigkeit zugunsten eines Handelns das – wie das Spiel und die Kunst – nicht von Nebenabsichten bestimmt ist, sondern seinen Zweck in sich selbst trägt. Schleiermachers Unterscheidung zwischen wirksamem und darstellendem Handeln erlaubte es, im Zusammenhang mit Spiritualität die beiden Pole Funktionalität und Zweckfreiheit zu profilieren. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung gelang es darüber hinaus, Kriterien für ein sensibles Zusammenspiel von Funktionalität und Zweckfreiheit zu entwickeln und kritische Punkte (wie etwa die Evaluation »spiritueller Kompetenz«) herauszuarbeiten, die dieses Zusammenspiel beeinträchtigen.54

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Fazit und Ausblick

Die aktuellen Ausbildungsstandards für den evangelischen Pfarrberuf orientieren sich am Leitbild der Pfarrerin, des Pfarrers, deren Professionalität auch Kompetenzen im Bereich der Spiritualität umfasst. Die Texte entfalten damit Spiritualität in funktionaler Perspektive. Diese spezifische Zuspitzung von Spiritualität ist ein Proprium der evangelischen Ausbildung des deutschen Sprachraums, das Stärken hat und zugleich ein Spannungsfeld schafft. Dieses Spannungsfeld gilt es, in der Praxis zu berücksichtigen und in weiteren empirischen und theologischen Auseinandersetzungen mit dem Thema zu bearbeiten. Weiterer Forschungsbedarf besteht zum einen im Bereich der Empirie. Die Studie fokussierte auf die Konzepte von Spiritualität, die sich in den Texten abzeichnen. Aber wie werden diese Ausbildungsdesiderate und insbesondere die Evaluation »spiritueller Kompetenz« von Vikarinnen und Vikaren rezipiert? Wirken sie sich fördernd auf persönliche Spiritualität und die Reflexion über diese aus, oder sind sie eher ein Störfaktor? Was folgt daraus für die »spirituelle Kompetenz« angehender Pfarrerinnen und Pfarrer? Diese Fragen lassen sich nur durch weitere empirische Studien beantworten, die wichtige Bezugsgrößen sind, um die aktuelle Praxis zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Zugleich bedarf es aber auch einer weiteren theologischen Auseinandersetzung. Ein Theoriebedarf besteht erstens insofern, als die Integration von Spiritualität in die Ausbildung zum Pfarrberuf Grundfragen der Theologie wie die 53 Dietrich Rössler: Unterbrechungen des Lebens. Zur Theorie des Festes bei Schleiermacher, in: Peter Cornehl/Friedrich Wintzer (Hg.) »… in der Schar derer, die da feiern«. Feste als Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion, Göttingen 1993, (33–40) 37. 54 Siehe dazu Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativ-empirische Studie (s. Anm. 1), 235–251.

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Sabine Hermisson

Verhältnisbestimmung von Theologie und Spiritualität und das Wissenschaftsverständnis der Theologie berührt. Dies zeigt ein Blick in die USA, wo in den 1980er Jahren zwei Debatten zeitlich parallel und sich gegenseitig verschränkend geführt wurden: die Diskussion um spiritual formation und die von Theologen wie Edward Farley und David Kelsey initiierte theological education debate, die zentral nach dem Wesen und Ziel theologischer Ausbildung und damit der Theologie überhaupt fragte.55 Zweitens sind spiritualitätstheologische Themen zu berücksichtigen. Ist Spiritualität lehr- oder lernbar? 56 Was leistet die Integration von Spiritualität in Theologiestudium und Vikariat? Wie kann der spirituellen Pluralität der Postmoderne Rechnung getragen werden? Erst auf der Grundlage weiterer empirischer Analysen sowie theologischer Theoriebildung werden sich die volle Leistungsfähigkeit sowie die Grenzen der Vorstellung erweisen, dass »spirituelle Kompetenz« zur gelingenden Erfüllung der pastoralen Berufsaufgabe beiträgt.57

55 Siehe dazu George Lindbeck: Spiritual Formation and Theological Education, in: Theological Education 24, Supplement 1 (1988), 10–32; Edward Farley: Theologia. The Fragmentation and Unity of Theological Education, Philadelphia 1983; David Kelsey: Between Athens and Berlin. The Theological Education Debate, Grand Rapids 1983; ders.: To Understand God Truly. What’s Theological about a Theological School, Louisville 1992. 56 Zur Frage von Lehr- und Lernbarkeit von Spiritualität siehe Reinhold Boschki/Jan Woppowa: Kann man Spiritualität didaktisieren? Bildungstheoretische und beziehungstheoretische Grundlegungen spirituellen Lehrens und Lernens, in: Stefan Altmeyer u. a. (Hg.): Christliche Spiritualität lehren, lernen und leben. Unserem Freund, Lehrer und Kollegen Gottfried Bitter CSSp zu seinem 70. Geburtstag am 24. Oktober 2006, Göttingen 2006, 67–84, und Stefan Altmeyer/Jan Woppowa: Spiritualität lernen, in: KatBl 131 (2006), 440–446. 57 Für weitere Ausführungen dazu siehe Hermisson: Spirituelle Kompetenz. Eine qualitativempirische Studie (s. Anm. 1), 253–254.

Reinhold Becker

Sprachfähig – vernetzt – authentisch. Kompetenzorientierte Ausbildung für den Pfarrberuf im Kanton Bern/Schweiz

Seit den 1960er Jahren hat eine tief greifende soziokulturelle Transformation die westlichen Gesellschaften erfasst, deren Folgen die großen christlichen Kirchen des deutschen Sprachraums vor bedrängende Herausforderungen stellen. Die gewandelten Bedingungen des sozialen und kulturellen Umfelds erfordern erhebliche Anpassungsleistungen in allen Bereichen des kirchlichen Handelns. Pfarrpersonen1 sind als signifikante Repräsentanten und Akteure der lokalen Kirchgemeinden in ihrem beruflichen und persönlichen Leben von den Veränderungen in unmittelbarer Weise betroffen. Das Berufsbild verändert sich. Das kann nicht ohne Folgen bleiben für die theologische Ausbildung und die Bestimmung der zur Berufsausübung erforderlichen professionellen Kompetenzen.

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Grundlinien der soziokulturellen Transformation und Folgen für das kirchliche Handeln

Differenzierung: Aus systemtheoretischer Sicht ist die evolutionäre Entwicklung natürlicher und gesellschaftlicher Systeme bestimmt durch unablässig fortschreitende Differenzierung.2 Die für das moderne Gesellschaftssystem charakteristische funktionale Differenzierung führt zur Ausbildung von unterschiedlichen Teilsystemen (z. B. Wissenschaft, Wirtschaft, Recht, Religion). Die sinnhafte Integration der Welt kann nicht mehr von einem einzelnen Punkt aus geleistet werden. Auch innerhalb der Teilsysteme setzt sich der Differenzierungsprozess fort. Die gesteigerte Komplexität erzeugt umgekehrt Bedarf an 1 Die Begriffe Pfarrperson und Pfarrschaft sind im Interesse diskriminierungsfreier Sprache seit einiger Zeit in den reformierten Kirchen der Schweiz in Gebrauch gekommen, sie werden hier weitgehend übernommen. Wo dies nicht der Fall ist, ist bei der Berufsbezeichnung jeweils das andere Geschlecht mitgemeint. 2 Vgl. Niklas Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977; ders.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984.

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Reduktion von Komplexität. Der spezifische Beitrag der Religion liegt in der Überführung von unbestimmter Kontingenz in bestimmte Kontingenz. Der von vielen kirchlichen Akteuren krisenhaft erlebte Verlust an gesellschaftlicher Relevanz, die innerkirchlichen Segmentierungen und das veränderte Teilnahmeverhalten können als Folgen übergreifender Differenzierungsvorgänge verstanden werden. Individualisierung: Die Individualisierung der Moderne ist bestimmt von drei Momenten: Freisetzung aus vorgegebenen sozialen Bindungen, Verlust der traditionalen Handlungsorientierungen und neue Formen der Integration in die Gesellschaft.3 Das aus Zwängen freigesetzte Individuum steht vor der Notwendigkeit, das eigene Leben selbst zu rekonstruieren. Das Subjekt ersetzt soziale Zuschreibung durch individuelle Wahl. Die sich daraus ergebende Pluralisierung der Überzeugungen und Praktiken relativiert die traditionalen Orientierungsmuster. Diese Verschiebung hat einen institutionskritischen Kern. Sie führt im Bereich des Bekenntnisses zu wachsender Distanz gegenüber normativen Grenzziehungen und verstärkt Formen individualisierter Spiritualität gegenüber institutionellen Formen religiöser Praxis. Optionierung: Die Freisetzung aus Zwängen (Obligationen) führt zur scheinbar endlosen Vermehrung von Möglichkeiten (Optionen).4 An die Stelle vormoderner Gewissheiten tritt eine prinzipielle Optionierung. Das Subjekt muss sich fortwährend entscheiden. Aus der Steigerung der Möglichkeiten, dem »bigger, better, faster, more« (Peter Gross) 5, ergibt sich wachsende Orientierungslosigkeit. Zudem sind die realen Möglichkeiten der Teilhabe begrenzt. Darin liegt eine Grundverlegenheit der Moderne. – In den Kirchen begegnet die Optionierung u. a. in der Veränderung des Mitgliedschaftsverhaltens und in der Individualisierung der religiösen Bedürfnisse. Neue Lebensstil-Milieus: Die erfolgte soziokulturelle Neuorientierung kann in vier Transformationen umschrieben werden: von der Sicherstellung des Überlebens zur Steigerung des Erlebens, vom außengeleiteten zum innengeleiteten Verhalten, vom Gebrauchswert zum Erlebniswert und von der hierarchischen Gesellschaft zur Gesellschaft nebeneinander existierender Milieus.6 Die »Erlebnisgesellschaft«7 markiert eine epochale gesellschaftliche Neuorientierung. Das Erlebnis bezeichnet die individuelle Schnittstelle zwischen der Welt der objektiven Gegebenheiten und der Welt der subjektiven Realisierungen. Damit wird 3 Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne (Edition Suhrkamp 1365), Frankfurt a. M. 1986. 4 Vgl. Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft (Edition Suhrkamp 1917), Frankfurt a. M. 1994. 5 Gross: Multioptionsgesellschaft (s. Anm. 4), 19. 6 Vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York 1992. 7 Schulze: Erlebnisgesellschaft (s. Anm. 6).

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die Innenseite des Individualisierungsvorgangs umschrieben, der die zentrale Stellung des Subjekts unterstreicht. Im Milieu als Erlebnisgemeinschaft verdichten sich spezifische Merkmale des individuellen Erlebens zu kollektiven Verhaltensweisen. Der soziale und ökonomische Status verliert an distinktiver Kraft, hingegen bestimmen Lebensalter und spezifische Erlebnisweisen die Zugehörigkeit zu Milieus und Szenen. Daraus ergeben sich weit reichende Folgen für das Selbstverständnis und die Aktionsweisen der Kirchen.

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Kirchliche Handlungsperspektiven für die Entwickelte Moderne

In den Volkskirchen führt der Wandel der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse zu einem erheblichen Anpassungsbedarf. Die evangelischen Kirchen in Österreich (EKÖ), Deutschland (EKD) und der Schweiz (SEK) haben auf die Herausforderung mit Veränderungsprogrammen unterschiedlicher Reichweite reagiert.8 Dabei lassen sich gemeinsame Themen und Intentionen erkennen: Der soziokulturelle Wandel markiert auf absehbare Zeit die Rahmen-Bedingungen des kirchlichen Handelns. Die Kirchen entwickeln sich zu mitgliederorientierten Organisationen. Sie erbringen erkennbare Leistungen, erneuern ihre Leitungs- und Entscheidungsstrukturen und verdeutlichen ihr Profil als wert- und zielorientierte Organisationen. Die Individualisierung religiöser Praxis und die Subjektivierung der Glaubensorientierung werden durch die verstärkte Wahrnehmung innerer Differenzierungen und zielgruppen-orientierte Angebote aufgenommen. Das diakonische Engagement der Kirchen ist in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und der Mitglieder von hervorragender Bedeutung und wird entsprechend bewertet.

8 Vgl. für die EKÖ Thomas Krobath u. a.: »Offen Evangelisch« – Die Evangelische Kirche in Österreich findet zu ihrer Organisationsentwicklung, in: Andreas Heller/Thomas Krobath (Hg.): Organisationsethik – Organisationsentwicklung in Kirchen, Caritas und Diakonie (Palliative Care und OrganisationsEthik 7), Freiburg i. Br. 2003, 47–77; Evangelische Kirche A. B. in Österreich, Projektgruppe Personalentwicklung der Organisationsentwicklung Offen Evangelisch (Hg.): Offen Evangelisch. Projekt Personalentwicklung Abschlussbericht, Wien 2006; EKÖ (Hg.): Handbuch zum Nasswalder Modell. Zwischenbericht aus der Organisationsentwicklung »Offen Evangelisch II«, Wien 2007; für die EKD Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.): Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006; für die Kirchen des SEK Jörg Stolz/Edmée Ballif: Die Zukunft der Reformierten. Gesellschaftliche Megatrends – kirchliche Reaktionen, Zürich 2010.

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Reformen können in den Kirchen nicht von oben nach unten durchgesetzt werden. Mitglieder und Mitarbeitende (einschließlich der Pfarrpersonen) müssen in Veränderungsprozesse einbezogen werden. Nur was in den Gemeinden praktisch wird, existiert in den Kirchen wirklich. Im Dilemma zwischen Veränderung und Beharrung werden in gemeinsamen Lernprozessen neue Handlungsräume eröffnet. Die gottesdienstliche Verkündigung steht im Zentrum der kirchlichen Angebote, sie sichert die Identität der reformatorischen Kirchen und bringt sie zur öffentlichen Darstellung. Dies entspricht sowohl der ekklesiologischen Selbstwahrnehmung als auch der empirischen Außenwahrnehmung der Kirchen. Darum gilt dem Gottesdienst besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt. Eine erneuerte Organisationskultur bildet die Grundlage für ein glaubwürdiges Erscheinungsbild der Kirchen und ihres Handelns in der Welt. Dieses Erscheinungsbild wird unter den Bedingungen einer veränderten medialen Kommunikationskultur durch verstärkte Öffentlichkeitsarbeit sichtbar gemacht. Auch in den neuen Organisationsformen gehören Pfarrpersonen zu den signifikanten Akteuren. Der Entwicklung und Sicherung ihrer fachlichen, sozialen und persönlichen Kompetenzen widmen die Kirchen besondere Aufmerksamkeit. Sie entwickeln ein angemessenes Personal- und Qualitätsmanagement. Dazu gehören die Verdeutlichung von gemeinsamen Zielen und Werten, die Beschreibung von erreichbaren und überprüfbaren Zielen und eine Kultur der Anerkennung und Wertschätzung.

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Der Pfarrberuf – Schlüsselberuf oder Auslaufmodell?

Eine Verständigung über den Auftrag und die Berufsrolle von Pfarrpersonen ist aus verschiedenen Gründen notwendig geworden. Die Verkündigung des Evangeliums verliert in der öffentlichen Wahrnehmung an Relevanz. Wenn zudem die Inhalte des Bekenntnisses zur privaten Option werden, steht die Plausibilität des für das evangelische Predigtamt zentralen Verkündigungsauftrages auch binnenkirchlich in Frage. Die drohende Marginalisierung betrifft den Pfarrberuf im Kern. Die daraus erwachsende Verunsicherung führt nicht selten zur Kompensation durch vermehrte Aktivitäten in anderen Tätigkeitsfeldern. Durch ihr Tun und durch ihr Sein bringen Pfarrpersonen in personal vermittelter Form die geistliche Dimension des kirchlichen Handelns zur öffentlich wahrnehmbaren Darstellung. Die Berufsrolle der symbolischen Repräsentation steht in Spannung zu Tendenzen der Entflechtung von Funktion und Person. Wo im Spannungsfeld von Amt, Funktion und Person Außen-Wahrnehmungen der Berufsrolle, Selbst-Wahrnehmungen der Pfarrpersonen und innerkirchliche Rollenzuweisungen nicht mehr zur Deckung gebracht werden können, wird das

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Berufsbild undeutlich. Im traditionellen Begriff des Pfarr-Amtes waren die beruflichen Funktionen und die persönlichen Bereitschaften zu einer ganzheitlichen Lebens- und Arbeitsweise verschmolzen. Dieses Amalgam löst sich unter dem Einfluss funktionaler Differenzierungen und einer Veränderung der persönlichen Bereitschaften in zunehmendem Maß auf. In der gemeindlichen Praxis hingegen verdichten sich unterschiedliche und mitunter widersprüchliche Erwartungen nicht selten zu idealisierenden Überforderungen, die sich auf die beruflichen Kompetenzen und die persönlichen Haltungen und Bereitschaften der Pfarrperson gleichermaßen beziehen. Die daraus erwachsenden Spannungen können dauerhaft nicht personal aufgelöst werden. Das spricht für eine Entflechtung von Funktion und Person. Die Entflechtung ist freilich mit erheblichen Risiken und Nebenwirkungen für die Kirchen verbunden, weil die authentische personale Repräsentation der message und ihrer Sozialformen für die Wahrnehmung des christlichen Glaubens unverzichtbar ist. Schließlich ist zu vermuten, dass die Regionalisierung kirchlicher Organisationsstrukturen, die Differenzierung der innerkirchlichen Berufe, das Nebeneinander von spezialisierten Funktions-Pfarrstellen und integralen Gemeinde-Pfarrämtern und die Vermehrung teilzeitlicher Beauftragungen die Tendenz zur funktionalen Aufgliederung des Pfarrberufs verstärkt und das Berufsbild weiter verändert. Dennoch wird mindestens in der öffentlichen Wahrnehmung mit erstaunlicher Konstanz an der Bedeutsamkeit des Pfarrberufs festgehalten.

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Berufsbild Pfarrperson und theologische Ausbildung

Der gesellschaftliche Wandel und seine Folgen für das Berufsbild der Pfarrpersonen sind in unterschiedlicher Weise wahrgenommen und bearbeitet worden. In der Praxis der lokalen Gemeinden und innerhalb der Pfarrschaft scheint eine pragmatische Haltung der kleinen Reformschritte zu überwiegen. In den Kirchenleitungen und den Theologischen Fakultäten wird seit geraumer Zeit über die Konturen eines zeitgemäßen Berufsbildes und eine Reform der Theologischen Ausbildung diskutiert.9 Das dreigliedrige Grundmodell Theologiestudium – Praxiseinführung – Fortbildung wird nicht in Frage gestellt. Die Reformvorschläge beziehen sich im Wesentlichen auf die stärkere Gewichtung 9 Vgl. dazu aus der EKD Kirchenkanzlei des Rates der EKD (Hg.): Theologiestudium – Vikariat – Fortbildung. Gesamtplan der Ausbildung für den Pfarrberuf (RthA 12), Stuttgart/Berlin 1978, ferner: Grundsätze für die Ausbildung und Fortbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen der Gliedkirchen der EKD (1988), in: Werner Hassiepen/Eilert Herms (Hg.): Grundlagen der theologischen Ausbildung und Fortbildung im Gespräch. Die Diskussion über die »Grundsätze für die Ausbildung und Fortbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen der Gliedkirchen der EKD«. Dokumentation und Erträge 1988–1993 (RthA 14), Stuttgart 1993, 13–80.

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der zukünftigen Berufspraxis, die Erweiterung des theologischen Wissenschaftsmodells durch handlungswissenschaftliche Ansätze und empirische Verfahren, die Erweiterung der theologischen Wissensbestände durch Rezeption von human- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und die vermehrte Wahrnehmung der subjektiven Gegebenheiten. Die 1999 angestoßene europäische Hochschulreform (Bologna-Prozess) hat zu einer Veränderung der Studienorganisation geführt. Dabei stehen die Neuorganisation der früheren Studiengänge in konsekutive Studienprogramme (Bachelor- und Master-Studien), die Modularisierung der Lerneinheiten, die Messung von Programminhalten und Lernleistungen (ECTS) und die Ausrichtung auf die Berufsfähigkeit (employability) im Vordergrund. Die Bologna-Reform unterstreicht den Ausbildungscharakter der universitären Studien. Die Kirchen erwarten von Pfarrpersonen eine begründete Urteils- und Handlungsfähigkeit auf den Handlungsfeldern kirchlicher Arbeit und die Übereinstimmung mit den Werten und Zielen der kirchlichen Organisation. In den drei Ausbildungsstufen Studium, Vikariat und Fortbildung werden die für den Beruf erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Motivationen aufgebaut, entwickelt und aufeinander bezogen. In neueren kirchlichen Konzepten werden die Fähigkeiten, die für die auftragsgemäße und professionelle Führung des Pfarramts erforderlich sind, verdichtet und umschlossen im Begriff der theologischen Kompetenz.10 Der Sache nach ist in diesem Begriff ein ureigenes Anliegen der Reformatoren festgehalten: Das Studium der Theologie dient der evangeliumsgemäßen Leitung der christlichen Gemeinde. Ziel der theologischen Ausbildung ist der Aufbau der erforderlichen beruflichen Kompetenz.

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Professionelle Kompetenz im Pfarrberuf

Die Berufs-Kompetenz der evangelischen Pfarrperson ist begründet im theologischen Urteilsvermögen, dem eine handlungsleitende Orientierungsfunktion zukommt. Diese Eigenschaft macht den Pfarrberuf zum kirchlichen Schlüsselberuf.11 Das Urteilsvermögen wird im theologischen Studium aufgebaut und in der berufspraktischen Einführung um das Können und Tun (Wahrnehmen, Handeln, Reflektieren) erweitert. Die Berufs-Kompetenz bezieht sich auf das sach- und situationsgerechte Handeln unter wechselnden Verhältnissen und muss daher entwicklungsfähig sein. Die spezifische professionelle Kompetenz 10 Vgl. Grundsätze für die Ausbildung und Fortbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen der Gliedkirchen der EKD (1988) (s. Anm. 9), 19. 11 Vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): Kirche der Freiheit (s. Anm. 8), 71 (Leitsatz zum 6. Leuchtfeuer).

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des evangelischen Pfarrberufs geht jedoch über das berufliche Handeln hinaus und umfasst auch den Bereich persönlicher Werthaltungen, Einstellungen und Bereitschaften.12 Diese komplexe professionelle Kompetenz kann nach drei Hinsichten verdeutlicht werden: Pfarrpersonen sind sprachfähig: Pfarrpersonen sollen die richtigen Worte finden und den christlichen Glauben in verschiedenen Situationen prägnant auf den Begriff bringen.13 In der christlichen Rede, die die theologisch verantwortete Deutung von wechselnden Situationen und der aus ihnen erwachsenden Handlungsherausforderungen einschließt, liegt ihre Kernkompetenz. Hier hat die Theologie ihren vornehmsten und unverzichtbaren Ort. Die Aufgabe, den christlichen Glauben zur Sprache zu bringen, impliziert nach evangelischem Verständnis die Intention der Verkündigung. Es geht nicht um die Erörterung religiöser Bedeutsamkeiten oder gültiger Wahrheit an sich, sondern um die Ausrichtung des guten Wortes von der barmherzigen Zuwendung Gottes. Aus dem befreienden Zuspruch erwächst jener evangelische Glaube (fides ex auditu), der die Freiheit des Menschen begründet. Diesen Glauben zu befördern ist Aufgabe der christlichen Rede. Sprachfähigkeit umschließt ein breites Spektrum von Redeweisen – apologetisch und argumentativ oder poimenisch und tröstlich, klärend und unterscheidend oder seelsorgend und aufbauend, Grenzen ziehend oder Brücken bauend. Geerdet, orientiert an der Lebenswelt der Hörerinnen und der Leser, und gleichzeitig dem Auftrag und der Sache, dem guten Wort Gottes und den Menschen verpflichtet, verständlich und im umfassenden Sinne kommunikativ. Pfarrpersonen sind vernetzt: Gesellschaftliche Differenzierung und wachsende Komplexität der Berufsaufgabe erfordern von den Pfarrpersonen vermehrt Fähigkeiten zur Zusammenarbeit. Dies gilt zunächst für die binnenkirchliche Kooperation in lokal oder regional arbeitenden gemischten Pfarr-Teams (Vollzeit, Teilzeit, Generalistin, Spezialist, Sonderauftrag), mit Angehörigen anderer kirchlicher Berufe (Diakone, Katechetinnen, Leitende Organe, Verwaltung, Dienste) und mit ehrenamtlichen/freiwilligen Mitarbeiterinnen. Darüber hinaus 12 Mit dem Hinweis auf diesen für »Professionen« berufstypischen Zusammenhang hat Isolde Karle die Diskussion über den Pfarrberuf aus vielen Verlegenheiten herausgeführt. Vgl. Isolde Karle: Was heißt Professionalität im Pfarrberuf ?, in: DtPfrBl 1/1999 (1999), 5–9; ausführlicher in dies.: Der Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der modernen Gesellschaft (PThK 3), Gütersloh 2001. 13 Diese Erwartung formuliert der gewiss unverdächtige Reinhard Bingener in der FAZ vom 18. April 2014 unter dem Titel »Auf den Pfarrer kommt es an«: »Denn die Fähigkeit, den christlichen Glauben in verschiedenen Situationen prägnant auf den Begriff zu bringen – das ist die Kernkompetenz eines Pfarrers. Sie erfordert ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, an Sprachgewandtheit, an geistiger Selbständigkeit.« (Reinhard Bingener: Auf den Pfarrer kommt es an, 2014, verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/kirche-auf-denpfarrer-kommt-es-an-12899342.html#/elections [19. 04. 2016]).

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vertreten Pfarrpersonen die kirchlichen Anliegen und tragen dazu bei, kirchliches Engagement gegenüber der Öffentlichkeit sichtbar und erfahrbar zu machen. Projektbezogene Zusammenarbeit, ökumenische Arbeitsgruppen, interreligiöse Plattformen, Kooperation mit verwandten zivilgesellschaftlichen Bewegungen, Mitarbeit in lokalen und regionalen Netzwerken stellen zeitgemäße Formen kirchlicher Arbeit in den veränderten Lebenswelten der Entwickelten Moderne dar. Gedeihliche Zusammenarbeit ist dabei gegründet auf die soziale Kompetenz zur Vernetzung von Menschen, Aufgaben und Funktionen. Pfarrpersonen sind authentisch: Werte und Intentionen werden wesentlich über authentische Personen vermittelt. Pfarrpersonen vertreten in der pluralisierten Gesellschaft nicht allein ihren persönlichen Glauben und ihr Ethos, sondern repräsentieren darüber hinaus Religion als mögliche Form heutiger Lebensdeutung und Lebensgestaltung. Als authentische Personen geben sie den christlichen Werten und Intentionen eine Stimme und ein Gesicht. Damit ist die Erwartung an sie verbunden, die Gültigkeit der Normen und Inhalte persönlich zu bezeugen und verlässlich zu verbürgen.14 Der sprachliche Zusammenhang von Beruf und Berufung signalisiert jene Kongruenz von Tätigkeit und Person, die für den Pfarrberuf als Profession charakteristisch ist. Die Übereinstimmung von beruflicher Tätigkeit und persönlichem Ethos ist vorzüglich in jenen Berufen bedeutsam, die unmittelbar mit existentiellen Anliegen anderer Menschen befasst sind und stellt eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen von Kommunikation und den Aufbau von Vertrauen dar.15 – Neben der Übereinstimmung mit sich selbst werden offen oder verdeckt weitere Erwartungen an die Pfarrperson herangetragen: die Übereinstimmung mit den Intentionen der Organisation (corporate identity) und den Normen der biblischen und kirchlichen Tradition (Credo). Damit sind hohe Ansprüche an die persönliche Kompetenz der Pfarrpersonen gestellt. Sie können im Verlauf lebensgeschichtlicher Entwicklungen und unter den realen Zwängen der beruflichen Praxis zu unheilvollen Überforderungen oder pathologischen Abspaltungen führen. Umso wichtiger ist es, im Interesse einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung den spezifischen Zusammenhang von Person und Profession kontinuierlich zu reflektieren (etwa in Formen supervisorischer Begleitung), idealisierende Überforderungen zu begrenzen und angemessene Kompensationen bereit zu stellen. Authentische Pfarrpersonen sind überzeugt und überzeugend, anschlussfähig an den gesellschaftlichen Werte-Diskurs, dialogfähig und glaubwürdig.

14 Zum Begriff des Bürgen vgl. Ernst Lange: Die Schwierigkeit, Pfarrer zu sein (1973), in: ders.: Predigen als Beruf. Aufsätze, hg. von Rüdiger Schloz, Stuttgart/Berlin 1976, 142–166. 15 Vgl. dazu die Arbeiten von Isolde Karle (s. Anm. 12), ferner Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität (Soziologische Gegenwartsfragen, NF 28), Stuttgart 1968.

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Beispiel Bern: Theologische Ausbildung als Aufbau von Kompetenzen

In den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn16 ist seit den 1990er Jahren in einem längeren Prozess ein erneuertes Modell der berufspraktischen Ausbildung von Pfarrpersonen (Lernvikariat) entwickelt und schrittweise eingeführt worden.17 Das Ausbildungsmodell kann in seinen Grundlinien so umschrieben werden: Integration der Ausbildungsphasen Studium – Vikariat – Fortbildung: Der Ausbildungsgang erstreckt sich vom theologischen Studium, das auf der Bachelor-Stufe ein Praktisches Semester in einer Kirchgemeinde einschließt, über die handlungsorientierte Ausbildung im Lernvikariat bis in den Bereich der berufsbegleitenden Weiterbildung. Die einzelnen Ausbildungsphasen finden ihre Einheit im Aufbau auftrags- und situationsgerechter Handlungsfähigkeit von Pfarrpersonen in den primären kirchlichen Handlungsfeldern. Das wissenschaftliche Studium der Theologie dient durch die reflektierende Begegnung mit den maßgeblichen Inhalten der biblischen und kirchlichen Tradition und den verschiedenen Formen des Glaubens in seinen geschichtlich gewordenen Lehrtraditionen und Sozialformen der Ausbildung theologischer Urteilsfähigkeit. Der konsekutive Studiengang umfasst auf der Bachelor-Stufe sechs Studiensemester (einschließlich Erwerb von Kenntnissen in den alten Sprachen und Praktisches Semester), der zweite Studienteil wird nach drei bis vier Semestern mit dem Master-Grad abgeschlossen. Durch das Praktische Semester werden Praxis-Erfahrungen aus dem zukünftigen Berufsfeld als Lern-Horizont in das universitäre Studium eingebracht. 16 Die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn sind ein Synodalverband von Kirchen aus drei Kantonen. Von den ca. 617 000 Mitgliedern gehören ca. 572 000 der Berner Kirche an, die damit die mitgliederstärkste reformierte Kirche der Schweiz ist. Die theologische Ausbildung der Berner Kirche ist eigenständig organisiert, erfolgt jedoch in weitgehender inhaltlicher Übereinstimmung mit den anderen reformierten Kirchen der deutschen Schweiz, die in einem Ausbildungskonkordat zusammengeschlossen sind. 17 Das Berner Modell schliesst an den »Studienplan für Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern« (Bern 2009) an und ist ausgeführt in »Studienplan und Wegleitung für das Lernvikariat« (Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn, Theologische Fakultät der Universität Bern, Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern [Hg.]: Studienplan und Wegleitung für das Lernvikariat 2009, Bern 2009). »Studienplan und Wegleitung« werden gemeinsam verantwortet von den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, der Theologischen Fakultät der Universität Bern und der staatlichen Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern, die Kooperation ergibt sich aus den besonderen kantonalen Rechtsverhältnissen und Zuständigkeiten von Kirche, Universität und Staat im Kanton Bern. Vgl. die ausführliche Darstellung und Würdigung des Berner Ausbildungsmodells in Reinhold Becker: Beruf Pfarrperson. Eine Untersuchung zu Berufsbild und Ausbildung (ARPäd 62), Göttingen 2016, 323–506.

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Die exemplarischen Praxis-Erkundungen werden in begleitenden Seminaren vorbereitet, ausgewertet und mit wissenschaftlichen und personbezogenen Reflexionen verbunden. Die einjährige berufspraktische Ausbildungsphase, das Lernvikariat am Lernort Gemeinde, setzt den Abschluss der universitären Ausbildung (MasterStufe) voraus. Das Lernvikariat dient der Erprobung und Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten in den wichtigsten kirchlichen Aufgabenfeldern. Der planvolle und reflektierte Aufbau der Handlungsfähigkeit bezieht sich in Wahrnehmung, Handlung und Reflexion auf die im Studium erworbene Urteilsfähigkeit und erfolgt durch probeweises Handeln in realen Situationen. Der begleitende Praktisch-Theologische Kurs umfasst etwa ein Viertel der Ausbildungszeit des Lernvikariats (55 Tage). Die Kurssequenzen sind eng auf die jeweiligen Arbeitsaufgaben am Lernort Gemeinde bezogen und dienen der exemplarischen Verschränkung von theoretischen Impulsen aus den theologischen Disziplinen und den Sozialwissenschaften mit den praktischen Handlungsanforderungen, die sich aus den Situationen des Berufsfeldes ergeben. Der Kurs gewährleistet den organisatorischen Zusammenhalt der zweiten Ausbildungsphase und bietet der Ausbildungsgruppe ein Forum des kollegialen Austauschs und der gemeinsamen Reflexion von handlungsbezogenen Lernprozessen und verhaltensbezogenen Rollenerfahrungen. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Lernvikariats kann der Eintritt in den Pfarrdienst erfolgen. Für Pfarrpersonen in den ersten fünf Amtsjahren wird ein spezielles Weiterbildungsprogramm WEA erstellt, in dem spezifische Fragestellungen der Phase des Berufseinstiegs in Peergroups bearbeitet werden. Das umfangreiche Weiterbildungsangebot für Pfarrpersonen wird derzeit schrittweise nach Kompetenzbereichen und Handlungsfeldern geordnet und programmatisch auf Ziele ausgerichtet. Das Spektrum reicht von kurzen Programmteilen bis zu mehrjährigen Zusatzausbildungen (MAS). Mit der vermehrten Ausrichtung der Weiterbildungs-Programme auf kirchliche Entwicklungsziele wird der Bereich der Weiterbildung zu einem Teil der kirchlichen Personalentwicklung. Das »Berner Modell« der theologischen Ausbildung ist ausgerichtet auf den Aufbau von spezifischen beruflichen Kompetenzen. Kompetenzen umschreiben Ressourcen und Fähigkeiten eines Subjekts im Blick auf einen Gegenstandsbereich und auf Handlungsmöglichkeiten in Situationen. Der Aufbau von Kompetenzen erfolgt im didaktischen Horizont der kontextbezogenen doppelseitigen Erschließung von Person und Sache. Die Lernprozesse haben ihre Orientierungsgröße im Fokus situationsgerechter Handlungsbefähigung. Idealerweise werden alle Inhalte, Ziele und Methoden von dieser Grundorientierung her entwickelt. Die kompetenz-orientierte Organisation der Lernprozesse erlaubt die

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Integration unterschiedlicher situativer Kontexte und individueller biografischer Lagen. Kompetenzen umschließen Wissen, Können und Wollen und sind zusammengesetzt aus fachlichen, methodischen, sozialen und persönlichen Kenntnissen, Fähigkeiten, Haltungen, Motivationen und Bereitschaften. Sie eröffnen angemessene Handlungsmöglichkeiten in gegebenen und zukünftigen Situationen. Lernen ist aufgefasst als Prozess der fortschreitenden Entwicklung von Kompetenzen. Fachliche und methodische Kompetenzen sind auf die auftrags- und situationsgerechte Ausführung von Handlungen in den kirchlichen Handlungsfeldern gerichtet. Soziale Kompetenz bezieht sich auf die Fähigkeit zur förderlichen Gestaltung von sozialen Beziehungen und Kooperationen. Persönliche Kompetenz (Ich-Kompetenz) bezieht sich auf die Motivation, die Einstellung zur Tätigkeit innerhalb der Kirche und die Bereitschaft zur Übernahme von Erwartungen und Zumutungen, die mit dem Pfarrberuf verbunden sind. Die berufspraktische Ausbildung umfasst einerseits exemplarische Handlungsvollzüge in den wichtigsten kirchlichen Handlungsfeldern (Predigt/Kommunikation, Unterricht/Vermittlung des Glaubens, Seelsorge/Begleitung, Leitung/Verwaltung) und andererseits die Reflexion der Lern-Erfahrungen. Die Handlungsvollzüge werden in exemplarischer Weise vorbereitet, durchgeführt und überprüft. Für das kompetenzorientierte Lernen ist der Vorgang der Reflexion konstitutiv. Das methodische Grundmuster entspricht dem generellen Organisationsprinzip des Lernvikariats: Wahrnehmen – Handeln – Überprüfen – Reflektieren. Die Handlungsvollzüge erfolgen im Systemkontext des Lernortes Gemeinde. Der situative Bezug ist für kompetenzorientiertes Lernen unverzichtbar. Im Handlungsvollzug wird auch die zukünftige Berufsrolle probeweise übernommen und das mit ihr verbundene Spektrum von Rollenzuschreibungen und Verhaltenserwartungen erfahrbar. Die gesellschaftliche Differenzierung hat neue Zuordnungen von Beruf und Familie hervorgebracht und auf der Seite der Lernenden zu sehr unterschiedlichen persönlichen Lebensentwürfen und Lebenslagen geführt. Das Berner Modell reagiert darauf mit einer individualisierenden Lernplanung im Lernvikariat. Damit wird eine Entwicklungslinie aus dem pädagogischen Diskurs aufgenommen und der Subjekt-Seite des Lernens vermehrt Rechnung getragen. In der individuellen Portfolio-Arbeit werden Prozess-Orientierung und Ergebnis-Orientierung miteinander verbunden. Auch die lebensgeschichtlich bedingte und eigenverantwortlich geplante Organisation des persönlichen Lernweges soll schließlich zu überprüfbaren Ergebnissen und zum Nachweis der

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erworbenen Kompetenzen führen. Im Vordergrund der Portfolio-Arbeit stehen die reflexive Aufgabe der persönlichen Standortbestimmung und die Überprüfung der angestrebten Zielsetzungen. Zudem enthält das Portfolio eine qualifikationsrelevante Dokumentation der Lernschritte und Reflexionsergebnisse. Das Lernvikariat am Lernort Gemeinde wird wesentlich geprägt von der Ausbildungsdyade Ausbildungspfarrerin – Lernvikarin. Ausbildungspfarrerinnen übernehmen ein komplexes Set von Rollen und Aufgaben. Bedeutsam ist neben den einweisenden und anleitenden Funktionen die Aufgabe des Feedbacks, der strukturierten gemeinsamen Reflexion des Lernweges und der Beurteilung der Lernergebnisse. Die hohen Anforderungen an die Ausbildungspfarrerin gehen über die allgemeine Berufskompetenz und Berufssicherheit hinaus. Die erforderlichen Ausbildungs-Kompetenzen werden in einem universitären postgraduate-Studiengang erworben (MAS Universität Bern). Die Ausbildungseinheiten sind modular aufgebaut, der Qualifikationsnachweis wird auf den drei Stufen Zertifikat, Diplom und Master erbracht. Gegenstände bilden u. a. die aktuelle theologische und ekklesiologische Diskussion, die didaktische Vermittlungsaufgabe, die reflexive Auswertung von Lernprozessen und die Beurteilung von Lernfortschritten und Lernergebnissen. Das Lernvikariat wird während seiner ganzen Dauer durch eine verbindliche Praxisberatung supervisorisch begleitet. Das Setting: Im Abstand von ca. 6 Wochen treffen sich jeweils für ca. 1,5 Stunden ein externer Supervisor, der Lernvikar und der Ausbildungspfarrer am Lernort. Die Themen werden gemeinsam vereinbart und folgen den Phasen des Lernvikariats (z. B. Auftrag und Arbeitsweise der Praxisberatung, Zusammenarbeit in der Ausbildungsbeziehung, individuelle Zielsetzungen, Erfahrungen mit der Berufsrolle, Besprechung von Standortbestimmungen und Qualifikationen, auftretende Schwierigkeiten). Die Gespräche sind vertraulich, Inhalte und Ergebnisse sind geschützt. Die Praxisberatung schafft Raum für die moderierte Reflexion des Lernverlaufs und die Klärung von Berufsmotivation und Berufseignung. Sie fordert zur Formulierung von berufsbezogenen Selbsteinschätzungen und zur Wahrnehmung von Fremdbeurteilungen heraus. Die Praxisberatung wird auf diese Weise zum Ort des Gesprächs über befriedigende Erfahrungen, besondere Herausforderungen, erkannte Defizite und mögliche Gefährdungen. Damit wird eine negative Ausrichtung der Supervisionsarbeit auf Defizite und die Verengung auf den Krisenfall vermieden. Die Einführung der Praxisberatung stellt ein wichtiges Element des Berner Ausbildungsmodells dar. Besondere Beachtung verdienen die hohe Gewichtung der persönlichen Faktoren, die strukturierte Reflexion der komplexen Ausbildungsbeziehungen und die moderierten Gespräche im mehrstufigen Qualifikationsverfahren. Das Lernvikariat wird in einem gestuften Qualifikationsverfahren beurteilt. Der erfolgreiche Abschluss gilt als Nachweis der Berufsbefähigung und ist mit der

Sprachfähig – vernetzt – authentisch

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Empfehlung zur Aufnahme in den kirchlichen Dienst verbunden. Das Qualifikationsverfahren bezieht sich auf die Sachthematik des Berufs (Nachweis fachlicher und methodischer Kompetenzen), die Person (Ich-Kompetenz) und die professionellen Interaktionen und Kommunikationen (soziale Kompetenz). Das Verfahren umfasst punktuelle Prüfungen (Staatsexamen) und prozessbegleitende kirchliche Beurteilungen (Eingangs-, Zwischen-, Abschlussqualifikation). Selbstbeurteilungen der Lernenden stehen neben den Voten von Ausbildungspfarrer, Supervisor und Kirchgemeinde. Es entspricht dem situativen und kommunikativen Bezug zum Lernort, wenn auch die Beurteilung des Lernfortschritts und der Lernergebnisse am Lernort unter Mitwirkung der Beteiligten erfolgt. Es gehört zur Aufgabe theologischer Ausbildung, die Frage nach der persönlichen Eignung für den Pfarrberuf zu stellen und beantwortbar zu machen. Das kirchliche Qualifikationsverfahren verlangt in der individuellen PortfolioArbeit dokumentierte biographische Situierungen, die der persönlichen Klärung dienen und im Blick auf die berufliche Eignung erfolgen. Die wiederholten Standortbestimmungen dienen der Überprüfung der vereinbarten Entwicklungsziele und der erreichten Fortschritte.

