Erich Kästner und die Aufklärung: Historische und systematische Perspektiven 9783111085081, 9783111085043

Erich Kästner hat sich zeitlebens mit der historischen Aufklärung beschäftigt. Namen wie Lessing, Kant, Rousseau, Wielan

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Erich Kästner und die Aufklärung: Historische und systematische Perspektiven
 9783111085081, 9783111085043

Table of contents :
Inhalt
Zur Einführung: Erich Kästner und die Aufklärung
I. Kästners Dissertation und seine Bibliothek
Noch kein ›Urenkel der Aufklärung‹
Dissertant und Dichter
»Das, was er schrieb, war manchmal Dichtung«
II. Kästner und die Aufklärer: Lessing und Kant
Erich Kästners Lessing-Rezeption
»Völkerbund« versus »Weltrepublik«?
III. Aufklärung in Publizistik und Kabarett
Die Erziehung der Zuschauer
Von Ellipsen, Auslassungspunkten und anderen Tropen
Kleine Freiheiten
IV. Kästners Prosa der Aufklärung?
Universität, »eine Anstalt für schwachsinnige Kinder«
Kästners flache Aufklärung
Der Schock des Blauen Buches
V. Aufgeklärte Kinderliteratur?
Der Detektiv als Aufklärer
»Männer merken nie etwas«
Autorinnen und Autoren
Personenregister

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Erich Kästner und die Aufklärung

Erich Kästner Studien

Für den Förderverein Erich Kästner Forschung e. V. herausgegeben von Sven Hanuschek und Gideon Stiening Wissenschaftlicher Beirat Bernhard Fetz, Hans-Edwin Friedrich, Annette Keck, Helmuth Kiesel, Stefan Neuhaus, Yvonne Wübben

Erich Kästner und die Aufklärung Historische und systematische Perspektiven Herausgegeben von Sven Hanuschek und Gideon Stiening

ISBN 978-3-11-108504-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-108508-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-108514-2 ISSN 2195-7339 Library of Congress Control Number: 2023940857 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Sven Hanuschek, Gideon Stiening Zur Einführung: Erich Kästner und die Aufklärung

1

I. Kästners Dissertation und seine Bibliothek Daniel Fulda Noch kein ›Urenkel der Aufklärung‹ Der junge Kästner im Diskursstrom germanistischer Aufklärungskritik Ulrich Dittmann Dissertant und Dichter

13

39

Silke Becker »Das, was er schrieb, war manchmal Dichtung« Auf der Suche nach Spuren der Aufklärung in der Bibliothek Erich Kästners 53

II. Kästner und die Aufklärer: Lessing und Kant Hans-Edwin Friedrich Erich Kästners Lessing-Rezeption

71

Nicole Pasuch »Völkerbund« versus »Weltrepublik«? Reminiszenzen an Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden in Erich Kästners 89 pazifistischen Positionierungen der späten 1940er Jahre

III. Aufklärung in Publizistik und Kabarett Sophia Wege Die Erziehung der Zuschauer Kästner-Publizistik zwischen 1923 und 1933

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VI

Inhalt

Ulrike Leuschner Von Ellipsen, Auslassungspunkten und anderen Tropen Zu einigen Feuilletons Erich Kästners für die Neue Zeitung Stefan Neuhaus Kleine Freiheiten Erich Kästner und das Kabarett der Nachkriegszeit

129

147

IV. Kästners Prosa der Aufklärung? Alexander Košenina Universität, »eine Anstalt für schwachsinnige Kinder« Erich Kästners Roman Der Gang vor die Hunde zeichnet ein tragisches Bild der 161 Akademie Helmuth Kiesel Kästners flache Aufklärung

173

Gideon Stiening Der Schock des Blauen Buches Kästners Aufklärungskonzepte vor und nach 1945

189

V. Aufgeklärte Kinderliteratur? Clemens Pornschlegel Der Detektiv als Aufklärer Bemerkungen zu Erich Kästners »Emil und die Detektive« Sven Hanuschek »Männer merken nie etwas« Das doppelte Lottchen und die Entstehung des deutschen Grundgesetzes 225 Autorinnen und Autoren Personenregister

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Sven Hanuschek, Gideon Stiening

Zur Einführung: Erich Kästner und die Aufklärung 1 »Urenkel der deutschen Aufklärung«? Erich Kästner hat sich nicht nur in unterschiedlichen Denkformen und Textgattungen sowie zu verschiedenen Zeiten seines Schaffens mit der historischen Aufklärung beschäftigt; er hat sich selber unter systematischen Gesichtspunkten als Aufklärer verstanden, allerdings als einer, der die Kritik an der schlichten Hoffnung durch einen ›Wandel durch Vernunft‹¹ produktiv reflektiert hatte. Vor diesem Hintergrund sind Namen wie Lessing, Kant, Rousseau, aber auch Möser, Wieland, der junge Goethe und einige weitgehend vergessene Autoren der Aufklärung sowie deren dichterische und philosophische Werke dem Publizisten und Literaten Kästner stets präsent und finden auch in seinen Texten funktionale Erwähnung. So dürfte Fabian. Die Geschichte eines Moralisten ohne hinreichende Reflexion von Labudes Habilitation über Lessing schwer verständlich bleiben, und auch Kästners frühe Gedichte reflektieren die Leichtigkeit des säkularen Hedonismus eines Hagedorn oder Wieland. Seine Dissertation über Friedrich der Große und die deutsche Literatur ist im Hinblick auf die Kenntnis des Autors von diesem »Zeitalter der Aufklärung«,² das er – wie sein eigenes – ausdrücklich nicht als ›aufgeklärtes Zeitalter‹ verstand,³ ein noch weitgehend ungehobener Quellenfundus, der die Kenntnis über Kästners Wissen und Verständnis der historischen Aufklärung und ihrer Bedeutung für die Gegenwart erweitern kann. Aber nicht nur unter historischen, sondern auch unter systematischen Gesichtspunkten kann man Kästner – wie er es selber tat – zu Recht als »Urenkel der deutschen Aufklärung« bezeichnen,⁴ weil er zwar gerne über »Die Grenzen der 1 So die präzise Formel für die Substanz des Aufklärungsgedankens bei Georg Schmidt: Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert. München 2009. 2 Vgl. hierzu Erich Kästner: Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Die Erwiderungen auf seine Schrift »De la littérature allemande«. Stuttgart 1972, S. 101. 3 Zur Distinktion zwischen dem Zeitalter der Aufklärung und einem aufgeklärten Zeitalter siehe Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? In: Kants Gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., Bd. 8, S. 40. 4 So Erich Kästner: Kästner über Kästner [1949]. In: Ders.: Werke. Hg. von Franz Josef Görtz. München, Wien 1998, Bd. 2, S. 323–328, hier S. 326; vgl. hierzu auch Fabian Beer: Ein »Urenkel der deutschen Aufklärung«, dem Schillers »Glocke« geschlagen hat. Erich Kästner als Schüler und Schuldner Friedrich Schillers – eine Spurensuche. In: Erich-Kästner-Jahrbuch 7 (2012), S. 13–58. https://doi.org/10.1515/9783111085081-001

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Sven Hanuschek, Gideon Stiening

Aufklärung« witzelte,⁵ an spezifischen Konzepten der Aufklärung in ethischer und politischer Hinsicht jedoch festhielt.⁶ Sein ethischer Emotionalismus, bis in die späten Kriegsjahre aufrechterhalten, ist ohne die Vorgaben der englischen und deutschen Aufklärungsphilosophie schwer zu verstehen. Und auch sein stets kultivierter Primat der Praxis – Es gibt nichts Gutes, außer man tut es

– stützt sich auf die Postulate der europäischen Popularphilosophie des späten 18. Jahrhunderts.⁷ Letztlich ist auch weiterhin zu prüfen, ob die Selbstverständlichkeit seines religiösen Agnostizismus und seiner Kirchenkritik nicht ihren Ursprung im französischen Materialismus eines d’Holbach oder Diderot haben und damit als Fortsetzung der Radikalaufklärung zu bezeichnen sind.⁸

2 Was ist Aufklärung? Auch im vorliegenden Zusammenhang ist allerdings zunächst zu fragen: Was ist Aufklärung? Die im nachfolgenden Band versammelten Forscherinnen und Forscher zur Aufklärung, zu Kästner und zu deren Zusammenhang haben die Frage höchst unterschiedlich beantwortet. Wenigstens über eine Antwort kann man sich aber durchaus verständigen: Die Frage nach der Aufklärung stellt sich notwendig, also unabweisbar, und zwar nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zur historischen und systematischen Aufklärung, sondern der menschlichen Vernunft überhaupt. Selbst jene Philosophen, Juristen und Literaten, jene Publizisten und Propagandisten, die sich als Gegner der Aufklärung profilierten – zu Kästners Zeiten von Heidegger über Thomas Mann bis zu Carl Schmitt –, jene also, die polemisch als »rasendes Gefasel der Gegenaufklärung«⁹ firmierten und firmieren – heute von Foucault und Baudrillard bis hin zu Joseph Ratzinger –, müssen sich mit dem, was sie als Aufklärung ausgemacht haben und wütend bekämpfen, befassen

5 »Ob Sonnenschein, Sterngefunkel / Im Tunnel bleibt es immer dunkel.« In: Kästner: Werke (s. Anm. 4), Bd. 1, S. 293. 6 Vgl. hierzu Sven Hanuschek, Gideon Stiening (Hg.): Politik und Moral. Die Entwicklungen des politischen Denkens im Werk Erich Kästners. Berlin, Boston 2021. 7 Siehe hierzu u. a. Christoph Binkelmann, Nele Schneidereit (Hg.): Denken fürs Volk. Popularphilosophie vor und nach Kant. Würzburg 2015. 8 Zu historiographischen Konzept einer Radikalaufklärung vgl. u. a. Jonathan I. Israel, Martin Mulsow (Hg.): Radikalaufklärung. Berlin 2014. 9 Klaus Laermann: Das rasende Gefasel der Gegenaufklärung. In: Merkur 39 (1985), S. 211–220.

Zur Einführung: Erich Kästner und die Aufklärung

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und es zu erklären suchen.Vor kurzem hat Hubert Wolf ein ebenso bemerkens- wie lesenswertes Buch zum Thema des Verhältnisses von Aufklärung und Katholizismus geschrieben und mit dem Titel »Verdammtes Licht«¹⁰ versehen. Man sieht unmittelbar die Nöte und die Notwendigkeiten. Schon mit diesen einführenden Überlegungen deutet sich an, dass neben der Unabweisbarkeit der Frage weitere Momente dessen, was man als Aufklärung bezeichnen kann, als allgemeine, wenigstens allgemein akzeptable Elemente des Aufklärerischen gelten können: Dazu zählt die Unterscheidung zwischen der Epoche und dem Projekt der Aufklärung,¹¹ und damit einer Perspektive auf die historischen Phänomene im Zeitalter der Aufklärung (1650 bis 1800) einerseits und einer Perspektive andererseits, die das Programm der Aufklärung für unabgeschlossen, aber weiterzuführen ansieht. Dass wir auch heute noch keineswegs in einem tatsächlich aufgeklärten Zeitalter leben, lässt sich nicht nur am realgeschichtlichen Ereignis eines erneuten Kriegsausbruchs auf europäischem Boden ersehen, sondern auch daran, dass Michael Hampe vor kurzem einen bedeutenden Essay mit dem Titel Für eine dritte Aufklärung geschrieben hat,¹² der weithin wahrgenommen wurde und wird.¹³ Überhaupt scheint nach 40 Jahren französischer Gegenaufklärung und deren weltweiter Wirkung erneut eine Zeit anzubrechen, in der die Berufung auf die Aufklärung wieder salonfähig wird.¹⁴ Es scheint also nicht nur im Hinblick auf Kästner, sondern auch auf die aktuellen Debatten über eine ›Neue Aufklärung‹ an der Zeit zu sein, sich mit Thema Kästner und die Aufklärung zu befassen.

3 Kästner als Aufklärer Sicher ist zudem für dieses Thema die angedeutete Distinktion des Begriffs von Aufklärung als Epoche und Projekt hilfreich und wohl auch notwendig. Denn Erich Kästner hat sich bekanntermaßen nicht nur als Wissenschaftler mit der histori-

10 Hubert Wolf: Verdammtes Licht. Der Katholizismus und die Aufklärung. Darmstadt 2019. 11 Zu dieser Differenzierung vgl. u. a. Annette Meyer: Die Epoche der Aufklärung. Berlin 2010, S. 9– 21 oder auch Stefanie Stockhorst (Hg.): Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Göttingen 2013. 12 Michael Hampe: Die dritte Aufklärung. Berlin 2018. 13 Siehe hierzu die Diskussion zu diesem Text in Aufklärung 33 (2021), S. 255–338. 14 Siehe hierzu u. a. Steven Pinker: Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. Frankfurt 2018; Corine Pelluchon: Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung. Darmstadt 2021; Markus Gabriel u. a.: Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung. Ein Plädoyer für zukunftsorientierte Geisteswissenschaften. Bielefeld 2022.

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Sven Hanuschek, Gideon Stiening

schen Aufklärung beschäftigt und deren Autorinnen und Autoren in seinen Texten direkt und indirekt zitiert. Kästner war auch in seinem unmittelbaren Selbstverständnis deutlich von einem bestimmten Aufklärungsverständnis, von einer bestimmten Ausprägung der Aufklärung beeinflusst: Sein ethischer Emotionalismus, die Annahme, dass es im Menschen, und zwar als Menschen, so etwas wie ein moralisches Gefühl als anthropologische Grundausstattung gebe – besonders ausgeprägt in seiner Kinderliteratur, vor allem im Emil, aber auch im Fliegenden Klassenzimmer, kritisch reflektiert schon im Fabian – ist ohne Lessing wohl nur schwer in Genese und Geltung zu verstehen. Man muss Kästner folglich ein Selbstverständnis als Aufklärer zuschreiben. Kästner und die Aufklärung, das heißt eben auch Kästner als Aufklärer. Er verbindet die beiden genannten Momente – Aufklärung als Epoche und Projekt – in seiner Person, nicht allein in einem kontingenten, additiven Nebeneinander, sondern er betreibt die wissenschaftliche und poetische Auseinandersetzung mit der historischen Aufklärung in systematischer Absicht. Womöglich kann man sich auf ein weiteres Moment eines allgemeinen Aufklärungsverständnisses einigen, das ebenfalls Epoche und Projekt verbindet und das sich bei Kästner präzise nachzeichnen lässt: Gemeint ist die jeder Aufklärung notwendig zukommende Tendenz zur Säkularität, zur Säkularisierung. Es gibt schon im Rahmen der historischen Aufklärung Positionen, die sich durch eine strenge Weltlichkeit auszeichnen. Damit sind nicht nur Materialismus und Atheismus gemeint, sondern auch säkulare Positionen, die alles rationale Argumentieren von theologischen Begriffen und Kategorien als notwendig unabhängig betrachten – weil sich diese nicht beweisen ließen –, ohne zugleich den Nachweis der Inexistenz Gottes zu führen. Andererseits ist hier auch von solchen Positionen die Rede, die sich zwar von der christlichen Religion und ihren Institutionen abwenden, nicht aber von der Referenz auf Gott und/oder die Unsterblichkeit; solche Haltungen beschreiben wir seit Hans Blumenberg als säkularisiert.¹⁵ Kästner nun hat schon früh und konsequent eine Haltung kultiviert, die man als gelassene, also selbstverständliche, aber strenge Säkularität bezeichnen kann. Eben darin ist er als radikaler Aufklärer zu bezeichnen, und hat sich auch wohl so verstanden. Anschaulich lässt sich diese These an einer Passage aus Der Gang vor die Hunde dokumentieren, die zwar Figurenrede ausführt, jedoch an keiner Stelle des Romans relativiert wird: In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Justizrat Labude trat ein, ohne Hut und Mantel. »Tag, Stephan!« sagte er, kam näher und gab seinem Sohn die Hand. »Lange nicht

15 Zu diesem Zusammenhang vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M. 1988.

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Zur Einführung: Erich Kästner und die Aufklärung

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gesehen, was? War ein paar Tage unterwegs. Mußte mal ausspannen. Die Nerven, die Nerven. Komme eben zurück. Wie gehtʼs? Siehst schlecht aus. Sorgen? Was über die Habilitationsschrift gehört? Nein? Langweilige Bande. Hat Mutter geschrieben? Mag noch ein paar Wochen bleiben. Heißt mit Recht Paradiso, das Nest. Hat’s die Frau gut. Tag, Herr Fabian. Seriöse Gespräche, wie? Gibt es ein Fortleben nach dem Tode? Im Vertrauen gesagt, es gibt keins. Muß alles vor dem Tode erledigt werden. Alle Hände voll zu tun. Tag und Nacht. […] Amüsiert euch lieber, statt die Menschheit zu erlösen. Wie gesagt, das Leben muß noch vor dem Tode erledigt werden. Zu näheren Auskünften gern bereit. Nicht so ernst, mein Junge.«¹⁶

Betrachtet man diese Sterblichkeitsüberzeugung des Justizrates und die daraus abgeleitete Forderung an den Menschen, sein Leben vor dem Tode zu »erledigen«, lässt sich festhalten: Unbestreitbar entsteht der Charme dieser Passage aus dem eigentümlich gelassenen Humor, mit dem der Justizrat das Thema Unsterblichkeitsglaube abhandelt. Dieser Humor entsteht einerseits als spezifische Situationskomik: Labudes Vater ist auf dem Sprung zu einem weiteren Amüsement mit einer jungen Geliebten und sieht kurz zuvor noch im Zimmer seines Sohnes vorbei, den er lange nicht gesehen hat. Dessen ernstes Gesicht und das seine Freundes Fabian veranlassen ihn, seinen lebensweltlichen Smalltalk zu unterbrechen und über die Gründe des humorlosen Verhaltens der jungen Männer zu spekulieren. Er vermutet »seriöse« Gespräche, also eben solche, die jene hedonistische Leichtigkeit vermissen lassen, die seine eigene Rede und sein eigenes Handeln konstituiert. Der Justizrat geht also offenbar davon aus, dass die in den Mienen der beiden Männer sich dokumentierende Seriosität des Gesprächsthemas nur auf metaphysische Themenkreise ausgerichtet sein kann, weil alle anderen Themen eine vergleichbare Ernsthaftigkeit nicht erfordern. Deshalb kommt er zwanglos auf das Thema vom Fortleben nach dem Tode und kann es in eben jener Leichtfertigkeit, die ihm zu eigen ist, verneinen: Schon die Formel, mit der diese Verneinung eingeleitet wird, »Im Vertrauen gesagt«, ist in ihrer jovialen Zudringlichkeit an sich deplatziert. Sie kann aber den bedeutsamen Inhalt, das Wissen um die Sterblichkeit des Menschen, in das milde Licht jener Überzeugung tauchen, die den beiden vor ihm sitzenden jungen Männern kurz zuvor noch während ihrer Busfahrt selbst zu eigen war. Diese gelassene Säkularität, von Kästner auch in anderen Texten kultiviert, ist genuin aufklärerisch, weil sie sich ihrer selbst ohne Qualen gewiss sein kann – anders als beispielsweise Georg Büchners Lenz, dessen Protagonist an seinen atheistischen ›Anfällen‹ verzweifelt und erkrankt. Zudem ist sie in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der Gegenposition, der Annahme einer Unsterblichkeit der Seele, eindeutig. Auch wenn die Säkularität bei Kästner stets stabil bleibt: Die Gelassenheit in Sachen Religion, d. h. zumeist der christlichen Religion, kann unser

16 Erich Kästner: Der Gang vor die Hunde. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 42013, S. 76.

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Sven Hanuschek, Gideon Stiening

Autor in bestimmten Phasen offenbar verlieren; so heißt es im Blauen Buch an einer Stelle: Unpolitische Idealisten, wie ich einer war, erleben wohl immer das Gleiche: Eines Tages verachten sie die Menge, aber doch eben nur, weil sie die Menge vorher überschätzten. Und trotzdem: Sie schließlich zu verachten erscheint mir immer noch als eine erträglichere Lösung, als etwa den Satz zu sprechen: »Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Dass sie es nicht wissen; dass sie es noch immer nicht wissen, ist unverzeihlich. Man schämt sich, im Namen aller, vor der Geschichte.¹⁷

An dieser Stelle ist völlig klar, dass die Vergebungshaltung des Herrn gegenüber der Plebs unerträglicher ist als die Verachtung des Intellektuellen, weil sie deren Verblendung als gegeben und unabänderlich voraussetzt. Dies ist ein drastischer Sarkasmus gegenüber der Heiligen Schrift, der allerdings, wenn auch nicht gelassen, doch erkennbar eines ist: Aufklärung. Kästners Haltung zur Aufklärung ist zudem einem Wandel unterworfen, der nicht als geordnete Entwicklung zu rekonstruieren ist, sondern durch äußere Einflüsse je und je beeinflusst wird.

4 Historische Kontexte Zum Abschluss dieser ganz tentativen Überlegungen zum Thema Kästner und die Aufklärung mag noch auf zwei kontextuelle Bedingungen dieses Aufklärungsverständnisses hingewiesen werden: Kästner lebt bis 1933 in einer Zeit, die zwar noch immer nicht als aufgeklärtes Zeitalter zu beschreiben wäre; immerhin aber erlebt er eine Phase, die sich durch einen erheblichen Aufklärungsschub auszeichnet: Zum ersten Mal gibt es in Deutschland seit 1919 nicht nur eine Demokratie, sondern einen Rechts- und Verfassungsstaat, es gibt allgemeine und freie Wahlen, die nicht nur eine ständische, sondern auch eine geschlechtliche Indifferenz implizierten.¹⁸ Es gibt vor allem in den großen Städten einen Durchbruch des lange aufgelaufenen Reformstaus in gesellschafts- und kulturpolitischer Hinsicht;¹⁹ Marlene Dietrich trat in die Öffentlichkeit gleichsam als Inkarnation von Freiheit und Aufklärung, nicht

17 Erich Kästner: Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941–1945. Hg. von Sven Hanuschek in Zusammenarbeit mit Ulrich von Bülow und Silke Becker. Aus der Gabelseberger’schen Kurzschrift übertragen von Herbert Tauer. Zürich 2018, S. 51. 18 Siehe hierzu u. a. Thomas Mergel: Wahlen, Wahlkämpfe und Demokratie. In: Nadine Rossol, Benjamin Ziemann (Hg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik. Darmstadt 2021, S. 198–225. 19 Vgl. hierzu Sabina Becker: Experiment Weimar. Eine Kulturgeschichte Deutschlands 1918–1933. Darmstadt 2018.

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nur in geschlechterpolitischer Hinsicht.²⁰ Kästner erlebt also seine intellektuelle Adoleszenz in einer Zeit, die in leuchtenden Farben zur Anschauung brachte, was es heißt, wenn jener oben schon zitierte ›Wandel durch Vernunft‹ die Wirklichkeit, wenigstens aber Teile derselben, tatsächlich zu verändern beginnt. Und er hat ausgesprochen, wieviel er den zwanziger Jahren verdankte; es »dürfte schon heute klar sein«, schrieb er 1961, »daß jenes deutsche Jahrzehnt andere Dezennien auffällig überragt«.²¹ Kästner erlebt in den 1920er und frühen 1930er Jahren aber auch eine Zeit, in der es neben dem Wüten der intellektuellen Gegenaufklärung auch eine aktive und bis heute prägende Erforschung der historischen Aufklärung gab. Aus der Fülle von Beispielen sei lediglich erwähnt, dass ein Jahr nach dem Erscheinen des Fabian, der womöglich auch nur angemessen als aufklärerischer Roman zu interpretieren ist, ein Buch publiziert wurde, das bis heute die Diskussionen über die Aufklärung beeinflusst: Ernst Cassirers Philosophie der Aufklärung. ²² So zufällig diese Konstellation sein mag, sie allein generiert schon das Interesse an einer möglichen intertextuellen Korrelation.

5 Aufbau und Beiträge des Bandes Der vorliegende Band bietet Beiträge in fünf verschiedenen Schwerpunkten. Zunächst steht Kästners Dissertation, die sich mit den Erwiderungen auf Friedrichs des Großen Schrift »De la Littérature Allemande« befasste, im Mittelpunkt der Überlegungen. Daniel Fulda liefert in einer eingehenden Interpretation des Textes selber sowie des intellektuellen Kontextes, in dem er an der Universität Berlin entstand, genuin neue Erkenntnisse. Er arbeitet vor allem die aufklärungskritische Position von Kästner Doktorvater heraus und weist auf die Linie hin, die sich bis zu Kästners eigener Arbeit fortschreibt. Ulrich Dittmann ergänzt diese Perspektive durch eine Fülle historischer Informationen, die zur Publikation der kästnerschen Arbeit im Jahre 1971 führte, in die der Autor selbst involviert war. Silke Becker wirft anschließend einen Blick in Kästners erhaltene Bibliothek und findet bei ihrer Suche zahlreiche Texte der historischen Aufklärung, die z.T. noch Lesespuren Kästners enthalten. In einer zweiten Abteilung wird der Fokus auf einzelne Aufklärer geworfen. Hans-Edwin Friedrich dokumentiert in diesem Zusammenhang Kästners lebens20 Siehe hierzu Eva Gesine Baur: Einsame Klasse. Das Leben der Marlene Dietrich. München 2017. 21 Erich Kästner: Soll man undankbar sein? In: Ders.: Resignation ist kein Gesichtspunkt. Politische Reden und Feuilletons. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2023, S. 158. 22 Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1932.

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Sven Hanuschek, Gideon Stiening

lange Auseinandersetzung mit Lessing, dessen Werk der Autor als Übergangfigur und Vorbild interpretiert hat. Nicole Pasuch wendet den Blick auf die Bedeutung Immanuel Kants für Kästners Kosmopolitismus, der sich vor allem durch eine Lektüre von Kants Schrift Zum ewigen Frieden beeinflusst zeigt. Die Beiträge zur dritten Sektion beschäftigen sich mit Kästners Publizistik und Kabarett-Beiträgen. Sophia Wege konzentriert sich dabei auf Kästners Theaterkritiken der Berliner Zeit, während derer Kästner eine Fülle von Besprechungen publizierte, die nicht allein dem Inhalt, sondern der kategorialen Bewertung nach einem bestimmten Aufklärungsverständnis Rechnung tragen. Ulrike Leuschner ergänzt diese Perspektive in ihrer Interpretation der kästnerschen Zeitungsartikel nach 1945, die auch zeigen, dass der Autor an den Phänomenen des Holocaust mit seinem Aufklärungsverständnis scheiterte. Stefan Neuhaus dagegen zeigt Kästner als einen Autor von Kabarett-Texten, der nach dem Krieg an ein Aufklärungsverständnis vor 1933 anknüpfte und dieses gar der Form nach verstärkte. Eine vierte Abteilung gilt Kästners Prosatexten. Alexander Košenina beschäftigt sich mit Kästners Roman Fabian bzw. der vor einiger Zeit publizierten ursprünglichen Fassung Der Gang vor die Hunde. Košenina zeigt dabei mit großem Nachdruck, dass die zeitgenössische Universität der Weimarer Republik einen Aufklärungsprozess noch vor sich hatte. Helmuth Kiesel hingegen dokumentiert in einer weitgespannten Kontextualisierung, dass man Kästners Aufklärungsbegehren und dessen Umsetzung auch als Verlustgeschäft an intellektueller Tiefe interpretieren kann – so man denn die Abwesenheit des Irr- bzw. Transrationalen, von dem sich Kästner mit großer Selbstverständlichkeit verabschiedet habe, als Verlust begreifen kann oder will. Gideon Stiening befasst sich mit den Veränderungen des kästnerschen Aufklärungsverständnisses, das nicht allein durch die Kriegserlebnisse, sondern vor allem durch das überwältigende genaue Wissen von den Vernichtungslagern eine grundlegende Modifikation erfahren habe. Die letzte Sektion des Bandes konzentriert sich auf Kästners Kinderliteratur und die in ihr realisierten Aufklärungskonzepte. Clemens Pornschlegel interpretiert hier Emil und die Detektive, dessen naives Aufklärungsverständnis die Grenzen der kästnerschen Realitätsnähe im Kinderroman im Kontext der kanonisierten frühen Moderne ausweise. Sven Hanuschek beschließt diese Sektion und den ganzen Band mit einer neuen Sicht auf Das Doppelte Lottchen, indem er die historische Konstellation der parallelen Entstehung von Roman und Grundgesetz für eine feministische Interpretation des Kinderbuches nutzt. Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die von den Herausgebern vom 24. bis 26. Februar 2022 an der Internationalen Jugendbibliothek im Schloss Blutenburg in München in Zusammenarbeit mit dem Förderverein Erich Kästner Forschung e.V. ausgerichtet wurde. Wir danken allen Vortragenden für ihre Beiträge, insbesondere auch denen, die naturgemäß nicht in diesem Band abge-

Zur Einführung: Erich Kästner und die Aufklärung

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druckt werden können: Am Abend des 25. Februar fand im Rahmen der Tagung eine Lesung mit Konzert statt, die Uraufführung von Michael Bastian Weiß’ Zyklus Leichte Lieder nach Epigrammen von Erich Kästner für Singstimme und Klavier, Mundharmonika und chinesische Rezitationsplättchen op. 18 (2014/2017). Die Sopranistin Jenavieve Moore wurde am Flügel von Serena Chillemi begleitet, Lisa Wagner las Erzählungen von Erich Kästner aus dem Band Der Herr aus Glas. Die Tagung und die Veröffentlichung dieses Bandes wurden vom Förderverein in großzügiger Weise unterstützt, wofür sich die Organisatoren ausdrücklich bedanken, ebenso bei Christiane Raabe und dem Team der Internationalen Jugendbibliothek. Für die wertvollen praktischen und administrativen Hilfen vor, während und nach der Tagung sei an dieser Stelle Sylvia und Peter Beisler ganz herzlich gedankt. Schließlich gilt ein besonderer Dank dem Verlag Walter de Gruyter, insbesondere Marcus Böhm, der sich für unseren Band zu Erich Kästners und die Aufklärung mit großem Engagement einsetzte. München und Bremen im Mai 2023

I. Kästners Dissertation und seine Bibliothek

Daniel Fulda

Noch kein ›Urenkel der Aufklärung‹ Der junge Kästner im Diskursstrom germanistischer Aufklärungskritik

1 Erkenntnis und Bekenntnis in der Aufklärungsforschung Auf den ersten Blick scheinen die Zusammenhänge klar und eindeutig: Erich Kästner verstand sich als Aufklärer,¹ er bezeichnete sich als »Urenkel der deutschen Aufklärung«² und er ging dieser intellektuellen Genealogie bereits in seiner Dissertation über Die Erwiderungen auf Friedrichs des Großen Schrift »De la Littérature Allemande« nach, die eine 1780 und in den Folgejahren geführte Debatte rekonstruiert.³ Die 1925 verfasste Doktorarbeit habe, so der DDR-Germanist Rüdiger Bernhardt in seinen vielbenutzten Erläuterungen zu Kästners Lyrik, »nicht nur der akademischen Qualifikation« gedient; »sie bestimmte auch die eigene Position als Kritiker und Dichter«.⁴ Stefan Neuhaus sieht in der Doktorarbeit ebenfalls einen bildungsbiographischen Beleg für Kästners »›Verwandtschaftsverhältnis‹« zur

1 Vgl. die als Bekenntnis zu verstehende Charakterisierung des Satirikers in Erich Kästner: Eine kleine Sonntagspredigt. Vom Wesen und Sinn der Satire [1947]. In: Ders.: Werke, Bd. 2: Wir sind so frei. Chanson, Kabarett, Kleine Prosa. Hg. von Hermann Kurzke in Zus.arb. mit Lena Kurzke. München, Wien 1998, S. 127–130, hier S. 129: »er [der Satiriker] glaubt, zumindest in seinen glücklicheren Stunden, Sokrates und alle folgenden Moralisten und Aufklärer könnten recht behalten: daß nämlich der Mensch durch Einsicht zu bessern sei.« 2 Vgl. Erich Kästner: Kästner über Kästner [1949]. In: Werke (s. Anm. 1), Bd. 2, S. 323–328, hier S. 326. Dass sich Kästner speziell auf die deutsche Aufklärung beruft, lässt sich mit dem unmittelbar vorangehenden ›Bekenntnis‹ erklären, er sei »gar kein Schöngeist, sondern ein Schulmeister!« (Ebd.) 3 Vgl. Erich Kästner: Die Erwiderungen auf Friedrichs des Großen Schrift »De la Littérature Allemande«. Ein Beitrag zur Charakteristik der deutschen Geistigkeit von 1780. Phil. Diss. Leipzig 1925 sowie den mit fast einem halbem Jahrhundert Verzögerung erfolgten Druck in der wissenschaftlichen Reihe der Münchner Germanistik: Ders.: Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Die Erwiderungen auf seine Schrift »De la littérature allemande«. Stuttgart u. a. 1972. 4 Rüdiger Bernhardt: Erläuterungen zu Erich Kästner. Das lyrische Schaffen. Hollfeld 2010, S. 54, vgl. S. 134 f. https://doi.org/10.1515/9783111085081-002

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Aufklärung.⁵ Als Zwischenglied in dieser Herkunftslinie wird zudem gerne auf Albert Köster verwiesen, Kästners bevorzugten Lehrer an der Leipziger Universität. So von Bernhardt, der mit Bezug auf Kästners eingangs zitiertes Bekenntnis zur Aufklärung schreibt: »Mitverantwortlich für diese Haltung war sein akademischer Lehrer Albert Köster (1862–1924), der von Kästner geschätzte Arbeiten zur Aufklärung vorgelegt hatte.«⁶ Tatsächlich erschien, gerade als sich Kästner an seine Friedrich-Dissertation machte, eine dafür höchst einschlägige Epochendarstellung durch Köster: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit. ⁷ Aber wie tragfähig ist der Schluss vom historischen Gegenstand einer akademischen Untersuchung auf das intellektuelle Profil und die weltanschaulichen Überzeugungen des jeweiligen Forschers? Darf man Erkenntnisbemühungen so umstandslos für Bekenntnisse nehmen, wie dies hinsichtlich Kästners und seiner Dissertation immer wieder geschieht?⁸ Mit Walter Benjamin und dem barocken Trauerspiel (als Thema von Benjamins Habilitationsschrift) verfahren wir nicht so; auch halten wir weder Hugo von Hofmannsthal noch Hans Magnus Enzensberger für Romantiker, weil sie Qualifikationsschriften über Victor Hugo bzw. Brentano verfasst haben. Im Fall der Aufklärung mag das Verhältnis zwischen der Beschäftigung mit Historischem und aktueller Haltung allerdings weniger locker sein. Michel Foucault hat in seiner Auseinandersetzung mit Kants »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« von einer »›Erpressung‹ der Aufklärung« gesprochen, sollte heißen:

5 Stefan Neuhaus: »Urenkel der Aufklärung«. Eine synoptische Lektüre von Werken Erich Kästners und der Dialektik der Aufklärung. In: Klaus Müller-Salget, Sigurd Paul Scheichl (Hg.): Nachklänge der Aufklärung im 19. und 20. Jahrhundert. Innsbruck 2008, S. 267–278, hier S. 267. 6 Bernhardt: Erläuterungen (s. Anm. 4), S. 52. 7 Vgl. Albert Köster: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit. Fünf Kapitel aus der Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts mit einem Anhang: Die allgemeinen Tendenzen der Geniebewegung. Heidelberg 1925. 8 Ein weiteres Beispiel dafür ist die Biographie von Helga Bemmann: Humor auf Taille. Erich Kästner – Leben und Werk. [Ost‐]Berlin 1983, S. 79, sowie Dies.: Erich Kästner – Leben und Werk. Frankfurt a. M., Berlin 1994, S. 75 (textidentisch): »Die Dissertationsschrift […] weiß aber die Bemühungen, insbesondere der deutschen Aufklärung, um eine deutsche Nationalliteratur gegen die ignoranten Schreibereien des preußischen Monarchen, der die deutsche Literatur seiner Zeit weder kannte noch zur Kenntnis nehmen wollte, zu würdigen. In seinen Universitätsjahren hat sich Kästner ernsthaft mit der deutschen Aufklärung beschäftigt […]. Die kraftvolle, streitbare Haltung jener Männer mit der Feder und ihre Impulse hat er, spätere Reden und Aufsätze belegen es, bewundert und als Vorbild für das eigene Schaffen empfunden.« Vorsichtiger stellt Johan Zonneveld Kästners akademische Studien und sein aufklärerisches Selbstverständnis nebeneinander, vgl. Johan Zonneveld: Erich Kästner als Rezensent 1923–1933. Frankfurt a. M. u. a. 1991, S. 41–43.

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von einem Zwang, »›für‹ oder ›gegen‹ die Aufklärung« Stellung zu nehmen,⁹ von einem Bekenntniszwang also, der speziell mit diesem Gegenstand verbunden sei, weil nämlich, wie wir ergänzen dürfen, die Aufklärung nicht allein der Vergangenheit angehört, sondern als ein nach wie vor auszuführendes oder jedenfalls herausforderndes Programm gilt.¹⁰ Tatsächlich haben Bücher über die Aufklärung, auch heute noch und wenn es sich um wissenschaftliche Werke handelt, praktisch durchweg einen mehr oder weniger ausgeprägten Bekenntnischarakter; ich nenne beispielhaft nur die großen Studien von Jonathan Israel, Steffen Martus oder, ganz neu, Penelope Corfield.¹¹ Selbst bei akademischen Qualifikationsarbeiten zu Aufklärungsthemen scheinen Erkenntnis und Bekenntnis häufiger als bei anderen Epochen Hand in Hand zu gehen. So stellt Habermas’ Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) ebenso sehr den Entwurf eines transhistorischen Ideals wie die Erforschung eines historischen Prozesses im Zeitalter der Aufklärung dar. Aber auch eine fundamental kritische Stellungnahme ist möglich, wie Kosellecks Dissertation Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959) belegt, die den Aufklärern Hypokrisie und Politikunfähigkeit vorwirft. Kurzum: Dass eine akademische Studie über ein Aufklärungsthema ihren Verfasser als Aufklärungssympathisanten ausweise, ist zwar methodisch ein Trugschluss, trifft sachlich aber nicht selten zu, ohne jedoch zwingend zu sein. Kösters Aufklärungsbuch ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, fundamental aufklärungskritisch (2.), und Kästners Dissertation schließt weitgehend daran an (4.), trotz der damaligen Umbrüche sowohl im Leipziger Institut als auch in der Neugermanistik generell (3.). Zwischen akademischem Lehrer und Schüler gibt es zwar auch Einschätzungsunterschiede, sowohl methodologisch (5.) als auch gegenstandsbezogen, d. h. vor allem Lessing betreffend (6.). Diese Unterschiede haben, für Kästners Positionen, wie sie sein »Lessing«-Gedicht von 1929 sowie der sechs Jahre später publizierte Roman Fabian erkennen lassen, eine durchaus formative Rolle gespielt. Worin sich Kästner und Köster unterscheiden, ist aber nicht ihre Auffassung der Aufklärung – denn diese halten beide für einseitig rationalis-

9 Michel Foucault: Was ist Aufklärung? In: Eva Erdmann u. a. (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1990, S. 35–54, hier S. 45 f. 10 Vgl. Antoine Lilti: L’heritage des Lumières. Ambivalences de la modernité. Paris 2019; Ritchie Robertson: The Enlightenment. The Pursuit of Happiness 1680–1790. London 2020. 11 Vgl. Jonathan I. Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650– 1750. Oxford 2001; Ders.: Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670–1752. Oxford 2006; Ders.: Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution und Human Rights 1750–1790. Oxford 2011; Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Berlin 2015; Penelope Corfield: The Georgians. The deeds and misdeeds of 18th century Britain. New Haven, London 2022.

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tisch, weithin unschöpferisch¹² und überholt –, sondern was sie der kritisch gesehenen Aufklärung entgegensetzen. Anders als es Kästners spätere Selbstdarstellung glauben machen will,¹³ teilte der junge Autor den abschätzigen Blick auf die Aufklärung, der in Deutschland vom Kaiserreich bis nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschte. Nach Kriegsende hat Kästner sich wiederholt öffentlich und mit Emphase auf die Aufklärung berufen,¹⁴ nicht aber in der Weimarer Zeit. Die Literaturwissenschaft darf sich in diesem Punkt – wie auch in anderen – nicht allein auf die Auskünfte des Autors verlassen, den Sven Hanuschek angemessen süffisant als »begabten Selbstdarsteller« bezeichnet, gerade mit Blick auf Kästners Nachkriegsangaben über die Zeit vor 1945.¹⁵ Vielmehr ist eine Quelle wie die Dissertation und deren Umfeld einschließlich Kästners wenig bekannter Stellungnahmen zu zentralen Streitpunkten der seinerzeitigen Germanistik selbst in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus wäre zu fragen, wann genau und aus welchen Gründen sich Kästners Bewertung der Aufklärung wandelte und warum er nach 1945 so tat, als habe ihn schon immer ein aufklärerisches Selbstverständnis angetrieben. Dies führt über den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie, die Zeit der Weimarer Republik, allerdings hinaus und kann hier nicht geleistet werden.

12 Kästner: Friedrich der Große und die deutsche Literatur (s. Anm. 3), S. 16 attestiert ihr keine »wirkliche Fruchtbarkeit«; vgl. Köster: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit (s. Anm. 7), S. 196. 13 So kommentiert er in einem Brief an den Herausgeber einer Kästner-Auswahlausgabe, in der Dissertation habe seine Sympathie den »sensualistischen Aufklärern« gegolten (an Rudolf Walter Leonhardt, 28.06.1965, Erich Kästner: Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 453). 1925 war Kästners Begriffspolitik eine andere: Die sensualistischen Aufklärer stehen ebenso wie die rationalistischen auf der geschichtlich ›überholten‹ Seite, während sich das identifikatorische Interesse des Doktoranden auf die »Übergangsmenschen« richtete (vgl. Kästner: Friedrich der Große und die deutsche Literatur [s. Anm. 3], S. 100 f.). 14 Vgl. die in den Anm. 1 und 2 angeführten Quellen. Ein kurzer Text von 1952 erhielt den Titel »Wir brauchen eine neue Aufklärung« erst in R. W. Leonhardts Auswahlausgabe von 1966 (Rudolf Walter Leonhardt [Hg.]: Kästner für Erwachsene. Frankfurt a. M. 1967, S. 407, vgl. S. 537); ursprünglich war er mit »Ein Wort zur Kulturkrise« überschrieben (Kästner: Werke [s. Anm. 1], Bd. 2, S. 285 f.). Gefordert wird hier eine bessere Vermittlung der spezialistisch ausdifferenzierten Kulturproduktion an ein allgemeines Publikum nach dem Vorbild der von d’Alembert und Diderot herausgegebenen Encyclopédie (1751–1772): »Es fehlen die Enzyklopädisten der Gegenwart, die wahren Aufklärer.« 15 Erich Kästner: Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941–1945. Hg. von Sven Hanuschek in Zus.arb. mit Ulrich von Bülow und Silke Becker. A. d. Gabelsberger’schen Kurzschrift übertragen von Herbert Tauer. Zürich 2018, S. 25.