7

Ausblick

Es ist kaum möglich, verlässliche Aussagen über die zukünftige Organisationsgestalt der Kirchen zu machen. In einem von Individualisierung und Pluralisierung bestimmten soziokulturellen Kontext ist eine weitere gesellschaftliche Segmentierung zu erwarten. Diese Entwicklung wird auch die kirchlichen Arbeits- und Lebensformen weiter verändern. Die Kirchen und ihre Gemeinden brauchen in einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft sprachfähige, sozial vernetzte und authentische Pfarrpersonen. Diese anspruchsvolle Berufsaufgabe erfordert fachliche, methodische, soziale und persönliche Kompetenzen, die in einem komplexen Bildungsgang erworben werden. Der Aufbau professioneller Kompetenz bildet das integrale Ziel der Ausbildung für den Pfarrberuf.

Wilfried Engemann

Glaube und Gefühl im Kontext seelsorglicher Theorie und Praxis*

1

Zum Problem

In der protestantischen Tradition ist vom Glauben häufig als von einer unbedingten »Gewissheit« die Rede. Der Glaube erscheint mit Merkmalen ausgestattet, die mit Gefühlen eher wenig zu tun haben. Dem Glauben kommt vor allem die Funktion zu, dem Einzelnen in der zentralen Frage nach seinem persönlichen Heil Gewissheit zu geben. Der aus Liebe erwachsende und in die Freiheit führende Glaube kann jedoch nicht auf die dogmatische Kategorie der Gewissheit reduziert werden. In seelsorglichen Gesprächen zeigt sich immer wieder, dass das Ringen um Freiheit und Liebe und die damit verbundene Suche nach einem leidenschaftlichen Leben selbst als Ausdruck des Glaubens zur Sprache kommen und entsprechend verstanden werden wollen. Daraus ergibt sich nicht nur die Frage, ob und wie im Kontext von Seelsorge vom Glauben zu reden wäre; wohl noch wichtiger ist die Frage, welches Verständnis von Glauben in der seelsorglichen Arbeit unterstellt bzw. von welchen theologischen und anthropologischen Prämissen dabei ausgegangen wird – auch wenn im seelsorglichen Gespräch zu keinem Zeitpunkt explizit vom Glauben die Rede sein sollte. Im Hinblick auf die Kommunikation des Glaubens scheint es »in der Sache« – sofern man vom Glauben auch als Sachverhalt sprechen kann – im seelsorglichen Diskurs wenig Streit zu geben. Viele Autoren verweisen auf die – sich u. a. aus dem Säkularisierungsprozess ergeben habenden – Ungewissheiten des Lebens, die sich in diversen Unsicherheiten im Glauben fortsetzten. Sie sehen die Herausforderung einer zeitgenössischen Theologie und Seelsorge unter anderem darin, durch die christliche Religion gleichsam für belastbare Gewissheiten zu sorgen. * Neubearbeitete, aktualisierte und erweiterte Fassung eines Grundsatzartikels zum Thema Glaube und Gefühl, erschienen unter dem Titel »Die emotionale Dimension des Glaubens als Herausforderung der Seelsorge«, in: WzM 61 (2009), 287–299.

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Wilfried Engemann

Eine differenziertere Position entwickelt Jürgen Ziemer in seiner Seelsorgelehre, in der er unter verschiedenen Gesichtspunkten auf das Thema Glaube(n) zu sprechen kommt. Er geht davon aus, dass »Glauben lernen«1 zu den Lebensthemen der Seelsorge gehöre, zumal »der Glaube eines Ratsuchenden« sowohl von außen (durch Prozesse der Entkirchlichung in Familien und im sozialen Umfeld) als auch von innen her gefährdet sei: Was in unserer liberalisierten und säkularisierten Gesellschaft über den Glauben gedacht wird, findet ja meist seine Entsprechung in den Gedanken und Empfindungen des Einzelnen. Überzeugt mich das eigentlich – Gott, Jesus, Kreuz, Auferstehung? Der Zweifel stellt sich schnell ein, und zu dem intellektuellen Zweifel kommt der existentielle: Ist die Nachricht von Gott, die Botschaft des Glaubens wirklich eine gute Nachricht für mich? Frühere Gewissheiten gehen verloren.2

Auch hier ist zwar zunächst ein Verlust an Gewissheiten, ein Schwinden der Plausibilität kognitiver religiöser und theologischer Konzepte im Blick. Gleichwohl ist sich Ziemer darüber im Klaren, dass sich die »Kriterien lebendigen Glaubens«3 nicht im Durchbeißen auf den Gewissheitskern theologischer Dogmen gewinnen lassen, sondern dass zum Glauben – in Aufnahme eines Modells von Wybe Zijlstras formuliert4 – die Haltung »echter Autonomie« (v. a. im Jaund Nein-Sagen) gehört, dass Glaube die Fähigkeit zu »echter Hingabe« (als VonSich-Absehen-Können) einschließt, mit der Erfahrung »echter Freiheit« (u. a. von der Knechtschaft einer »totalen Normierung« des Lebens) verbunden ist und in »echtem Gehorsam« in der »Nachfolge Jesu« zum Ausdruck kommt, was schließlich »bedeutet, für etwas einzustehen und bereit zu sein, Verantwortung wahrzunehmen«.5 »Seelsorge als Gespräch über den Glauben«6 erfordert dementsprechend vom Seelsorger persönliche Glaubwürdigkeit, die Bereitschaft, dem Zweifel Raum zu geben, »den eigenen Glauben finden zu helfen« – und ein Interesse daran, diesen Glauben in Gemeinschaft mit anderen zu kommunizieren und dabei zugleich am Glauben der Gemeinde zu partizipieren. Hier kommen anthropologische Facetten des christlichen Glaubens ins Spiel, die gleichsam die Konsequenzen einer gelingenden Glaubenskommunikation in der Seelsorge bzw. die Begleitumstände eines Lebens aus Glauben widerspiegeln. Glauben, so wird deutlich, ist kein Selbstzweck; sondern Menschen »haben« ihn, um aus Glauben leben zu können. Die Frage ist: Wovon sind solche Haltungen (z. B. der Autonomie, der Freiheit, der Hingabe, des Gehorsams) eigentlich die 1 Jürgen Ziemer: Seelsorgelehre. Eine Einführung für Studium und Praxis (UTB 2147), Göttingen 42015, vgl. 291–299. 2 Ziemer: Seelsorgelehre (s. Anm. 1), 292. 3 Ziemer: Seelsorgelehre (s. Anm. 1), 295–297. 4 Vgl. Wybe Zijlstra: Handbuch zur Seelsorgeausbildung, Gütersloh 1993, 278–283. 5 Ziemer: Seelsorgelehre (s. Anm. 1), 295–297. 6 Vgl. Ziemer: Seelsorgelehre (s. Anm. 1), 297–299.

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Folge, wenn sie als Wirkung des Glaubens begriffen werden? In welchem Maße sind sie Resonanz auf eine (wieder)gefundene Gewissheit oder – theologisch gesprochen – auf einen Durchbruch in der Erkenntnis Gottes, auf das Widerfahrnis einer Offenbarung usw. Abgesehen vom – mit diesen Perspektiven und Kategorien verbundenen Prozess des Glauben-Lernens – gehört der Glaube nach Ziemer in das Proprium der Seelsorge. In diesem Zusammenhang erläutert Ziemer, inwiefern Glaube in der seelsorglichen Beziehung in dreifacher Weise präsent ist: (1.) »Als Glaube der Seelsorgerin bzw. des Seelsorgers.« Der Ratsuchende kann also »davon ausgehen, dass sein Gegenüber eine persönliche Beziehung zu Gott hat«. (2.) »Als gleichsam ›objektiver‹ Glaube der Gemeinde,« also in einem Kontext, »in dem der christliche Glaube ›zu Hause‹ ist.« Der Glaubende steht – ebenso wie der Seelsorger – mit seinem Glauben nicht allein. Glaube ist im seelsorglichen Gespräch (3.) schließlich immer auch »als potentieller Glaube des Rat suchenden Menschen« im Spiel: »Seelsorge geschieht […] in der Annahme, der Ratsuchende glaube oder könne doch zum Glauben kommen, er sei also sowohl glaubensfähig wie glaubenswürdig«. Gleichwohl: »Glaube kann nicht auf irgendeine Weise methodisch herbeigeführt werden. Er kann sich nur in Freiheit ereignen. Darauf darf ich in der Seelsorge hoffen, aber damit sollte ich nicht rechnen. Der Glaube des Ratsuchenden ist nicht das Erfolgskriterium der Seelsorge.«7

Mit diesen Überlegungen zu den anthropologischen Konsequenzen eines stimmigen, nicht gesetzlichen, verlässlichen, individuell angeeigneten – und doch mit anderen teilbaren – Glaubens hat Ziemer das Spektrum der poimenischen Reflexion dieses Themas erweitert. Der Umstand, dass die Entstehung, Vermittlung, Aneignung, Artikulation und Veränderung des Glaubens in gleichem Maße wie mit kognitiven auch mit emotionalen Prozessen zu tun hat, legt aber die Frage nahe, in welcher Weise Glauben im Kontext entsprechender emotionaler Erfahrungen theologisch zu diskutieren und seelsorglich zur Geltung zu bringen ist. Dabei kommen nicht nur Glaubensinhalte, sondern Glaubensgeschichten ins Spiel, die – zumindest in der Genese des jüdisch-christlichen Glaubens – der späteren Fokussierung auf zu glaubende Inhalte immer vorausgegangen sind. Vergleicht man biblische Glaubensgeschichten – und welcher Text aus der Geschichte Israels, aus den Propheten, den Evangelien oder Episteln wäre im Kern keine Glaubensgeschichte? – mit dem protestantisch-dogmatischen Grundverständnis vom Glauben, treten deutliche Akzentverschiebungen zu Tage: Die in den biblischen Geschichten zu Tage tretenden Ausdrucksformen des Glaubens manifestieren sich nicht nur recht häufig in ganz bestimmten Emotionen (der Erwartung, der Hoffnung, des Mutes, der Dankbarkeit usw.); oft wird die Echtheit bzw. die Stärke des Glaubens gerade darin gesehen, dass er sich in existenzsteuernden Gefühlen äußert, dass er etwas austrägt für die Freiheit des 7 Vgl. zu diesem Abschnitt Ziemer: Seelsorgelehre (s. Anm. 1), 176.

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Einzelnen und für die Beziehungen, in denen ein Mensch lebt. Dabei spielen zwei Grunderfahrungen bzw. Grundgefühle eine herausragende Rolle: Das Gefühl der Freiheit bzw. der Weite einerseits und das Gefühl der Liebe bzw. der Tiefe andererseits. Die Pointe des Glaubens scheint geradezu darin zu liegen, ein Leben in Freiheit sowie in der Erfahrung empfangener und gewährter Liebe führen zu können – und dieses Leben als leidenschaftliches Leben zu erfahren.

2

»Glauben können« im Kontext der konstruierten Spannung zwischen Gewissheit und Gefühl

Die Thematisierung des Glaubens im Kontext der Seelsorge ist ein weites und zugleich steiniges Feld. Die Bearbeitung dieses Feldes bewegt sich zwischen den Extremen Großspurigkeit und Halbherzigkeit: Bald scheint es, als könne mit dem Glauben schier alles bewältigt werden, bald wird davor gewarnt, Menschen, die mit »wirklichen Lebensproblemen« kommen, auch noch mit Glaubensfragen zu behelligen. Stattdessen, so wird dann gelegentlich hinzugefügt, möge man darauf vertrauen, dass implizit gewiss viel mehr Glaubensstärkung im Gange sei als in einem seelsorglichen Gespräch explizit zur Sprache gebracht werden könne. Für das Verständnis der Seelsorge und für das Verständnis des Glaubens im Kontext der Seelsorge tragen diese letztlich pragmatischen Haltungen kaum etwas aus. Bemerkenswerterweise beziehen sich beide Positionen auf dasselbe Glaubensverständnis: Ob gefordert wird, den Glauben unbedingt in die Zentralperspektive der Seelsorge zu rücken, oder ob genau davor gewarnt wird, in beiden Fällen geht man von einem »protestantisch hartgesottenen« Glaubensbegriff aus, nämlich vom Glauben als einer Gewissheitskategorie: In einer theologisch bisweilen autistisch wirkenden Fixierung protestantischer Argumentationsmuster auf das extra nos des Heils werden nahezu alle denkbaren Regungen und Aktivitäten des Menschen – wozu insbesondere seine Emotionen, seine Wünsche und sein Wille gehören – mit dem Etikett des Werks und des Versuchs der Selbsterlösung versehen und aus dem Glaubensbegriff herausdividiert. Die vom Heiligen Geist im Menschen gewirkte Gewissheit seiner Erlösung durch Jesus Christus – das sei richtiger Glaube. Rechter, also rettender Glaube ist Ausdruck »höchster Gewissheit«8.

8 Vgl. z. B. Hans Vorster: Art. Glaube, I. Der Glaubensbegriff der Theologie, in: HWPh 3, Darmstadt 1974, (627–643) 628. Demgegenüber zeige die Umgangssprache bei der Verwendung von Glauben immer »einen Vorbehalt hinsichtlich der Gewissheit« an. Etwas zu glauben bedeute dann, eine Aussage »nicht mit letzter Schärfe« zu vertreten. Statt eines – dem Glauben angemessenen – »assertorischen soll ein problematisches Urteil gefällt werden«.

Glaube und Gefühl im Kontext seelsorglicher Theorie und Praxis

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In dieser Betrachtungsweise hat weder hat das Lebensgefühl eines Menschen etwas mit dem Zum-Glauben-Finden, Zum-Glauben-Kommen oder Im-Glauben-Bleiben zu tun, noch lässt man konkrete Empfindungen wie Freude, Lust und Leidenschaft als konstitutive Elemente des Glauben-Könnens gelten. Allein schon die Wendung »Glauben können« ist verdächtig, sollten dabei auch nur ansatzweise ureigenste menschliche Anteile inbegriffen sein. Der »Lebensbewegung des Glaubens« (wohlgemerkt: nicht der Lebensbewegung des Glaubenden!) entspreche es – so Wilfried Härle –, dass den Glaubenden »das, was über Scheitern oder Gelingen [ihrer] Existenz« entscheide, nur »von außerhalb ihrer selbst, genauer: von Gott […] zuteil« werden könne.9 Gott »schafft Gelegenheit und Akt des Glaubens in einem«. Dazu, dass ein Mensch glaubt, kann er nichts beitragen. Glauben besteht also vor allem »im Aufgeben der Werkgerechtigkeit«10. Daraus ergibt sich als vorläufiges Fazit: Glauben wird aufgrund seiner theologischen Eingruppierung in die Kategorie einer starken Gewissheit kaum als Teil des emotionalen Vermögens eines Menschen begriffen. Glaube, so ist in verschiedenen Variationen zu lesen, ist wahrer Glaube nur als unbedingter Glaube, der gerade nicht durch das bedingt ist, was der Einzelne empfindet oder wünscht oder hofft oder denkt oder will oder tut. Glaube ist ein »unableitbarer Sprung«11, kein Resultat von Gefühlen oder Wünschen oder Gedanken. Zugespitzt formuliert: Für den Glauben, der einem Mensch eignen sollte, ist nichts von dem zu gebrauchen, was in ihm vorgeht. Der Glaube hat keinen anthropologischen Ort. Er ist eine pneumatologische Implantation, mit dem sich dann (wenn er sozusagen einmal da ist) gegebenenfalls auch die Gefühle und der Wille eines Menschen arrangieren können, wenn sie es schaffen – wobei die Gefahr der Abstoßung des Glaubens, also die Gefahr des Unglaubens, verständlicherweise sehr groß ist.

3

Glaube und Gefühl in der Theologiegeschichte

In der Theologiegeschichte wird das Verhältnis von Glaube und Gefühl in einzelnen Fällen natürlich differenzierter bestimmt, als in der unter 2 vorgenommenen, holzschnittartigen Problematisierung. Dabei spielen u. a. folgende Aspekte eine Rolle, die das oben Gesagte teils vertiefen, teils modifizieren: Augustin kennt den freudigen amor dei, der zur Einheit mit Gott strebt, setzt ihn jedoch – fatalerweise – dem amor sui entgegen und hat auf diese Weise das Seine zu dem schlechten Ruf beigetragen, den die Selbstliebe im Protestantismus 9 Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin 22000, 65. 10 Vgl. Vorster: Glaubensbegriff (s. Anm. 8), 629–630. 11 Vorster: Glaubensbegriff (s. Anm. 8), 628.

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bis auf den heutigen Tag hat. Das Gefühl dient nach Augustin vor allem der Ausrichtung des menschlichen Wollens und Strebens entweder auf Gott hin (frui) oder von Gott weg (uti);12 es bezeichnet gewissermaßen eine Art »Besessenheit« bzw. Grundveranlagung des Menschen. Martin Luther sieht den Affekt (zusammen mit dem Intellekt) durchaus beteiligt, wenn »die Seele bekehrt wird«13. Gleichwohl erscheint der Glaube selbst als eine nicht durch Gefühle konstituierte Kraft. Der Glaube wirkt auf die Gefühle ein, denen sich der Mensch ausgesetzt sieht. Das Gefühl ist also keine Materialisation des Glaubens, sondern erfährt erst durch den intellectus fidei die Rettung aus seiner Selbstverfangenheit: »Nichts ist tiefer im Menschen als jener Affekt, sich selbst zu lieben.« Davon befreit (!) die Glaubenserkenntnis.14 Im Pietismus wird das Thema Gefühl im Kontext pastoraltheologischer Erörterungen faktisch vom Imperativ des Fühlens und Erlebens Gottes beherrscht. Dabei geht es nicht um Gefühle als zutiefst menschliche Kommunikationsformen des Glaubens oder um ihre eigene, adäquate Funktion für das Glauben-Können des Einzelnen, sondern die Gefühle werden letztlich als Ort der Offenbarung interpretiert und damit permanent überfordert. Sie sind in erster Linie als Instrumente »offenbarter göttlicher Wahrheit«15 von Belang. Die spezifische, dem Pietismus eigene »Kultur der Innerlichkeit« ist insofern eine anstrengende, leistungsorientierte Innerlichkeit, als sie dem Einzelnen zumutet, die damit verbundenen Gefühle als Beweggründe für Bekehrung und Wiedergeburt zu benutzen. Letztlich geht es, was den Glauben betrifft, doch wieder vor allem um die Gewissheit des Heils und um die dieses Heil zugänglich machende Glaubensentscheidung. Friedrich Schleiermachers epochale Idee, Glauben als »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« von Gott zu beschreiben, kommt dem oben vorgenommenen Versuch, die Bedeutung des Glaubens im Zusammenhang der Erfahrung von Freiheit und Liebe zu erschließen, besonders nahe. Zunächst ist Schleiermacher wichtig, dass wir des Gefühls unserer selbst in adäquater Weise gewahr werden. In

12 Vgl. Karl-Heinz zur Mühlen: Art. Affekt, II. Theologiegeschichtliche Aspekte, in: TRE 1, Berlin/New-York 1977, (599–612) 599. 13 Nec enim aliter convertitur anima nisi affectu et intellectu, quod fit per fidem (Martin Luther: Genesisvorlesung 1513–1516 [WA 4], Weimar 1886, 107,33–34); deutsch: »Nicht anders wird die Seele bekehrt als nur durch den Affekt und den Intellekt, was durch den Glauben geschieht.« 14 Nihil est profundius in homine quam ille affectus: diligere seipsum (Martin Luther: Die erste Vorlesung über den Galaterbrief 1516/17 [WA 57/2], Weimar 1939, 41,17). 15 Vgl. Frank Thomas Brinkmann: Glaubhafte Wahrheit – erlebte Gewissheit. Zur Bedeutung der Erfahrung in der deutschen protestantischen Aufklärungstheologie (Arbeiten zur Theologiegeschichte 2), Rheinbach-Merzbach 1994, 297.

Glaube und Gefühl im Kontext seelsorglicher Theorie und Praxis

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»Freude und Leid« als den »eigentliche[n] Gefühlszustände[n]«16 haben wir einen quasi unmittelbaren Kontakt zu uns. Darüber hinaus führt Schleiermacher in verschiedenen Zusammenhängen aus, dass jegliches fromme Wissen, auf das sich der Glaube stützt, nur in seinem Bezug auf das Gefühl plausibel ist. Für Schleiermacher gibt es keine nackten Überzeugungsgewissheiten des Glaubens, die nicht verbunden und verankert wären in einem Gefühl, von dem aus alles Wissen, Wollen und Handeln sich nährt und mit dem es in einem inneren Zusammenhang steht. Die Frömmigkeit jeglichen Handelns ist nach Schleiermacher abhängig von der Frömmigkeit des Gefühls, das »in den Antrieb übergegangen«, also zum Motiv, zum Beweggrund geworden ist. Religiöses Wissen und Tun ist nur insofern Ausdruck von Frömmigkeit, als »das erregte Gefühl dann in einem es fixierenden Denken zur Ruhe kommt« und in ein »es aussprechendes Handeln« sich ergießt.17 Das heißt, was wir je als Glaubende wissen, wovon wir je aus Glauben überzeugt sein können, was wir aus Glauben entscheiden, wollen und endlich tun, bedarf des inneren Zusammenhanges mit unseren Emotionen. Karl Barth kritisiert Schleiermachers Überlegungen vor allem mit dem Vorwurf der »Anthropologisierung der Theologie«18. Eines der Hauptargumente Barths gegen Schleiermacher war die Überlegung, es widerstreite der »Alleinherrschaft Jesu Christi« und damit dem Erlösungshandeln Gottes, wenn das Gefühl quasi zum Instrument der Erkenntnis Gottes umfunktioniert werde und der Mensch sich so aneignen wolle, was nur Gott schenken könne. Das sei der Grundirrtum aller natürlichen Theologie. Einer der im Bereich der Systematischen Theologie differenziertesten Versuche, die Funktion von Gefühlen für die Existenz des Menschen theologisch zu reflektieren, stammt von Wolfhart Pannenberg. So problematisch seine Unterscheidung in »positive« und »negative« Affekte im Einzelnen ist, vermag er wichtige Argumente dafür ins Feld zu führen, dass (positive) Gefühle keineswegs als bloßer »Ausdruck der Ichbezogenheit« zu betrachten, sondern für den notwendigen Prozess der Selbstwerdung und der Erfahrung von Identität unabdingbar sind.19 Selbstwerdung und Identität seien freilich nicht das Ergebnis 16 Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt 1 (Sämmtliche Werke 1,3), Berlin 31835, 8 (§ 3,2.). 17 Schleiermacher: Der christliche Glaube (s. Anm. 16), 12–13 (§ 3,4) Die Verankerung aller Frömmigkeit und allen frommen Handelns im Gefühl (als eigentlichem Movens des Wollens) wird – wie in der modernen Neurobiologie – auf die Abhängigkeit des Menschen von Beziehungen zurückgeführt: »Das gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit […] ist dieses, dass wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewusst sind« (Schleiermacher: Der christliche Glaube [s. Anm. 16], 15, § 4). 18 Karl Barth: Nachwort, in: Heinz Bolli (Hg.): Schleiermacher-Auswahl (GTBS 113/114), München/Hamburg 1968, (290–312) 300. 19 Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 257.

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selbst geleisteter Aneignungsprozesse, die der Mensch nach Belieben in Szene setzen könne, sondern sie gehörten zur Kategorie des Nehmens, nicht des Gebens. Positive Gefühle wie Freude, Hoffnung, Liebe, die diese Vorgänge auslösen und begleiten, gingen aus vorgängigen Beziehungen hervor, womit Pannenberg die »exzentrische Struktur« nicht nur der (positiven) Gefühle, sondern auch der Glaubenserfahrung im Blick hat.20 So hilfreich und theologisch kühn es ist, die Auseinandersetzung mit negativen Gefühlen faktisch im Kontext der Sündenlehre zu reflektieren und dabei v. a. die Selbstentfremdung des Menschen von der Gottesbeziehung im Blick zu haben, so fragwürdig ist es doch, im seelsorglichen Kontext, in dem tatsächlich mit und an Emotionen gearbeitet wird, plausibel zwischen positiven und negativen Gefühlen zu unterscheiden – und so ermitteln zu können, welche Gefühle letztlich glaubensstärkend und welche glaubensgefährdend sein könnten. Auch Aggressionen können »positiv« und unentbehrlich für das Ringen gerade um solche Beziehungen sein, von denen Zuwendung und Liebe zu erwarten sind. Überdies schafft die Klassifizierung von »negativen Gefühlen« als Sünde neue Probleme, und zwar auch dann, wenn, wie bei Pannenberg, von Sünde durchaus nicht moralisch die Rede ist. Tiefe Traurigkeit oder starke Aggressionen sind keineswegs immer Akte der Selbstentfremdung, sondern können durchaus zur Identitätsbildung und Selbstwerdung beitragen.

4

Zwischenbilanz

In den skizzierten Modellen der Zuordnung von Glaube und Gefühl fällt auf, in welchem Maße die emotionale Dimension von Glauben letztlich soteriologisch bestimmt und gleichsam gebändigt wird: Wegen der im Einzelnen unterstellten Heilstatsachen kann nicht sein, was nicht sein darf. Ähnlich wie in der Debatte um den (freien) Willen des Menschen werden die denkbaren anthropologischen Orte des Glaubens immer wieder unter das Verdikt des Missbrauchs im Sinne eines Repertoires zur Selbsterlösung gestellt, von dem sich der Glaube letztlich emanzipieren soll, dem er sich also nicht verdanken kann. Es ist schwierig, mit einem Verständnis von Glauben seelsorglich zu arbeiten, der das emotionale Repertoire des Menschen in diesem Sinne vernachlässigt und in seiner Relevanz für die Erfahrung von Heil bagatellisiert. Das in der protestantischen Soteriologie des 16. Jahrhunderts eingefrorene Verständnis des Glaubens als einer »unbedingten Gewissheit« droht in doppelter Hinsicht zu 20 Pannenberg: Anthropologie (s. Anm. 19), 257–259. Negative Gefühle wie Furcht, Angst, Traurigkeit, Zorn usw. sind demgegenüber Ausdruck der Selbstentfremdung des Menschen, also der Sünde und widerspiegeln das Dilemma des incurvatus in se ipsum (259).

Glaube und Gefühl im Kontext seelsorglicher Theorie und Praxis

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einer Hypothek seelsorglicher Arbeit zu werden, auf Seiten Ratsuchender ebenso sowie bei denen, die in der Seelsorge tätig sind und diesen Glaubensbegriff im Hinterkopf haben. Um diese Hypothek abzutragen, wäre folgendes zu bedenken: 1. Die Art und Weise eines Menschen, zu glauben, erschöpft sich – wie die seelsorgliche Praxis zeigt – bei weitem nicht im Gewahrwerden von Gewissheiten von Heilstatsachen. Seelsorge steht einem Menschen darin zur Seite, im Kontakt mit den eigenen Gefühlen zu einem eigenen Credo vorzudringen, zu einem Glauben, der sich irgendwie anfühlt und sich deshalb auf das Lebensgefühl auswirkt. Zum Glauben gehört es, das eigene Leben wieder zu spüren und sich dem Leben gewachsen zu fühlen. – Glauben nach Art der samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen. 2. Der Bedarf an einem Glauben, der ausschließlich als alternativloser Gewissheitsglaube dargeboten wird, hält sich in der seelsorglichen Praxis in Grenzen. Die Erlangung von Gewissheit ist für einen Menschen immer dann von Bedeutung, wenn eine vorausgehende Ungewissheit in einer bestimmten Sache eine lebensbeeinträchtigende Wirkung hat. Nur für denjenigen, der auch emotional von einer Ungewissheit betroffen ist (z. B. in der Liebe, im Blick auf das berufliche Fortkommen oder die Diagnose einer Krankheit) und darum in ängstlicher Ungewissheit lebt, ist die Erlangung einer Gewissheit – und zwar wiederum emotional – befreiend oder erlösend. Ein solcher Glaube wäre wiederum kein unbedingter, sondern ein in hohem Maße bedingter Glaube. – Glauben nach Art der Emmaus-Jünger. 3. Die Rede vom »unbedingten Glauben« ist eine problematische theologische Konstruktion. Ein unbedingter Glaube wäre niemandes Glaube. Vom Glauben kann man nur als von jemandes Glauben reden, und er ist insofern jemandes Glaube, als jemand zu seinen persönlichen Bedingungen glaubt, wozu vor allem die Emotionen gehören, die sein Wünschen, Entscheiden und Handeln bzw. seine Erfahrungen mit der Freiheit und mit der Liebe begleiten – und die über seine innere Kohärenz wachen. Ein Mensch glaubt »aufgrund von« … oder »trotzdem« oder »weil« oder »unter dem Eindruck von« …. Glaube kommt unter emotionalen Bedingungen zustande und fühlt sich entsprechend an: Er ist z. B. ein Vorgefühl für etwas, auf das man seine Hoffnung setzt, er ist das Fieber, mit dem man Menschen oder Ereignisse erwartet, er ist die emotionale Kompetenz, sich in eine virtuelle Zukunft, in ein verändertes Leben hineinfühlen zu können und es sich zu wünschen. – Glauben nach Art des Nikodemus. 4. Was wäre das für ein Glaube, zu dem ein Mensch nichts Substantielles beisteuern, an dem er sich nicht beteiligen können soll? Was ein Mensch nicht bilden kann aus dem Material seiner Gefühle, aus dem Stoff seiner Wünsche, aus der Kraft seiner Hoffnungen und den Gründen seiner Entscheidungen, was er in dieser Weise nicht bilden kann, das kann ihm auch nicht eigen werden. Der reiche Jüngling fühlt diesen Glauben bereits; er geht traurig wieder davon, weil dieser

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Glaube im Moment noch nicht zu seinen Bedingungen zu passen scheint. Aber vielleicht wird er wiederkommen. Er ist im Begriff, sich zu verändern. 5. Alles in allem ist Glaube nicht nur für die Zueignung und Erfahrung eschatologischer Heilsgewissheit da. Glaube gewinnt auch in der persönlichen Aneignung von Freiheit Gestalt; er gewinnt Kontur im Erfahren und Gewähren von Zuwendung. Dabei geht es um »große Gefühle«, auf die jeder Mensch angewiesen ist, um sein Leben aus bzw. im Glauben zu führen. In dieser Hinsicht geht es nicht um einen Bruch mit dem reformatorischen Tabu, die Unterscheidung zwischen dem, was ein Mensch kann, und dem, was Gott kann, aufzulösen, sondern es geht um eine erneuerte anthropologische Thematisierung des Glaubens. Zu ihr gehört es, die primär aus soteriologischen Gründen proklamierte Diskontinuität zwischen Gefühl und Glauben nicht länger zu perpetuieren und stattdessen nach Elementen der Konvergenz zwischen beiden Ausschau zu halten.

5

Emotionale Grundbezüge des Glaubens

5.1

Korrespondenzen zwischen Glaube und Gefühl im Kontext der Erfahrung von Freiheit

Menschen, die glauben, ist ihr Glauben in einer bestimmten Art und Weise zumute. Er ist ihnen – wenn es gut geht – so zumute, dass er ihr Lebensgefühl positiv beeinflusst und zu einer Ressource wird, aus der heraus sie Schritte in die Freiheit gehen und sich dadurch die Leidenschaft für ihr Leben erhalten. Aber das setzt voraus, dass der Glaube auf dieselbe Weise zu diesen Menschen gehört, wie die Emotionen zu ihnen gehören, die ihr Wünschen, Wollen, Entscheiden und Handeln begleiten. Andernfalls fallen nicht sie vom Glauben ab, sondern der Glaube fällt von ihnen ab. Diese Überlegungen sind insofern nicht nur für systematisch-theologische Zusammenhänge von Belang, als sie in die Voreinstellungen und Prämissen, mit denen Ratsuchende und seelsorglich Beratende miteinander ins Gespräch kommen, hineinwirken. Wenn sich Pfarrerinnen und Pfarrer im Rahmen von Seelsorgefortbildungen recht schnell darüber einig werden, dass der Bereich des Glaubens für die Annäherung an ihre seelsorgliche Aufgabe keine entscheidende Rolle spielt, hängt das nach meiner Beobachtung manchmal auch damit zusammen, dass sie dazu neigen, sich selbst für »schlechte Glaubende« zu halten – und zwar in dem Sinne, dass sie sich einzelner, auch zentraler Aussagen des christlichen Dogmas nicht mehr gewiss sind.

Was hieße es, demgegenüber zu unterstellen, dass Glauben primär gar keine Kategorie der Gewissheit, sondern der Lebensleidenschaft ist? Es hieße, eine mögliche Stärkung des Glaubens des Einzelnen auch darin zu sehen, dass man

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mit ihm gemeinsam um die Rekonstruktion oder Erarbeitung der emotionalen Beweggründe seines Lebens ringt. Die spezifischen Gefühle, die bei jeder Sequenz jenes Prozesses21 im Spiel sind, der für die »innere Kongruenz« und damit für die innere Freiheit eines Menschen ausschlaggebend ist – diese Gefühle sind eine Form der Gestaltwerdung und der Verkörperung des Glaubens. Mit anderen Worten: Das Leben im – bzw. das Leben aus – Glauben steht in einem konvergenten Zusammenhang zu dem Versuch des Menschen, Subjekt seines Lebens bzw. Herr im eigenen Haus zu sein – und dabei unter anderem Freiheit zu erfahren. In den Glaubenszeugnissen sowohl des Alten wie des Neuen Testaments wird die Lebendigkeit des Glaubens häufig an einer bestimmten emotionalen Präsenz festgemacht, daran also, ob sich Glauben tatsächlich in solchen konkreten Gefühlen materialisiert, wie sie das Wünschen, Entscheiden, Wollen und Handeln begleiten. Dementsprechend bestehen starke Konvergenzen zwischen konkreten Gefühlen und bestimmten Facetten des Glaubens:22 Glaube erweist sich unter anderem darin, dass er eine emotiv-visionäre Komponente hat und dadurch das Erwartungsgefühl eines Menschen inhaltlich zu füllen vermag. Glauben ist mit einem Verantwortungsgefühl verbunden und kann einen Menschen beispielsweise dazu motivieren, ein eigenes Urteil zu treffen und sich aus freien Stücken daran zu binden. Glauben kann im Gefühl der Hoffnung und des Mutes Gestalt gewinnen. Menschen können sich dank ihres Glaubens in Beziehungen »riskieren« – sich »in sie hineinwerfen«. Glauben äußert sich auch im Gefühl der Dankbarkeit und kann zu leidenschaftlicher Hingabe führen. Diese Facetten des Glaubens markieren seine anthropologische Dimension. Sie haben zusammen-

21 Das »Modell der inneren Kohärenz« veranschaulicht, in welcher Weise das Wünschen, Erwägen, Wollen, Entscheiden und Handeln bei der Erfahrung der Stimmigkeit des eigenen Lebens zusammenspielen. Menschen erfahren sich als frei und verbinden es mit Glücksgefühlen, wenn ihr Tun dem entspricht, was sie gefühlsmäßig für wünschens- und erstrebenswert gehalten, wofür sie sich entschieden und gekämpft haben. Sie erleben sich als unglücklich, wenn ihnen dieser innere Zusammenhang zerbricht: Wenn sie also tun, was sie – scheinbar – gar nicht wollen, wenn sie sich für etwas entscheiden, was sie für falsch halten oder was sich von vornherein nicht gut angefühlt hat. Wenn Menschen hingegen etwas leidenschaftlich tun, ist jene innere Kohärenz besonders dicht: Wünschen, Ersehnen, Wollen und Tun bilden dann eine Einheit. Die Entwicklung und Festigung jenes inneren, auch »gefühlten Zusammenhangs« zwischen dem Empfinden, Wünschen, Erwägen/Urteilen, Wollen, Entscheiden und Handeln eines Menschen ist für die Seelsorge von besonderer Bedeutung. Auch die Seelsorge kann einen Beitrag dazu leisten, dass ein Mensch gefühlsmäßig in diesem Zusammenhang bleibt und aus ihm heraus zu leben sucht. Dabei geht es um einen Prozess, der durchweg mit Gefühlen verbunden ist. Näheres dazu bei Wilfried Engemann: Das Lebensgefühl im Blickpunkt der Seelsorge. Zum seelsorglichen Umgang mit Emotionen, in: WzM 61 (2009), 271–286, bes. 278–281. 22 Vgl. dazu die Abbildung auf der folgenden Seite.

228

Wilfried Engemann

genommen mehr von der Kategorie leidenschaftlichen Lebens als von einer Kategorie der Gewissheit. Strukturelemente der Urteilsbildung und Lebensführung Wünschen

Gefühl

Glaube

Erwartungsgefühl Vorgefühl Wertgefühl usw.

antizipierend visionär schöpferisch

Freiheitsgefühl Verantwortungsgefühl Gefühl der Ich-Stärke usw. Gefühl des Mutes Wollen Hoffnungsgefühl Gefühl der Neugier usw. Gefühl der Stimmigkeit Handeln Triumphgefühl Dankbarkeitsgefühl usw. Abb. 1: Korrespondenzen zwischen Gefühl und Glaube Entscheiden

5.2

motiviert bestimmt begründet wagend risikobewusst sich bindend sich hingebend engagiert leidenschaftlich

Korrespondenzen zwischen Glaube und Gefühl im Kontext empfangener und gewährter Liebe

Glauben ist ein Beziehungsgeschehen – ein weiterer wesentlicher Grund dafür, den Glauben zur Kategorie der Leidenschaft zu zählen. Glaube kann ohne Liebe und das gewaltige, von ihr freigesetzte Motivationssystem nicht sein, nicht entstehen, nicht bleiben. Er entzündet sich und entwickelt sich in, mit und unter dem Empfangen und Geben von Zuwendung. Daraus ergibt sich u. a. der Vorrang der Liebe vor dem Glauben bei Paulus: »Und unter den drei Dingen auf der Welt, die Bestand haben – Glaube, Hoffnung, Liebe – ist die Liebe das Größte« (1 Kor 13,13). Das hat eventuell auch Konsequenzen für zwei Themen und Erfahrungsbereiche christlicher Existenz, die in der Seelsorgetheorie der letzten hundert Jahre immer wieder präsent waren – wenn auch mit unterschiedlichen Vorstellungen von den damit verbundenen Herausforderungen. Gemeint sind die Aufforderung zum Glaubenskampf einerseits und der von Vorwürfen belastete Impuls der Selbstliebe – bei gleichzeitigem Liebesgebot – andererseits. 5.2.1 »Glaubenskampf« als Beziehungseschehen? Vielleicht kann man dem missverständlichen, in verschiedenen Frömmigkeitskulturen bis heute beheimateten Begriff des Glaubenskampfes etwas abgewinnen, wenn man sich diesen Kampf – statt als ein Ringen um Glaubensgewiss-

Glaube und Gefühl im Kontext seelsorglicher Theorie und Praxis

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heiten – gewissermaßen als ein Ringen um Beziehungen vergegenwärtigt. Der Gedanke, Seelsorge unter anderem als Unterstützung im »Glaubenskampf«23 verstehen zu wollen, hieße dann, einen Menschen im Ringen um seine (Gottes-) Beziehung bzw. um die damit verbundene Erfahrung von Liebe zu unterstützen, ihn im Bleiben-Wollen und Bleiben-Können in der Liebe zur Seite zu stehen bzw. einen drohenden oder eingetretenen Verlust von Zuwendung als Anlass des »Glaubenskampfes« verstehen zu können. Glaube, der nicht aus der Erfahrung von Zuwendung erwachsen ist und nicht im Ringen um (bzw. im Gestalten von) Liebe geübt wurde, verflüchtigt sich. Ein solcher »Glaubenskampf« profitiert unter anderem von jener Art Emotionen, die wir unter Aggressionen subsumieren. Unsere Ressourcen an Aggressivität wachsen nie so hoch an wie in den Fällen, wo Beziehungen auf dem Spiel stehen – zumal solche Beziehungen, aus denen sich die Beweggründe unseres Lebens speisen. »Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung und Zuneigung zu finden und zu geben.«24 Wenn Menschen spüren, dass Beziehungen gefährdet werden, von denen ihr Zugang zur Liebe abhängt, sehen sie – rot. Dabei kann es sich um die Beziehung des Frommen zu Gott, um die Verbundenheit eines Einzelnen mit seinem Nächsten oder um die Beziehung eines Menschen zu sich selbst25 handeln. Da muss gekämpft werden, nicht nur wegen des hohen Gutes empfangener und gewährter Liebe, sondern eben auch wegen des drohenden Verlustes des Glaubens.26 »Dein Glaube hat dir geholfen.« Dieser Satz bedeutet dann eben auch: Dein Glaubenskampf war nicht vergeblich, dein Einsatz für die dich tragende Beziehung, aus der du das empfängst, was du brauchst, war nicht umsonst. Das hat dich gerettet.27 Das Zulassen deiner Aggressionen, dein Trotz, deine Hingabe: Es 23 Für Martin Luther bedeutete »Glaubenskampf«, den Anfechtungen Satans zu widerstehen, die darauf zielten, ihn – Luther – aus der Gottesbeziehung zu reißen und davon abzubringen, der Gnade Gottes zu vertrauen. Vgl. Gerhard Ebeling: Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen an seinen Briefen dargestellt, Tübingen 1997, 401–404. 24 Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg 2 2006, 34. 25 In diesem Fall ginge es um die Zumutung, nicht mehr im Einklang mit sich selbst leben zu sollen. 26 Jesus konnte zum Beispiel nicht mit ansehen, wie die Beziehung zwischen Gott und Mensch als Praxis wechselseitiger Liebe von ökonomischen Gesichtspunkten verdrängt wurde. Deshalb wütete er im Tempel. »So nicht!« Und Paulus sieht rot, als ein paar Leute in der Gemeinde die bewährte Gemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen aufkündigen. Sie wollen dafür eintreten, getrennt voneinander zu leben und sich auch nicht mehr zusammen an einen Tisch zu setzen. »Ihr bekloppten Galater«, hält er ihnen entgegen, »ihr setzt eure Lebensgrundlage aufs Spiel. So nicht!« Vgl. dazu Gal 3,1 im Kontext. 27 Vgl. z. B. Mt 9,22; Mk 10,52; Lk 7,50. Was die Erfahrungen der an Blutfluss leidenden Frau, des Blinden von Jericho und der stadtbekannten Frau, die im Hause Simons an Jesus das Sal-

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hat dir geholfen, zu leben. Sofern es im Glauben um verschiedene Formen von Beziehungen geht, in denen Zuwendung gewährt und empfangen wird – um die Beziehung zum Nächsten, zu Gott und zu mir selbst –, sind Emotionen im Spiel, wo etwas aus Glauben geschieht.

5.2.2 Liebe und Selbstliebe im Kontext der Seelsorge Dieser Themenkomplex ist insofern mit einer Hypothek belastet, als er mit teilweise zweifelhaften Prämissen bezüglich der emotionalen Veranlagung des Menschen behaftet ist. Wie in den anthropologischen Exkursen der Seelsorgetheorie immer wieder zu lesen und implizit zu erschließen, ist der Mensch ein geborener Egomane. Er ist also von Natur aus notorisch auf sich selbst bezogen. Er ist von sich aus zu keiner gelingenden Beziehung imstande. Als Sünder hat er auch gar kein Interesse, sich anderen aus Liebe zuzuwenden – was er von sich aus auch gar nicht könnte, selbst dann nicht, wenn er es wollte. Er ist zuerst und zuletzt auf seinen Vorteil bedacht. Er ist am glücklichsten, wenn er aus seinem Leben möglichst viel für sich herausschlagen kann und gegen die Anderen obsiegt. Seine Beweggründe sind feindlich usw. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein finden wir im poimenischen Diskurs Ansätze, die den Bedarf der Seelsorge ganz von der egozentrischen Selbstverliebtheit des homo incurvatus in se ipsum her formulieren. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass die an die Selbstliebe gebundene Dimension des Lebensgefühls in der christlichen Religion so dürftig verankert ist, und es wäre zynisch, die seelsorgliche Anthropologie von diesem Blick auf den Menschen beherrschen zu lassen. Das Sündersein des Menschen kann jedenfalls nicht mehr so wie bisher unhinterfragt an seine Lieblosigkeit gebunden werden, eher an die Rigorosität im lieblosen Umgang mit sich selbst bzw. in Bezug auf eine auf Freiheit und Liebe verzichtende Lebenspraxis. Vielleicht handelt es sich bei diesem Phänomen wiederum um eine Nach- bzw. Nebenwirkung jenes protestantischen Prinzips, wonach der Verdacht der Werkgerechtigkeit gehegt wird, sobald der Mensch mit dem, was er selber kann, einen Auftritt hat. Dabei ist die Liebe, wie sie hier erörtert wurde, weder als Akt der Selbsterlösung zu verstehen noch wird dabei ein Wettbewerb in Großtaten der Liebe ausgelobt. Jener Pharisäer28, der sich mit der Frage nach dem höchsten Gebot ins Gespräch einschaltet, ist bereits ausgerüstet mit Hunderten von Richtlinien zum korrekten religiösen Management seines Lebens. Nun wird ihm bungsritual vollzieht, miteinander verbindet, sind ihre teils aggressiven, teils zärtlichen Versuche, eine Beziehung herzustellen, von der sie sich Entscheidendes für ihr weiteres Leben versprechen. 28 Vgl. Mk 12,28–34.

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endlich eine Maxime ans Herz gelegt, die ihm auf den Leib geschrieben ist und die seinem menschlichen Wesen entspricht. Warum stimmt er der Antwort Jesu sofort zu? Weil er erkennt, dass hier etwas von ihm erwartet wird, was ihm durchaus liegt, und was er gar nicht so schlecht kann: lieben, sich seinem Nächsten zuwenden, sein Leben mit anderen teilen – und dabei auch der Selbstliebe Raum geben. Auch das gehört zum »biblischen Bild vom Menschen«: Das Wissen um die Kraft seiner Liebe. Sie ist seine gefühlte Antriebskraft, seine Umkehrenergie, der Umschlagplatz seiner seelischen Güter, eine zentrale Ressource seiner Bildung und der Aneignung des Glaubens. Die Liebe, von der in jenem berühmt gewordenen Gespräch zwischen Jesus und dem Pharisäer die Rede ist, hat jedenfalls die Selbstliebe als Maß: Du sollst Gott und deinen Nächsten lieben wie dich selbst, unvoreingenommen und unbedingt, wie du dich selbst zu lieben gewohnt bist. Hier wird noch stillschweigend vorausgesetzt, dass man an die Selbstliebe weder erinnern noch sie rechtfertigen muss.29 Sie setzt freilich das Eingeständnis voraus, alles das auch selber zu brauchen, was gelingende Beziehungen bieten. Gottesliebe, Nächstenliebe haben ihre tiefste Wurzel in der Erfahrung, selbst der Liebe bedürftig zu sein. Diese Einsicht sollte nicht einfach nur zur »Botschaft« des Christentums, sondern vor allem zu den Prämissen und Prinzipien der Seelsorge gehören, die vom schlechten Image der Selbstliebe in der christlichen Tradition mitbetroffen ist: In der Geschichte unseres Glaubens taucht bis in unsere Tage immer wieder die Vorstellung auf, es sei besonders christlich, einen rigorosen Umgang mit sich selbst zu pflegen, und das dem Heiligen Franziskus zugeschriebene Votum über die Liebe wird immer wieder gern zitiert: »Nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe …« Warum in aller Welt sollte man sich das wünschen? Dieses Lebensgefühl soll eine Empfehlung sein? Nicht einmal Gott mutet sich das zu – doch in der christlichen Religion wird diese Haltung nach wie vor von vielen für erstrebenswert gehalten. Dabei gräbt man sich und anderen das religiöse Grundwasser ab – um nicht zu sagen: Das Lebenswasser. Seelsorgliche Arbeit sollte daher das unmissverständliche Angebot implizieren, eine Anleitung zur Selbstliebe als zentralem Element eines leidenschaftlichen Lebensgefühls zu bieten. Der immer nur trotzdem geliebte Sünder, der überraschenderweise und wider Erwarten trotz seiner Schuld nicht sterben muss, weil das ein anderer an seiner Stelle übernommen hat, ist weder ein einladendes, noch ein hilfreiches Identifikationsangebot: Wer könnte seinen Partner noch lieben, wenn dieser fortwährend auf dem Dennoch seiner Liebe beharren würde? 29 Die Selbstliebe war in der Philosophie der Antike eine geschätzte Tugend. Zum Problem, so lehrt etwa Aristoteles 350 Jahre v. Chr., wird sie nur dann, wenn man sich nicht auf die Selbstliebe versteht, d. h. wenn man sie mit der Leidenschaft am Besitzen verwechselt (weil man sich selbst für wertlos hält) oder wenn man meint, die Freundschaft mit sich selbst könne die Freunde ersetzen.

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Er würde früher oder später dafür gehasst werden und möglicherweise dazu beitragen, dass sein Gegenüber – »dennoch« geliebt – den letzten Rest noch vorhandener Selbstliebe verliert. Christliche Seelsorge ist ein privilegierter Ort dafür, dass eine auch durch die Vergiftung der Selbstliebe entstandene Lähmung des Selbst- und Lebensgefühls eines Menschen überwunden werden kann – und dass ein Ratsuchender im Zuge seelsorglicher Begleitung als Mensch zu Vorschein kommt. Das Besondere des Christentums als Religion liegt somit nicht zuletzt in unverwechselbaren »evangelischen« Glaubensvorstellungen und -haltungen, die den Menschen Mensch sein lassen und ihm den Spielraum erschließen, den er braucht, um sich als Subjekt des eigenen Lebens zu erfahren.30 Diese Erfahrung hat nichts damit zu tun, sich als Macher seines Lebens zu profilieren und dementsprechend »an sich zu glauben«, sondern damit, ganz gegenwärtig zu sein, gern zu leben, mit einer im positiven Sinn offenen Zukunft zu rechnen, sich öffnen und hingeben zu können. Aus Glauben leben zu können schließt aber auch ein, sich gegebenenfalls abzugrenzen und »Nein« sagen zu können, sich an sein eigenes Urteil zu binden, etwas Bestimmtes zu wollen und in diesem Sinne auch als jemand Bestimmtes zu leben. Keinesfalls sollten Menschen durch den Glauben dazu animiert werden, ihren eigenen Willen zu übergehen, substantielle Wünsche und Erwartungen für Egoismus oder einen rigorosen Umgang mit sich selbst für eine Tugend zu halten. Es gehört zur Grundbestimmung der christlichen Religion, dass Menschen an das ungeheuerliche Abenteuer ihres eigenen Lebens bzw. ihres Menschseins herangeführt und darin begleitet werden. Soweit es überhaupt um die Aneignung des Glaubens geht, sollte Seelsorge dazu beitragen, dass Menschen die Erfahrung machen, dass ihnen ihr Glauben auf diesem Weg eine Hilfe ist.

30 Weiterführende Überlegungen zu diesem Thema bei Wilfried Engemann: Als Mensch zum Vorschein kommen. Anthropologische Implikationen religiöser Praxis, in: ders. (Hg.): Menschsein und Religion. Anthropologische Probleme und Perspektiven der religiösen Praxis des Christentums (Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 11), Göttingen/Wien 2016, 17–42.

Karl W. Schwarz

Zur »entschiedene[n] Wahrung des reformierten Criteriums«. Eine fakultätsgeschichtliche Annäherung an den Systematiker Eduard Böhl

Im Gedenken an Prof. ThDr. Pavel Filipi (26. 05. 1936–28. 12. 2015)*

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Einleitung: Fakultätsgeschichtlicher Ansatz

Das erkenntnisleitende Interesse an der Beschäftigung mit Eduard Böhl (1836– 1903) ist ein primär fakultätsgeschichtliches, nicht ein theologisches. Das muss vorweg schon festgestellt werden, um nicht ein naheliegendes Missverständnis zu produzieren. Schon an der Neuauflage seiner Dogmatik 19951 war zu erkennen, dass sich der theologische Ansatz des reformierten Systematikers und Bibelwissenschaftlers einer gewissen Aktualität erfreut.2 An seinem Beispiel konnte die Verbindung von Pietismus und Konfessionalismus festgemacht werden,3 am Beispiel seiner tschechischen Studenten hingegen auch die subtile Gemengelage von reformierter Konfessionalisierung und tschechischem Nationalismus.4 Die * Für bibliographische Hinweise und Übersetzungshilfen danke ich meinem Freund Dr. Ladislav Benesˇ an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag. 1 Thomas Schirrmacher: »Festwerden im Glauben an Christum«: Leben und Werk Eduard Böhls, in: Eduard Böhl: Dogmatik. Mit einer Einführung von Thomas Schirrmacher (Hänssler Theologie), Neuhausen/Stuttgart 1995, 11–38; Thomas Schirrmacher: »Festwerden im Glauben an Christum«: Leben und Werk Eduard Böhls, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel (Fundamentum 1995/3), 137–163. 2 Ho-Duck Kwon: E. Böhls Aufnahme der reformatorischen Theologie, besonders Calvins. Die Bedeutung dieser »Reformatoren-Renaissance« für die Lösung theologischer Probleme der Gegenwart, Diss. theol., Heidelberg 1991; Stephan Holthaus: Fundamentalismus in Deutschland. Der Kampf um die Bibel im Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts (Biblia et Symbiotica 1), Bonn 1993, 150–151; Thomas R. V. Forster: »Festwerden im Glauben an Christum«. Eduard Böhl’s (1836–1903) Proposal for a Re-emergence of Reformation Thought (AmUSt 7, Theology and Religion 278), New York 2009. 3 Frank Hinkelmann: Die Evangelikale Bewegung in Österreich. Grundzüge ihrer historischen und theologischen Entwicklung 1945–1998 (Studien zur Geschichte christlicher Bewegungen reformatorischer Tradition in Österreich 8), Bonn 2014, 107. 4 Wilhelm Kühnert: Zentrifugale Kräfte in der Evangelischen Kirche Altösterreichs mit besonderer Berücksichtigung des böhmisch-mährischen Raumes, in: JGPrÖ 94 (1978), (82–95) 90;

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engere Böhl-Schule zeigte sich hingegen bemüht, nationalistische Abwege durch den Rekurs auf Bibel und Bekenntnis abzuwehren. Böhls entschlossene Verteidigung der reformierten Lehre gegenüber Unionsbestrebungen, sein Kampf gegen die liberale Theologie5, gegen die historischkritische Methode der Religionsgeschichtlichen Schule, aber auch gegen die Vermittlungstheologie haben ihn an seiner Wirkungsstätte, der Wiener Evangelisch-Theologischen Fakultät, sehr isoliert.6 Wenn er auf die berühmten Häupter der Schultheologie seine heftigen Schläge vollführte, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) an der Spitze, aber auch gegen Julius Wellhausen (1844–1918), Abraham Kuenen (1828–1891) 7 und Albrecht Ritschl (1822– 1889), allesamt Exponenten der Moderne, so leisteten seine Fakultätskollegen keine Gefolgschaft, im Gegenteil. Sie hatten schon gegen seine Berufung protestiert und dieselbe zu verhindern versucht. Dieser widmete sich umso nachdrücklicher seiner Lebensaufgabe, die liberale Theologie zu bekämpfen und zu überwinden. Er wirkte wie ein erratischer Block innerhalb einer fast homogen liberalen Fakultät.8 Der folgende Beitrag setzt sich zum Ziel, die fakultätsgeschichtliche Bedeutung des reformierten Systematikers Eduard Böhl zu thematisieren, vor allem seine Lehrtätigkeit zugunsten der Evangelischen Kirche H. B. zu erörtern, die eine weitgehend (ca. 90 %) tschechischsprachige Kirche war und ihren Schwerpunkt in den reformierten Gemeinden in Böhmen und Mähren hatte. Er war 1864 von Basel nach Wien berufen worden, um das konfessionelle Element zu bestärken. Aus einem Schreiben des österreichischen Gesandten in Berlin Grafen Aloys Károlyi von Nagy-Karoly (1823–1889) vom 22. Februar 1864 ist zu ersehen, dass die beiden Berufungen 1863/64, jene des Praktologen Johann Michael Szeberiny (1825–1915) am 23. November 18639 und die des reformierten Dogmatikers Eduard Böhl gegen die »unionistischen Bestrebungen in der österreichischen

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Pavel Filipi: Theologische Strömungen des tschechischen Protestantismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: JGPrÖ 110/111 (1994/95), 201–214; Pavel Filipi: Die Schüler Eduard Böhls in Böhmen und Mähren, in: Karl W. Schwarz/Falk Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien 1821–1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 10), Wien 1997, 453–466. Ho-Duck Kwon: E. Böhl als Reformatorischer Theologe im Kampf gegen die liberale Theologie im 19. Jahrhundert, Magisterarbeit, Münster 1988. Filipi: Theologische Strömungen (s. Anm. 4), 208. Ulrich Gäbler: Eduard Böhls Auseinandersetzung mit dem Holländer Abraham Kuenen über die rechte Auslegung des Alten Testaments, 1864, in: JGPrÖ 96 (1980), 101–116. Eduard Böhl: Recent Dogmatic Thought Among the Protestants in Austria-Hungary, in: PRR 2/5 (1891), 1–29, hier 3–17 über die Wiener Fakultät – dazu die Rezension von Georg Loesche, in: JGPrÖ 13 (1892), 94–96. Das nachfolgend zitierte Schreiben des österreichischen Diplomaten nach Karl W. Schwarz: Ein Sieg des »Neuluthertums«. Die Berufung des Theologieprofessors Johann Michael Seberiny, in: WJTh 7 (2008), (197–208) 205.

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protestantischen Kirche« gerichtet waren, aber auch um »auf die immer mehr sich kundgebende Tendenz [,] unter dem Vorwande der Autonomie, die Trennung der Kirche vom Staat zu bewerkstelligen […] das Element der Bekenntnisrichtung und dem Staate ergebener Gesinnung zu befestigen«. Es bestand offenbar ein staatspolitisches Interesse daran, die liberale Theologie mit ihren auf eine Trennung von Staat und Kirche hinauslaufenden kirchenpolitischen Ambitionen, wie sie in Veröffentlichungen des Kirchenhistorikers Friedrich Daniel Schimko (1796–1867) zutage getreten waren,10 zu konterkarieren. Dieser hatte die Bekenntnisverpflichtung deutlich relativiert und sich im Rahmen einer Superintendentialversammlung 1863 zu Äußerungen hinreißen lassen, die ihn nach Ansicht des Ministeriums »zur Vertretung der evangelischen Theologie« disqualifizierten, weil sie die Bindung an die Bekenntnisschriften zur Disposition stellten.11 Böhl entsprach genau dem Anforderungsprofil und trug den Erwartungen des Ministeriums anstandslos Rechnung – bereits mit seiner Antrittsvorlesung am 11. April 1864 über die Confessio Helvetica Posterior als Bekenntnisschrift der Reformierten Kirche,12 von der er auch eine kritische Edition besorgte.13 Wenige Wochen später traten die beiden Synoden der Evangelischen Kirchen A. B. und H. B. in gemeinschaftlichen Sitzungen zusammen (28. Mai–9. Juli 1864). Der 28-jährige Böhl, der sofort als Vertreter seiner Fakultät in die Synode H. B. abgeordnet wurde und so zum Augen- und Ohrenzeugen einer österreichischen Synodenunion geworden war, stellte ohne zu zögern seine konfessionelle Ausrichtung unter Beweis und beeinflusste die Beratungen der Synode, indem er entschieden den konfessionellen Standpunkt betonte und gegen jene Synodalen polemisierte, die unter der Firma des Gemeindeprinzips die Massenherrschaft in die Kirche einzuführen versuchen und mit Hilfe dieser Massen Christum und Christentum beseitigen und das Resultat der Gesammtbildung unserer Zeit, den Geist der Zivilisation, die Wissenschaft an deren Stelle setzen möchten.14

10 Friedrich Daniel Schimko: Das kirchlich-religiöse Leben im constitutionellen Staate mit besonderer Rücksicht auf die österreichische Monarchie, Wien 1850. 11 Vgl. Wilhelm Kühnert: Aus den Anfängen der späteren Evangelisch-theologischen Fakultät: Friedrich Daniel Schimko, in: JGPrÖ 92 (1976), (55–84) 69. 12 Falsche Datierung bei Wim Balke: Eduard Böhl. Hoogleraar te Wenen en schoonzoon van dr. H. F. Kohlbrugge [Hochschullehrer in Wien und Schwiegersohn von H. F. K.], Zoetermeer 2001, 35 (26. April 1864). 13 Eduard Böhl (Hg.): Confessio Helvetica Posterior olim ab Henrico Bullingero conscripta nunc denuo ad fidem editionis principis […], Wien 1866. 14 Zitiert in: Rückblicke auf die erste evangelische Generalsynode Österreichs im Jahre 1864. (Von einem Mitgliede derselben), in: Evangelischer Sonntagsbote für Kirche, Schule und Haus 4 (1864), (454–455, 462–464, 471–473, 477–479, 485–488, 494–496) 472.

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Das wurde bemerkt und wohl auch als theologische Herausforderung so verstanden.15 Böhls Lehrauftrag umfasste nicht nur die Reformierte Dogmatik und Symbolik, sondern darüber hinaus biblische Theologie, Apologie des Christentums, Religionsphilosophie und Pädagogik, sodass er nicht nur reformierte, sondern auch lutherische Studenten zu unterrichten hatte. 1872 veröffentlichte er beispielsweise als Frucht seiner pädagogischen Lehrveranstaltungen eine »Allgemeine Pädagogik«16. Deren »entschieden offenbarungsgläubiger Standpunkt« und »treu biblischer Sinn« wurde sehr gerühmt, insbesondere, dass sie ihren Ausgangspunkt beim »erbsündlichen Verderben des Menschen« nahm und sich dem »pädagogischen Pharisäismus« der Moderne entgegenstellte. Als unter Böhls Einfluss mehrere Studenten, die Brüder Moritz August Royer (1859–1915) und Karl Royer (1862–1942) sowie Alexander Venetianer (1853–1902) aus der Kirche A. B. austraten, um zur Kirche H. B. zu konvertieren, bedeutete dies einen enormen Skandal, der Böhl den Vorwurf des Proselytismus eintrug und ihn in seiner ausgesprochenen Randstellung im Lehrkörper nur noch befestigte.17 Sein Kollege Albrecht Vogel (1822–1890) entzog ihm daraufhin sogar sein Vertrauen und legte dem Kollegium eine Punktation vor, die Böhls Verhalten scharf kritisierte18:

– Ich bedaure, dass einer unserer Studirenden während seines Studiums in Wien an unserer für die Studirenden der ev. Theologie beider Bekenntnisse bestimmten Fakultät die evangelische Kirche des einen Bekenntnisses verlassen und zur evangelischen Kirche des andern Bekenntnisses übergetreten ist, weil dieser Übertritt mit Nothwendigkeit auf eine dem einen Bekenntnisse feindliche und für das andere Bekenntnis Proselyten machende Thätigkeit eines Fakultätsprofessors zurückgeführt werden wird. – Ich halte es aber für die Pflicht eines jeden Professors unserer Fakultät, nicht nur in allen seinen Beziehungen zu den Studenten alles zu vermeiden, was zum Entstehen oder zur Förderung des Entschlusses zum Übertritt von einer Confession zur anderen führen könnte, sondern auch einen solchen Entschluss und seine Ausführung nach Möglichkeit hintanzuhalten, endlich sogar, wenn es ohne sein Zuthun dahin gekommen wäre, sich ausdrücklich als dabei in keiner Weise betheiligt zu erklären.

15 Zu ersehen an Böhls Bericht über diese Synode: Rückblicke auf die erste evangelische Generalsynode Österreichs im Jahre 1864 (s. Anm. 14). 16 Eduard Böhl: Allgemeine Pädagogik, Wien 1872 – dazu die Rezension, in: Evangelisch-reformierte Kirchenzeitung 22 (1872), 375–379. 17 Böhl: Recent Dogmatic Thought (s. Anm. 8), 13. 18 Amsterdam, Vrije Universiteit. Historisch Documentatiecentrum voor het Nederlands Protestantisme: Collectie Nr. 108 = Archiv Böhl, Nr. 26: Briefe von Professoren der Wiener Fakultät, Beilage zum Brief Vogel an Böhl, 27. 4. 1883. Zum Archiv Böhl vgl. Kerstin Geppert: Inventar des Archivs von Prof. Dr. Eduard Böhl (1836–1903), Amsterdam 2008, verfügbar unter: http://www.hdc.vu.nl/nl/Images/108_Eduard_Boehl_tcm215-137105.pdf [20. 05. 2016].

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– Ein gegentheiliges Verfahren betrachte ich als ein Vergehen gegen die bona fides, mit welcher in bezug auf das hier nöthige friedliche Zusammenstehn der beiden evangelischen Confessionen die Professoren von der kaiserlichen Regierung hierher berufen worden sind, mit welcher ferner die Studenten von ihren Eltern und Seelsorgern hierher gesandt wurden und mit welcher endlich die Professoren hier miteinander wirken müssen. Wien, 17. Mai 1883 Dr. Albrecht Vogel m.pr.

Für die reformierten Tschechen galt Böhl hingegen als ein Mann, der nicht nur seine Studenten »treulich in das Verständnis unseres Bekenntnisses und der Bibelgemäßheit desselben« einführte, sie »unter das souveräne Wort Gottes sich beugen und all’ ihr Vertrauen auf die freie Gnade Gottes in Jesu Christo setzen lehrt«, sondern der dazu »die ganze reformierte Kirche Österreichs im Herzen trägt«. Und sie fügten gleichsam als Beleg die Generalsynode 1864 hinzu, wo Böhl jene zitierte »entschiedene Wahrung des reformierten Criteriums«19 eingefordert hatte.

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Eduard Böhl – Akademischer Werdegang, Prägung durch Elberfeld: Kohlbrügge – Kirchenzucht – Ausstrahlung nach Holland

Eduard Böhl, »ein Theologe aus einem Guß, bei schwachem Körper und zarter zurückhaltender Gemütsart ein Gelehrter von eiserner Willenskraft und unbeugsamer Konsequenz, der aber den herrschenden theologischen Richtungen fremd geworden war, wie diese ihm.« Dieses Bild eines vereinsamten Theologen20 zeichnete sein Sohn Franz Marius Theodor Böhl (1882–1976), der als Theologieprofessor (Altes Testament, Assyrologie) in den Niederlanden (1913 Groningen, 1927 Leiden) den väterlichen Nachlass verwaltete, ehe er über Betreiben des damaligen Kirchenhistorikers in Amsterdam, Ulrich Gäbler, an die Freie Universität Amsterdam verbracht wurde.21 Böhls Lebenslauf (*18. 11. 1836 Hamburg; †24. 01. 1903 Wien) 22 ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Aus einer lutherisch-katholischen Mischehe entstammend, deren väterlicher Stammbaum in weiblicher Linie zurückverfolgt wurde bis zu Melanchthons Schwester Margaretha Schwarzerd, folgte er der 19 Zur Erinnerung an den von Herrn Hermann von Tardy […] im Namen seiner und etlicher anderer böhmischen reformirten Gemeinen zum Heiligen Osterfeste 1865 unserer Gemeine erstatteten Besuch, Elberfeld 1865, 24–25. 20 Franz Böhl: Art. Eduard Böhl, in: RE³ 23, Leipzig 1913, (244–249) 249. 21 Geppert: Inventar des Archivs Böhl (s. Anm. 18), 8. 22 Thomas Schirrmacher: Art. E. Böhl, in: BBKL 18, Herzberg 2001, 203–224.

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lutherischen Konfession des Vaters, erwarb eine ausgezeichnete Schulausbildung im Hamburger Joanneum (1846–1854), danach am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in Berlin. Die Begegnung mit dem Herausgeber der Evangelischen Kirchen-Zeitung Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869), dem entschiedenen Vorkämpfer gegen den Rationalismus, bestärkte ihn in seiner Studienwahl. 1856 nahm er das Studium der evangelischen Theologie in Halle auf, wobei er besonders durch August Tholuck (1799–1877) und Johannes Wichelhaus (1819– 1858) 23 beeinflusst wurde. Letzterer lud ihn 1856 nach Elberfeld ein, wo er erstmals Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875) begegnete. Das Programm der göttlichen Inspiration und Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift hatte ihm schon Wichelhaus nahe gelegt. Was er darüber hinaus in Elberfeld kennenlernte, nämlich eine staatsfreie Reformierte Gemeinde, die sich dem staatskirchlichen preußischen Unionszwang widersetzte,24 mochte ihn ganz besonders beeindruckt und herausgefordert haben. Als Kohlenbrüggianer setzte er jedenfalls sein Studium bei Franz Delitzsch (1813–1890) in Erlangen fort, wo er 1860 mit einer Arbeit über die Aramaismen im Buch des Prediger Salomos25 zum Dr. phil. promovierte. Darin hatte er im Gegensatz zu den religionsgeschichtlichen Erkenntnissen seiner Zeit die Verfasserschaft Salomos postuliert. Dem Dr. phil. fügte er in Basel den Lic. theol. hinzu mit einer Arbeit über Jesaja 24–27.26 Weiters konvertierte er zur Reformierten Kirche, wie notabene Kohlbrügge 27 Jahre zuvor, und bekräftigte seine Zugehörigkeit zur Kohlbrügge-Schule, die aus dem Dreigestirn Wichelhaus, Böhl und Adolf Zahn (1834–1900) bestand, indem er die Tochter seines Elberfelder Mentors Anna Kohlbrügge (†1873) heiratete. Seine literarische Tätigkeit bewegte sich ausschließlich auf dem alttestamentlichen Terrain. 1862 datiert sein theologisches Hauptwerk über zwölf messianische Psalmen und die altkirchliche christologische Auslegung des Alten Testaments, in dem er die Autorschaft Davids der Davidpsalmen behauptete.27 Durch seine konsequent christologische Interpretation des Alten Testaments und sein Festhalten an der Einheit von Altem und Neuem Testament manövrierte er sich in eine theologische Außenseiterposition und wurde dementsprechend 23 Wim Balke: Johannes Wichelhaus (1819–1858). Hoogleraar te Halle en vriend van dr. H.F.Kohlbrugge [Hochschullehrer in Halle und Freund von H. F. K.] (Kohlbrugge-reeks N. S. 5), Zoetermeer 2000. 24 Wolfgang E. Heinrichs: Freikirchen – eine moderne Kirchenform. Entstehung und Entwicklung von fünf Freikirchen im Wuppertal (Monographie und Studienbücher), Gießen 1989, 102–103. 25 Eduard Böhl: De Aramaismis libri Koheleth. Dissertatio historica et philologica, quo librum Salomoni vindicare conatur, Erlangen 1860. 26 Eduard Böhl: Vaticinium Jesaiae cap. 24–27, Leipzig 1861. 27 Eduard Böhl: Zwölf messianischen Psalmen. Nebst einer grundlegenden christologischen Einleitung, Basel 1862.

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bei der Besetzung des alttestamentlichen Lehrstuhls in Basel übergangen. So gelangte er 1864 aber nach Wien – nicht als Bibelwissenschaftler, sondern auf den Lehrstuhl für Reformierte Theologie. Gegen seine Berufung wurde heftig protestiert, insbesondere der lutherische Systematiker Richard Adelbert Lipsius (1830–1892) machte kein Hehl aus seiner Ablehnung des »Hyperhengstenbergianers«28. Der Lehrstuhl für Reformierte Theologie war zwar seit der Gründung der Lehranstalt 1821 vorgesehen, aber nie wirklich besetzt worden, weil sich die berufenen Professoren auf »reformierte« Bibelexegese beschränkten und die dogmatische Ausbildung der reformierten Studierenden vernachlässigten.29 Mit der Berufung von Eduard Böhl an die selbständige Protestantisch-theologische Fakultät änderte sich dieser erschreckende Befund schlagartig und durch sein Verbleiben über siebzig Semester30 auch nachhaltig. Freilich widmete er sich auch in Wien bibelwissenschaftlichen Themen (»Christologie des Alten Testaments« [1882] 31; »Die alttestamentlichen Citate im Neuen Testament« [1878] 32) und ihrer Auslegung, doch der wissenschaftliche Schwerpunkt lag in der »Apologetischen Aktion für die reformatorische Lehre«33, zu ersehen an seiner Konzentration auf Christologie, Rechtfertigung und Inkarnation, erst recht an seiner »Glaubenslehre auf reformiert-kirchlicher Grundlage« (1887) 34, deren Intention wiederholt auf den Punkt gebracht wurde35: »Festwerden im Glauben an Christum«. 1864 stattete Kohlbrügge seinen ersten Besuch in Wien ab, danach führten Schwiegervater und Schwiegersohn eine Besuchsreise quer durch die tschechischen reformierten Gemeinden in Böhmen und Mähren. Sie nahmen mit Begeisterung jenen Aufschwung zur Kenntnis, welchen dieselben in den 60erJahren des 19. Jahrhunderts erfuhren,36 ja sie registrierten eine bemerkenswerte

28 Amsterdam, Archiv Böhl (s. Anm. 18), Nr. 26: Brief Szeberiny an Böhl, Wien 20. 2. 1864. 29 Böhl: Recent Dogmatic Thought (s. Anm. 8), 6: »It was a fearful condition of desolation and apathy, and it was very hard for the Reformed Church that no dogmatics were taught and no one […] had represented their interests at the institution since its foundation«. 30 Sein Briefwechsel mit dem Erlanger Professor Köhler in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zeigt aber ein vitales Interesse für den reformierten Lehrstuhl in Erlangen: Amsterdam, Archiv Böhl (s. Anm. 18), Nr. 55: Briefe von Professor M. Köhler, 1880–1899. 31 Eduard Böhl: Christologie des Alten Testaments oder Auslegung der wichtigsten messianischen Weissagungen, Wien 1882. 32 Eduard Böhl: Die alttestamentlichen Citate im Neuen Testament, Wien 1878. 33 Kwon: E. Böhls Aufnahme (s. Anm. 2), 17. 34 Eduard Böhl: Dogmatik. Darstellung der christlichen Glaubenslehre auf reformiert-kirchlicher Grundlage, Amsterdam 1887. 35 Siehe die Publikationen von Schirrmacher (»Festwerden im Glauben an Christum« [s. Anm. 1]) und Forster (»Festwerden im Glauben an Christum« [s. Anm. 2]). 36 Hermann A. J. Lütge: Der Aufschwung der Böhmisch-mährischen Kirche unter Kaiser Franz Josef I, 1848–88, zum vierzigjährigen Regierungsjubiläum, Amsterdam 1888.

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Erweckungsbewegung.37 Eine Gegeneinladung nach Elberfeld wurde ausgesprochen,38 die schon im darauffolgenden Jahr 1865 den Pfarrer von Horˇátev und Consenior des Podiebrader Seniorates Hermann/Herˇman von Tardy (1832– 1917) nach Deutschland führte39 und diesem die für den theologischen Vermittlungsprozess nötige Munition lieferte.40 Er beteiligte sich am theologischen Diskurs, war als Kirchenhistoriker tätig und gab den von ihm ins Tschechische übersetzten Heidelberger Katechismus 1867 heraus. Seine Verbundenheit mit Kohlbrügge bewies er durch die Edition von dessen Postille in tschechischer Sprache (Wien 1870). 1867 als geistlicher Rat H. B. in das Oberkirchenratskollegium berufen, wurde ihm 1871 das theologische Ehrendoktorat der Wiener Fakultät verliehen.41 Die durch Böhl vermittelten Kontakte in das Rheinland waren folgenreich.42 Denn so kam es, dass die theologischen Erkenntnisse Kohlbrügges von den reformierten tschechischen Theologen rezipiert wurden.43 Insbesondere dessen Vorbehalte gegen eine staatlich verordnete Union und gegen staatskirchliche Strukturen stießen bei den tschechischen Studenten und Vikaren auf begeisterte Zustimmung. Für Tardy wie für Böhl war die in der 83. Frage des Heidelberger Katechismus gestellte Frage nach der christlichen Bußzucht von ganz besonderer Bedeutung. Er fand sie in Elberfeld – im Unterschied zu vielen Gemeinden in Österreich –

37 Hermann von Tardy: Österreich-Ungarn, in: Adolf Zahn: Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert, Stuttgart ˇ ícˇan: Eduard Böhl, in: Krˇestˇanská revue 20 (1953), 77–84; Pavel ³1893, (184–232) 209; Rudolf R Filipi: Spory o katechismus v 2. polovineˇ 19. stol. [Der Streit um den Katechismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts], in: Krˇestˇanská revue 44 (1977), 204–209; Pavel Filipi: Verspätete Erweckung im böhmisch-mährischen Raum, in: Ulrich Gäbler/Peter Schram (Hg.): Erweckung am Beginn des 19. Jahrhunderts. Referate einer Tagung an der Freien Universität Amsterdam 26.–29. März 1985, Amsterdam 1986, 299–309. ˇ ícˇan: Das Reich Gottes in den böhmischen Ländern. Geschichte des tschechischen 38 Rudolf R Protestantismus, Stuttgart 1957, 169–170. 39 Zur Erinnerung an den von Herrn Hermann von Tardy (s. Anm. 19). 40 Viktor Hájek: Herˇman z Tardy. K jeho stým narozeninám [Hermann von Tardy. Zu seinem 100. Geburtstag], Brünn 1932. 41 Universitätsarchiv Wien: Doktorenbuch der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Promotionsverfahren AZ 13/1871 Dr. h. c. ˇ ícˇan: Die Beziehungen zwischen den tschechischem und rheinischen Evangelischen 42 Rudolf R im 19. Jahrhundert, in: MEKGR 12 (1963), 33–39. 43 Pavel Filipi: Reformierte Gemeinden in Böhmen und Mähren und deren besondere Beziehung zur Niederländisch-reformierten Gemeinde Elberfeld, in: Klaus van Bürck/Heinrich Lüchtenborg (Hg.): 150 Jahre Niederländisch-reformierte Gemeinde zu Elberfeld, Wuppertal 2000, 227–242; Jan Pokorný: Die Tschechische reformierte Kirche und die Niederländischreformierte Gemeinde zu Elberfeld, in: van Bürck/Lüchtenborg (Hg.): 150 Jahre Niederländisch-reformierte Gemeinde zu Elberfeld, 243–249; Helmut Büchsenschütz/Ulrich Stötzel (Hg.): … und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Hermann Friedrich Kohlbrügge und die Niederländisch-Reformierte Gemeinde, Wuppertal 2004.