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2 Kästners akademischer Lehrer Albert Köster: Aufklärungsgeschichtsschreibung als Aufklärungskritik Köster verfasste sein Aufklärungsbuch als Epochenband für die von ihm herausgegebene, wohl auf ein halbes Dutzend Bände berechnete Geschichte der deutschen Literatur im philologisch renommierten Winter-Verlag, doch starb er vor dem Abschluss von eigener Hand.¹⁶ Die knapp 300 Druckseiten, die vorliegen, enthalten den größten Teil des zur Aufklärung Geplanten und überdies eine Abhandlung über den Sturm und Drang, die 1912 als Probe der damals schon konzipierten Literaturgeschichte erschienen war. Obwohl es sich um einen »Torso« handelt, an den sich eine Darstellung der Weimarer Klassik bis zu Schillers Tod hätte anschließen sollen (S. III¹⁷), wird Kösters Sicht auf die Aufklärung darin ungeschmälert deutlich. Wichtig ist, dass man sich den gegenüber heute engeren Gebrauch des Begriffs Aufklärung klarmacht. Köster und andere Germanisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnen damit die »Blütezeit« des »Rationalismus« (S. 146) etwa von Gottsched bis Friedrich Nicolai und Johann Heinrich Voß. Dass die Aufklärung als philosophische und literarische Bewegung auch empiristische und sensualistische Quellen und Anteile hatte, wird wohl anerkannt, und man behandelt als parallele Strömung auch die, wie es heißt, »Sentimentalität« oder »Empfindsamkeit« (ebd.). Die »Pflege des Gefühls« einerseits oder aber »des Intellekts« andererseits stellt Köster indes als Angelegenheit zweier distinkter Gruppen dar – dies in Übereinstimmung mit der ähnlich angelegten, aber vollständig ausgeführten Epochengeschichte seines hallischen Kollegen Ferdinand Josef Schneider von 1924 sowie dem 1923 erschienenen ersten Band von Hermann August Korffs zeitlich anschließender Epochendarstellung Geist der Goethezeit. ¹⁸ Die »mittleren Jahrzehnte

16 Von dieser Literaturgeschichte ist schließlich nur der erste Band erschienen, vgl. Hermann Schneider: Heldendichtung, Geistlichendichtung, Ritterdichtung. Heidelberg 1925. 17 Seitenangaben in diesem Abschnitt beziehen sich auf das in Anm. 7 genannte Buch Kösters. 18 Vgl. Ferdinand Josef Schneider: Die deutsche Dichtung vom Ausgang des Barocks bis zum Beginn des Klassizismus 1700–1785. Stuttgart 1924; Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. I. Teil: Sturm und Drang. Leipzig 1923, bes. S. 9: »Von dem Widerspruch gegen den Geist der Aufklärung erhält also die Ideengeschichte der Goethezeit die entscheidende Richtung«. Zur Entgegensetzung von Aufklärung und Sturm und Drang/Geniebewegung/Goethezeit bei Schneider und anderen vgl. Daniel Fulda: Aufklärungsforschung als Aufklärungskritik. Die Entstehung der neugermanistischen ›Geistesgeschichte‹ aus der Krise des Historismus. In: Georg Neugebauer, Paolo Panizzo u. Christoph Schmitt-

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des achtzehnten Jahrhunderts« sind laut Köster dementsprechend vom »Kampf zweier Einseitigkeiten« geprägt; »Übertreibungen« kennzeichneten beide Strömungen (ebd.). Weil es der »Geniebewegung« – so Kösters Begriff für den etwas weiter gefassten Sturm und Drang – dagegen auf die »gleichzeitige Betätigung aller menschlichen Fähigkeiten ankam« (S. 239) und sie beide Einseitigkeiten »befehdete« (S. 146), stellt er sie hoch über die Aufklärung: Die Menschheit war unter der Herrschaft des Rationalismus erschreckend gealtert. Es galt die Jugend zurückzuerobern. Und berauschend muß das Erwachen zu einem höheren Selbstbewußtsein gewesen sein. […] An die Stelle lateinischer oder französischer Literatur in deutscher Sprache tritt endlich eine deutsche Literatur. Wie ein Wagnerischer Homunculus hatte sie vegetiert, künstlichen Leibes, und hatte ringsumher gefragt, durch welches Mittel sie eine Eigenexistenz gewinnen könne. Überall war sie abgewiesen worden. Da raffte sie endlich ihren Stolz zusammen und gewann eigenes Leben, indem sie untertauchte in das Element ihres rein erhaltenen Volkstums. (S. 240 f.)

Als heutiger Literaturwissenschaftler kann man sich weidlich wundern, wie distanzlos sich Köster hier dem Mitempfinden mit der ›Jugend‹ 150 Jahre zuvor hingibt oder mit welch schweifender Bildlichkeit er die personifizierte deutsche Literatur imaginiert: zwischen Faust II, dem Weihnachtsevangelium und einer nationalen Jungbrunnenphantasie. Die epochale Bedeutung, die Neuheit und die Tragweite der auf die Zeit von 1765 bis 1785 datierten ›Geniebewegung‹ versucht er nicht zuletzt durch rhetorischen Aufwand zu vermitteln. Sie ist für ihn das entscheidende Ereignis der Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Demgegenüber hat die Aufklärung zwar auch ihren partiellen Wert, doch stellt Köster immer wieder heraus, was er als ihre Grenzen oder Defizite sieht. Der aufklärungsemphatischste Satz lautet: »Die Aufklärungsphilosophie bedeutete eine Erlösung und hat unberechenbaren Segen gestiftet, solange sie sich auf den Höhen ihrer ersten Verkünder hielt.« (S. 148) Wo er die Kantische Bestimmung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« anführt, nennt Köster die Aufklärung sogar »eine Aufgabe ohne Ende« (ebd.) – die also auch der Nachwelt gestellt ist. Mit derselben Stoßrichtung heißt es: »Aufklärung ist kein fester Besitz«, was auf Lessings »Duplik« im Streit mit dem Hauptpastor Goeze anspielt.¹⁹ Doch wird Lessing von Köster nicht ohne Vorbehalt gelobt: »In ihm verkörperte sich das Schönste, Erhabenste und Edelste, was mit den Mitteln der Aufklärung, mit der

Maaß (Hg.): ›Aufklärung‹ um 1900. Die klassische Moderne streitet um ihre Herkunftsgeschichte. München 2014, S. 103–123. 19 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert in Zus.arb. mit Karl Eibl u. a. Darmstadt 1996, Bd. 8, S. 32 f.

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Macht des Denkens zu erreichen war« (S. 157). Die Schwelle zu dem, was den Literaturhistoriker wirklich begeistert, hat Lessing in dieser Epochenkonstruktion nicht überschritten: Er sei wie »Moses, der das gelobte Land der Zukunft vor sich liegen sah, ohne es doch betreten zu dürfen.« (S. 158). Der Moses-Vergleich ist Friedrichs II. Traktat De la littérature allemande entnommen, wo sich der preußische König gewiss zeigt, dass die »beaux jours de notre littérature« nicht mehr fern liegen, und seine eigene Position gegenüber dem zu erwartenden Aufstieg der deutschen Literatur mit der des Mose verglich: »Je suis comme Moïse: je vois de loin la terre promise, mais je n’y entrerai pas.«²⁰ Lessing und Friedrich II. sind für Köster die beiden »großen Befreier« (S. 157) der deutschen Aufklärung, aber keine Vollender. Weit kritischer noch ist seine Einschätzung der übrigen Aufklärungsautoren. Statt, wie Lessing, »die Bestimmung der Menschheit in einer unaufhörlichen Weiterentwicklung zu sehen«, hätten sich die meisten Aufklärer »mit einem Vorrat erreichter Einsicht beschieden«, anmaßend und selbstzufrieden (S. 148), eher »dünkelhaft als selbständig« (S. 196). »Immer breiter« seien »das aufklärerische Gesalbader und die Rechthaberei« geworden (S. 211). Die aufklärerische Forderung nach Toleranz berge überdies die ins andere Extrem gehende »große Gefahr« der »Gesinnungslosigkeit« und des Relativismus (S. 199). ›Lebenskraft‹, so darf man ergänzen, musste aus anderen Quellen kommen. Die Aufklärung habe lediglich »die vorübergehende Mission eines Arztes erfüllt und ihre Zeit von manchen Vorurteilen befreit. Und ebenso hatte sie die Rolle eines niederen Erziehers gespielt.« (S. 228) Wie bei vielen zeitgenössischen Interpreten tendiert Aufklärung bei Köster dazu, einer Dialektik zu erliegen, in der Befreiung in einengende Bevormundung umschlägt:²¹ »Verabreichte sie ihre Heilmittel und Lehren zu lange, so musste sie zum unerträglichen Hemmnis werden.« (ebd.) Von Vorbildlichkeit für die Nachwelt kann bei der von Köster beschriebenen Aufklärung lediglich partiell und unter starken Vorbehalten die Rede sein.

20 [Frederic II, roi de Prusse:] De la litterature allemande; des defauts qu’on peut lui reprocher; quelles en sont les causes; et par quels moyens on peut les corriger. Berlin 1780, S. 79. 21 Kritik an der ›Dialektik der Aufklärung‹, genauer am Umschlag des aufklärerischen Emanzipationsimpulses in gesteigerte Beherrschung des Subjekts, gab es, wie sich hier beobachten lässt, lange vor Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung von 1944, freilich von eher konservativen epistemischen und politischen Prämissen und nicht von einer marxistischen Gesellschaftskritik ausgehend. Stefan Neuhaus’ These, Kästner sei rasch zu einer Aufklärungskritik gekommen, die an Horkheimer und Adorno erinnere (vgl. Neuhaus: Urenkel der Aufklärung [s. Anm. 5]), lässt sich von daher zumindest ein Stück weit untermauern. Mein Einwand wäre allerdings, dass der junge Kästner zeittypisch mit einem vorwiegend negativen Aufklärungsbild startete und sich erst nach 1945 als (skeptischer) Aufklärungsemphatiker präsentierte.

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3 Das Leipziger Institut und Kästners Positionierung in der seinerzeitigen Germanistik Wie verhält sich das Aufklärungsverständnis in Kästners Dissertation dazu? In welchen Punkten teilte er die Ansichten seines Professors und in welchen setzte er sich davon ab? Vorweg einige Worte zu beider Verhältnis als Lehrer und Schüler sowie zu Kästners Weg zur Promotion. Im Wintersemester 1919/20 begann Kästner sein Studium in Leipzig, u. a. bei Köster, und dieser holte ihn im Sommer 1922, nach einem Rostocker und einem Berliner Semester, zurück nach Leipzig, indem er ihm eine Stelle als Famulus anbot; heute würde man sagen: als wissenschaftliche Hilfskraft.²² Köster zog Kästner zweifellos auch deshalb an, weil er ein großer Theaterforscher war.²³ Das Referat, das Kästner gleich im ersten Leipziger Rückkehrsemester in Kösters Seminar hielt, weist jedoch schon auf die Dissertation voraus – es war »Friedrich dem Großen« gewidmet.²⁴ Nach Kösters Freitod im Mai 1924 musste Kästner für seine Promotion zu Georg Witkowski (1863–1939) ausweichen, dem wegen seiner jüdischen Herkunft spät berufenen Extraordinarius der Leipziger Neugermanistik, der gleichfalls einen Forschungsschwerpunkt im 18. Jahrhundert und besonders bei Lessing hatte, auch positivistisch geprägt und sogar fast gleichen Alters wie Köster.²⁵ Als Thema wählte Kästner zunächst die Hamburgische Dramaturgie; laut Helga Bemmann hatte er dazu bereits in Berlin eine umfangreiche Material- und Notizensammlung angelegt.²⁶ In Kösters Aufklärungsbuch bilden die Seiten zur Hamburgischen Dramaturgie ein Herzstück;²⁷ man kann darin ein Muster sehen für die der fiktiven Lessing-Studie Labudes aus dem Fabian zugeschriebene Leistung, »das Gehirn und die 22 Bemmann: Humor auf Taille (s. Anm. 5), S. 57; Dies.: Erich Kästner (s. Anm. 8), S. 55; Sven Hanuschek: »Keiner blickt dir hinter das Gesicht.« Das Leben Erich Kästners. München, Wien 1999, S. 74. 23 Höchst anerkennend dazu äußerte sich Kästner in: Köster und Korff. In: Ders.: Werke (s. Anm. 1), Bd. 6, S. 22–26, hier S. 25 f. 24 Johan Zonneveld: Bibliographie Erich Kästner. Mit e. ausführl. Zeittafel u. zahlreichen Fotos von Stationen seines Lebens und den literarischen Schauplätzen. Bielefeld 2011, Bd. 1, S. 656. 25 Zur Leipziger Germanistik zu Kästners Zeit vgl. Uwe Maximilian Korn u. Ludwig Stockinger: »Ist das Gehirn so eng, daß nur eine Betrachtungsweise darin Platz hat?« Albert Köster und Georg Witkowski als Vertreter der historisch-philologischen Methode in Leipzig. In: Günther Öhlschläger u. a. (Hg.): Leipziger Germanistik. Beiträge zur Fachgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin, Boston 2013, S. 78–140. 26 Vgl. Bemmann: Humor auf Taille (s. Anm. 5), S. 56 f.; Dies.: Erich Kästner (s. Anm. 8), S. 54 f. 27 Vgl. Köster: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit (s. Anm. 7), S. 182–186.

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Denkvorgänge des Mannes rekonstruiert« zu haben.²⁸ Auch mit seinem ursprünglichen Dissertationsthema zeigte sich Kästner also seinem verstorbenen Lehrer verpflichtet. Mit Köster hatte Witkowski nicht auf bestem Fuß gestanden, denn der Ordinarius hatte immer wieder seinen Vorrang herausgekehrt.²⁹ Daher war es womöglich eine Vorsichtsmaßnahme, dass Kästner seinen verstorbenen Lehrer kein einziges Mal in seiner Dissertation zitiert und dessen Aufklärungsbuch nicht einmal im Literaturverzeichnis erwähnt. Unwahrscheinlich ist, dass Kästner das Anfang 1925 postum erschienene Buch gar nicht benutzt hat für seine im März begonnene Dissertation über die Erwiderungen auf Friedrichs De la littérature allemande; zahlreiche bis ins Wörtliche gehende Anklänge sprechen dagegen. Mit dem Aufklärungsbild Kösters war er zweifellos vertraut; dessen langer Aufsatz über die »Geniebewegung«, der bereits zahlreiche aufklärungskritische Bemerkungen enthält, lag ohnehin seit Jahren vor. Kästner schrieb seine Dissertation »in kürzester Zeit«, nämlich in weniger als zehn Wochen.³⁰ Möglich ist das nur, wenn man voraussetzt, dass Kästner das Quellenmaterial bereits zuvor gesammelt und gelesen hatte. Zumal es sich um eine für die damalige Zeit ausgesprochen umfangreiche Arbeit handelt; im Original umfasst sie 190 Seiten, im sehr eng und klein gesetzten Nachdruck von 1972 sind es 102. Der Umfang kommt zustande durch das (keineswegs übermäßig ausführliche) Referat der Aufsätze oder Briefe von etwa zwei Dutzend Autoren, die gegen Friedrichs negatives Urteil über den Entwicklungsstand der deutschen Literatur im internationalen Vergleich protestierten und häufig auch die königlichen Vorschläge zu ihrer Hebung kritisierten. Dieses Referat bildet das positivistische Fundament der entwicklungsgeschichtlichen Interpretation, das in der Leipziger Germanistik unabdingbar war, und zwar bei Köster wie bei Witkowski, bevor mit Hermann

28 Erich Kästner: Der Gang vor die Hunde. Roman. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2013, S. 39. Für die in der Forschung vorgetragene These, der zum Selbstmord getriebene Labude könne ein Vorbild in dem am Leben verzweifelnden und wie die Romanfigur suizidalen Köster haben (vgl. Fabian Beer: Neues aus der »Anstalt für schwachsinnige Kinder« – Die Alma mater lipsiensis im Zerrspiegel von Erich Kästners Fabian. In: Sebastian Schmideler [Hg.]: Erich Kästner – so noch nicht gesehen. Impulse und Perspektiven. Internationales Kolloquium aus Anlass des Erscheinens der Bibliographie Erich Kästner von Johan Zonneveld. Tagungsband. Marburg 2012, S. 335–353, hier S. 345 ff.), stellt die Prominenz Lessings in dessen Epochendarstellung ein weiteres Indiz dar. Wie wir noch sehen werden, ist für die Sinnstruktur des Romans allerdings weit wichtiger, dass die Figur des Geheimrats – Labudes akademischer Mentor – Ähnlichkeiten mit Köster hat, und zwar sowohl physiognomisch als auch was die literaturgeschichtliche Positionierung Lessings angeht. 29 Vgl. Georg Witkowski: Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863–1933. Leipzig 2010, S. 136. 30 Vgl. Zonneveld: Bibliographie (s. Anm. 24), S. 658 f.: »Mitte März 1925« habe Kästner das LessingThema fallengelassen, am 25. Mai reichte er die Friedrich-Dissertation ein. Das Zitat bei Hanuschek: »Keiner blickt dir hinter das Gesicht« (s. Anm. 22), S. 84.

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August Korff (1882–1963) ein Exponent der seinerzeit vordringenden ›geistesgeschichtlichen‹ Germanistik die Nachfolge des Verstorbenen antrat; dies im Herbst 1925, wenige Monate nach Kästners am 4. August vollzogener Promotion.³¹ In der literarhistorischen Praxis waren die Gegensätze zwischen Positivismus und ›Geistesgeschichte‹ in den zwanziger Jahren allerdings nicht mehr scharf ausgeprägt: Köster stand der seit ca. 1910 propagierten geistesgeschichtlichen Methode mit ihren, wie er in einem Vorwortentwurf schreibt, »Abstraktionen« von den konkreten literarischen Kunstwerken zwar skeptisch gegenüber.³² Doch strukturierte er seinen Stoff trotzdem mit Hilfe der großen Einheiten ›rationalistische Aufklärung‹, ›gefühlsbetonte Empfindsamkeit‹ und ›ganzheitlich-vitale Geniebewegung‹. Gerade die Empfindsamkeit als Parallel- oder Unterströmung der Aufklärung und auch der von Köster gesetzte tiefe Einschnitt in der Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts zwischen allenfalls vorbereitender Aufklärung und für sich genommen schätzenswerter Geniezeit sind charakteristische Produkte geistesgeschichtlicher Betrachtung.³³ Kästner wiederum balancierte das positivistische Materialgewicht seiner Dissertation durch demonstrative Anführung einiger Protagonisten der Geistesgeschichte (Rudolf Unger, Friedrich Gundolf, Herbert Cysarz, H. A. Korff ³⁴) in den Fußnoten seiner methodischen Einleitung aus, die überdies mit »Geistesgeschichtliche Perspektive« ³⁵ überschrieben ist. Methodisch positionierte sich Kästner mithin als ›gemäßigt Moderner‹ – und damit objektiv nicht fern von Köster, dessen Aufklärungsbuch von der anderen, traditionellen Seite aus eine ähnliche Vermittlung betrieb. Wenn der Journalist Kästner wenig später über Köster und Korff schrieb, die Kopula dabei disjunktiv verstand und von einem disziplinären »Systemwechsel« sprach³⁶ – gemeint war: von vergangener ›positivistischer‹ Genauigkeit der Materialzusammenstellung zu gegenwärtig und zukünftig gebotener Geschichtsinterpretation in großen Bögen –, so war dies eine Polarisie-

31 Zur geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft vgl. Christoph König, Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Frankfurt a. M. 1993. 32 Zitiert im Vorwort des Herausgebers Julius Petersen, s. Köster: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit (s. Anm. 7), S. V. 33 Vgl. Peter Pütz: Die deutsche Aufklärung. Darmstadt 41991, S. 80–84; Jürgen Viering: [Art.] Empfindsamkeit, die. In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Berlin, New York 1997, Bd. 1, S. 438–441, hier S. 441; Holger Dainat: Die wichtigste aller Epochen: Geistesgeschichtliche Aufklärungsforschung. In: Ders., Wilhelm Voßkamp (Hg.): Aufklärungsforschung in Deutschland. Heidelberg 1999, S. 21–37, hier S. 31. 34 Vgl. Kästner: Friedrich der Große und die deutsche Literatur (s. Anm. 3), S. 14 f. 35 Ebd., S. 13. 36 Kästner: Köster und Korff (s. Anm. 23), S. 25.

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rung, die der Neuheitsemphase der jüngeren Generation entsprach, jedoch die tatsächlichen Verhältnisse erheblich überspitzte.

4 Kästners Dissertation: eine punktuelle, aber weit ausgreifende Revision der Gegenüberstellung von Aufklärung und Geniebewegung Polarisierung als grundlegende Strukturierungsoperation finden wir auch in Kästners Dissertation. Hier betrifft dies zunächst die Gegenüberstellung von insgesamt rationalistischer Aufklärung und »vitalistischem« Sturm und Drang (S. 41)³⁷ und auf zweiter Ebene die Unterscheidung zwischen »rationalistischer und sensualistischer Aufklärung« (S. 16). Nicht anders als bei Köster ist die mit der primären Epochengegenüberstellung verbundene Wertung fast durchweg aufklärungskritisch: Disjunktive Formulierungen wie »das alte System oder der neue Geist« (S. 38) fließen Kästner leicht aus der Feder. Für die Autoren, die zu Friedrichs II. UnwertUrteil über die deutsche Literatur von einem dem ›alten System‹ zugehörigen Standpunkt aus Stellung nehmen, hat er kein gutes Wort, selbst wenn sie den König kritisierten und ihm Autoren und Texte entgegenhielten, die seine Anerkennung verdient hätten. Kästners Held hingegen ist Justus Möser, der die genuin aufklärerischen Prämissen von Friedrichs Traktat kritisch benannt und ihnen die neuen Prinzipien, »den Organismusgedanken, Geschichte als Wachstum und Kunst als notwendigen Ausdruck auch des Primitiven«, entgegengehalten habe (S. 33). »Es ist«, schreibt Kästner, »als habe der alternde Geist der Aufklärung und Nachahmung an diesem mit seiner westfälischen Bauernheimat innig Verbundenen seine ganze Macht eingebüßt.« (S. 32). Denn das ist Kästners Leitfrage: Wie stellt sich die Scheidung der Epochen, die das 18. Jahrhundert strukturiert, in den Antworten auf Friedrichs Literaturschrift dar? Was Köster als Darstellung nahezu eines Jahrhunderts der deutschen Literatur entwarf und mehr oder weniger ausführte, von Gottsched bis zum jungen Schiller, versucht sein Schüler in einer themenspezifischen Debatte von nur zwei Jahren zu fassen. Promotionstechnisch wählte der Doktorand sein Thema also sehr geschickt: präzise umrissen und nicht zu materialreich, bei weiträumiger Perspektivierung aber potentiell ertragreich. Was die etablierte, von Köster, aber auch seinen expliziten Gewährsmännern vertretene Epochenkonstruktion angeht, so band sich der

37 In diesem und in den folgenden Abschnitten beziehen sich alle Seitenangaben im Text auf Kästner: Friedrich der Große und die deutsche Literatur (s. Anm. 3).

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Doktorand zunächst an sie, indem er sein Thema in diesen etablierten Rahmen stellte. Zugleich indes gewann er einen Ansatzpunkt, die seinerzeit gültige Epochenkonstruktion zu überprüfen und ggf. zu revidieren. Denn ob sich die Literatur der Aufklärung und die der nachfolgenden Geniezeit so scharf voneinander unterscheiden bzw. wie sie sich unterscheiden, sollte sich an ihrem angeblichen Scheidepunkt besonders gut ermitteln lassen. Ähnlich ambivalent ist das Ergebnis von Kästners Auswertung der etwa zwei Dutzend Antworten auf Friedrich. Es oszilliert zwischen der Bestätigung der immer auch wertenden Unterscheidung von weitgehend unfruchtbarer und überlebter Aufklärung sowie der Genieperiode als einem Durchbruch zu neuem Leben einerseits und einer zumindest partiellen Revision dieser Epochenkonstruktion andererseits. Denn Kästner spricht einerseits von »diametral verschiedenen Anschauungen« und stellt andererseits fest, dass die Mehrzahl der Antworten sich nicht der einen oder anderen Seite zuordnen lässt (S. 38). Letzteres veranlasst ihn allerdings nicht, die Dichotomisierung von Aufklärung und Genieperiode in Frage zu stellen. Vielmehr investiert er viel Fleiß in präzise Nachweise, wie sich bei ein und demselben Autor überholte und zukunftsweisende Argumente mischen. Zwar kommt er zu dem Ergebnis, dass die Mehrzahl der untersuchten Autoren als »Vertreter des Übergangs« (S. 64) zu charakterisieren ist, aber er zieht daraus nicht den Schluss, dass die etablierte, auch von ihm vorausgesetzte Epochendichotomie fehlerhaft sei. Eine Kritik an dieser Epochenkonstruktion ergibt sich lediglich implizit aus seiner Untersuchung. Zum kleineren Teil betrifft dies die Aufklärung, denn Kästner betont die interne Pluralität dieser Epoche, die »keineswegs eine innerlich gesicherte und äußerlich geschlossene Zeit« gewesen sei (S. 15, vgl. S. 100). Etwas größer fällt die Revision hinsichtlich des etablierten Bildes vom Sturm und Drang aus, denn dessen historische Mächtigkeit kann Kästner an seinem Material nicht recht bestätigen: Alles, was an nationalen, historischen, gefühlsreichen, individuellen Werken entstand, blieb – trotz ihrer explosiven Ladung – im leeren Gesamtraum, ohne mitreißende und fortzeugende Gewalt. […] Der neue, wesentlich deutsche Geist, der zwischen 1765 und 1775 eine Schar von Menschen zu Hingabe und Werk zwang, blieb für die Gesamtheit des Volkes unwirksam […] (S. 101, vgl. S. 99).

Um einschätzen zu können, wie innovativ dieses Ergebnis war, ist es hilfreich, erneut den Vergleich mit der Literaturgeschichte von Köster zu ziehen. Trotz seiner Sturm und Drang-Emphase räumt Köster ebenfalls ein, und sogar wiederholt, dass »die Genieprobleme nur von dem Interesse enger Kreise getragen« wurden und keine gesellschaftlich durchschlagende Wirkung hatten (S. 238, vgl. S. 241 f.). Kästner formulierte also keine neue These, sondern legte nur einen stärkeren Akzent auf sie – und unternahm deshalb eine methodische Untermauerung, indem er seine Un-

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tersuchung als eine der Publikumsreaktionen durchführt (vgl. S. 16). Rezeptionsgeschichtsschreibung sollte die Breitenwirkung literarischer Ideenproduktion in das Blickfeld der Literaturhistorie rücken und fassbar machen (vgl. S. 99). Der Doktorand stützte sich dabei vermutlich auf Anregungen des Anglisten Herbert Schöffler, bei dem er im WS 1922/23 eine Lehrveranstaltung zur »Entwicklung des literarischen Publikums« besucht hatte;³⁸ womöglich kannte er auch die 1923 erschienene Soziologie der literarischen Geschmacksbildung von Levin Ludwig Schücking, der ein halbes Jahr nach Kästners Promotion nach Leipzig wechselte.³⁹ Methodisch kam Kästner dadurch über Köster hinaus, doch entfernte er sich kaum von dessen Epochendeutungen. Ähnlich verhält es sich mit dem komplementären Befund vom Weiterwirken der Aufklärung über den Einschnitt des Sturm und Drangs hinweg.⁴⁰ Selbst seine skeptische, fast resignative Verallgemeinerung, dass Aufbrüche wie der des Sturm und Drangs nie ihre Ziele erreichen, wie sich wenig später dann an der Romantik und an Kleist ablesen lasse (vgl. S. 101), findet sich sehr ähnlich bei Köster, ebenfalls mit Verweis auf die Romantik und überdies auf das junge Deutschland sowie auf das ausgehende 19. Jahrhundert (vgl. S. 244). Spezifisch kästnerisch ist am ehesten, wie umstandslos die Ergebniszusammenfassung der historischen Untersuchung in eine Deutung der eigenen Zeit und Situation übergeht. Der letzte Absatz der Dissertation lautet: Das Zeitalter der Aufklärung herrscht trotz subtilster Annäherungen an die irrationale Welt – sei es auf dem Gebiet der Geschichte, sei es auf dem der Kunst oder des Volkstums – weiter; denn, das ist vielleicht ein gegenwartsdeutendes Ergebnis der an der Denkform des Übergangsmenschen innig interessierten Arbeit; eine Annäherung an jene andere irrationale, individuale, lebendige Welt des Gefühls ist menschlich verständlich und historisch notwendig, – aber sie ist weltanschaulich zwecklos; ohne Sinn, ohne Ergebnis und ohne Hoffnung. (S. 101)

Ganz klar ist dieser lange Satz leider nicht: Die Kausalkonjunktion »denn« nach dem ersten Semikolon macht nur dann Sinn, wenn man das zweite Semikolon durch ein Komma oder einen Doppelpunkt ersetzt. Vereinfacht lautet die Aussage, dass noch Kästners Zeit in einer Art verlängerter Aufklärung stecke, weil der Übergang in ein Leben, das den Entwürfen des Sturm und Drang entspricht, nicht gelingt. Ein Lob

38 Bemmann: Humor auf Taille (s. Anm. 5), S. 61; Dies.: Erich Kästner (s. Anm. 8), S. 58. 39 Über »Prof. Dr. Schückings Antrittsvorlesung« hat Kästner für die Neue Leipziger Zeitung berichtet (Nr. 348, 18.12.1925, S. 5), mit Lob für den literatursoziologischen Ansatz beim Publikum und Erinnerung an die »bahnbrechende« Leistung von Schöffler (Erich Kästner: Der Karneval des Kaufmanns. Gesammelte Texte aus der Leipziger Zeit 1923–1927. Hg. von Klaus Schuhmann. Leipzig 2004, S. 227 f.). 40 Kästner: Friedrich der Große und die deutsche Literatur (s. Anm. 3), S. 101 mit Köster: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit (s. Anm. 7), S. 228.

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der Aufklärung ist das nach allem vorher Gesagten nicht, anders als Rüdiger Bernhardt meint, der die Passage nicht ganz korrekt zitiert.⁴¹ Kästner sieht seine eigene Zeit vielmehr in einer ähnlich unentschiedenen Situation, wie er sie in der Mehrzahl der von ihm untersuchten Antworten auf Friedrich II. ausgedrückt gefunden hat: weder dem Alten noch dem Neuen völlig angehörend, mit dem Titel seines 1932 erschienenen Gedichtbandes könnte man sagen: Zwischen den Stühlen. ⁴² So explizit hat Köster seine historischen Gegenstände nicht auf die eigene Zeit bezogen. Aber auch der von Kästner als distanziert-nüchtern – und darin als veraltet – Präsentierte⁴³ verlängerte die Geschichte geniehafter Aufbrüche bis in die Gegenwart: »Das alte Programm ist schon oft wieder aufgetaucht […]. Und es wird auch fernerhin wiederkehren.«⁴⁴ Von seinem germanistischen Lehrer hat sich Kästner demnach weniger weit entfernt, als er meinte, denn dieser war kein so traditioneller Philologe, wie er es in seinem Artikel Köster und Korff darstellte. Wie von einem nebenberuflichen Doktoranden kaum anders zu erwarten, blieb Kästner nah am germanistisch Üblichen. Um die vereinseitigende Gegenüberstellung von rationalistischer Aufklärung und irrationaler Geniebewegung hinter sich zu lassen, bedurfte es fundierterer Gelehrsamkeit und größerer wissenschaftlicher Originalität, wie sie die bahnbrechende große Aufklärungsstudie Ernst Cassirers auszeichnen, die 1932 erschien – übrigens mit einer Hervorhebung Lessings in den Schlusspassagen, die diesen in einer Kästner ähnlichen Weise, wenngleich viel eindringlicher, als über die Aufklärungszeit hinausgehenden Denker porträtiert.⁴⁵ Freilich begreift Cassirer die neuen Bestrebungen nach etwa 1770 nicht als antithetisch zur Aufklärung, sondern als aus ihr erwachsend. Daher ist Lessing für ihn kein Zerrissener wie bei Kästner, sondern eine integrierende Figur.

41 Vgl. Bernhardt: Erläuterungen zu Erich Kästner (s. Anm. 4), S. 54. 42 Vgl. auch das Gedicht »Kurzgefaßter Lebenslauf« von 1930, bes. V. 19: »Ich setze mich sehr gerne zwischen alle Stühle.« (Erich Kästner: Werke. Bd. 1: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte. Hg. von Harald Hartung in Zus.arb. mit Nicola Brinkmann. München, Wien 1998, S. 136) 43 Vgl. Kästner: Köster und Korff (s. Anm. 23), S. 24: »[E]s gibt vor dem Forum der Geschichte keine größere Schuld, als zu den Älteren zu gehören«. Den Bezug auf Köster stellt Kästner an dieser Stelle pietätvollerweise zwar nicht explizit her; er ist aber eindeutig. 44 Köster: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit (s. Anm. 7), S. 244. 45 Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1932, S. 477–482.

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5 Literaturgeschichtsschreibung als irrationales Bekenntnis Kästner hat sich nicht nur in Köster und Korff mit der damals aktuellen Entwicklung der Literaturwissenschaft vor allem in der Germanistik beschäftigt, sondern auch in zwei weiteren Zeitungsartikeln über den neu nach Leipzig gekommenen Korff ⁴⁶ sowie in einem drei Jahre später in der Halbmonatszeitschrift Das blaue Heft erschienenen Aufsatz mit dem Titel Deskription und Deutung. Zum Methodenwandel in der Literaturwissenschaft. Hier stellt es Kästner als den großen Gewinn der ›Geistesgeschichte‹ dar, dass sie der Deskription – soll heißen: der philologisch zuverlässigen, detaillierten und umfassenden Materialerfassung – eine Deutung hinzufüge, die den Sinn der erforschten Geschichte für die Gegenwart des Forschers erschließe. Möglich werde eine solche Verlebendigung des Historischen, wo eine »innere Verwandtschaft des Forschers und des Erforschten« besteht.⁴⁷ Wenn aber »jeder das Land bestellt, dessen Charakter seinem eigenen entspricht«, werde Literaturgeschichtsschreibung zu einer, so wörtlich, »konfessionellen Wissenschaft«. Für Kästner ist dies ein Gewinn, obwohl er die Berechtigung ›erkenntniskritischer‹ Einwände anerkennt. Denn historische Erkenntnis erhalte durch jene »Verwandtschaft« einen »Wert« – »für den Menschen und für die Periode, die seiner [des Wertes; D.F.] bedürfen.« Die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis zwischen Erkenntnis und Bekenntnis in der literarischen oder literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Vergangenem hat Kästner also selbst recht ausführlich beantwortet. Sein in der Dissertation noch zurückhaltendes, nachfolgend indes untermauertes Votum für das ›Bekenntnis‹ hat aber nichts mit einer besonderen Bekenntnisträchtigkeit von Aufklärungsthemen zu tun, wie sie in jüngerer Zeit zu beobachten ist. Es ist ja auch gar nicht ›die Aufklärung‹, zu der sich Kästner bekennt. Was der »konfessionellen Wissenschaft« den Vorteil größerer Lebensdienlichkeit verschafft, versteht er vielmehr als post- und anti-aufklärerischen Impetus: Die Formel von der »konfessionellen Wissenschaft« expliziert er als »Beschwörung des Vergangenen durch

46 Vgl. Erich Kästner: Das Wesen der klassischen Form. Antrittsvorlesung von Professor Dr. Korff. In: Erich Kästner: Der Karneval des Kaufmanns (s. Anm. 39), S. 208–210 (original in der Neuen Leipziger Zeitung vom 05.11. 2925, S. 13 f. sowie dem Leipziger Tagblatt vom selben Tag, S. 3). 47 Erich Kästner: Deskription und Deutung. Zum Methodenwandel in der Literaturwissenschaft [1928]. In: Ders.: Werke. Bd. 6: Splitter und Balken. Publizistik. Hg. von Hans Sarkowicz u. Franz Josef Görtz in Zus.arb. mit Anja Johann. München, Wien 1998, S. 112–118, hier S. 117. Die folgenden Zitate ebd.

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Individualität« und »irrationale Überwältigung der Dinge«.⁴⁸ Das sind unverkennbar Motive der Historismus-Kritik aus Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung des jungen Nietzsche. Als sie 1874 erschien, handelte es sich um eine Außenseiteransicht. Eine von daher kommende Lebensemphase setzte sich in Kunst und Literatur jedoch vor dem ersten Weltkrieg durch,⁴⁹ in der deutschen Literaturwissenschaft in den Jahren danach. Mit seinem Lob einer »konfessionellen Wissenschaft« befand sich Kästner also mitten im Diskurstrend, und dies auch innerfachlich gesehen. Machen wir uns das klar, auch wenn es nicht erbaulich ist: Die Germanistik und überhaupt die Geisteswissenschaften nach dem Ersten Weltkrieg waren ein integraler und sogar treibender Teil der epochentypischen Zweifel an der Vernunftkultur, die man dem bürgerlich-liberalen Zeitalter zuschrieb, das im Weltkrieg seine Katastrophe erlebt habe, ja die man ihm vorwarf.⁵⁰ Die Geisteswissenschaften wirkten kräftig mit an der »Aufwertung des Irrationalen als Effekt moderner Rationalisierungsprozesse«, die der Fachhistoriker Holger Dainat als Quintessenz des geistigen Klimas im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts herausstellt.⁵¹ Ein bekanntes literarisches Beispiel sind die vitalistischen Argumente, die Thomas Mann in seiner Rede Von deutscher Republik von 1922 zugunsten der neuen Staatsform vorbrachte. Nur kurz zur Erinnerung daran, wie gewollt irrational die ›Argumente‹ ausfallen konnten: Dass die Republik Substanz habe und nicht bloß eine ›blutleere‹, soll heißen kraftlose Vernunftidee sei, versuchte Mann durch ihre Herleitung aus romantischer Gemeinschaftsmystik samt Anthropophagiemotiven als eben nicht ›blutleerer‹ Verbildlichung zwischenmenschlicher Anteilnahme zu erweisen.⁵² Direkt auf die Aufklärung bezogen stellte er in seiner Rede über Lessing

48 Ebd. Bereits in seiner Dissertation schreibt er, dass »Sprache und Literatur […] rein intellektueller Annäherung widerstreben« (S. 24, vgl. S. 26). Im Kontext der geistesgeschichtlichen Germanistik ist das eher zurückhaltend formuliert. Zurückhaltung empfahl sich für Kästner, solange er es noch mit einem methodisch traditionelleren Doktorvater zu tun hatte. Mit den nachfolgenden Aufsätzen, die er als Journalist verfasste, positionierte er sich dann klar an der Seite der bekenntnisfreudigen Geistesgeschichtler, die einen emotionalen, ›seelischen‹ Zugang des Interpreten zu seinen historischen Gegenständen forderten. 49 Vgl. Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt a. M. 1983, S. 174– 193; Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Stuttgart, Weimar 1994. Lindner weist die Maßgeblichkeit der ›Lebensideologie‹ auch für die sog. Neue Sachlichkeit nach, geht aber nicht auf Kästner ein. 50 Vgl. Dainat: Die wichtigste aller Epochen (s. Anm. 33), S. 31. 51 Ebd., S. 28. 52 Vgl. Thomas Mann: Von Deutscher Republik. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a. M. 1990, Bd. 11, S. 809–852, hier S. 845. Dazu Daniel Fulda: »Versteckter Appetit nach Menschenfleisch«. Faszination und Funktion kannibalistischer Figuren bei Thomas Mann und in

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von 1929 fest, dass sie »heute geistig veraltet ist und einem blutvolleren, tieferen, tragischeren Lebensbegriff Platz gemacht hat, – wer wollte es leugnen«, um Lessing dann als Vermittler zwischen »Vernunft und Blut« zu loben.⁵³ Ein noch entschiedenerer Vitalist war der linke Philosoph Theodor Lessing, dessen radikale Geschichtstheorie mit dem affirmativ gemeinten Titel Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen Kästner bereits 1923 höchst lobend besprach, weil er hier eine Begründung für seine Überzeugung von der bekenntnishaften Subjektivität jeder Geschichtsforschung fand.⁵⁴ Wohlgemerkt war, wie sich an Thomas Mann und Theodor Lessing ablesen lässt, der vitalistische Irrationalismus kein Reservat der republikfeindlichen Rechten – sonst hätte Kästner ihn sich schwerlich zu eigen gemacht.⁵⁵ Im geisteswissenschaftlichen Feld war es insbesondere der Historismus mit seiner angeblichen Unfähigkeit zur Synthese des von ihm detailreich aufgehäuften Vergangenheitswissens, gegen den man sich auf breiter Front wandte. Genau aus dieser Frontstellung sind die Zielsetzungen der ›Geistesgeschichte‹ als nun vordringender Methode zu verstehen:⁵⁶ Historische Erkenntnis müsse sich auf das Wesentliche konzentrieren, die dynamische Abfolge der Epochen erklären und der jeweiligen Gegenwart das darbieten, was zur Orientierung in derselben brauchbar ist. Diesen Anspruch erhob explizit auch Kästner. Wie schon gesagt: er ist damit Teil eines zeittypischen Trends und keineswegs Außenseiter. Erneut lässt sich hier auch die vorhin gewählte Formulierung vom ›gemäßigt Modernen‹ verwenden, denn vor so outrierten Argumenten, wie Thomas Mann sie für die Republik vorbrachte, schreckte Kästner trotz seiner Sympathie für das Irrationale zurück.⁵⁷

der Literatur der Weimarer Republik. In: Ders., Walter Pape (Hg.): Das Andere Essen. Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur. Freiburg 2001, S. 259–300, hier S. 259 f. 53 Vgl. Thomas Mann: Rede über Lessing. In: Ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 52), Bd. 9, S. 229–245, hier S. 244 f. 54 Vgl. Erich Kästner: Von der Ernüchterung der Wissenschaft. In: Ders.: Der Karneval des Kaufmanns (s. Anm. 39), S. 53–57, hier S. 57, original im Leipziger Tagblatt, 21.07.1923, S. 2 f. 55 Vgl. Kästner: Deskription und Deutung (s. Anm. 47), S. 112–118. 56 Vgl. Holger Dainat: Ein Fach in der ›Krise‹. Die ›Methodendiskussion‹ in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft. In: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932. Göttingen 2007, S. 247–272; Fulda: Aufklärungsforschung als Aufklärungskritik (s. Anm. 18), S. 105–109. 57 Allgemeiner zu Kästners Vermeidung der Extreme vgl. Helmuth Kiesel: Erich Kästners Moderatheit. In: Sven Hanuschek u. Gideon Stiening (Hg.): Politik und Moral. Die Entwicklungen des politischen Denkens im Werk Erich Kästners. Berlin, Boston 2021, S. 77–98.

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6 Lessing und andere »Übergangsmenschen«. Mit Ausblicken auf das Lessing-Gedicht von 1929 und den Fabian Verbunden fühlte sich Kästner – das sei als Ergebnis unserer Lektüre seiner Dissertation noch einmal wiederholt – mit den »Übergangsmenschen» (S. 101) zwischen Aufklärung und Geniebewegung, nicht mit den Vertretern der Aufklärung. Seine Sympathie haben weder der preußische König, dem er »vollgültige Zugehörigkeit zur Aufklärung« attestiert (S. 24, vgl. S. 22 u. S. 23), noch die anderen »Vertreter des alten Systems« (S. 46), die gegen Friedrichs Unwerturteil über die deutsche Literatur Einspruch erhoben. Unter den »Vertretern des Übergangs« (S. 64) aber ragt für ihn Lessing heraus. Ähnlich wie etwas später bei Thomas Mann oder Ernst Cassirer ist Lessing das »Genie der Übergangszeit« (S. 22) und nicht etwa der »Musteraufklärer«, als der er seit dem frühen 19. Jahrhundert begriffen wurde.⁵⁸ Zu Friedrichs Literatur-Traktat hat sich Lessing zwar nicht geäußert; gleichwohl ›schmuggelt‹ Kästner ein paar Bemerkungen zu ihm ein, indem er kurze Vergleiche mit dem König sowie mit Möser als den profiliertesten Vertretern einerseits des Alten, andererseits des Neuen zieht. Neben den »rationalistischen Aufklärer« Friedrich dürfe man Lessing keinesfalls stellen (S. 22). Das geht gegen das bürgerlich-nationale Lessingbild des Kaiserreiches, z. B. bei Erich Schmidt, und zugleich gegen dessen Schüler Köster, der Lessing den »anderen großen Befreier neben König Friedrich« nannte.⁵⁹ Gleichwohl charakterisiert der Doktorand von 1925 seinen Helden nicht grundlegend anders, als der Professor es tat, der ihn zudem auch schon eine »Übergangserscheinung« nennt, woran sich im Lessing-Jahr 1929 viele anschlossen – der bereits erwähnte Schneider resümierte dazu: »Im instinktiven Gefühl, dass uns Lessing als bloßer Klassiker der Aufklärung nicht allzu viel mehr bedeutet, sucht man ihn jetzt als Übergangserscheinung aufzufassen«.⁶⁰ Wieder haben wir es mehr mit einer Ak-

58 Vgl. Friedrich Vollhardt: Der Musteraufklärer. G. E. Lessing in der Wissenschaft und Publizistik um 1900. In: Georg Neugebauer, Paolo Panizzo u. Christoph Schmitt-Maaß (Hg.): Die klassische Moderne streitet um ihre Herkunftsgeschichte. München 2014, S. 83–101. 59 Köster: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit (s. Anm. 7), S. 157; vgl. Monika Fick: LessingHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 42016, S. 4. 60 Köster: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit (s. Anm. 7), S. 157. Kästner registrierte dies ausdrücklich, vgl. Köster und Korff (s. Anm. 23), S. 27. Vgl. auch Köster: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit (s. Anm. 7), S. 209 mit der Einschätzung, Lessing und Lichtenberg seien »nahe davor [gewesen], an einzelnen Punkten die Aufklärung zu überwinden«. Das Schneider-Zitat steht bei Fick: Lessing-Handbuch (s. Anm. 59), S. 5 f. und stammt aus Ferdinand Josef Schneider: Lessing und

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zentverschiebung durch Kästner als mit einer Umwertung zu tun. Für das Aufklärungsbild seiner Dissertation hat sie schlechte Folgen, denn dieser Epoche ›fehlt‹ nun ihr herausragender und überhaupt ein identifikationsträchtiger Autor. Der Vergleich mit Möser stellt ebenfalls heraus, was Lessing nicht gewesen sei, doch wird nun auch benannt, wohin er gestrebt habe: Er kämpfte sein Leben lang darum, sich aus dem Boden der Aufklärung herauszureißen; sein Leben lang quälte er sich, seine Einzelkräfte, deren jede genial war, zu organischer Wirkung zu vereinigen, daß er mit ihrer Gesamtmacht ein neues Welt- und Glaubens- und Kunstgebäude zimmere. (S. 32)

Kästner schreibt Lessing demnach ein Ringen zu, welches das erstrebte Ziel nicht erreicht habe, ja er nennt es »hoffnungslos« (ebd.). Das ist wohl primär aus der Sicht des historischen Akteurs gesprochen. Doch schätzt Kästner das Streben in die »irrationale, individuale, lebendige Welt des Gefühls« im bereits zitierten Schlusssatz seiner Dissertation auch seinerseits als zwingend, aber unerfüllbar und hoffnungslos ein (S. 101). Seine Charakterisierung Lessings ist zugleich eine Beschreibung der Situation und Befindlichkeit, in der er sich selbst sieht. Die ihm traditionell zugeschriebene Wahlverwandtschaft mit Lessing lässt sich von der Dissertation her also bestätigen, doch stellt sie gerade kein Bekenntnis zur Aufklärung dar, wie sie von Kästner und seinen Zeitgenossen verstanden wurde.