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gewahrt,44 nämlich in der von der Bibel vorgeschriebenen Form: die Ausschließung der Unbußfertigen und die Wiederaufnahme derselben nach geschehener Reue. Sie richtete sich u. a. gegen die Vernachlässigung des Gottesdienstes, gegen leichtfertiges Schuldenmachen und sah bei öffentlichen und geheimen Ärgernissen nach einer »ernstlichen Abmahnung« auch die Ausschließung vom Abendmahl vor. Mit einem solchen Profil stieß er in den Wiener Gemeinden auf wenig Verständnis. Den Wiener Pfarrern warf er pauschal vor, dass von den Kanzeln nur das verkündet würde, was zu hören gewünscht wird.45 In den Presbyterien herrsche der Herr »Omnes« und verhindere ein Ernstnehmen der christlichen Disziplin, von Kirchenzucht fehlte jede Spur. 1865 übernahm Böhl die Redaktion der Zeitschrift »Evangelischer Sonntagsbote aus Österreich«, die eine ähnliche Aufmachung und inhaltliche Ausrichtung zeigte wie Hengstenbergs »Evangelische Kirchen-Zeitung«. Bis 1867 erschien dieses Organ; es enthielt zahlreiche Aufsätze aus seiner Feder, die um die Elberfelder Kirchenordnung kreisten46 und die Kirchenzucht als nota ecclesiae reklamierten. So gelang es Böhl, theologische Themen im Zeitungsjargon zu popularisieren, und er bestärkte auch seine Studenten zu solcher medialen ˇ eskomoravská Jednota« (BöhmischMissionsarbeit.47 Mit den Zeitschriften »C mährische Unität) und »Evangelisch-reformirte Blätter« griffen die Böhlschüler (böhlovci) dieses Anliegen auf und bewiesen ihr geschärftes konfessionalistisches Profil. 1868 wurden seitens der Reformierten Kirche die Kontakte nach Schottland intensiviert.48 Auch dabei wirkte Böhl mit, denn es waren seine Verbindungen zu Professor John Duncan (1796–1870), auf denen aufgebaut wurde. Seine schroffe konfessionalistische Haltung nahm Konflikte mit der Kirche A. B. und mit den liberalen reformierten Glaubensgenossen durchaus in Kauf. Er war beseelt von dem Gedanken, dass die Reformierte Kirche Österreichs in einer allfälligen

44 Dazu [Eduard Böhl]: Skizze von der Verfassung der niederländisch-reformirten Gemeinde in Elberfeld, in: Evangelischer Sonntagsbote für Kirche, Schule und Haus 4 (1864), (413–515) 432–434. 45 Böhl: Recent Dogmatic Thought (s. Anm. 8), 17. 46 Eduard Böhl: Über presbyterial-synodale Verfassung, in: Evangelischer Sonntagsbote für Kirche, Schule und Haus 4 (1864), 82–85; ders.: Pastor Dr. Kohlbrügge in Elberfeld, in: Evangelischer Sonntagsbote für Kirche, Schule und Haus 4 (1864), 381–382, 389–390, 397– 398, 405–406. ˇ asopisy v deˇjinách »lidových« 47 Zdeneˇk R. Nesˇpor: Století evangelických cˇasopisu˚, 1849–1948. C ˇ echách a na Moraveˇ [Ein Jahrhundert protestantischer Zeitprotestantských církví v C schriften, 1849–1948. Zeitschriften in der Geschichte der protestantischen Volkskirchen in Böhmen und Mähren], Prag 2010, 85–88, 168–170. 48 Adrian van Andel: Die evangelische Deputation aus Böhmen nach England und Schottland in den Monaten Mai und Juni 1868, Prag 1868; Böhl: Recent Dogmatic Thought (s. Anm. 8), 10.

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Union49 zwischen A. B. und H. B. aufgerieben würde. Deshalb fand die 1864 praktizierte Zusammenarbeit zwischen A. B. und H. B. in der Generalsynode, die bis zu gemeinschaftlichen Sitzungen führte, 1871 keine Fortsetzung mehr. Als Urheber dieser Entwicklung steht Böhl fest. Seine Absichten kamen in einem Antrag auf der Reformierten Synode am 30. November 1877 unverhüllt zum Ausdruck: Die Synode erklärte,50 »dass sie zur Wahrung und Förderung der reformirten Kirche in Österreich für dieselbe eine selbständige, ihren im Worte Gottes begründeten Principien entsprechende Kirchenverfassung für dringend nothwendig erachtet«. Als Präses der Synode H. B. war Böhl auch in die Ausarbeitung einer reformierten Kirchenordnung im Rahmen einer böhmischen Pastoralkonferenz in Prag (04. 01. 1888) involviert51: Ihr Ziel war eine radikal presbyterianische Kirˇ aschenverfassung52 – nach schottischem Vorbild (1889). Dieser sogenannte C lauer Entwurf unterstrich jene vitale Bereitschaft, aus dem Kirchenverband der Evangelischen Kirche H. B. in Österreich auszuscheiden, um eine eigenständige tschechischsprachige Reformierte Kirche zu bilden. In deren Verfassung sollte das presbyterial-synodale Prinzip kompromisslos durchgeführt werden, d. h. ohne den Kompromiss mit dem landesherrlichen Kirchenregiment in der Gestalt des k. k. Konsistoriums auskommen und durch einen Rat der Generalsynode ersetzt werden. Eine synodale Kirchenleitung wurde vorgesehen durch einen von der Generalsynode zum Generalsuperintendenten auf Zeit gewählten Pfarrer einer Gemeinde aus der reformierten Unität. Der bestehenden landesfürstlichen Behörde (das ist schon am »kakanischen« k. k. zu erkennen) begegneten die Tschechen mit großem Misstrauen, auch wenn mit Tardy (H. B.) ab 1867 und Gustav Adolf Skalský (1857–1926) (A. B.) ab 1909 gezielt tschechische Referenten ˇ aslauer Verfassungsentwurf betrifft, der die altberufen wurden. Was den C österreichische Kirche radikal verändert hätte, so wurde um ihn über viele Jahre gerungen, wobei in einer der Konferenzen der Böhl-Schüler Pfarrer Václav Hrozný (1845–1896) eine sehr kritische Analyse lieferte und ihn ausdrücklich

49 Lütge: Der Aufschwung (s. Anm. 36), 34; Böhl: Recent Dogmatic Thought (s. Anm. 8), 3–17 über die theologische Fakultät Wien; 17–27 über Böhls Bedeutung für Böhmen und Mähren. 50 Justus Emanuel Szalatnay: Die dritte Generalsynode der Evangelischen Kirche helvet. Bekenntnisses in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern Österreich-Ungarns, gehalten in Wien vom 14. November bis 5. December 1877, Wien 1883, 47. 51 Lütge: Der Aufschwung (s. Anm. 36), 54–55. 52 Vgl. die Grundsätze für die Revision der geltenden Kirchenverfassung, in: Justus Emanuel Szalatnay: Die vierte Generalsynode der evangelischen Kirche helvet. Bekenntnisses in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern Österreich-Ungarns, gehalten in Wien vom 20. Oct. bis 5. Nov., Wien 1888, 98–103; darin auch: Bericht von Senior Szalatnay, 356– 372; Entwurf einer Kirchenverfassung (1877), 311–356.

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nicht empfahl. Er wurde auch letztendlich von der Synode 1889 mit knappster Stimmenmehrheit (eine Stimme) fallen gelassen.53 Böhls Arbeiten wurden zum Großteil ins Holländische übersetzt. Das hängt wohl auch mit der familiengeschichtlichen Konstellation zusammen, die ihn häufig zu Besuchen in den Niederlanden veranlasste und ihm auch eine beachtliche Wirkungsgeschichte in diesem reformierten Land bescherte.54 Nach dem frühen Tod seiner Gattin, der Tochter Kohlbrügges, heiratete er deren holländische Verwandte Jacqueline van Verschuer (1846–1921), die sich auch um seinen Nachlass sehr verdient machte. 1880 freilich, als der Gründer der Freien Universität in Amsterdam Abraham Kuyper (1837–1920) 55 ihn für einen Lehrstuhl an dieser Universität gewinnen wollte, lehnte er ganz entschieden ab.56 Aus seinem Briefwechsel ist zu ersehen, dass er die Absichten des Gründungsrektors richtig einschätzte und die von diesem initiierte Sezession (Doleantie) der Gereformeerden Kirche von der reformierten Volkskirche (Hervormde Kirche) ablehnte: Er könne sich mit dessen politischen Zielvorstellungen nicht identifizieren57: Das Bett, in welches Sie, geehrter Herr Doctor, den Strom der Unzufriedenen in Holland leiten wollen, ist mir zu breit. Ich kann mich nicht in den Dienst einer Partei wie die antirevolutionaire stellen. Dazu fühle ich weder Beruf noch Neigung. Ich bin Theolog und habe seit bald 20 Jahren mich darauf concentrirt, Studenten meines Glaubens zu unterrichten. An die Besserung eines ganzen Volkes einzuwirken, das muss ich Andren überlassen, die dazu Beruf und Neigung in sich fühlen, und sich dazu ihrem Volke gegenüber verpflichtet halten […]. [Hervorhebung im Original]

Er hatte sich mit Oberkirchenrat von Tardy besprochen, ob er einem solchen Ruf folgen sollte und jener hatte ihm dringend abgeraten58: Ihr Weggang von Wien wäre für unsere hierländige Kirche ein ungeheurer Verlust. Sehe ich lediglich das Interesse unserer Kirche an, so kann ich nicht anders rathen, als: Bleiben Sie hier, und setzen Sie eine Wirksamkeit fort, die zu den Gesegnetsten gerühmt werden muss, oder kurz gesagt: die Gesegnetste ist, die ein Professor der reform[ierten] Theologie auf die hiesige reformierte Kirche ausgeübt hat. Dass manchen Unionisten a 53 Justus Emanuel Szalatnay: Die fünfte Generalsynode der Evangelischen Kirche helvet. Bekenntnisses in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern Österreich-Ungarns, gehalten in Wien vom 20. October bis 7. November 1889, Wien 1894, 34; Filipi: Die Schüler Eduard Böhls (s. Anm. 4), 455. 54 Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 12). 55 Joris van Eijnatten/Fred van Lieburg: Niederländische Religionsgeschichte, Göttingen 2011, 331. 56 Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 12), 102–109, hier 106; Maarten Aalders: 125 jaar Faculteit der Godgeleerdheid aan de Vrije Universiteit [125 Jahre Theologische Fakultät an der Freien Universität], Zoetemeer 2005, 31. 57 Amsterdam, Archiv Böhl (s. Anm. 18), Nr. 41: Brief Böhl an A. Kuyper, Februar 1880. 58 Amsterdam, Archiv Böhl (s. Anm. 18), Nr. 42: Brief von Tardy an Böhl, 17. 2. 1880.

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la Buschbeck,59 oder manchen unklaren Köpfen unter uns, ich will ihre Namen nicht nennen,60 Ihr Weggang kein großes Herzeleid bereiten würde, ist klar. […] Aber ich frage Sie, wie könnten wir Ihnen rathen, hinzugehen, trotzdem, dass Ihnen eine Stelle angeboten wird, die so viel, so viel Verlockendes für Sie hat, wo wir gar keinen Ersatz erblicken, wo wir nur sagen müssen, dass in gewisser Hinsicht ein Stück Damm eingerissen würde, dessen Lücken gar nicht so bald gegenwärtig gar nicht reparirt werden könnte. Die Hussiten hatten den Engländer Peter Payne,61 die Brüder hatten Helitz62 und Rüdinger63 die ecclesia pressa ihren Elsner,64 wir haben Sie. Immer hat der Herr seiner böhmischen Kirche auch von Außen her eine Kraft geschenkt, zu ihrem Ausbau. Fragen Sie also uns: So ist die Antwort keine andere als die: Sie bleiben hier bei uns und halten weiter unter uns an dem Bau auf dem Grund der gelegt ist. Wir empfehlen die Sache unserem treuen Gott. Er wolle es leiten und führen, nach seiner unergründlichen Weisheit, er der Herr aller Gemeinden aller Völker des Erdkreises. Er wolle Sie die richtige Antwort geben lassen […]. [Hervorhebung im Original]

Böhl blieb und sein Bleiben wurde belohnt, wie es österreichischer nicht sein konnte: Am Ende seiner Lehrtätigkeit wurde ihm der Titel Hofrat verliehen. Böhl bedankte sich auf seine Art, indem er sich mit der Kirchengeschichte seiner österreichischen Wahlheimat auseinandersetzte und 1902 eine Darstellung der Reformationsgeschichte65 veröffentlichte, in der er erstmals auf Regensburger Archivalien gestützt die überragende Bedeutung des Flacianismus für den österreichischen Protestantismus würdigte66 und das Wirken der flacianischen Prediger positiv beurteilte – im Unterschied zur vorherrschenden Interpretation des Kirchenhistorikers Georg Loesche (1855–1932). 59 Pfarrer Dr. phil. Erhard Buschbeck (1816–1882), Pfarrer und Superintendent H. B. (1875– 1882) in Triest, stammte aus Cöthen/Anhalt. 60 Gemeint dürften sein: Carl Alphons Witz-Oberlin (1845–1918) aus dem Elsass, ab 1874 Pfarrer in Wien-Innere Stadt und Friedrich Otto Schack (1841–1922) aus der Pfalz, ab 1879 Pfarrer ebd. – vgl. Peter Karner (Hg.): Die evangelische Gemeinde H. B. in Wien. Jubiläumsschrift, Wien 1986, 136–138. 61 Peter Payne (um 1385–1456), aus England stammender hussitischer Theologe. 62 Lukas/Lukásˇ Helic/Helitz (1550–1613), aus Posen stammender Jude, der 1564 zur Brüderunität konvertierte und als Hebraist an der Übersetzung der Kralitzer Bibel beteiligt war. 63 Esrom Rüdinger (1523–1591), deutscher Philologe und Pädagoge, Geschichtsschreiber der Böhmischen Brüder, Rektor der Schule in Eibenschitz/Ivancˇice in Mähren. 64 Johann Theophil Elsner (1717–1782), Pfarrer der böhmisch-reformierten Bethlehemsgemeinde in Rixdorf/Berlin. 65 Eduard Böhl: Beiträge zur Geschichte der Reformation in Österreich. Hauptsächlich nach bisher unbenützten Aktenstücken des Regensburger Stadtarchivs, Jena 1902 – dazu die Rezension von Georg Loesche, in: JGPrÖ 24 (1903), 269–274. 66 Rudolf Leeb: Der Streit um den wahren Glauben – Reformation und Gegenreformation in Österreich, in: ders. u. a.: Geschichte des Christentums in Österreich. Von der Spätantike bis zur Gegenwart (Österreichische Geschichte, Ergänzungsband), Wien 2003, (145–360) 226– 232; Rudolf Leeb: Regensburg und das evangelische Österreich, in: Peter Schmid/Heinrich Wanderwitz (Hg.): Die Geburt Österreichs. 850 Jahre Privilegium minus (Regensburger Kulturleben 4), Regensburg 2007, 229–250.

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Als Böhl 1903 in Wien verstarb, fand er aber nicht hier seine letzte Ruhestätte, sondern am Friedhof der niederländisch-reformierten Gemeinde in Elberfeld, wo er an der Seite seines Schwiegervaters Kohlbrügge bestattet wurde.

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Böhl als Mentor der reformierten Studenten tschechischer Zunge – reformierte Konfessionalisierung

Unter den Studenten erfreute sich Böhl großer Beliebtheit. Sein Schülerkreis umfasste streng genommen alle Studenten reformierten Bekenntnisses, die in den Jahren zwischen 1864 und 1899 die Wiener Fakultät frequentierten und hier akademische Grade erwarben.67 Darunter befanden sich aber auch solche, die seinetwegen das Studium in Wien aufnahmen oder wenigstens einige Semester unter seiner Patronanz verbrachten, mochten sie aus der Reformierten Kirche Österreichs oder aus Deutschland, der Schweiz, ja sogar aus Holland stammen.68 Unter seinen tschechischen Studenten reformierten Bekenntnisses, die eigentlich um Wien einen großen Bogen machten und nur die vorgeschriebenen zwei Pflichtsemester absolvierten, weil sie das deutschnationale Milieu der Fakultät zu meiden trachteten, gelang es ihm gleichwohl, einen Kreis Gleichgesinnter aufzubauen, der über die Studienzeit hinaus miteinander kommunizierte, Rundbriefe austauschte69 und sich zu regelmäßigen Arbeitstagungen traf. Böhl nahm sich vorbildlich aller ihrer Fragen an, die weit ins persönliche reichten und auch finanzielle Aushilfen umfassten. Als theologische Voraussetzung der Teilnahme vereinbarten sie den Glauben an die Grundwahrheiten der Heiligen Schrift, wie sie der Heidelberger Katechismus mit den Fragen und Antworten von Kohlbrügge enthielt. Dass sie sich auch in der Praktizierung der christlichen Zucht einig waren, wurde schon erwähnt.

67 Aufzählung der Promotionen zwischen 1864 und 1903, bei denen Böhl als Promotor oder Berater mitwirkte, nach dem im Universitätsarchiv Wien liegenden Doktorenbuch der Evangelisch-Theologischen Fakultät: Paul Cassel (1874), Ferdinand Cisar (1892), Friedrich Cuno (1887), Josef von Erdös (1888, 1891), Josef Ladislaus Hájek (1902), Adolf Hausrath (1871), Franz Kozak (1899), Johann Kvacsala (1893), Karl von Lány (1897, 1903), Theophil Maresch (1900), Christian Pospischil (1891), Coloman Rácz (1893), Emmerich Révesz (1871), Johann de le Roi (1879), Joseph Ruzicka (1871), Franz Sebesta (1886), Theodor Stiasny (1901), Emil Sulze (1864), Hermann Tardy (1871), Alexander Venetianer (1887), Carl Alphons Witz (1876, 1878), Adolph Zahn (1871). 68 Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 12), 65–98. 69 Amsterdam, Archiv Böhl (s. Anm. 18), Nr. 72: Zirkularbriefe Böhls an »Freunde«, »Brüder« ˇ esˇtí a und »Väter«, 1876–1902 – Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 12), 99–101; Pavel Filipi: C moravsˇtí zˇáci Böhlovi [Tschechische und mährische Schüler Böhls], in: Amedeo Molnár/ Josef Smolík (Hg.): Miscelanea 1978 (Studia et textus 2), Prag 1979, (81–103) 82.

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Tschechischer Frühling wird die nationale Erweckung in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts genannt, und sie verband sich mit einer reformierten Konfessionalisierung oder bei den Sendboten der Herrnhuter Brüdergemeine mit einer Frömmigkeit, welche die Grenzen der Konfessionen zu überwinden trachtete. Die Schüler Böhls registrierten einen »Aufschwung«, während die deutschen Lutheraner hinter dem erstarkenden konfessionellen Bewusstsein der tschechischen Reformierten ausschließlich nationalistische Motive vermuteten und sie deshalb mit schweren Geschützen bekriegten. Ausdruck der Konfessionalisierung, die sich bei der Revision der Kirchenverfassung von 1864 vertiefte, war die Konzentration im konfessionell-liturgischen Bereich. Eine böhmisch-reformierte Agende wurde von der Synode 1877 verabschiedet70 – mit einem Direktorium für die geistlichen Handlungen nach dem Muster der Kurpfälzischen Agende, zusammengestellt von Böhl unter Beteiligung der beiden Senioren Daniel Nesˇpor (1834–1903) und Justus Emanuel Szalatnay (1834–1910). 1883 wurde das Agendenwerk auch für die Gesamtkirche H. B. übernommen,71 das in der Folge auch in deutscher Sprache herausgebracht wurde.72 Es enthielt im Übrigen ein Formular für die Ausschließung unwürdiger Gemeindeglieder und für die Wiederaufnahme Bußfertiger,73 das aus der Niederländischen Agende entnommen wurde.74 1883 wurde ebenfalls über Initiative Böhls die Bekenntnisfrage gelöst und die Confessio Helvetica Posterior von 1566 und der Heidelberger Katechismus von 1563 als die für die Kirche H. B. in Österreich verbindlichen Bekenntnisschriften festgelegt.75 Anlass für diese konfessionelle Klarstellung war einerseits die Agitation einer Reformierten Freikirche in Böhmen, die nach dem Vorbild der Schottischen Freikirche (Free Presbyterian Church of Scotland) um 1868 gegründet wurde und sich als die wahre Reformierte Kirche ausgab,76 andererseits der Konflikt mit den bekenntnisindifferenten Brüdern Bedrˇich Vilém (1819–1893) und Benjamin Kosˇut (1822–1898), deren reformiertes Selbstverständnis in einem tschechischen Nationalismus ausgeronnen war.77 70 Szalatnay: Die dritte Generalsynode (s. Anm. 50), 58 (facultative Geltung). 71 Szalatnay: Die vierte Generalsynode (s. Anm. 52), 155. 72 Josef G. A. Szalatnay (Hg.): Kirchenbuch zum Gebrauch in den evangelisch-reformirten Gemeinden deutscher Zunge zunächst in Österreich, Prag 1900. 73 Szalatnay: Kirchenbuch (s. Anm. 72), 40–72. 74 Szalatnay: Die dritte Generalsynode (s. Anm. 50), 56, 59. 75 Karl W. Schwarz: Der Heidelberger Katechismus und seine Rezeption in Österreich, in: Sándor Enghy (Hg.): Ki nem száradó Patak. Gyo˝ri István Tiszteletére Tanulmányok [Ein Bach, der nicht austrocknet. Festschrift für István Gyo˝ri], Sárospatak 2014, 297–308. 76 Pavel Filipi: Die Erweckungsbewegung in Ostmitteleuropa, in: Ulrich Gäbler (Hg.): Geschichte des Pietismus 3. Der Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, (359–369) 362, 365. 77 Böhl: Recent Dogmatic Thought (s. Anm. 8), 9–10.

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Böhls theologische Arbeitstagungen – Frantisˇek Sˇebesta – Konflikt in Brünn – Konflikt mit den kongregationalistischen Missionaren

Das Protokollbuch dieses Kreises mit dem Protokoll von elf Arbeitstagungen zwischen 1884 und 1903 ist eine wahre Fundgrube, die für die wissenschaftsgeschichtliche Einordnung Böhls wertvolle Dienste leistet.78 Verfasst wurde das Protokoll vom Brünner Theologen Václav Pokorný (1855–1933),79 wobei nur zwei Arbeitstagungen tschechisch, die übrigen deutsch protokolliert wurden;80 den Vorsitz der Arbeitstagungen führte jeweils Eduard Böhl selbst, nach dessen Tod Josef Sˇára (1843–1923), Pfarrer in Hronov. Der Teilnehmerkreis ist nicht mit dem Kreis der Empfänger der Rundbriefe identisch,81 es finden sich immer wieder auch Gäste darunter, die herzlich begrüßt wurden. Verwandtschaftliche Vernetzungen spielten eine Rolle, Praktika und Vikariat in Elberfeld schweißte die Gruppe zusammen, abgesehen vom Studium bei Böhl. Der bedeutendste Schüler war zweifellos Frantisˇek Sˇebesta (1844–1896),82 der in seinem Pfarrhaus in Hustopecˇe/Auspitz wiederholt diese Konferenzen durchführte und auch inhaltlich sehr viel zur Profilierung des Arbeitskreises beitrug. Er hatte nach seinem Studium in Wien ein Vikariat in Elberfeld bei Kohlbrügge absolviert und wirkte seit 1879 als Religionslehrer in Brünn und seit 1882 als Pfarrer in Auspitz. Aus seiner Beschäftigung mit dem Heidelberger Katechismus erwuchs seine Licentiatenarbeit, aufgrund der er am 10. November 1886 zum Lic. theol. promoviert wurde.83 Seine Geschichte der christlichen Kirche mit besonderer Berücksichtigung der böhmisch-mährischen Kirche (»Deˇjiny církve krˇestˇanské« [Prag 1888]) erntete aber heftige Kritik von lutherischer Seite, die die nationalistisch aufgeladene Atmosphäre der Zeit erkennen lässt.84 So warf ihr eine Rezension in der

78 Dazu auch Filipi: Die Schüler Eduard Böhls (s. Anm. 4), 455–466. 79 Jan Pokorný: Václav Pokorný (12. 11. 1855–19. 8. 1933), in: Setkávání 7 (2005), 200–201. 80 Archiv der Pfarrgemeinde der Böhmischen Brüder, Brünn: Kniha protokolní bratrských konferencí zacˇaté od r. 1884 (wurde mir freundlicherweise von Pfarrer Jan Pokorný in Ablichtung zur Verfügung gestellt). 81 Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 12), 65–89, hier 89–98 eine unvollständige Auflistung der Konferenzteilnehmer. 82 Jan Toul (Hg.): Jubilejní kniha cˇeskobratrské evangelické rodiny [Jubiläumsbuch der tscheˇ eské Budeˇjovice 1931, 172; Balke: Eduard Böhl chisch-brüderischen evangelischen Familie], C (s. Anm. 12), 96–97. 83 Universitätsarchiv Wien: Doktorenbuch der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Promotionsverfahren AZ 29/1886: Franz Sebesta, Olevian Ursin, Friedrich der Fromme, die Urheber des Heidelberger Katechismus. 84 Von der tschechischen Geschichtsschreibung wurde das Buch dankbar rezipiert und begegnet als Referenzliteratur bei Pavel Filipi: Die Jahre 1848 bis 1938, in: Tschechischer Ökumenismus. Historische Entwicklung, Prag 1977, (199–243) 218, 221, 238, 242.

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Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchen-Zeitung in Leipzig85 »Verdrehungen geschichtlicher Thatsachen zum Nachtheil der lutherischen Schwesterkirche« vor. In der Bielitzer Evangelischen Kirchen-Zeitung86 steigerte sich die Kritik zur Aussage, dass »nur Lüge und Erdichtung zum Zwecke der Verherrlichung der reform[ierten] Kirche« in dem Buch zu finden wäre. Freundlicher aufgenommen wurde das Buch des Amsterdamer Pfarrers Heinrich A. J. Lütge (1850–1923),87 der über ausgezeichnete Ortskenntnisse verfügte, weil er auf den Materialien seines Schwagers Sˇebesta aufbauen konnte und dessen Studien in seine Darstellung einfließen ließ.88 Sˇebesta referierte regelmäßig bei den Arbeitstagungen. Er thematisierte den Heidelberger Katechismus, das Amt der Schlüssel und die kirchliche Bußzucht, die er historisch und systematisch entfaltete, wobei er auch die Schwierigkeiten erörterte, die bei ihrer Handhabung auftraten, aber auch Mut machte, an der Praxis festzuhalten. Weiters trug er über den dogmatischen Wert der Lieder der Brüderunität vor,89 aber auch über die Verbindung zwischen den Böhmischen Brüdern und der Reformierten Kirche.90 Sˇebesta fertigte vom gesamten Psalter eine zeitgemäße tschechische Übersetzung an; er unternahm auch den Versuch, Calvins Institutio ins Tschechische zu übersetzen. Vor allem widmete er sich der Übersetzung von Böhls Dogmatik ins Tschechische, wobei er sie aber auch inhaltlich bearbeitete. Das führte zu einem heftigen Konflikt mit Böhl, weil er sich dabei an einer anderen reformierten Dogmatik orientierte, nämlich jener von Heinrich Heppe (1820–1879).91 Sˇebesta verfasste weiters ein Lehrbuch der Theologie für den Religionsunterricht92: »Krˇestˇanská veˇrouka pro ˇskolu a du˚m« (Prag 1886), »Glaubenslehre für Schule und Haus«, wofür ihm seitens des Oberkirchenrates ausdrücklich Lob und Anerkennung ausgesprochen wurde. Der Protokollführer Václav Pokorný war in einen heftigen Konflikt mit der evangelischen Toleranzgemeinde A. u. H. B. in Brünn93 und dessen langjährigen 85 86 87 88 89 90 91 92 93

In: AELKZ 22 (1889), 522–523. Verfasser der Rezension war Georg Loesche. In: EKZÖ 6 (1889), (118–121) 119. Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 12), 81. Lütge: Der Aufschwung (s. Anm. 36), VIII – vgl. dazu die zustimmende Rezension von Císarˇ, in: EKZÖ 6 (1889), 99–101. Abgedruckt in: Evangelisch-Reformirte Blätter aus Österreich 1 (1891), 4–6, 18–20, 34–36 – mit einer Replik von Císarˇ auf den Seiten 46–48, 58–59. Abgedruckt in: Evangelisch-Reformirte Blätter aus Österreich 3 (1893), 14–16, 30–32, 40–43, 50–54. Filipi: Die Schüler Eduard Böhls (s. Anm. 4), 455. Hier der Hinweis auf das daraus resultierende tiefe Zerwürfnis mit Böhl. Böhl: Recent Dogmatic Thought (s. Anm. 8), 15. Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 12), 94–95; Karl W. Schwarz: Der »Fall Brünn«. Eine evangelische Kirchengemeinde im Nationalitätenkonflikt der Habsburgermonarchie, in: Helena Krmícˇková u. a. (Hg.): Querite primum regnum Dei. Festschrift für Jana Nechutová, Brünn 2006, 623–633.

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Pfarrer Gustav Trautenberger (1836–1902) verwickelt. Die Ursache des Streites lag in dem Bemühen, in Brünn eine selbständige tschechisch-reformierte Pfarrgemeinde zu errichten, um die sprachliche und konfessionelle Betreuung der tschechischen Bevölkerung sicherzustellen und der beklagten Marginalisierung ein Ende zu machen. Im Mikrokosmos der alten A. u. H. B.-Gemeinde fand der Nationalitätenkonflikt der Habsburgermonarchie ein geeignetes Betätigungsfeld, wobei theologische, konfessionelle, spirituelle und politische Motive ein höchst brennbares Amalgam bildeten, das sogar die Tagesordnung der Synoden bestimmte.94 Trautenberger, der 1871 für seine Verdienste um die Kirchengeschichte der mährischen Metropole von der Wiener Fakultät95 mit dem Grad eines Lic. theol. und von der Universität Tübingen mit dem Dr. phil. h. c. ausgezeichnet wurde, wurde von den Tschechen als Demagoge empfunden, dem die Gefährdung der deutschen Leitkultur in Brünn vor Augen stand. Er hatte schon verärgert zur Kenntnis nehmen müssen, dass die reformierten Schüler ihn als Religionslehrer ablehnten und von Sˇebesta bzw. Pokorný unterrichtet wurden. Mit großer Leidenschaftlichkeit führe Trautenberger in den Turnvereinen und Studentenkommersen große Reden, seine schriftlichen Arbeiten seien aber, wie sein Gegner ausführte,96 nur »seicht«, sie »verraten nicht viel Gelehrsamkeit«. Deshalb wandte sich Sˇebesta an seinen Lehrer und rückte mit einer scheinbaren Sensation heraus: Trautenberger habe verlauten lassen, dass er Professor in Wien werden wolle. Der Briefschreiber hielt davon nichts und ließ sich zu einer Denunziation hinreißen: »Wenn Sie den auf die Fakultät bekommen, so ist die Fakultät geliefert!« Denn: Es gehe ihm nicht um die Religion, sondern um das Deutschtum, seine Zuhörer in Brünn seien nicht die Evangelischen, sondern Juden und deutsche Ketzer. Man nenne ihn allgemein den »Schauspieler«. Er sei fest überzeugt, ließ er seinen Wiener Lehrer wissen, dass sich die Fakultät nur die größte Blöße geben würde, wenn sie ihn vorschlagen sollte. Und sollte er nach Wien kommen, so würde es ärger, als wenn jeder beliebige Moderne von Deutschland käme; die große Gefahr liege in seinem »Demagogenthum«, das bei ihm keine Grenzen kenne. Nun: Der Fakultät blieb Trautenberger »erspart«, obwohl er vom damaligen Dekan Szeberiny sogar primo et unico loco gereiht worden war. An seiner Stelle wurde jener apostrophierte »beliebige« Modernist berufen, ein bisher in der Wissenschaft unbekannter Dozent aus der Altpreußischen Union: Georg Loesche,

94 Szalatnay: Die dritte Generalsynode (s. Anm. 50), 50–55. 95 Universitätsarchiv Wien: Doktorenbuch der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Promotionsverfahren AZ 16/1871 Lic. h. c. Wien, Dr. phil. h. c. Tübingen 1871. 96 Amsterdam, Archiv Böhl (s. Anm. 18), Nr. 46: Schreiben Sˇebesta an Böhl, 2. 3. 1887.

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der sich freilich zum bedeutendsten Historiographen des österreichischen Protestantismus entwickeln sollte.97 An dem erwähnten Konflikt in Brünn hatte auch Eduard Böhl Anteil genommen. Er hatte dieses konfessionelle Bewusstsein der tschechischsprachigen Bethlehemsgemeinde gestützt und gefördert. Im Gästebuch der Gemeinde brachte er anlässlich der Einweihung der Betlehemskirche am 23. Mai 189598 sein theologisches Programm auf den Punkt, indem er eine innige Jesusbeziehung in der Nachfolge akzentuierte und diese christologisch-kreuzestheologisch begründete99 und damit aber die Unterstellungen eines tschechischen Nationalismus indirekt zurückwies: (Prof. Dr.theol. Eduard Böhl): »Möge stets in dieser Bethlehemskirche der Heiland in den Herzen Vieler neu geboren werden & jeder der Nachfolger meines Freundes Pokorný gedenke der Aufschrift über der Eingangsthür: Wir predigen Christum! (1. Kor. 1,23) – ich füge hinzu: Christum, den Gekreuzigten!«. [Hervorhebungen im Original]

Die Protokolle verzeichnen die Teilnehmer und Beratungsgegenstände, die Bibelarbeiten und Predigten, Referate, Literatur- und Zeitberichte sowie pastorale Informationen.100 Hier seien nur einige mitgeteilt: – der Heidelberger Katechismus in der Interpretation Kohlbrügges; – die von der Reformierten Synode 1877 beschlossene Agende, die 1881 auch in deutscher Sprache im Druck erschienen war; – die Vakanz des AT-Lehrstuhls in Wien, die schließlich durch Wilhelm Lotz (1853– 1928) geschlossen wurde, der von Böhl sehr begrüßt und geschätzt wurde; – die Tätigkeit der Freien Reformierten Kirche; ˇ aslauer Kirchenverfassungsentwurf; – der C – die Taufe im Gottesdienst vor der versammelten Gemeinde; – die Zulassung zum Abendmahl; – das Direktorium zur Agende; – die aktuelle Zeitfrage nach den »guten Werken«;

97 Rudolf Leeb: Zum wissenschaftlichen Profil der an der Fakultät lehrenden Kirchenhistoriker und zur österreichischen evangelischen Protestantengeschichtsschreibung, in: Karl W. Schwarz/Falk Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien 1821–1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 10), Wien 1997, (13–48) 21; Peter F. Barton: Georg Loesche und das Periodisierungsproblem der Fakultätsgeschichte, in: Schwarz/Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit, (51–69) 52. 98 Archiv der Pfarrgemeinde der Böhmischen Brüder, Brünn: Vzpomínka na slavnostní otevrˇení Betlémského chrámu Páneˇ v Brneˇ dne 23. kveˇtna 1895 [Erinnerung an die feierliche Einweihung der Bethlehemskirche in Brünn am 23. Mai 1895], Brünn 1895. 99 Archiv der Pfarrgemeinde der Böhmischen Brüder, Brünn: Památník cˇeskobratrské církve v Brneˇ [Chronik der Pfarrgemeinde – mit Gästebucheintragungen]. ˇ esˇtí a moravsˇtí zˇáci Böhlovi (s. Anm. 69), 81–103. 100 Vgl. Filipi: C

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– Vorstellung von Georg Loesches Ausgabe der Tischreden Luthers (1892);101 – das theologische Problem der Begräbnisansprachen; – die seinerzeitigen Kontakte zwischen der alten Brüder-Unität und den Reformierten in Holland; – die 60. Frage des Heidelberger Katechismus; – das Verhältnis der Reformierten zu den Herrnhutern, die seit 1861 Missionsarbeit in Böhmen leisteten und 1880 gesetzlich anerkannt wurden;102 – die Missionsarbeit der Kongregationalisten und der Baptisten, die die Angehörigen der Reformierten Kirche sehr beunruhigte; deshalb befasste sich die Konferenz mit der Lehre von der Taufe und arbeitete die Unterschiede zu den Baptisten heraus. – Um diesen »Sekten« (Freie Reformierte Kirche, Baptisten etc.) entgegenzutreten, ˇ eskomoravská Jednota« = »Böhmisch-mähriwurde die reformierte Zeitschrift »C sche Unität« gegründet, die monatlich durch Pfr. Josef L. Hájek (1861–1930) 103 herausgegeben wurde.