6.1 »Lessing« Schauen wir vergleichsweise auf das »Lessing« betitelte Gedicht Kästners von 1929, das zum 200. Geburtstag in der liberalen Neuen Leipziger Zeitung erschien.⁶¹ Liegt ihm dasselbe Abrücken von der Aufklärung zugrunde? Das in der Fassung von 1969 vier, in den beiden Fassungen von 1929 aber sieben bzw. acht Strophen umfassende Gedicht enthält wenig direkte Aufklärungsbezüge. Der erste Vers der zweiten Strophe »Er lebte in der Zeit der Zöpfe« (V. 5) verweist aufs 18. Jahrhundert, ordnet den Besungenen aber keiner bestimmten Geistesströmung zu. Auf die seinerzeit als genuin rationalistisch verstandene Aufklärung dürfte indes der erste Vers der sechsten Strophe zielen: »Er rang sein Leben lang um Klarheit.« (V. 21) Das Reimwort »Wahrheit« (V. 23) ist dann zwar aufklärungskompatibel, aber nicht aufklä-

die monistische Weltanschauung. Festvortrag zur Feier der 200. Wiederkehr von Lessings Geburtstag, gehalten in der Aula der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg. Halle 1929, S. 4. 61 Kästner: Werke (s. Anm. 42), Bd. 1, S. 232 f. u. S. 450 f.

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rungsspezifisch.⁶² Der nächste Vers »und stand vor Kreuz und Thron nicht stramm« (V. 24) klingt vage aufklärerisch, doch hat er vor dem Hintergrund von Kästners Kritik an den gegenüber Friedrich II. »devoten« Aufklärern (S. 17) eher die gegenteilige Stoßrichtung. Auch der gleich in der ersten Strophe gesetzte Akzent »um zu dichten schrieb er nie« (V. 2) erklärt sich als Wendung gegen ein Konzept von »Dichtung als vollendetes Zierobjekt«, wie der Doktorand es dem preußischen König als Vertreter der Aufklärung angekreidet hatte (S. 25). Eine auch nur halbwegs eindeutige Zuordnung Lessings zur Aufklärung (wie Kästner sie sah) nehmen diese Attribuierungen also nicht vor.⁶³ Die Gemengelage, die sie skizzieren, passt hingegen zur von der Dissertation angebotenen Charakterisierung als Übergangsfigur. Nicht minder spricht dafür die Stilisierung zum Sucher (»Es gab kein Ziel«, V. 3) sowie zum stets »tapferen« (V. 20) Einzelkämpfer. »Allein« gestanden zu haben bzw. gewesen zu sein wird Lessing in der fünften Strophe sogar zweimal zugeschrieben (Vv. 17 u. 20). Durchweg präsentiert ihn das Gedicht nicht als Teil einer Gruppe – von weiteren Aufklärern –, sondern als in Opposition stehend (»und schlug der Zeit die Fenster ein«, V. 18). Resümieren lässt sich daher: Zwar ist das Gedicht weitgehend eine Montage von Lessing-Topoi, die sich seit Heines Lob des wortmächtigen ›Kämpfers Lessing‹ etabliert hatten, vom nationalen Bürgertum bis zur Sozialdemokratie,⁶⁴ und nur weil es Topoi sind, fügen sie sich so leicht dem lakonischen Stil von Kästners Lyrik und deren Kalkül mit leserseitiger Zustimmung aufgrund von Wiedererkennung. Das Arrangement dieser Topoi hält das Lessing-Bild des Gedichts aber durchaus auf der Linie der Dissertation. Aufklärungskritik formulieren und zugleich das Lob Lessings singen kann Kästner hier wie dort ohne Bruch, weil er seinen Lieblingsautor aus der Aufklärung heraushebt.

62 Dasselbe gilt für das Lob von Lessings einzigartigem »Kopf« (V. 8) als Metonymie für Denkfähigkeit. 63 Als Bekenntnis zur Aufklärung und zur Aufklärungsnachfolge wird das Gedicht dagegen von Bernhardt: Erläuterungen zu Erich Kästner (s. Anm. 4), S. 132–142 interpretiert. Die Differenz zwischen Kästners und dem heute gängigen Aufklärungsbegriff übergeht Bernhardt dabei völlig. Wie problematisch solche Geschichtsvergessenheit ist, lässt sich in diesem Fall übrigens auch am Interpreten ablesen: Der philologisch schludrige Aufklärungsemphatiker Bernhardt wird in den biographischen Angaben (S. 2) des für den Schulgebrauch gedachten Büchleins natürlich nicht mit seiner Tätigkeit als ›Aufklärer‹ im Dienst der DDR-Staatssicherheit vorgestellt. 64 Vgl. Jürgen Schröder: Der »Kämpfer« Lessing. Zur Geschichte einer Metapher im 19. Jahrhundert. In: Herbert Georg Göpfert (Hg.): Das Bild Lessings in der Geschichte. Heidelberg 1981, S. 93–114; Fick: Lessing-Handbuch (s. Anm. 59), S. 4 f.

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6.2 Fabian/Der Gang vor die Hunde Und wie es steht es mit dem Fabian, dem sechs Jahre nach der Dissertation publizierten Roman, bzw. mit dem Gang vor die Hunde, wie der Romantitel ursprünglich lauten sollte? Labudes Habilitationsschrift über Lessing stuft der »Geheimrat«, der Betreuer an der Berliner Universität, als wissenschaftlich höchst wertvollen »Beitrag zur Aufklärung« ein.⁶⁵ Revidiert Kästner damit die Lessing-Auffassung seiner Dissertation? Ist der dort betonte Abstand zwischen dem »Genie der Übergangszeit«⁶⁶ und der Aufklärung nun womöglich hinfällig geworden, etwa weil sich so feinsinnige Unterscheidungen angesichts der immer dramatischeren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage in Deutschland als irrelevant, ja kontraproduktiv darstellen? Berücksichtigt man, welche Figur an der zitierten Stelle spricht, so ist diese Deutung zurückzuweisen. Der »Geheimrat« ist der Vertreter einer älteren Generation. Konkret verweist seine Beschreibung als »ein Mann von altväterischer Eleganz« mit »etwas zu weit aus dem Kopf« stehenden Augen⁶⁷ auf Alter, Habitus und Physiognomie von Kästners eigenem Lehrer Albert Köster.⁶⁸ (Abb. 1.) Ungehemmt zeigt das Porträtfoto in Kösters Aufklärungsbuch deutlich die Charakteristika des »Geheimrats« im Fabian, so dass die Anspielung nicht einmal nur für wenige Eingeweihte verständlich ist. Aber auch ganz unabhängig davon, ob man Köster hinter der Romanfigur wahrnimmt oder nicht: diese Figur repräsentiert die Väter-Generation, die, so die Kritik des Romans, in ihrer fachlichen Betriebsamkeit⁶⁹ keine Sensibilität besitzt für die Unhaltbarkeit der Zeit-Situation. Daraus wiederum folge die irrige Einschätzung Lessings, wie die jüngeren RomanGermanisten explizit feststellen. So wirft Fabian der traditionellen Wissenschaft vor, Lessing »noch nie verstanden [zu] haben«.⁷⁰ Fabians knappe Erklärung, Lessing werde herkömmlich als »Logos mit Freilauf« dargestellt, trifft dabei gut dessen Zuordnung zur Aufklärung bei Köster.

65 Kästner: Der Gang vor die Hunde (s. Anm. 28), S. 196. 66 Kästner: Friedrich der Große und die deutsche Literatur (s. Anm. 3), S. 22, vgl. S. 27. 67 Kästner: Der Gang vor die Hunde (s. Anm. 28), S. 194. 68 Und nicht auf Julius Petersen, den damaligen Berliner Ordinarius, bei dem Kästner in seinem Berliner Semester gehört hatte (vgl. Zonneveld: Bibliographie [s. Anm. 24], S. 655). Mit Petersen, der wie kein anderer den Typus des überall im Fach präsenten und einflussreichen ›Großordinarius‹ verkörperte, ist der »Geheimrat« tentativ verglichen worden, weil die Romanfigur als vielbeschäftigt und häufig abwesend beschrieben wird (vgl. Beer: Neues aus der »Anstalt für schwachsinnige Kinder« [s. Anm. 28], S. 340); vgl. oben Anm. 28. 69 Vgl. Kästner: Der Gang vor die Hunde (s. Anm. 28), S. 39. 70 Ebd. Das folgende Zitat ebd.

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Abb. 1: Fotographie Albert Kösters als Frontispiz seines 1925 postum erschienenen Buches Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit.

Wenn Labude in Lessing hingegen den »Typus des zwischen zwei Zeitaltern schwankenden genialen Menschen«⁷¹ erkennt, vertritt er genau die Verschiebung, die das originelle Moment in Kästners Dissertation ausmacht: nämlich die Konstruktion des »Übergangsmenschen« (S. 101) als neuer literarhistorischer Kategorie, mit Lessing als deren herausragender Besetzung. Was Lessing unter den Übergangsmenschen auszeichnet, sind sein Kämpfertum und seine Uneigennützigkeit, so Fabian in seiner unter Lessings Porträt gehaltenen Ansprache an den toten Labude,⁷² beides in völligem Einklang mit Kästners Gedicht, bis hin zu wörtlichen Entsprechungen. Und mehr noch der uns nun bekannten Motive: Für Labude war Lessing ein Vorbild – Erkenntnis und Bekenntnis verbanden sich für den RomanGermanisten miteinander. Dementsprechend sah er sich selbst in einer Übergangssituation; in seinem Abschiedsbrief sieht er sich »an einem der seltenen geschichtlichen Wendepunkte, wo eine neue Weltanschauung konstituiert werden 71 Ebd. 72 Ebd., S. 184.

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muß«.⁷³ Eine weltanschauliche ›Heimat‹ hat der ›Übergangsmensch‹ nicht. Folglich ist es für Fabian und Labude unmöglich, ungebrochen an die Aufklärung anzuknüpfen.⁷⁴ Das gilt für diesen, der »auf dem Boden der Tatsachen« steht, wie es in erlebter Rede Fabians heißt, wie für jenen, der darüber »schwebt«.⁷⁵ Wie der Romanverlauf zeigt, taugt in der Praxis von 1930 aber nicht einmal der Übergangsmensch Lessing als das Vorbild, das Labude in ihm sieht. Als nur allzu wahr erweisen sich die Schlussverse der achtstrophigen Fassung des Lessings-Gedichts: »Wir könnten ihn so nötig brauchen. / Es gab ihn aber nur einmal.«⁷⁶ Vom Freitod seines Freundes aufgeschreckt, versucht sich Fabian zwar in der LessingNachfolge und proklamiert in erlebter Rede, eine Formulierung des Gedichts variierend: »Zum Donnerwetter, er kroch nicht zu Kreuze!«, als er die angebotene Beschäftigung bei einer rechtsstehenden Zeitung nicht annimmt.⁷⁷ Doch scheitern beide gleichermaßen tödlich, der eine als aufklärerischer Philologe, der andere als lebenspraktischer Helfer. Dass die unmittelbaren Ursachen banal sind – ein intriganter »Scherz« eines »talentlosen Konkurrenten«⁷⁸ bzw. mangelnde Schwimmfähigkeiten –, lässt die doppelte Katastrophe überdies als unnötig und damit erst recht als sinnlos erscheinen. Einen Ausweg aus der Übergangssituation der eigenen Zeit weist der Roman nicht. Vielmehr stellt er die Hoffnungslosigkeit, in der Lessings Streben nach einem organischen »neuen Welt- und Glaubens- und Kunstgebäude« laut Kästners Dissertation steckenblieb (S. 32), als zum gesellschaftlichen Allgemeingut gewordenes Problem dar. Auch diese Diagnose ist freilich in der Dissertation vorgebildet, genauer in der »gegenwartsdeutenden« Schlussformel: »ohne Sinn, ohne Ergebnis und ohne Hoffnung« (S. 101). Die im 18. Jahrhundert ansetzende Dissertation des 26jährigen Kästner und der auf die eigene Gegenwart zielende Roman des sechs Jahre Älteren stellen dieselbe Diagnose. Die Aufklärungsskepsis der Dissertation schreibt der Roman ungemildert fort.

73 Ebd., S. 178. 74 Vgl. auch die wiederkehrende ironische Rede von den »Aufklärungskursen«, die der verrückte Erfinder bzw. Fabian gelegentlich geben: Das eine Mal geht es um Physikunterricht (ebd., S. 107), das andere Mal wird damit die sexuelle Initiation eines Mädchens namens Eva umschrieben (S. 215). 75 Ebd., S. 203. 76 Kästner: Werke (s. Anm. 42), Bd. 1, S. 450. 77 Kästner: Der Gang vor die Hunde (s. Anm. 28), S. 229. 78 Ebd., S. 199.

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7 Resümee und Ausblick in die Nachkriegszeit Anders als es seine Selbstdarstellung nach 1945 glauben machen will, war Kästner in jungen Jahren kein Aufklärungsfreund und sah sich noch nicht in der Nachfolge der Aufklärer. Legt man den Aufklärungsbegriff des Autors und seiner Zeitgenossen zugrunde, so kommt man um diesen Befund nicht herum. Kästner teilte die in der Germanistik und generell in der deutschen intellektuellen Kultur verbreitete Einschätzung, die Aufklärung definiere sich durch einen einseitigen Rationalismus, der wissenschaftlich und gesellschaftlich überholt sei (sogar hochkompetente Gegenstimmen wie die von Ernst Troeltsch oder Cassirer konnten dagegen nur wenig Boden gutmachen). In den 1920er Jahren verschärfte sich sogar die Sympathie für den Irrationalismus, und dies keineswegs nur unter rechten Republikfeinden. Kästner beteiligte sich daran, indem er gegen die traditionelle Philologie seiner germanistischen Lehrer die Partei der ›Geistesgeschichte‹ nahm, die einen individuell-persönlichen, emotionalen Zugang zum jeweiligen historischen Gegenstand forderte. Hier trat zu gegenstandsbezogenen Vorbehalten ein diese noch verstärkender methodologischer Aufklärungsüberwindungsanspruch hinzu. Der akademische und allgemein gesellschaftliche Kontext, der die Skepsis des jungen Kästner gegenüber der Aufklärung disponierte, stellt zugleich freilich einen Hintergrund dar, vor dem sich dessen tiefe Sympathie für Lessing positiv abhebt. Der junge Kästner begriff ihn als »Übergangsmenschen« und eignete sich damit eine von den Germanisten seiner Zeit diskutierte Kategorie jenseits der Alternative ›aufklärerischer Rationalismus vs. genieästhetischer Irrationalismus‹ an. Sein akademischer Lehrer Albert Köster beeinflusste ihn zwar auch in diesem Punkt. Mit seiner Sympathie für den Übergangsmenschen gewann Kästner gleichwohl eine originelle und nach heutigen Begriffen zumindest partiell aufklärungsfreundliche Position. Mit dem Typus des Übergangsmenschen identifizierte er sich stark, denn er sah seine eigene Zeit in einer strukturell identischen Spannung stehen. Was wünschte sich der junge Kästner in der Übergangssituation seiner Zeit? Von seinen Forschungen und literarischen Kommentaren zum 18. Jahrhundert her lautet die Antwort: weder ein Zurück zur rationalistischen Aufklärung noch ein Vorwärts zum Irrationalismus, wenngleich er in letzterem Punkt schwankte, indem er für die ›irrationalistische‹ Geistesgeschichte Partei nahm. An der Unentschiedenheit des Übergangs litt er, denn was er der deutschen Literaturgeschichte um 1780 zuschrieb, bezog er zugleich auf seine eigene intellektuelle Situation. Dieselbe Diagnose einer nicht aufzuhebenden Unentschiedenheit stellte er dem Deutschland um 1930, dessen zur Kenntlichkeit entstelltes Bild der Roman Fabian gibt.

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In der mittlerweile gut 200-jährigen Geschichte der retrospektiven Auseinandersetzung mit der Aufklärung sind Kästners Positionen durchaus zeittypisch. Kästner schwamm mit dem Diskursstrom, nicht dagegen. Das gilt sowohl für sein vorwiegend negatives Aufklärungsbild in der Weimarer Republik als auch für seine positive, wenngleich immer noch skeptische Aufklärungsemphase der Zeit nach 1945. Gleichwohl überrascht die Position des jungen Kästners, wenn man vom gängigen Image des Autors ausgeht.⁷⁹ Dass sich heute fast alle gesellschaftlichen Kräfte auf die Aufklärung berufen, weil sie als Grundlegung der freiheitlichen Moderne gilt, sollte indes nicht vergessen lassen, dass dieser weitgehende Konsens keineswegs schon immer bestand. »Aufklärung als Identität scheint«, so schreibt Wolfgang Schmale in seinem unlängst erschienenen Überblick über die nachaufklärerische Beschäftigung mit ihr, »überwiegend ein Nachkriegsphänomen zu sein. Die Kriegserfahrungen [des Zweiten Weltkriegs; D.F.] sind dafür entscheidend gewesen.«⁸⁰ Letzteres dürfte auch auf Kästner zutreffen – was zu präzisieren aber künftiger Forschung vorbehalten bleibt. Erst mit dem Sieg über den Nationalsozialismus, der Abwehr des Kommunismus und dem Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegsjahrzehnte gewannen die liberalen Gesellschaften des Westens so viel Selbstsicherheit, dass sie die Emanzipationsbestrebungen und die universale Kritik der Aufklärer nicht mehr als krisentreibende Ordnungsgefährdung wahrnahmen. Und erst die Bücher von Alfred Cobban (In Search of Humanity. The Role of the Enlightenment in Modern History, 1960) und vor allem Peter Gay (Enlightenment, 2 Bde., 1966/69) setzten die Interpretation der Aufklärung als »intellectual foundation for the liberal democraties« durch – was wohlgemerkt eine Deutung darstellt, gegen die sich vieles einwenden lässt.⁸¹ Der Sieg der Demokratie über den Nationalsozialismus wurde nun gewissermaßen auch der Aufklärung zugute gehalten. In den ideologischen und politischen Kämpfen des 19. Jahrhunderts hingegen hatte es stets starke gesellschaftliche Gruppen in Aufklärungsgegnerschaft gegeben, vorwiegend

79 Kästners nachkriegszeitliche Selbstcharakterisierung als Aufklärer ist von der publizistischen und akademischen Beschäftigung mit ihm weithin übernommen worden. Nicht zuletzt für die Kästner-Didaktik spielt sie eine zentrale Rolle, vgl. jüngst Peter Bekes: Erich Kästner – Menschenfreund und Aufklärer. In: Praxis Deutschunterricht 3 (2021), S. 4–8. Kritisch kommentiert wird Kästners aufklärerisches Selbstverständnis von Andreas Drouve: Erich Kästner. Moralist mit doppeltem Boden. Marburg 1999, S. 73–75, weil Kästner sein eigenes Ideal nicht erfüllt habe. Das ist nicht falsch, aber ein recht billiger Vorwurf. Demgegenüber gilt es, zunächst einmal Kästners angeblich lebenslange Identifikation mit ›der Aufklärung‹ zu prüfen. 80 Wolfgang Schmale: Gesellschaftliche Orientierung. Geschichte der »Aufklärung« in der globalen Neuzeit (19. bis 21. Jahrhundert). Stuttgart 2021, S. 117. 81 Annelien de Dijn: The Politics of Enlightenment. From Peter Gay to Jonathan Israel. In: The Historical Journal 55 (2012), S. 785–805 zeigt erhebliche Diskrepanzen zwischen den aufklärungsemphatischen big picture-Darstellungen seit ca. 1960 und der Fachwissenschaft auf; das Zitat S. 788.

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konservative und religiöse. Das gilt keineswegs nur für Deutschland, sondern auch für Frankreich, das lange als Hauptland der Aufklärung und daher als besonders aufklärungsgeneigt galt.⁸² In den ›Krisenjahren der Moderne‹ vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs⁸³ wurde die Aufklärung sogar aus fast allen politischen und philosophischen Lagern heraus mitverantwortlich gemacht für die anscheinend immer schlechtere Lage. Die scharfe, wenn auch nicht historisch präzise Aufklärungskritik in Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung (»die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils«) stellt nur die Spitze dieses Eisbergs dar.⁸⁴ So weit ging der junge Kästner nicht. Wie wir sahen, beschreibt aber auch sein Fabian die Situation der modernen Gesellschaft als ausweglos und demontiert die Aufklärungshoffnungen der jungen Protagonisten. Wie von diesem Tiefpunkt des Aufklärungsdiskurses aus die Aufklärungsemphase entstand und sich durch setzte, die in den euroatlantischen Gesellschaften seit den 1960er Jahren herrscht, ist noch eine weitgehend offene Frage selbst in der um Selbsthistorisierung bemühten Aufklärungsforschung.⁸⁵ Sie bedarf künftiger Klärung weit über den Umschwung in Kästners Texten über die Aufklärung hinaus.

82 Vgl. Heinz Thoma: Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum in Frankreich. Zur Aufklärungsrezeption in der französischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts (1794–1914). Heidelberg 1976. 83 Vgl. Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt a. M. 1987. 84 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1997 (orig. 1944), S. 9. Aus der Masse des unter ›unter der Wasserlinie Liegenden‹, d. h. des meist zu Recht Vergessenen, seien lediglich die Schlussworte der Aufklärungsgeschichte des Romanisten Helmut Hatzfeld angeführt: Zwar habe die Aufklärung »Freiheiten errungen und den kritischen Verstand geweckt«. Letztlich jedoch gelte: »Wenn ihre materialistischen und egoistischen Nachwirkungen zu überwinden gewesen wären, stünde es wohl heute besser um die Welt.« (Helmut Hatzfeld: Geschichte der französischen Aufklärung. München 1922, S. 146). 85 Vgl. Giuseppe Ricuperati: A Long Journey. The Italian Historiography on The Enlightenment and Its Political Significance (1980–1990). In: Ders. (Hg.): Historiographie et usage des Lumières. Berlin 2002, S. 229–261. Der Artikel hat einen viel weiteren Fokus, als sein Titel erwarten lässt. Er greift bis in die 1920er Jahre zurück und beschränkt sich auch nicht auf Italien.

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Dissertant und Dichter Dass spätere Generationen sich auch nach fünfzig oder gar hundert Jahren einer Dissertation erinnern, dürfte der Traum aller sein, die promoviert haben und auf die Haltbarkeit ihrer Argumente hofften. Es geht bei meinem Thema um eine kleine Sensation: Dass seine sogenannte »Diss. masch.« – die in nur wenigen Exemplaren vorhandene maschinschriftliche Doktorarbeit – nach einem halben Jahrhundert gedruckt wurde, kam für Erich Kästner als Überraschung. Die hat ihn sehr gefreut. 1925 abgeschlossen, durfte ich sie 1971 für den Druck redigieren. Hier und heute darf ich sie nach weiteren 50 Jahren als sein »unbekanntestes Buch« vorstellen und damit das Haltbarkeitsdatum hoffentlich bis 2072, um ein weiteres halbes Jahrhundert, verlängern. Beim gegenwärtigen Blick auf das Buch vervielfältigen sich über die erinnerte Verfasserfreude hinaus die Perspektiven. Sie lagern sich ans Fatum eines solchen Werkes an und sind dem Schicksal seiner Leser eingeschrieben. Ich beginne mit einer eher grundsätzlichen Frage, widme mich dann der Vorstellung des »unbekanntesten« Kästner-Buches, seinem Thema und seinem Stil so wie seiner Rezeption. Abschließend kommen Daten und Anekdoten.

1 Kästners Dissertation im Kontext Mein Thema weist über die Vorstellung einer Dissertation und über das Interesse am individuellen Fall hinaus. Es beleuchtet einen Komplex mit Symptomwert, insofern er Einblicke in die Psychologie unseres Faches gewährt. Wer sich mit der Doktorarbeit Erich Kästners beschäftigt, dem stellt sich notwendig eine Frage: In welchem Verhältnis stehen sich Fachvertreter und Dissertanten gegenüber, die nur kurzfristig im Fach arbeiteten? In Gegenrichtung gefragt: Wie reagieren Autoren, die nach Abschluss wissenschaftlicher Arbeiten, statt germanistisch weiterzufahren, eigene Texte produzieren? Wie blicken diese Autoren auf ihre Studienjahre zurück? Der Fachwissenschaft bleiben sie nicht ganz geheuer, steigen sie doch auf ein anderes Gleis um oder heben gleich ab. Man sieht sich mit Distanzierungen konfrontiert. Ein Diktum Hans Magnus Enzensbergers als konkreter Beleg: Sein Ziel, die eigene Doktor-Arbeit ›aus dem Germanistischen ins Deutsche zu übersetzen‹, musste »letzten Endes zum Scheitern verurteilt bleiben«.¹ Mit dem Rollen-

1 Hans Magnus Enzensberger: Brentanos Poetik. München 1961, S. 141. https://doi.org/10.1515/9783111085081-003

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wechsel vom Germanisten zum freien Autor verbindet sich der Wechsel von einer Sprachebene zur anderen. Das Fach bleibt aber auf Dichtersprache als Gegenstand und Thema angewiesen und ist dieser als Sekundärliteratur hierarchisch nach- bzw. untergeordnet. Philologie versteht sich als Dienst für die Literatur – für sogenannte Primärliteratur. Dieser Begriff trat – spät von der Historiographie ausgeliehen – an die Stelle von Forschung oder Forschungsgegenstand oder Text, obwohl die Literatur kaum dem Begriff der historischen Quelle entspricht. Trotz dieser m. E. unglücklichen Übernahme markieren die Begriffe Sekundär- und Primärliteratur deutlich eine Differenz, die aber stets germanistisches Streben motiviert, die eigene Disziplin aufzuwerten. Ein für mich extremes Beispiel stellt Ernst Osterkamps Traum dar: Er glaubte, eine »Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre« aufgedeckt zu haben, als er Thomas Mann und Stefan George zu Paten bei der Berufung des Muncker-Nachfolgers auf dem Münchner Lehrstuhl 1926 erklärte. Spät freigegebene Akten aus dem Finanzministerium blamierten diese ordinariale Konstruktion als Wunschtraum einer Partizipation an der ›dichterischen Sphäre‹: Die Berufung Walter Brechts beruhte auf seinen, im Vergleich zu Mitbewerbern, geringeren Honorarforderungen.² Ich bitte um Verständnis für diesen Exkurs, zwei Rezeptionszeugnisse zu Kästners Dissertation drängten ihn mir auf: a.) Die Rezension des Frankfurter Germanisten Klaus Jeziorkowski »nun kehrt der hellwache Sachse auf seine älteren Tage noch den Dr. phil. heraus, unterm Arm eine hochgelehrte germanistische Dissertation«³ motiviert Görtz und Sarkowicz zur Behauptung, Kästner habe in einer merklich stiller werdenden Phase »mit einer Publikation auf sich aufmerksam«⁴ machen und mit dem akademischen Titel trumpfen wollen. Görtz und Sarkowicz erklären ihn auch zum »gelernten Philologen«,⁵ der akribisch die Edition seiner Werke betreute. Dabei steht schon in den Gutachten seiner philologischen Arbeit, er sei »hinreichend als Schriftsteller erprobt«.⁶ Er schrieb Primär- vor bzw. parallel zur Sekundärliteratur. b.) Im ersten Band der Kästner-Studien zeugt ein Aufsatz von der typischen Begehrlichkeit sekundärliterarischer Fachvertreter. Inge Schleier begründet ihre

2 Zu diesem Komplex vgl. Ulrich Dittmann: Carl von Kraus über Josef Nadler. Ein Nachtrag zur Muncker-Nachfolge 1926/27. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 433–444. 3 Klaus Jeziorkowski: E. K. als Germanist. In: FAZ 18.08.1972, zitiert nach Franz Josef Görtz, Hans Sarkowicz: Erich Kästner. Eine Biographie. München u. a. 2003 (Aktualisierte Taschenbuch-Ausgabe), S. 375. 4 Ebd. 5 Ebd., S. 367. 6 Ebd., S. 64.

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»Spurensuche« nach den für das Werk ›weitgehend unerkannten und unterschätzten‹ »philologischen Fundamenten« des Dichters mit der Feststellung eines »Vakuums der Kästner-Rezeption«: »Die Tatsache, dass Kästner seine unveröffentlichte Dissertation von 1925 Friedrich der Große und die Deutsche Literatur. Die Erwiderungen auf seine Schrift ›De la literature allemande‹ noch 1972 [zwei Jahre vor seinem Tod U. D.] in einer wissenschaftlichen Reihe publizierte«, sagt für Frau Schleier »schon viel über den lebenslang hohen Stellenwert wissenschaftlichen Anspruchs in seinem Schaffen aus, dem nachzuspüren sich lohnt«.⁷ Das späte Datum unterstreicht die existentielle Dimension der Unterstellung und öffnet den Blick für das aufzufüllende Vakuum. Der Sammelband mit Frau Schleiers Aufsatz stand unter dem Titel: »Erich Kästner – so noch nicht gesehen«– und zwang damit zu Entdeckungen. Die Dissertation wäre danach ein spätes Vermächtnis und das Zeugnis einer individuellen Dichtermoral, deren Fundament auf literarischen Verdiensten und solchen in der Wissenschaft beruht. Ganz im Gegensatz zu den zwei Vereinnahmungen kam der Plan zur Veröffentlichung für den gealterten Autor als eine Überraschung. Der ihm unterstellte hohe »wissenschaftliche Anspruch«, erst die fachwissenschaftliche Leistung runde seine literarische Geltung ab, bleibt eine typisch germanistische Wunschvorstellung. Nachdem Erich Kästners Dissertation in der Zonneveld-Bibliographie als Nummer 1 die chronologisch gereihten »selbständig erschienenen Werke« eröffnet und mit ihrem Druck im Jahr 1972 eine Art philologische Rahmung für das Gesamtwerk liefert, könnte man darin einen die Dichter-Krone kränzenden Abschluss sehen. Aber nichts könnte falscher sein. Die Doktorarbeit bleibt ein Ausreißer im Werk, den erstmals nach 50 Jahren zu drucken für unser Fach wichtig war: Nach einem weiteren halben Jahrhundert, das heißt im Jahre 2022, scheinen im Antiquariatsangebot nur drei Exemplare auf, die es auf dreistellige Preise bringen, selbst ein »durchgearbeitetes« Exemplar kostet 80 €. Die Dissertation lohnt immer noch, auch um ihrer selbst willen, gelesen zu werden.

2.1 Zum Horizont des Themas Zur Dissertation selbst: Sie stand laut Promotionsurkunde unter dem Titel »Die Erwiderungen auf Friedrich des Großen Schrift ›De la litterature allemande‹. Ein

7 Inge Schleier: Erich Kästner und das figurative Wissen – Auf Spurensuche zu seinen philologischen Fundamenten. In: Sebastian Schmideler (Hg.): Erich Kästner – so noch nicht gesehen. Impulse und Perspektiven für die Literaturwissenschaft des 21. Jahrhunderts. Marburg 2012, S. 119–134.

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Beitrag zur Charakteristik der deutschen Geistigkeit um 1780. Leipzig 1925«. Das Typoskript liegt in Marbach. Mit dem scheinbar großsprecherischen Titel der Neuausgabe »Friedrich der Große und die deutsche Literatur« wandert die ursprünglich etwas sperrige Formulierung in den Untertitel. Im Gespräch mit dem Autor einigten sich die Herausgeber der Reihe, Verlag und Redakteur auf den verbreiteten Konsens, nach dem die königliche Schrift längst vergessen wäre, gäbe es nicht die Gegenschriften, denen sich Kästner widmete. Um den Horizont aufzuweisen, in dem seine einstige Themenwahl stand und immer noch steht, zitiere ich zwei germanistische Schwergewichte, die in gehörig zeitlichem Abstand, aber gleichermaßen der königlichen Schrift verehrungsvoll eine andauernde Aktualität bestätigen: Bernhard Suphan und Eberhard Lämmert. Sie zeugen von einer dem Text Friedrichs II. entgegen gebrachten, von Kästner aber polemisch verurteilten »Verständnisseligkeit, die besserer Gegenstände würdig gewesen wäre«.⁸ Insofern beansprucht die Dissertation sogar noch eine gewisse Aktualität. Suphan feierte knappe 40 Jahre vor Kästner die Schrift als »Ein Denkmal deutscher Literatur […] das wie kein anderes […] etwas Großartiges« darstellt.⁹ Zwar zitiert der bedeutende Herder-Editor auch Gegenstimmen, wertet aber ganz typisch den »wunderlichen Heiligen« Hamann ab; dem wirft er »gräuliche Stimmung« vor, aus der heraus er Friedrich II. dafür kritisierte, er habe »Despotismo des Geschmacks […] den welschen« einführen wollen.¹⁰ Suphans Abhandlung mündet in die Feier eines von Friedrich II. angebahnten und von Kaiser Wilhelm I. in einem »großen, geeinigten Volk« erfüllten Versprechens: »Es besteht ein Zusammenhang, ein Wechseleinfluß zwischen Wissenschaften und Regierungen […] zwischen geistiger und politischer Macht«¹¹. Den hat die Schrift Friedrichs II. nach Suphan eingeläutet. Für Kästner liefert Suphan »naturgemäß unbefriedigende Ergebnisse«.¹² Ich betone: naturgemäß. Aktueller, im Jahr 2005, verbeugte sich Eberhard Lämmert vor dem König mit einem einleitenden, dem Anlass verpflichteten Vortrag zum 300. Geburtstag von Friedrich II. Er eröffnete die Berliner Tagung Geist und Macht und bestätigte den Kritikern mit herablassender Ironie, dass sie »von 1780 bis heute […] vielfach auch

8 Erich Kästner: Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Die Erwiderungen auf seine Schrift ›De la litterature allemande‹. Stuttgart u. a. 1972, S. 18. 9 Bernhard Suphan: Friedrichs des Großen Schrift über die Deutsche Literatur. Berlin 1888, S. 17 f. 10 Ebd., S. 64. 11 Ebd., S. 101 12 Erich Kästner: Friedrich (s. Anm. 8), S. 60.

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mit schönem Eifer Anstoß [an der Schrift] genommen« hätten;¹³ selbst spricht Lämmert von einem »luziden Blick des roi philosophe auf die literarisch-intellektuelle und akademische Kultur in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts, die zu reformieren er sich verpflichtet fühlte«.¹⁴ Damit verbindet sich für Lämmert das »Konzept eines literarisch initiierten Kulturtransfers«,¹⁵ von dem her die Gegenwart für interkulturelle Projekte lernen könnte. Gerade aber den »luziden Blick« widerlegt nicht nur Kästners Arbeit, sondern auch eine Textsammlung zum Thema, die 1985 erschien: Horst Steinmetz schließt sein Nachwort: »Selbst wenn er es gewollt hätte, der deutschen Literatur hatte er [das ist der König] nichts zu sagen.«¹⁶ Aber über 140 Jahre hinweg reichen deutlich die die royale Tradition affirmierenden Interpretationen der Schrift des Preußenkönigs. Kästner dagegen widmet sich in seiner Dissertation voller Sympathie deren Kritikern und setzt damit seinen Akzent auf die republikanische gegen die absolutistische Aufklärung. Bei der Lektüre sollte als weitester Horizont die skizzierte Tradition mitgedacht werden, die zuletzt 1991 in der Umbettung von der Burg Hohenzollern nach Potsdam 1991 glorios wiederauflebte.

2.2 Zum Text der Dissertation Betrachtet man das Inhaltsverzeichnis bzw. erinnert sich nach lang zurückliegender Lektüre an die Dissertation – bei mir waren das bis jetzt genau 50 Jahre – kann sich der Eindruck eines Schubladendenkens einstellen: Nach kurzer Darstellung der königlichen Schrift skizziert Kästner »Drei typische Fälle der Erwiderungen« und lässt entsprechend diesen Prototypen dreigeteilt die »übrigen Erwiderungen« folgen: a) Vertreter des alten aufklärerischen Systems, b) Vertreter des neuen Irrationalismus von Sturm und Drang-Vertretern und c) Vertreter des Übergangs. Abschließend folgen »Posthume Erwiderungen«, die obligatorische Zusammenfassung und der »Anhang«; wer letzteren anblättert, begegnet einer detailliert diaristischen Tabelle und einer Bibliographie mit über 80 Titeln. Der Eindruck bürokratisch starrer Schubladisierung ist jedoch falsch; wer sich das Buch erneut vornimmt, der

13 Eberhard Lämmert: Friedrich der Große und die deutsche Literatur. In: Brunhilde Wehinger (Hg.): Geist und Macht. Friedrich der Große im Kontext der europäischen Kulturgeschichte. Berlin 2005, S. 13–22, hier S. 14. [Hervorh. d. Vf.]. 14 Ebd., S. 8. 15 Ebd., S. 19. 16 Horst Steinmetz: Friedrich II., König von Preußen und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts. Texte und Dokumente. Stuttgart 1985, S. 352.

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findet ausreichend Thesen und Formulierungen, die einem schematischen Denken widersprechen. Jeweils leserfreundliche Einleitungen eröffnen die vier Kapitel der umfangreichen »Darstellung«. Dafür zwei Beispiele: Zunächst widmet Kästner sich der königlichen Schrift und betont den »nirgendwo genügend genützten« Hinweis auf ihre Konzeption vierzig Jahre vor der Druckfassung, glaubt aber nicht, dass auch die Lektüre der seit 1740 erschienen Werke den alliterierend etikettierten »reinrassigen« Rationalisten geändert hätten. Das zweite Kapitel der Darstellung leiten »Einige Zwischenerinnerungen« ein, die »ohne streng zur Sache zu gehören, des Kontrastes wegen hier stehen und zur vollklanglichen Instrumentierung des Themas dienen«:¹⁷ Er nimmt den Leser mit seinen Metaphern regelrecht an die Hand und lässt acht Daten der »Gipfelerscheinungen deutschen Wesens« eine didaktische Revue passieren, die 1770 bis 1781 erschienen und der Meinung des Königs entgegenstehen bzw. sie widerlegen. Prägnanter sind einprägsame Formulierungen, die mich an Kästners Gedicht Nachtgesang erinnerten, dem beide Kästner-Biographien¹⁸ zum 100. Geburtstag besonders einschneidende Wirkung zuerkennen: Nachtgesang bescherte dem Dichter einst eine Kündigung und ließ ihn zum »Tempelschänder« werden, hatte er doch in einem Beethoven-Jahr eine Geliebte als »Du meine Neunte letzte Symphonie« apostrophiert. Ähnlich blasphemische Formulierungen finden sich in der Dissertation zu einer hierzulande ebenso heiligen Figur wie Beethoven. Die Bemerkungen zu Goethe überschritten einst sicher die Geschmacksgrenzen, kratzten sie doch am KlassikerDenkmal. Goethe kommt in der Dissertation unter den »Vertretern des neuen Systems« relativ kurz und besonders schlecht weg. Er hatte seine ursprünglich in einem Gespräch geäußerten Bedenken gegen die Königsschrift nicht wie geplant veröffentlicht. Diesen Rückzug des »Iphigenienschreibers«¹⁹ begründet und kommentiert Kästner aus seiner Perspektive: Goethe war »mitten auf dem Weg ›verflucht human‹« zu werden. Eine von Herder bezeugte Distanzierung Goethes von Friedrich II. zeigt für Kästner, »woher er jungen und vollen Herzens kam«; dass der Druck unterblieb, kann als Symbol dafür genommen werden, »wohin er männlich und besonnen strebte«.²⁰ Obwohl nicht eigens erwähnt, dürfte auch Goethes Einverständnis mit dem königlichen Widerwillen gegen den Götz und gegen Shakespeare dem jungen 17 Kästner: Friedrich (s. Anm. 8), S. 27. 18 Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners. München 1999, S. 95 f. 19 Kästner: Friedrich (s. Anm. 8), S. 61. 20 Ebd., S. 62.

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Dichter und Dissertanten sauer aufgestoßen sein. Kästner wehrt – ohne allerdings das 7. Buch von Dichtung und Wahrheit zu erwähnen – jeglichen Bezug zwischen dem König und Lessing als »unergiebig und sinnwidrig« ab.²¹ Eine zweite blasphemische Apostrophe nach »Iphigenienschreiber« unterstreicht die Goethe-Polemik; mit ihr im Kopf kann man sich jedem Goethe-Denkmal nahen: »Goethes Mutter kannte natürlich des Königs Buch, in dem ihr Hätschelhans ausgescholten wurde«.²² So viel zu Kästners kollegial-ruppiger Ausdrucksweise bereits vor dem Antritt seiner Berliner Stelle. Es spricht für die Leipziger Gutachter, dass der Doktorvater zwar in der Wortwahl »die Grenze des Korrekten gestreift und – allerdings sehr selten – m. E. überschritten« sieht, aber keiner die Blasphemie bei der Benotung berücksichtigte. Der Zweitgutachter wollte »nicht am Einzelnen mäkeln. Vor allem nicht am Stil«. Bei den wenigen maschinenschriftlichen Exemplaren kam der Dichter also glimpflicher davon als mit seinem Gedicht, das in diversen Zeitungen die Beethoven-Andacht schmähte. Ich denke, dass die wenigen Beispiele mit dem von Sven Hanuschek kritisierten, für mich eher selten ›hölzernen Schreibstil‹²³ versöhnen können; sie belegen, was Enzensberger ›das Germanistische‹ nennt; Kästners knappe Referate der Kritikerschriften mögen manchmal trocken wirken, sie gehören zu den Charakteristika gattungstypischer Hochschulschriften unseres Fachs. Aber selbst wo Kästner nur referiert, gelingen ihm kompakte Informationen. Zwei Beispiele zu Möser und Wezel: Den »kämpferischen« Justus Möser schätzt er besonders: »Ohne Schwankung des Gefühls und Denkens war Möser mit einem Male – um Herders Epitheta zu gebrauchen – : der individuelle, der nationale, der säkulare, der kausale, und der idiotische, – kurz der neue Mensch«.²⁴ Etwas flotter formuliert Kästner beim Rundumschlag zu Johann Karl Wezel: »Das Leben dieses kränklichen Hofmeisters und philanthropischen Pädagogen, dieses egozentrischen, eitlen, von Voltaire, Sterne, Fielding und Defoe beeinflussten Romanciers, dieses dem Materialismus des Helvétius […] und dem Organismusdenken Herders gleich aufgeschlossenen Menschen fand, weit vor dem Tode (1819), schon 1786 mit einem Wahnsinnsausbruch sein Ende.«²⁵ D. h. auch übergewichtige Sätze schließen mit einer kollegialen Pointe ab. Kästner begegnete den Autoritäten auf Augenhöhe, wie man derzeit sagt, er fühlte sich als Kollege und hat sich anders als Enzensberger das Germanistische nicht angewöhnt, schrieb er doch während der nur dreimonatigen

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Ebd., S. 22. Ebd., S. 63. Hanuschek: Keiner (s. Anm. 18), S. 85. Kästner: Friedrich (s. Anm. 8), S. 32. Ebd., S. 39.

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Niederschrift auch weiterhin für die Zeitung. Enzensberger war bei seiner Dissertation wohlversorgter Stipendiat und hatte mehr Zeit. So viel zu sprachlichen Reizen, die von fast allen Rezensenten betont werden: Der langjährige Leiter des Insel-Verlags, Friedrich Michael, ebenfalls Doktorand von Kästners Doktorvater Georg Witkowski, betitelte seine Zeitungsbesprechung »auf verräterische Weise lesbar«. Im späteren Nachdruck »Erich Kästners Debüt« spricht er vom »schwergewichtigen wissenschaftlichen Werk, das sich von vielen seinesgleichen nur durch eine Lesbarkeit unterscheidet, die eben doch schon den künftigen Schriftsteller verrät«. Dass sie »von Germanisten wieder entdeckt« wurde, erwähnt er freundlicherweise.²⁶ Zur Methode der Arbeit formulierte der eine Generation jüngere SZ-FeuilletonChef Rudolf Goldschmit (1924–1979) 1972 in seinem kleinen Beitrag das treffende Urteil: Er nennt sie ein »meisterhaftes Beispiel geistesgeschichtlich orientierter Literaturhistorie, gerecht und überlegen urteilend«.²⁷ Gleiche Zuordnung findet sich in der Rezension von Gunter Grimm in der Germanistik. ²⁸ Eben dieser Methode sind die Einwände Hanuscheks und mein Einwand gegen die Dissertation zuzuordnen: Sven Hanuschek urteilt aus der Perspektive des vielbeschäftigten Doktorvaters: »Immer wieder artikulierte Kästner in seiner Arbeit die Grenzen der Ratio, betonte, dass Literatur und Sprache ›rein intellektueller Annäherung widerstreben‹ (S. 24). Sein Fazit könnte heute so nicht mehr in einer wissenschaftlichen Arbeit stehen«.²⁹ Ein weiterer Satz, der in Kästners abschließendem Resümee steht, bestätigt Hanuschek: »Wie das Neue in den Wenigen entstand, ist Geheimnis und Schicksal«.³⁰ So ein schicksalsschwangeres Raunen erlaubte die geistesgeschichtliche Methode; es kann ihren methodischen Prinzipien zugeschrieben und damit historisch erklärt werden. Für meinen Einwand gegen die Dissertation unter methodologischem Aspekt berufe ich mich auf einen Aufsatz von Bernhard Spies.³¹ Ihm fehlt bei Kästners Interpretation der königlichen Schrift die Berücksichtigung politischer Ideen: Deutschland als eine Einheit war 1780 noch ein Wunschtraum, dem preußisch denkenden König fehlte ein »Bewusstsein gemeinsamer Nationalität«, das für die

26 Friedrich Michael: Der Leser als Entdecker. Betrachtungen, Aufsätze und Erinnerungen eines Verlegers. Sigmaringen 1983, S. 176; der Originaltitel nach der Bibliographie von Johan Zonneveld. 27 Rudolf Goldschmit: Fridericus und die Dichter. In: Süddt. Zeitung vom 8./9. April 1972. Sonderseite Buch und Zeit. 28 Vgl. Germanistik 14 (1973), S. 152. 29 Hanuschek: Keiner (s. Anm. 18), S. 85. 30 Kästner: Friedrich (s. Anm. 8), S. 101. 31 Bernhard Spies: Zur vorklassischen Theorie einer Nationalliteratur und der Auseinandersetzung um Friedrich des II. Schrift »De la litterature allemande«. In: Literatur für Leser 1986/1, S. 65

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sächsischen und anderen jungen Literaten die französische Literatur als fremd ausgrenzte. Unsere genannten Einwände verlieren auf dem Entstehungshorizont ihr Gewicht; zudem: der junge Dichter richtet seine Argumente gegen »regelverschnürte Klassizisten«³² und ›reinrassige Rationalisten‹, er redete den »Vertretern des neuen Systems« das Wort – und das durchaus auf der Höhe seiner Zeit mit kollegialer Sympathie für diejenigen Autoren, die einen ›Ratio und Gefühl‹ vermittelnden »Übergangsmenschen«³³ repräsentierten. Ganz allgemein ist Kästner kaum Mangel an methodischer Reflexion vorzuwerfen. Ein von Zonneveld unter Entlegenes erwähnter Titelblatt-Entwurf zu Georg Witkowskis geplanter Studie über »Textkritik und Editionskritik. Ein methodologischer Versuch« nennt Kästner als Ko-Autor, er war als Mitarbeiter an diesem für 1924 geplanten Buch seines Doktorvaters geplant. Aber sein methodisches Bewusstsein bleibt nicht nur auf Konjunktiv und Hypothese beschränkt: Witkowski bestätigte ihm nach »ungewöhnlicher Tatkraft […] noch ungewöhnliche Sicherheit der Methode«.³⁴ Sein besonderes Interesse dafür belegen die von Klaus Schumann gesammelten Presse-Texte aus der Leipziger Zeit 1923–1927; sie enthalten Berichte über germanistische Events. Kästner besprach Antrittsvorlesungen und verglich eingehend zwei seiner akademische Lehrer Köster und Korff. Unter dem Titel »zeitgemäße Betrachtung zur historischen Methodik« werden auf hohem Niveau die methodischen Differenzen von Historismus, Positivismus und Geistesgeschichte reflektiert: Er sprach von einer »methodischen Umschaltung«, die »eine zwangsläufige Allgemeinbewegung des Geistes war« und »die wohl nur die gespürt [haben], die ›dabei‹ waren«.³⁵ Damit lässt Kästner noch im Jahr des Rigorosums die in der Dissertation befolgte Methode hinter sich. Er begrüßte im Dezember 1925 als »ernüchterndes Gegenprinzip für die geisteswissenschaftliche Methodik« die »sozialliterarische Methode« von Levin L. Schücking, den wichtigsten Vertreter der Literatursoziologie.³⁶ Und als Anreger des neu nach Leipzig berufenen Anglisten benennt er ausdrücklich »einen der Literaturgeschichte fernstehenden großen Toten: Max Weber«.³⁷ Kästner hielt zuverlässig Schritt nicht nur mit den methodischen Entwicklungen, sondern reagierte auch aufgeschlossen auf neue Strömungen in den Geisteswissenschaften und über sie hinaus. Hätte Walter Müller-Seidel, der in München die Methodenreflexion be-

32 Kästner: Friedrich (s. Anm. 8), S. 72. 33 Ebd., S. 101. 34 Zitiert nach Görtz, Sarkowicz: Kästner (s. Anm. 3), S. 64. 35 Klaus Schuhmann (Hg.): Erich Kästner. Der Karneval des Kaufmanns. Gesammelte Texte aus der Leipziger Zeit. Leipzig 2004, S. 228. 36 Ebd., S. 213. 37 Ebd., S. 227.

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gründete, diese Texte gekannt, hätte sein Geleitwort zur Dissertation sicher auch dem Rechnung getragen. Fazit zur Dissertation: Die ›primärliterarischen‹ Zeugnisse des Erich Kästner garantieren seiner ›sekundärliterarischen‹ Arbeit die sensationelle Renaissance. Von den »philologischen Fundamenten«, nach denen Frau Schleier suchen wollte, kann keine Rede sein.

3.1 Daten zur Entstehung Die Kästner-Biographen rahmen die für die Dissertation anzusetzende Arbeitszeit mit erstaunlich nahen Daten; erst Mitte März 1925 soll er die Pläne für eine Arbeit über die Hamburgische Dramaturgie ad acta gelegt haben – und schon am 25. Mai 1925 reichte er seine Schrift bei der Fakultät ein. Nach dem chronologischen Anhang zu schließen, hat er aus entlegenen Quellen über 100 Zeugnisse unterschiedlichen Umfangs von mindestens 20 Autoren gesichtet, referiert und nach Argumentationen sortiert. Er muss tief in die Archive gestiegen sein und – wie oben gezeigt – mutig gegen eine königstreue Kollegenfront argumentiert haben. Der Doktorvater Georg Witkowski schlug die Note 1 vor. Bei ihm hatten Kurt Pinthus, Hanns Johst, Anton Kippenberg und dessen schon erwähnter Verlagskollege Friedrich Michael promoviert. Kästner steht in einer prominenten Reihe von Doktoranden eines für die Gegenwartsliteratur besonders aufgeschlossenen Professors. Neben Georg Witkowski, der im Exil starb, urteilte als zweiter Friedrich Neumann, der 1933 als Hauptredner bei der Leipziger Bücherverbrennung auftrat. Kästners Dissertation stand gutachterlich bemerkenswert zwischen zwei Fronten. Sie blieb im Jahr 1925 die einzige mit dem Prädikat »Sehr gut«.

3.2 Der Neudruck Wie schon oben gesagt, war es nicht Kästners Idee, die Dissertation drucken zu lassen. Sie wurde auch nicht »sogar neu«³⁸ herausgebracht, wie Görz und Sarkowicz behaupten: Mit Kohlhammer, vormals Cotta, druckte sie auch kein Wissenschaftsverlag, sondern ein angesehenes und weitgefächertes Haus. Das Geleitwort vom Reihenherausgeber Walter Müller-Seidel stellt eingangs fest: »die hier vorgelegte Schrift Erich Kästners hat Professor Herbert Göpfert für eines seiner Seminare entdeckt. Er hat ihre Veröffentlichung innerhalb dieser Reihe

38 Görtz, Sarkowicz: Kästner (s. Anm. 3), S. 32.

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vorgeschlagen und maßgeblich gefördert.«³⁹ Zwei Erklärungen in Parenthese: a) diese Reihe – Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur – war zunächst Dissertationen von Schülern der vier Herausgeber Hugo Kuhn, Friedrich Sengle, Hans Fromm und Walter Müller-Seidel vorbehalten. Ich war ab Band 12 Redakteur der Reihe: Broschiert erschienen in flotter Folge an die dreißig Arbeiten, so auch die meine. Kästners Arbeit, die 21. in der Reihe, zeichnete der Verlag durch ein rotes Leinen-Hardcover aus. Leider hat der Verlag mit der Einschränkung seines literarischen Programms das Archiv dieser Reihe recycelt. Auch unser Redaktions-Ordner mit den Unterlagen zu den Studien ist Umschichtungen im Institut zum Opfer gefallen. Ich selbst weiß leider nicht einmal mehr, wo die umfänglichen Unterlagen der Redaktion mit Kästner-Autografen verblieben ist. b) Herbert Göpfert, der die Dissertation wiederentdeckt hatte, war erfolgreicher Leiter des Hanser-Verlags und später der Begründer der Buchwissenschaft an der LMU München. Das fragliche Seminar fand im Winter 1970/71 statt, jeden Mittwoch 10–12 Uhr, in ihm ereignete sich das, was ich die Wiedergeburt der kästnerschen Dissertation nenne. Seine spät entdeckte sekundärliterarische Produktion erschien als 21. Band der Reihe Studien. Die 50 Jahre alte Dissertation steht damit in einer Reihe neuester Doktorarbeiten. Bei den Vorbesprechungen lernte ich den Autor als alten Mann kennen, dem man weder den Esprit früherer Jahre noch seine Teilnahme von einst zutraute. Teilnehmend hatte ich ihn bei einer Begegnung aus dem Jahre 1954 in prägender Erinnerung, also bereits 15 Jahre vor dem fachlichen Kontakt: Als ein gerade aus der DDR übergesiedelter Gymnasiast gab ich 1954 Knut Mahlke, dem Uli aus der ersten Verfilmung des Fliegenden Klassenzimmers, Nachhilfeunterricht für das bei den Dreharbeiten Versäumte. Bei der Film-Premiere im nicht mehr existierenden Luitpold-Kino saß ich neben dem Autor, wurde ihm in meiner Funktion bekannt gemacht und es kam zum Smalltalk über die Schule, der ich gerade einen Kulturschock verdankte: Als Protestant und Flüchtling war ich aus einer Koedukationsklasse in eine katholische Knabenklasse versetzt worden. Dass mir die tägliche Vorfreude auf Mitschülerinnen schmerzlich fehlte, konnte er freundlichst nachvollziehen. Und das tat unvergesslich wohl. Später hat er sich mehrfach kritisch zur Schulpolitik der CSU geäußert. Den alten Autor erlebte ich anders: Auf dem Weg vom Institut zum Leopold passierten Frau Rosenow, die auch im Institut schrieb, und ich das Haus des Rechts der LMU. Unter den Arkaden gab es einen Kiosk, bei dem die langjährige KästnerSekretärin aktuelle Ausgaben der St. Pauli Nachrichten kaufte. Der Händler holte die Zeitungen unter dem Ladentisch hervor, Frau Rosenow platzierte sie im Lokal

39 Kästner: Friedrich (s. Anm. 8), S. 7.

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dann verdeckt in Kästners Tasche. Zur Zeitung ist zu ergänzen, dass sie erst Ende der 60er Jahre gegründet wurde, Aust und Broder schrieben darin, auch die Politik war damals sexy. Bei Besprechungen in der gut bürgerlichen Gaststätte Leopold, Ecke Leopold/Trautenwolfstraße, heute das In-Lokal Bachmaier, ging es vor allem um die Titelfrage. Die Änderung habe ich oben erwähnt. Kinder, die sich immer wieder um unseren Tisch versammelten, wurden freundlich begrüßt. Die für den Neudruck ergänzten bibliographische Angaben von Micha Klein enthalten die neuere Forschung. Die Druckvorlage kam aus dem Göpfert-Seminar. Leider ist es mir nicht gelungen, den oder die Verfasserin dieser Nachträge zu identifizieren. 50 Jahre sind eine zu lange Zeit. Bald nach Erscheinen des Buches brachte mir Frau Rosenow im April 1972 ein Widmungsexemplar, Kästner fand »die Buchausgabe sehr gelungen«.

4 Nachschrift Während der Tagung löste sich für mich die Frage nach einer irritierenden Doppelung der Rezension zu Kästners Dissertation. In zwei unterschiedlichen Exemplaren des ersten Hefts der Germanistik im 14. Jahrgangs 1973 finden sich gegensätzliche Besprechungen des Buches. Herr Zonneveld hat in seiner KästnerBibliographie beide mit identischer Angabe zum Fundort verzeichnet. Mir lag nur Gunter Grimms Besprechung unter Nr. 1082 auf Seite 152 des Germanistik-Heftes vor, ich bin in meinem Vortrag kurz auf sie eingegangen. Die zweite, von Horst Steinmetz verfasst, war mir für meinen Vortrag unerreichbar. Sie steht auf S.112 f. in dem alternativen Germanistik-Heft. Dankenswerterweise hat mir Herr Zonneveld nach der Tagung Kopien zugesandt: Das Titelblatt des mir in hiesigen Bibliotheken nicht greifbaren Germanistik-Jahrgangs ist gegenüber dem mir zugänglichen Band leicht verändert, die Besprechungen darin werden nicht gezählt. Im Vergleich zu Grimm liefert Steinmetz die umfangreichere Rezension, widmet sich kaum dem Kästner-Text, sondern richtet Sticheleien gegen einen der Reihenherausgeber. Walter Müller-Seidels Bemerkung, Herbert Göpfert habe die Arbeit »in einem seiner Seminare entdeckt«, provoziert gleich zu Anfang die Entgegnung: »Wie man sich das vorzustellen hat, weiß ich nicht«. Nach dem offensichtlich als kritikwürdig angesehenen Kästner-Zitat, in dem die Kritiker des Königs als »modern und national« bezeichnet werden, schließt sein Beitrag mit grundsätzlicher Provokation: Müller-Seidels Behauptung, »die Berechtigung zur Veröffentlichung« leite sich »aus der Sache selbst her«, will Steinmetz nicht akzeptieren. »Aus der Sache selbst? Man zögert. Ob die Sache nicht doch der Name des

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Autors war?« In seiner zwölf Jahre später erschienenen umfassenden Sammlung zum Thema (s. Anm. 16) hat Steinmetz Kästner nur am Rande erwähnt. Warum der Einwand gegen den ›aus der Sache‹ motivierten Neudruck innerdeutschen Germanisten verborgen blieb, lässt sich vermuten: Die ›Schriftleitung‹ wollte wohl einem der damals führenden Fachvertreter die Provokation nicht zumuten; nur Auslandsgermanisten konnten lesen, dass man aus der Sicht Horst Steinmetzʼ mit dem Namen des von der Sekundärliteratur zur Literatur gewechselten Dichters buchstäblich die ›eigene Reihe‹ hatte zieren wollen (was ja durchaus der von mir anfangs thematisierten Tradition entspräche, aber eben nicht stimmt). Was hätte Kästner selbst wohl zur gespaltenen Zunge des Internationalen Referatenorgans Germanistik gesagt? Hätte es ihn interessiert?

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»Das, was er schrieb, war manchmal Dichtung« Auf der Suche nach Spuren der Aufklärung in der Bibliothek Erich Kästners Worte spielen im Leben von Autor:innen eine große Rolle. Meist ist es die Liebe zum Lesen, zu Büchern und Texten, die selbst zum Schreiben führt. Erich Kästner war seit seiner Kindheit ein Vielleser. Sehr früh hatte er die Möglichkeit erkannt, durch das Lesen Informationen jeder Art zu bekommen: Ich las und las und las. Kein Buchstabe war vor mir sicher. Ich las Bücher und Hefte, Plakate, Firmenschilder, Namensschilder, Prospekte, Gebrauchsanweisungen und Grabinschriften, Tierschutzkalender und Speisekarten, Mamas Kochbuch, Ansichtskartengrüße, Paul Schurigs Lehrerzeitschriften, die Bunten Bilder aus dem Sachsenlande und die klitschnassen Zeitungsfetzen, worin ich drei Stauden Kopfsalat nach Hause trug. Ich las, als wär es Atemholen. Als wär ich sonst erstickt. Es war eine fast gefährliche Leidenschaft. Ich las, was ich verstand und was ich nicht verstand.¹

Dass das lesebegierige Kind Erich Kästner neben Büchern praktisch alles las, was ihm in die Hände fiel, machte ihn später zu einem sehr aufmerksamen Erwachsenen. Aus vielen der gelesenen Sätze wurden neue Ideen für schriftstellerische Projekte. Kästner sammelte sie zusammen mit Notizen sowie weiteren Zitaten und Abschriften in Stoffmappen. Es waren Puzzleteile, die er irgendwann zu einem vollständigen Bild zusammenfügen konnte. Es wurden Romane, Gedichte, Essays und andere Schriften daraus. Die umfangreichen Stoffmappen sind im Nachlass erhalten² und es finden sich viele Bezüge zu Kästners Werken. Manche Stoffe und Ideen blieben jedoch Puzzleteile. In dem vorliegenden Beitrag geht es jedoch nicht um das Werk Kästners, sondern um die Werke, mit denen Kästner gearbeitet, die er selbst angeschafft und gelesen hat: seine Bibliothek. »Büchersammlungen von Autorinnen und Autoren

Anmerkung: Erich Kästner: Lessing. In: Lyrische Hausapotheke. 1936. 1 Erich Kästner: Als ich ein kleiner Junge war. Zürich 2011, S. 82. 2 Erich Kästner: [Verschiedenes] Konvolut Stoff- und Materialsammlung; Konvolut Stoffe sowie Konvolut Stoffnotizen (Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Erich Kästner [im Folgenden NL]). https://doi.org/10.1515/9783111085081-004

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können als wichtigstes Arsenal ihrer literarischen Produktion« betrachtet werden.³ Nicht nur die in der Bibliothek vorhandenen Titel, auch die Lesespuren, Herkunftsdaten, Anstreichungen und alle anderen Spuren in den Büchern können wichtige Hinweise zum Werk eines Autors geben. Die Verbindung von Autorschaft und Bibliothek ist evident. Eine Autorenbibliothek ist der Ort, an dem das Sammeln von Büchern als Arbeitsmittel oder Gegenstand der Bibliophilie zusammentrifft mit der Lektüre, Recherche und Produktion neuer Texte, auch wenn sie gekaufte, geschenkte und von Verlagen zur Rezension eingesandte Exemplare umfasst. Bibliotheken sind zudem Orte der Memoria, in denen sich Geschichte sedimentiert, sie ermöglichen einen Zugang zum intellektuellen Leben vergangener Epochen. Das gilt nicht nur für institutionelle, sondern gerade auch für persönliche Büchersammlungen, und diese sind mithin besonders dort besonders interessant, wo in neu produzierten Texten die Auseinandersetzung mit bereits Gedrucktem als intellektuellem Reservoir und Reibungsfläche sichtbar wird.⁴

Es finden sich auch in Kästners Bibliothek Hinweise auf die Auseinandersetzung mit bereits Gedrucktem. Im Fokus steht dabei die Frage, ob und wo sich aus der Privatbibliothek Kästners Spuren der Aufklärung finden, und ob sich daraus seine Beschäftigung mit dieser ableiten lässt.

1 Die Bibliothek(en) Erich Kästners 1.1 Berlin Die Bibliothek Erich Kästners ist nicht vollständig erhalten. In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 1944 wurde das Haus in der Roscherstraße 16 in Berlin von einer Fliegerbombe zerstört. Die Wohnung, die Kästner dort seit 1929 bewohnt hatte, sowie das gesamte Inventar wurden vernichtet: Neben, wie er schreibt, »acht Anzügen, einigen Manuskripten, sämtlichen Möbeln, zwei Schreibmaschinen, Erinnerungen in jeder Größe und mancher Haarfarbe«⁵ sowie weiterem Inventar wurde auch Kästners Bibliothek mit etwa 3.000 Büchern komplett vernichtet. Eine Liste aller verlorenen Bücher gibt es nicht. Aber es ist davon auszugehen, dass sich

3 Stefan Höppner: Bücher sammeln und schreiben. Eine Einleitung. In: Stefan Höppner u. a. (Hg.): Autorschaft und Bibliothek. Sammlungsstrategien und Schreibverfahren. Göttingen 2018, S. 14–22, hier S. 14. 4 Ebd., S. 15 f. 5 Erich Kästner: Kästner Mama bringt die Wäsche. In: Ders.: Werke. Hg. von Franz-Josef Görtz. München, Wien 1998, Bd. 2, S. 122 f. sowie NL: Verschiedenes. Liste der bei dem Bombenangriff vollständig zerstörten Wohnungseinrichtung der Wohnung in der Roscherstraße. 6 Bl.

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darunter eine große Menge historischer, gesellschaftshistorischer, politischer und philosophischer Bücher befand, eine große Bandbreite an literarischen Werken und sicher auch sonst ein breites Spektrum an Titeln, mit deren Inhalten sich Kästner seit Studium und Beginn seines literarischen Schaffens, vielleicht auch schon aus der Zeit davor, beschäftigt hatte. Nicht wenige davon waren vermutlich Schenkungen aus Kästners literarischem Umfeld. Jedoch befanden sich zum Zeitpunkt des Bombeneinschlags nicht alle Bücher der Bibliothek in der Wohnung Kästners, sondern waren in Bücherkisten im Keller untergebracht.⁶ Die Auslagerung wichtiger Dinge war eine vorsorgliche Maßnahme, die er für seine wichtigste Habe getroffen hatte. Auf diese Weise überstanden nicht nur drei Kisten seiner vermutlich liebsten und wichtigsten Bücher den Bombenangriff,⁷ sondern unter anderem auch einige seiner Manuskripte, die er zu seiner Mutter nach Dresden gebracht hatte. Das Erstellen der Verlustliste war mühsam, aber Kästner hoffte auf die Unterstützung zu einem Neustart: »Es war eine ziemlich langwierige Arbeit. Nun will ich sehen, daß ich Geld bekomme. Zum Bücherkaufen etc. Damit ich langsam wieder eine Bücherei zusammenbekomme. Das ist ja bei meinem Beruf das Wichtigste.«⁸ Kästner bekam eine Abschlagszahlung in Höhe von 500 RM.⁹ Im März 1945 verließ Kästner Berlin und verbrachte die letzten Kriegsmonate in Mayrhofen. Es folgte der Neubeginn nach Kriegsende. Zunächst lebte er im Juni 1945 in Olching, ab Oktober in München, im Januar 1946 bezog er eine möblierte Wohnung in der Fuchsstraße 2. In der Zeit, in der Deutschland am Beginn des großen Wiederaufbaus stand, baute Kästner in München sein Netzwerk aus, suchte und fand dort nicht nur neue Beschäftigungsfelder, sondern seine neue Heimat. Während die Menschen gleichzeitig die Verluste und Traumatisierungen der Kriegsjahre bewältigen mussten, nahm das Tempo des Wiederaufbaus nach Kriegsende, besonders ab Anfang der 1950er Jahre, gewaltig Fahrt auf. Im zerstörten München kam das kulturelle Leben wieder in Gang, Kästner mittendrin: Er wurde Feuilletonleiter der Neuen Zeitung, gab die Jugendzeitschrift Pinguin heraus und beteiligte sich als Autor beim Kabarett Schaubude. 1948 wurde das P.E.N.-Zentrum Deutschland und die deutsche Sektion des P.E.N.-Clubs in München mit Kästner als Vorstand gegründet. 1951 wurde Kästner

6 Erich Kästner an Elfriede Mechnig, 24. 2.1944 (Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Erich Kästner). 7 Johan Zonneveld: Bibliographie Erich Kästner. Bd. 1: Primärliteratur, Zeittafel. Bielefeld 2011, S. 717. 8 Erich Kästner an Ida Kästner, 30.11.1944 (Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Erich Kästner), zitiert nach Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners. München 2003, S. 290. 9 Ebd.

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Präsident des westdeutschen P.E.N.-Zentrums. Das Amt wurde begleitet von den internationalen kritischen Reaktionen einzelner Länder auf Deutschland in der Nachkriegszeit. So boykottierte er gemeinsam mit Richard Friedenthal und Kasimir Edschmid 1954 den internationalen P.E.N.-Kongress in Amsterdam wegen deutschfeindlicher Ausschreitungen. Kästners Interessen gingen zunehmend auch aktiv in eine politische Richtung. In Reden und Ansprachen bezog er öffentlich Stellung u. a. zur Atompolitik und gegen die Regierung Adenauer. Kästner zeigte sich sehr aktiv, er trat in der Öffentlichkeit auf, aber der Krieg hatte ihn verändert. Sein literarisches Schaffen in der Nachkriegszeit war geprägt von einer Vergangenheit, die durch Krieg, Zerstörung und viele materielle, aber auch menschliche Verluste geprägt war, sowie einer ungewissen Zukunft. Neue Umstände und neue Themen prägten den Alltag. Kästner versuchte, dieses neue Leben für sich zu gestalten. Er hatte Menschen wie Werner Buhre um sich, unterstützte aber auch Jella Lepman bei der Gründung des Vereins der Internationalen Jugendbibliothek. Weiterhin hatte er den Plan, aus den Tagebuchaufzeichnungen der Kriegsjahre und den in dieser Zeit gesammelten Themen und Stoffen einen Roman zu machen. Dieser Roman erschien nie. Seine einst zerstörte Privatbibliothek baute er nach und nach wieder auf. Er zog sich bereits Ende der 1940er Jahre von seiner Arbeit bei der Neuen Zeitung zurück, schrieb bis 1953 nur noch als freier Mitarbeiter und arbeitete fortan wieder als Schriftsteller.

1.2 München Am 1. Juli 1974 wurde in Mainbernheim in Unterfranken ein Kinderdorf gegründet. Da seine Haltung gegenüber Kindern den Gründern des Kinderdorfs als vorbildlich galt, wurde Kästner im Frühjahr desselben Jahres gebeten, Namenspate zu werden. Kästner beantwortete die Bitte mit einem Satz per Telegramm: »Bin mit Kinderdorfbenennung einverstanden«¹⁰. So wurde nur wenige Wochen vor Kästners Tod das ›Erich Kästner Kinderdorf‹ gegründet. Ab 1990 erfolgte der Umzug des Kinderdorfes in die Steinmühle nach Oberschwarzach, wo es sich noch heute befindet. Im November 1991 starb Luiselotte Enderle und vermachte ihre und Kästners Privatbibliothek dem Kinderdorf. Neben der Bibliothek ging auch das gesamte Inventar des Hauses in der Flemingstraße 52, welches Enderle und Kästner seit 1953 bewohnt hatten, an das Kinderdorf. Die

10 Erich Kästner an Winfried Pieczyk, 26. 5.1974 (Erich Kästner Bibliothek, Oberschwarzach).

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Steinmühle wurde umgebaut, um Inventar und Bibliothek unterbringen zu können. 1992 wurde die Bibliothek von München nach Oberschwarzach überführt.¹¹ Der Umzug der Bibliothek wurde von Sylvia List-Beisler begleitet und glücklicherweise schriftlich durch einen kurzen Bericht dokumentiert.¹² Die Bibliothek muss demnach bereits beim Umzug von der Fuchs- in die Flemingstraße sehr umfangreich gewesen sein. Die Aufstellung der Bücher erfolgte anfangs wesentlich im Arbeits- und Schlafzimmer sowie im Wohnzimmer und in einem Kellerraum. Später kamen dann noch weitere Standorte im Flur- und Kellerbereich hinzu. Beispielsweise wurde der frühere Kohlenkeller zum Bibliotheksraum umfunktioniert. Die Bücher waren nach Sachthemen aufgestellt, aber auch nach Verlagsreihen, Wichtigkeit und anderen Kriterien. Sie standen in 15 Abteilungen verteilt auf die verschiedenen Zimmer des Hauses: Von I. Klassiker und Neuerscheinungen über Geschichte, Literatur bis hin zu den Zeitschriften in der Gruppe XV. Erkennbar war, dass Kästner und Enderle später ihre Regale noch einmal hätten verziehen müssen, um die Ordnung in der wachsenden Bibliothek beibehalten zu können. Der spätere Zuwachs wurde quergestapelt und in einem neu aufgebauten Regal im Flur dann nur noch nach Zugang laufend aufgestellt.

2 Auswertung Die Bibliothek Erich Kästners und Luiselotte Enderles im ›Erich Kästner Kinderdorf‹ in Oberschwarzach besteht aus 8.206 Bänden, überwiegend aus Büchern, die ab der Zeit in München ab 1945 in Kästners Besitz gekommen sind oder es zum Teil schon waren. Nicht nach Oberschwarzach kamen diejenigen Teile der Bibliothek, die dem Nachlass Erich Kästners zugeordnet werden konnten: Das waren Bücher von Kästner, von ihm herausgegebene Bücher oder Bücher mit Beiträgen von ihm, Lizenzausgaben sowie verschiedene Ausgaben einzelner Werke Kästners. Diese befinden sich seit 1998 in der Belegexemplarsammlung Erich Kästners im Deutschen Literaturarchiv Marbach.¹³

11 Die Bibliothek steht in einem separaten Raum im Dachgeschoss der Mühle und bildet zusammen mit Kästners Inventar ein Museum. Weitere Informationen und Fotos online unter https://erich-ka estner-kinderdorf.de/start.html sowie https://ulrich-goepfert.de/index.php/de/archiv/81-vereine-undkirche/1598-erich-kstner-kinderdorf-ev (11.09. 2022). 12 Maschinenschrifliche Aufzeichnung, 3. 2.1992, unveröffentlicht. Aus dem Besitz von Sylvia ListBeisler. 13 Hierzu: Silke Becker: Bei Durchsicht seiner Bücher – Die Belegexemplarsammlung Erich Kästners im Deutschen Literaturarchiv Marbach. In: Sebastian Schmideler, Johan Zonneveld (Hg.):

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Entnommen wurden ebenfalls handschriftliche Dokumente, die für den Marbacher Nachlass und die Forschung wichtig erschienen. Verblieben sind Zettel mit persönlichen Notizen, Briefe, Zeitungsausschnitte und verschiedene andere Beilagen. Einige Bücher enthalten Widmungen anderer Schriftsteller, aber auch Notizen Erich Kästners. Die Bücher wurden durch einen Katalog erschlossen, der jahrelang online abrufbar war und die Möglichkeit zur formalen und auch zur inhaltlichen Suche bot. Leider ist dieser Katalog seit einiger Zeit nicht mehr zugänglich, jedoch ist geplant, ihn wieder anzubieten.¹⁴ Die Bücher stehen heute alphabetisch mit einer sachlichen Unterteilung. Bei der Aufnahme im Katalog wurden von den Bearbeiter:innen Signaturen nach diesen Sachbereichen vergeben. 331 Bücher haben ein Erscheinungsjahr zwischen 1975 und 1991 und kamen somit erst nach Kästners Tod bzw. nach der Überführung ins Kinderdorf in die Bibliothek. Diese Bücher wurden bei der Auswertung der Titel nicht berücksichtigt.

2.1 Signaturen und Deskriptoren Die Aufstellung der Bücher erfolgte nach einzelnen Sachgruppen, die in den Signaturen jeweils durch fortlaufende Buchstaben oder Buchstabenkombinationen gekennzeichnet sind. Insgesamt gibt es 22 Sachgruppen, die sehr grob der Allgemeinen Systematik für Öffentliche Bibliotheken (ASB) entsprechen. Bei dieser handelt es sich um eine Aufstellungssystematik nach den Erfordernissen einer öffentlichen Bibliothek, mit der die Gegebenheiten einer Privatbibliothek nicht in jedem Fall problemlos abgebildet werden können. Gegebenenfalls wurden deshalb nicht den ASB entsprechende Untergruppen gebildet, hauptsächlich im Bereich Literatur (z. B. Pi: P.E.N.). Die Titel der Bibliothek werden außerdem durch insgesamt 71 Deskriptoren inhaltlich zugeordnet. Diese wurden bei der Katalogisierung der Bibliothek vergeben und entsprechen nicht der Aufstellung. Mit den einzelnen Deskriptoren sind zwischen einem Titel (Amerika, Niederlande, Politik, TV) und 1.328 Titel (20. Jahrhundert) verknüpft. Weitere Deskriptoren, die für eine größere Menge an Büchern vergeben wurden, sind: Kästner im Spiegel. Beiträge der Forschung zum 40. Todestag. Marburg 2014 (Erich Kästner Studien, Bd. 3), S. 149–169. 14 Besonderer Dank gilt daher Johan Zonneveld, der mir einen Offline-Katalogabzug mit einer Art Kurztiteln zur Verfügung gestellt hat, sodass mir dennoch die quantitative Auswertung des Katalogs möglich war.

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Gesellschaft, Staat Geschichte Literatur Englischsprachige Literatur Bildende Kunst Französische Literatur

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326 Titel 339 Titel 418 Titel 532 Titel 575 Titel 593 Titel

In wenigen Fällen wurde ein zweiter Deskriptor verwendet (z. B. 20. Jahrhundert; 18. Jahrhundert für den Essay Albrecht Goes’: Goethegedichte – jetzt aus dem Jahr 1946, ein von Goes als Nachwort verfasster Essay zu den herausgegebenen Goethegedichten im Verlag Hans E. Günther.

2.2 Autoren Bei der Durchsicht der Bibliothek nach Autoren findet man Bücher aus allen Epochen und zu allen Themen. Es gibt viele Bücher von Zeitgenossen, auch aus Kästners privatem Umfeld. Unter der Signatur Gesellschaft, Staat, Politik befinden sich Titel wie Raymond Arons Opium für Intellektuelle (1957) oder Walter A. Berendsohns Aufbauarbeit in Israel (1953), dazu viele zeitpolitische Werke sowie Titel zur Entwicklung des deutschen Staates, aber auch zu anderen Ländern. Hier erkennt man immer noch Kästners breites Interesse am Zeitgeschehen, an Politik und Geschichte, ein anderes, noch mehr politisch ausgerichtetes, Spektrum und Interesse Kästners nach 1945 wird erkennbar. Der Schwerpunkt der Bücher in Kästners Bibliothek liegt im Bereich Literatur. Titel der wichtigsten Nachkriegsautoren sind in der Bibliothek zu finden, was durchaus einem Kanon für die Vertreter dieser Zeit entspricht, aber es befinden sich auch Klassiker darunter (z. B. Schiller und Goethe, aber auch Wilhelm Busch) und man kann vermuten, dass Kästner diese in der ersten Bibliothek besessen und sich geplant wieder zugelegt hat.Viele bekannte Autoren sind mit umfangreicheren Beständen vertreten: Carl Améry, Alfred Andersch, Hanns Arens, Ingeborg Bachmann, Johannes R. Becher, Gottfried Benn, Max Bense, Thomas Bernhard, Otto Julius Bierbaum, Rudolf Borchardt, Wolfgang Borchert, Bertolt Brecht, Hermann Broch, Lothar-Günther Buchheim, Jacob Burckhardt, Georg Büchner, Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Alfred Döblin, Kasimir Edschmid, Friedrich Engels, Hans Fallada, Lion Feuchtwanger, Otto Flake, Theodor Fontane, Leonhard Frank, Richard Friedenthal, Max Frisch, Friedrich Gundolf, Hans Habe, Ernst Heimeran, Heinrich Heine, Hermann Hesse, Stefan Heym, Kurt Hiller, Rolf Hochhuth, Hugo von Hofmannsthal, Ricarda Huch, Heinrich Eduard Jacob, Karl Jaspers, Friedrich Georg Jünger, Alfred Kantor-

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owicz, Richard Katz, Martin Kessel, Hermann Kesten, Heinrich von Kleist, Annette Kolb, Karl Kraus, Horst Lange, Elisabeth Langgässer, Siegfried Lenz, Mechthilde Lichnowsky, Emil Ludwig, Walter Mehring, Peter de Mendelssohn, Robert Musil, Alfred Neumann, Robert Neumann, Ernst Penzoldt, Heinrich Pestalozzi, Alfred Polgar, Leopold von Ranke, Gregor von Rezzori, Rainer Maria Rilke, Joachim Ringelnatz, Joseph Roth, Martha Saalfeld, Oda Schaefer, René Schickele, Arthur Schopenhauer, Anna Seghers, Hilde Spiel, Adalbert Stifter, Kurt Tucholsky, Jakob Wassermann, Frank Wedekind, Günther Weisenborn, Bruno E. Werner, Wolfgang Weyrauch, Ernst Wiechert, Carl Zuckmayer, Stefan Zweig. Ferner sind zahlreiche Exemplare von und zu Goethe vorhanden, darunter verschiedene Werkausgaben sowie Einzelwerke, Auswahlausgaben, Anthologien und Almanache. Darüber hinaus findet man Biografien, herausgegebene Werke (z. B. Albert Köster: Die Briefe der Frau Rath. Insel-Verlag, 1908) sowie Titel zur Rezeptionsgeschichte von Carl Gustav Carus (Goethe. Zu dessen näherem Verständnis. Wolfgang Jess Verlag, 1949) bis hin zu Drews Goethe anekdotisch. Kindler, 1969. Weiterhin gibt es Bücher von und über Eckermann. Es ist nicht eindeutig, welche der Bücher genau Kästner aus seiner ersten Bibliothek gerettet und welche er später antiquarisch erworben hat. Es lässt sich aber vermuten, dass Kästner durch seine enge Verbindung zu Albert Köster auch in späteren Jahren ein besonderes Augenmerk für Goethe hatte. Zu Schiller finden sich weitaus weniger Titel, allerdings gibt es sechs Werkausgaben, davon drei Exemplare der Volksausgabe Hesse & Becker. Eine Ausgabe kann Luiselotte Enderle zugewiesen werden. Darüber hinaus sind Gedichte, Briefe und ein paar Einzelschriften sowie drei Biografien überliefert. Von Thomas Mann gibt es 31 Titel seiner Werke aus verschiedenen Verlagen und Jahren. Vom Desch-Verlag bekam Kästner auf Veranlassung von Jonas Lesser dessen neu erschienenes Buch Thomas Mann in der Epoche seiner Vollendung zugeschickt. Im Buch ist ein Schreiben von Kurt Desch vom 8. Oktober 1952 eingelegt. Ein weiteres Exemplar des Titels erhielt Luiselotte Enderle 14 Tage später nach einem gemeinsamen Nachmittag mit Thomas Mann und von diesem signiert, ebenfalls mit einem Anschreiben von Kurt Desch. In der 1965 bei S. Fischer erschienenen Ausgabe der Briefe 1948–1955 und Nachlese hat er eine Buchbesprechung aus der Weltwoche sowie einen Artikel Zur jüdischen Frage aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Januar 1966 eingelegt. In allen Büchern scheint gelesen worden zu sein. Ein langfristiges und tiefergehendes Interesse Kästners an Thomas Mann, dessen Beschäftigung zeitlebens auch immer wieder Goethe galt, ist hier erkennbar. Darüber hinaus gibt es Bücher fremdsprachiger Autoren in Übersetzungen in der Bandbreite von Aristoteles und Marc Aurel über Shakespeare bis hin zu Dickens, Faulkner, Casanova und Astrid Lindgren.

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Die umfangreichen Werke französischer Autoren, zum Teil in der Originalsprache, so Balzac, Baudelaire, Simone de Beauvoir, Camus, André Gide, Jean Giraudoux, Sartre, lassen sich stets durch handgeschriebenen Besitzvermerk Luiselotte Enderle zuordnen.

2.3 Verlage Einige Verlage sind in Kästners Bibliothek sehr zahlreich vertreten, ohne dass sie auf eine bestimmte Richtung an Titeln oder auf bestimmte Autoren verweisen: Es sind wichtige Verlage dieser Zeit. 239 und damit die meisten Titel sind aus dem Verlag Kiepenheuer und Witsch. Viele Titel stammen aus den Verlagen S. Fischer bzw. Bermann-Fischer, Insel-Verlag bzw. Suhrkamp, Piper-Verlag, Kurt Desch Verlag, Albert Langen bzw. Langen Müller, Rascher, Ullstein, Aufbau-Verlag, DVA, Artemis Verlag, Büchergilde Gutenberg, Kindler-Verlag, Lambert Schneider, Droemer Knaur bzw. Droemer’sche Verlagsanstalt, Paul Zsolnay und Verlag Woldemar Klein mit Kunstbüchern. Vom Rowohlt-Verlag sind 1.692 Titel aus den Jahren 1924–1974 in der Bibliothek, die meisten ab 1949, darunter zahlreiche Bildmonografien. Offenbar hat Kästner hier den umfangreichen Bestand der Rowohlt Taschenbücher vom Verlag bekommen.

2.4 Erscheinungsjahre In der Bibliothek befinden sich Bücher mit Erscheinungsjahren 1748 bis 1991. Bei der vorliegenden Auswertung wurden nur die Bücher bis zu Kästners Tod und damit dem Erscheinungsjahr 1974 berücksichtigt. Aus dem 18. Jahrhundert gibt es vier Titel: Neben Marc Aurel: Erbauliche Betrachtungen (1748) sind aufklärerische Autoren vertreten: Konrad Gottlieb Pfeffel: Gedichte. 4 Bände (1791 bis 1792) sowie Gottlieb Wilhelm Rabener: Satiren, Teil 1 und 2 (1761). Hier hat Kästner handschriftlich das Erscheinungsjahr 1761 ergänzt sowie den Hinweis, dass sich beide Teile in einem Band befinden. 53 Bücher der Bibliothek tragen ein Erscheinungsjahr aus dem 19. Jahrhundert, darunter befinden sich Werke von Heinrich Heine, Theodor Storm und Ludwig Tieck und der älteste Titel: Adolph von Knigge: Über den Umgang mit Menschen, Verlag Franz Haas, 1800 (ein weiteres Exemplar gibt es aus dem Freitag-Verlag, 1946).

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1.450 Bücher erschienen in den Jahren 1900–1945. Vermutlich hat Kästner viele dieser Bücher geschenkt bekommen, viele auch antiquarisch erworben. Etwa 5521 Bücher stammen aus der Zeit nach 1945 bis 1974.