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Die Nachfolge Böhl an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien: Venetianer oder Maresˇ

Als Eduard Böhl aus Krankheitsgründen vorzeitig emeritiert wurde, war seine Nachfolge völlig ungeklärt. In seinem Referat vor dem Professorenkollegium, datiert mit 18. Juli 1899,104 stellte er gleich eingangs klar, dass er einen »böhmischen Vertreter« seines Faches namhaft zu machen wünschte, »um zu zeigen, wie hoch ich meinen seit 35 1/2 J. mir zugewiesenen Wirkungskreis stelle«. »Aber«, so setzte er fort, »meine Böhmen haben mit sehr ungünstigen Verhältnissen zu kämpfen, dass ich nach Sˇebestas Tode keinen weiß, der Anspruch erheben könnte auf das leer werdende Katheder«. In der Folge erörterte er das wissenschaftliche Oeuvre des Tschechen Bohumil Maresˇ (1851–1901),105 der als Pfarrer in Dzˇbánov bei Leitomischl/Litomysˇl in Böhmen 1900 mit einer Darstellung der reformierten Gnadenwahllehre den Grad eines Lic. theol. erworben hatte.106 Von ihm sei er aber nicht einmal sicher, dass er 101 Georg Loesche (Hg.): Analecta Lutherana et Melanthoniana. Tischreden Luthers und Aussprüche Melanthons, hauptsächlich nach Aufzeichnungen des Johannes Mathesius, Gotha 1892. 102 Karl W. Schwarz: Freikirchen zwischen Konsens, Konflikt und gesetzlicher Anerkennung. Zur kultusrechtlichen Lage in Böhmen im 19. Jahrhundert, in: Dietrich Meyer (Hg.): Über Schlesien hinaus. Zur Kirchengeschichte in Mitteleuropa. Festgabe für Herbert Patzelt zum 80. Geburtstag (JSKG.B 10), Würzburg 2006, 57–81. 103 Toul: Jubilejní kniha (s. Anm. 82), 65. 104 Amsterdam, Archiv Böhl (s. Anm. 18), Nr. 85: Notizen und Briefe Böhls zur Frage seines Nachfolgers nach seiner Pensionierung, 1899. ˇ icˇan: Art. Václav Maresˇ, in: ÖBL 6, Graz 1975, 79. 105 Rudolf R 106 Universitätsarchiv Wien: Doktorenbuch der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Promo-

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die deutsche Vortragssprache beherrsche. Dann widmete er sich als der einzigen in Betracht zu ziehenden Publikation seiner Kirchengeschichte für Schulen (1893), die wohl für den kleineren böhmischen Horizont ihre Verdienste habe und als Schulbuch ihren Zweck erfülle (obwohl sie bisher noch nicht als Schulbuch approbiert worden sei), er beklagte aber ihre eingeschränkte Perspektive, »dass sie die neuere Kirchengeschichte zu sehr vom böhmisch-partikularistischen Standpunct aus betrachtet«. So wirft er dem Buch vor, dass es mit Hus (1400) die Neuzeit beginne, dieselbe dauere von 1400–1892 und die europäische Reformation müsse sich gefallen lassen, »als zweite Etappe oder als Bei- und Nebenprodukt der böhmischen behandelt zu werden«. Somit sei »a limine ausgeschlossen, dass Luther, Zwingli und Calvin recht und nach Gebühr gewürdigt werden«. Alle drei sowie auch die reformatorischen Bekenntnisse würden nur »dürftig« [Hervorhebung im Original] behandelt. Er, Böhl, sei zu sehr verwachsen mit seinen Böhmen, als dass man Abneigung gegen die Berufung eines solchen bei ihm vermuten sollte: »aber im Namen der primitivsten Anforderungen der Wissenschaft und der europäischen Reformation sage ich – non licet !«. Dass Maresˇ etwa gar als Dogmatiker gelten könne – dem würde auch in seinen Kreisen widersprochen. Er müsse im Blick auf die Möglichkeit einer Berufung warnen »vor dem Zurücksinken auf einen vorreformatorischen Standpunkt […]«. Sodann nannte Böhl als denkbare »reichsdeutsche« Kandidaten für den Lehrstuhl den Hallenser Pastor Lic. August Lang (1867–1945), dessen 1899 erschienene Studie über Calvins Trinitätslehre er aber unerwähnt ließ, und den Erlanger Professor Lic. Ernst Friedrich Karl Müller (1863–1935), der »eine recht übereilt ins theologische Publikum geworfene Symbolik geschrieben« habe. Ihn sah er aber politisch kompromittiert, weil er in seiner Erlanger Kirchenzeitung durch Artikel über die Los-von-Rom-Bewegung hervorgetreten sei und sich so als »ein ganz unmöglicher Kandidat für eine so hochwichtige Stelle wie die in Rede stehende Professur, bei der Böhmen, Ungarn und Deutsche interessiert sind« erwiesen habe [Hervorhebung im Original]. Bei den beiden erwähnten Kandidaten stünde überdies ihr Ausländer-Status hindernd im Wege und würde eine Berufung nur dann erfolgreich sein, wenn sie bereits einen gewissen Ruf hätten und »specifica doctrinae von Bedeutung« für sie sprechen würden, vor allem wenn und solange kein gleichwertiger Inländer vorhanden wäre. Einen solchen präsentierte Böhl aber mit seinem Schüler Lic. Alexander Venetianer,107 der 1887 mit einer Arbeit über das Alte Testament glanzvoll protionsverfahren AZ 51/1900: Theophil Maresch, Darstellung der reformierten Gnadenwahllehre, 1. Hälfte, Wien 1900. 107 Böhl: Recent Dogmatic Thought (s. Anm. 8), 15, 22; Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 12), 98.

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moviert worden war.108 Ihn bezeichnete er als den Einzigen, »der Deutschen, Böhmen und Ungarn so weit es Menschen möglich ist, befriedigen könnte« und beantragte, ihn »primo atque unico loco« dem Ministerium vorzuschlagen. Falls der Antrag keine Majorität finden sollte, solle sein Gutachten als Separatvotum dem Ministerium amtlich unterbreitet werden. Der Vortrag stieß mit seinem Besetzungsvorschlag auf heftigen Widerstand. Ob dieser auf Venetianers Herkunft aus dem Judentum zurückzuführen war,109 lässt sich nicht klar feststellen. Am Höhepunkt der Los-von-Rom-Bewegung und eines überschießenden Deutschnationalismus in der Evangelischen Kirche wäre dies durchaus vorstellbar, war doch Venetianer wiederholt mit solchen rassistischen Vorurteilen konfrontiert. Er war als Sohn eines Rabbiners erst im Zuge seines 1871 aufgenommenen Philosophiestudiums in Wien zum Christentum konvertiert, hatte sich 1873 in der Deutschen evangelischen Gemeinde A. B. in Prag taufen lassen und wechselte in der Folge zur Theologie, absolvierte das Studium in Basel und Wien, war durch besondere philologische Fähigkeiten aufgefallen und konvertierte unter dem Einfluss von Böhl von A. B. zu H. B. Eine andere Begründung für die Ablehnung Venetianers war dessen theologische Profilierung im Sinne Böhls und Kohlbrügges. Möglicherweise lag darin das Motiv für das Votum des Professorenkollegiums, welches eine Fortsetzung jener von Böhl inaugurierten reformierten Konfessionalisierung verhindern wollte.

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Zum weiteren Lehrbetrieb am Reformierten Lehrstuhl: Witz-Oberlin und Bohatec

Mit dem Besetzungsvorschlag »Venetianer« war Böhl nicht durchgedrungen. Dass die Entscheidung des Kollegiums akkurat auf jenen tschechischen Theologen fiel, den Böhl ganz entschieden disqualifiziert hatte, auf Bohumil Maresˇ,110 wird man wohl nur im Sinne einer Distanzierung zur Böhl-Schule verstehen können. Freilich ist, noch ehe der Ruf an den Pfarrer in Prˇeloucˇ und Konsenior

108 Universitätsarchiv Wien: Doktorenbuch der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Promotionsverfahren AZ 31/1887: Alexander Venetianer, Die Auslegung des Buches Jesaja. Die eingereichte und approbierte Arbeit wurde bei einem Bombentreffer im Jänner 1945 zerstört. 109 Sˇebesta deutet antisemitische Vorbehalte gegen Venetianer an: Amsterdam, Archiv Böhl (s. Anm. 18), Nr. 46: Brief von J. Sˇebesta, Elberfeld 9. 6. 1876: über Konflikte in der Gemeinde Elberfeld, in der sich »die eine Partei schon missbilligend über Venetianer aussprach, dass sie keine Judenjungens nöthig hätten …«. ˇ ícˇan: Václav Maresˇ (s. Anm. 105), 79. 110 Toul (Hg.): Jubilejní kniha (s. Anm. 82), 118; R

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ˇ aslauer Seniorates ergangen war, Bohumil Maresˇ, der schon längere Zeit des C schwerkrank darnieder lag, verstorben. An die zweite und dritte Stelle ihres Besetzungsvorschlags hatten die Wiener Professoren zwei ausländische Gelehrte gereiht, nämlich den erwähnten Hallenser Dompfarrer August Lang und den Zürcher Systematiker Gustav von Schultheß-Rechberg (1852–1916), sie dienten aber nur als Zierrat, um der österreichischen Behörde den österreichischen – noch nicht habilitierten – Kandidaten schmackhaft zu machen. Nach dessen Ableben wurde der Besetzungsvorschlag zurückgezogen. In der nun Platz greifenden Vakanz wurde der Plan gefasst, einen jüngeren Studenten slawischer Zunge zu beauftragen, eine gezielte Ausbildung aus reformierter Theologie anzustreben. Schon 1902 hatte man einen bestimmten Studenten im Auge, dem ein Stipendium in der Höhe von 2000 Kronen zuerkannt wurde, nämlich den gerade 26-jährigen Josef Bohatec (1876–1954).111 Er hatte 1901 die beiden Examina pro candidatura und pro ministerio mit Erfolg absolviert und konnte schon im darauf folgenden Jahr an der Karlsuniversität in Prag mit einer Arbeit über Schleiermachers Religionsbegriff zum Dr. phil. und 1905 in Wien zum Lic. theol. promovieren. Da das Kollegium auf eine auswärtige Habilitation bestand, verzögerte sich seine Berufung, zumal sich dieser als Inspektor des Kandidatenstifts in Elberfeld anstellen ließ und die preußische Staatsbürgerschaft erworben hatte. Als die lange Sedisvakanz sogar Wellen in der Reformierten Synode schlug, vornehmlich weil die Anregung fiel, den reformierten Lehrstuhl umzuwidmen, reagierte das Fakultätskollegium mit der Erteilung eines Lehrauftrags an den Wiener Pfarrer Charles-Alphonse Witz-Oberlin (1845–918).112 Diese Supplierung dauerte bis 1913, als Bohatec nach seiner 1912/13 in Bonn erfolgten Habilitation berufen wurde. Für die Wiener Fakultät wurde er ein herausragendes Mitglied, ein international gewürdigter Calvinforscher,113 dessen europäischer Anspruch der Wiener Fakultät einen spezifischen Auftrag und einen besonderen Charme verlieh. Er war nicht nur ein Schüler des oben erwähnten Böhlschülers Václav Pokorný am Gymnasium in Brünn, sondern verstand sich auch als einer der

111 Karl W. Schwarz: Von Prag über Bonn nach Wien. Josef Bohatec und seine Berufung an die Wiener Evangelisch-theologische Fakultät im Jahre 1913, in: CV 35 (1993), 232–262. 112 Ulrich H. J. Körtner: Calvinismus und Moderne. Der Neocalvinismus und seine Vertreter auf dem Lehrstuhl für Reformierte Theologie in Wien, in: Karl W. Schwarz/Falk Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien 1821–1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 10), Wien 1997, (427–451) 431. 113 Karl W. Schwarz: Joseph Bohatec – ein Calvinforscher aus Österreich, in: Evangelischtheologische Fakultät der Universität Wien (Hg.): Johannes Calvin zum 500. Geburtstag. Festgottesdienst, Festakt & wissenschaftliches Symposion (GSEThF 7), Wien 2009, 27–43.

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letzten Schüler von Eduard Böhl.114 Er verfügte ebenso wie jener über ausgezeichnete Verbindungen nach Holland, war auch Ehrendoktor der Freien Universität in Amsterdam, aber jene exklusive Kohlbrügge-Prägung wies seine Theologie nicht auf.115 Dessen ungeachtet muss auch seiner wissenschaftlichen Ausrichtung attestiert werden, dass er die »entschiedene Wahrung des reformierten Criteriums«116 beobachtete. Bohatec war sich dieser sensiblen Aufgabe am Standort Wien – nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und dem beklagten Ausbleiben reformierter Studenten aus der Tschechoslowakei und Ungarn – sehr bewusst, denn er schlug, um die Einsparung seines Lehrstuhls zu verhindern, ehrenvolle akademische Berufungen an ausländische Universitäten aus.117 Er war, um es mit den Worten von Pavel Filipi zu sagen, an den diese Zeilen erinnern wollen, eine der »Gaben«, die der tschechische Protestantismus der Wiener Fakultät zur Verfügung stellte,118 und wurde eine wissenschaftliche Zierde der Fakultät.

114 Josef Bohatec: Prof. E. Böhl. Zu seinem 100. Geburtstag, in: Reformiertes Kirchenblatt 12 (1936), 2. 115 Johannes Dantine: Josef Bohatec. Calvinforscher und Lehrer der Kirche, in: Karl W. Schwarz/Falk Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien 1821–1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 10), Wien 1997, (469–485) 474; Körtner: Calvinismus (s. Anm. 112), 448. 116 S. o Anm. 19. 117 Dantine: Josef Bohatec (s. Anm. 115), 470–471. 118 Filipi: Theologische Strömungen (s. Anm. 4), 201.

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Inklusion von Menschen mit Demenz – Vision oder Illusion? Die gesellschaftliche Herausforderung der Demenz aus sozialethischer Perspektive1

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Die inklusive Gesellschaft: Utopie oder realistisches Ziel?

Ausgehend von der UN-Menschenrechtskonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vollzieht sich in allen Arbeits- und Lebensbereichen, in denen Menschen mit Behinderungen im Fokus stehen, ein Paradigmenwechsel von der Integration zur Inklusion. Namentlich die Diakonie hat sich dem Ziel der Inklusion von Menschen mit Behinderungen verschrieben und setzt damit den Weg fort, der bereits von der Exklusion dieser Menschen in der Vergangenheit zur Integration beschritten wurde. Parallel- und Sonderwelten, für welche die im 19. Jahrhundert entstandene und im 20. Jahrhundert weiterentwickelte Anstaltsdiakonie steht, sollen endgültig der Vergangenheit angehören. An die Stelle geschlossener Einrichtungen und gesonderter Ortschaften sind zunehmend dezentrale Wohngemeinschaften und ambulante Angebote der Eingliederungshilfe und der medizinischen, pflegerischen und psychotherapeutischen Versorgung getreten. Das Gleiche gilt für Schulangebote und Arbeitsplätze. In Deutschland ist der Anteil ambulant unterstützter Personen, der noch Ende der 1980er Jahre fast bei null lag, auf beinahe 40 Prozent gestiegen.2 Der Gedanke der Inklusion geht über den der Integration freilich noch hinaus. Inklusion bedeutet, dass nicht die Menschen mit Behinderungen oder besonderen Bedürfnissen in der Weise in die Gesellschaft eingegliedert werden sollen, ohne dass diese ihre Normen- und Wertvorstellungen ändern müsste. Vielmehr soll die Gesellschaft so verändert werden, dass sie sich auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen einstellt. Es geht um umfassende Teilhabe, bei der sich nicht die Minderheit den Normen der Mehrheit unter-

1 Vortrag im Rahmen der 21. Diakonie-Dialoge des Diakoniewerks Gallneukirchen, 25. 06. 2015. 2 Vgl. Günther Wienberg: Von der Integration zur gesellschaftlichen Inklusion von Menschen mit Behinderungen – realistisches Ziel oder Utopie?, in: ZEE 58 (2014), (99–109) 103.

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werfen muss, sondern jede Form von Diskriminierung und Barrieren überwunden werden soll.3 Die UN-Behindertenrechtskonvention bringt den Gedanken der sozialen Inklusion in der Weise zum Ausdruck, dass sie von dem »wertvollen Beitrag« spricht, »den Menschen mit Behinderungen zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften leisten und leisten können«4. Die »Förderung des vollen Genusses der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Menschen mit Behinderungen sowie ihrer uneingeschränkten Teilhabe« könne »ihr Zugehörigkeitsgefühl verstärken und zu erheblichen Fortschritten in der menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft und bei der Beseitigung der Armut führen«5. Wichtig sei ferner die »Erkenntnis, wie wichtig die individuelle Autonomie und Unabhängigkeit für Menschen mit Behinderungen ist, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen«6. Außerdem sollten »Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben«, »aktiv an Entscheidungsprozessen über politische Konzepte und über Programme mitzuwirken, insbesondere, wenn diese sie unmittelbar betreffen«7. Günther Wienberg, Mitglied im Vorstand der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, weist freilich darauf hin, dass noch nicht einmal das Ziel der Integration als vollständig verwirklicht gelten kann. Vielmehr gibt es gegenläufige Entwicklungen, die als problematisch anzusehen sind.8 Zumindest in den Anfangsjahren der Enthospitalisierung wurden nicht selten chronisch kranke und behinderte Menschen aus öffentlichen psychiatrischen Anstalten in private Einrichtungen des gleichen Typs verlegt. Die Zahl der Betten in der Akutversorgung ist drastisch gesunken, während sich die Zahl der Plätze im Maßregelvollzug seit Beginn der 1990er Jahre verdreifacht hat. Menschen mit seelischen und geistigen Behinderungen sind vom allgemeinen Arbeitsmarkt noch immer weitgehend ausgeschlossen. Weitgehend gelungen ist zwar die Integration von Menschen mit leichteren Störungen oder Behinderungen, nicht aber diejenige 3 Vgl. Dierk Starnitzke: Diakonische Identität in einer pluralen Gesellschaft, in: ZEE 58 (2014), (110–123) 115. 4 UN-Behindertenrechtskonvention, Präambel, lit. m. Die deutsche Übersetzung des Textes ist abrufbar unter Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (Hg.): UNKonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und Fakultativprotokoll, 2011, verfügbar unter: http://www.sozialministerium.at/cms/site/attach ments/2/5/8/CH2218/CMS1314697554749/un-konvention_inkl._fakultativprotokoll,_de.pdf [30. 09. 2015], 3. 5 UN-Behindertenrechtskonvention, Präambel, lit. m (Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz: UN-Konvention [s. Anm. 4], 3). 6 UN-Behindertenrechtskonvention, Präambel, lit. n (Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz: UN-Konvention [s. Anm. 4], 3). 7 UN-Behindertenrechtskonvention, Präambel, lit. o (Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz: UN-Konvention [s. Anm. 4], 3). 8 Zum Folgenden vgl. Wienberg: Von der Integration (s. Anm. 2), 104.

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von Menschen mit schwerwiegenden und komplexen Beeinträchtigungen. Sie sind weiterhin »auf separierende Sonderwelten außerhalb oder am Rande der Gesellschaft verwiesen«9. Was nun die Vision einer inklusiven Gesellschaft betrifft, gibt es zumindest drei Gesichtspunkte von grundlegender Bedeutung. Der erste betrifft die Frage der Ressourcen. Durch die UN-Behindertenrechtskonvention wird der rechtsbasierte Ansatz der Behindertenpolitik gestärkt. Menschen mit Behinderungen gelten nicht mehr als Objekte der Sozialpolitik, sondern als Bürgerrechtssubjekte. Konkret ist damit die Forderung verbunden, die Hilfen für Menschen mit Behinderungen aus der Sozialhilfe herauszulösen und durch ein eigenes Leistungsgesetz zu regeln. Zynisch ist es freilich, wenn Menschen Rechte ohne Ressourcen besitzen. Das ist in vielen Vertragsstaaten noch immer der Fall. Wienberg bezeichnet die Behindertenrechtskonvention »als konkrete […] Utopie, deren Verwirklichung man sich wohl am besten als langen, steinigen Weg vorstellt«10. Auch hierzulande wird die Verwirklichung dieser Utopie kein Selbstläufer sein, also keineswegs, wie vielleicht manche Politiker glauben, kostenneutral zu bewerkstelligen sein, sondern Geld kosten und mit gesellschaftlichen Konflikten verbunden sein. Die Forderung nach wirksamen Einsparungen in den öffentlichen Haushalten führt dazu, dass auch die Idee der Inklusion in den Sog von Kostendämpfungsdebatten gerät. Der zweite Punkt: Jede »Reform« ist mit Chancen, ist aber auch mit Risiken und Gefahren verbunden. Eine der größten Gefahren der Inklusions-Utopie ist, dass sie unterwegs einen Teil der Betroffenen als nicht inkludierbar zurücklässt. Denn es geht eben nicht nur um die sympathische junge Frau mit einem Down-Syndrom oder den netten Studenten, der nach einem Sportunfall querschnittsgelähmt ist. Sondern es geht auch um Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen, um chronisch suchtkranke Menschen und psychisch kranke Menschen, die auffällig sind und stören.11

Schließlich ist noch ein dritter Gesichtspunkt zu bedenken: So wünschenswert eine offene und partizipative Gesellschaft auch grundsätzlich erscheinen mag, so wenig dürfen doch Menschen zu einer bestimmten Form der Teilhabe gezwungen werden. Das Recht auf Inklusion darf nicht zum Inklusionszwang mutieren. Dierk Starnitzke erinnert daran, dass der Begriff der Inklusion historisch eine ganz andere Bedeutung als heute hatte.12 Er bezeichnete z. B. den freiwilligen Rückzug eines Mönches aus der Welt, also die monastische Klausur. Inklusion steht in diesem Fall für freiwillige Exklusion. So könne auch heute der Begriff der 9 10 11 12

Wienberg: Von der Integration (s. Anm. 2), 104. Wienberg: Von der Integration (s. Anm. 2), 107. Wienberg: Von der Integration (s. Anm. 2), 108. Vgl. Starnitzke: Diakonische Identität (s. Anm. 3), 115.

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Exklusion durchaus einen positiven Sinn haben, sofern er für die Möglichkeit steht, dass Menschen sich an bestimmten Stellen freiwillig aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen zurückziehen, um für sich zu sein. Auch in Zukunft wird es Menschen geben, die sich für das Wohnen, Lernen und Arbeiten, das Gefördert- und Gepflegtwerden in einer Nische, in einem besonderen Lebensraum außerhalb oder am Rande der Gesellschaft entscheiden werden oder darauf angewiesen sind. Menschen, die eher Schutz und Fürsorge als vielfältige Teilhabemöglichkeiten wünschen oder benötigen.13

Generell besteht die Gefahr, den Begriff der Inklusion ideologisch aufzuladen und zu ignorieren, dass niemand im vollen Umfang in sämtliche Teilsysteme der Gesellschaft – Wirtschaft, Bildung, Kultur etc. – inkludiert ist. Wiederum besteht eine Paradoxie der Inklusionsdebatte darin, dass beispielsweise Menschen mit Behinderungen sehr stark in das Gesundheits- und Pflegesystem inkludiert sind.14 Wenn man die Kritik an einer einseitigen Medikalisierung von Demenz für berechtigt hält, muss man davon sprechen, dass die betroffenen Menschen in einem Teilbereich der Gesellschaft in einem viel zu hohen Grad eingebunden sind. Inklusion ist nicht in jedem Fall ein positiver Wert an sich. Die genannten Gesichtspunkte sind nun auch zu bedenken, wenn es um die Inklusion von Menschen mit Demenz geht.15 Zuvor aber möchte ich noch näher auf die ethischen Grundlagen des Inklusionsgedankens eingehen und nach dem besonderen diakonischen Profil einer Ethik fragen, die sich dem Ziel der Inklusion verpflichtet weiß.

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Diakonische Ethik – eine inklusive Ethik?

Diakonie gründet im christlichen Ethos der Nächstenliebe. Der ethische Reflexionsbedarf diakonischer Arbeit ist aufgrund von Veränderungen in Kirche und Gesellschaft in den letzten Jahren jedoch erheblich gestiegen. Zum einen dient diakonische Ethik der Identitätsvergewisserung und Profilbildung von Diakonie auf dem Markt der unterschiedlichen sozialen Dienstleister. Zum anderen rea13 Wienberg: Von der Integration, (s. Anm. 2), 108. Vgl. auch Markus Dederich: Gibt es Grenzen der Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung?, in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 44/3 (2013), 58–69. 14 Vgl. Hermann Brandenburg: Inklusion von Menschen mit Demenz – Vision oder Illusion?, 19. 05. 2014, verfügbar unter: http://www.pthv.de/fileadmin/user_upload/PDF_Pflege/Vorle sungsunterlagen/Brandenburg/eigene_veroeffentlichungen/Inklusion_von_Menschen_mit_ DemenzZQPBerlin19052104.pdf [30. 09. 2015], 1. 15 Zur ethischen Diskussion siehe u. a. Verena Wetzstein (Hg.): Ertrunken im Meer des Vergessens? Alzheimer-Demenz im Spiegel von Ethik, Medizin und Pflege, Freiburg i. Br. 2005.

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giert sie auf Pluralisierungsprozesse, die innerhalb der Diakonie selbst stattfinden. Diese betreffen sowohl die Mitarbeiter als auch die Klienten diakonischer Arbeit. Weder die Mitarbeiterschaft in diakonischen Einrichtungen noch deren Klientel ist weltanschaulich oder religiös und moralisch so homogen wie in den Anfängen der modernen Diakonie im 19. Jahrhundert oder auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Diakonische Ethik steht vor der Herausforderung, Vielfalt und Verbindlichkeit eines christlichen Ethos im Gegenüber zu anderen Ethosformen zu vertreten und zu profilieren. Dabei stellt sich die Frage, ob oder inwiefern man diakonische Ethik als eine nichtexklusive Ethik bezeichnen kann. In der Geschichte der Diakonie hat diakonische Arbeit vielfach Exklusion gefördert. Das gilt streckenweise auch heute noch. Überhaupt ist zunächst zu klären, was man unter einer nichtexklusiven Ethik verstehen soll. Martin W. Schnell erhebt die Forderung nach einer Ethik als einem nichtexklusiven Schutzbereich, der insbesondere Menschen mit Pflegebedarf, kranke und behinderte Menschen stärker als andere Typen von Ethik berücksichtigt und beim gelebten Leben dieser Menschen ihren Ausgangspunkt nimmt.16 »Nichtexklusiv« bedeutet nach Schnell, »dass eine Ethik niemanden von der Gewährung von Achtung, Schutz und Würde ausschließt«17. Exklusive Ethiken sind demgegenüber solche, die Menschen aufgrund von bestimmten Merkmalen oder fehlender Eigenschaften wie Bewusstsein oder aktueller Fähigkeit zur Selbstbestimmung aus dem Kreis der moralisch relevanten Subjekte ausschließen. Schnell rechnet dazu die utilitaristische Ethik von Peter Singer, aber auch die Konzeptionen von Tom L. Beauchamp oder Richard M. Hare. Im Sinne Schnells lässt sich diakonische Ethik insofern als nichtexklusive Ethik charakterisieren, als sie dem universalen Gebot der Nächstenliebe verpflichtet ist, wie es im Alten Testament18 formuliert und in der Jesustradition des Neuen Testaments bekräftigt wird19. Jesus radikalisiert die Nächstenliebe in der Bergpredigt sogar bis zur Feindesliebe.20 Die Botschaft Jesu begründet die Option für die Armen, die ihrerseits alttestamentliche Wurzeln hat, und der auferstandene Christus wird in den notleidenden Menschen erkannt.21 Das Gebot der Nächstenliebe steht allerdings in Spannung zum modernen Liebesbegriff einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. Während diese die Anerkennung 16 Vgl. Martin W. Schnell: Ethik als Schutzbereich. Kurzlehrbuch für Pflege, Medizin und Philosophie, Bern 2008; ders.: Pflege und Philosophie. Interdisziplinäre Studien über den bedürftigen Menschen, Bern 2002. 17 Schnell: Ethik (s. Anm. 16), 15. 18 Vgl. Lev 19,18. 19 Vgl. Mk 12,28–34; Mt 22,34–40; Lk 10,25–37. 20 Vgl. Mt 5,43–48; Lk 6,27. 21 Vgl. Mt 25,31–46.

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eines Einzelnen auf individuelle Liebeswahl gründet, fordert das Gebot der Nächstenliebe eine uneingeschränkte Anerkennung individueller Bedürfnisse entsprechend konkret wahrgenommener Notlagen.22 Man kann die Praxis Jesu, an der sich diakonisches Handeln orientiert, als Inklusion von Ausgegrenzten charakterisieren. Geradezu stereotyp verweisen diakonische und kirchliche Dokumente auf Jesu Umgang mit Sündern und Zöllnern, Aussätzigen, Kranken und Ehebrechern. Die neutestamentlichen Evangelien berichten, dass die Praxis Jesu immer wieder zu Konflikten mit Repräsentanten des zeitgenössischen Judentums führt. Der Jude Jesus stellt die alttestamentliche strikte Trennung zwischen Rein und Unrein in Frage.23 Er wendet sich Aussätzigen zu, die außerhalb der Ortschaften in eigens gekennzeichneten Bereichen leben mussten, und heilt sie.24 Ebenso heilt er einen Besessenen, der aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen ist.25 Er beruft einen Zöllner, der als Kollaborateur der römischen Besatzungsmacht geächtet war, in seinen Jüngerkreis26 und verkehrt auch sonst mit Zöllnern27. Er lässt sich von einer als Sünderin titulierten Frau die Füße salben, was sein Gastgeber, ein Pharisäer, für einen Skandal hält.28 Er bricht mit familiären Konventionen und erklärt, seine Mutter und seine Brüder seien alle, die auf Gottes Wort hören und seinen Willen befolgen.29 Das inklusive Ethos der Jesusüberlieferung kommt auch im großen Gleichnis vom Weltgericht in Mt 25 zum Ausdruck. Ob jemand den Willen Gottes befolgt oder zu Christus gehört, erweist sich dadurch, dass jemand Hungrigen zu essen gibt, Durstigen zu trinken, Fremde aufnimmt, Nackte bekleidet, Kranke und Gefangene besucht. In Mt 25 und der daran anschließenden Tradition der Werke der Barmherzigkeit besteht ein Wechselverhältnis zwischen exklusivem Christusglauben und inklusivem Ethos: Wer Christus dienen will, ist einem Ethos der Inklusion verpflichtet, das sich gerade denen zuwendet, die marginalisiert, verletzlich, schwach und schutzbedürftig sind. Die Aufforderung, Fremde zu beherbergen, begegnet uns freilich schon im Alten Testament. Den Fremden, d. h. den Nichtisraeliten, gilt die besondere Fürsorge des Gottes Israels, ebenso wie den Witwen und Waisen, wie Tora und Propheten immer wieder einschärfen. Das Alte Testament enthält zahlreiche 22 Vgl. Johann Behrens: Inklusion durch Anerkennung. Chronische Krankheit, das Veralten der Indikatoren sozialer Ungleichheit und die Herausforderung an die Pflege und andere Gesundheitsberufe, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 27 (2002), (23–41) 27, 33. 23 Vgl. Mk 7,1–23; Mt 15,1–20. 24 Vgl. Mk 1,40–45; Mt 8,24; Lk 5,12–16; 17,11–19. 25 Vgl. Mk 5,1–20; Mt 8,28–34; Lk 8,26–39. 26 Vgl. Mk 2,13–17; Mt 9,9–13; Lk 5,27–32. 27 Vgl. Lk 5,27–32. Vgl. auch das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner in Lk 18,9–14. 28 Vgl. Lk 7,36–50. 29 Vgl. Mk 3,31–35; Mt 12,46–50; Lk 8,19–21.

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Fürsorgeregelungen gegenüber sozial schwachen Gliedern der altisraelitischen Gesellschaft. Allerdings ist zu beachten, dass die Fremden nicht deshalb besonders zu achten sind, weil sie fremd, sondern sofern sie sozial schwach und schutzbedürftig sind. Das alttestamentliche Fremdenrecht bedeutet z. B. nicht, dass den Fremden eine eigene religiöse Identität zugestanden würde.30 Hier zeigt sich der Jahweglaube exklusiv und auch unnachgiebig gegenüber anderen religiösen Kulten. Das Alte Testament kennt sogar sehr strikte Formen von Inklusion und Exklusion, wie allen voran das erste Gebot des Dekalogs zeigt, das die ausschließliche Jahweverehrung fordert. Auch spielt die Unterscheidung zwischen rein und unrein kultisch und ethisch eine tragende Rolle. Die radikalen Konsequenzen der in der Jesusüberlieferung zu beobachtenden Entgrenzungs- und Inklusionsstrategien zieht Paulus in seiner Lehre von der Rechtfertigung des Sünders. Sie führt zu einer völligen Neubewertung der alttestamentlichen Tora, mit der Konsequenz, dass in den christlichen Gemeinden die Beschneidungspraxis abgeschafft und die Trennung zwischen Juden und Nichtjuden aufgehoben wird. Das zeigt sich konkret am Konflikt zwischen Paulus und Petrus in Antiochia, als Petrus plötzlich nicht mehr mit nichtjüdischen Christen, welche die jüdischen Speisevorschriften nicht einhalten, Tischgemeinschaft pflegen will.31 Paulus schreibt im Galaterbrief, dass die Unterscheidung zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Mann und Frau für die Zugehörigkeit zu Christus und seiner Gemeinde keine Rolle mehr spielen.32 Der deuteropaulinische Epheserbrief beschreibt die Einheit der Gemeinde aus Juden und Griechen als Existenz eines neuen Menschen, nämlich eines aus Juden und Nichtjuden bestehenden Leibes, der infolge der Aufhebung des alttestamentlichen Gesetzes mit seinen Geboten und Satzungen besteht.33 Es wäre jedoch ein Missverständnis anzunehmen, dass für den Christusglauben Grenzziehungen überhaupt ihre Geltung verloren hätten. Ohne Grenzziehungen könnte es gar keine christliche Identität, weder der einzelnen Glaubenden noch der Kirche geben. »Will man an der Sozialität der Kirche festhalten, sind Grenzbestimmungen unumgänglich. Denn soziale Gruppen sind ohne Grenzziehungen nicht einmal denkbar.«34 Allerdings zeigt sich, dass die unumgänglichen Inklusions- und Exklusionsmechanismen im Neuen Testament nicht über ethnische, sondern über religiöse Semantiken laufen. Nichtexklusiv ist diakonische Ethik im Blick auf die möglichen Adressaten christlich motivierten Handelns. Anders steht es freilich mit ihrer Begründung. 30 Vgl. Hans-Ulrich Dallmann: Das Recht, verschieden zu sein. Eine sozialethische Studie zu Inklusion und Exklusion im Kontext von Migration (ÖfTh 13), Gütersloh 2002, 530. 31 Vgl. Gal 2,11–21. 32 Vgl. Gal 3,28. 33 Vgl. Eph 2,15–16. 34 Dallmann: Das Recht (s. Anm. 30), 533.

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Eine biblisch begründete Ethik mag einen universalen Geltungsanspruch erheben. Ihre Plausibilität beschränkt sich jedoch zunächst auf diejenigen, die an Christus bzw. an Gott im christlichen Sinne glauben. Mögen sich christliche Gehalte streckenweise auch in eine nichtreligiöse Ethik übersetzen lassen oder mit materialethischen Normen anderer religiöser oder philosophischer Traditionen konvergieren, so haben doch ihre spezifisch biblischen oder religiösen Begründungen für Nichtchristen keine unmittelbare Überzeugungskraft. Man mag mit Peter Dabrock davon sprechen, dass eine christliche Ethik auf Transpartikularisierung ihrer Prinzipien und Normen ausgerichtet ist,35 weil sie der Überzeugung ist, dass der Heilswille Gottes allen Menschen gilt.36 Insofern jedoch christliche Ethik darin gründet, dass allein in Christus das Heil des Menschen begründet ist, muss man hinsichtlich ihrer Letztbegründung wohl sogar von einer exklusivistischen Ethik sprechen. Überhaupt lässt sich fragen, ob eine im radikalen Sinne nichtexklusive Ethik ein plausibles Konzept sein könnte. Zutreffend stellt Hans-Ulrich Dallmann fest: »Menschen können weder nicht nicht-inkludieren noch nicht nicht-exkludieren. Folglich kann nicht das Faktum von Exklusion und Inklusion Gegenstand der ethischen Reflexion sein, sondern die daraus resultierende Frage nach dem angemessenen Umgang damit.«37 Das gilt für diakonische Ethik ebenso wie für jede andere Ethik.38

35 Vgl. Peter Dabrock: Zugehörigkeit und Öffnung. Zum Verhältnis von kultureller Praxis und transpartikularer Geltung, in: GlLern 16 (2001), 53–65; ders.: »Suchet der Stadt Bestes« (Jer 29,7). Transpartikularisierung als Aufgabe einer theologischen Bioethik – entwickelt im Gespräch mit der Differentialethik von Hans-Martin Sass, in: Eva Baumann u. a. (Hg.): Weltanschauliche Offenheit in der Bioethik, Berlin 2004, 115–146. 36 Vgl. 1 Tim 2,4. 37 Dallmann: Das Recht (s. Anm. 30), 589. Zu Inklusion und Exklusion in systemtheoretischen Zusammenhängen siehe Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, 237–264; Rudolf Stichweh: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005. Zu begrifflichen Unschärfen der Luhmannschen Terminologie vgl. Roland Merten: Inklusion/Exklusion und Soziale Arbeit. Überlegungen zur aktuellen Theoriedebatte zwischen Bestimmung und Destruktion, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 4 (2001), 173–190. 38 Vgl. auch Hans-Ulrich Dallmann: Vom Nutzen des Dissenses. Ethik und Religion nach Luhmann, in: Günter Thomas/Andreas Schüle (Hg.): Luhmann und die Theologie, Darmstadt 2006, 147–160.