3 Kästners Bibliothek und die Aufklärung: Beispiele In welchem Zusammenhang steht diese Bibliothek Kästners, die sich zum allergrößten Teil erst nach 1945 neu formiert hat, mit der Philosophie der Aufklärung? Welche Werke waren für Kästner von Bedeutung? Hat er sich in München nach den Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus mit den Werten von Toleranz und Freiheit oder den antiaufklärerischen Strömungen noch aktiv beschäftigt? Im Folgenden werden einige Titel näher beschrieben, weniger wertend und ohne inhaltliche Kategorien wie Rationalismus, Empirismus oder Kritizismus zu berücksichtigen. Zum Teil kann eine Deutung nur vermutet werden. Außen vor bleiben dabei die Rowohlt Bildmonographien, die Kästner vermutlich nicht aktiv gesammelt, sondern vom Verlag bekommen hat. Inhaltlich liegt der Schwerpunkt weitestgehend auf literarischen und philosophischen Titeln (Deskriptoren 18. Jahrhundert und Literatur). Im Bereich Geschichte, Kunst sowie in anderen Randgebieten gibt es Einzeltitel zur Aufklärung. In der Sachgruppe 18. Jahrhundert befindet sich ein sehr umfangreicher Bestand zur Aufklärung. Die Herkunft der Bücher lässt sich in verschiedene Gruppen einteilen. Es gibt zahlreiche Titel, die antiquarisch erworben wurden. Teils sind Widmungen, Namen von Vorbesitzenden – so bei Schillers Sämtliche[n] Werken – oder bei Lessings 1857 von Karl Lachmann herausgegebenen Sämmtliche[n] Schriften mit dem Exlibris von Bernhard Hell enthalten. Die Vorbesitzenden stehen mit Kästner nicht im Zusammenhang und es ist schwierig, in diesen Fällen zu erkennen, ob Kästner mit den Büchern gearbeitet hat, da die Gebrauchsspuren von verschiedenen Lesenden stammen können. Zahlreiche Bücher wurden neu gekauft und haben Erscheinungsjahre neueren Datums. Dabei fällt auf, dass viele dieser Bücher ungelesen erscheinen: Versucht man sie aufzuklappen, lassen sie sich kaum öffnen. In den meisten Büchern der Bibliothek steht kein Name, aber vermutlich gibt es eine weitere Gruppe von Titeln, die Kästner womöglich aus seinen Berliner Beständen gerettet und in die neue Bibliothek eingebunden hat. In diesen Büchern hat Kästner tatsächlich seinen Namen vermerkt und es scheint, als habe er dies bei späteren Neuzugängen nicht mehr getan. In Hans Reisigers Band zu Johann Gottfried Herder. Sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Berichten hat Kästner sei-

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nen Namen vermerkt. Bei den Briefen Herders an Caroline (S. 108/109) ist außerdem eine Zeichnung Kästners mit dem Profil eines Mannes in Uniform, neben ihm eine Frau von hinten, von der nur die Umrisse gezeichnet sind, eingelegt. Der Zusammenhang zum Buch ist allerdings unklar. Einige Bücher enthalten eingelegte Briefe oder tragen Widmungen an Erich Kästner. Auch diese Bücher wirken zum Teil ungelesen. Luiselotte Enderles Schwester, Lore Mollier, schenkte Kästner zu Weihnachten 1947 drei Bände von Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik; beide Felix Meiner, 1920, sowie Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Felix Meiner, 1922. 1949 schenkte sie ihm Herders Ideen zur Kulturphilosophie in der Ausgabe vom Insel-Verlag 1911 (»Erich zum 50. Von Lore«). Zum 73. Geburtstag schenkte sie ihm außerdem mit ausführlicher Widmung das von Helmut Sembdner herausgegebene und signierte Buch zu Heinrich von Kleist aus dem Heimeran Verlag »[…] von einem gemeinsamen Freund […]«. Von seinem Vater bekam Kästner zu Weihnachten 1955 mit einer Widmung versehen Goethes im selben Jahr veröffentlichte Römische Elegien aus dem Berliner Verlag der Nation mit den Zeichnungen von Max Schwimmer, welche in den späteren Jahren noch in vielen weiteren Auflagen erschienen. Abraham Gotthelf Kästner: Vermischte Schriften. Verlag Altenburg (Richter), 1783 hatte er mit einem Widmungsgedicht von seinem Freund, dem Regisseur und Schriftsteller Gerhard F. Hering, zum 60. Geburtstag bekommen: »Ein altes Buch, vom Ahn vermacht, aus Trümmerschutt geborgen, dem Freunde dankbar dargebracht, wie gestern – heute; morgen. Für Erich Kästner […] herzlich GFHe«. Alexander Lernet-Holenia schenkte ihm sein Buch Der wahre Werther mit einer Widmung vom 1. Oktober 1959 »Auch Johann Christian Kestners wegen herzlich«. Eine weitere Gruppe von Büchern zeigt, dass Kästner sie für seine Arbeit verwendet hat. Hier finden sich Lesespuren, Unterstreichungen, Notizen und eingelegte Materialien, wie Zeitungsausschnitte oder Notizzettel. In Charles de Brosses: Des Präsidenten de Brosses vertrauliche Briefe aus Italien an seine Freunde in Dijon 1739–1740. Band 1. Georg Müller, 1918, finden sich Anstreichungen sowie ein eingelegter Notizzettel: »De Brosses über Venedig zirka ab I / 135 ff. ›Galeasse‹ […]«. Im Text ab Seite 135 geht es um die Beschreibung venezianischer Gondeln. Es handelt sich hier also mit großer Sicherheit um eines der Werke aus den Kellerkisten. Hatte Kästner diese Passagen in Zusammenhang für das Drehbuch zu Münchhausen angestrichen? Viele Goethe-Titel sind mit Anstreichungen versehen worden. Von Goethes Werken in sechs Bänden ist nur der zweite Band (Insel-Verlag, 1909) vorhanden. In diesem hat Kästner eine Anstreichung gemacht bei der Iphigenie »Nicht herrlich wie die euern, aber nicht unedel sind die Waffen eines Weibes«. In Alphons Nobel: Frau

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von Stein. Societäts-Verlag. 10. Tausend 1939 hat er im Kapitel Liebe zur Iphigenie ebenfalls Unter- und Anstreichungen vorgenommen: »Diese Ur-Iphigenie wurde sogleich aufgeführt, in Weimar […] Es war die berühmte Aufführung, bei der […] Goethe den Orest […] darstellte«. Besonders in der antiquarischen Ausgabe Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Erster Band. Erster Teil. Leipzig: Hesse & Becker, 1901, befinden sich ebenfalls zahlreiche Anstreichungen wie »Ich las zunächst Corneilles Abhandlungen über die drei Einheiten« (S. 83) oder einzelne Wörter wie [Legationsrat] »Moritz«, »Legationsrat«, »Mathematik« oder »Zusammensetzung [einer] Elektrisiermaschine« (verschiedene Seiten). An anderer Stelle (viertes Buch) hat Kästner beispielsweise in Zusammenhang mit der Beschreibung Goethes zum Plan eines Romanprojekts die hierfür wichtigen Sprachen, die im Textverlauf genannt werden, unterstrichen (S. 94 f.). Darüber hinaus ziehen sich die Unterstreichungen durch den ganzen Band. Es ist anzunehmen, dass diese Anstreichungen aus früheren Jahren stammen, dass diese Bücher für Kästner eine wichtige Rolle spielten und aus einer der später geretteten Kisten stammten. Aus dem Insel-Verlag stammt eine Ausgabe der Briefe von Friedrich Schiller. Auf dem Vorsatz hat Kästner alle Seitenzahlen notiert, zu denen er im Buch zwölf Anstreichungen gemacht hat. In diesem Buch befindet sich interessanterweise auf dem hinteren Vorsatz auch ein von Kästner eingetragenes Zugangsdatum »29.1.46«, durch welches sich der Bearbeitungszeitraum eingrenzen lässt. Ebenfalls befinden sich Seitenzahlen am Anfang des Buches und entsprechende Unterstreichungen auf den jeweiligen Seiten in Baltasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, übersetzt von Arthur Schopenhauer, Deutsche Bibliothek, o. J. In einem weiteren Exemplar des Titels aus dem Verlag der internationalen Bibliothek bei Moritz Schauenburg in Lahr, 1949 hat er Notizen zu einem zeitlichen Vergleich »300 Jahre später« gezogen, aufgeführt sind die Lebensdaten Balthasar Graciáns Jan 1601-Dez 1658 und der Geburtsmonat Kästners Februar 1899 sowie die Daten 1618/1914 und 1648/1950. Sie deuten auf die Kriegsdaten des 30-jährigen Krieges und des Ersten Weltkriegs. Unklar ist in dem Zusammenhang die Jahreszahl 1950. In Friedrich Gundolf: Friedrichs des Großen Schrift über die deutsche Literatur, Zürich 1947 von Elisabeth Gundolf herausgegeben, ist vorn eine Seite herausgetrennt, und auf vielen Seiten befinden sich Unterstreichungen einzelner Formulierungen, aber auch Korrekturen und Fragezeichen, was auf eine intensive Auseinandersetzung auch mehr als 20 Jahre nach seiner Dissertation zum selben Werk schließen lässt. Neben Gotthold Ephraim Lessings Werken in zwei Bänden und den Sämtlichen Schriften in 13 Bänden (1853) gibt es mehrere Ausgaben Minna von Barnhelm, Emilia Galotti, Nathan der Weise sowie Freimaurerische Gespräche und Die Erziehung des Menschengeschlechts. Tempel-Verlag, [1910] sowie Lessings Briefe (Hrsg. Julius Pe-

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tersen), 1911. Im ersten Band der Werke – Gedichte und Fabeln – befinden sich Anund Unterstreichungen bei den Abhandlungen über die Fabel. Neben einer Biografie zu Georg Christoph Lichtenberg und Aphorismen. Manesse, 1947, befinden sich Ausgewählte Schriften. Wegweiser-Verlag, o. J. im Bestand. Hier hat Kästner im Vorsatz knapp 80 Hinweise auf Textstellen im Buch gemacht. Am Ende befindet sich außerdem der Vermerk: »Stoffmappe: S. 97«. Die Stoffmappen befinden sich im Marbacher Nachlass. Anmerkungen und Unterstreichungen befinden sich in kleinerem Umfang auch im Band Poetische Versuche Konrad Gottlieb Pfeffels. Wien: F. A. Schrämbl, 1802, sowie Ewald Christian von Kleist: Sämtliche Werke. Philipp Reclam, o. J. Zwei Büchern aus dem 18. Jahrhundert sind Bücherrechnungen beigelegt: 1952 kaufte Kästner vier Bücher über die Buchhandlung und Antiquariat L. Werner in München. Neben Anatole Frances Die Götter dürsten und Fred Ottows Der besessene König kaufte Kästner sich August von Platens Oden sowie Edgar Salins Jakob Burckhardt und Nietzsche. Die Rechnung über 10,40 DM liegt Platens Buch bei. Ein inhaltlicher Zusammenhang der Beschäftigung mit diesen Werken kann vermutet werden. In dem Band Vier Biberacher Vorträge zu Wieland, 1954, ist eine Auftragsbestätigung und Rechnung an Kästner vom 29. Mai 1954 vom Insel-Verlag Wiesbaden eingelegt. Zusammen mit diesem Band hatte Kästner vier weitere Bücher geordert: Erhart Kästners Zeltbuch von Tumilat und Ölberge, Weinberge, Le Forts Tochter Jephthas sowie Timmermans Bauernpsalm. Diese Titel passen nicht zu den Biberacher Vorträgen. Das Buch wurde von Kästner eher noch nachträglich geordert, weil der Titel nicht maschinen- sondern handschriftlich auf der Rechnung eingetragen wurde. Im Band Der Herr geheime Rath. Hundert kleine Geschichten von und um Goethe von Wolfgang Goetz. Berlin: Frundsberg, 1940, hat Kästner das Datum 19. Januar 42 notiert sowie den Hinweis »Von Columbus«. In Adalbert Oehlers Nietzsches Mutter befindet sich ebenfalls das von Kästner notierte Zugangsdatum 19.1.42 und »Von Gottfried von Bouillon«. Bei dem Datum und den historischen Namen handelt es sich vermutlich um eine Verschlüsselung zur Herkunft. Es ist wenig verwunderlich, dass Kästner drei Ausgaben des Münchhausen von Gottfried August Bürger besaß (Ensslin, o. J.) sowie die Ausgabe des Gauverlags von 1944, daneben eine Ausgabe aus dem Aufbau-Verlag, 1951 mit Zeichnungen von Josef Hegenbarth. In Letzterem befinden sich auf dem Vorsatz kleine stenografische Notizen sowie »Pressburger 29. Kitzbühels Grandhotel«. 20 Jahre zuvor, im Januar 1931, war Kästner mit Emmerich Pressburger zu einem Arbeitsaufenthalt nach

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Kitzbühel gereist, um das Drehbuch zu Emil und die Detektive zu schreiben.¹⁵ Bereits im Januar 1929 war Kästner im Grandhotel in Kitzbühel, um seinen zweiten Gedichtband Lärm im Spiegel zu beenden.¹⁶ Der Vollständigkeit halber seien hier weitere in der Bibliothek enthaltenen Bücher genannt, die in Zusammenhang mit der Aufklärung stehen. Diese sind zumeist ohne nennenswerte Lesespuren. Von Immanuel Kant gibt es Einzeltitel, jedoch keine Gesamtausgabe der Werke. Zwei Ausgaben: Zum ewigen Frieden. Limes-Verlag [ca. 1945] und Drei Eulen Verlag, 1946. Dieser Text wurde nach dem Ende des Krieges und im Jahr der Gründung der Vereinten Nationen von verschiedenen Verlagen herausgegeben und es scheint fast selbstverständlich, dass sich dieser Titel in der Bibliothek befindet. Zu Johann Gottfried Herder: Werke, Carl Hanser, 1953. Außerdem: Schriften. Rowohlt, 1968. Von Matthias Claudius befinden sich einige Titel zum Wandsbecker Boten in der Bibliothek: Liebe und Ehe des Wandsbecker Boten, Rascher, 1946. Der Wandsbecker Bote, Manesse, 1947, sowie Asmus omnia sus secum. Cotta’sche, o. J. Außerdem gibt es zwei Titel zu Claudius. Neben diesen umfangreicheren Beständen sind ein paar Einzelwerke zu nennen: Johann Friedrich Hugo von Dalberg: Bittschrift des Papiers an die Gelehrten besonders von teutscher Art und Kunst, 1948. Reprint der Ausgabe von 1789 Schließlich gibt es Einzeltitel von Johann Heinrich Jung-Stilling, Friedrich Gottlieb Klopstock und Georg Forster, jedoch lässt sich vermuten, dass diese Titel keine große Bedeutung für Kästner hatten, da sie zum einen aus dem geschenkten Rowohlt-Bestand stammen und zum anderen mit den Erscheinungsjahren der späten 1960er bzw. frühen 1970er Jahren von Kästner wohl nicht mehr gelesen wurden. Friedrich der Große: die Ausgewählten Werke. Askanischer Verlag, 1916 sowie Die politischen Testamente Askanischer Verlag, 1916. Außerdem die von Johannes Richter herausgegebenen Briefe Friedrich des Großen, 1926. Am Schluss noch ein kleiner Exkurs zu in der Bibliothek enthaltenen Titeln, die sich mit der Aufklärung kritisch auseinandergesetzt haben bzw. von ihr beeinflusst waren. Friedrich Nietzsche spielte bei Kästner eine bedeutende Rolle. Das spiegelt sich auch im Bibliotheksbestand wider. Von ihm gibt es einige Titel: Werke in drei Bänden, 1954, und Der Fall Wagner, 1946. Bemerkenswert sind aber die vielen Titel

15 Vgl. Hanuschek: Leben Erich Kästners (s. Anm. 8), S. 164 f. 16 Zonneveld: Bibliographie (s. Anm. 7), Bd. 1, S. 666.

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zu Nietzsche und seinem Werk aus den Erscheinungsjahren 1900 bis 1952. Diese stammen u. a. von Theodor Lessing, Karl Jaspers, Walter Schubart, Edgar Salin, Alfred von Martin sowie Otto Flake. Den Werken liegen außerdem ein Zeitungsausschnitt zur Ausgabe sowie der Aufsatz Karl Schlechtas Nietzsche und kein Ende bei. Arthur Drewsʼ Nietzsches Philosophie enthält zahlreiche Anstreichungen Kästners. Richard Dehlers Band Nietzsches Briefe, 1917, liegt das Programm eines Abends der Gemeinschaft Deutscher Vortragskünstler der Reichskulturkammer am 1. Dezember 1933 zu Nietzsche bei. Martin Havensteins Nietzsche als Erzieher, Berlin, 1922, ist ungelesen. Die Seiten des Buchblocks sind nicht aufgeschnitten worden. Zu finden sind darüber hinaus August Wilhelm Schlegels Kritische Schriften und Fragmente sowie Horkheimer und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung (1947) sowie einige Sekundärwerke: Axel Eggebrecht: Über das Theater. 1949; Adalbert Elschenbroich: Deutsche Dichtung im 18. Jahrhundert; Gerhard Schimansky: Gottscheds deutsche Bildungsziele. Ost-Europa-Verlag, 1939. Auf eine ausführliche Beschäftigung mit der Kunst lässt sich anhand des Bestandes nicht schließen. Allenfalls erwähnen kann man hier Goya: Handzeichnungen, 1943; sowie Werke zu Goya von Hermann T. Wiemann, Leopold Zahn und Georges Pillement. Interessant ist der Blick auf Frankreich und die französischen Aufklärer. Es gibt acht Bücher von Voltaire, darunter fünf Bände zu Candide sowie Sämtliche Romane und Erzählungen und die Kritischen und satirischen Schriften. Zu finden sind außerdem zwei Bücher von Rousseau (Bekenntnisse aus den Jugendjahren und Der Gesellschaftsvertrag) sowie eine Biografie. Auch von Diderot gibt es zwei Titel (Jakob und sein Herr sowie Wunder der Vorzeit). Beaumarchais’ Figaros Hochzeit ist ebenfalls vorhanden. Außerdem gibt es Duff Coopers Biografie zu Talleyrand. InselVerlag, o. J. Schließlich noch ein kurzer Blick auf England: Jonathan Swifts Gullivers Reisen (Winkler, 1958), dessen Nacherzählung von Kästner 1961 erschien. Unter der Signatur Gesellschaft, Staat, Politik befinden sich viele zeitpolitische Werke der Nachkriegszeit, aber wenige zur Aufklärung. Hier zu nennen ist nur John Locke: Über die Regierung. Nicht vorhanden ist etwa An Essay Concerning Human Understanding (Abhandlung über den menschlichen Verstand).

4 Fazit Zahlreiche Werke in der Bibliothek Kästners lassen auf eine Beschäftigung mit der Aufklärung schließen. Dies ist vor allem im Bereich der Literatur der Fall. Dennoch lässt sich daraus nicht ableiten, dass er sich in seiner Münchener Zeit theoretisch

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und umfassend oder auch in Hinblick auf sein schriftstellerisches Werk noch einmal intensiv und aktiv damit beschäftigt hat. An vielen Stellen wirkt der Bestand zufällig: So sind beispielsweise einige Fabeln (und Werke zu Fabeln) vorhanden, wie die von La Fontaine, es fehlen aber Pfeffels Fabeln oder die von Gellert (von Gellert gibt es gar keinen Titel). Ebenso fehlt Christoph Martin Wielands Agathon oder Gottscheds Sterbender Cato. Interessant ist der recht hohe Bestand an NietzscheTiteln aus verschiedenen Jahrgängen. Er zeigt, dass sich Kästner lebenslang mit ihm beschäftigt hat. Ebenso haben Goethe und in diesem Zusammenhang auch Thomas Mann lebenslang eine wichtige Rolle für Kästner gespielt. Kästners Bibliothek wuchs in München sehr schnell. Er kaufte neu und antiquarisch, bekam aber auch viele Bücher geschenkt. Zahlreiche Provenienzspuren weisen auf Vorbesitzer hin, mit denen Kästner aber in den meisten Fällen nicht in Zusammenhang steht. An vielen Stellen in der überlieferten Bibliothek Kästners gibt es Hinweise auf eine direkte Beschäftigung mit den Autoren der Aufklärung, um eigene Stoffe zu sammeln und anzureichern. Diese Spuren werfen an vielen Punkten Fragen auf und müssten jeweils detaillierter untersucht werden, um die Bezüge zum Werk herstellen zu können. Hier gibt es für die Kästner-Forschung noch viel zu entdecken.

II. Kästner und die Aufklärer: Lessing und Kant

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Erich Kästners Lessing-Rezeption An Lessing werde er »immer wieder […] zum Schwärmer«, hat Kästner bekannt und ihn als »Sachse[n] mit dem feurigen Verstande«, als »Mann mit dem Herzen im Kopf«¹ charakterisiert. Im Essay Das Zeitalter der Empfindlichkeit aus dem Sammelband Die kleine Freiheit erläuterte er Lessings Bedeutung: Die Gesellschaften merken nicht, wenn und wann ihre Konventionen altern. Sie merken’s auch nicht, wenn diese mausetot sind. Und die Repräsentanten der Gemeinschaften? Sie wollen es nicht merken. Sie verteidigen die Totems und Tabus mit Krallen und Klauen, mit Bann und Acht. Jene Männer, die mit dem Finger auf das Welken und Sterben der alten Regeln zeigen und neue, lebendigere Regeln fordern, sind ihre natürlichen Feinde. Luther, Swift, Goya, Voltaire, Lessing, Daumier und Heinrich Heine waren solche Spielverderber. Sie gewannen den Kampf. Aber erst nachdem sie gefallen waren. Von Lessing gibt es ein paar Sätze, die das Spannungsverhältnis zwischen den Wortführern der reaktionären Kräfte und dem Spielverderber, den einzig sein Gewissen treibt, unübertrefflich kennzeichnen. »Ich habe auf kein gewisses System schwören müssen. Mich verbindet nichts, eine andere Sprache als die meinige zu reden. Ich bedauere die ehrlichen Männer, die nicht so glücklich sind, dieses von sich sagen zu können. Aber diese ehrlichen Männer müssen nur andern ehrlichen Männern nicht auch den Strick um die Hörner werfen wollen, mit welchem sie an die Krippe gebunden sind. Sonst hört mein Bedauern auf, und ich kann nichts, als sie verachten.« Solche ehrlichen Männer, die nichts als ihre eigene Sprache reden, sind rarer als vierblättriger Klee. Die Lessings gibt es nicht im Dutzend. Da müssen sich erst Ehrlichkeit, Verstand, Mut, Talent und kaltes Feuer in ein und demselben Menschen mischen, ehe halbwegs ein echter Spielverderber zustande kommt.²

Dieses Bekenntnis mit für Kästner ungewöhnlicher Emphase zeigt einen Grundzug seiner Lessing-Rezeption auf. Sie bleibt lebenslang konstant und richtet sich vor allem auf die Person. Einzelne Werke werden zwar gelegentlich genannt, doch finden sich wenig konkrete Anknüpfungen oder gar Zitate.³ Der einzige direkte

1 Erich Kästner: Die Dramaturgie des Dramas und das Drama der Dramaturgie. Notizen beim Entwerfen eines Theaterstücks. In: Ders.: Vermischte Beiträge. Gesammelte Schriften. Köln 1959, Bd. 5, S. 563–570, hier S. 567. 2 Erich Kästner: Das Zeitalter der Empfindlichkeit. In: Ders.: Wir sind so frei. Chansons, Kabarett, Kleine Prosa. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke. München, Wien 1998, S. 219–222, hier S. 219 f. (= Erich Kästner: Werke. Bd. II). 3 So fühlt sich Kästner als Zuschauer eines Freistilringens an »Lessings Traktat über die Laokoongruppe« erinnert (Erich Kästner: Catch as catch can. In: Ders.: Wir sind so frei (s. Anm. 2), S. 157– 159, hier S. 158) sieht. https://doi.org/10.1515/9783111085081-005

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Rückbezug gilt Lessing Gattungspoetik des Epigramms im Vorwort zu Kurz und bündig. ⁴ Kästners Hochschätzung der lessingschen Werke gilt den Dramen: Emilia Galotti und Nathan der Weise werden zu den »Gipfelerscheinungen deutschen Wesens«⁵ gezählt. Einem Broadway-Import hält er vor, dass in Lessings Nathan der Weise und Die Juden die »Konfessionsfeindschaft« »menschlich[] und männlich[] behandelt«⁶ worden sei; bemerkenswert ist dabei, dass Kästner zwar von Konfessions-, gerade nicht aber von Rassenfeindschaft schreibt. In einem späteren Plädoyer für die Gattung des Lustspiels wird Minna von Barnhelm zu den sechs bedeutenden deutschen Komödien gezählt.⁷ In »Der 35. Mai« spielen Onkel Ringelhuth, Negro Kaballo und Konrad Dichterquartett. Während das Pferd haushoch überlegen ist, erweist sich der Onkel als Fachidiot. »Als Apotheker, der er war, wußte er zwar, was für Krankheiten die Dichter gehabt hatten, und womit sie kuriert worden und woran sie gestorben waren. Aber ihre Romane und Dramen hatte er samt und sonders verschwitzt.«⁸ Ihm fehlt im Quartett ein Lustspiel von Lessing, er weiß nur, dass eins eine Titelheldin hat, die jedenfalls nicht Eva König heißt. Konrad geht zum Bücherregal und greift nach einem dicken Buch, doch sucht er nicht nach der von Ringelhuth erfragten »Minna von Bornholm«, sondern die Südsee, die er im Buch nicht findet. Kästner wendet sich an anderer Stelle kritisch gegen eine Aufführung des Stücks Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt von Luigi Pirandello, dessen Grundidee er mit Lessing kritisiert: »Lessing hat einmal, im Anschluß an kunsttheoretische Vorgänger, die Frage aufgeworfen: ›Soll der Schauspieler bei der Darstellung empfinden oder nicht?‹ Und diese Frage hat den Theaterdirektor Pirandello bewegt.«⁹ Zwei Punkte stören ihn an Pirandellos Stück. Zum einen gehe es darin ausschließlich um Probleme der Schauspielkunst, und es stelle sich die Frage, ob man

4 Erich Kästner: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte. In: Ders.: Werke. Hg. von Harald Hartung in Zusammenarbeit mit Nicola Brinkmann. München, Wien 1998, Bd.1, S. 269 f. 5 Erich Kästner: Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Die Erwiderungen auf seine Schrift »De la littérature allemande«. Stuttgart u. a. 1972, S. 27. 6 Erich Kästner: Berliner Theaterbrief. In: Ders.: Gemischte Gefühle. Literarische Publizistik aus der »Neuen Leipziger Zeitung« 1912–1933. Hg. von Alfred Klein. 2 Bde. Berlin, Weimar 1989, Bd. 2, S. 158–162, hier S. 159. 7 Vgl. Erich Kästner: Die einäugige Literatur. In: Ders.: Wir sind so frei (s. Anm. 2), S. 46–51. 8 Erich Kästner: Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee. In: Ders.: Parole Emil. Romane für Kinder I. Hg. von Franz Josef Görtz in Zusammenarbeit mit Anja Johann. München, Wien 1998, S. 547–619, hier S. 554 (= Erich Kästner: Werke. Bd. VII). 9 Erich Kästner: »Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt«. Pirandellos Theaterstück für Schauspieler. In: Ders.: Gemischte Gefühle (s. Anm. 6), Bd. 2, S. 241–243, hier S. 241.

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das Publikum hinter die Kulissen schauen lassen solle oder nicht. Kästner plädiert dafür, die Illusion nicht anzutasten, weil, und das ist der zweite Punkt, das Stück eine bestimmte Haltung des Schauspielers fordert. Grandiose schauspielerische Leistungen seien vielfach darauf zurückzuführen, dass die Schauspieler »bemüht sind, ihre gefühlsmäßige, seelische Anteilnahme auszuschalten«¹⁰ und also die Frage Lessings verneinen. »In Pirandellos Improvisationsstück erwartet aber der Direktor unausgesetzt die restlose Gefühlshingabe von seinen Darstellern.«¹¹ Anlässlich der Verfilmung seines Erfolgsromans Emil und die Detektive votiert er anders. Kinder »empfinden, was sie spielen, unwiderruflich. Natürlich und leider wird eines Tages die Wiederholung des Gespielten jene Fähigkeit erzeugen, die man kindlichen Schauspielern nicht wünschen sollte und die alles hier Geschriebene über den Haufen werfen wird: nämlich die Routine.«¹²

1 Kästner dürfte schon früh mit Lessing bekannt geworden sein, dessen Minna von Barnhelm zum schulischen Pensum gehörte.¹³ Die Grundsteine seines Lessingbildes – diesen Ausdruck kann man hier mit Recht verwenden – hat sein Studium gelegt. Kästner studierte in Leipzig bei Albert Köster und wollte bekanntlich mit einer Dissertation zu Lessings Hamburgischer Dramaturgie abschließen, die aber nicht zustande kam.¹⁴ »Drei Studentenjahre habe ich damit verbracht«, teilte er später mit. »Die Inflation stellte mir ein Bein und ersparte dem ›jungen Gelehrten‹ und der Schulmeinung viel Verdruß«.¹⁵ Warum genau diese Arbeit nicht zustande kam, hat

10 Ebd. 11 Ebd., S. 242. 12 Erich Kästner: Das Kind als Darsteller. In: Ders.: Gemischte Gefühle (s. Anm. 6), Bd. 2, S. 256–262, hier S. 261 f. 13 Vgl. Carsten Gansel, Birka Siwczyk (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings »Minna von Barnhelm« im Kulturraum Schule (1830–1914). Göttingen 2011. 14 Vgl. Johan Zonneveld: Erich Kästner als Rezensent 1923–1933. Frankfurt a. M. u. a.1991, S. 41 ff.; Franz Josef Görtz, Hans Sarkowicz: Erich Kästner. Eine Biographie. München, Zürich 1998, S. 41 ff.; Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners. München, Wien 1999, S. 74 ff.; Klaus Doderer: Erich Kästner. Lebensphasen – politisches Engagement – literarisches Wirken. Weinheim, München 2002, S. 109 ff.; Fabian Beer: Neues aus der »Anstalt für schwachsinnige Kinder« – Die Alma mater lipsiensis im Zerrspiegel von Erich Kästners Fabian. In: Sebastian Schmideler (Hg.): Erich Kästner – so noch nicht gesehen. Impulse und Perspektiven. Marburg 2012, S. 335–353. 15 Kästner: Dramaturgie des Dramas (s. Anm. 1), S. 567.

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sich nicht mehr rekonstruieren lassen. Teile des Materials sind schließlich in die angefertigte Dissertation eingegangen. Das Thema dieser Arbeit ist bekanntlich Friedrich der Große und die deutsche Literatur. ¹⁶ Kästner lieferte darin eine Deutung der literarhistorisch unbedeutenden Schrift De la littérature allemande und ihrer Rezeption. Im literarischen Geschmack, so fasste er später zusammen, seien in den 1770er Jahren drei Gruppen zu unterscheiden, zum einen die Autoren des Sturm und Drang, zum zweiten die rationalistische Aufklärung, zum dritten eine Geschmacks- aber auch Literatengruppe, die zwischen den beiden Extremen stand. Sie waren nicht mehr von den Franzosen, sondern von den englischen Aufklärern (z. B. Locke und Hume) beeinflußt, und ich habe sie als »sensualistische Aufklärer« firmiert. Diese mittlere Gruppe schien mir deswegen besonders interessant, weil die Leute zwar der »Modernität« zugetan waren, trotzdem aber immer wieder in ihrem Urteil durch ihre Verbundenheit mit der Aufklärung irritiert wurden. Ich habe es in der Arbeit wiederholt etwa so ausgedrückt: daß sie den Hauch, bzw. den Sturm der neuen Literatur spürten und genossen, daß sie aber mit den Füßen noch auf dem Boden der Aufklärung standen und vorwärtsstrebten. Aus dieser Diskrepanz heraus erklärten sich ihre schwankenden Meinungen und Urteile […].¹⁷

Dem liegt eine geschichtsphilosophische Konstruktion zugrunde, die die drei Gruppen in ihrem Verhältnis zum Fortschritt bestimmt. Dieser wurde durch eine »literarische nicht nur, sondern« auch »weltanschauliche Revolution einer kleinen Gruppe«¹⁸ vorangetrieben. Die bedeutendste Figur aus dieser Gruppe ist Lessing, doch mit einer Einschränkung, die sich aus der allgemeinen Entwicklung ergibt. Er gehörte in »die gleiche Strecke Wegs zur Entdeckung der Wirklichkeit, soweit sie von zweckgerichtetem Verstand überhaupt entdeckt zu werden vermochte«,¹⁹ und markiert eine Station in der »fortschreitenden Vertiefung des Geniebegriffs«,²⁰ an der er nicht teilhatte. Was Lessing nicht hatte überwinden können, war seine Verhaftung in der Aufklärung. Im Abschnitt über Justus Möser wird dieses Defizit in organologischer Metaphorik dargelegt: Lessing. – Dieser um fast 10 Jahre Jüngere [als Möser] kämpfte sein Leben lang darum, sich aus dem Boden der Aufklärung herauszureißen; sein Leben lang quälte er sich, seine Einzelkräfte,

16 Vgl. Helmuth Kiesel: Erich Kästner. München 1981, S. 36 ff. sowie die Beiträge von Daniel Fulda und Ulrich Dittmann in diesem Band. 17 An Rudolf Walter Leonhardt, 28.06.1965; Erich Kästner: Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte. Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 453. 18 Kästner: Friedrich (s. Anm. 5), S. 14. 19 Ebd., S. 15. 20 Ebd., S. 13.

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deren jede genial war, zu organischer Wirkung zu vereinigen, daß er mit ihrer Gesamtmacht ein neues Welt- und Glaubens- und Kunstgebäude zimmere. Statt dessen zerrieb eine Kraft die andere, statt dessen rieben die widerspruchsvollen seelischen Kräfte vereint den Menschen selber auf. Lessing rang hoffnungslos um einen Besitz, der Möser mühelos zufiel.²¹

Aus diesem Zusammenhang entwickelt Kästner die Bedeutung der Hamburgischen Dramaturgie. Die Hamburgische Dramaturgie ist trotzdem ein unschätzbares Dokument. Nicht als Neues Gesetzbuch, sondern zum Verständnis Lessings, des Mannes zwischen zwei extremen Epochen. Des Mannes, der aus dem »Nicht mehr« kommt und ins »Noch nicht« marschiert. Des zwiespältigen Kopfes, der neue Klarheit schaffen will und, trotz allen Scharfsinns, Widersprüche produziert. Die Hamburgische Dramaturgie ist die perfekte Materialsammlung für die noch ungeschriebene »Psychologie der Janusköpfe«.²²

Sie bezeichnet den »geschmacklichem Horizont« dieser Gruppe, markiert die Grenze, über die sie nicht hinauskonnte, die wie ihr herausragendster Protagonist von einer »Kompliziertheit und Zwiespältigkeit der Haltung und des Urteils«²³ gekennzeichnet ist. Diese Einordnung Lessings ist keine genuine Entdeckung Kästners, sondern geht auf den Doktorvater Albert Köster zurück. Köster hatte an einem Buch über die Literatur der Aufklärung gearbeitet, das aus dem Nachlass ediert wurde. Im fünften Kapitel des Buches behandelte er ausführlich Lessing, in dem »sich das Schönste, Erhabenste und Edelste« verkörpert habe, »was mit den Mitteln der Aufklärung, mit der Macht des Denkens zu erreichen war, die höchste Steigerung und Läuterung rationalistischen Bestrebens.«²⁴ Weil aber bei ihm ein »einseitiges Überwiegen der Vernunftkräfte«²⁵ vorlag, bezeichnet das seinen Ort in der literarhistorischen Entwicklung: Aber eben aus diesem Grunde mußte er, auch wenn wir ihn als Persönlichkeit wegen seines sieghaften Temperaments ewig wie einen Lebenden und Lebenspendenden ehren, geschichtlich doch eine Übergangserscheinung bleiben: nach seinem Alter und seiner ersten Geistesbildung noch ein Angehöriger einer früheren Generation, durch seine große kritischen Werke ein Vorbereiter für ein neues Zeitalter, in seinen letzten Schriften und ihren Problemen

21 Ebd., S. 32. 22 Kästner: Die Dramaturgie des Dramas (s. Anm. 1), S. 567. 23 Kästner: Dieses Na ja! (s. Anm. 17), S. 453. 24 Albert Köster: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit. Fünf Kapitel aus der Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts mit einem Anhang: Die allgemeinen Tendenzen der Geniebewegung. Heidelberg 1925, S. 157. 25 Ebd.

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ein Moses, der das gelobte Land der Zukunft vor sich liegen sah, ohne es doch betreten zu dürfen.²⁶

Also war Lessing zwar einer der bedeutendsten Dichter, doch leider wirkte er in einer Zeit, die seiner Bedeutung Grenzen setzte. So blieb ihm nur, »erbarmungslos Bahn schaffen« zu müssen »für die berechtigten Wortführer, die Originale der Zukunft.«²⁷ Kästner rezensierte für die Leipziger Zeitung das Buch, in dem Lessing »nie vordem so sicher als Übergangsnatur […] wie hier«²⁸ erfasst worden sei. Kösters Charakteristik Lessings wiederum steht in der Tradition des 19. Jahrhunderts, die Lessing als »Kämpfer«²⁹ verstand. Dem folgt auch die nur angedeutete Parallelisierung Lessings mit Friedrich II., die als die einzigen »Erneuerer im Reich des Geistes«³⁰ und »große Befreier«³¹ zwischen Thomasius und Kant gelten. Kästner hingegen betont den Unterschied: Des Königs geistige Haltung ist ausgesprochen die des rationalistischen Aufklärers. Und jeder Versuch, ihn nach dieser Richtung hin mit Lessing, dem Genie der Überzeugungszeit, in Vergleich bringen zu können, war, sooft er unternommen wurde, unergiebig und sinnwidrig.³²

2 Lessing blieb für den jungen Autor Kästner eine vorbildliche Figur. Aus Anlass des 200. Geburtstages schrieb er für den Montag-Morgen ein Gedicht, das aus seiner Lyrik heraussticht. Es ist eines der wenigen Montag-Morgen-Gedichte, das er in einen Gedichtband aufnahm, es ist eines der wenigen Gedichte, das eine historische Figur feiert, er hat es dreimal in je unterschiedlicher Fassung veröffentlicht. Remo Hug hat darauf hingewiesen, dass es eines von nur zwei Gedichten sei, in denen

26 Ebd., S. 157 f. 27 Ebd., S. 175. 28 Erich Kästner: Köster und Korff. Eine zeitgemässe Betrachtung zur historischen Methodik. In: Ders.: Der Karneval des Kaufmanns. Gesammelte Texte aus der Leipziger Zeit 1912–1927. Hg. von Klaus Schuhmann. Leipzig 2004, S. 213–222, hier S. 218. Vgl. Zonneveld: Kästner als Rezensent (s. Anm. 14), S. 44 f. 29 Köster: Literatur der Aufklärungszeit (s. Anm. 24), S. 186; vgl. Jürgen Schröder: Der »Kämpfer« Lessing. Zur Geschichte einer Metapher im 19. Jahrhundert. In: Herbert G. Göpfert (Hg.): Das Bild Lessings in der Geschichte. Heidelberg 1981, S. 93–114. 30 Köster: Literatur der Aufklärungszeit (s. Anm. 24), S. 149. 31 Ebd., S. 157. 32 Kästner: Friedrich (s. Anm. 5), S. 22.

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Kästner auf »jede Spötterei«³³ verzichtet. Die erste Fassung in der Chronologie der Veröffentlichungen erfolgte in der Neuen Leipziger Zeitung am 20. Januar 1929, die zweite einen Tag später, am 21. Januar, im Montag-Morgen. Diese zweite Fassung ist um eine Strophe länger. Die dritte Fassung nahm Kästner in den Band Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke auf, den er 1936 in der Schweiz herausbrachte. Sie enthält nur mehr vier Strophen. Die Abweichungen der Fassungen bestehen nicht in Varianten einzelner Verse, sondern ausschließlich in einer Auswahl der Strophen. Lessing Das, was er schrieb, war manchmal Dichtung, doch um zu dichten, schrieb er nie. Es gab kein Ziel. Er fand die Richtung. Er war ein Mann und kein Genie. Er lebte in der Zeit der Zöpfe, und er trug selber seinen Zopf. Doch kamen seitdem viele Köpfe und niemals wieder so ein Kopf. Er war ein Mann wie keiner wieder, obwohl er keinen Säbel schwang. Er schlug den Feind mit Worten nieder, und keinen gab’s, den er nicht zwang. Er lachte über die Beschränkten: Da wackelte ihr Horizont! Er war der Sprecher der Bedrängten, und er erschrak vor keiner Front. Er stand allein und kämpfte ehrlich Und schlug der Zeit die Fenster ein.

33 Remo Hug: Gedichte zum Gebrauch. Die Lyrik Erich Kästners: Besichtigung, Beschreibung, Bewertung. Würzburg 2006, S. 104. Es hat Kästner postum Schelte eingebracht: »Auch Harald Hartung scheint bereit, Kästners Verse über Lessing auf den Autor selbst zu beziehen. Es fällt indes schwer, Kästners aalglatte Zungenfertigkeit einem dramatischen Gedicht wie Nathan der Weise, einem Trauerspiel wie Emilia Galotti oder einem Lustspiel wie Minna von Barnhelm gleichzusetzen. Ebenso wenig läßt sich Kästners politisch ambivalentes Verhalten mit der protestantischen Aufklärungsethik Gotthold Ephraim Lessings vergleichen.« (Manfred Jurgensen: Erich Kästners Lyrik. Moral, Ruhm, Witz und Vernunft. In: Erich Kästner Jahrbuch 4 [2004], S. 103–113, hier S. 107). Eher skurril ist Drouves Ansatz, Kästners Wirken am Anspruch des Gedichts zu messen und für gescheitert zu erklären: »Wie wenig Kästner mit wirklichen Aufklärern und konsequenten Streitern des Wortes wie Lessing und Tucholsky zu tun hatte, haben wir in einem Exkurs dargelegt.« (Andreas Drouve: Erich Kästner – Moralist mit doppeltem Boden. Marburg 1993, S. 77; vgl. S. 70 ff.).

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Nichts auf der Welt macht so gefährlich, als tapfer und allein zu sein! Er rang sein Leben lang um Klarheit. Das war sein einziges Programm. Er respektierte nur die Wahrheit und stand vor Kreuz und Thron nicht stramm. Jetzt legen sie sich fast der Quere Und weinen sich die Äuglein rot. Doch wenn er noch am Leben wäre, dann schlügen sie ihn heimlich tot.³⁴

Eingangs- und Schlussstrophe bilden einen Rahmen, in dem die gegenwärtige Perspektive auf Lessing skizziert wird. Der fünfstrophige Mittelteil behandelt seine historische Leistung. Vom Autor Lessing ist nur in den ersten beiden Versen die Rede, die ihn typologisch charakterisieren: Der Chiasmus von Schreiben und Dichten stellt zwei unterschiedliche Ausprägungen heraus, den Dichter und den Schriftsteller. Lessing wird dem zweiten Typus zugeordnet, ohne unter das Deutungsklischee des undichterischen Lessing gestellt zu werden. Dichtung war nicht sein zentrales Ziel, entstand dennoch, gewissermaßen als Nebenprodukt. Die Unterscheidung von Dichter und Schriftsteller ist als literaturtheoretischer Konflikt ein Topos der Weimarer Zeit. Die Charakterisierung als Schriftsteller impliziert eine Aufwertung, denn sie eröffnet eine Vergleichsebene zwischen Lessings Zeit und der Gegenwart, in der Kästner sein Gedicht schreibt. Ungefähr zwei Jahre früher hatte Kästner einen Nachruf auf Rainer Maria Rilke verfasst, in dem er den Dichter für abgetan erklärt hatte: Es gibt keine Dichter mehr; keine Menschen, die, verwandt neben Heiligen und Propheten zu stehen vermöchten; keine Beschwörer des Wortes, die, ungewollt und echt, wie verehrungswürdige Fremde unter uns anderen stehen und wandeln. […] Es gibt nur noch Schriftsteller.³⁵

Die Opposition der beiden Autortypen bezieht sich auf ihr Verhältnis zur jeweiligen Gegenwart. Der Dichter ist weltabgewandt, der Schriftsteller greift in die Welt ein. Dieser Aspekt bestimmt auch Anlass wie Publikationsort: der zweihundertste Geburtstag Lessings wirft die Frage nach seiner Aktualität auf. Das Gedicht ist nicht im angestammten Publikationsmedium der Poesie, dem Gedichtband oder der schön-

34 Erich Kästner: Lessing. In: Ders.: Gemischte Gefühle (s. Anm. 6), Bd. 1, S. 156 f. 35 Erich Kästner: Rainer Maria Rilke †. In: Ders.: Gemischte Gefühle (s. Anm. 6), Bd. 1, S. 97–99, hier S. 98.

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geistigen Literaturzeitschrift gedruckt, sondern im aktualitätsorientierten Medium der Zeitung. Der dritte Vers bringt Bekanntes, er situiert Lessing in einer Übergangszeit, in der er nur eine Übergangsfigur sein konnte, deren Leistung im Finden der Richtung besteht, die der historische Prozess einschlägt. Die »Geniezeit« steht erst noch bevor, der Lessing nicht mehr zugehört. Die Einschaltung in die Kämpfe des Tages ist das tertium comparationis, das Kästner mit Lessing verbindet und den programmatischen Charakter des Gedichts profiliert. Kästner sieht sich ebenfalls als Schriftsteller in einer Übergangszeit.³⁶ Die folgenden fünf jeweils mit »Er« einsetzenden Strophen entfalten Lessings zeitgenössische Wirksamkeit. Das Bild des Kopfes in der zweiten Strophe betont seine Zugehörigkeit zu seiner Epoche, akzentuiert aber zugleich seine herausragende Besonderheit. Der geltenden Mode seiner Zeit entsprechend trug Lessing einen Zopf. Die Assoziation, die sich damit verbindet, ist die des Altmodischen und Unzeitgemäßen, des Abgetanen, des »Verzopften«. Der Zopf ist aber nur ein äußerliches Merkmal, ein Schmuck des Kopfes, der metonymisch für Lessings Bedeutung steht. Sogar in der Reihe der Köpfe, der großen Zeitgenossen ist er eine singuläre Erscheinung. Kästner bezieht sich, was wegen der hohen Gebräuchlichkeit des Wortes nicht auffällt, auf Lessings Sprachgebrauch, der etwa in seiner »Abhandlung über die Fabel« den seinerzeitigen Mangel an »selbstdenkenden Köpfen«³⁷ beklagt hatte. In der pointierten Reimästhetik (Zopf/Kopf, Zöpfe/Köpfe) spielt Kästner seine Virtuosität aus. Das Lob, Lessing sei ein Mann, scheint zunächst zeitüblich, doch gewinnt es durch die Wiederholung zu Beginn der dritten Strophe eine deutlichere Kontur. Den im Gedicht selbst nicht angesprochenen Hintergrund bildet die aus der Dissertation bekannte Kopplung Lessings mit Friedrich dem Großen, die in der Tradition Größe der Macht und Größe des Geistes als Konvergenz versteht, hier jedoch durch die Profilierung Lessings als Opposition gedacht ist. In deutschnationalen und völkischen Kreisen hatte sich seit der Jahrhundertwende eine kritische Sicht auf Lessing gebildet.³⁸ Lessing ist zwar ein Kämpfer, der sich in den Frontkampf mit dem Feind

36 Vgl. Hans-Edwin Friedrich: Expressionismus, Dokumentarismus, Politisierung der Literatur. Kästners Stellungnahmen zur literarischen Moderne vor 1933. In: Silke Becker, Sven Hanuschek (Hg.): Erich Kästner und die Moderne. Marburg 2016, S. 213–234. 37 Gotthold Ephraim Lessing: Gotthold Ephraim Lessings Fabeln. Drei Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts. In: Ders.: Werke. Bd. V: Literaturkritik, Poetik und Philologie. Hg. von Jörg Schönert. München 1973, S. 352–419, hier S. 416. 38 Vgl. Justus H. Ulbricht: »Wer den Kontakt mit dem Volke hat, wird weiterkommen als Lessing«. Propegomena zur Rezeptionsgeschichte Lessings im deutschnational-völkischen Kontext um 1900. In: Wolfgang Albrecht, Richard E. Schade (Hg.): Mit Lessing zur Moderne. Soziokulturelle Wirkungen

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begibt, aber er bedient sich des Wortes, nicht des Säbels, zeichnet sich durch die militärische Tugend der Tapferkeit aus. Die Passage gipfelt in der Versicherung, er habe »vor Kreuz und Thron nicht stramm« gestanden. Die Applikation auf die Gegenwart von 1929 lässt die Stoßrichtung gegen politisch reaktionäre Bestrebungen erkennen, da Kästner auf die wilhelminische Formel Thron und Altar anspielt. Innerhalb der vorausgesetzten Opposition von Geist und Macht, die auf Heinrich Manns berühmten Zola-Essay zurückgeht, entspricht Lessing dem Typus des aufklärerischen Intellektuellen. Er steht allein, doch auf Seiten der »Bedrängten«; seine Wirkung lässt Horizonte wackeln und schlägt die Fenster der Zeit ein, um dem Licht ungehinderten Zutritt zu verschaffen – die Bilder müssen nicht weiter ausbuchstabiert werden. Die vorletzte Strophe resümiert Lessings Programm. Schon die vierte Strophe hatte mit der Betonung des Lachens einen Hinweis auf die Funktion des Humors als Erkenntnismittel gegeben und damit auf die Bedeutung der Satire. Die beiden entscheidenden Stichworte jedoch erscheinen klimaktisch am Ende des Mittelteils: Klarheit und Wahrheit als Leitvorstellungen Lessings, die für den Typus des Schriftstellers maßgeblich bleiben. Die Struktur des Gedichts zielt auf den Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart. Lessing ist ein kanonischer nationaler Klassiker, betrauert von eben jenen, die gegenwärtige Schriftsteller seines Zuschnitts aus dem Weg räumen. Die Qualität von Kästners Gedicht zeigt sich in der Verbindung von klarer, mit elaboriertem Alltagsvokabular formulierter Position und der Verwendung von im öffentlichen Diskurs verbreiteten Ordnungsmustern, die nicht direkt ausgesprochen werden müssen. Die am Folgetag im Morgen veröffentlichte Fassung enthält eine zusätzliche Strophe, die die Balance etwas verschiebt. Sie mildert den schroffen Abschluss wie den appellativen Charakter: Hört ihr sie seinen Namen hauchen? Es beißt nicht mehr, ihr Ideal! Wir könnten ihn so nötig brauchen. Es gab ihn aber nur einmal.³⁹

Lessings Wirksamkeit ist abgestumpft zu einem Ideal, das niemandem mehr wehtut. Die Position, die er in der Gegenwart einnehmen könnte, ist vakant. Angesichts

des Aufklärers um 1900. Kamenz 2004, S. 113–119; Friedrich Vollhardt: Vermächtnis der Aufklärung? Lessing-Rezeption im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Geschichte der Germanistik 45/46 (2014), S. 12–25. 39 Erich Kästner: Lessing. In: Ders.: Montagsgedichte. Berlin, Weimar 1989, S. 65–66, hier S. 66.