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Demenz als produktive Herausforderung an das Menschenbild der modernen Leistungsgesellschaft

Kommen wir nun zu der Frage, ob die Inklusion von Menschen mit einer Demenz in unsere Gesellschaft eine realistische Vision oder eine Illusion ist. Zunächst müssen wir feststellen, dass Demenz einen Grund für Exklusion bietet. Sie stellt in hohem Maße das Menschenbild und die Werte unserer Leistungsgesellschaft massiv in Frage. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Leistung immer weniger durch körperliche Arbeit, sondern durch kognitive Tätigkeiten erbracht wird und die sich heute als Wissensgesellschaft definiert, wobei Wissen als Produkt und Ware betrachtet und lebenslanges Lernen zur obersten Maxime erklärt wird. Universitäten als Unternehmen der Wissensindustrie erstellen Wissensbilanzen und werden zu Organisationen eines Wissensmarktes. Wissen ist Macht und Wissen ist Geld. Wer die Fähigkeit zur Wissensproduktion, zum Wissenserwerb, zur Wissensspeicherung und zur Wissensvermehrung verliert, wird aus der Wissensgesellschaft ausgeschlossen. Sein Leben erscheint nicht nur wert-, sondern auch würdelos. Laut einer vor einigen Jahren veröffentlichten ländervergleichenden Studie haben übrigens Deutsche eine auffallend höhere Angst vor Demenz als Menschen in anderen Ländern.39 Während dort die Angst vor Verlust der Attraktivität, vor Altersarmut oder Inkontinenz überwog, gaben 70 % der Befragten in Deutschland an, ihre Hauptangst gelte dem Verlust des Gedächtnisses. Für Österreich sind mir keine Vergleichszahlen bekannt. Welch geringes Ansehen Menschen mit einer Demenz in unserer Gesellschaft haben, zeigt sich auch an der schlechten Reputation der Altenpflege. Soll es zu einem Umdenken gegenüber einem Leben mit Demenz kommen, dann muss auch die Profession der Pflege neu bewertet werden. Zwei grundlegende Aussagen zeigen nach Ansicht des Gerontologen Andreas Kruse, wie prekär nach wie vor der gesellschaftliche Status der Pflege ist und wie gering nach wie vor die Bereitschaft, in eine gute Pflege zu investieren: (a) Die Alternative »Geld- vs. Sachleistung« ist aus fachlicher Sicht höchst problematisch; mit dieser Alternative wird kommuniziert, dass Pflege auch von Laien in ausreichend kompetenter Weise geleistet werden kann. (b) Die Aussage: »Ambulant vor stationär« ist ebenfalls problematisch, weil sie verdeckt, dass es vielfach Pflegesituationen gibt, die höchste instrumentelle (fachliche), sittliche und psychische Anforderungen an die pflegenden Personen stellen und die aus diesem Grunde nicht mehr im häuslichen Kontext bewältigt werden können.40 39 Zitiert nach Susanne Langer: Demenz und Seelsorge, in: Kirchenamt der EKD (Hg.): Leben mit Demenz. Beiträge aus medizinisch-pflegerischer, theologischer und lebenspraktischer Sicht, zusammen mit der DVD des Films »Ach Luise«. Ein Bericht von einer Tagung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD-Texte 98), Hannover 2008, (99–108) 103. 40 Andreas Kruse: Demenz – medizinisch-pflegerische, psychologische, ethische Überlegungen,

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Für unsere moderne Leistungs- und Wissensgesellschaft ist Demenz »eine ›Provokation für Gesunde‹«41, wie die Krankenhausseelsorgerin Susanne Langer feststellt. Sie fordert uns freilich heraus, über unser übliches Verständnis von Krankheit und Gesundheit nachzudenken. »Alzheimer«, schreibt Arno Geiger in seinem Buch über die Demenzerkrankung seines Vaters, ist eine Krankheit, die, wie jeder bedeutende Gegenstand, auch Aussagen über anderes als nur über sich selbst macht. Menschliche Eigenschaften und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegeln sich in dieser Krankheit wie in einem Vergrößerungsglas. Für uns alle ist die Welt verwirrend, und wenn man es nüchtern betrachtet, besteht der Unterschied zwischen einem gesunden und einem Kranken vor allem im Ausmaß der Fähigkeit, das Verwirrende an der Oberfläche zu kaschieren. Darunter tobt das Chaos.42

Der Mediziner und Psychotherapeut Wolf Büntig fragt: Bei demenzieller Erkrankung geht unter anderem die Orientierung in Raum und Zeit verloren. Wenn das eine Krankheit und nicht nur ein altersbedingter Rückgang von Funktionen ist: Ist dann die in der Zivilisation mangelnde Übung, einen inneren Raum und eine persönliche, an Schritt und Herzschlag und Atem gemessene Zeit wahrzunehmen, und die Gewohnheit, diese Wahrnehmung zu ersetzen durch äußere Definition und Uhr, auch eine Krankheit? Und sind all die vielen, die vorzugsweise nachdenken, was sie und andere vorgedacht haben, und die ihr Dasein vorzugsweise von allgemein gültig Gedachtem und nicht auch von Erlebtem ableiten, gesund? 43

Und provokant schiebt er die Frage nach, ob Demenz nicht etwa nur massiver Verlust bedeutet – Verlust des Gedächtnisses, des kognitiven Denkvermögens, Orientierungsverlust, Verlust der Identität und der eigenen Persönlichkeit –, sondern ob es bei Demenz vielleicht sogar einen heimlichen Krankheitsgewinn gibt: »Könnte es nicht ein Krankheitsgewinn sein, dass sich in der Demenz die Welt den Bedingungen der Person anpassen muss?«44 Auch die Angehörigen haben möglicherweise einen Krankheitsgewinn, gibt ihnen doch die Demenz »die Chance, die Reife und das Maß unserer Liebesfähigkeit zu erkennen«45. Wer an Demenz erkrankt, fällt aus der Leistungs- und Wissensgesellschaft heraus. Das empfinden wir als bedrohlich, könnte es doch auch uns selbst eines

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in: Kirchenamt der EKD (Hg.): Leben mit Demenz. Beiträge aus medizinisch-pflegerischer, theologischer und lebenspraktischer Sicht, zusammen mit der DVD des Films »Ach Luise«. Ein Bericht von einer Tagung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD-Texte 98), Hannover 2008, (45–79) 73. Langer: Demenz und Seelsorge (s. Anm. 39), 103. Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil, München 2011, 57–58. Wolf Büntig: Du hast mich angesprochen. Eberhard Warns’ Bilder als Ausdruck transrationaler Intelligenz, in: Else Natalie Warns (Hg.): Eberhard Warns: »Ich will Freiheit beim Malen«. Kunst als autonome Kommunikation eines Menschen mit Demenz, Hamburg 2008, (106–114) 110. Büntig: Du hast mich angesprochen, (s. Anm. 43) 113. Büntig: Du hast mich angesprochen, (s. Anm. 43) 113.

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Tages treffen. Aber vielleicht kann dieser Verlust ja auch eine befreiende Wirkung haben. Nachdem sein Vater in ein Pflegeheim umgezogen ist, schreibt Geiger: »Im Altersheim ist nicht mehr viel zu erwarten – kleine Annehmlichkeiten – lachende Gesichter – herumstreichende Katzen – ein gelungener Scherz –. Mir gefällt es, dass die Menschen, die hier wohnen, aus der Leistungsgesellschaft befreit sind.«46 Die verschiedenen Formen der Demenz, die keine einheitliche Ursache haben, sondern durch ganz unterschiedliche Krankheitsprozesse ausgelöst werden können,47 fordern uns heraus, uns ganz grundsätzlich mit dem vorherrschenden Menschenbild unser Leistungsgesellschaft, aber auch mit unserer persönlichen Sichtweise des Menschseins auseinanderzusetzen. Mehr noch: Die Begegnung mit einem demenzkranken Menschen stellt einen »vor die Aufgabe der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit den möglichen Begrenzungen des eigenen Lebens«48. Arno Geiger notiert dazu: »Der Umgang mit Kindern schärft den Blick für Fortschritte, der Umgang mit Demenzkranken den Blick für Verlust.«49 Andreas Kruse stellt die Frage, inwieweit die Gesellschaft in der Lage ist, die Grenzen, die Menschen im hohen und sehr hohen Lebensalter erfahren, bewusst anzunehmen und in einen kulturellen Entwurf des Menschseins zu integrieren. […] Ziel einer solchen Auseinandersetzung muss es sein, uns alle vermehrt für die Verletzlichkeit des Menschen und für dessen Angewiesensein auf Hilfe zu sensibilisieren.50

Und Arno Geiger ergänzt: Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und immer wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein.51

Die reflektierte Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und mit Verlusten, wie sie uns eine Demenzerkrankung zumutet und drastisch vor Augen führt, gehört zu einem erfüllten – und das heißt auch zu einem sinnerfüllten – Leben.

46 Geiger: Der alte König (s. Anm. 42), 187. 47 Zur Einführung siehe Annette Bruhns u. a. (Hg.): Demenz. Was wir darüber wissen, wie wir damit leben, München 2010; Heiner Aldebert (Hg.): Demenz verändert. Hintergründe erfassen, Deutungen finden, Leben gestalten, Hamburg 2007. 48 Kruse: Demenz (s. Anm. 40), 50. 49 Geiger: Der alte König (s. Anm. 42), 14. 50 Kruse: Demenz (s. Anm. 40), 76. 51 Geiger: Der alte König (s. Anm. 42), 136.

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Bewusstsein, Geist und Verstand

Exklusion und Inklusion von Menschen mit Demenz beginnen in unseren Köpfen und in der Art und Weise, wie wir über diese Menschen sprechen. Schon die Bezeichnung Demenz deutet auf ein Verständnis menschlichen Bewusstseins und menschlichen Verstandes hin, das einer kritischen Überprüfung bedarf. Dementia heißt wörtlich übersetzt: Verlust der mens. Das lateinische Wort mens hat eine mehrfache Bedeutung. Es steht für das Denken oder Denkvermögen und den Verstand, für Absichten und für das Erinnerungsvermögen wie auch für das menschliche Gewissen. Mens kann aber auch für das stehen, was wir im Deutschen Geist nennen, für Seele, Gemüt, Herz und Charakter. Nimmt man die Bezeichnung Demenz beim Wort, so scheint ein Demenzkranker dies alles im Verlauf seiner Krankheit zu verlieren. Eigentlich verliert er damit sein Menschsein, ist der Mensch doch nach der Definition des Aristoteles das animal rationale oder griechisch das ζῷον λόγον ἔχον. Die Ratio, das Denkvermögen, zeichnet nach dieser Definition den Menschen gegenüber dem Tier aus. Unter Logos ist sowohl die Vernunft als auch das Sprachvermögen zu verstehen. Wortfindungsstörungen und der zunehmende Verlust der Wortsprache gehören zu den besonders quälenden Erfahrungen Demenzkranker. Walter Leonhard, ein Betroffener, hat diesen Verlust in einem Gedicht als »Wortnot« beschrieben. Ich zitiere einige Verse: Mir sind die Wörter ausgegangen, / find keine neuen Wörter mehr […] Es fehlen mir der Worte Wärme, / als wär’ ich selbst von mir entrückt. // Mein Fühlen wird so überschwänglich, / dass es mich fast zu bersten droht. / Doch ist das Fühlen unzulänglich, wenn es dem Wort ist unzugänglich; / ich leide leider an Wortnot.52

Nun unterscheidet die Hirnforschung verschiedene Formen des Bewusstseins: Bewusstsein als Wachheit, kognitives oder intentionales Bewusstsein, phänomenales Bewusstsein – also die Erfahrung, wie etwas aussieht, schmeckt, sich anfühlt oder anhört – und schließlich das Selbstbewusstsein.53 Es wäre schon insofern falsch, Demenzkranken jede Form von Bewusstsein abzusprechen. Der lateinische Begriff der mens weist aber auf Dimensionen des Bewusstseins hin, die in dem vorgestellten Schema noch gar nicht angemessen erfasst sind: Seele, Geist, Gemüt, Herz und Charakter. Es geht dabei nicht nur um unsere sinnliche Wahrnehmung, das Sehen, Schmecken, Tasten, Hören, sondern um die ganze Welt unserer inneren Empfindungen, um Freude und Schmerz, Liebe und Zorn, Trauer und Wut, von denen nicht nur Demenzkranke, sondern auch Gesunde bisweilen regelrecht überschwemmt werden können. 52 Zitiert nach Langer: Demenz und Seelsorge (s. Anm. 39), 101. 53 Vgl. Michael Pauen: Grundprobleme der Philosophie des Geistes. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 32002, 30.

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Und auch der Logos darf nicht auf unsere Wortsprache reduziert werden, in die wir ja nicht nur unsere rationalen Gedanken, sondern auch unsere Gefühle, unsere Hoffnungen und Ängste zu fassen suchen. Neben der verbalen Kommunikation gibt es die nonverbale unserer Körpersprache, die in der basalen Stimulation und Validation eine zentrale Rolle spielt, sowie die paraverbale Kommunikation, die unser Sprechen begleitet und grundiert, der Klang der Stimme, der Tonfall, die Mimik. Auch freuen sich an Demenz erkrankte Menschen an Musik, Tanz oder Farben. Mit ihrer Hilfe können sie sich und ihren Gefühlswelten in einer Sprache eigener Art, die doch auch ihre eigene Form der Rationalität oder Geistigkeit hat, Ausdruck verschaffen. Was als mens oder logos bezeichnet wird, darf nicht von unserem Körper getrennt gedacht werden. Geist, Seele und Verstand sind in unserem Körper inkarniert. Unsere Vernunft ist leibliche Vernunft.54 Auch unser Gedächtnis ist nicht allein auf unsere Hirntätigkeit beschränkt, gibt es doch auch ein Körpergedächtnis.55 Unsere Biographie und unsere Erinnerungen sind nicht nur unserem Gehirn eingeschrieben, sondern unserem ganzen Körper. Insbesondere das Antlitz eines Menschen »enthält in Kurzschrift seine ganze Biographie«, wie Theodor Bovet schreibt.56 Das Gesicht eines Wachkomapatienten oder auch eines alten und vielleicht dementen Menschen, das von Falten durchfurcht ist, kann sprechend sein, weil es von im Guten bestandenen Lebensschwierigkeiten Zeugnis gibt. Verhärmte Gesichtszüge erzählen uns von Enttäuschungen, Verlusten und Verbitterung. Wie dem Antlitz ist auch dem übrigen Körper die Lebens- und Leidensgeschichte eines Menschen eingeschrieben. So verkörpert auch der menschliche Leib als ganzer – nicht nur das Antlitz, wie Emmanuel Lévinas meint57 – den sich an uns richtenden Appell zur Kommunikation. Der Logos ist nicht auf unser individuelles Bewusstsein oder Sprachvermögen einzuschränken, sondern ist grundlegend eine zwischenmenschliche, die Grenzen unseres individuellen Bewusstseins und unseres Körpers überschreitende Wirklichkeit. Mit Friedrich Hölderlin gesprochen führen wir nicht etwa nur Gespräche, sondern wir sind ein Gespräch.58 Nur in der Kommunikation mit 54 Vgl. Peter Dabrock, in ders. u. a.: Menschenwürde und Lebensschutz. Herausforderungen theologischer Bioethik, Gütersloh 2004, 167. Siehe auch Ulrich H. J. Körtner: Leib und Leben. Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen (APTLH 61), Göttingen 2010, 28–32. Der Philosoph Maurice Merleau-Ponty spricht von der inkarnierten Vernunft. 55 Vgl. Alois Hahn: Körper und Gedächtnis, Wiesbaden 2010; Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, München 2004; Petra Gehring: Foucault – Die Philosophie im Archiv, Frankfurt a. M. 2004, 103–107. 56 Theodor Bovet: Die Ehe. Ein Handbuch für Eheleute, Tübingen 31972, 139, in einer Betrachtung zu den Falten im Antlitz seiner Frau. 57 Vgl. Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br. ³1998. 58 Friedrich Hölderlin: Friedensfeier (»Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und

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einem Du wird der Mensch zum Ich, und bevor wir zu sprechen lernen, verbal wie nonverbal, werden wir von anderen angesprochen, die sich uns ganzheitlich zuwenden, allen voran unsere Mutter als erste Kontaktperson, wobei die Kommunikation bereits vor der Geburt beginnt. Theologisch gedacht ist es das große Du Gottes, das uns anredet, auch nonverbal. Und darin, dass Gott mit jedem Menschen in lebenslanger und über den Tod hinausreichender Kommunikation und Gemeinschaft steht, gründet die Gottebenbildlichkeit und unveräußerliche Würde des Menschen. Der Logos oder auch der Geist meint – übrigens schon in der Bibel – letztlich eine überindividuelle Atmosphäre, um mit den Philosophen Hermann Schmitz und Gernot Böhme zu sprechen, eine Atmosphäre, in der wir leben und die wir geradezu körperlich spüren können.59 Wir sprechen zum Beispiel vom Geist, der in einer Gemeinschaft oder Gruppe herrscht, oder vom Geist des Hauses, zum Beispiel einer Einrichtung der Alten- und Pflegehilfe. Und damit meinen wir keineswegs nur die Gesinnung oder die Ziele, die in Leitbildern definiert werden, sondern die Art des zwischenmenschlichen Umgangs, der Wertschätzung und Zuwendung. Solange Menschen in diese Form der Kommunikation eingeschlossen und als Teil der menschlichen Gemeinschaft geachtet werden, können sie niemals geist-los und das heißt in diesem Sinne de-ment sein. Dieses Verständnis von Personsein und Menschenwürde entspricht auch der christlichen Auffassung vom Menschen als Person, deren Würde nicht in irgendeiner besonderen Fähigkeit oder Eigenschaft begründet ist, sondern in der personalen Beziehung Gottes zum Menschen als seinem Geschöpf und Ebenbild. Dieser biblischen Auffassung entspricht eine Sicht des Personseins und der Identität eines Menschen, wonach diese eben nicht allein von seinen Bewusstseins- und Gedächtnisleistungen abhängt. Wir sind auch nicht allein der Autor oder die Autorin unserer Lebensgeschichte, sondern unsere Identität besteht darin, in Geschichten verstrickt zu sein,60 die nicht erst mit uns beginnen und auch nicht mit uns enden, sondern von anderen weitererzählt werden und nach christlichem Verständnis letztlich in die große Geschichte Gottes mit den Menschen und seiner Schöpfung eingebettet sind.61 Der Verlust unseres Intellektes und unseres persönlichen Erinnerungsvermögens bedeutet darum nicht den

hören voneinander, / Erfahren der Mensch«), in: ders.: Sämtliche Werke 2. Gedichte nach 1800, hg. v. Friedrich Beißner, Stuttgart 1953, (426–432) 430. 59 Hermann Schmitz: System der Philosophie 3. Der Raum, Teil 2. Der Gefühlsraum, Bonn 1969; Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995. 60 Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 4 2004; ders.: Philosophie der Geschichten, Frankfurt a. M. 21981. 61 Vgl. Dietrich Ritschl: Zur Theorie und Ethik der Medizin. Philosophische und theologische Anmerkungen, Neukirchen-Vluyn 2004.

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Verlust unserer Identität. Auch in gesunden Tagen gilt, was Dietrich Bonhoeffer notiert hat: Der Wunsch, alles durch sich selbst sein zu wollen, ist ein falscher Stolz. Auch was man anderen verdankt, gehört eben zu einem und ist ein Stück des eigenen Lebens, und das Ausrechnenwollen, was man sich selbst »verdient« hat und was man anderen verdankt, ist sicher nicht christlich und im Übrigen ein aussichtsloses Unternehmen. Man ist eben mit dem, was man selbst ist und was man empfängt, ein Ganzes.62

Der Umgang mit Demenzkranken kann uns diese Wahrheit besonders intensiv zu Bewusstsein bringen. Unsere Identität verdanken wir nicht uns selbst, und wir sind es auch nicht, die sie über die Zeiten hinweg garantieren oder sicherstellen. Sie ist auch nichts Statisches, sondern dynamisch und komplex, so komplex wie die Geschichten, in die wir verstrickt sind und aus deren Fäden unsere Lebensgeschichte gewebt ist. Als sich Arno Geiger fragt, was für ein Mensch sein Vater ist, »passt er manchmal ganz leicht in ein Schema. Dann wieder zerbricht er in die vielen Gestalten, die er im Laufe seines Lebens anderen und mir gegenüber eingenommen hat.«63 Bemerkenswert ist auch Geigers Aussage, der Vater habe seine Erinnerungen nicht etwa verloren, sondern »in Charakter umgemünzt, und der Charakter war ihm geblieben«64. Erinnern wir uns daran, dass das lateinische Wort mens nicht nur Bewusstsein oder Denkvermögen, sondern auch Charakter bedeuten kann. In diesem Sinne ist Geigers Vater also gerade nicht de-ment!

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Inklusion von Menschen mit Demenz – praktische Überlegungen

Wir sagten, Exklusion und Inklusion von Menschen mit Demenz beginne in unseren Köpfen und in unserer Sprache. So wichtig sachgerechte medizinische, pflegerische, psychosoziale und rechtliche Informationen auch sind, noch bedeutsamer sind Erlebnisberichte, Biographien und Romane. Wirkmächtiger als die Sprache sind oft die Bilder, die wir uns machen. Ich denke hierbei an das Kino und das Fernsehen, an preisgekrönte Filme wie »Die Auslöschung« (2013) mit Klaus Maria Brandauer und Martina Gedeck in den Hauptrollen, an »Iris« (2001), die Verfilmung der Biographie der englischen Literaturwissenschaftlerin Iris Murdock, gespielt von Judy Dench, an Till Schweigers Tragikomödie »Honig im Kopf«, die 2014 in die Kinos kam und die fiktive Geschichte des an Alzheimer 62 Dietrich Bonhoeffer: An Eberhard Bethge. Tegel, 26.–30. 11. 1943, in: ders.: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (DBW 8), hg. v. Eberhard Bethge u. a., Gütersloh 1998, (209–216) 216. 63 Geiger: Der alte König (s. Anm. 42), 185. 64 Geiger: Der alte König (s. Anm. 42), 73.

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erkrankten ehemaligen Tierarztes Amandus Rosenbach erzählt. Um das Thema Alzheimer geht es auch in der Romanverfilmung »Still Alice« (2014), deren Hauptdarstellerin Julianne Moore mit dem Oskar ausgezeichnet wurde. Auch Michael Hanekes Film »Amour« (2012) ist hier zu erwähnen, dessen Protagonistin an den Folgen eines Schlaganfalls leidet. Die entscheidende Frage lautet, welche Bilder vom Leben mit Demenz, vom Leben der an ihr Erkrankten wie ihrer Angehörigen und ihrem sozialen Umfeld solche Filme vermitteln. Es geht nicht nur darum, wie realistisch oder rührselig verschiedene Krankheitsverläufe geschildert werden, sondern auch darum, ob hier Geschichten des Grauens oder der Zuversicht erzählt werden. Entsteht im Betrachter ein düsterer Tunnelblick, wie im Fall von »Amour« und »Die Auslöschung«, so dass die Tötung aus Liebe als einziger Ausweg bleibt, oder gibt es Gegenbilder, die zeigen, wie es für alle Beteiligten möglich ist, ein Leben mit der Demenz zu führen, auch wenn dies mit großen Belastungen verbunden ist, weil es doch auch noch Momente des Glücks, der Erfüllung und der Erfahrung von Liebe und Lebenssinn gibt. Suizid und Tötung auf Verlangen sind ultimative Akte der Exklusion. Wird uns gezeigt, welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt, oder zeigt man uns Menschen, die zunehmend in Isolation geraten? Die öffentliche Meinung zum Thema Demenz wird auf diese Weise stark beeinflusst. Wichtig sind auch praktische Beispiele, wie Menschen mit Demenz in der Gesellschaft ihren Platz behalten oder neu finden können, Beispiele etwa von Wohngemeinschaften oder Tageszentren mitten in einem Stadtviertel, also außerhalb der Sonderwelt von Pflegeeinrichtungen. Auch assistive Technologien werden in der Betreuung von Demenzkranken zukünftig eine größere Rolle spielen. Damit Demenzkranke in der Mitte der Gesellschaft leben können, braucht es allerdings mehr als guten Willen, nämlich Strategien und finanzielle Mittel. Für Österreich liegt seit November 2015 eine umfassende Demenzstrategie vor, deren Umsetzung freilich erst am Anfang steht. Auch die Diakonie Österreich engagiert sich auf diesem Gebiet. Neben individuellen Unterstützungsangeboten für Betroffene – von der Demenzberatung über stundenweise Entlastung pflegender Angehöriger über Kurzzeitpflege und Urlaubsbetten – sind auch Strategien für demenzfreundliche Kommunen zu erwähnen.65 Eine umfassende Demenzstrategie hat auch die Rolle der Medizin kritisch zu bestimmen. So wichtig eine gute medizinische Versorgung von Menschen mit Demenz ist, so problematisch ist doch die Engführung der Sichtweise auf die Demenz als medizinisches Problem. Die Medikalisierung der Demenz ist gerade nicht die Lösung, sondern ein Teil des Problems.

65 Vgl. Brandenburg: Inklusion (s. Anm. 14), 4–6.

Inklusion von Menschen mit Demenz – Vision oder Illusion?

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Im Sinne der grundsätzlichen Überlegungen zu Inklusion und Exklusion im ersten Abschnitt meines Vortrags sollte Inklusion aber nicht ausschließlich mit der Betreuung von Demenzkranken in der häuslichen Umgebung gleichgesetzt werden. Auch in einer Gesellschaft, die sich der Leitidee der Inklusion verpflichtet weiß, kann es für manche Betroffene besser sein, wenn es für sie einen Ort des Rückzugs gibt. Wie auch in anderen Fällen von Pflegebedürftigkeit können stationäre Angebote nach wie vor bessere Lebenschancen bieten. Doch sind längst nicht alle Einrichtungen der Pflege oder der Altenhilfe auf die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz ausgelegt. Problematisch ist es außerdem, wenn es für jüngere Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenzerkrankung keine altersgerechte Unterbringungsmöglichkeit gibt. Was aber ist von Demenzdorf-Projekten wie im niederländischen De Hogeweyk nahe Amsterdam zu halten? Inzwischen gibt es in der Nähe von Hameln auch in Deutschland ein erstes Demenzdorf, »Tönebön am See«.66 In der deutschen Kleinstadt Alzey bei Worms ist ein ähnliches Projekt geplant, das derzeit aber auf Eis liegt. Kritiker sprechen von einem Ghetto, Befürworter halten dagegen, dass Demenzkranke in solch einem Dorf maximale Freiheit genießen, wie sie andere Einrichtungen nicht bieten können.67 Kritische Stimmen wenden wiederum ein, dass die Bewohner eines Demenzdorfes – man sollte besser von einer Pflegeeinrichtung mit dörflichem Charakter sprechen – nicht nur in einer Sonderwelt, sondern in einer Scheinwelt leben, weil ihnen eine Wirklichkeit vorgegaukelt werde, die gar nicht existiert. Künstliche Bushaltestellen, Zugfahrsimulatoren oder Geschäfte, in denen die Ware, die die Bewohner tagsüber gekauft haben, am Abend wieder in die Regale zurückgelegt wird, seien ein Lügengespinst. Kritiker sagen, das gelte auch von der Paro, der computergesteuerten Therapie-Robbe. Entscheidend für die Bewertung ist m. E., welche Angebote für die Betroffenen im Einzelfall am besten sind. Demenzkranke generell in gesonderte Lebensräume am Rande oder außerhalb der Gesellschaft zu verbannen, wäre eine völlig unethische und kontraproduktive Strategie. Problematisch wäre es freilich auch vielmehr, wenn eine Gesellschaft, die sich der Vision der Inklusion verschreibt, aus ideologischen Gründen jede Form von besonderen Lebenswelten – sei es in einer stationären Einrichtung der Pflege oder Altenhilfe oder auch einer besonderen Ortschaft – ablehnen würde. Nachbarschaftshilfe ist sicher wünschenswerter als das Leben in einer Sonderwelt. Sie mag in kleineren Gemeinden

66 Vgl. Felicitas Kock: Eingezäunte Freiheit. Deutschlands erstes Demenzdorf, 05. 09. 2014, verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/leben/deutschlands-erstes-demenzdorf-einge zaeunte-freiheit-1.2116704 [30. 09. 2015]. 67 Vgl. Fritz Habekuß: Im Dorf des Vergessens, in: DIE ZEIT 5 (2013), verfügbar unter: http:// www.zeit.de/2013/05/Demenzdorf-De-Hogeweyk-Alzey [30. 09. 2015].

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funktionieren, kaum aber in großstädtischen Ballungsgebieten. Wir brauchen daher eine Vielfalt von Angeboten. Auch in einer inklusiven Gesellschaft wird es Menschen geben, die sich für eine solche Lebensweise entscheiden oder darauf angewiesen sind. Worauf es aber ankommt ist, dass die Grenzen zu solchen besonderen Lebensorten und Lebensräumen durchlässig bleiben, solange sich nicht Menschen selbst ab- und ausschließen wollen. Kritiker wie Reimer Gronemeyer stoßen sich daran, dass das Demenzdorf bei Hameln eingezäunt ist, um die Bewohner am Weglaufen zu hindern. Ein Zaun kann freiheitsbeschränkend sein, er kann aber auch Sicherheit bieten. Wie offen oder durchlässig die Grenze zwischen verschiedenen Lebensorten und Lebenswelten ist, hängt m. E. nicht von Zäunen ab, sondern von sozialen Faktoren. Soziale Isolation gibt es auch, wo keine Zäune und Mauern existieren. Dort kann auch die Selbstbestimmung von Bewohnern und Bewohnerinnen unter Umständen weit mehr beschnitten werden als in einem geschützten Raum. Die Diskussion über Demenzdörfer sollte darum nach meinem Dafürhalten offen geführt werden. Demenzdörfer sind freilich bestenfalls ein Element einer umfassenden Demenzstrategie, deren Schwerpunkt auf der Verbesserung der Unterstützungsangebote in der Alltagswelt liegen muss. Inklusion von Menschen mit Demenz – Vision oder Illusion? Um eine sinnvolle Vision handelt es sich nur, sofern der Begriff der Inklusion differenziert und kritisch gebraucht wird. Andernfalls droht er zur Ideologie zu werden, die den Betroffenen nicht dient, sondern schadet. Die totale Inklusion würde nämlich zu einer totalitären Gesellschaft führen. Jedes totalitäre Denken aber wird durch die Irritation Demenz zum Einsturz gebracht.

Ulrike Swoboda

Bezüge zum Leben. Eine empirisch-qualitative Analyse evangelischer Stimmen in Europa zur Reproduktionsmedizin

Der folgende Text beinhaltet ein Exposé, das für die fakultätsöffentliche Präsentation am 18. Jänner 2016 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien eingereicht wurde. Es beinhaltet ein Dissertationsvorhaben, das sich zum Ziel gesetzt hat, evangelisch-kirchliche Dokumente zu Fragen der Reproduktionsmedizin zu analysieren. Die Dissertation wird von Univ. Prof. Dr. DDr. h.c. Ulrich H. J. Körtner betreut und soll im Herbst 2018 abgeschlossen werden. Das Exposé gibt einen Überblick über den Gegenstand der Untersuchung, beschreibt das Forschungsmaterial, formuliert die zentrale Forschungsfrage, umreißt den Forschungskontext und widmet sich ausführlich den Fragen der Methodenwahl.

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Gegenstand der Untersuchung

Eine umfassende und vergleichende Untersuchung evangelischer Stimmen in Europa zu reproduktionsmedizinischen Fragen stellt ein Forschungsdesiderat der theologischen Ethik1 dar. Das Dissertationsvorhaben zielt deshalb auf eine empirische Analyse evangelischer Dokumente, die sich dem Thema Reproduktionsmedizin widmen. Nach einer ersten Schnelldurchsicht einiger Dokumente ist bereits erkennbar, dass die Texte thematisch länderübergreifend sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede aufweisen. Diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede beziehen sich nicht nur auf einzelne Themengebiete, die in den Dokumenten Erwähnung finden, sondern auch auf die in den Dokumenten beschrittenen Denkwege. Das Nachzeichnen dieser Denkwege stellt ein spannendes Unterfangen dar, münden sie nicht selten bei aller Unterschiedlichkeit in 1 Die Frage der Charakteristika theologischer Ethik wurde aktuell behandelt in Richard Amesbury/Christoph Ammann (Hg.): Was ist theologische Ethik? Beiträge zu ihrem Selbstverständnis und Profil, Zürich 2015. Es ist zu erwarten, dass das hier vorliegende Forschungsvorhaben zu dieser Frage einen Beitrag wird leisten können.

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dieselben Konsequenzen oder führen über lange Strecken in dieselbe Richtung, um schlussendlich an unterschiedlichen Orten anzukommen. Neben den unterschiedlichen und gemeinsamen Denkwegen bieten einzelne Texte spezielle Ausprägungen, die gänzlich neue Einsichten in die Vielfalt des Protestantismus Europas gewähren und zu einer tiefergehenden Suche nach den Ursprüngen dieser Ausprägungen motivieren. Es ist somit anzunehmen, dass durch den Vergleich der Texte Unterschiede, Gemeinsamkeiten und spezielle Ausprägungen der evangelischen Kirchen in Europa im Umgang mit Fragen der Reproduktionsmedizin beschreibbar werden. Die Analyse der Dokumente bewegt sich grundsätzlich auf zwei Ebenen: Einerseits steht die Frage nach dem theologisch-ethischen Umgang mit Fragen der Reproduktionsmedizin im Vordergrund. Andererseits ermöglichen die Dokumente einen Einblick, mit welchem Selbstverständnis und mit welcher Intention evangelische Kirchen in Europa schriftlich in der Öffentlichkeit auftreten. Zusätzlich zu diesen beiden Ebenen, die zwar unabhängig voneinander analysiert werden können, denen man jedoch stets verbunden in den Texten begegnet, müssen medizinische, juristische, politische und soziologische Aspekte berücksichtigt werden. Die Verquickung vieler verschiedener Perspektiven ist für ethische Fragestellungen nicht ungewöhnlich. Sich der Herausforderung einer umfassenden Analyse nicht zu entziehen und den komplexen reproduktionsmedizinischen Sachverhalten ohne Furcht zu begegnen, kann man als Proprium evangelisch-ethischer Urteilsbildung bezeichnen.2 Um eben diese soll es in letzter Konsequenz auch in dieser Arbeit gehen. Eine neutral wertschätzende Grundhaltung im Umgang mit der Vielfalt der Dokumente und der Heterogenität der Denkwege stellt eine Grundvoraussetzung der Analyse dar.

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Forschungsmaterial

Derzeit liegt der Forscherin eine Sammlung von rund 100 Dokumenten vor, die aus zehn verschiedenen Nationen stammen. Die Sammlung wurde von Professor Ulrich H. J. Körtner, Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien, und Pfarrer Frank-Dieter Fischbach, GEKE-Beauftragter für Sozialethik und Vorstandssekretär der KEK3, bereitgestellt. Das älteste, öf2 Vgl. die Empfehlungen zur evangelischen Urteilsbildung im Dokument der GEKE (Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa): Tretet ein für Gerechtigkeit. Ethische Urteilsbildung und soziales Engagement der evangelischen Kirchen in Europa. Endgültige Fassung 2012, in: Michael Bünker u. a. (Hg.): Evangelisch in Europa. Sozialethische Beiträge (LeuT 15), Leipzig 2013, (63–178) 138–146, hier 140: »Fürchtet Euch nicht vor komplexen Antworten zu komplexen Themen«. 3 KEK: Konferenz Europäischer Kirchen.

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fentlich zugängliche Dokument stammt aus dem Jahr 1985, das neueste Dokument derzeit aus dem Jahr 2015. Es ist vorgesehen, die Sammlung laufend zu ergänzen. Allen Dokumenten ist gemein, dass sie von protestantischen Kirchen verfasst wurden, die Mitglieder der GEKE sind. Eine eindeutige konfessionelle Zuordnung der Dokumente erweist sich nicht immer als leicht; das Gros der Dokumente dürfte nach derzeitigem Stand Kirchen lutherischer, reformierter, unierter, presbyterianischer, waldensischer und methodistischer Denomination zuordenbar sein. Darüber hinaus sollen auch einige überregionale Positionspapiere (GEKE-, EKD4-Dokumente) bzw. ökumenische Dokumente (KEK-Dokumente) sowie Dokumente kirchlicher Einrichtungen, z. B. der Diakonie, in die Analyse einbezogen werden. Katholische Dokumente werden als Umfeldtexte der Studie zur Seite gestellt. Aus der Vielzahl an Dokumenten ergibt sich ein sehr heterogenes Bild an Texten. Es setzt sich aus ausführlichen Positionspapieren, die 40 Seiten und mehr umfassen (z. B. Denkschriften, Konferenzprotokolle), aus kurzen einseitigen Stellungnahmen zu nationalen Gesetzesänderungen (z. B. Pressemitteilungen) und bebilderten Informationsbroschüren als Handreichung für Pfarrgemeinden (z. B. Folder) zusammen. Diese Vielfalt an Textgattungen verlangt nach einer Analysemöglichkeit, die objektiv und unbeeinflusst von potentiellen, möglicherweise konfessionell geprägten, Vorannahmen auf alle Dokumente in gleicher Weise angewandt werden kann. Da die einzelnen Dokumente in ihrer Gesamtheit zur Geltung kommen sollen, wäre eine stark explorativ ausgerichtete Herangehensweise von Vorteil. Die Dokumente selbst sollen mit ihren Inhalten die Themengebiete vorgeben, die es zu analysieren gilt. Fragen, die anhand der Texte aufgeworfen werden, können heuristisch peu à peu bearbeitet werden. Diese Vorüberlegungen anhand einer ersten Sichtung des Datenmaterials sollen dazu beitragen, der dieser Arbeit zugrundeliegenden Forschungsfrage möglichst umfassend nachgehen zu können. Die Forschungsfrage lautet: Welche Gemeinsamkeiten, Unterschiede und speziellen Ausprägungen begegnen in Dokumenten evangelischer Kirchen in Europa zum Thema Reproduktionsmedizin?

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Zielsetzungen

Das Ziel der Arbeit ist die Beantwortung der Forschungsfrage. Diese kann im Laufe des Forschungsprozesses leicht angepasst und spezifiziert werden. Strukturell wird die Beantwortung der Forschungsfrage zwei Hauptmerkmale aufweisen: Primär wird ein Großteil der Dissertation der empirisch-qualitativen Analyse und den daraus hervorgegangenen Beobachtungen gewidmet sein. 4 EKD: Evangelische Kirche in Deutschland.

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Darüber hinaus besteht der Anspruch, dass diese Arbeit nicht allein im Deskriptiven verhaftet bleibt, sondern zu präskriptiven Konsequenzen aus der vorangegangenen Analyse gelangen soll. Es ist zu erwarten, dass sich anhand der Dokumente ein immenses Datenmaterial generieren lassen wird. Die Dokumente liefern Informationen über die unterschiedlichen reproduktionsmedizinischen Techniken, wie z. B. IVF5, Präimplantationsdiagnostik, Pränataldiagnostik, Gametenspende, therapeutisches Klonen etc. Sie beschäftigen sich mit möglichen ethischen Zugängen zu diesen Behandlungsmöglichkeiten und damit verbunden – bzw. vorausgesetzt – mit verschiedenen Anthropologien und Gottesbildern. Hinweise auf die Intentionen, welche die Kirchen mit ihren Dokumenten verfolgen, werden entweder explizit am Beginn der Dokumente oder am Schluss erwähnt. Bei Nichterwähnung der Intention müssen implizite Hinweise anhand des Aufbaus der Dokumente gesammelt bzw. anhand der Textinhalte interpretiert werden. Nach einer ersten Sichtung der Dokumente kann bereits festgehalten werden, dass die Intention, die hinter der Erstellung der einzelnen Dokumente liegt, nicht in jedem Fall explizit beschrieben wird. Die Analyse der theologisch-ethischen Fundierung der Denkwege der Dokumente wird zeigen, wo man inhaltlich von einer theologisch-ethischen Auseinandersetzung mit Fragen der Reproduktionsmedizin sprechen kann und welche Kriterien für eine theologisch-ethische Urteilsbildung anhand der Dokumente festgemacht werden können. Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich um eine empirisch-qualitative Studie handelt, in der die zu analysierenden Dokumente selbst die Forschungsrichtung vorgeben dürfen. Fragen, die sich direkt aus den Dokumenten ergeben, müssen mit Hilfe von Sekundärliteratur eingeordnet und ergänzt werden, um dadurch eine nachvollziehbare Beschreibung der Denkwege zu gewährleisten. Für das Einholen von Hintergrundinformationen werden bei dem einen oder anderen Dokument Interviews mit Expertinnen und Experten vonseiten der Kirchen, der Medizin und des Rechts vonnöten sein. Das Hauptanliegen der Arbeit besteht jedoch im Vergleich der Dokumente. Der Vergleich auf europäischer Ebene, über nationale und konfessionelle Grenzen hinweg, kann Aufschluss über Gemeinsamkeiten geben, die bisher unbemerkt und unverbunden nebeneinanderstanden. Dieses Forschungsinteresse fragt nach der Möglichkeit einer gemeinsamen europäischen evangelischethischen Stimme.6 Bei der ersten Sichtung aufgetauchte Querverweise innerhalb einzelner Dokumente auf Texte anderer nationaler Kirchen lassen zumindest die Vermutung zu, dass bereits bei der Erstellung der Dokumente die gezielte in5 In-Vitro-Fertilisation (IVF) bezeichnet die Zusammenführung von Ei- und Samenzelle im Labor unter dem Mikroskop außerhalb des menschlichen Körpers. 6 Vgl. Anm. 1.

Bezüge zum Leben

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nereuropäische Vernetzung ein Anliegen der Kirchen gewesen sein könnte. Neben den Gemeinsamkeiten werden automatisch Unterschiede aufgezeigt werden, die auf ihre konfessionellen und nationalen Hintergründe hin untersucht werden können. Den speziellen Ausprägungen einzelner Denkwege, die unter Umständen Denkwege anderer Texte weiterführen oder eine gänzlich neue Perspektive in die vergleichende Analyse hineintragen, soll besondere Aufmerksamkeit zukommen. Am Ende der Arbeit ist ein systematisch-konstruktiver Beitrag angedacht, der alle hier aufgeworfenen Fragen zu integrieren versuchen wird.