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der nahezu parallelen Publikation in den beiden Zeitungen ist nicht davon auszugehen, dass Kästner eine der beiden Fassungen bevorzugte, die appellativ-kämpferische der Leipziger Zeitung oder die resignative des Montag-Morgen. Die Situation ist offen, sie ist ambivalent. Das ist in der dritten Fassung, die in die Lyrische Hausapotheke aufgenommen, gewissermaßen im verlegerischen Exil eines nichtexilierten Autors veröffentlicht wurde, anders. Kästner verändert den Ton seines Gedichts nicht durch Überarbeitung der Verse, sondern lediglich durch die Streichung von Strophen: Das, was er schrieb, war manchmal Dichtung, doch um zu dichten schrieb er nie. Es gab kein Ziel. Er fand die Richtung. Er war ein Mann und kein Genie. Er lebte in der Zeit der Zöpfe, und er trug selber seinen Zopf. Doch kamen seitdem viele Köpfe und niemals wieder so ein Kopf. Er war ein Mann, wie keiner wieder, obwohl er keinen Säbel schwang. Er schlug den Feind mit Worten nieder, und keinen gab’s, den er nicht zwang. Er stand allein und kämpfte ehrlich Und schlug der Zeit die Fenster ein. Nichts auf der Welt macht so gefährlich, als tapfer und allein zu sein!⁴⁰

Die Rahmung entfällt und damit die ursprüngliche Applikation auf die Gegenwart.⁴¹ Sie ist hinfällig geworden. Nach der Konsolidierung des ›Dritten Reiches‹ sind die Monarchisten nicht mehr die Gegner. Ebenso erledigt hatte sich der eingreifende Auftrag des Intellektuellen. Die beiden Schlussverse drücken den neuen Standort aus.

40 Erich Kästner: Lessing. In: Ders.: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte. Hg. von Harald Hartung in Zusammenarbeit mit Nicola Brinkmann. München, Wien 1998, S. 232 f. (= Erich Kästner: Werke. Bd. I). 41 »Dennoch – die beiden Schlußverse des Lessing-Gedichts haben angesichts der im NS-Staat mittlerweile fortgeschrittenen Entmachtung des Individuums spürbar etwas vom Ton der Selbstversicherung, der hypostasierten Mächtigkeit, die man betont, um selbst an sie glauben zu können.« (Dirk Walter: Zeitkritik und Idyllensehnsucht. Erich Kästners Frühwerk [1928–1933] als Beispiel linksbürgerlicher Literatur in der Weimarer Republik. Heidelberg 1977, S. 101). Walters Urteil beruht auf der dritten Fassung.

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3 Im Kontext der Programmatik der 1920er Jahre bewegt sich die vielfach bemerkte, doch bei aller Klarheit auch eher ratlos kommentierte Rolle Lessings im Fabian. Diese Ratlosigkeit speist sich daraus, dass Lessing im Roman weder durch Zitate noch durch Anspielungen präsent ist, aus denen sich weitere Schlüsse hätten ziehen lassen, sondern nur indirekt, als Gegenstand der Forschungen einer Figur. Sven Hanuschek resümiert richtigerweise lapidar, über Labudes »Habilitationsschrift über Lessing« sei »wenig zu erfahren«.⁴² Offenkundig spielt ihr Inhalt für den Roman keine Rolle. Als die Schrift in die Handlung eingeführt wird, hat Labude⁴³ sie bereits abgeschlossen und wartet auf die Begutachtung, die sich in die Länge zieht. Der Geheimrat habe »keine Zeit, sondern Promotionen, Prüfungen,Vorlesungen, Seminare und Senatssitzungen. Bis er meine Habilitationsschrift gelesen hat, habe ich einen kniefreien Vollbart.«⁴⁴ Der Trost, den ihm Fabian spendet, lässt die groben Linien der Arbeit erkennen. »Die Kerle werden sich wundern, wie du aus Lessings Gesammelten Werken das Gehirn und die Denkvorgänge des Mannes rekonstruiert hast, den sie, bis du kamst, als den Logos mit Freilauf dargestellt und noch nie verstanden haben.«⁴⁵ Wie für die Literaturwissenschaft der Zeit typisch, steht der Autor im Zentrum, doch hat Labude Lessing nicht abstrakt (»Logos mit Freilauf«) behandelt, sondern sehr wohl in den historischen Kontext, in die Kämpfe seiner Zeit, eingerückt. Der andere Aspekt, den Fabian herausstellt und der vor allem auf die politische Gegenwart der Figuren zielt, betrifft die Grenzen der Lessing-Kanonisierung. Labude bestätigt: Ich fürchte, sie werden sich zu sehr wundern. Die geweihte Logik eines toten Schriftstellers psychologisch auswerten, Denkfehler entdecken und individuell und als sinnvolle Vorgänge

42 Sven Hanuschek: Der Gang vor die Hunde – die Urfassung des Fabian. In: Erich Kästner: Der Gang vor die Hunde. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2013, S. 275–310, hier S. 288. 43 Zur Labude-Figur, ohne Rekurs auf Lessing, vgl. Egon Schwarz: Erich Kästner: »Fabian. Die Geschichte eines Moralisten«. Fabians Schneckengang im Kreise. In: Romane des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1993, Bd. 1, S. 236–258, hier S. 248 ff.; Walter Delabar: Linke Melancholie? Erich Kästners Fabian. In: Ders.: Was tun? Romane am Ende der Weimarer Republik. Opladen 1999, S. 77–96, hier S. 94 f.; Christina Ernst: Die Figur Stephan Labude als Antagonist. In: Yannic Daleiden u. a. (Hg.): »Fabian« – Erich Kästners melancholisch-sarkastische Neue Sachlichkeit. Literaturwissenschaftliche Analysen und hochschuldidaktische Materialien zur Erwachsenenliteratur und Kinder- und Jugendliteratur. Brey 2018, S. 126–145. 44 Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. In: Ders.: Möblierte Herren. Romane I. Hg. von Beate Pinkerneil. München, Wien 1998, S. 7–203, hier S. 42 (= Erich Kästner: Werke. Bd. III). 45 Ebd.

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behandeln, den Typus des zwischen zwei Zeitaltern schwankenden genialen Menschen an einem längst verkaufsfertigen Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur ärgern werden. Warten wir ab. Lassen wir den ollen Sachsen in Ruhe. Fünf Jahre habe ich diesen Kerl seziert, auseinandergenommen und zusammengesetzt! Auch eine Beschäftigung für einen erwachsenen Menschen, im achtzehnten Jahrhundert wie im Müllkasten herumzufingern! Hol dir ein Glas!⁴⁶

Diese knappe Charakterisierung knüpft an die bereits bekannten Momente von Kästners Lessing-Deutung an: Lessing als Übergangsfigur, schwankend zwischen zwei Zeitaltern, genial, aber nicht der Geniezeit zugehörig. Die Frage der Aktualität des Schriftstellers Lessing ist für Labude zentral, wie die Rede vom Müllkasten zeigt, und aus ihr ergibt sich der Dissens zur Kanonisierung, die hier im Bild der Kommerzialisierung gefasst wird. Labude versteht sich als Intellektueller in der Tradition der Aufklärung, für den Lessing historisches Vorbild und aktuell verbindlichen Typus darstellt. Als Intellektueller ist er »Träger der Gesellschaftsentwürfe«, dessen »Tätigkeitsfeld die symbolische Ordnung der Dinge«⁴⁷ ist. Wenig später gewinnt dieses Selbstverständnis Kontur, als Labude sein politisches Programm entfaltet, das im Wesentlichen den Positionen folgt, die Herbert George Wells in seinem Roman Die Welt des William Clissold dargelegt hat.⁴⁸ Wells steht in der typologischen Tradition Lessings; eine Bemerkung macht die »Erziehbarkeit des Menschengeschlechts«⁴⁹ als dessen Überzeugung aus. Warum tötet sich aber Labude? Auf die Bedeutung dieser Frage hat schon Kästner hingewiesen. Er sei wie der Fabians »äußerlich so wenig gerechtfertigt«, er geschehe »derartig aus Versehen […]: daß man fragen könnte: Gab es denn keine zwingenden Anlässe?«⁵⁰ Dieser Wink mit dem Zaunpfahl deutet auf die Zwei-

46 Ebd., S. 42 f. 47 Georg Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß. In: Sven Hanuschek, Therese Hörnigk, Christine Malende (Hg.): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Tübingen 2000, S. 1–25, hier S. 5; vgl. den knappen historischen Umriss S. 12 ff. 48 Vgl. Kästner: Fabian (s. Anm. 44), S. 68. 49 Ebd., S. 133. 50 Erich Kästner: Fabian und die Kunstrichter. In: Ders.: Möblierte Herren (s. Anm. 44), S. 202d., hier S. 202. Die Lücke schließen möchte Rudloff: »Labude personifiziert in Kästners Roman die Prinzipien von Sprache, Dichtung und Menschenbildung. […] Labude begeht Selbstmord, als er seine humanen Wertvorstellungen als gescheitert ansehen muss. […] Der Literaturwissenschaftler Labude ist, ebenso wie sein intellektuelles Vorbild, der Aufklärer Lessing, eine Personifikation der gescheiterten Aufklärung. Bezeichnenderweise scheitert die Habilitationsschrift über die Aufklärung weder an ihrer Qualität noch an ihren Vorstellungen sondern an den gesellschaftlichen und institutionellen Zwängen. Auch diese repressiven Prinzipien werden allegorisch durch Personifikationen gestaltet: Zum einen durch den bösartigen Assistenten, zum anderen durch einen Uni-

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schichtigkeit des Romans. Auf der Handlungsebene fehlt eine Motivation dieses Selbstmordes; liegt eine Leerstelle vor. Hätte Labude nur seinen Kummer in Alkohol ertränkt oder irgendetwas unternommen, das längere Zeit gedauert hätte, wäre die Lüge des missgünstigen Konkurrenten aufgeflogen. Die Romankonstruktion knirscht an dieser Stelle, doch dieses Knirschen deutet auf eine hinter der Handlung aufschimmernde Frage. Die Lösung wiederum findet sich nicht als simples Resultat, sondern als Aufforderung zur Reflexion, vergleichbar der, Schwimmen zu lernen. Für die Figuren scheint der Grund für den Selbstmord klarer, denn sie rätseln nicht lange. Der Schuldige ist schnell gefunden und wird entlassen. Fabian und der Vater Labudes wiederum halten sich an denjenigen, den sie symbolisch schuldig machen: »Da hängt ja die Todesursache«, sagte der alte Labude und zeigte auf das Lessingporträt. Er nahm das Bild von der Wand, betrachtete es und zerschlug es, ohne jede sichtbare Aufregung, am Schreibtisch. Dann klingelte er. Der Diener erschien. »Kehre den Dreck fort und bringe Heftpflaster«, befahl der Justizrat. Er blutete an der rechten Hand.⁵¹

Die Handlung des Justizrats geschieht eher sachlich als überzeugt, gilt dem Porträt, richtet sich gegen die symbolische Qualität. Doch worin diese Qualität für ihn besteht, bleibt zwar unausgesprochen, lässt sich aber als Zurückweisung des linksliberalen Intellektualismus seines Sohnes verstehen. Deutlicher lässt sich Jakob Fabian dazu ein: Ein Kupferstich hing an der Wand, es war ein Porträt von Lessing. »Sie sind schuld daran«, sagte Fabian zu dem Mann mit dem Zopf und zeigte auf Labude. Aber Gotthold Ephraim Lessing übersah und überhörte den Vorwurf, der ihm, hundertfünfzig Jahre nach seinem Tode, gemacht wurde. Er blickte ernst und höchst charaktervoll geradeaus. Sein breites, bäuerisches Gesicht verzog keine Miene. »Schon gut«, sagte Fabian, drehte dem Freund den Rücken und setzte sich wieder neben den Freund. »Siehst du«, sprach er zu Labude, »das war ein Kerl«, und er wies mit dem Daumen hinter sich. »Der biß zu und kämpfte und schlug mit dem Federhalter um sich, als sei der Gänsekiel ein Schleppsäbel. Der war zum Kämpfen da, du nicht. Der lebte gar nicht seinetwegen, den gab es gar nicht privat, der wollte nichts für sich. Und als er sich doch auf sich besann, als er vom Schicksal Frau und Kind verlangte, da brach alles über ihm zusammen und begrub ihn. Und

versitätsprofessor, der indirekt Labudes Tod mit verschuldet, weil er die Begutachtung der abgegebenen Habilitationsschrift jahrelang verbummelt.« (Holger Rudloff: Warnungen vor Gorillas und Morlocks. Zum Zusammenhang zwischen Erich Kästners Roman »Fabian. Die Geschichte eines Moralisten« und H.G. Wells’ Novel »The Time Machine«. In: Wirkendes Wort 50 [2000], S. 382–396, hier S. 391 ff.). Zumindest die Schuld des Professors ist nicht plausibel, denn von jahrelangem Verbummeln steht im Roman nichts. 51 Kästner: Fabian (s. Anm. 44), S. 165.

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das war in Ordnung. Wer für die anderen da sein will, der muß sich selber fremd bleiben. Er muß wie ein Arzt sein, dessen Wartezimmer Tag und Nacht voller Menschen ist, und einer muß mitten darunter sitzen, der nie an die Reihe kommt und nie darüber klagt: das ist er selber. Hättest du so zu leben vermocht?«⁵²

Fabians Diagnose sieht Labude in der Nachfolge des Kämpfers Lessing. Gescheitert ist er an seiner Persönlichkeit, der die Voraussetzungen für eine solche Existenz fehlten, nicht aber aus politischen Gründen. Die dem Arzt aufgegebene implizite Forderung einer radikalen Verpflichtung auf Altruismus bedeutet, gleichzeitig Arzt und Patient zu sein, jedoch ein Patient, der selbst nicht auf Behandlung hoffen kann. Die abschließende rhetorische Frage ist ein Beispiel für erzählerische Ironie: Fabian ordnet Labude unter die ›Nichtschwimmer‹ ein. Das Projekt der Aufklärung ist nicht gescheitert, sondern virulent geblieben.

4 Die Leitidee, der der Schriftsteller als Intellektueller nach Kästners Vorstellung verpflichtet ist, begegnet schon in der Rezension des Romans Menschen, Göttern gleich von Herbert George Wells, die am 27.9.1927 in der »Neuen Leipziger Zeitung« erschien. Kästner hat Wells noch ein weiteres Mal rezensiert; ein halbes Jahr später lobt er Die Welt des William Clissold, dessen Grundgedanken Labude und Fabian diskutieren:⁵³ Wells schreibt Romane, um die Welt zu verbessern! Deshalb übt er Kritik an der Wirklichkeit und an den herrschenden Idealen. Seine Skepsis ist unerbittlich und nur nach einer Seite hin begrenzt: Er glaubt an seinen Verstand. Und er glaubt an den Sieg des Verstandes überhaupt. Seine Skepsis ist gegenüber der Gegenwart unermüdlich, weil er auf die Zukunft vertraut. Er erwartet vom Heute nichts, vom Morgen alles. Seine Intelligenz hat einen prophetischen Zug. Seine Skepsis wird vom Optimismus beschienen. Seine Kritik ist produktiv. Wells ist mit Gotthold Ephraim Lessing verwandt, der unser kritischster Geist war und trotzdem die »Erziehung des Menschengeschlechtes« schrieb.⁵⁴

52 Ebd., S. 161 f. 53 Vgl. Helmut Lethen: Neue Sachlichkeit. 1924–1933. Studien zur Literatur des »weißen Sozialismus«. Stuttgart 1970, S. 143 ff.; Walter: Zeitkritik (s. Anm. 41), S. 242 f.; Zonneveld: Kästner als Rezensent (s. Anm. 14), S. 122 ff.; Melanie Möllenberg: Eine ausweglose Krise? Gesellschafts- und Zeitkritik in Erich Kästners Roman »Fabian«. In: Erich Kästner Jahrbuch 5 (2008), S. 103–133, hier S. 110 ff. 54 Erich Kästner: Die Revolution von oben. In: Ders.: Gemischte Gefühle (s. Anm. 6), Bd. 1, S. 117–121, hier S. 118 f.

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Wells und Lessing stehen in einem typologischen Zusammenhang; ihre Verbindung ist der der Aufklärung verpflichtete Kampf für die »Erziehung der Menschheit«,⁵⁵ der von einer geschichtsphilosophischen Überzeugung getragen wird.⁵⁶ Kästner leitet daraus die Bedeutung derjenigen ab, die diese Erziehung als praktische Aufgabe betreiben sollen: die Lehrer. Kästners Hochschätzung des Lehrerberufs zeigt eine Forderung im »fliegenden Klassenzimmer«, die einer Nebenfigur in den Mund gelegt wird: »Nein, nein, wir brauchen Menschen als Lehrer und keine zweibeinigen Konservenbüchsen! Wir brauchen Lehrer, die sich entwickeln müssen, wenn sie uns entwickeln wollen.«⁵⁷ Nach dem ›Dritten Reich‹ hat Kästner jeglichen Geschichtsoptimismus verloren.⁵⁸ Im Artikel Talent und Charakter, der am 28. Oktober 1945 in der Neuen Zeitung erschien und mit dem Kästner seine Sammlung Der tägliche Kram eröffnete, bezeichnet er »die Weisheit des alten Sokrates, daß der Mensch nur gescheit und einsichtsvoll genug zu werden brauche, um automatisch tugendhaft zu werden«, als »schülerhaften Köhler- und Künstlerglauben«, den er habe »gründlich […] revidieren«⁵⁹ müssen. Doch hält er an der Wichtigkeit der Erziehung fest, gerade weil auf historischen Fortschritt nicht zu bauen ist. Die »Erziehung der Menschheit« wird zu einem Leitthema der Nachkriegspublizistik Kästners wie seines Engagements für den Pinguin. »Die Lehrer haben im Dritten Reich versagt, weil, vor 1933, die Lehrerbildung versagt hat. Es kann nicht früh genug darauf hingewiesen werden, daß man die Kinder nur dann vernünftig erziehen kann, wenn man zuvor die Lehrer vernünftig erzieht.«⁶⁰ Kästner bleibt bei aller Skepsis der Aufklärung verpflichtet, in deren Dienst er sich stellt: Unser Gast, meine Damen und Herren, ist gar kein Schöngeist, sondern ein Schulmeister! Betrachtet man seine Arbeiten – vom Bilderbuch bis zum verfänglichsten Gedicht – unter diesem Gesichtspunkte, so geht die Rechnung ohne Bruch auf. Er ist ein Moralist. Er ist ein Rationalist. Er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung, spinnefeind der unechten »Tiefe«, die im Lande der Dichter und Denker nie aus der Mode kommt, untertan und zugetan den drei

55 Erich Kästner: Menschen, Göttern gleich. In: Ders.: Gemischte Gefühle (s. Anm. 6), Bd. 1, S. 106– 108, hier S. 108. 56 Zur Wells-Rezeption Kästners vgl. Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht (s. Anm. 14), S. 202 ff.; Doderer: Erich Kästner (s. Anm. 14), S. 121 ff.; Sven Hanuschek: »Wie läßt sich Geist in Tat verwandeln?« – Zu Erich Kästners Politikbegriff. In: Sebastian Schmideler (Hg.): Erich Kästner – so noch nicht gesehen. Impulse und Perspektiven. Marburg 2012, S. 87–99, hier S. 89 ff. 57 Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer. Ein Roman für Kinder. In: Ders.: Parole Emil (s. Anm. 8), S. 41–159, hier S. 99. 58 Vgl. Kiesel: Kästner (s. Anm. 16), S. 7 ff. 59 Erich Kästner: Talent und Charakter. In: Ders.: Wir sind so frei (s. Anm. 2), S. 15–17, hier S. 15. 60 Erich Kästner: Zur Entstehungsgeschichte des Lehrers. In: : Wir sind so frei (s. Anm. 2), S. 75–77, hier S. 76.

Erich Kästners Lessing-Rezeption

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unveräußerlichen Forderungen: nach der Aufrichtigkeit des Empfindens, nach der Klarheit des Denkens und nach der Einfachheit in Wort und Satz.⁶¹

61 Erich Kästner: Kästner über Kästner. In: Kästner: Wir sind so frei (s. Anm. 2), S. 323–328, hier S. 326 f.

Nicole Pasuch

»Völkerbund« versus »Weltrepublik«? Reminiszenzen an Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden in Erich Kästners pazifistischen Positionierungen der späten 1940er Jahre

1 Einführung Als Erich Kästner sich am 26. Mai 1948 in seiner vielzitierten Ansprache vor dem Zürcher PEN-Club selbst als »Moralist«, »Rationalist« und »Urenkel der deutschen Aufklärung« bezeichnete,¹ vollzog er damit weit mehr als nur eine poetologische Standortbestimmung. Mit seinem Ausspruch verortete er sich zugleich in der Traditionslinie einer Epoche, die sich mit ihrer Ausrichtung auf die Vernunft grundlegend von den ideologischen Denkmustern des 20. Jahrhunderts unterschied. Nicht von ungefähr wurden die großen Denker der Aufklärung mit ihrer Berufung auf universelle moralische Werte in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs als ›Prototypen‹ des Intellektuellen gehandelt² – und auch Kästner inszenierte sich, wenn er seine Bekanntheit und sein Prestige als Schriftsteller nutze, um die politische, gesellschaftliche und kulturelle Lage seiner Zeit zu kommentieren, bewusst in diesem vorherrschenden Idealbild. Wie das Gedankengut der Aufklärung Kästners politische Positionierungen nach 1945 geprägt hat, will der vorliegenden Beitrag – exemplarisch – am Beispiel dreier pazifistisch ausgerichteter Texte beleuchten, die der Autor in den späten 1940er Jahren veröffentlichte: Den Glossen Das Märchen von der Vernunft und Stimmen von der Galerie und der politischen Parabel Die Konferenz der Tiere. ³ Gemein ist diesen Werken, dass in ihnen Reminiszenzen an einen Argumentationsgang anklingen, den Immanuel Kant in seiner Altersschrift Zum ewigen Frieden darlegte. Eine Verbindung zu dieser Abhandlung stellte Kästner am Ende der 1960er 1 Erich Kästner: Kästner über Kästner. In: Ders.: Wir sind so frei. Chansons, Kabarett, Kleine Prosa. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke. München, Wien 1998, S. 323–328, hier S. 326 (= Erich Kästner: Werke. Bd. II). 2 Vgl. dazu Dietz Bering: Die Epoche der Intellektuellen 1898–2001. Geburt – Begriff – Grabmal. Berlin 22011, S. 260 f. und S. 310 f. 3 Der vorliegende Beitrag greift damit einen Argumentationsstrang aus der Dissertationsschrift der Verfasserin auf. Siehe Nicole Pasuch: Erich Kästner als Intellektueller nach dem Zweiten Weltkrieg. Zeitdiagnosen und politische Interventionen. Berlin, Boston 2023 (= Erich Kästner Studien, Bd. 7). https://doi.org/10.1515/9783111085081-006

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Jahre selbst her: Anlässlich der Verfilmung seiner Konferenz der Tiere durch Curt Linda merkte der Schriftsteller an, dass das Ziel, das seine Figuren im Laufe der Handlung verfolgen, »Kants ›Ewigem Frieden‹ nicht unähnlich«⁴ sei. Vor diesem Hintergrund soll der Blick im Folgenden zunächst, im Rückgriff auf die Forschungserkenntnisse Otfried Höffes, auf Kants Schrift als solche gelenkt werden. Im Anschluss daran wird aufgezeigt, inwiefern ein bestimmter, darin vorzufindender Argumentationsgang des Philosophen nicht nur Bedeutung für politische Debatten in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs im Allgemeinen hatte, sondern sich implizit auch in den oben genannten pazifistischen Texten Kästners niederschlug.

2 Kants Schrift Zum ewigen Frieden Als Kant seine Abhandlung Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf im September des Jahres 1795 veröffentlicht, ist der Philosoph bereits 71 Jahre alt und weit über die Grenzen Königsbergs hinaus hochangesehen. Seinen Weltruhm als politischer Denker wird er jedoch ebendieser späten Schrift verdanken. Kant befasst sich darin, in Anlehnung an den wenige Monate zuvor geschlossenen Baseler Frieden, mit den Möglichkeitsbedingungen eines dauerhaften »Frieden[s] unter Staaten«.⁵ Dabei macht er den – bis dahin theologisch geprägten – Terminus des Friedens erstmals zu einem staats- bzw. rechtsphilosophischen Grundbegriff.⁶ Wie aber ließe sich ein »ewiger« (ergo: nicht bloß auf einem unter Vorbehalt vereinbarten Waffenstillstand basierender) Frieden zwischen Staaten sichern? Laut Kant: in der »positiven Idee einer Weltrepublik«.⁷ Im Zweiten Definitivartikel seiner Schrift, der sich dem internationalen Frieden widmet, gibt der Philosoph zu verstehen, dass er sich eine solche Weltrepublik als einen »Völkerstaat« vorstellt, »der zuletzt alle Völker dieser Erde befassen würde«.⁸ Bei der Gründung eines derartigen Völkerstaates müssten alle Einzelstaaten sich dazu bereit erklären, sich bis zu einem gewissen Maße einer gemeinsamen Gesetzgebung zu unterwerfen und damit auf einen Teil ihrer Souveränität zu ver-

4 Erich Kästner: Affen führen keine Kriege. In: Abendzeitung, 24.12.1969. 5 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Ders.: Zum ewigen Frieden und Auszüge aus der Rechtslehre. Kommentar von Oliver Eberl und Peter Nielsen. Berlin 2011. S. 6–76, hier S. 18. 6 Otfried Höffe: »Königliche Völker«. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie. Frankfurt a. M. 2001, S. 165. 7 Kant: Zum ewigen Frieden (s. Anm. 5), S. 29. 8 Ebd.

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zichten.⁹ Vereinfacht könnte man zusammenfassen: Wenn alle Staaten Teil einer Weltrepublik würden, für die es eine Reihe verbindlicher Gesetze gäbe, bestünde weder die Notwendigkeit, noch eine rechtliche Grundlage, um sich gegenseitig zu bekriegen. In der Theorie ein durchaus einleuchtender Gedanke – doch schon Kant selbst zweifelte an der praktischen Umsetzbarkeit seiner Überlegung, denn er mutmaßte, dass die Völker der Erde einen solchen Völkerstaat »nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen«¹⁰ würden. Eine Bereitschaft der Staaten, sich auf die Gründung einer Weltrepublik einzulassen, hielt er folglich nicht für gegeben. Aus dieser Problematik heraus generierte er in seiner Abhandlung eine zweite Idee, die den Staaten ihre Souveränität und ihre jeweils eigene Gesetzgebung belassen würde: die Idee eines »Völkerbund[es]«,¹¹ der – als eine freie Assoziation von Einzelstaaten – dazu verhelfen könnte, interstaatlicher Friedensbeziehungen zu regeln. Im Gegensatz zu einer »Weltrepublik« hätte ein solcher »Völkerbund« Kant zufolge allerdings keinerlei Staatscharakter und könnte somit auch keine für alle involvierten Staaten verbindliche Rechtssicherheit gewährleisten.¹² Daraus, dass er von seiner eigenen Idee des Völkerbundes im Hinblick auf die Erlangung eines ewigen Friedens nicht vollends befriedigt war, machte der Philosoph in seiner Schrift keinen Hehl: Er stellte den Völkerbund als »negative[s] Surrogat«¹³ der Weltrepublik gegenüber. Wenngleich Kants Konzept nicht nur den 1920 gegründeten, gleichnamigen Völkerbund, sondern auch »einen wesentlichen Teil der Theoriegeschichte« der Vereinten Nationen entscheidend beeinflussen sollte,¹⁴ bewarb er selbst die Völkerbundidee also lediglich als »zweitbesten Weg«, wodurch »[d]as Ideal des Weltfriedens«, mit Otfried Höffe gesprochen, »an visionärer Kraft erheblich ein[büßte][.] [A]n die Stelle des Hoffnung weckenden großen Entwurfs« trat »die halbherzige Lösung.«¹⁵

9 Vgl. dazu Otfried Höffe: Völkerbund oder Weltrepublik? In: Ders. (Hg.): Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Berlin 32011, S. 77–93, hier S. 86. 10 Kant: Zum ewigen Frieden (s. Anm. 5), S. 29. 11 Vgl. ebd., S. 25. 12 Vgl. dazu auch Höffe: Völkerbund oder Weltrepublik? (s. Anm. 9), S. 85 f. 13 Kant: Zum ewigen Frieden (s. Anm. 5), S. 29. 14 Höffe: Völkerbund oder Weltrepublik? (s. Anm. 9), S. 80. 15 Ebd., S. 90.

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3 Die Rolle des Völkerbund- und Weltrepublik-Gedankens nach dem Zweiten Weltkrieg Inwiefern nun spielt dieses Spannungsverhältnis zwischen einem realisierbaren, in seiner friedenssichernden Wirkkraft aber begrenzten Völkerbund und einer – zumindest in der Theorie – den ewigen Frieden gewährleistenden Weltrepublik eine Rolle für die pazifistischen Überlegungen Kästners in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs? Zunächst einmal ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die Sehnsucht nach einem dauerhaften Frieden unmittelbar nach dem Kriegsende nicht nur bei Kästner, sondern auch beim Gros seiner Landsleute enorm groß war. Wenn es in der Bevölkerung zu dieser Zeit »einen unstrittigen Grundkonsens gab, dann war es«, so Hans-Ulrich Wehler in seiner Deutsche[n] Gesellschaftsgeschichte, »die Überzeugung, daß kein Deutscher je wieder Soldat werden wollte, daß Aufrüstung, geschweige denn Kriegseinsatz nie wieder bejaht werden würde.«¹⁶ Gleichwohl stand die Hoffnung auf einen ›ewigen‹ Frieden von Anfang an unter einem schlechten Stern: Ungeachtet der gemeinsamen Beschlüsse, die die Siegermächte während der Potsdamer Konferenz zwischen dem 17. Juli und 2. August 1945 fällten, war ihr Zweckbündnis zur Vernichtung des NS-Regimes zu diesem Zeitpunkt bereits labil geworden und es herrschte Misstrauen unter den ehemaligen Partnern.¹⁷ Zeitgleich wurden die USA zur weltweit ersten atomaren Macht.¹⁸ Wie sich mit Edgar Wolfrum rekapitulieren lässt, hingen bereits zu dieser Zeit »die ersten dunklen Wolken des aufziehenden Kalten Krieges in der Luft« und nur wenig später sollten »die USA und die Sowjetunion ihre gegensätzlichen politischen Vorstellungen und die daraus resultierenden Machtansprüche […] auf der ganzen Welt [austragen]«.¹⁹ Die ideologischen, wirtschaftlichen und territorialen Konfliktlinien zwischen den Großmächten traten nicht nur im Rahmen der im September 1945 einsetzenden Außenministerkonferenzen zu Tage, deren zentrale Aufgabe es nach den Potsdamer Vereinbarungen eigentlich hätte sein sollen, einen Friedensvertrag mit

16 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band: Bundesrepublik und DDR 1949–1990. München 2008, S. 17. 17 Vgl. Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2007, S. 25 f. 18 Vgl. ebd., S. 26. 19 Ebd., S. 24 u. 97.

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Deutschland vorzubereiten. Ihre Diskrepanzen prägten auch die Geschichte der – ebenfalls 1945 ins Leben gerufenen – Vereinten Nationen respektive United Nations Organisation, kurz: der UNO. Nachdem der 1920 gegründete Völkerbund mit dem Scheitern seiner friedenssichernden Wirkkraft im Zweiten Weltkrieg »praktisch bedeutungslos«²⁰ geworden war, verschrieb sich die Organisation im Geiste des kantischen Völkerbundgedankens gemäß ihrer Charta der Sicherung des Friedens und der internationalen Sicherheit. Allerdings wurde der Sicherheitsrat der UNO, als deren Hauptorgan, in dem die ehemaligen Alliierten eine entscheidende Machtposition innehatten, durch den Ost-West-Konflikt auf eine harte Probe gestellt. Die politischen und ideologischen Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten beeinflussten alsbald sämtliche Debatten und Verhandlungen zwischen den Mitgliedern und machten ein konstruktives Arbeiten im Sinne der Charta immens schwierig.²¹ In Arbeitsbereichen, die keine direkten partikularen Interessen der einzelnen Mächte betrafen, erzielten die Vereinten Nationen zwar kaum zu unterschätzende Erfolge – man denke vor allem an die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« vom 10. Dezember 1948. Ihre friedenssichernde Funktion kam während des Kalten Krieges jedoch »praktisch zum Erliegen«.²² Aus ebendiesem Grund war die UNO schon in den ersten Jahren ihres Bestehens massiver öffentlicher Kritik ausgesetzt.²³ Bemerkenswert ist, dass gerade als das Konstrukt der frei assoziierten Einzelstaaten in seiner friedensstiftenden Absicht erneut an seine Grenzen kam, zunehmend Ideen kursierten, die (im weitesten Sinne) Kants divergierendem Konzept einer Weltrepublik, zuzuordnen sind. So forderten in den deutschen Besatzungszonen, aber auch in den Ländern der Siegermächte bereits seit dem ersten Nachkriegsjahr zusehends mehr Friedensaktivisten und pazifistische Gruppierungen die Gründung eines »Weltstaat[es]« mit einer einzigen Weltregierung.²⁴

20 Günther Unser, Michaela Wimmer: Die Vereinten Nationen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Bonn 1995, S. 27. 21 Vgl. ebd., S. 37–43. 22 Ebd., S. 37. 23 Vgl. etwa Hans Riesser: Die Vereinten Nationen als Friedensinstrument. In: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hg.): 10 Jahre Vereinte Nationen von 1945 bis 1955. Deutschland und die Vereinten Nationen. Frankfurt a. M. 1956, S. 278–284, hier S. 279. 24 Siehe dazu auch Erich Kästner: Der Mond auf der Schulbank. In: Ders.: Wir sind so frei. Chansons, Kabarett, Kleine Prosa. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke. München, Wien 1998, S. 60–66 (= Erich Kästner: Werke. Bd. II).

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4 Anklänge an »Völkerbund« und »Weltrepublik« in Texten Kästners Die schon Kants Schrift innewohnende und in den Debatten nach 1945 wieder aufblitzende Divergenz zwischen den Konstrukten »Völkerbund« und »Weltrepublik« und der ebenfalls bereits von Kant gehegte Zweifel an der praktischen Wirkkraft eines Völkerbundes trieb auch Kästner um. Inwiefern sich beides – und nicht zuletzt auch Kästners Wissen über die Epoche und das Gedankengut der Aufklärung – in seinen Texten der späten 1940er Jahre niederschlug, soll nun aufgezeigt werden. Der erste Beitrag, der in diesem Kontext Beachtung verdient, wurde am 14. März 1948 in der Neuen Zeitung veröffentlicht und beginnt, in grimmscher Manier, mit den Worten »Es war einmal«:²⁵ Das Märchen von der Vernunft. Ein Spannungsverhältnis impliziert – nicht zuletzt auf literaturhistorischer Ebene – bereits der Titel des Textes; immerhin treffen in ihm eine der populärsten Textsorten der Romantik und das höchste Gut der Aufklärung jäh aufeinander. Das auf diese Weise erzeugte Irritationsmoment setzt sich bei der weiteren Lektüre fort. Nach seinem formelhaften Einstieg wartet der Erzähler nämlich keineswegs mit märchentypischem Figureninventar auf, sondern stellt er einen »nette[n] alte[n] Herr[n]« ins Zentrum, der »die Unart [hat], sich ab und zu vernünftige Dinge auszudenken« und sie »Fachleuten vorzutragen«.²⁶ Auch die Begebenheit, von der im Weiteren berichtet wird, ist auf gänzlich andere Weise ›wundersam‹ als traditionelle Genremerkmale des Märchens dies vermuten lassen: Der alte Herr sucht eine Sitzung auf, »an der die wichtigsten Staatsmänner der Erde teil[nehmen], um, wie verlautete, die irdischen Zwiste und Nöte aus der Welt zu schaffen.«²⁷ Zwar gibt es für die Anwesenden »keine ärgere Qual als die, […] einem vernünftigen Vorschlag zu lauschen«, da »die Vernunft […] das Schwierige in einer Weise [vereinfacht], die den Männern vom Fach nicht geheuer und somit ungeheuerlich erscheinen muß.«²⁸ Dennoch hören sie dem Alten, da er »reich und […] angesehen« ist, »gequält lächelnd« zu.²⁹ In seiner Ansprache, in der er ausmalt, was geschehen könne, wenn »die Vernunft regierte«, verkündet er, eine Lösung für das

25 Erich Kästner: Das Märchen von der Vernunft. In: Ders.: Wir sind so frei Chansons, Kabarett, Kleine Prosa. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke. München, Wien 1998, S. 160–162, hier S. 160 (= Erich Kästner: Werke. Bd. II). 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd.

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von ihnen postulierte Ziel gefunden zu haben, den »Völkern Ruhe und Frieden zu sichern« und damit zur »Zufriedenheit aller Erdbewohner« beizutragen.³⁰ Seiner Überlegung nach sollen alle der zahlreich vertretenen Staaten, aufgeschlüsselt nach ihrem Vermögen, einen Geldbetrag zur Verfügung stellen.Von der auf diesem Wege zusammengetragenen Summe gelte es nicht nur, jede Familie in jedem Land zu beschenken. Es sei auch »in jedem Ort der Erde, der mehr als fünftausend Einwohner zählt, eine neue Schule und ein modernes Krankenhaus [zu] bauen«.³¹ Schon bei der Lektüre dieses Vorschlags wird erkennbar, dass der Held des Textes von einem weit gefassten Friedensbegriff ausgeht, der es nicht bei der bloßen Vereinbarung eines Waffenstillstands belässt. Stattdessen denkt er potentielle Ursachen gewaltsamer Konflikte wie soziale Ungerechtigkeit mit,³² betont er doch, dass er »vernünftig genug« sei, »um einzusehen, daß der Frieden zwischen den Völkern zuerst von der äußeren Zufriedenheit der Menschen abhängt.«³³ Märchenuntypisch endet die ›Bewährungsprobe‹, auf die der alte Herr sich mit seinem Besuch der Sitzung einlässt, jedoch weder mit seiner Belohnung noch mit dem Sieg des Guten: Als die ohnehin schon unwilligen Staatshäupter erfahren, dass sich die Gesamtkosten zur Umsetzung des Vorschlags auf eine Billion Dollar belaufen würden, reagieren sie zunächst ungehalten. Nachdem der Alte verteidigend dargelegt hat, dass »der letzte Krieg« ebenso viel gekostet habe und offen fragt, warum »ein langer Frieden nicht dasselbe wert sein« sollte, brechen sie in »ein rechtes Höllengelächter« aus: »Ein Krieg«, so lassen sie ihn wissen, sei »doch etwas ganz anderes!«³⁴ Die Kritikpunkte, die Kästners Glosse erhebt, sind offensichtlich: Ausgerechnet jene Politiker, die bei ihrer Zusammenkunft offiziell mit der Friedenssicherung betraut sind, lassen sich nicht – im Geiste der Aufklärung – von der Vernunft als oberster Handlungsmaxime leiten. Vielmehr zeigen sie sich durch monetäre Erwägungen korrumpiert. Ihr primäres Interesse gilt nicht der Prävention von Kriegen, geschweige denn der Zufriedenheit der Menschheit, für die sie sich, qua ihres Amtes, gemeinsam verantwortlich fühlen sollten. Zwar gibt Kästner im Nachsatz seines Textes an, Figuren und Handlung, im Gegensatz zu den Kosten des letzten Krieges, »völlig frei erfunden« zu haben.³⁵ Gleichwohl liegt der Bezug zur inter-

30 Ebd. 31 Ebd., S. 161. 32 Vgl. zu dieser Begriffsverwendung auch Andreas Buro: [Art.] Friedensbewegung. In: Roland Roth, Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt a. M., New York 2008, S. 267–291, hier S. 268. 33 Kästner: Das Märchen von der Vernunft (s. Anm. 25), S. 161. 34 Ebd., S. 162. 35 Ebd.

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nationalen Friedenspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. zu den ergebnislosen Versuchen einer langfristigen Friedenssicherung durch die Vertreter der beteiligten Staaten auf der Hand. Die Vermutung, dass Kästner die zur Entstehungszeit seines Textes verbreiteten Vorbehalte gegenüber der friedenssichernden Funktion der UNO teilte und auch Das Märchen von der Vernunft als impliziter Seitenhieb auf deren Arbeit zu verstehen ist, verstärkt sich bei der Betrachtung einer Glosse, die der Schriftsteller einige Monate später veröffentlichte. Der im Januar 1949 im Pinguin abgedruckte Text nimmt unter der Überschrift Stimmen von der Galerie ³⁶ Bezug auf eine öffentliche Protestaktion des gebürtigen US-Amerikaners und Friedensaktivisten Garry Davis. Nicht anders als viele seiner Zeitgenossen ging der ehemalige Bomberpilot davon aus, dass nur die Gründung eines Weltstaates dauerhaft einen Weltfrieden ermöglichen könne. Getrieben von dieser Annahme hatte er bereits im Frühjahr 1948 die amerikanische Botschaft in Paris aufgesucht, um seinen Pass – und mit ihm: seine bisherige Staatsbürgerschaft – ab- respektive aufzugeben. Bald darauf kampierte er auf dem UN-Gelände der französischen Hauptstadt und erklärte sich Journalisten gegenüber zum ersten ›Weltbürger‹. Mit einer Reihe von Anhängern seiner Idee versuchte er schließlich am 19. November 1948 von der Zuschauergalerie aus die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Palais de Chaillot zu unterbrechen, um vor laufenden Kameras die Gründung einer pazifistischen ›Weltregierung‹ zu fordern. Doch Davis’ Plan wurde vereitelt: Mit Polizeigewalt entfernte man ihn und seine Mitstreiter vor den Augen der UN-Delegierten aus dem Saal.³⁷ Liest man Kästners Glosse, die diesen gescheiterten politischen Interventionsversuch zum Gegenstand hat, dann fällt als Erstes die Erzählhaltung auf, mit der das Ereignis geschildert wird. Der Sprecher nimmt nämlich zunächst – ironisierend – eine ebenso despektierliche Haltung gegenüber ›Störenfrieden‹ der UN-Konferenz ein, wie Kästner sie den fiktiven Staatshäuptern gegenüber dem vernünftigen alten Herrn in seinem Märchen von der Vernunft andichtete. So wird von der Protestaktion als einem »seltsamen Zwischenfall« berichtet, der von »einigen Tribünen-

36 Erich Kästner: Stimmen von der Galerie. In: Ders.: Wir sind so frei. Chansons, Kabarett, Kleine Prosa. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke. München, Wien 1998, S. 202– 204 (= Erich Kästner: Werke. Bd. II). 37 Vgl. weiterführend Gabi Schlag u. Benno Wenz: Schafft den Nationalstaat ab! Wie Weltkriegspilot Garry Davis nach 1945 die Weltbürgerbewegung erfand. [Manuskript des Rundfunkbeitrags vom 30.11. 2016]. Online unter http://www.deutschlandfunkkultur.de/weltbuergerbewegung-schafftden-nationalstaat .976.de.html?dram:artic le_id=372644 (18.01. 2022), vgl. auch [anonym]: Im Namen der Völker. In: Der Spiegel 14/1949. Online unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44436042.html (18.1. 2022).