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Forschungskontext

Die Fragen, was ist der Mensch, ab wann ist der Mensch Mensch und wer ist Familie, werden durch die Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin neu gestellt. In der Öffentlichkeit scheint das Thema Reproduktionsmedizin hochaktuell und sehr brisant zu sein. Es vergeht kaum eine Woche, in der dieses Thema nicht kontrovers in den Medien diskutiert würde. In Deutschland brachte im Mai 2015 eine 65-jährige 13-fache Mutter Vierlinge zur Welt.7 Am Ende des Jahres 2014 machten die Konzerne Google und Facebook mit der Meldung auf sich aufmerksam, ihre Mitarbeiterinnen bei der Kryokonservierung (Einfrieren) ihrer Eizellen finanziell zu unterstützen.8 In vielen europäischen Ländern werden derzeit Änderungen der Fortpflanzungsmedizingesetze vollzogen.9 Zahlreiche Monographien, die sich kritisch mit dem Thema des Kinderkriegens auseinandersetzen, sind auf dem Büchermarkt erschienen.10 Inwieweit die gesellschaftlichen Entwicklungen bezüglich Reproduktion tatsächlich europaweit im Auf7 Vgl. Martin Spiewak: Künstliche Befruchtung. Dubioser Rekord, in: DIE ZEIT 16 (2015), verfügbar unter: http://www.zeit.de/2015/16/kuenstliche-befruchtung-schwangerschaft-vier linge-berlin [26. 04. 2016]. 8 Vgl. Kolja Rudzio: Social Freezing. Ein Kind von Apple, in: DIE ZEIT 44 (2014), verfügbar unter: http://www.zeit.de/2014/44/egg-social-freezing-apple-facebook-eizellen [26. 04. 2016]. 9 Z. B. trat in Österreich mit dem 23. 02. 2015 das Fortpflanzungsmedizinrechts-Änderungsgesetz in Kraft. Einen guten Überblick bieten hierfür Peter Barth/Martina Erlebach: Handbuch des neuen Fortpflanzungsmedizinrechts (Schriftenreihe der Interdisziplinären Zeitschrift für Familienrecht 8), Wien 2015. In der Schweiz wurde im Juni 2015 eine Verfassungsänderung zur Präimplantationsdiagnostik angenommen. In England sind seit dem 02. 02. 2015 Drei-Eltern-Babys erlaubt, um die Weitergabe von mitochondrialen Krankheiten der Mutter auf das Kind zu verhindern. 10 Z. B. Angelika Walser: Ein Kind um jeden Preis? Unerfüllter Kinderwunsch und künstliche Befruchtung. Eine Orientierung, Innsbruck 2014; Andreas Bernard: Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. Samenspender, Leihmütter, Künstliche Befruchtung, Frankfurt a. M. 2014; Eva Maria Bachinger: Kind auf Bestellung. Ein Plädoyer für klare Grenzen, Wien 2015.

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merksamkeitsspektrum der Kirchen vorhanden sind, wird sich anhand der Sammlung historischer Dokumente nur indirekt belegen lassen. Einen Anhalt für ein nicht spurloses Desinteresse an dieser Thematik bieten Einrichtungen, die sich speziell der Beratung bei auftretenden Schwangerschaftskonflikten verschrieben haben. Diese Einrichtungen existieren sowohl auf evangelischer als auch auf katholischer Seite.11 Im theologisch-wissenschaftlichen Bereich ist derzeit ebenfalls eine Tendenz festzustellen, die den Fragen rund um Schwangerschaft und Geburt besondere Aufmerksamkeit schenkt.12 Von evangelischer Seite hat seit 2012 die GEKE einen besonderen Fokus auf die Beschäftigung mit Fragen rund um den Beginn des Lebens gelegt. In dem von ihr eingesetzten Fachkreis für Ethik ist ein Dokument im Entstehen, das sich speziell den ethischen Fragen und Problemen des Lebensanfangs widmet. Die Analyse der historischen Dokumente zu Fragen der Reproduktionsmedizin, die sich diese Dissertation zum Ziel gesetzt hat, dient als Begleitstudie für das Entstehen des GEKE-Dokuments. Für die Arbeit an der Dissertation hat die Entstehung des GEKE-Dokuments in der Form Konsequenzen, dass das Forschen an den historischen Dokumenten im Bewusstsein einer gewissen, von vornherein feststehenden Unabgeschlossenheit geschehen wird. Einerseits werden historische Dokumente, die gerade einmal 30 Jahre alt sind, analysiert, die aber trotzdem bezogen auf Medizin, Technik und Recht bereits nicht mehr up to date sind. Andererseits werden während des Forschungsprozesses – und auch danach – weitere Dokumente zu Fragen der Reproduktionsmedizin entstehen. Weitere Entwicklungen im Bereich der Reproduktionsmedizin, der Technik und des Rechts sind zu erwarten, weshalb im Forschungsprozess eine gewisse Offenheit einkalkuliert werden muss. Eine Analyse des GEKE-Dokuments zu Fragen des Beginns des Lebens wird voraussichtlich noch in die Dissertation Eingang finden können. 11 Das Diakonische Werk der Evangelischen Landeskirche in Württemberg bietet in Stuttgart durch die Beratungsstelle PUA (Pränatale Untersuchung und Aufklärung) Hilfe bei Schwangerschaftskonflikten an. 2002 wurden neue Bischöfliche Richtlinien für Katholische Schwangerschaftsberatungsstellen im Amtsblatt Nr. 5 des Bistums Limburg veröffentlicht (Bistum Limburg: Bischöfliche Richtlinien für Katholische Schwangerschaftsberatungsstellen, in: Amtsblatt des Bistums Limburg 5 [2002], 33–35, verfügbar unter: https://www. bistumlimburg.de/nc/mediathek/mediathek-amtsblatt.html [26. 04. 2016]). Der Sozialdienst katholischer Frauen mit Sitz in Dortmund gab 2012 eine Broschüre für die psychosoziale Beratung und Begleitung bei Pränataldiagnostik in Katholischen Schwangerschaftsberatungsstellen heraus (Deutscher Caritasverband, Referat Familie und Generationen [Hg.]: Pränatale Diagnostik. Psychosoziale Beratung und Begleitung als Entscheidungshilfe, 2012, verfügbar unter: http://www.skf-zentrale.de/aspe_shared/form/download.asp?nr=380456& form_typ=115&ag_id=153&action=load [26. 04. 2016]). 12 Vgl. auf der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien das Forschungsprojekt »Beratung und Begleitung im Kontext pränataler Diagnostik« oder die Gründung der Early Life-Care-Akademie in Salzburg, die mit Herbst 2016 in ihren ersten Lehrgang startet.

Bezüge zum Leben

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Dass eine empirische Analyse kirchlicher Dokumente innerhalb des knappen Zeitrahmens eines Dissertationsvorhabens dennoch zielführend sein und einen wichtigen Beitrag zur theologischen Forschung beitragen kann, zeigen zwei Publikationen, die mit ihren Ergebnissen als Garant für die Sinnhaftigkeit und den Mehrwert des Vorhabens gelten können. Hierbei handelt es sich einerseits um eine Veröffentlichung der GEKE, »Evangelisch in Europa. Sozialethische Beiträge«13. Für diese Studie wurden rund 80 Dokumente evangelischer Kirchen in Europa zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit analysiert. Methodisch verfolgte man dabei einen deduktiven Kurs.14 Andererseits bietet die Dissertation von Dr. Sabine Hermisson Einblicke in die Analyse von Ausbildungstexten evangelischer Kirchenleitungen aus dem deutschsprachigen Raum zum Thema Spiritualität. Diese Studie wurde mit Hilfe der sozialwissenschaftlichen Methodologie der Grounded Theory untersucht.15

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Forschungsdesign

Nach einer ersten Durchsicht der Dokumentensammlung zu Fragen der Reproduktionsmedizin und nach einem Vergleich der soeben angeführten Publikation der GEKE und der Dissertation von Hermisson wurde eine rein deduktive Analyse der Texte für nicht zielführend befunden. Der Hauptgrund hierfür liegt in der Vielfalt der Textgattungen sowie in den unterschiedlichen national-konfessionellen Hintergründen der Dokumente. Eine einzige, konfessionsneutrale Schablone zu entwerfen, um sie auf alle Texte in gleicher Weise anzuwenden, würde der Gattungs- und Konfessionsvielfalt der Dokumente nicht gerecht. Darüber hinaus bestünde die Gefahr, Fremdes in die Texte einzutragen, wodurch unter Umständen Textinternes überdeckt würde. Es ist anzunehmen, dass viele beschriebene Beobachtungen der Veröffentlichung der GEKE zur sozialen Gerechtigkeit ohne exakte Analyse auch auf evangelische Dokumente zur Reproduktionsmedizin übertragbar wären. Spezielle Ausprägungen der einzelnen Texte treten dadurch aber nicht zutage. Darüber hinaus würde der speziellen Problematik reproduktionsmedizinischer Maßnahmen nicht eigens Rechnung getragen. Daher ist die Frage nach einer weiteren Analysemöglichkeit zu stellen, die detaillierte Beobachtungen denkbar und beschreibbar macht. Die Vielfalt der Dokumente soll nicht nur als Problem beklagt und als Rechtfertigung für die Unmöglichkeit einer vergleichenden Darstellung herangezogen, sondern für die 13 Michael Bünker u. a. (Hg.): Evangelisch in Europa. Sozialethische Beiträge (LeuT 15), Leipzig 2013. 14 GEKE: Tretet ein für Gerechtigkeit (s. Anm. 2), 69, 71. 15 Sabine Hermisson: »Spirituelle Kompetenz«. Eine qualitativ-empirische Studie zu Spiritualität in der Ausbildung zum Pfarrberuf (ARPäd 60), Göttingen 2016.

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Analyse kreativ genutzt werden. Von einer rein induktiven Herangehensweise an die Dokumente ist jedoch ebenfalls abzusehen. Einerseits müssen die konfessionelle Prägung der Forscherin und ihre deutschsprachige evangelische Tradition als Einschränkung für objektives Analysieren einkalkuliert werden. Andererseits sind die Dokumente selbst extrem voraussetzungsreich. Vorausgesetzt werden biblische, dogmatische, juristische, medizinische, philosophische, soziologische und nationale Kenntnisse, die bei der Analyse durch weitere Informationsquellen abgedeckt werden müssen, um eine nachvollziehbare Beschreibung der Denkwege gewährleisten zu können. Es ergeben sich somit aus den Texten Fragen, deren Antworten nicht unmittelbar in den Texten zu finden sind. Hier ist man auf Sekundärliteratur und Interviews mit Expertinnen und Experten angewiesen. Alle Informationen, die aufgrund von Sekundärquellen oder Interviews generiert werden, müssen wieder an die Texte herangeführt und anhand der Inhalte der Dokumente überprüft werden. Die Texte der zu untersuchenden Dokumente stehen somit am Anfang und am Ende jedes Forschungsschrittes. Das abwechselnd induktive und deduktive Analysieren der Texte kann als abduktive Forschungspraxis bezeichnet werden. Sie begegnet u. a. in der Variante der Methodologie der Grounded Theory, wie sie Anselm Strauss und Juliet Corbin entwickelten.16 Die Erwartungshaltung an diese Vorgehensweise besteht darin, möglichst detailliert und textnah an den Dokumenten selbst zu arbeiten, potentielles Vorwissen und Hintergrundinformationen einzubeziehen und von einer empirischen Analyse aus zu einer variantenreichen Theoriebildung zu gelangen, die sich auf die untersuchten Dokumente stützt. Dass sich die Grounded Theory für die Analyse kirchlicher Dokumente eignet, hat die Dissertation von Hermisson bereits gezeigt. Darüber hinaus stellt die Grounded Theory eine vielfach bewährte und etablierte Methodologie dar, die je nach Forschungskontext adaptiert werden kann.

16 Anselm Strauss/Juliet Corbin: Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996. Der Terminus der Abduktion wurde in die Grounded Theory übernommen. Den Begriff selbst etablierte in der Sozialwissenschaft Charles Sanders Peirce (1839–1914). Vgl. hierzu Jo Reichertz: Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung. Über die Entdeckung des Neuen (Qualitative Sozialforschung 13), Wiesbaden ²2013, 45–47. Vgl. auch ders.: Empirische Sozialforschung und soziologische Theorie, in: Nina Baur/Jörg Blasius (Hg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, Wiesbaden 2014, (65–80) 77– 78.

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Begründung der Methodenwahl

Für eine qualitative Dokumentenanalyse existiert eine Reihe an Möglichkeiten zur Aufbereitung und Auswertung der Daten.17 Bei der Grounded Theory im Speziellen handelt es sich um eine kreativ-assoziative Methode, die zwischen einer reinen Inhaltsanalyse und einem rein hermeneutischen Zugang angesiedelt werden kann. Bei größtmöglicher Kontrolle und Disziplin durch einzelne Analyseschritte garantiert die Grounded Theory Ergebnisse, die aus den Inhalten der Dokumente selbst generiert werden. Das Ziel der Grounded Theory besteht darin, Daten so auszuwerten, dass, basierend auf dieser Auswertung, eine Theorie mittlerer Reichweite erstellt werden kann. Darunter versteht man eine Theorie, die auf einen spezifischen Teilbereich von Daten und Erfahrungen innerhalb eines gewissen Zeitraums zutrifft. Die Grounded Theory erhöht nicht die Objektivität einer Dokumentenanalyse. Sie garantiert jedoch, richtig angewandt, dass die Ergebnisse grounded, also anhand von Daten belegbar sind. Die Grounded Theory eignet sich aus mehreren Gründen für die Analyse der vorgestellten Sammlung von evangelischen Dokumenten zur Reproduktionsmedizin: Erstens erfüllt sie ihren Zweck am besten bei offenen Forschungsfragen. Zweitens zielt sie auf ein ständiges Vergleichen der generierten Daten ab. Drittens garantieren die einzelnen Analyseschritte (offenes Kodieren, axiales Kodieren, selektives Kodieren) konsequentes und diszipliniertes Arbeiten an den Texten. Viertens wird durch die Analyseschritte nichts Fremdes in die Texte eingetragen, noch werden Hypothesen generiert, die anhand der Texte nicht haltbar wären. Fünftens bezieht die Grounded Theory das potentielle Vorwissen der Forschenden mit ein, welches im Laufe des Forschungsprozesses an theoretischer Sensibilität gewinnt. Auch wenn die Subjektivität bei Interpretationen niemals ausgeschlossen werden kann, so garantiert diese Vorgehensweise, wenn auch nicht mehr Objektivität, doch die Rückbindung aller Hypothesen und Ergebnisse unmittelbar an die Inhalte der Dokumente. Sechstens eignet sich die Grounded Theory sehr gut für komplexe Sachverhalte. Sie bietet durch ihre Denkzeuge18 die Möglichkeit, komplexe Phänomene zu erfassen und zu beschreiben. In den evangelischen Dokumenten zur Reproduktionsmedizin begegnen medizinische, ethische, technische, juristische, theologische und soziologische Aspekte stark miteinander und ineinander verwoben. Es bei dieser Beobachtung nicht belassen zu müssen, sondern zu versuchen, die Texte aufzubrechen, Daten zu generieren 17 Z. B. Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring, Diskursanalyse nach Foucault, Gattungsanalyse, Narrationsanalyse, objektive Hermeneutik oder die dokumentarische Methode; vgl. Aglaja Przyborski/Monika Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch, München 42014, 189–315. 18 Gemeinhin spricht man in der Grounded Theory von »Denkzeugen« anstelle von Werkzeugen – keine Instrumentarien also, sondern Cogitarien.

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und Konzepte zu entwickeln, die dieser Komplexität gerecht werden, ist ein Ziel der Grounded Theory. Siebtens kann mit Hilfe der Grounded Theory jede Art von Forschungsmaterial untersucht werden: Interviewtranskripte, Dokumente, Videos, akustische Aufnahmen, Plakate etc. Achtens hat sich die Grounded Theory bei der Analyse fremdsprachiger Dokumente bewährt. Neuntens zeichnet sich die Theoriebildung am Schluss der Analyse meist durch eine hohe Dichte und einen breiten Variantenreichtum aus. Zehntens sind bei der Grounded Theory immer Nacherhebungen möglich, da eine qualitative Studie prinzipiell nie als abgeschlossen gelten kann. Elftens bleibt dennoch die Auswertung der Daten bewältig- und vorläufig abschließbar, da die Grounded Theory den Umstand der theoretischen Sättigung kennt. Wenn keine neuen Konzepte mehr gefunden oder neue Kategorien gebildet werden können und sich Wiederholungen einstellen, dann kann das Sampling (das Stichprobenziehen) vorläufig als beendet gelten. Im Unterschied zu einer quantitativen Methodologie geht es bei einer qualitativen Analyse nicht um statistische Relevanz oder statistische Repräsentativität der gewonnenen Daten. Es geht um die Repräsentativität der erarbeiteten und beschriebenen Konzepte der Analyse. Um diese zu gewährleisten bedient man sich in der Grounded Theory des theoretischen Samplings. Diese Vorgehensweise soll dazu beitragen, viele und möglichst unterschiedliche Fälle zu gewinnen. Sie soll eine umfangreiche Abdeckung heterogener Zustände gewährleisten und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Datengewinnung und die Analyse der Daten bewältigbar bleiben. Theoretisches Sampling heißt nichts anderes, als dass man vorläufige Ergebnisse der Analyse für den weiteren Forschungsverlauf geltend macht. Das Sample wird somit nicht schon von vornherein bestimmt, sondern erst im Laufe der Analyse festgelegt. Zuerst werden einige wenige Daten generiert und in der Folge sofort ausgewertet. Die Auswertung bestimmt die Generierung weiterer Daten usw. Unter theoretischem Sampling versteht man auch das bewusste Suchen von Gegenbeispielen, von bereits durch Daten gestützten Hypothesen. Theoretisches Sampling meint gleichsam das ständige Zweifeln an den eigenen Beobachtungen, wodurch die Grounded Theory gut von Einzelforschenden allein angewendet werden kann. Aufgrund des Ziels dieser Arbeit, die Denkwege der einzelnen Dokumente evangelischer Kirchen in Europa zur Reproduktionsmedizin nachzuvollziehen und zu beschreiben, wird den ausführlicheren Papieren des Datenmaterials in einem ersten Durchgang der Vorzug gegeben, da die Denkwege in diesen Dokumenten über längere Strecken verfolgt werden können. Es wird davon ausgegangen, dass jene Themen, die in den ausführlicheren Dokumenten behandelt werden, ebenfalls in den kürzeren Stellungnahmen begegnen. Die Hypothesen, die mit Hilfe des Grundstocks an ausführlichen Dokumenten generiert werden, müssen sich allerdings an den kürzeren Dokumenten bewähren. Die Stellungnahmen geringeren Umfangs fungieren gleichsam als Kontrollinstanz, die in der Lage sind, Zusatzinforma-

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tionen zu leisten bzw. Abweichungen von den bisher aufgestellten Hypothesen aufzuzeigen. Das Forschungsdesign ist somit als empirisch-qualitative Dokumentenanalyse bestimmt, durch welche Unterschiede, Gemeinsamkeiten und spezielle Ausprägungen der Dokumente evangelischer Kirchen in Europa zu Fragen der Reproduktionsmedizin untersucht werden können. Die Aufbereitung und Auswertung der Daten erfolgt mittels der Methodologie der Grounded Theory mit Hilfe des Archivprogramms Atlas.ti19.

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Grundstock an evangelischen Dokumenten zur Reproduktionsmedizin

England – The Methodist Church in Britain: Created in God’s Image. An Ecumenical Report on Contemporary Challenges and Principles Relating to Human Life, 2008, vergfügbar unter: http://www.methodist.org.uk/conference/conferencereports/2008-reports [29. 04. 2016]. – The Methodist Church in Britain: A Report on the Status of the Unborn Human, 1990, verfügbar unter: http://www.methodist.org.uk/downloads/pi_ statusoftheunbornhuman_90.pdf [29. 04. 2016]. Schottland – Church of Scotland, Church and Society Council: Report of the Working Group on Embryo Research, Human Stem Cells and Cloned Embryos, 2006, verfügbar unter: http://www.srtp.org.uk/assets/uploads/ga06stem-full1.pdf [29. 04. 2016]. Österreich – Ulrich H. J. Körtner in Zusammenarbeit mit Michael Bünker, im Auftrag des Evangelischen Oberkirchenrates A. und H. B. der Evangelischen Kirche A. und H. B. in Österreich: Verantwortung für das Leben. Eine evangelische Denkschrift zu Fragen der Biomedizin. Angenommen von der Synode der Evangelischen Kirche H. B. in Österreich, vom Theologischen Ausschuss A. und H. B., vom Diakonieausschuss A. und H. B. und vom Synodalausschuss A. B., Wien 2001.

19 Die Software Atlas.ti wurde an der TU Berlin 1989–1992 entwickelt und steht für »Archiv für Technik, Lebenswelt und Alltagssprache. Textinterpretation«.

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Frankreich – Fédération Protestante de France: Procréation médicalement assistée et statut de l’embryon, 1994, verfügbar unter: http://www.protestants.org/?id=874 [29. 04. 2016]. Deutschland – Evangelische Kirche in Hessen und Nassau: Forschung an humanen Stammzellen. Eine Argumentationshilfe für die ethische Bewertung, Darmstadt 2004. – Annegret Braun, Diakonie Württemberg: Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven der Pränataldiagnostik (Pnd). Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung der Enquete-Kommission »Ethik und Recht der modernen Medizin« am 30. Mai 2005 in Berlin im Deutschen Bundestag, 2005, verfügbar unter: http:// www.down-syndrom.org/pdf/braun-praenataldiagnostik.pdf [29. 04. 2016]. Schweiz – Arbeitsgruppe »Bioethik« des Instituts für Sozialethik: Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik. Ein Beitrag zur Diskussion über die Beobachterinitiative (Studien und Berichte 40 aus dem Institut für Sozialethik des SEK), 1990, verfügbar unter: http://www.kirchenbund.ch/sites/default/files/media/pdf/the men/stammzellforschung/studien_bericht_40_90_de.pdf [29. 04. 2016]. – Frank Mathwig: Forschung am Menschen. Medizinische und biotechnologische Forschung zwischen Forschungsfreiheit und Menschenwürdeschutz. Vernehmlassungsantwort des Rates SEK. Teil 1: Konkretionen, hg. v. Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund, 2006, verfügbar unter: http://www. kirchenbund.ch/sites/default/files/media/pdf/themen/stammzellfor schung/T14–04–060404–05_Forschung_Beilage1ULTIMO.pdf [29. 04. 2016]. – Frank Mathwig: Forschung am Menschen. Medizinische und biotechnologische Forschung zwischen Forschungsfreiheit und Menschenwürdeschutz. Vernehmlassungsantwort des Rates SEK. Teil 2: Begründungen, hg. v. Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund, 2006, verfügbar unter: http:// www.kirchenbund.ch/sites/default/files/media/pdf/themen/stammzellfor schung/T14-04-060404-05_Forschung_Beilage2ULTIMO.pdf [29. 04. 2016]. Norwegen – Ulla Schmidt: Religion in Norwegian Bioethical Discourse, in: Friedemann Voigt (Hg.): Religion in bioethischen Diskursen. Interdisziplinäre, internationale und religiöse Perspektiven, Berlin 2010, 159–185. – Ulla Schmidt: Church, Public and Bioethics. Religion’s Construction of Public Significance through the Bioethical Discourse, in Leslie J. Francis/Hans-Georg Ziebertz (Hg.): The Public Significance of Religion (EST 20), Leiden 2011, 191– 213.

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EKD – Evangelische Kirche in Deutschland: Von der Würde werdenden Lebens. Eine Handreichung der Ekd zur ethischen Urteilsbildung (EKD-Texte 11), Hannover 1985. – Synode der evangelischen Kirche in Deutschland, EKD: Zur Achtung vor dem Leben. Maßstäbe für Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin (EKD-Texte 20), 1987, verfügbar unter: http://www.ekd.de/EKD-Texte/achtungvordemleben_ 1987.html [29. 04. 2016]. – Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland: Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen. Argumentationshilfe für aktuelle medizin- und bioethische Fragen (EKD-Texte 71), 2002, verfügbar unter: http://www.ekd.de/download/ekd_text_71_im_geist_der_ liebe_mit_dem_leben_umgehen.pdf.pdf [29. 04. 2016]. KEK – Commission Oecuménique Européenne pour Église et Société: L’EECCS et la bioéthique, 1998, verfügbar unter: http://www.protestants.org/?id=1752 [29. 04. 2016].

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Akademische Theologie nach der Wiedervereinigung1

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Vorbemerkungen

Eines der größten Privilegien des Älterwerdens von Akademikern besteht darin, von der Freiheit Gebrauch machen zu dürfen, nur noch über die Themen zu sprechen, die sie für ergiebig halten und für die sie eine gewisse Leidenschaft entwickeln können. Bei dem Thema »Was war mit der Theologie in den letzten etwa 25 Jahren« ist mir das nur mit Einschränkungen gelungen. Dass ich trotzdem hier stehe und mich auf diesen Diskurs einlasse, liegt vor allem daran, dass wir uns angesichts der hier und da begegnenden Rückblicke, Bewertungen und Prognosen eine eigene Bilanz nicht ersparen können. Mit »wir« sind an dieser Stelle diejenigen gemeint, die durch theologische Assistenzzeiten, kirchliche Berufe und Ämter, Professuren und Leitungsfunktionen in Theologie und Kirche die ganze Zeit beteiligt waren an jenem Prozess, der hier zum Thema werden soll, das heißt an dem Weg, den die Theologie vor und nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten genommen hat. Der Weg der Theologie nach der Wende ist, sofern man auf durch den historischen Prozess der Wiedervereinigung bedingte gravierende Brüche und thematische Umorientierungen aus ist, nicht spektakulär. Die Debatten, Diskurse und Ergebniskommentare der Theologie – also ihr Tagesgeschäft – weisen durch die letzten 50 Jahre hindurch eine starke Kontinuität auf. Davon kann man sich ein eindrückliches Bild verschaffen, wenn man sich z. B. in der »Theologischen Rundschau« einmal die große Zeiträume umspannenden Fünf-bis-SiebenJahresberichte der einzelnen Disziplinen zu Gemüte führt. Wenn man in den besprochenen Büchern die Erscheinungsjahre löschte, wäre es wahrscheinlich schwierig, diese Texte einzuordnen – von markanten zeitgeschichtlichen Referenzen, die es immer gegeben hat, abgesehen. 1 Impulsreferat auf einer vom 29.–31. 01. 2016 veranstalteten Tagung zum Thema »Akademische Theologie und kirchliche Praxis. Was hat sich durch die Wiedervereinigung geändert und was sind bleibende Herausforderungen?«, gehalten am 30. Januar 2016 in Berlin.

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Damit sage ich natürlich nicht, dass die in diesen Büchern dokumentierte Theologie zeitlos wäre; aber ihre Relevanz äußert sich selten in dem Anspruch einer direkten Einflussnahme auf die Zeitläufe bzw. mit einer spezifisch zeitgeschichtlichen Begründung. Mich hat rückblickend jemand gefragt, wie ich auf die Idee kam, 1985 in der DDR am Theologischen Seminar über die homiletische Relevanz der Transaktionsanalyse zu arbeiten, und mich danach bis 1989 mit einer semiotischen Kritik der Predigtlehre zu befassen. Dahinter stand die Frage: Hattest du da nichts anderes zu bedenken? Bei genauester Kenntnis einer Biographie – das Thema »Biographie und Theologie« stand fast auf den Tag genau vor 30 Jahren auf der Tagesordnung einer Tagung der Assistentinnen und Assistenten der Ausbildungsstätten im Raum der Evangelischen Kirche der Union (EKU) – lassen sich gewiss Anhaltspunkte dafür finden, wie es kam, dass diese Texte gerade am Ende der DDR oder in der Wendezeit oder wann auch immer geboren werden mussten. Sie hätten aber ebenso gut im anderen Teil Deutschlands und ohne den Sog einer Wende entstehen können. So ist es mit Hunderten anderer theologischer Texte, Konzepte und Ideen auch gegangen. Sie lassen auf den ersten Blick nicht erkennen, warum sie gerade zu diesem oder jenem Zeitpunkt in den Diskurs eingespeist werden. Wenn es gut geht, d. h., wenn sie gut gemacht sind, entpuppen sie sich als Beitrag zu einer sich kontinuierlich wandelnden zeitgenössischen Theologie. Das gehört zur conditio sine qua non theologischer Arbeit: Eine zeitgenössische Theologie wird nicht nur von Kolleginnen und Kollegen erwartet, die sich die Themen ihrer Vorträge und Bücher selbst heraussuchen, sondern ist immer gefordert, wenn sich jemand theologisch zu Wort meldet. Worin allerdings eine Idee, eine These, ein Ansatz zeitgenössisch ist, lässt sich – weil dies die pragmatische Seite der Theologie berührt (also ihre komplexe Reaktion auf Vergangenes und ihre Wirkung in die Zukunft hinein betrifft) – nicht so einfach abrufen. Oft genug kann erst nach Jahren oder Jahrzehnten gesagt werden, warum eine bestimmte Idee gerade in ihrer Zeit – in der sie vielleicht sogar abgelehnt und nicht verstanden wurde – so wichtig war. Wie bilanzierte Montaigne schon im 16. Jahrhundert? Wird der wissenschaftlichen Welt eine neue Erkenntnis vorgelegt, so heißt es zunächst: Sie ist wahrscheinlich nicht richtig! Hat die Erkenntnis sodann ihre Richtigkeit über allen Zweifel erwiesen, so heißt es: Sie ist richtig, aber ohne Bedeutung! Wurde schließlich im Verlaufe der Zeit die Bedeutung dieser Erkenntnis voll offenbar, so sagt man: Natürlich ist sie bedeutend, aber nicht mehr neu! 2

2 Michel de Montaigne, zitiert nach: Rosemarie und Erich Fischer (Hg.): Wissenschafteleien. Aphorismen, Sentenzen, Geflügelte Worte, Leipzig 1988, 20.

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Entwicklungen in der Theologie als Studienfach

Verlassen wir die Metaebene des Themas. Ich möchte versuchen, mit ein paar Schlaglichtern auf Veränderungen hinzuweisen, mit denen die – wie es im Programm heißt – »akademische Theologie« heute zu tun, manchmal zu ringen hat, ohne damit zu sagen, dass dies vorrangig durch die Wende bedingte Entwicklungen sind. Es hat sie aber gegeben, und wie es aussieht – um eine Regel der Open-Space-Arbeit zu zitieren –, ist diese Entwicklung die einzige, die es unter den gegebenen Bedingungen geben konnte. Am stärksten hat sich die Theologie im Bereich des Studiums der Theologie geändert. In diesem Bereich sind die entsprechenden Änderungen jedenfalls am stärksten zu spüren.3 Wenn ich die Situation am Theologischen Seminar damals in Leipzig mit der an der Fakultät in Wien heute vergleiche, kommen mir zwei (scheinbar von Voreingenommenheit strotzende) Bilder immer wieder in den Sinn: Das Hinausfahren aufs Meer hier und eine Runde im Swimmingpool dort. Als ich zu studieren begann, was ich als kaum zu fassendes Privileg empfand, hatte ich vom ersten Tag an das Gefühl, endlich vom Ufer abzustoßen und aufs Meer hinauszufahren. Theologie erschien mir als eine spannende Abenteuerfahrt, und vorerst konnte ich von diesen Erkundungsreisen jeden Tag wieder in den sicheren Hafen der Rahmenbedingungen einer Kirchlichen Hochschule zurückkehren. Ich studierte aber in dem Bewusstsein, irgendwann von dieser – wie Wolf Krötke sie nennt – »Insel im Roten Meer«4 weg zu müssen und im Studium auf diese die ganze Person beanspruchende Unternehmung vorbereitet zu werden. Der Geschmack von Abenteuer stellte sich nicht nur wegen der politischen Umstände ein (die hätte ich mir weniger abenteuerlich gewünscht), sondern mehr noch aufgrund der Weite, die sich mit dem Studium der Theologie unerwartet auftat: Es gab eine nur grobe Vorgabe-Struktur an Lehrveranstaltungen, die man bis zum Examen irgendwann irgendwie passiert haben musste, ergänzt um ein dichtes Netz von zwei-, drei- oder vierstündigen Vorlesungen, Seminaren und Blockveranstaltungen an z. T. verwunschenen Orten, an denen man mit spektakulären Aussichten auf den Himmel, überraschenden Einsichten, kühnen Ideen und neuen Fragen konfrontiert wurde.

3 Da ich 1977 mit dem Studium begonnen habe, kann ich einen Zeitraum von fast 40 Jahren überblicken, in dem ich 16 Reformen des Theologiestudiums miterlebt bzw. sie mit umgesetzt habe. 4 Wolf Krötke: »Inseln im roten Meer?« Die Kirchlichen Hochschulen in der DDR als Beispiel für kirchliche Bildung in einer totalitären Gesellschaft, Vortrag auf einem Symposion zum 50. Jahrestag der Gründung des Theologischen Seminars, gehalten in Leipzig am 2. Dezember 2014.

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Für mich war diese Fülle gewiss auch die Kehrseite einer Dürre, der ich plötzlich – gerade noch Bautischler beim Wohnungsbaukombinat Wilhelm Pieck gewesen – durch ein Überangebot von teilweise 34 Wochenstunden ausgesetzt war. Aber es war eben auch Neugier schürend und zutiefst befriedigend, überwiegend bei Lehrern studieren zu können (unter anderem bei Karl-Heinrich Bieritz, Ulrich Kühn und Ernst Koch), die dieses »Meer« im Blick hatten, die von der völligen Strukturfreiheit in der Lehre nicht überfordert waren und es verstanden, wissenschaftliches Denken so zu vermitteln, dass man sich selbst als Thema nicht verlor. Heute besteht aufgrund der modulgesteuerten Portionierung und Zerstückelung von Zusammenhangswissen, aufgrund der Bemessung wissenschaftlicher Leistungen nach Bruttoregistertonnen, also anhand überwiegend quantitativer Parameter (z. B. ECTS-Punkte, Drittmittel, Absolventenzahlen), kurz: aufgrund einer exzessiven Formalisierung akademischer Lehr- und Lernprozesse die Gefahr, dass das Abenteuer einer Fahrt aufs Meer aus dem Blick gerät. Studierende werden unter kontrollierter Anleitung zu kleinen Runden im Pool animiert, jede Runde wird minutiös protokolliert und sofort abgebrochen, wenn die Mindestanforderungen erfüllt sind. Die Debatte, wie viele Punkte es wofür gibt, wird geduldiger und leidenschaftlicher geführt als die Frage, mit welcher Theologie wir übers Meer kommen bzw. auf dem Meer überleben können – in den Herausforderungen, vor denen Kirche und Gesellschaft heute stehen. Effektivitätsmodelle und Erwartungen aus der Wirtschaft (wie z. B. die Selbstfinanzierung von Forschungsstellen oder die Fokussierung auf den Third-MissionTransfer5) werden auf dem kürzesten Weg zu (gerade noch als akademische Qualifikation zu wertenden) Studienabschlüssen umgebrochen. Das Lehrangebot wird auf das zur Ausübung eines Berufs Notwendigste abgeschmolzen und als Informationspool verstanden, der idealiter online anzapfbar sein sollte. Extrakte von Komprimierungen von Zusammenfassungen von Übersichten, also »nackte Informationen«, drohen in der täglichen Lernkultur die Auseinandersetzung mit Ideen zu verdrängen. Gleichzeitig hat die Mehrzahl der Studierenden subjektiv den Eindruck, von Wissensstoffen erstickt und auf der Jagd nach Punkten überfordert zu werden: »So viel kann ich mir in einem Semester nicht merken«, charakterisierte eine Studentin zum Ende des letzten Semesters ihre Lernerfahrung, weswegen sie vor der Modulprüfung fragt, ob wirklich »der ganze Vorlesungsstoff« und »das ganze Buch« geprüft werden, oder nur das, was in den ersten oder letzten fünf Vorlesungen vermittelt wurde. Das Problem liegt dabei nicht in der fehlenden Lust zum Lernen, sondern im Verständnis vom Lernen als notwendigem Übel der Informationsaufnahme. Diesem Verständnis vom Studieren entspricht eine 5 Näheres dazu weiter unten in Anm. 12.

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Schrumpfung des Bewusstseins dafür, dass beim Theologie-Treiben etwas auf dem Spiel steht, dass es um etwas geht (was vielleicht sogar die Möglichkeit der Selbstgefährdung einschließt), und dass nicht nur das Ziel, sondern auch die Mittel und Wege strittig sind, die Prämissen, Ideen, Ansätze, Optionen eingeschlossen, kurz – die Positionen, mit denen dies und das gedacht und erstrebt wird. Der beherrschende Modus, in dem Studierende Theologie präsentieren, ist der des Berichts; das Element der Selbstkundgabe bzw. des sich Sich-fragend-insSpiel-Bringens tritt demgegenüber mehr und mehr zurück.6 An die Stelle einer teils politischen, teils philosophischen, teils theologie- und kirchenkritischen Intellektualität, die bis in die Wendezeit bei Theologiestudierenden deutlicher zu spüren war, ist ein im Allgemeinen eher diakonisch-pädagogisches Interesse getreten. Menschen zu helfen und ihnen das Evangelium erklären – an dem es inhaltlich nichts zu deuteln oder groß zu problematisieren gibt –, steht häufig im Vordergrund des eigenen Studiums. Unberührt von jeglichen Strukturvorgaben gab und gibt es all die Jahre hindurch bis heute immer jene Gruppe von 20–30 % der Studierenden, die durch keine Studienreform kleinzukriegen sind und mit hoher Selbstkompetenz das Studium zu ihrer Sache machen, unaufgefordert Ideen entwickeln, spannende Diskussionen anzetteln und die Lehre als willkommene Anregerin für die eigene Arbeit nutzen.

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Entwicklungen in der Theologie als Lehrfach und als wissenschaftliche Disziplin

3.1

Abschied vom Ideal einer »Humboldt-Universität«

In viel stärkerem Maße als politische Aspekte der Wende haben die Ende der 90er Jahre eingeleiteten, willkürlichen Umbrüche in der Bildungslandschaft die Theologie als Lehrfach beeinflusst. Nach einem etwa 30 Jahre lang expandierenden Bildungswesen setzte wenige Jahre nach der Wende ein radikaler Abbau der etablierten akademischen Ausbildungsstrukturen ein. Angesichts der enormen Zuwachsraten an Universitäten und Fachhochschulen (die in den 70er und 80er Jahren z. B. mit einer Verfünffachung der Professorenstellen in nur 20 Jahren einhergegangen war), Zuwachsraten, mit denen die Mitte der 60er Jahre von 6 Vor diesem Hintergrund kommt – was den Pfarrerberuf angeht – der zweiten Ausbildungsphase eine wachsende Bedeutung zu. Es ist zu begrüßen, dass die Landeskirchen weitgehend ihre komplexen Programme beibehalten und im Blick auf die personale Kompetenz der angehenden Pfarrerinnen und Pfarrer weiter ausgebaut haben, wie sich besonders in der Seelsorgeausbildung zeigt.