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besuchern […] [,] [a]lso von nichtsnutzigen Müßiggängern« angezettelt wurde, »die von der Galerie aus den weisen Baumeistern des Weltstaates zusahen und zuhörten und die dann […] gegen alle Regeln der Geschäftsordnung in die Debatte eingriffen.«³⁸ »Merkwürdig an dem Vorfall« sei »natürlich nicht« die Tatsache gewesen, dass Davis und die übrigen »Weltfriedensstörer« verhaftet und abgeführt wurden: »Wer demonstriert, stört. Wer stört, wird von den Hütern der Ordnung ein bißchen eingesperrt. Es gehört zu den Spielregeln.«³⁹ Als »[m]erkwürdig« weist der Text es, im Gegensatz dazu, aus, dass »in dem Saale, in dem über Weltstaat, Weltfrieden und Weltpolizei diskutiert wurde, Menschen demonstrieren, die genau den gleichen Zielen entgegeneifern.«⁴⁰ Bei diesem (scheinbaren) Paradoxon angelangt, nimmt der Beitrag eine entscheidende Wendung, die Kästners eigentliche Haltung zu dem Geschehnis erkennbar macht. So geht er zu einer Verteidigung von Davis und seinen Mitstreitern über, indem er den Motiven nachspürt, aus denen heraus sie den regulären Ablauf der Konferenz behinderten. Es sei den Intervenierenden nicht um »die Ziele«, sondern um »die Methoden« der UNO gegangen,⁴¹ konstatiert er, bevor er, neben dem kosmopolitischen Ideal der selbsternannten ›Weltbürger‹, verschiedene politisch-militärische Wegmarken des Ost-West-Konflikts wie die atomare Bewaffnung, den Chinesischen Bürgerkrieg und die Berlin-Blockade aufgreift, die die Vereinten Nationen vor dem Hintergrund der unterschiedlichen ideologischen bzw. nationalstaatlichen Interessen ihrer Mitglieder bis dahin nicht verhindert respektive gestoppt hatten: »Es ist ein Skandal, wie hier gearbeitet wird!« schrien sie [die Demonstrierenden, Anm. d. Verf.], und dachten dabei an die krampfhaften Anstrengungen der Diplomaten, die Souveränität ihrer Staaten zu erhalten, statt sie im Interesse der »Vereinten Nationen« schrittweise aufzugeben. Sie dachten an das spitzfindige Getue um die Atombombe. Sie dachten an die Friedensschalmeien auf den Konferenzen und die Wiederaufrüstung in den Ländern. […] Sie dachten an das chinesische Volk. Sie dachten an die Berliner Bevölkerung.⁴²

Gegen Ende seiner Glosse kommt Kästner schließlich auf Davis’ wachsende Anhängerschar zu sprechen und berichtet in diesem Zuge, dass sich auch in Deutschland erste Gruppierungen von ›Weltbürgern‹ bilden, die sich für den Fall sämtlicher Staatsgrenzen einsetzen.⁴³ »Noch werden die Rufer«, so fasst er zu-

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Kästner: Stimmen von der Galerie (s. Anm. 36), S. 202. Ebd., S. 202 f. Ebd., S. 203. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 203 f.

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sammen, »als Demonstranten verhaftet und als Sektierer belächelt. Das müsste nicht so bleiben. Die Zahl der Stimmen entscheidet.«⁴⁴ Diesen idealistisch anmutenden Zeilen folgt allerdings unversehens eine nahezu melancholisch anmutende Bemerkung, denn der Autor ergänzt: »Viele Millionen Bewohner eines Landes, das uns sehr am Herzen liegt, könnten sich zum Weltbürgertum bekennen. Sie brauchten nicht einmal ihre Pässe zu zerreißen. Sie haben nämlich keine.«⁴⁵ Mit dieser Pointe steht die Glosse beispielhaft für eine Diskrepanz, die bereits Klaus Doderer hervorhob, als er Kästners Befürwortung eines »One-World-Gesellschaftskonstrukt[es]« dessen »emotionale[r] Bindung an die Idee […] der Zusammengehörigkeit aller guten Menschen aus Deutschland« gegenüberstellte.⁴⁶ Trotz seiner eigenen Vorbehalte gegenüber der UNO und seiner grundsätzlichen Sympathien für die davissche Idee erklärte sich Kästner selbst nicht zum Weltbürger. Innerhalb der Fiktion hatte er die Idee einer Weltrepublik zu diesem Zeitpunkt allerdings längst Wirklichkeit werden lassen – in einer bereits im Winter 1947/48 verfassten (wenn auch erst Ende 1949 publizierten) Erzählung, die er auf Anregung und unter Mitarbeit von Jella Lepman konzipiert hatte und die er, wie zu Beginn dieses Beitrags erwähnt, explizit selbst mit Kants Schrift Zum ewigen Frieden in Verbindung brachte: Die Konferenz der Tiere. ⁴⁷ Dass die politische Parabel, in der sich Tiere aus allen Ländern der Erde aus Sorge um die Zukunft der Menschenkinder zu einem Bündnis zusammenschließen und schließlich mit einer List den Weltfrieden erzwingen, sowohl Anspielungen auf die Arbeitsweise der UNO als auch auf die ihnen zugrunde liegende Völkerbund-Idee Kants birgt, wurde in der Forschung schon mehrfach erwähnt.⁴⁸ Inwiefern der Völkerbund- und der Weltrepublik-Gedanke in der Erzählung jedoch in Opposition zueinander stehen, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Die Parallele zwischen dem Zusammenschluss der Tiere und dem Konstrukt des Völkerbundes bzw. der Vereinten Nationen wird bereits zu Beginn der Erzählung deutlich. Nachdem die Tiere angesichts des Scheiterns der menschlichen

44 Ebd., S. 204. 45 Ebd. 46 Klaus Doderer: Erich Kästners »Silberne Zeit«. In: Ders., Volker Ladenthin (Hg.): Erich Kästner Jahrbuch 1999. Eitorf 2000, S. 141–160, hier S. 155. 47 Erich Kästner: Die Konferenz der Tiere. In: Ders.: Eintritt frei! Kinder die Hälfte! Romane für Kinder II. Hg. von Franz Josef Görtz in Zusammenarbeit mit Anja Johann. München, Wien 1998, S. 255–316 (= Erich Kästner: Werke. Bd. VIII). 48 Vgl. etwa Doderer: Erich Kästners »Silberne Zeit« (s. Anm. 46), S. 155 und Sebastian Schmideler: »Vom Zweibeiner bis zum Tausendfüßler«. Tierdarstellungen im Werk Erich Kästners. Ein Bestarium. In: Ders. (Hg.): Erich Kästner – so noch nicht gesehen. Impulse und Perspektiven. Marburg 2012, S. 205–243, hier S. 243 (= Erich Kästner Studien, Bd. 1).

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Friedenspolitik übereingekommen sind, dass »etwas geschehen«⁴⁹ müsse, bereiten sie sich mit größter politischer Ernsthaftigkeit auf die von ihnen anberaumte Konferenz vor. In diesem Zuge wählt weltweit »jede Art und Gattung« einen Delegierten, der sie auf der gemeinsam ins Leben gerufenen Versammlung vertreten soll.⁵⁰ Eine weitere Parallele zu den Vereinten Nationen, die – zumindest den erwachsenen – zeitgenössischen Leser*innen aufgefallen sein dürfte, wird bei der Beschreibung des Ortes offenkundig, den die Tiere zur Durchführung ihrer Konferenz aufsuchen. Die Darstellung des »Hochhaus[es] der Tiere«⁵¹ lässt sich nämlich durchaus als Spitze auf die Repräsentation der UNO begreifen. Diese manifestierte sich in der Entstehungszeit des kästnerschen Textes unter anderem im medialen Rummel, der um den Bau des Hauptquartiers der Organisation in New York betrieben wurde.⁵² Während der entstehende UN-Sitz als »einer der modernsten Gebäudekomplexe der Welt«⁵³ beworben wurde, führt Kästner das »Hochhaus der Tiere« in seiner Erzählung als das »bestimmt […] merkwürdigste und vielleicht […] größte Gebäude der Welt«⁵⁴ ein. In der Innovativität seiner Ausstattung steht es dem Hauptquartier der UNO (das geplantermaßen das 39-stöckige Sekretariatshochhaus, den Tagungsort der Generalversammlung und das Konferenzgebäude umfassen sollte), wie mit satirischen Mitteln verdeutlicht wird, um nichts nach: Es verfügt nicht nur über einen eigenen Hafen und Flugplatz, sondern enthält unter anderem auch das Hauptpostamt für Brieftauben, […] ein Institut zur Förderung begabter Affen, ein Konservatorium für Singvögel, eine Technische Hochschule für Spinnen, Biber und Ameisen, […]

49 Kästner: Die Konferenz der Tiere (s. Anm. 47), S. 261. 50 Ebd., S. 270. 51 Ebd., S. 265. 52 Zwar erfolgte die Grundsteinlegung des von der Rockefeller-Familie finanzierten Gebäudekomplexes erst am 24. Oktober 1949. Als Kästner, Jella Lepman und Luiselotte Enderle den Plot der Konferenz der Tiere entwickelten, waren international renommierte Architekten allerdings schon seit längerer Zeit dabei, das Hauptquartier der Vereinten Nationen zu entwerfen, worüber wiederum die internationale Presse rege berichtete. Es ist zu vermuten, dass auch der seit 1947 in Kanada lebende Illustrator Walter Trier die Entwürfe aus Zeitungsmeldungen kannte: Seine Zeichnung des »Hochhauses der Tiere« weist eine frappierende Ähnlichkeit zu dem letztlich entstandenen UN-Sekretariatshochhaus am East River auf. Vgl. Kästner: Die Konferenz der Tiere (s. Anm. 47), S. 280. 53 Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hg.): 10 Jahre Vereinte Nationen von 1945 bis 1955. Deutschland und die Vereinten Nationen. Frankfurt a. M. 1956, Abbildung o. S. 54 Kästner: Die Konferenz der Tiere (s. Anm. 47), S. 280.

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Konzertsäle, Schwimmbassins, Speisesäle für Fleischfresser, Speisesäle für Pflanzenfresser, Aufenthaltsräume für Wiederkäuer und vieles, vieles mehr.⁵⁵

Gleichwohl liegt das Hauptaugenmerk der Tiere im weiteren Handlungsverlauf, anders als Kästner es der UNO zu unterstellen schien, weniger auf ihrer Repräsentation über Statussymbole als auf den politischen Zielen, die sie in ihrem Hochhaus in Angriff nehmen wollen. Während sich die fiktiven »Staatshäupter, Staatspräsidenten, Ministerpräsidenten und ihr[e] Ratgeber« – in Anspielung auf die zahlreichen ergebnislosen Außenminister- und UN-Konferenzen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – zu ihrer »siebenundachtzigste[n]«⁵⁶ Versammlung einfinden, eröffnen die »Tierdelegierten« ihre planmäßig »erst[e] und letzt[e]« Konferenz.⁵⁷ Bereits an dieser Stelle wird eine entscheidende Diskrepanz zum Völkerbund als einer fest etablierten Einrichtung (und damit zugleich zur Organisation der Vereinten Nationen) deutlich: das Tierbündnis ist zwar auf die Durchsetzung eines ewigen Friedens hin ausgerichtet, aber offensichtlich nicht als langfristige Institution zur Friedenssicherung angelegt. Dass der Frieden, den die Tiere fokussieren, von Anfang an mit einem kosmopolitischen Ideal verknüpft ist, deutet sich bereits auf der Anreise zu ihrem Versammlungsort an. Jene Tiere, die nicht fliegen oder schwimmen können, sondern mit der Eisenbahn fahren, haben es »am schwersten« ihr Ziel zu erreichen: Denn die Erde und die Kontinente sind ja bekanntlich in viele, viele Reiche und Länder eingeteilt, und überall waren Schranken heruntergelassen, und überall standen uniformierte Beamte und machten böse Gesichter. »Was haben Sie zu verzollen?« fragten die uniformierten Beamten. »Zeigen Sie sofort Ihre Pässe!« sagten sie. »Haben Sie ein Ausreisevisum?« »Haben Sie ein Einreisevisum?«⁵⁸

Die Unterteilung der Erde in Staaten, die nicht jedem offenstehen, sondern deren Grenzen akribisch bewacht werden, wird folglich schon an dieser Stelle der Erzählung höchst negativ bewertet. Zudem erfolgt eine erste, punktuelle Intervention in die bestehende Ordnung: die unfreundlichen Grenzbeamten werden von den Tieren davongejagt.⁵⁹ Der weitere Verlauf der Handlung lebt von seiner kontrastierenden Darstellung der tierischen Konferenz und der menschlichen Konferenzen, er integriert allerdings auch das kosmopolitische Ideal der Tiere. In seiner Eröffnungsansprache der 55 56 57 58 59

Ebd., S. 280 f. Ebd. Ebd., S. 291. Ebd., S. 278. Vgl. ebd.

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Versammlung fordert der als Redner fungierende Eisbär Paul, um »den Kindern der Menschen zu helfen«,⁶⁰ nicht nur, »dass es nie wieder Krieg, Not und Revolution geben darf«.⁶¹ Er proklamiert auch, im Namen aller Anwesenden, expressis verbis das »[E]nde der [S]taatsidee«.⁶² In diesem Zuge verlangt er von den Menschen, »das wichtigste Hindernis, das es gibt, zu überspringen: nämlich die Grenzen zwischen ihren Ländern. Die Schranken müssen fallen.«⁶³ Mit diesem Postulat, das Kästner seinem tierischen Helden in den Mund respektive ins Maul legt, greift er augenfällig die Forderungen jener Zeitgenossen auf, die davon ausgingen, dass die Weiterexistenz von souveränen Nationalstaaten einen Weltfrieden dauerhaft unmöglich machen würde. In jener Akzentuierung weist die Idee sogar noch über Kants Vorstellung einer Weltrepublik hinaus, denn eine solche war für den Philosophen nicht konstitutiv mit einer Auflösung der beteiligten Einzelstaaten verbunden.⁶⁴ Freilich reagieren die fiktiven Staatsmänner, die die Ansprachen der Tiere via Konferenzschaltung mitverfolgen, ebenso ablehnend auf deren Forderungen, wie Kant es den Staaten im 18. Jahrhundert in Bezug auf die Gründung einer Weltrepublik unterstellte: Sie weigern sich, auf die Forderungen einzugehen. Es folgen drei ›Maßnahmen‹ vonseiten der Tiere, die Kästner selbst retrospektiv als »etwas außerhalb der Legalität«⁶⁵ stehend charakterisierte. Die Zerstörung der menschlichen Akten und der Uniformen, die nach dem Urteil der Tiere der menschlichen »Vernunft« – also der zentralen (Handlungs‐)Maxime der Aufklärung – »im Wege [stehen]«⁶⁶ bringt die Staatsleute nicht zur Besinnung. Erst die Entführung der Menschenkinder, die den Interventionen wider den Bürokratismus und Militarismus folgt, erweist sich als zielführend. Die Vereinbarung, die letztlich alle Staatsmänner unterzeichnen, liest sich nicht von ungefähr wie »eine utopische UN-Charta«.⁶⁷ Bezeichnend ist, dass der Vertrag, der sich zugleich als Konglomerat sämtlicher pazifistischen Ideale Kästners begreifen lässt, direkt in seinem ersten Paragraphen – und damit noch vor der Abschaffung des »Militär[s] und alle[r] Schuß- und Sprengwaffen«⁶⁸ – die Beseitigung »alle[r] Grenzpfähle und Grenzwachen«⁶⁹ einfordert. Und ebendieser Schritt 60 Ebd., S. 294. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 295. 63 Ebd. 64 Vgl. dazu Höffe: Völkerbund oder Weltrepublik? (s. Anm. 9), S. 85 f. 65 Kästner: Affen führen keine Kriege (s. Anm. 4). 66 Kästner: Die Konferenz der Tiere (s. Anm. 47), S. 299 u. S. 303. 67 Rüdiger Steinlein: Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende. In: Reiner Wild (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart, Weimar 32008, S. 312–342, hier S. 321. 68 Kästner: Die Konferenz der Tiere (s. Anm. 47), S. 314. 69 Ebd.

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ist es auch, der mit dem Inkrafttreten des Vertrages den Beginn der ›eigentlichen‹ Friedensutopie ebnet: [A]ls die Eltern hörten, die Kinder kämen zurück, sobald alle Grenzpfähle beseitigt wären, liefen sie im Dauerlauf an die Grenzen und sägten sämtliche Pfähle und Barrieren kurz und klein. Wo früher die Sperren gewesen waren, errichteten sie Blumenpforten und zogen Girlanden. Sogar die Polizei half tüchtig mit. Und nun gab es kein Hüben und Drüben mehr, und alle schüttelten einander die Hände.⁷⁰

Der ›ewige Frieden‹ wird also just mit dem Verzicht der Nationalstaaten auf ihre Souveränität und der Bekräftigung der für alle Menschen geltenden Bestimmungen erreicht. Weitere Friedenskonferenzen werden, wie das Ende der Erzählung verdeutlicht, hinfällig. Das Konzept des Völkerbundes, das für Kant im Vergleich zur Weltrepublik ein »negatives Surrogat«⁷¹ war, nutzen Kästners tierische Helden folglich produktiv als sprichwörtliches ›Mittel zum Zweck‹ der Friedenssicherung, das mit der Erlangung des kosmopolitischen Ideals obsolet wird. Was weder Kant noch Kästner den Menschen respektive Staaten realiter zutrauten, hat auf diese Weise zumindest innerhalb der Fiktion seine Verwirklichung gefunden.

70 Ebd., S. 315. 71 Kant: Zum ewigen Frieden (s. Anm. 5), S. 29.

III. Aufklärung in Publizistik und Kabarett

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Die Erziehung der Zuschauer Kästner-Publizistik zwischen 1923 und 1933

1 Einleitung – Kästners erstes Schaffensjahrzehnt und die Aufklärung Erich Kästners Studium an der Universität Leipzig ging nahtlos in eine Tätigkeit als Journalist und Feuilletonredakteur über, kurz unterbrochen von der Verteidigung seiner Dissertation 1925. Zwischen 1923 und 1933 verfasste er hunderte Rezensionen und Kritiken zu Theaterstücken, Filmen und literarischen Werken sowie Reiseberichte und Zeitbilder; die meisten Texte erschienen zwischen 1927 und 1933 parallel zur frühen Lyrik (Herz auf Taille, 1928) und den ersten Kinderbüchern (Emil und die Detektive, 1929). Kästner brachte Artikel im Leipziger Tageblatt, in der Vossischen Zeitung, der Weltbühne, und im Berliner Tageblatt unter, überwiegend jedoch arbeitete er in dieser Zeit bereits von Berlin aus für die linksdemokratische Neue Leipziger Zeitung als Kulturkorrespondent und Theaterkritiker. Vornehmlich unterrichtete er die Leipziger Leserschaft über das Kulturgeschehen in der pulsierenden Hauptstadt der jungen Weimarer Republik und verstand sich dabei als Führer durch die Vergnügungsmetropole und auch als Vermittler der neuesten Entwicklungen in Kunst und Kultur. Berlin galt schon damals als der Nabel der Welt, Leipzig dagegen eher als dessen Vorort; die Redaktion setzte bei den sächsischen Lesern wohl ein grundsätzliches Interesse an den neuesten Hauptstadt-Moden voraus.¹ In den Berliner Jahren ging Kästner fast jeden Abend ins Theater und er hatte dabei die Qual der Wahl.² Der Großraum Berlin, dessen Einwohnerzahl Kästner im Jahr 1928 mit 4 Millionen angibt, hatte 30 Bühnen zu bieten, darunter staatliche und städtische Theater und auch Privatbühnen und Kellertheater.³ Die Konkurrenz

1 Vgl. grundlegend zur Publizistik: Johan Zonneveld: Erich Kästner als Rezensent 1923–1933. Frankfurt 1991. 2 Erich Kästner: Gemischte Gefühle. Literarische Publizistik aus der Neuen Leipziger Zeitung 1923– 1933. Hg. von Alfred Klein. 2 Bde. Berlin, Weimar 1989, im Folgenden abgekürzt GG 1 und GG 2. Hier: GG 2: Berliner Theaterbrief, 13. Januar 1929, S. 158. 3 GG 2: Ein Berliner Theaterjahr, 14. August 1928 (s. Anm. 2), S. 114 f. Vgl. auch GG 2: Vom Geschäftstheater zum Theatergeschäft, 13. Februar 1929 (s. Anm. 2), S. 163. https://doi.org/10.1515/9783111085081-007

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zwischen den Spielstätten – darunter so berühmte Berliner Häuser wie das Schillertheater, das Lessingtheater, das Renaissance-Theater, die Volksbühne, Deutsches Theater – war gewaltig und der Bedarf an Kritikern entsprechend hoch. Dass Kästner vor allem Theaterkritiken schrieb, ist nicht nur seiner Vorliebe für die Gattung geschuldet, sondern auch dem Überangebot und nicht zuletzt der gesellschaftlichen Bedeutung, die dem Theater damals zugeschrieben wurde – auch dies ein Erbe der Aufklärungsepoche. Als Filmkritiker begleitete Kästner den enormen Zuwachs der Kinos in diesem Jahrzehnt, doch noch bestimmte das Theater und nicht das Kino die Event-Kultur der Hauptstadt. Im Berliner Theaterbericht von 1929 bekennt er: »Ich liebe den Beruf des kritischen Theaterbesuchers wirklich auf beinahe schändliche Weise«, weil man die »Hand am Puls der Zeit habe«, man stelle »Diagnosen« fast wie ein Arzt, und schlage gelegentlich »Mittel« vor.⁴ Dass die journalistischen Texte Kästners bis heute nicht vollständig erfasst und veröffentlicht wurden, zeigt, dass dieser Werkabteilung von der Forschung vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zu Teil wurde. Der im Rahmen der Werkausgabe von Hans Sarkowicz und Franz Josef Görtz herausgegebene Band Splitter und Balken enthält eine Auswahl journalistischer Texte.⁵ Die noch zu DDR-Zeiten von Alfred Klein beim Berliner Aufbau-Verlag herausgegebene zweibändige Ausgabe mit dem Titel »Gemischte Gefühle. Literarische Publizistik aus der Neuen Leipziger Zeitung 1923–1933« hat allerdings noch deutlich mehr Texte zu bieten.⁶ Bereits Alfred Klein betont im Nachwort, dass sich Kästner als Urenkel der deutschen Aufklärer, als Moralist und Schulmeister verstand, was bereits in der frühen Publizistik zu erkennen sei.⁷ Auf eine ausführliche Schilderung der für das Thema Kästner und die Aufklärung relevanten Studienjahre (1919–1921) beziehungsweise Studieninhalte, weitestgehend auch der Lessing-Rezeption und seiner Dissertation zu Friedrich dem Großen, muss an dieser Stelle verzichtet werden; ich verweise hierfür auf die Beiträge von Daniel Fulda, Ulrich Dittmann und Hans-Edwin Friedrich in diesem Band.⁸ Da Kästners Verständnis von Aufklärung so, wie es sich in den frühen 4 GG 2: Berliner Theaterbrief, 13. Januar 1929 (s. Anm. 2), S. 158. 5 Erich Kästner: Splitter und Balken: Publizistik. Hg. von Hans Sarkowicz u. Franz Josef Görtz. München 1998. 6 Vgl. Fußnote 2; der zweite Band enthält fast ausschließlich Theaterkritiken, wobei Theater auch Kabarett, Revue und Ähnliches umfasst. In den Band »Vermischte Beiträge« (Ausgabe Gesammelte Schriften) hat Kästner seine Arbeiten für die Neue Leipziger Zeitung nicht aufgenommen. 7 Vgl. GG 2: Nachwort von Alfred Klein (s. Anm. 2), S. 351. 8 Weitere wichtige Beiträge zum Thema: Stefan Neuhaus: Erich Kästner zwischen Literatur und Journalismus. Konzeptuelle Gemeinsamkeiten der Weltbühnen-Beiträge bis 1933. In: Stefanie Oswalt (Hg.): Die Weltbühne. Zur Tradition und Kontinuität demokratischer Publizistik. Dokumentation der Tagung »Wieder gilt: Der Feind steht rechts!«. Im Auftrag der Kurt Tucholsky-Gesellschaft. St. Ing-

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journalistischen Arbeiten präsentiert, durch die Studienzeit beziehungsweise die Aufklärungsforschung der 1920er Jahre geprägt war und somit nicht unabhängig vom wissenschaftshistorischen Kontext betrachtet werden kann, sind einige knappe, einordnende Anmerkungen hierzu jedoch unerlässlich. Kästners Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Theaterwissenschaft umfasste den Besuch von Vorlesungen zur Aufklärung und insbesondere auch zu Theater und Drama in dieser Epoche. Themen der mündlichen Promotionsprüfung bei Professor Georg Witkowski waren unter anderem: die Gattung Drama um 1870 (Lessing, Schiller); die Philosophie von Descartes und Kant; der Absolutismus in Preußen im 17. und 18. Jahrhundert.⁹ Sein erster Doktorvater, Professor Albert Köster, war Mitbegründer der germanistischen Theatergeschichte und Verfasser des als einschlägig geltenden Lehrwerks Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit (1925). Kösters spezifisches Verständnis der Aufklärung, das in einigen Punkten von der heutigen Sicht auf die Epoche und deren Grenzen abweicht, lernte Kästner wahrscheinlich in dessen Vorlesungen kennen. Kösters Schwerpunkt waren die Dramen von Gottsched, Lessing und Schiller, allerdings ordnete er, und mit ihm auch Kästner, die beiden Letzteren nicht der ›reinen‹, nämlich am Primat des Rationalismus orientierten Aufklärung zu, sondern dem »irrationalen Kultursystem«, das sich ab 1870 durchzusetzen begann – so jedenfalls formuliert es Kästner selbst im Fazit seiner Dissertation, in der sich Grundzüge seines an Köster orientierten Verständnisses von Aufklärung ablesen lassen.¹⁰ Dass Kästner tatsächlich den Rationalismus als Kern der Aufklärung ansah, deutet sich an einigen wenigen Stellen auch in den journalistischen Texten an, besonders eindeutig in einer Kritik zur Aufführung einer sowjetischen Kabarettgruppe (ein Gastspiel auf Piscators Bühne). Das erkennbare Ziel des Stückes, repräsentativ für das kommunistische System, sei die »Ausrottung des Gestrigen, der Tradition, der ›russischen Seele‹; Einweisung des Fortschritts, des Rationalismus, der Sachlichkeit. In Rußland hat, scheint es, ein großes Zeitalter der Aufklärung

bert 2003, S. 85–98; sowie Fabian Beer: Ein »Urenkel der deutschen Aufklärung«, dem Schillers »Glocke« geschlagen hat. In: Artur Nickel, Matthias Nicolai (Hg.): Erich Kästner Jahrbuch 7 (2012), S. 13–58. 9 Kästner »legte sein literaturhistorisches Thema nicht nur eine paradigmatische Version der obligatorischen Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Aufklärung, Sturm und Drang und Klassik hin an, sondern beschäftigte sich zugleich mit der Aktualität der für dies Etappen charakterlichen geistig-literarischen Haltungen.« (GG 2: Vorwort von Alfred Klein [s. Anm. 2], S. 357) Die Quelle, sicherlich die Promotionsakte, auf die sich diese Einschätzung stützt, führt Klein allerdings nicht an. 10 Erich Kästner: Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Die Erwiderungen auf seine Schrift ›De la littérature allemande‹. Stuttgart 1972, S. 98. Zur Dissertation sowie Köster und Kästner vgl. den Beitrag von Daniel Fulda in diesem Band.

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begonnen. Diese Wendung hat auch ihre Nachteile.«¹¹ Das ist eindeutig negativ konnotiert; die russische Seele steht für das Irrationale, das Gefühl, das im Rahmen der »Fortschrittshudelei« durch sowjetische Propaganda beseitigt werden soll; das Sowjetsystem wird mit rationalistischer Aufklärung verglichen, die Kästner hier parallelisiert mit der »Mechanisierung des Lebens« und einer »Verherrlichung des Armeegedankens«.¹² Kästners Einschätzung der Epochengrenzen in der Dissertation verläuft allerdings schwankend, beziehungsweise tut er sich schwer, klare Epochengrenzen festzulegen. Einerseits schreibt er, dass das irrationale Kultursystem (nach seinem Verständnis Lessing, noch mehr aber Schiller / Sturm und Drang) dem rationalen Kultursystem der Aufklärung »nachfolgte«, es also ablöste; andererseits herrsche die Aufklärung »trotz subtilster Annährungen an die irrationale Welt […] weiter […]. Eine Annährung an jene andre, irrationale, individuale, lebendige Welt des Gefühls ist menschlich verständlich und historisch notwendig, aber weltanschaulich zwecklos; ohne Sinn, ohne Ergebnis und ohne Hoffnung.«¹³ Alfred Klein kommentiert diesen Satz wie folgt: »Was er als aktivierbar ansah, war […] ganz offensichtlich der Versuch zu einer dialektischen Synthese zwischen Rationalismus der Aufklärung [der von Kästner ob ihrer Einseitigkeit kritisierten Frühaufklärung, S.W.] und dem ›Irrationalismus‹ des Sturm und Drang«.¹⁴ Im Hintergrund blitzt in der Dissertation ein ganzheitliches Ideal auf, als dessen Verkörperung Kästner Lessing als Figur des Übergangs ansah; hierfür sprechen Kästners Randbemer-

11 GG 2: Blaue Bluse, 12. Oktober 1927 (s. Anm. 2), S. 21. 12 Ebd. Höchst aktuell wirkt Kästners Frage: »Aber kann der Anhänger des Friedensgedankens applaudieren, wenn für Krieg und Volksheer gut und leidenschaftlich geturnt wird? Darf er es tun, ohne von den Russen falsch verstanden zu werden?« (Ebd.) Interessant ist Kästners Kritik an den Pazifischen im Publikum, die zu dieser Propagandashow klatschen, auch im Hinblick auf dessen pazifistische Haltung in der Nachkriegszeit, vgl. hierzu den Beitrag von Nicole Pasuch in diesem Band. 13 Kästner: Friedrich der Große (s. Anm. 10), S. 98 f. 14 GG 2: Nachwort von Alfred Klein (s. Anm. 2), S. 358. Die Entdeckung eines Irrationalismus in Lessings Werken gilt als Etappe der Rezeptionsgeschichte des Aufklärers im frühen 20. Jahrhundert. Monica Fick zitiert aus einem Festvortrag zu Lessings 200. Geburtstag 1929, den auch Kästner mit einem (Lob‐)Gedicht würdigte, des Halleschen Literaturhistorikers Ferdinand Josef Schneider. Dieser bemerkte schon damals, der »Klassiker der Aufklärung« werde aktuell als »Übergangsfigur« zwischen Aufklärung und »Irrationalismus« neu perspektiviert, was er am Vorkommen von Begriffen wie Herz und Gefühl festmacht. Bereits von Schneider wird das Verhältnis von Rationalem und Irrationalem/Metaphysischem als Modethema der Dekade ausgewiesen (als Echo von Nietzsche, Schopenhauer, Freud etc.). Ob Lessing ein Sohn oder eher Überwinder der Aufklärung war, wird also bereits von der historischen Lessing-Forschung diskutiert (Monica Fick: Herold des Idealismus – Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Dies.: Lessing Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 3 2010, S. 6).

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kungen zu Lessing, der als »schwankend« eingestuft wird, was ihn auch für andere »Übergangsnaturen« attraktiv gemacht habe. Ohne den Namen Lessing nochmals zu nennen, spricht Kästner von einer Gruppe »des Übergangs« von Autoren, die Tugend (Ideal der radikal-rationalen Aufklärung) mit temperierter Empfindung zu verbinden gewusst hätten; es ist sogar von »zwei verschiedenen Aggregatzuständen der Aufklärung« die Rede, und Kästner scheint Lessing dieser Gruppe implizit zuzuordnen.¹⁵ Letzteres würde dafür sprechen, dass auch Kästner zumindest von einem harten Bruch an der Epochengrenze absieht und die Pole Ratio versus Irrationalität noch innerhalb der Aufklärung verortet, also die Gefühlskultur des Sturm und Drang gerade so als integralen Bestandteil der Aufklärung ansieht, ungeachtet des dominanten Merkmals der Rationalität – dass Kästner also eben schwankt, ebenso wie sein der Empfindsamkeit zuneigendes Idol, die Übergangsfigur Lessing.¹⁶ Auch wenn also Kästner, mit Köster, die Aufklärung im Wesentlichen über das Primat eines aus seiner Sicht allzu radikalen Rationalismus definierte, und damit, anders als heute, die Empfindsamkeit wie auch den affektgeladenen Sturm und Drang allenfalls als deren Randerscheinungen betrachtete, so ändert dies nichts daran, dass der von Kästner hochgeschätzte Lessing in der öffentlichen Wahrnehmung des frühen 20. Jahrhunderts, also parallel und sogar in gewissem Widerspruch zum philologischen Spezialdiskurs, unzweifelhaft als Aufklärer wahrgenommen und auch als solcher verehrt wurde.¹⁷ Hinzu kommt, dass höchst allgemeine Leitgedanken, Ideen und Ideale der Aufklärungszeit – Vernunft, Bildung, moralische Erziehung – von Kästner selbst, ebenso wie von der breiten Masse, für die Kästner schrieb – als programmatisch für die Aufklärungszeit betrachtet wurden beziehungsweise auch damals unzweifelhaft mit Aufklärung assoziiert wurden. Die genannten Leitideen und Ideale gelten sowohl im öffentlichen wie im wissenschaftlichen Diskurs als spezifisch aufklärerisch, ungeachtet der engeren und rigideren wissenschaftlichen Epochenkonzeption Kösters, die, wie gesagt, durchaus gelegentlich in Kästners Publizistik durchschimmert. Vernunft, Moral, Erziehung spielen in Kästners Publizistik eine gewichtige Rolle; sie werden in den Theaterkritiken immer wieder hochgehalten, ja dienen dem Autor als Maßstab seines ästhetischen wie moralischen Urteils über moderne Stücke. Der Literaturhistoriker Köster schreibt im oben genannten Lehrwerk, dass Autoren der Zeit, darunter auch Gottsched, daran glaubten und hofften, durch Theater und

15 Kästner: Friedrich der Große (s. Anm. 10), S. 98. 16 Vgl. zu Köster auch den Beitrag von Fulda in diesem Band. 17 Siehe auch das Zitat aus Schneiders Rede von 1929 in Anm. 14.

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Bühne »am leichtesten eine große Menge moralisch zu beeinflussen«.¹⁸ Bei Kästner finden sich Anspielungen auf Schillers aufklärerisches Ideal der Schaubühne als moralischer Anstalt und somit als Werkzeug der Volkserziehung. Es ist jener im Zentrum der Aufklärung stehende Glaube an die moralisierende, erzieherische Befugnis und den vernunftvermittelnden Auftrag der Kunst, insbesondere der Bühne, der sich vielerorts in Kästners Kritiken wiederfindet, der Kästners Verständnis vom Theater der Moderne, von Dramatikern und Zuschauern prägt.

2 Kästner als Theaterkritiker Kästners Theaterkritiken unterscheiden sich quantitativ und qualitativ durchaus von den Film- Literatur- und Kunstkritiken. Für das Theater differenzierte Kästner stärker zwischen Formen und Teilgattungen; er bespricht (alles Zitate): Zeitstücke, Star-Theater, ausländische Kassenstücke, Kinder-Revuen, Justizdramen, Dokumentarisches Theater, Kriminalstücke, Stegreiftheater, Revolutionsstücke, 10-MinutenDramen etc. Unter den besprochenen Dramatikern, Regisseuren und Romanciers sind (in Auswahl): Erwin Piscator, Bertolt Brecht, Max Reinhardt, Carl Zuckmayer, Walter Mehring, Hermann Kesten, Gerhard Hauptmann und Henrik Ibsen, um nur die bekanntesten zu nennen. Klassiker-Inszenierungen nimmt sich Kästner selten vor; und wenn, dann ist es meist ein Verriss. Zudem verfasste er jährlich eine Bestandsaufnahme zur Theatersaison, zum Beispiel 1927 mit dem Titel »Berliner Theaterstatistik«.¹⁹ In diesen Texten bilanzierte er die kulturpolitische Gesamtsituation der Berliner Theaterszene und ästhetisch-programmatische Grundlinien, teils auf ganz Deutschland extrapolierend. Die Texte vermitteln einen guten Eindruck vom schleichenden Bedeutungsverlust des Theaters in der Zeit der Weimarer Republik.²⁰ In diesem Zusammenhang beklagt Kästner etwa den Mangel an Uraufführungen neuer deutschsprachiger Dramatiker,²¹ die zunehmende Popularität

18 Albert Köster: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit. Fünf Kapitel aus der Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts mit einem Anhang: Die allgemeinen Tendenzen der Geniebewegung. Heidelberg 1925, S. 11, hier zitiert nach Zonneveld: Publizistik (s. Anm. 1), S. 42. 19 GG 2: Berliner Theater-Statistik, 17. Januar 1928 (s. Anm. 2), S. 55; auch: »Ein Jahr Berliner Theater. Krisen-Bilanz – Angst vorm Risiko – Moden und Pleiten« (GG 2: 14. August 1928 [s. Anm. 2], S. 114). 20 Ebd., Ein Jahr Berliner Theater, 14. August 1928, S. 114. Kästner resümiert, die »Entwicklung des deutschen Dramas [d. h. auch die stoffliche sei] von den Bühnen der großen Provinzstädte abhängig geworden«, weil die Theater aufgrund der hohen Konkurrenz der Spielstätten kaum noch zur Innovation aufgelegt seien (ebd.). 21 Nur neun in einem Jahr an dreißig Bühnen (ebd.).

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des amerikanischen »Star-Unwesen[s]«, sprich die Hollywoodisierung der Bühnen, aber auch die gegenwärtige »Selbstzweckregie« eines Erwin Piscator.²² Der wichtigste und grundlegendste Forschungsbeitrag zu Kästners Publizistik stammt von Johan Zonneveld (Erich Kästner als Rezensent 1923–1933, erschienen 1971). Die Studie bietet einen Überblick über die Inhalte der gesamten Publizistik. Kösters Einfluss auf Kästners Aufklärungsverständnis wird ausdrücklich gewürdigt,²³ jedoch im Rahmen der Gesamtdarstellung nicht im Detail untersucht. Zonneveld stellt die entscheidende Frage, ob Kästner in Berlin seine noch aus den Leipziger Studientagen herrührenden, veralteten Vorstellungen vom Theater der Aufklärungsepoche unter dem Eindruck des modernen Theaterbetriebs der Hauptstadt beibehielt oder revidierte, und kommt zu dem Schluss, dass sich Kästner Vorstellungen von Theater in Berlin veränderten und erweiterten.²⁴ Während Zonneveld die Erweiterungen in den Blick nimmt (insbesondere Kästners Begeisterung für den Bühnenrevolutionär Piscator), lege ich den Fokus auf die erheblichen Kontinuitäten, sowie auf eine Zusammenschau aufklärerischen Ideenarsenals in den Theaterkritiken des Autors. Man merkt den Theaterkritiken das Germanistikstudium insgesamt wesentlich stärker an als den Film- und Kunstkritiken. Die Texte sind durchwoben von historisierenden Einordnungen, gattungstheoretischen Reflexionen und Analysen, hinter denen ästhetische Normen und Ideale stehen, die, teils vom Autor selbst unreflektiert, häufig im 18. Jahrhundert wurzeln. So heißt es beispielsweise, das gegenwärtige Theater zeige keine »zeitgebundene, stileinheitliche Gestalt« mehr, weil es zur »kapitalistischsten Kunstform« verkommen sei.²⁵ Beobachtungen und Urteile des Kritikers Kästners sind durchzogen von den programmatischen Leitideen der Aufklärungszeit, als da wären Vernunft, Kritik- und Erziehungsauftrag der Kunst, Belehrbarkeit hinsichtlich Moral. Die Kunstformen Theater, Roman, Film an sich, ebenso wie Theaterkritik und die Filmkritik, haben für Kästner erzieherisches Potenzial, wobei Kästner bei der Frage, wie erfolgreich Kunst die Zuschauer: innen tatsächlich erziehen kann, zwischen aufklärerischem Optimismus und (vermutlich unter anderem schopenhauerianisch geprägtem) Pessimismus schwankt. Insbesondere Kästners Verständnis des Dramas ist erkennbar von aufklärerischen Denkmustern geprägt, und auch dort, wo Lessing und Schiller nicht genannt werden, findet sich ein Kondensat ihres ästhetischen und politischen Programms, ihres Idealismus und insbesondere ihres (genuin aufklärerischen)

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Ebd., S. 118. Zonneveld: Publizistik (s. Anm.1), S. 42–47. Ebd., S. 47. GG 2: Klassische Stücke und ihre Verkennung (s. Anm. 2), S. 49.

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Glaubens an die gesellschaftsverändernde Wirkung von (Bühnen‐)Kunst. Ungeachtet dessen, dass Kästner insbesondere die technischen Innovationen des modernen Theaters schätzte, gerade gegenüber dem, was er für überholtes »Hoftheater« hielt,²⁶ entpuppt er sich als ein Anhänger des aufklärerischen Ideals von der gesellschaftlichen Aufgabe des Dramas und des Theaters als sozialer Institution. Kästner glaubt, auch wenn ihn gelegentlich Zweifel plagen, grundsätzlich an Theater und Theaterkritik als Medien moralischer Erziehung, an die Erziehbarkeit der Theaterzuschauer und der eigenen Leser, gerade in der Moderne. Das Mittel, dessen sich Theater bedienen muss, um seine Aufgabe erfüllen zu können, ist bei genauem Hinsehen bei Kästner das gleiche wie bei der Lessing und bei Schiller: Es geht um das Gefühl. Wenn Kästner Stücke lobt, dann letztlich immer für die Erzeugung einer hohen emotionalen Wirkung. Das Theater ist (auch) für Kästner keine Anstalt mehr für rationalistische Vermittlung moralischer Lehrsätze oder gar Predigten (wie noch in der Frühaufklärung), vielmehr nimmt Erziehung zur Vernunft bei ihm, wie in Zeiten der Hoch- und Spätaufklärung (bei den ›Übergangsautoren‹ Lessing und Schiller), den Umweg über die Erregung der Affekte. Diese Wirkungslogik unterliegt, ausgesprochen und unausgesprochen, vielen Urteilen Kästners zu modernen Aufführungen. In einem zweiten Schritt wird diese Wirkungslogik auch in den Kritiken selbst exerziert – der Kritiker Kästner emotionalisiert seine Leser mit unterschiedlichen Mitteln, setzt, wie Lessing und Schiller, neben pointierter Analyse auf Affekt-Rhetorik. All dies soll im Folgenden an ausgewählten Beispielen belegt werden. Gefragt wird nach den Gegenständen von Kästners Theaterkritiken ebenso wie nach den impliziten und expliziten Kriterien und Maßstäben, nach denen er die Inszenierungen (auch Bühnentechnik), Stoff, Inhalt, Form und Wirkung, beurteilt. Die Kritiken lassen Umrisse einer Gattungspoetik erkennen, die in vielerlei Hinsicht von den kanonischen Dramatikern des 18. Jahrhunderts beeinflusst ist. Fündig wird man besonders bei von Kästner stark bewunderten oder heftig kritisierten Stücken.

3 Politische und moralische Dimension der Stücke Selbstverständlich denkt Kästner zu modern und auch zu wissenschaftlich, um sich zum Anwalt bestimmter politischer Parteien zu machen oder direkt zum Moralapostel aufzuschwingen. Stücke werden keineswegs per se abgelehnt, weil sie unpolitisch sind und nur unterhalten wollen, und erst recht nicht nur deshalb gelobt, weil sie politisieren oder moralisieren wollen. Theater darf durchaus »fürs Gemüth,

26 Ebd., Das Theater der Zukunft, 20. November 1927, S. 36.

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fürs Gelächter« sein,²⁷ gänzlich seicht darf es freilich nicht zugehen: Unterhaltsame Revuen seien begrüßenswert, wenn sie nur »politisch und frisch« daherkommen,²⁸ aber bitte keine »Leitartikel mit verteilten Rollen«.²⁹ Mehrfach zeigt er sich empfindlich skeptisch bei allzu eindeutiger politischer Tendenz, auch von links des politischen Spektrums. Propaganda und »Parteigesinnung«³⁰ will er nicht auf der Bühne sehen. Piscators revolutionäre Drehbühnen-Technik hält er für »überwältigend gelungen«³¹, aber die politische Agitation darin stört ihn durchaus: Das deutsche Volk braucht seine Regie, doch das deutsche Volk braucht den Kommunismus nicht. Es gibt andere, menschlichere Arten des politischen Radikalismus als jene, die in Parteijacken gezwängt wurden. Piscators Parteipolitik ist des Regisseurs Piscator größter Feind. Das er ihn erkennte!³²

Dennoch überwiegt unzweifelhaft die Sympathie für linke Autoren, so lobt er beispielsweise vielfach Walter Mehrings publikumswirksame »Kampfkunst«,³³ sowie an Brechts Dreigroschenoper sowohl die Form auch das »revolutionäre, zynische und kritische Them[a]«.³⁴ Was sexuell explizite Stücke betrifft, zeigt sich Kästner in diesen frühen Jahren überraschend konservativ. Ein aus seiner Sicht allzu anstößiges Kabarett – zumindest der Beschreibung nach handelt es sich um eine harmlose Parodie von Wedekinds Frühlingserwachen – wird verrissen.³⁵ Nicht aus »Prüderie«, wie der Autor betont, sondern weil das Stück »ohne jeden Funken Gesinnung« sei.³⁶ Die Aufführung ginge über die »berechtigten Grade von Amoralität und Radikalismus« hinaus, sei »schändlich und schädlich«.³⁷ Ein wenig Amoral, wie man es beispielsweise in Marieluise Fleißers Pioniere in Ingolstadt vorfände, das in Berlin als unsittlich galt und teilweise zensiert wurde, dürfe es allerdings schon sein. Schließlich 27 Ebd., Zuckmayers Katharina Knie, 25./26. Dezember 1928, S. 156. 28 Ebd., Das Kabarett der »Unmöglichen«. Die »Junge Generation im Keller«, 30. Juni 1928, S. 101. 29 Ebd., Piscator und Granowski. 30. April 1928, S. 81. 30 Ebd. 31 Ebd., Das Theater der Zukunft. 20. November 1927, S. 35; unter anderem zu Piscator, Rasputin. 32 John Galsworthys »moralische Stücke« betrieben »dramatisierte Staatsbürgerkunde« (GG 2: Berliner Theater, 19. Oktober 1927 [s. Anm. 2], S. 26). Galsworthys Flucht wird »Unwahrscheinlichkeit«, auch ein Kriterium seit Gottsched, sowie eine »mangelnde Einheitlichkeit des Tons« vorgeworfen, die das Stück »moralisch rechtfertigen würde« (GG 2: Der Fall Kerr und der Fall Jeßner, 24. Februar 1928 [s. Anm. 2], S. 69). 33 Ebd., Kunstgespräche, 21. November 1928, S. 146. 34 Ebd., Die Dreigroschenoper. 14. September 1928, S. 122. 35 Ebd., Das Kabarett der »Unmöglichen«. Die »Junge Generation im Keller«. 30. Juni 1928, S. 101. 36 Ebd., S. 104. 37 Ebd.

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sei Fleißers Stück selbst in der Spießerprovinz Dresden aufgeführt worden, und so tadelt Kästner die Berliner hier als »Moralstammgäste«.³⁸ Als wenig schmeichelhaft aus heutiger Sicht erweist sich Kästners enttäuschend konventionelles, konservatives Frauenbild, das in den Anmerkungen zum Girl, dem neuen, modernen Rollenfach, aufblitzt. Der Typus sei zwar geschäftstauglich, habe aber schlicht »keine Moral«, und dramatisches Potenzial, im Sinne der Gattung, spricht Kästner dem Girl auch gleich ab.³⁹ Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang Kästners Ansichten zu Ferdinand Bruckners Krankheit der Jugend. Begrüßt wird das Portrait der jungen Generation als einer, welcher »der Wille fehlt, trotz der Fragwürdigkeit der Existenz einem erreichbaren Ziele durch Arbeit und Selbstzucht näher zu kommen«. Jugendliche seien bei Bruckner treffend als pessimistische Morphinisten dargestellt, die sich in »Schmerz«, »Sexualität« und »Rauschzustände« retteten, und dabei »vor die Hunde gehen«.⁴⁰ Die Frivolität des Stücks fasziniert den Kritiker, weil sie eine »Sittenlosigkeit« aufzeige, »von der die Verfallsepochen jeder Kultur und Klasse berichten«.⁴¹ Bruckner führe das gefährliche »Fegefeuer der moralischen und hoffnungslosen Freiheit«⁴² vor Augen, ebenso wie auch das Leiden daran. Was er, Kästner, an der modernen Jugend vermisse, sei ein »Und dennoch« – also letztlich der moralische Widerstand gegen den Verfall. All dies, auch das Schwanken zwischen faszinierter und verurteilender Beobachtung von Amoral und ›Sittenlosigkeit‹, erinnert natürlich an Der Gang vor die Hunde, wobei der moralisierende Impetus der Zeitdiagnostik in der Bruckner-Kritik viel deutlicher zu Tage tritt als im Roman, wo sich der Erzähler zurückhält und die moralisierenden Schlussfolgerungen den Leser:innen überlässt. Moderne sexuelle Freiheit, politische Radikalität und Dekadenz sind nicht so recht nach dem Geschmack des jungen Kritikers. Was sich hier zeigt, ist eher ein Ideal tugendhafter Mäßigung und Mitte, das dem achtzehnten Jahrhundert näher ist als dem zwanzigsten.⁴³

38 Ebd., Kleine Skandale um gute Stücke, 10. April 1929, S. 170. 39 Ebd., Das Girl als Dramenstoff, 4. April 1928, S. 74. Zu Kästners nicht eben modernem Frauenbild vgl. Laura Schütz: »Es gibt da eine Sorte junge Damen«. Frauenbilder in Kästners Lyrik um 1930 als Kontrapunkt zu den Weiblichkeitsentwürfen der Zeit. In: Sven Hanuschek u. Gideon Stiening (Hg.): Politik und Moral: Die Entwicklungen des politischen Denkens im Werk Erich Kästners. Berlin, Boston 2021, S. 173–201. 40 GG 2: »Krankheit der Jugend«, 3. Mai 1928 (s. Anm. 2), S. 83. 41 Ebd., S. 85. 42 Ebd. 43 Hierzu schreibt bereits Stefan Neuhaus: »Es geht um eine Moral, die das ganze Individuum erfaßt, anknüpfend an die Ideen der Aufklärung, wie sie gegen Ende der Epoche von Immanuel Kant im berühmten kategorischen Imperativ zusammengefaßt wurde.« (Neuhaus: Erich Kästner [s. Anm. 8], S. 92).

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Dass das Verhältnis von Ästhetik, Politik und Moral bei Kästner ein komplexes und schwieriges ist, kann hier mit Verweis auf den Sammelband von Sven Hanuschek und Gideon Stiening zum Thema nur konstatiert, aber nicht ausführlich diskutiert werden.⁴⁴ Das Primat des Ästhetischen über das Politische, das Kästners Kritiken erkennen lassen, erinnert eher an Lessing, der sich auf allgemein Menschliches zurückzog, während der junge Schiller klare Haltung zeigte und dafür umgehend vom System abgestraft wurde. Dass sich Kästner politisch hinter dem Ästhetischen versteckte, als er im Zweiten Weltkrieg zum stillschweigenden Duckmäuser wurde, während viele Schriftsteller:innen emigrieren mussten, scheint sich in den Kritiken schon anzudeuten. Andererseits rügte schon Heinrich Heine die wenig subtilen Tendenzposaunen eines Georg Herwegh, und es lässt sich von der Explizitheit des Politischen im Kunstwerk nicht monokausal auf politische Haltung im wahren Leben schließen. Was aus heutiger Sicht zu denken gibt, ist der von Kästner in den Kritiken (und deutlich auch in den Kinderbüchern) an den Tag gelegte Hang, die Leser und Zuschauer zu belehren und zu erziehen. Der von Kästner vielfach formulierte hehre moralisch-humanistische Anspruch, dessen Wurzeln in der Aufklärungszeit liegen, steht in ernüchterndem Widerspruch zu Kästners Rückzug ins Unpolitische, ja in eine Position ausgefuchster Anpassung an die Systemvorgaben der nationalsozialistischen Kulturpolitik während des Zweiten Weltkriegs (Benjamins Vorwurf von 1931, Kästner habe es sich in bürgerlicher Melancholie allzu häuslich eingerichtet, wirkt retrospektiv wie ein Omen). Dieses aus heutiger Sicht politische wie moralische Versagen scheint Kästner dann in der Nachkriegszeit kompensieren zu wollen; erneut schwingt er sich, diesmal als Verfechter des Pazifismus, zum moralisierenden Urenkel der Aufklärung auf.

4 Bühnentechnik Kästner reichert seine Überlegungen zur Bühnenform mit Kenntnissen der Theatergeschichte an.⁴⁵ So vermerkt er beispielsweise, dass noch bis ins 19. Jahrhundert die Distanz der Stände durch den Abstand von Bühne und Publikum markiert wurde.⁴⁶ Reinhardts Inszenierungen mit Artisten und Jazzband legitimiert er vor dem Hintergrund der Gattungsgeschichte: »Noch im 18. Jahrhundert tanzten die Darsteller, auch nach Trauerspielen, schwieriges Ballett.«⁴⁷ Von Neuerungen, insbesondere Piscators neuartigen Dreh- und Versenkungsbühnen, zeigt er sich fas44 45 46 47

Hanuschek, Stiening (Hg.): Politik und Moral (s. Anm. 38). Insbesondere GG 2: Das Theater der Zukunft. Das Hoftheater, 20. November 1927 (s. Anm. 2), S. 37. Ebd. Ebd., Max Reinhardt, der Artist, 12. Juni 1928, S. 97.

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ziniert. Es finden sich ausführliche, detailreiche Beschreibungen der experimentellen Bühnentechnik,⁴⁸ welcher er zutraute, die veraltete »Hoftheater«-Bühne abzulösen.⁴⁹ Einen begrenzten Einsatz von Musik und auch Film (Bausteine der offenen Dramenform), sowie eine Mischung der Gattungen, sieht Kästner mit Vergnügen.⁵⁰ Hinter diesen Urteilen stehen dezidierte gattungstheoretische, wirkungsästhetische Erwägungen und Erwartungen: Piscator verstehe es mittels moderner Bühnentechnik, die »Scheidewand zwischen Publikum und Bühnen radikal [zu] durchbrechen«,⁵¹ und zwar, entscheidender Weise, zu dem Zweck, direkter und emotionaler auf das Publikum einwirken zu können.⁵² Implizit bedeutet dies, dass Kästner erwartet, durch die neuen Techniken werde sich die moralisch-erzieherische Wirksamkeit der Stücke erhöhen: Piscator verstehe sich auf eine »Technisierung des Theaters und Aufrüttelung des Publikums«.⁵³ Auf diese wirkungsästhetische Norm komme ich gleich nochmal zurück, zuvor aber ein Blick auf Kästners Vorstellung von der idealen Dramenform, bei deren Beurteilung er die emotionale Wirkung als höchstes Kriterium ansetzt.

5 Aufbau / Form Die Hauptsache am Drama ist für Kästner die »bindende fortreißende Bewegung« einer dramatischen Handlung;⁵⁴ ein die »Bruchteile bindende[r] dramatische[r] Strom«.⁵⁵ Das heißt, das Drama soll vorwiegend aristotelisch geschlossenen sein, was im 18. Jahrhundert als ideal galt, weil die emotionale Wirkung auf den geschlossenen Handlungsaufbau zurückgeführt wurde. Wenn Kästner bemerkt, ein Stück sei idealerweise eine »organische Gesamtkomposition […]« zusammengesetzt aus »Mensch + Musik + Tanz + Licht + Bild«, das »Vielfalt der Bühnenwirkung« garantiere,⁵⁶ dann beurteilt er die mehr oder weniger neuen Medien und modernen Mittel danach, ob sie der Erfüllung der traditionellen Gattungsnorm einer guten

48 Ebd., Das Theater der Zukunft. Das Hoftheater, 20. November 1927, S. 40–32. 49 Ebd., Klassikertod?, 7. Mai 1929, S. 187. Hoftheater beinhalte »überlebensgroße Figuren, pathetische Sprechweise und imposante Fabeln« (ebd.). 50 Ebd., Das Theater der Zukunft. Das Hoftheater, 20. November 1927, S. 42. 51 Ebd., S. 40. 52 Vgl. auch: »Das Drama zwischen den wenigen Spielern wird also unerhört und hinreißend erweitert. Geschichte wird, so unmittelbar wie möglich, verlebendigt« (ebd., Dokumentarisches Theater. Picators »Rasputin«, 15. November 1927, S. 35). 53 Ebd., Dokumentarisches Theater, 15. November 1927, S. 36. 54 Ebd., Zuckmayers »Schinderhannes«, 16. Oktober 1927, S. 23. 55 Ebd. 56 Ebd., Piscator und Granowski, 30. April 1928, S. 81.

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und in sich geschlossenen Handlung zuträglich sind. Einen Widerspruch zur von Piscator praktizierten offenen, und dennoch emotional hoch wirksamen Form nimmt er nicht wahr, jedenfalls wird das nicht diskutiert. Für diese implizite Norm finden sich weitere Beispiele: Peter Martin Lampels »Dramatische Reportage« Revolte im Erziehungshaus, eine Anklage gegen die brutale Züchtigung von Kindern in preußischen Erziehungsanstalten, wird nicht nur für den politischen Gehalt, sondern auch für die Form gelobt: Es gehöre zu den »geschlossensten, bestkomponierten Dramen«⁵⁷ der Zeit. Episierende Stücke und Roman-Adaptionen haben es dagegen schwer, weil sie aus Kästners Sicht gegen die Gattungsnorm der Geschlossenheit, eine angemessene Spieldauer oder Handlungsdauer, oder gegen eine dramatische Logik verstoßen.⁵⁸ Hält ein Stück die aristotelische Forderung nach der Einheit der Zeit nicht ein, so wird dieser Konventionsbruch von Kästner meist nicht goutiert. Ein Roman dürfe dies, nicht aber das Drama. Ein Beispiel hierfür ist Carl Zuckmayers Bühnenadaption von Hemingways In einem andern Land, das von Kästner mit der Begründung verrissen wird, die Handlung sei in Bildern, ohne organischen Zusammenhang, lose aneinandergereiht, was Kästner als »undramatisch« ablehnt.⁵⁹ Was er am meisten schätzte, war, wie ich meine in der Tradition des aufklärerischen Theaters des 18. Jahrhunderts, die weitestgehende, aber nicht notwendig rigide Einhaltung der aristotelischen Konventionen: ein »aktmäßige[r] Aufbau« und eine »kontrapunktische[n] Figurenführung«.⁶⁰

6 Affektive Wirkung auf die Zuschauer als Erziehungsmittel Keineswegs sei es so, dass der moderne Mensch das Theater nicht mehr brauche, weil er Kino und Sport habe, und damit »Technik und Nüchternheit«, meint Kästner.⁶¹ Er setzt nicht auf kalte, nüchterne Ratio, sondern auf Affekte, und diese zu erzeugen, traut er dem Theater offenbar immer noch eher zu, als der modernen Kinokunst. In einer Kritik zu Zuckmayers Stück Schinderhannes, das Kästners Geschmack nach zu episch ausfällt, bekennt er, man solle ein »Schauspiel nach seiner

57 Ebd., Dramatische Reportage, 16., Dezember 1928, S. 150. 58 Ebd., Der psychologische Roman als Drama, 7. November 1929, S. 224. 59 Ebd., Der erste Fehlschlag, 6. September 1931, S. 273. Auch hier geht es um die Hemingway-Adaption. 60 Ebd., Berliner Theater, 19. März 1931, S. 267. 61 Ebd., Das Theater der Zukunft. Das Hoftheater, 20. November 1927, S. 38.

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Wirkung beurteilen«.⁶² Eine legitime Wirkung bestünde darin, den Zuschauer »aus seiner Realität, sosehr er sich auch sträuben mag, heraus[zu]zerren und in die Atmosphäre der Dichtung hinüber[zu]holen« – von Verfremdung und intellektueller, analytisch-kühler Distanz keine Spur; Kästner setzt auf große Effekte und gewaltige Affekte, durchaus im Dienst des Politischen. Weitere Beispiele belegen dies: Piscator gelinge es, durch Bühnenarchitektur die »Erregung des Publikums« zu steigern, es in einen »nicht normalen« Zustand zu versetzen,⁶³ aus seiner »Theaterapathie« aufrütteln, zu »überrumpeln, aufzuschrecken und zum Miterleben des Bühnengeschehens, sei es auch auf brutale Weise, zu nötigen.«⁶⁴ Mit anderen Worten, Furcht und Mitleid zu erregen. Eindrücklich zeigt sich die Norm der emotionalen Erregung auch in einer Kritik zu Theodore Dreisers naturalistischem Drama Ton in des Töpfers Hand. Es ginge beim Drama im Allgemeinen »keineswegs um eine Unterhaltung mit persönlicher Nutzanwendung«, sondern darum, »ob eine Handlung spannend und Anteilnahme herausfordernd dargestellt wird. Es handelt sich darum, ob der Zuschauer kalt bleibt, oder einen heißen Kopf kriegt.« Dies gelinge Dreiser, denn der Hauptdarsteller »treib[e] die Zuschauer durch alle Stufen des Schreckens und des Mitleids«.⁶⁵ Man hört die Affektpoetik des 18. Jahrhunderts, Lessing und Schiller, förmlich heraus – und implizit auch Kästners Ablehnung des Rationalismus der Frühaufklärung. Der Kassenschlager der Theatersaison 1928 war das bereits erwähnte Stück Revolte im Erziehungshaus von Peter Martin Lampel, welches Kästner zwar der »Tendenzliteratur« zurechnet, es aber dennoch aufgrund seiner enormen Wirkung beim Publikum verteidigt.⁶⁶ Zwei ausführliche, lobende Kritiken widmet Kästner dem Neuling, stellt ihn sogar über Bruckner und Brecht, weil das Stück »eindrucksfähige Besucher vor Erregung und Empörung am ganzen Leibe zittern« ließe.⁶⁷ Die Bühne werde zur Tribüne der Anklage gegen die (realhistorischen) unmenschlichen Zustände in preußischen Erziehungsanstalten, und das sei wichtig. Mit der Erschütterung des Publikums verbindet Kästner die Hoffnung, dass das Parlament den realexistierenden Missständen in den Erziehungsanstalten ein Ende setzt. Affekte sieht Kästner hier dezidiert als Voraussetzung, ja Impulsgeber für gesellschaftlichen und politischen Fortschritt an – eine menschliche Gerichtsbar-

62 Ebd., Zuckmayers »Schinderhannes«, 16. Oktober 1927, S. 23. 63 Ebd., Das Theater der Zukunft. Das Hoftheater, 20. November 1927, S. 39. 64 Ebd., S. 40. 65 Ebd., Ein Drama von Dreiser. »Ton in des Töpfers Hand«, 9. Oktober 1928, S. 129. 66 Ebd., Dramatische Reportage, 16. Dezember 1928, S. 148. Lampels Stück beruht auf eigenen Erfahrungen als Erzieher in preußischen Fürsorge- und Erziehungsanstalten. 67 Ebd., S. 150.

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keit auf der Bühne und durch die Bühne, das ist gewissermaßen der wahr gewordene Traum des Theaters der Aufklärungszeit. Tendenzliteratur hätte, so Kästner, gerade dadurch ihre Berechtigung, und wer das nicht glaube, der möge »sich begraben lassen!«.⁶⁸ Die Begeisterung für Lampels Stück begründet er zusätzlich mit Verweis auf Kindsmörderinnen-Dramen des 18. Jahrhundert.⁶⁹ Entscheidend sei allerdings nicht die Tendenz solcher Stoffe, sondern die künstlerische Qualität der Bearbeitung. Sie verdiene Anerkennung, wenn es die Dramatiker verstünden, »Mitleid für die Verurteilten« zu erwecken und »Kampfwillen gegen die herrschende Strafjustiz wachzurütteln«⁷⁰ (was freilich eine Haltung erfordert, die Kästner selbst in den 1940er Jahren nicht aufbringen wird). Die Mitleidsethik, wie auch die Ideale Gerechtigkeit, Humanität, humanitärer Erziehung von Kindern, die hier im Hintergrund mitschwingen, erinnern an Lessing beziehungsweise an Kästners Lessing-Gedicht, in dem der Aufklärer als »Sprecher der Bedrängten« gefeiert werden.⁷¹ Lampels zweites und letztes Stück beurteilt Kästner allerdings bereits deutlich kritischer, und beruft sich dabei auf das (sein) Primat des Ästhetischen: Er sei sehr für »stoffliche Aktualisierung des Theaters«, aber insgesamt habe Lampel auf dem Gebiet des Ästhetischen doch zu wenig Talent.⁷² Weitere Beispiele bestätigen den Eindruck, dass Kästner Wirkungsfunktionen priorisiert: Hermann Kestens Stück Die heilige Familie wird hochgelobt mit der Begründung, dass Kesten ein »Schüler Voltaires« sei, »ein Zyniker mit geheimen Sentiments und mit moralischer Dialektik«, der das Publikum »mitgerissen« habe.⁷³ Ödön von Horváth verstehe es in Kasimir und Karoline, »das Gefühl hinter dem gesprochenen Kitsch transparent zu machen […] Möge jeder Theaterbesucher mitempfinden, was eine der Figur äußert: ›Wir sind alles nur Menschen. Besonders heute‹.«⁷⁴ Vermutlich fühlte sich Kästner an das Menschlichkeitsideal Lessings und Schillers erinnert. Anerkennung zollt Kästner auch Friedrich Wolfs Tendenz-Stück Cyankali. §218, in dem es um die Opfer des Abtreibungsverbots geht. Theater könne und wolle die »Gesetzgebung und innere Politik« beeinflussen,⁷⁵ weil es »Erschüt-

68 Ebd. 69 Ebd., Theater contra Todesstrafe, 20. April 1929, S. 174. 70 Ebd., S. 76. 71 GG 1: Lessing, 20. Januar 1929 (s. Anm. 2), S. 156. Vgl. den Beitrag von Hans-Edwin Friedrich in diesem Band. 72 Kästner: Splitter und Balken (s. Anm. 5), S. 220. 73 GG 2: »Die Heilige Familie« von Kesten und die junge Dramatik überhaupt, 22. Juni 1930, S. 244. 74 Ebd., Der Dramatiker Ödön von Horváth. Ein Unikum: Berliner Premiere in Leipzig, 17. November 1932, S. 290. Kästner besuchte selten Premieren – der Besuch der Uraufführung von Horvaths Kasimir und Karoline in Leipzig ist eine Ausnahme. 75 Ebd., »Cyankali«, 14. September 1929, S. 207 (§218).

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terung« auslöse.⁷⁶ »Hier geht’s um viel mehr als nur um Theater spielen. Hier kämpft die Menschlichkeit gegen die Schlafsucht!« eines apathischen Publikums.⁷⁷ Auch hier spricht sich der aufklärerische Glaube an die Veränderlichkeit der Welt und die Verbesserungsfähigkeit des Menschen und der Menschheit mit Hilfe der Kunst aus. Die Zusammenschau der Kommentare verdeutlicht, dass emotionale Wirkung Kästners entscheidendes Kriterium bei der Beurteilung der Stücke war, gleichwohl es im Spannungsverhältnis zwischen (mehr oder weniger politischem) Stoff und Form steht. ›Schillerisierend‹ bilanziert Kästner das Theaterjahr 1927: »Das Drama muß, wenn es wirken soll, zunächst einmal Theater sein, und gerade das Theater – zur Vermittlung berufen – stand trennend zwischen Autor und Publikum«.⁷⁸ Diese Trennung möchte Kästner vom modernen Theater durch emotional hochwirksame Mittel jeglicher Art überwunden sehen. Unterhaltsam polemisiert er, es dürfe nicht sein, dass der Zuschauer sein »belegtes Brot nach den Begleittexten von Hauptmann« isst.⁷⁹ Als Vorbilder für die angemahnte Reaktion werden Shakespeare und das Antike Theater genannt – das mögen Kästners Vorbilder sein, aber es waren eben auch Schillers.⁸⁰

7 Allgemeine Funktionen der Kunst und die Rolle des Dramatikers Gelegentlich kommt Kästner auf die Funktion der Kunst und die Aufgabe des Dramatikers als solcher zu sprechen. An oberster Stelle steht Gesellschaftskritik, die gilt auch für die keinesfalls geschmähte Unterhaltungskunst, etwa die populären Schlager-Revuen von Friedrich Holländer, denn die bürgerliche Bildungsschicht in den Großstädten bedürfe eines »Spiegelbilds, d. h. des Zerrspiegelbilds!«⁸¹ Die Funktion des Theaters vergleicht Kästner mit der Münchner Satirezeitschrift Simplicissimus, allerdings habe in Berlin das gesprochene Wort auf der Bühne Vorrang: »Es vermeidet den Umweg; es wirkt unmittelbar. Und dies ist für den Vorgang der Erziehung äußert wichtig. Denn man erzieht niemanden nach der Methode von 76 Ebd., S. 208. 77 Ebd. 78 Ebd., Das Theater der Zukunft, 20. November 1927, S. 38. 79 Ebd. 80 Ebd. Allerdings sind es nicht die Vorbilder der frühen Aufklärer; Gottsched etwa eiferte französischen Vorbildern nach. 81 Ebd., »Zwei dunkle Augen, zwei Eier im Glas«. Das Berlinertum auf den Berliner Bühnen, 21. Januar 1928, S. 58. Es geht um Holländers Zeitrevue Bei uns – um die Gedächtniskirche rum.

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Sprachbriefen! Man muß ihn vor sich sitzen haben.«⁸² Holländer sei ein »Lehrer, bei dem der Berliner schon was lernen kann«, der »erzieht«, und Humor werde »als Rohrstock« verwendet, urteilt Kästner sympathisierend.⁸³ Der Kritiker Kästner wiederum spielt sich hin und wieder als Erzieher der Regisseure auf: Piscator »darf nicht selber Epigonen loslassen«, er »soll seine Konzertreisen durch Deutschland aufgeben«, fordert Kästner.⁸⁴ Der ideale Dramatiker ist für Kästner ein Vertreter und Verfechter der Vernunft. Im Rückblick auf das Theaterjahr 1930 konstatiert er, neuerdings herrsche ein »verstehendes und vernünftiges Prinzip. Der Fanatismus [der Tendenzstücke, S.W.] ist fort«; kurz darauf heißt es jedoch, anstelle von Vernunft kehre nun »Sentimentalität, der Edelkitsch« zurück.⁸⁵ Gemeint sind politische Rührstücke von Autoren wie Curt Corrinth und Ernst Adam von Wildenbruch. Die Diagnose bleibt widersprüchlich, aber fraglos bildet die Vernunft für Kästner den höchsten Wert. Die Überzeugung, dass Kunst sich positiv auf Vernunft und Moral der Zuschauer:innen auswirkt, wird an anderer Stelle als Argument gegen Zensur ins Feld geführt. Der Staat müsse größtmögliche Kunstfreiheit gewähren, heißt es in einem Artikel mit dem Titel Der Staat als Gouvernante, weil die Wirkung von Kunst eine moralisierende sei: Der Zuschauer, der Hörer, der Leser erlebt durch das Kunstwerk Gefühle, die ihn zu den Personen – etwa eines Dramas – in Beziehung setzen. Er liebt sie, er haßt sie, er verachtet sie, er bemitleidet sie; aber er teilt erst in zweiter Linie ihre eigenen Leidenschaften. […] Er wird zu Tränen des Mitleids gezwungen; niemals aber – er sei denn irrsinnig – dazu, seine Gattin im Bett zu erwürgen, wie es Othello tut!⁸⁶

Das heißt, der Staat habe von der Kunst keine monokausal demoralisierende Wirkung durch bestimmte Stoffe zu befürchten, die Zensur rechtfertigen würde. Er solle sich nicht als Gouvernante aufspielen, aber wenn er die Freiheit des Kunstwerks achte, könne er sogar ihr »Erzieher« sein!⁸⁷ Dieser Glaube an die Erziehbarkeit des Theaterpublikums zeigt allerdings bisweilen Risse. Die Bühne ist die Welt und die Welt ist eine Bühne, meint Kästner, und modelt dann, in Anlehnung an

82 Ebd. 83 Ebd., S. 59. Kritiker sind für Kästner Erzieher der Regisseure: Piscator »darf nicht selber Epigonen loslassen«, er »soll seine Konzertreisen durch Deutschland aufgeben«, »Er darf« und »er soll« dieses und jenes nicht (ebd., Berliner Theater unter Null, 8. März 1928, S. 72). 84 Ebd. 85 Ebd., Das politische Rührstück, 28. November 1930, S. 252. 86 Kästner: Splitter und Balken (s. Anm. 5), Der Staat als Gouvernante, 17. Mai 1926, S. 35. 87 Dass der Staat die politischen Folgen emotionaler Wirkungen sehr wohl zu fürchten hätte, weiß auch Kästner, sagt es aber nicht.

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Schillers berühmte Rede von der Schaubühne als moralischer Anstalt, dieses Shakespeare-Anspielung zur Kritik an der Gesinnungslosigkeit der Institution Theater um: »Die Bühne der Welt ist eine unmoralische Anstalt; und das Zuschauen ist auch hier bequemer als das Mitspielen. Moral ist eine Folge der Bequemlichkeit.«⁸⁸

8 Aufgabe des Kritikers Eine ähnliche Rolle weist Kästner implizit und explizit dem Kritiker an sich zu. Im Zeitalter der Moderne seien für die in Kästners Augen offenbar allzu naiven und offenbar auch ungebildeten Leser ohne Unterschied alle belletristischen Neuerscheinungen ergreifend und alle Dramen erschütternd.⁸⁹ Früher habe man die Kunst viel skeptischer betrachtet, aber: »Man kann dagegen schreiben.«⁹⁰ Dem Kritiker wird offenbar die Aufgabe zugewiesen, gegen blinde Begeisterung fürs Modische anzuarbeiten. Nicht erst der Lyriker und Romanschriftsteller, sondern bereits der Kritiker Kästner versteht sich als Lehrer und Erzieher, als Aufklärer und Führer der verführbaren, unkritischen Bürger durch die Masse der Unterhaltungsangebote. Nach Kästners Auffassung kommen allerdings nur die wenigsten Kritiker diesem beruflichen Auftrag nach. Die Berliner Kunstkritiker jedenfalls werden pauschal für ihre Kritiklosigkeit kritisiert; sie würden lieber über die internationale Automobilausstellung berichten als über Wichtiges, beispielsweise Walter Mehrings »Ringkampf gegen die Dummheit und Schlechtigkeit«. Mehring nehme, im Gegensatz zu den Kollegen, seine schriftstellerische Verantwortung als Zivilisationskritiker ernst und zwar nach dem Vorbild von Autoren wie Jonathan Swift, Laurence Sterne und Georg Christoph Lichtenberg – alle drei Autoren, die der Aufklärung zugerechnet werden.⁹¹ Was die Erziehung der Leser:innen angeht, möchte ich abschließend auf ein Phänomen hinweisen, dass sich durch Kästners gesamtes Werk zieht: den exzessiven Einsatz von Ausrufezeichen, hier nur in einer kleinen, repräsentativen Auswahl aus den journalistischen Texten: 1) In Überschriften: »Es liegt in der Luft!«;⁹²

88 GG 1: Hauptgewinn 5 Pfund prima Weizenmehl! [kursiv im Original, S.W.], 5. Februar 1928, S. 210. Es handelt sich nicht um eine Theaterkritik, sondern um einen feuilletonistischen Text, den Alfred Klein unter der Rubrik Provinz Berlin eingruppiert. 89 GG 2: Provinz Berlin, 20. Oktober 1928, S. 139. 90 Ebd. 91 Ebd., Kunstgespräche, 21. November 1928, S. 145. 92 Ebd., Es liegt in der Luft!, 30. Mai 1928, S. 91.

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»Julia ohne Romeo!«;⁹³ »Eine neue Schauspielerin!«;⁹⁴ »Bücher, die man verschenken sollte!«⁹⁵ 2) In den letzten, die Feuilletonbeiträge abschließenden Sätzen: »Es wird abzuwarten sein, ob sich wirklich etwas geändert hat!«⁹⁶ 3) Im Haupttext: »Und das ist wahr!«;⁹⁷ »Ein toller Schmarren!«;⁹⁸ »Politik borniert den Charakter!«;⁹⁹ »Er irrt sich!«;¹⁰⁰ »Und so geht das Publikum eben ins Kabarett, wenn es gutes Theater sehen will!«;¹⁰¹ »Auch Lesen ist eine Kunst!«;¹⁰² »Das war die Pointe!«.¹⁰³ Überdeutlich auch mit politischer Botschaft in Richtung Leserschaft: Vergesst den Krieg nicht! Werdet nicht wieder solche Menschen, wie ihr vordem wart! Sonst treibt ihr neuem Krieg entgegen! Es gibt keine Erinnerung, die wichtiger wäre, und keine, die es nötiger hätte, wachgehalten zu werden! Diese Künstler haben recht!¹⁰⁴

Auch in der Lyrik kommt das Ausrufezeichen mit überdurchschnittlicher Häufigkeit vor. Bereits im Vorwort zu Lyrische Hausapotheke bedient sich Kästner dieses Mittels: »Die Lyrische Hausapotheke möge Ihren Zweck erfüllen! Man nehme!«¹⁰⁵ Im zweiten Gedicht Warnung finden sich gleich drei Ausrufezeichen, zum Beispiel: »Ein Mensch, der Ideale hat, / der hüte sich, sie zu erreichen!«.¹⁰⁶ Im Gedicht Moral dominiert das Satzzeichen die gesamte Aussage: »Es gibt nichts Gutes, / außer, man tut es!«¹⁰⁷ Bedeutung und Funktion des Ausrufezeichens in Kästners Publizistik wären eine eigene Studie wert; diese Eigenheit trägt viel zum spezifischen Ton und Stil

93 Ebd., Julia ohne Romeo!, 12. Oktober 1928, S. 132. 94 Ebd., Eine neue Schauspielerin!, 22. September 1932, S. 287. 95 GG 1: Bücher, die man verschenken sollte!, S. 41. 96 GG 2: Neue Theaterdirektoren, 29. April 1932, S. 282. 97 Ebd., Das Kabarett der »Unmöglichen«. Die »junge Generation« im Keller, 30. Juni 1928, S. 103. 98 Ebd., Es liegt in der Luft!, 30. Mai 1928, S. 92. 99 Ebd., Piscator verbannt Trotzki, 19. Januar 1928, S. 57. 100 Ebd., Dokumentarisches Theater, Piscators »Rasputin«, 15. November 1927, S. 35. 101 Ebd., Berliner Theaterstart, 17. September 1932, S. 285. 102 GG 1: Auch Lesen ist eine Kunst!, 22. September 1927, S. 103. 103 GG 2: Stegreiftheater, 21. September 1928, S. 127. 104 Ebd., »Hoppla – wir leben!« Ein Zeitdrama von Piscator, Toller, Meisel, Oertel, Mehring und Müller, 6. September 1927, S. 13. 105 Erich Kästner: Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. München 2002, S. 7. 106 Ebd., S. 55. 107 Ebd., S. 30. Vgl. hierzu Stefan Neuhaus: »Erich Kästners lyrische Imperative«. In: Hanuschek u. Stiening: Politik und Moral (s. Anm. 38), S. 21–35.

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seiner Texte bei.¹⁰⁸ Als Sprechakt verstanden simuliert das Ausrufezeichen eine unmittelbare Ansprache an die Leser:innen beziehungsweise einen (einseitigen) Akt der Kommunikation. Es beabsichtigt, zu zeigen, zu betonen, zu emotionalisieren; die Konnotation gleitet jedoch bisweilen schleichend ins Dozieren, Appellieren, Erziehen, und auch ins Moralisieren über. Mitunter erinnert das Satzzeichen an einen gestaltgewordenen erhobenen Zeigefinger, und dann fungiert es als kategorischer Imperativ.

Abb. 1: Wilhelm Busch: Lehrer Lämpel

Die Leser bzw. Zuschauer sollen die Dinge genauso erkennen, wie Kästner sie sieht. Die Distanz zwischen Kritiker und Leser soll ebenso durchbrochen werden, wie die zwischen Zuschauer und Bühnengeschehen. Ein Dramatiker soll die Zuschauer wachrütteln und zur Vernunft erziehen – der Kritiker tut es ihm gleich. Damit wird das Feuilleton zur zweiten Bühne und Kästner gewissermaßen zum Dramatiker. Worauf er implizit abzielt, ist die Aufklärung, Erziehung und Belehrung der Zeitungsleser via Emotionalisierung, man könnte auch sagen aufklärerischer AffektRhetorik, auch mittels Interpunktion.

9 Abschließende und weiterführende Bemerkungen Kästners sicherlich früh angelegte moralpädagogische Neigungen fanden in der Beschäftigung mit den Dichtern der Aufklärungsepoche, zu denen ich hier neben Lessing auch Schiller zähle, ein ›höheren‹ Identifikationsraum. Als Theaterkritiker vertauscht Kästner die Rollen, er kann jetzt, anstatt nur Leser zu sein, seine erzieherisch-aufklärerischen Impulse – psychologisch betrachtet vermutlich ein Akt der Selbstermächtigung gegenüber der Mutter – aktiv ausleben. Die täglichen Kri-

108 So viel, dass es auffällt, wenn kein Ausrufezeichen vorkommt, etwa in Sachliche Romanze, dessen sachlich-ruhiger Klang gerade durch die Abwesenheit aufdringlicher Interpunktion verstärkt wird.

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tiken ermöglichen ihm eine belehrende Ansprache der Leserschaft beziehungsweise des potenziellen Kino- und Theaterpublikums, und zwar unmittelbarer, als ihm dies als Lyriker und Romancier je möglich ist. Zum Thema Aufklärung in Kästners journalistischen Texten ließen sich eine Reihe weiterer Überlegungen anstellen, die an dieser Stelle aus Platzmangel nur mehr stichpunktartig angerissen erörtert werden können: 1) Häufig finden sich Mahnungen und Bekenntnisse zu Vernunft, Humanität und Erziehung.¹⁰⁹ Am Horizont dämmert ein idealistisches Menschheitsbild auf, das Kästner offenbar nicht verloren geben will: »Sollte der Mensch etwa doch gut sein? Oder immerhin es werden wollen, wenn man ihn höheren Orts nicht schikaniert? Da eröffnen sich Perspektiven!«¹¹⁰ Geschichtspessimismus und Optimismus halten sich die Waage: »Denn große Werte zu schaffen beansprucht, in welcher Richtung immer, den ganzen Menschen.«¹¹¹ Daraus spricht die Hoffnung, dass eine Synthese aus Vernunft und Gefühl, Rationalismus der Aufklärung und Irrationalismus der nachfolgenden Phase, den Menschen zu einem besseren Wesen formen könne (hierfür wäre die Übergangsfigur Lessing, wie oben gezeigt wurde, das ideale Vorbild). Allerdings ist dieser Glaube zugleich immer wieder von erheblichen Zweifeln an der Perfektibilität des Publikums und dem Fortschritt der Menschheit begleitet: »Weil die Ziele einer vernünftigen Epoche höher als die heute vorhandene Vernunft liegen, senken sie diese Ziele, anstatt die Vernunft zu heben.«¹¹² Insgesamt ergibt sich ein äußerst ambivalentes weltanschauliches Gesamtbild.¹¹³ Hierzu nur ein Beispiel: Der Kritiker Kästner ist sich im Klaren darüber, dass er gegen die »innerste Gleichgültigkeit« der Zuschauer, gegen ihre »unerschütterliche«, »fühllose stumpfe Natur«, anzukämpfen hat. Stellt sich eine solche Erschütterung ein, bleibt die Frage, ob es an den Stücken oder am Publikum liegt. Kästner meint an einem Punkt resignierend, dass das »Publikum der schlechtere Teil« sei. ¹¹⁴ 2) Lessing wird in den Kritiken mehrfach und dabei stets affirmativ erwähnt.¹¹⁵ Beispielsweise lobt Kästner Lessings Behandlung der Konfessionsproblematik als »menschlicher und männlicher« als das besprochene Stück der amerikanischen

109 Vgl. beispielsweise GG 1: Die Politik der Dichter. Völkererziehung, 21. Oktober 1927, S. 110. 110 GG 2: Jeßner, Ausverkäufe und Verkehrsregelung, 6. Januar 1928, S. 53. 111 Ebd., Komödien, die nicht komisch sind, 7. November 1928, S. 141. 112 Kästner: Splitter und Balken (s. Anm. 5), Der Esel und die Autarkie, 16. Februar 1932, S. 286 u. S. 267. 113 Teilweise macht sich ein Pessimismus breit, der womöglich von Schopenhauer inspiriert ist. 114 GG 2: Das Drama der Arbeitslosen, 4. Oktober 1929, S. 212. 115 Vgl. GG 1: Lessing, 20. Januar 1929, S. 156 (es handelt sich um das Gedicht). GG 2: Das Kind als Darsteller, 25./26. Dezember 1930, S. 261, sowie GG 1: Krisis der neuen Dichtung. Geistesgeschichte als Mythologie – Psychologie als Metaphysik, 11. Dezember 1927, S. 113.

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Erfolgsautorin Anne Nichols.¹¹⁶ Auch Inszenierungen von Stücken Molières und Diderots werden besprochen.¹¹⁷ Nicht näher untersucht werden kann an dieser Stelle Kästners ebenfalls in der Neuen Leipziger Zeitung veröffentlichter Bericht über die Antrittsvorlesung von Professor Herman August Korff an der Universität Leipzig mit dem Titel Das Wesen der klassischen Form. Darin unterrichtet Kästner die Leser:innen unter anderem darüber, dass Korff das »Leben« als das »neue Weltgefühl« der Goethezeit (inklusive Sturm und Drang und Weimarer Klassik), dem Lebensgefühl der Aufklärungszeit diametral gegenüberstellt.¹¹⁸ 3) Es stellt sich die Frage, ob Aufklärung nicht von vornherein die Aufgabe des Berufskritikers ist. Das ist sicherlich in gewisser Weise der Fall, deshalb wäre es eine eigene Studie wert, Inhalte und Stil von Kästners journalistischen Texten mit denen anderer Journalisten aus der Zeit zu vergleichen; hier böte sich natürlich insbesondere Alfred Kerr an. Kerr ging in den gleichen Jahren in die gleichen Berliner Theater und besprach teilweise, im Abstand von wenigen Tagen, die gleichen Aufführungen wie Kästner. Kerrs Schreibweise ist stark an die mündliche Sprache angelehnt. Er liebt Fragen und Fragezeichen, davon gibt es in Kerrs Kritiken in etwa genauso viele, wie es bei Kästner Ausrufezeichen gibt. Kerr wie Kästner kommunizieren intensiv mit dem Publikum; Mündlichkeitseffekte erzeugen beide Autoren, aber Kästner wirkt dabei dozierender als Kerr, Kerr dagegen bissig und polemisch. 4) Häufig fragt Kästner auch in Film- und Literaturkritiken nach der emotionalen Wirkung der besprochenen Werke; er überträgt demnach sein historisches Wissen und seine am Drama des 18. Jahrhundert geschulten Kriterien auf andere Medien. Das Jahr 1930 enttäuscht Kästner, weil seichte Unterhaltung, der »Ulk« in den Theater- und Kinosälen dominiert habe, der die Zuschauer soziale Probleme habe vergessen lassen.¹¹⁹ Im Hintergrund dieser Beschwerde steht freilich ein an die Kunst gerichteter Aufklärungs- und Erziehungsanspruch, der im 18. Jahrhundert wurzelt. Auch in den Film- und Buchkritiken nehmen die Ausrufezeichen kein Ende: »Was uns bedenklich fehlt, ist Erziehung zum Lesen!«;¹²⁰ »Auch Lesen ist eine Kunst!«¹²¹ Insgesamt sind die Feuilletontexte zu Filmen und Romanen hinsichtlich

116 GG 2: Berliner Theaterbrief, 13. Januar 1929, S. 159. 117 Ebd., Das Experiment, 9. Oktober 1930, S. 251; auch GG 2: Berliner Theaterbrief, 13. Januar 1929, S. 159. 118 GG 1: Das Wesen der klassischen Form. Antrittsvorlesung von Professor Dr. Korff (Universität Leipzig), 5. November 1925, S. 33. 119 GG 2: 1930 und »1914«, 13. September 1930, S. 249. 120 GG 1: Auch Lesen ist eine Kunst!, 22. September 1927, S. 105. 121 Ebd., S. 103.

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des Themas Aufklärung allerdings weit weniger ergiebig als die Theaterkritiken. Eine Ausnahme bildet die Rezension zu Menschen, Göttern gleich von Herbert George