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Georg Picht ausgerufene »deutsche Bildungskatastrophe«7 bewältigt werden sollte, war es natürlich kein Wunder, dass irgendwann politischerseits gegengesteuert wurde, dass die Frage nach der Wirkung von Bildung auch wirtschaftlich motiviert gestellt wurde, dass mehr berufsnahe Abschlüsse, kürzere Studienzeiten, mehr Initiative beim Einwerben von Drittmitteln und ein bedarfsorientierter Stellenabbau erwartet wurden. Dass aber das bildungspolitische Durchregieren so weit reichte, dass in erster Linie wirtschaftsstrategische Kriterien und Kategorien bei der Bewertung akademischer Arbeit herangezogen würden, war nicht zu abzusehen. (In Österreich ist Ende 2013 das bis dahin bestehende eigenständige Wissenschaftsministerium aufgelöst und zu einem Ressort des Wirtschaftsministeriums abgeschmolzen worden.) Als Folge dieser Entwicklungen ist (zumindest an den voll modularisierten Theologischen Fakultäten, die keine der traditionellen Studiengänge mehr vorhalten) die Vielfalt der Lehre stark geschrumpft und stärker denn je auf die Abschließbarkeit einzelner Lehreinheiten ausgerichtet. Die Freiheit in der Lehre wurde spätestens im Herbst 1998 begraben, als das »Vierte Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes« verabschiedet wurde und »mit allen Vorstellungen aufräumte, die auch nur im Entferntesten an die traditionelle Universität erinnerten«8. Der damalige Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Jürgen Rüttgers, hatte bereits in seiner Rede vom 20. 10. 1997 die Humboldt-Universität als Bildungsuniversität für tot erklärt und sah in der »Ausrichtung der Hochschulen auf die Bedürfnisse der Wirtschaft die Hauptaufgabe«9 der Hochschulpolitik. In meiner Zeit als Senatsmitglied der Universität Münster war Hannelore Kraft als Ministerin für Wissenschaft und Forschung von Nordrheinwestfalen 2003 bei uns zu Gast. In der Kaffeepause kamen wir ins Gespräch, und sie fragte mich – über die Situation der Fakultäten bestens informiert –, wann unsere Evangelisch-Theologische Fakultät endlich aus ihrer viel zu geringen Auslastung herauskommen werde. Ich versuchte sie davon zu überzeugen, dass den einschlägigen Auslastungsberechnungen ein paar grobe statistische Mängel zugrunde lägen, und dass wir um der Qualität der Lehre willen doch noch ein paar Semester bei der eben eingeführten Studienreform bleiben sollten. Sie lächelte verständnisvoll, aber erklärte mir, der Zug sei abgefahren. Als ich wissen wollte, wer so entscheiden könne, wenn doch allenthalben und von prominenter Seite die Folgen dieser Entwicklung beklagt würden und auf der Hand liege, dass die davon erwarteten Optimierungseffekte sich nicht einstellen würden, sagte sie 7 Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Olten/Freiburg i. Br. 1964. 8 Arnd Morkel: Die Universität muss sich wehren. Ein Plädoyer für ihre Erneuerung, Darmstadt 2000, XI. 9 Morkel: Die Universität (s. Anm. 8), 12.

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nur, dies sei »der politische Wille« – die perfekte profane Version eines passivum divinum. In der Praxis der Lehre ist mittlerweile ein recht genau eingegrenzter Lehrbzw. Lernstoff portionsweise in eine begrenzte Anzahl von exakt definierten, untereinander kaum in Verbindung stehenden Lehr- und Lerneinheiten umgegossen worden. In den Curricula wird genau benannt, ob und auf Basis welches Stundenaufwands gelesen werden muss, was gewusst werden soll und was geprüft werden darf. Dies stellt für Lehrende nicht unbedingt eine Überforderung dar, sondern dürfte den einen oder die andere daran erinnern, wie man früher beim Erstellen des Jahresprogramms für die Christenlehre oder den Konfirmandenunterricht vorgegangen ist, indem man Lernstoffe, Lernziele und -kompetenzen aufeinander bezog. Die Probleme ergeben sich vielmehr aus: – einer zu starken Reduktion der Komplexität theologischer Themen (eine Entwicklung, die ja durch die Modularisierung gerade überwunden werden sollte), – einer Vereinfachung der diese Themen ausgelöst habenden Fragen, – einer Vernachlässigung des existentialen Bezugs theologischer Diskurse, – aus einem schleichenden Auseinanderdriften von Forschung und Lehre. In fakultativ angebotenen Lehrveranstaltungen kann man dieses Dilemma etwas kompensieren. Erreicht werden dabei immerhin jene etwa 20–30 % der Studierenden, die sich dem System der Verschulung aus ungebrochenem Eigeninteresse an der Theologie entziehen. In diesem Zusammenhang gewinnt das in den vergangenen Jahrzehnten schon abgeschriebene Lehrer-Schüler-Modell neue Bedeutung. Einzelne Studierende suchen nach einem über die Lehrveranstaltung hinausgehendes Mentorat, nach einer kontinuierlichen Begleitung, in der wissenschaftliche, karrierebezogene und manchmal auch seelsorgliche bzw. lebensberatende Gespräche in Anspruch genommen werden, die sich nicht immer klar voneinander abgrenzen lassen. Fakultäten, die das bewusst fördern, gewinnen zweifellos an Attraktivität.

3.2

Veränderungen in der Diskurslandschaft

Eine starke Spur, die die Wende im theologischen Diskurs hinterlassen hat, ist in einer Fülle von vergleichenden Untersuchungen zur Praxis des Christentums in Ost und West zu sehen. Der Fall der Mauer verschärfte den Blick auf die religiösen Zustände und Entwicklungen in beiden Teilen des nun vereinten Deutschlands in einem Maße, dass sich daraus ein kräftiger Impuls unter anderem für die Frage

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ergab, welche Art von christlicher Religion eigentlich wünschenswert und kirchlich zu empfehlen sei. Diese Fragestellung gewann durch die Einführung des Religionsunterrichts an den ostdeutschen Schulen zunehmend an Tiefe, so dass für etwa 15 Jahre nach der Wende zur Abwechslung einmal die Religionspädagogik zum Brennpunkt bzw. zur Auslöserin theologischer Diskurse – und damit zum Erschließungsort neuer Fragestellungen nicht nur in der Praktischen Theologie wurde (nachdem diese Rolle in den 70er und 80er Jahren der Poimenik und der Homiletik zugekommen war, als sich neben Praktischen Theologen auch Systematiker und Exegeten am Streit um die Aufgabe und das Wesen der Predigt sowie um die anthropologischen Prämissen der Seelsorge beteiligten). Die theologischen Aufsätze, Monographien und Sammelbände, die im Untertitel auf »… in Ostdeutschland« enden oder dieses Territorium explizit im Blick haben, füllen Regale.10 Eine Verlegerin rief 2007 während einer Herausgebersitzung dazwischen: »Bitte kommen Sie mir nicht mehr mit Büchern, auf denen ›Ostdeutschland‹ steht. Das will jetzt keiner mehr lesen und kauft keiner mehr.« – Aber bis dahin wollte man das durchaus lesen, und die damit einhergehenden kritischen Anfragen und konstruktiven Anregungen, die die Theologie als Ganze von diesem Diskurs erfahren hat, entfalten bis heute ihre Relevanz.11 Unterdessen sind andere Diskurse, die noch vor 30 Jahren leidenschaftlich geführt wurden, versiegt. Sie werden einfach nicht mehr gepflegt, provozieren nicht mehr zum Streit um Positionen, sondern finden überwiegend in Form sich bestätigender, sich im Durchhalten bestärkender Kolloquien einzelner Gesell10 Vgl. – in chronologischer Reihenfolge und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit – z. B. Wolf-Jürgen Grabner/Detlef Pollack: Jugend und Religion in Ostdeutschland, in: Karl Gabriel/Hans Hobelsberger (Hg.): Jugend, Religion und Modernisierung. Kirchliche Jugendarbeit als Suchbewegung, Opladen 1994, 91–116; Michael Domsgen: Religionsunterricht in Ostdeutschland. Die Einführung des evangelischen Religionsunterrichts in Sachsen-Anhalt als religionspädagogisches Problem (APrTh 13), Leipzig 1998; Albrecht Döhnert: Jugendweihe zwischen Familie, Politik und Religion. Historische und empirische Studien zum Fortbestand der Jugendweihe in Ostdeutschland und Konsequenzen für die Konfirmationspraxis der Kirchen (APrTh 19), Leipzig 1999; Heide Liebold: Religions- und Ethiklehrkräfte in Ostdeutschland. Eine empirische Studie zum beruflichen Selbstverständnis (Schriften aus dem Comenius-Institut 9), Münster u. a. 2004; Michael Wermke: Evangelischer Religionsunterricht in Ostdeutschland. Empirische Befunde zur Teilnahme thüringischer Schülerinnen und Schüler (RPD 2), Jena 2006; Anna Katharina Szagun/Michael Fiedler: Religiöse Heimaten. Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen (Kinder erleben Theologie 2), Jena 2008, 22015. Zuletzt ist eine Arbeit hinzugekommen, die den Ertrag ostdeutscher Theologie in homiletischer Hinsicht untersucht: Peter Lippelt: Postulierter Pragmatismus. Studien zur Theorie und Praxis evangelischer Predigt in der DDR (1949–1989), Leipzig 2015. 11 Dazu gehört unter anderem eine facettenreiche Annäherung an Säkularisierungsprozesse, an spezifische Muster des Verhältnisses einzelner zur Kirche und entsprechende Milieus usw.

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schaften statt. Dazu gehört vor allem der ebenso stille wie unaufhaltsame Abschied von der Dialektischen Theologie. Ein Altbischof – immerhin Mitte 70, also in der Kirchlichen Dogmatik zu Hause – wurde vor einiger Zeit angefragt, ob er nicht der Karl-Barth-Gesellschaft beitreten wolle. Er hat sich damit entschuldigt, dass er sich nicht für würdig halte, nachdem er gerade seine 17-bändige Kirchliche Dogmatik ins Antiquariat gebracht und sich dafür das Grimm’sche Wörterbuch mitgenommen habe … Angesichts der etwa 50 Jahre anhaltenden Dominanz oder zumindest Präsenz der Kerygmatischen Theologie in allen theologischen Disziplinen ist der rasante Plausibilitätsverlust der damit verbundenen Position ein denkwürdiger Prozess. Ein weiteres Merkmal des theologischen Diskurses ist eine wachsende Kohärenz in der Argumentation, man könnte auch sagen, eine Umprofilierung von theologischen Prämissen, Schulen und Ansätzen zu konvergenten und komplementären Reflexionsperspektiven, denen unaufgeregt ihr je eigenes Recht und eine begrenzte Reichweite zugestanden werden. Die seit ein, zwei Jahren, angetrieben »vom politischen Willen« durch die universitären Gremien geisternde Forderung nach einer Neuorientierung der Forschung am »tertiären Sektor«12 – Wissenschaft hat unmittelbar von Nutzen zu sein – wurde im Geschäft der Theologie zumindest so weit antizipiert, als sie noch häufiger und selbstverständlicher als früher als verlässliche Ansprechpartnerin für Fragen der Zeit, insbesondere in ethischen Fragen, gehört, genutzt und gebraucht wird. Was dabei zur Sprache kommt, ist weniger denn je auf große Schubkästen zu verteilen, sondern Ausdruck einer sinnvollen Arbeitsteilung kirchlicher und nicht-kirchlicher Institutionen sowie verschiedener Gruppen und Gremien, in denen Vertreter von Theologie und Kirche einerseits sowie Repräsentanten diverser Bildungseinrichtungen, Sozialämter, des Gesundheitswesens usw. gemeinsam beteiligt sind, um den Herausforderungen, vor denen Kirche und Gesellschaft heute stehen, gemeinsam zu begegnen.

12 Auch diese Sprechweise kommt aus der Wirtschaft (vgl. Giovanni Danielli u. a.: Wirtschaftsgeografie und globalisierter Lebensraum. Lerntext, Aufgaben mit Lösungen und Kurztheorie [Naturwissenschaften], Zürich 32008). Unter dem primären Sektor verstand man ursprünglich den der Rohstoffgewinnung. In den Geisteswissenschaften entspräche das der (Grundlagen-) Forschung und Kriterienbildung. Der sekundäre Sektor ist der der Rohstoffverarbeitung einschließlich der Energiegewinnung. Übertragen auf den wissenschaftlichen Kontext ginge es hier um die Verarbeitung der Forschungsergebnisse in Lehre bzw. zu Stoffen. Zum tertiären Wirtschaftssektor gehören Produkte und Dienstleistungen, im Bereich der Theologie wird dabei insbesondere an Transferleistungen für Kirche und Gesellschaft gedacht.

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Entwicklungen im Verhältnis von Theologie und Kirche

Einerseits hat sich im Zuge der Wende in Deutschland gezeigt, in welchem Maße Theologie und Kirche sich brauchen und aufeinander bezogen sind – ob deren Protagonisten diese zunehmende Verflechtung nun immer wünschten oder nicht. Die im Osten Deutschlands zwischen Vertretern der Kirche und der Theologie im Prozess der Wende angegangenen und irgendwie bewältigten strukturellen Veränderungen sind jedenfalls im Rückblick eine bestätigende Erfahrung gemeinsamer Arbeit. Sie hat ihre Entsprechung in umfassenden Strukturreformen im Westen Deutschlands, die mit etwa 10–15 Jahren Zeitverzögerung in Gang gesetzt wurden. Heute gibt es kaum ein kirchlich relevantes Leitungsgremium, in dem nicht Universitätstheologinnen und -theologen beratend und entscheidend mitwirken. Pauschale Diskreditierungen akademischer Lehre als »professorales Geschwätz« sind die Ausnahme geworden – und vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass die Zurschaustellung theologischer Eitelkeiten an den runden Tischen von Theologie und Kirche einer vergangenen Epoche angehört. In der DDR, vor allem an den Kirchlichen Hochschulen, war dieses Aufeinander-Angewiesensein schon durch die gemeinsamen Herausforderungen unter der Diktatur der SED gegeben. Sie ergaben sich daraus, quasi unter kirchen- und theologiefeindlichen Bedingungen Pfarrerinnen und Pfarrer auszubilden, die dafür vorbereitet sein sollten, mit dem, was sie wissen und können, im Alltag eines Pfarramts in einer ostdeutschen Landeskirche zu bestehen. Es stand meist nicht gleich das Leben auf dem Spiel, aber dass es um Existenzfragen ging, war den meisten, die in Theologie oder Kirche beruflich unterwegs waren, gleichermaßen geläufig. Dies hat insgesamt zu einer weit vernetzten Zusammenarbeit geführt, die gute Früchte trägt, wie sich an sorgfältig erarbeiteten Stellungnahmen der Kirchen über großangelegte Studien bis hin zu multi-institutionell besetzten Arbeitsgruppen und Ethikkommissionen zeigt. Dieser Bestandsaufnahme steht auf der anderen Seite ein nicht zu übersehendes Auseinanderklaffen theologischer Lehre und pastoraler Praxis gegenüber. Ich sehe darin nicht nur eine Folge davon, dass wir in einer Zeit leben, in der der Graben zwischen geschriebenen und gelesenen Büchern garstiger ist denn je. (Darin unterscheidet sich die Theologie nicht sonderlich von anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen.) Die angedeutete Situation ist wohl eher ein Indiz dafür, dass dem Berufsprofil Pfarrer – mit etwas Pathos gesagt – der Anreiz, die Notwendigkeit, die Selbstverständlichkeit theologischer Bewährung verlorengegangen ist, das Bewusstsein dafür, die Theologie fürs Überleben zu brauchen bzw. sie dafür verwenden zu können. Es wird so unendlich viel »irgendwie Richtiges« gesagt, wobei die Sprechakte der ehrenwerten Selbstkritik und

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Selbstverpflichtung dominieren: »Wer glaubt, er müsse sich nicht um seinen Nächsten kümmern, hat das Christentum nicht verstanden.« Es wird mehr appelliert als vertieft, es gibt so viel brave Empörung, so viel Wissen über die Unzulänglichkeit der Gottesbeziehung des Einzelnen, soviel Solidarität mit Gott, soviel Dramatisierung von Bagatellen … Aber weshalb es für eine sonntägliche Retrospektive auf die »Katastrophe der Woche« Theologinnen und Theologen braucht (die doch eigentlich eine Aufgabe vor allem gegenüber den Anwesenden haben und um ihretwillen mit der Benefizveranstaltung Gottesdienst beauftragt wurden), wird nach meiner Wahrnehmung oftmals nicht so recht deutlich. Predigten selbst kirchlicher Berufsprofis erweisen sich als krudeste Moraldoktrin, Lichtjahre entfernt von der Rechtfertigungstheologie, die sie sich in jeder Predigt explizit auf die Fahnen schreiben.13 Im Bereich kirchlicher Praxis gilt eine verkürzte Wort-Gottes-Theologie noch häufig als der unangefochtene Goldstandard von Liturgie und Predigt: Gott sagt uns dies und das in seinem Wort, wir entziehen uns ihm unter der Woche in einem fort, sonntags erwischt uns dieses Wort wieder, stellt uns an die Wand und richtet uns dann unverdienterweise doch wieder auf.

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Herausforderungen im theologischen Diskurs heute

Der stille Abschied von den Argumentationsmustern der Dialektischen Theologie geht mit der Suche nach einer zeitgenössischen Theologie einher. Während sich noch vor 20 Jahren Systematiker oder Exegeten durchaus in der Lage sahen, bei ihrer Publikationstätigkeit schnell einmal eine Homiletik oder eine Liturgik

13 Um zu verdeutlichen, an welche Sprache und Theologie ich dabei denke, ein exemplarisches Schlusszitat aus einer Osterpredigt: »[…] Im Griechischen steht für das ›Lieben‹ ein Wort, das freundschaftliche Zuneigung meint. Der Vater und der Sohn sind einander freundschaftlich zugeneigt und diese Zuneigung soll weitergehen an diejenigen, die sich zu Jesus halten und ihm nachfolgen. ›Ihr seid meine Freunde‹, sagt Jesus einmal zu ihnen. So entsteht eine Kette der Freundschaft, eine Kette liebender Zuwendung: Was Liebe ist, lernt der Sohn vom Vater, die Jüngerinnen und Jünger Jesu lernen es von ihm, von Jesus, und die ›Welt‹ lernt es von denen, die Jesus Christus nachfolgen und seinen Namen tragen. Mit dem Ostermorgen soll das Licht der väterlichen Liebe Gottes auch unser Sehen und Handeln prägen. Wie Jesus seinen Blick liebend auf die Menschen richtete, die vom Leben betrogen schienen, so soll sich auch unser Blick liebevoll denen zuwenden, die das Geschenk neuen Lebens brauchen. Und wie Jesus aus Liebe das Leben von Menschen erneuerte – nicht nur am Teich Bethesda –, so soll auch unser Handeln im Zeichen der Liebe Gottes geschehen. Dann wird es wirklich Ostern. Amen.« Peter Haigis: Predigt vom 30. 03. 2013 (Osternacht) über Johannes 5, 19–21, 2013, verfügbar unter: http://predigten.evangelisch.de/predigt/predigt-ueber-johannes-5-1921-von-peter-haigis [03. 06. 2016].

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»dazwischenzuschieben«14 und in der Praktischen Theologie zu punkten, zeigen sich seither gewisse Tendenzen einer Umkehrung dieser Entwicklung: Vorstöße zu einer zeitgenössischen Glaubenskultur kommen zunehmend aus der Praktischen Theologie.15 Sie zielen auf eine Reformulierung der Rahmenbedingungen und Wesensmerkmale des Glaubens sowie auf eine entsprechende Anthropologie, zu der die Kategorie des Leben- und Glauben-Könnens gehört. Exemplarisch hierfür ist die von Klaus-Peter Jörns unter dem Titel »Notwendige Abschiede«16 vorgelegte Untersuchung darüber, was (1.) geglaubt wird, (2.) was die Glaubensgeschichte des Christentums im Laufe der Zeit zu glauben aufgegeben hat und (3.) welchen Glauben wir guten Gewissens und aus guten Gründen als lebensdienlich empfehlen können. Das Buch ist in kürzester Zeit in fünf Auflagen erschienen und hat die Debatte um das, was wir heute im Kern unter Glauben verstehen, angeregt und z. T. stark polarisiert. Andere teils eigensinnige, teils moderate Versuche in dieser Hinsicht ließen sich nennen. Die damit einhergehenden, besonders an Fragen des Glaubens und der Anthropologie anschließenden Diskurserweiterungen sind vielleicht eine Folge des schon erwähnten Plausibilitätsverlustes der Dialektischen Theologie. Man kann nicht das Verkündigungsparadigma zu den Akten legen und z. B. durch das Paradigma der »Kommunikation des Evangeliums« ersetzen, ohne sich gleichzeitig mit den theologischen Prämissen, Kategorien und Begriffen auseinanderzusetzen, aus denen sich das kerygmatische Prinzip gespeist hat bzw. wie von selbst ergeben zu haben schien. Wie man nun vor ca. 25 Jahren z. B. damit begonnen hat, die Bedingungen der Kommunikation selbst als Brennpunkte homiletischer Reflexion zu begreifen, gilt es nun analog auf der Ebene der Anthropologie, das Menschsein des Menschen in seiner Ganzheit und Komplexität als conditio sine qua non der Aneignung des Glaubens zu reflektieren. Wenn Menschen dazu neigen, sich für religiös unmusikalisch halten, ist das häufig das Fazit einer Reihe von Erfahrungen mit kirchlicher Praxis, in denen sie den Eindruck gewonnen haben, sie stünden vor der Erfahrung, entweder religiös oder gerne Mensch zu sein. Dass ein Gottesdienst dazu beitragen könnte, sie als Menschen zum Vorschein zu bringen, bestimmt von einem eigenen, durchdachten Willen, mit einem Faible für Freiheit und Liebe, angeleitet in der schwierigen Kunst der Freundschaft mit sich selbst usw. – das wäre eine Neuigkeit für die, die »nicht mehr hingehen«, wie sie ihre frühere Religionsausübung 14 Evangelischerseits z. B. Karl Barth und Gerd Theißen, katholischerseits Klaus Müller und Bernd Wannewetsch. 15 Vgl. z. B. Dietrich Stollberg: Soll man das glauben? Vom Sinn der christlichen Religion, Leipzig 2009; Michael Meyer-Blanck/Joachim Gerhardt (Hg.): Evangelischer Taschenkatechismus, Reinbach 42012. 16 Klaus-Peter Jörns: Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 52010.

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manchmal zusammenfassen. Es gibt jedenfalls eine Art des Glaubensabfalls, der nicht darauf beruht, dass Menschen von dem abrücken, was ihnen lieb und teuer ist: Der Glaube kann auch vom Menschen abfallen, wenn dem Glauben so viel Menschliches genommen wird, dass er einfach keinen Halt mehr findet an dem, was das Menschsein des Menschen ausmacht. Die vorhin angesprochene Kluft zwischen theologischem Fortschritt und pastoraler Praxis widerspiegelt natürlich auch ein Defizit an Kohärenz im theologischen Diskurs: Die Diskrepanz zwischen dem Wissen vom Werden der Bibel und die faktische Ineinssetzung dieses Buchs der Kirche mit göttlichen Willensbekundungen, die Spannung zwischen den seelsorglichen Prinzipien im Umgang mit Menschen und die liturgische Erklärung der Kränkung Gottes aus einem imaginären Katalog der Misserfolge im Über- und Gutmenschentum sind Ausdruck einer mangelnden Stimmigkeit, der sich die Praktische Theologie anzunehmen hat. Um sie zu überwinden, bedarf es m. E. weniger eines großen Abschieds von vermeintlich überholten Glaubensinhalten, wie Klaus-Peters Jörns es vorschwebt, sondern einer stärker anthropologisch reflektierten Glaubenslehre. Es käme allerdings darauf an, sie nicht als Subdisziplin der Heils- oder Schöpfungslehre zu betreiben, sondern sich dem Geheimnis des Menschseins des Menschen im Dialog mit jenen Wissenschaften zu nähern, in denen die Frage nach dem Menschen ebenfalls zentral gestellt ist. Mensch zu sein und ein Leben aus Glauben zu führen, ist immer noch eine Fahrt aufs Meer. Theologie ist eine privilegierte Disziplin dafür, die Neugier zu dieser Unternehmung am Leben zu halten.

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Predigt anlässlich der 650-Jahr-Feier der Universität Wien, gehalten am 12. März 2015 im Wiener Stephansdom

Lesung Apg 17, 16–34 (Einheitsübersetzung) 16 Während Paulus in Athen auf sie wartete, erfasste ihn heftiger Zorn; denn er sah die Stadt voll von Götzenbildern. 17 Er redete in der Synagoge mit den Juden und Gottesfürchtigen und auf dem Markt sprach er täglich mit denen, die er gerade antraf. 18 Einige von den epikureischen und stoischen Philosophen diskutierten mit ihm und manche sagten: Was will denn dieser Schwätzer? Andere aber: Es scheint ein Verkünder fremder Gottheiten zu sein. Er verkündete nämlich das Evangelium von Jesus und von der Auferstehung. 19 Sie nahmen ihn mit, führten ihn zum Areopag und fragten: Können wir erfahren, was das für eine neue Lehre ist, die du vorträgst? 20 Du bringst uns recht befremdliche Dinge zu Gehör. Wir wüssten gern, worum es sich handelt. 21 Alle Athener und die Fremden dort taten nichts lieber, als die letzten Neuigkeiten zu erzählen oder zu hören. 22 Da stellte sich Paulus in die Mitte des Areopags und sagte: Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. 23 Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: EINEM UNBEKANNTEN GOTT. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch. 24 Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind. 25 Er lässt sich auch nicht von Menschen bedienen, als brauche er etwas: er, der allen das Leben, den Atem und alles gibt. 26 Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgesetzt. 27 Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern. 28 Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir, wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seiner Art. 29 Da wir also von Gottes Art sind, dürfen wir nicht meinen, das Göttliche sei wie ein goldenes oder silbernes oder steinernes Gebilde menschlicher Kunst und Erfindung. 30 Gott, der über die Zeiten der Unwissenheit hinweggesehen hat, lässt jetzt den Menschen verkünden, dass überall alle umkehren sollen. 31 Denn er hat einen Tag festgesetzt, an dem er den Erdkreis in Gerechtigkeit richten wird, durch einen Mann, den er dazu bestimmt und vor allen Menschen dadurch ausgewiesen hat, dass er ihn von den Toten auferweckte. 32 Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, spotteten die einen, andere aber sagten: Darüber wollen wir dich ein andermal hören. 33 So ging Paulus aus ihrer Mitte weg. 34 Einige Männer aber schlossen

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sich ihm an und wurden gläubig, unter ihnen auch Dionysius, der Areopagit, außerdem eine Frau namens Damaris und noch andere mit ihnen.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater und unserm Herrn und Heiland Jesus Christus. Liebe Schwestern und Brüder, die Geschichte, die wir gehört haben, ist nach Meinung des großen Gelehrten Adolf von Harnack das »wundervollste Stück der Apostelgeschichte und ist im höheren Sinn […] voller Wahrheit«.1 Das ist ein durchaus nachvollziehbares Urteil und zugleich höchst verwunderlich. Denn die Geschichte beginnt mit einem Missverständnis und endet mit einem Misserfolg. Das Missverständnis: Die Athener meinten offenbar, Paulus bringe ihnen nichts weiter als bloß eine weitere dieser merkwürdigen orientalischen Religionen, in deren Zentrum ein göttliches Paar steht, nämlich ein gewisser Jesus und an seiner Seite eine Frauengestalt namens Anastasis, die Auferstehung. Und der Misserfolg: Die einen spotteten, die anderen luden ihn höflich aus, indem sie sagten: Darüber wollen wir dich ein andermal hören, und Paulus, der seine Rede abgebrochen hat, ging aus ihrer Mitte weg. Missionserfolg gering, nur wenige schlossen sich dem christlichen Glauben an, zu wenige, als dass eine Gemeinde hätte entstehen könnte. Und doch haben wir paradoxerweise zwischen Missverständnis und Misserfolg eingespannt die paradigmatische Erzählung einer Erstbegegnung. Am Fuße der Akropolis trifft griechische Philosophie auf christliche Theologie. Der biblisch begründete Glaube an Jesus Christus, die pistis, begegnet dem logos, der Vernunft, der damaligen Universitätswissenschaft. Universitätswissenschaft sage ich, denn die antike Akademie, die athenische Akademie, gilt vielen als Vorläuferin, als Prototyp der späteren Universitäten. Obwohl Athen zur Zeit des Paulus zur wirtschaftlich und politischen Bedeutungslosigkeit herabgesunken war, strahlte das Licht der Wissenschaft aus der Stadt noch immer ungebrochen hell. Athen war auch zur Zeit des Paulus noch das Zentrum der Künste und Wissenschaften mit einer geradezu magnetischen Anziehungskraft für junge Menschen aus aller Welt, bis nach Indien. So gut wie alle großen und bis heute bekannten Dichter Roms studierten in Athen (Horaz, Vergil, Properz, Ovid), eine ganze Reihe angehender Politiker und Staatsmänner holte sich hier den internationalen Austausch auf höchstem Qualitätsstandard (z. B. Germanicus, der Adoptivsohn des Tiberius). Im Ranking – ja, das gab es schon damals – lag Athen immer vor Rom, Alexandrien oder Marsilia. Athen galt als die Geburtsstätte der Menschlichkeit und der Wissenschaften (vgl. Plinius, 1 Adolf von Harnack: Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten 1. Die Mission in Wort und Tat, Leipzig 41924, 391 (Anm. 2).

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Epistulae 8,24,2.4). Auch die Gelder flossen reichlich; der Athener Wissenschaftsbetrieb hatte keine Mühe, Drittmittel einzuwerben. Selbst der reichste Mann der damaligen Zeit, der legendäre Herodes Atticus, der natürlich auch in Athen studiert hatte, unterstützte durch rege Bautätigkeit die Wissenschaften in der Stadt. Und als dann tausend Jahre später die ersten europäischen Universitäten entstehen, Bologna, Salerno, Paris, führen sie sich auf die antike Tradition zurück. Nur für Oxford war Athen nicht altehrwürdig genug, da wurde der Ursprung in Troja und der homerischen Zeit angesiedelt. Beinahe schon in einem vergleichsweise nüchternen Licht stehen die deutschsprachigen Gründungen da, Prag zuerst und bald darauf unsere Alma Mater Rudolphina hier in Wien vor 650 Jahren. Auch wenn diese Herleitungen historisch mehr als fragwürdig sind – die Universitäten, Einrichtungen von welthistorischer Bedeutung, sind nicht über Nacht entstanden oder einfach vom Himmel gefallen. Sie gehen zurück auf jene spannungsvolle und deshalb äußerst fruchtbare Verbindung von griechischem Geist und jüdischer Weisheit, von antiker Philosophie und biblischer Schriftauslegung, die die Geschichte von Paulus auf dem Areopag so anschaulich und dramatisch schildert. Aber zurück nach Athen. Die Akademie war verbunden mit Platon, dem göttlichen (wie Friedrich Nietzsche meinte), dessen Einfluss auf die gesamte abendländische Geistesgeschichte einschließlich der Theologie bis heute anhält, ja wenn alle Anzeichen zutreffen, sogar wieder im Steigen begriffen ist. Eine zentrale Rolle in der platonischen Akademie in Athen spielte das folgenreiche Wirken des Sokrates. Als Paulus in Athen war, war es gerade 450 Jahre her, dass Sokrates den Schierlingsbecher genommen hatte (399 v. Chr.). Hat es aus diesem Anlass Gedenkfeiern gegeben? Sind die Epikureer und Stoiker, die die Apostelgeschichte erwähnt, womöglich gerade von den Feierlichkeiten, vom Festakt draußen vor der Stadt, wo der legendäre Hain des Akademos, nach dem diese singuläre Bildungseinrichtung ihren Namen trug, liegt, zurück in die Stadt gekommen? Ein reizvoller Gedanke, der eine Brücke zu unserem heutigen Anlass bauen lässt. Ganz aus der Luft gegriffen ist es nicht. Denn Paulus wird mit einigen deutlichen Anspielungen auf Sokrates geschildert. Er bringt neue Lehren, »recht befremdliche Dinge« (Apg 17,20 Einheitsübersetzung). Das Stichwort der δαιμόνια (Apg 17,18) erinnert natürlich an die καινά δαιμόνια, deren Verbreitung Sokrates in der Anklage vorgeworfen wurde.2 Auch das Dialogisieren, das Paulus mit den Menschen auf dem Marktplatz der Agora betreibt, erinnert an die sokratische Methode, die bis heute eine Königsdisziplin im Erörtern der schwierigen, grundlegenden, auch der letzten Fragen darstellt. Der Kirchenvater Ori2 Xenophon, Memorabilia 1,1,1 (BSGRT 1,7 Hude); vgl. Platon, Apologia 24c (Franz Josef Weber [Hg.]: Platon, Apologia Sokratis, Paderborn 1971, 62).

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genes hat sogar gemeint, die Ähnlichkeit ist so frappant, dass es nicht anders sein kann, als dass auch Sokrates dereinst 450 Jahre vor Paulus auf dem Areopag gestanden haben muss. Aber wodurch kam es zu dem Misserfolg am Schluss? Paulus knüpft doch sehr gekonnt bei der Situation seiner Zuhörenden an und lobt ihre Frömmigkeit, eine gelungene captatio benevolentiae. Aber vielleicht ist ihm hier schon der entscheidende Fehler unterlaufen, eine Weichenstellung, die letztlich zum Scheitern geführt hat. Ist es klug, als Zeltmacher und self-made-Philosoph den Lehrern der Bildungsmetropole, den Trägern aller wissenschaftlichen Auszeichnungen, den Stars der scientific community, denen die Studierenden nur so zuströmten, zu unterstellen, sie hätten Wissenslücken? Sie würden sogar etwas Göttliches verehren, ohne darüber näher Auskunft geben zu können? Dem unbekannten Gott – den verehren sie, ohne ihn zu kennen. Das Motiv der Unwissenheit kehrt später nochmals wieder. Die, die so nach Wissen streben, mit geradezu sprichwörtlicher athenischer Neugier, entlarven sich an einem entscheidenden Punkt als die Unwissenden. Sie haben das Ganze nicht im Blick. Das ist vielleicht nicht so gut angekommen. Aber genau an diesem Punkt zeigt sich der Nerv der Begegnung von Glaube und Vernunft, von Theologie und Wissenschaft. An diesem Punkt wird deutlich, warum es die universitas litterarum braucht und warum die Theologie ihren Platz im Haus der Wissenschaften hat. Denn Paulus stellt die Wissenschaft hinein in einen geordneten, schönen Kosmos, der sich dem schöpferischen Willen Gottes verdankt. Der also Ursprung, Bestimmung und Ziel hat. Damit stellt er sie auch hinein in Raum und Zeit, wo sie sich zu bewähren hat. Nicht im luftleeren Raum oder im abgeschiedenen Elfenbeinturm, sondern in wacher und kritischer Zeitgenossenschaft. Wie gut, dass auch die Universität Wien ihre Verstrickung in die Zeitumstände wach im Auge hat. Ich denke im siebzigsten Jahr der Befreiung an die Zeit des Nationalsozialismus. An die Verantwortung, die mit der Freiheit der Wissenschaft, der Forschung und der Lehre, verbunden ist. In diesem umfassenden Kontext – Kosmos – gibt der Mensch das Maß. Denn wir sind – Paulus zitiert den Dichter und Stoiker Aratos (Phaenomena 5) – von göttlicher Art, und wir Schriftkundige hören zugleich: zum Ebenbild Gottes geschaffen. An diese Verantwortung vor der Welt und vor den Menschen, für die Welt und für die Menschen zu erinnern, stellt sich als bleibende Aufgabe der Theologie heraus. Sie weitet die Vernunft über ihre möglichen Selbstbeschränkungen hinaus, tritt für ihre Freiheit ein, wo sie durch gesellschaftliche Umstände und wirtschaftliche Zwänge bedroht und eingeschränkt ist. Diese Weitung der Vernunft war das Anliegen der berühmten Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. Indem sie die Grenzen benennt, ist die Theologie eine Anwältin der Freiheit der Wissenschaft. Sie warnt die Vernunft vor der ihr auch innewohnenden Unvernunft.

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Aber auch umgekehrt: Mit Paulus auf dem Areopag erhebt in aller Öffentlichkeit das Christentum den Anspruch zu verstehen, was es glaubt. Ohne Vernunftgebrauch ist christlicher Glaube nicht vorstellbar. Die Universitäten haben die Theologie herausgefordert und sie hat diese Herausforderung entschlossen angenommen und als Chance aufgefasst. Im Mittelalter waren Universitäten ohne Theologie nicht denkbar. Heute hat sich die Theologie in der universitas litterarum zu behaupten und immer wieder neu zu verorten. Denn umgekehrt gilt es genauso: Ohne Universität ist die Theologie nicht denkbar. Das Bemühen um eine anschlussfähige Rationalität der christlichen Religion, das Gespräch mit anderen Wissenschaften, die Bildung in einem institutionalisierten Rahmen – das sind Kennzeichen der wissenschaftlichen Theologie, die gerade in einer Zeit des da und dort unübersehbar ausbrechenden religiös verkleideten Verbrechertums und Wahnsinns einen unverzichtbaren Beitrag leistet, auch mit dem unverfügbaren Glauben Freiheit in Verantwortung für die Welt und die Menschen zu leben. So wie die Theologie die Vernunft vor der ihr innewohnenden Unvernunft bewahren hilft, hilft umgekehrt die Vernunft dem Glauben vor dem ihm innewohnenden Unglauben und Irrglauben, der sich der öffentlichen vernunftgeleiteten Auseinandersetzung entziehen möchte. Paulus bricht seine Rede ab. Er geht weg aus ihrer Mitte. Weder er noch seine Zuhörer haben geahnt, dass aus dieser Geschichte zwischen Missverständnis und Misserfolg eine solche Langzeitwirkung entstehen würde. Das mag ein Trost sein für uns heute, ein Grund zu Gelassenheit und Humor, ein Anstoß zu beharrlichem Tun und Wirken. Denn keinem von uns ist dieses Ganze fern, das wir in christlicher Überzeugung Gott nennen, so fragmentarisch und bruchstückhaft auch alles sein mag, was wir vor Augen haben und was aus unseren Händen geht. Gott ist uns nicht nur nicht ferne, er ist vielmehr das Haus, in dem wir nach Paulus leben, uns bewegen und sein können. Oder – um es mit Luther zu sagen, mit dem beim Übersetzen wieder einmal der Dichter durchgegangen ist: In ihm leben, weben und sind wir (Apg 17,28).

Die Autorinnen und Autoren

Dr. Reinhold Becker, Jahrgang 1950, war von 1979 bis 2014 Gemeindepfarrer im Kanton Bern/Schweiz Dr. Michael Bünker, Jahrgang 1954, Honorarprofessor und Bischof der Evangelischen Kirche A. B. in Österreich und Vorsitzender des Evangelischen Oberkirchenrates A. u. H. B. in Österreich Dr. Christian Danz, Jahrgang 1962, Professor für Systematische Theologie A. B. am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Michaela Durst, Jahrgang 1987, Assistentin am Institut für Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Wilfried Engemann, Jahrgang 1959, Professor für Praktische Theologie am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Stefan Fischer, Jahrgang 1966, Privatdozent und Lehrbeauftragter für Altes Testament am Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Research Associate der University of the Free State in Bloemfontein, Südafrika; Pfarrer der Evang.-ref. Kirche Basel-Stadt, Schweiz Mag. Rainer Gugl, Jahrgang 1986, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am FWF-Projekt »The Beginnings of Domestic Religion in Ancient Christianity« des Instituts für Neutestamentliche Wissenschaft der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Uta Heil, Jahrgang 1966, Professorin für Kirchengeschichte am Institut für Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Susanne Heine, Jahrgang 1942, Professorin em. am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Sabine Hermisson, Jahrgang 1971, Assistentin am Institut für Religionspädagogik der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Mag. Marcus Hütter, Jahrgang 1988, Assistent am Institut für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien Dr. DDr. h.c. Ulrich H. J. Körtner, Jahrgang 1957, Professor für Systematische Theologie am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien sowie Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien Dr. Michael Murrmann-Kahl, Jahrgang 1959, Privatdozent für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern Dr. Annette Schellenberg, Jahrgang 1971, Professorin für Alttestamentliche Wissenschaft am Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Dr. phil. h.c. Karl W. Schwarz, Jahrgang 1952, Titularprofessor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Ministerialrat im Kultusamt Wien Mag. Ulrike Swoboda, Jahrgang 1983, Assistentin am Institut für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien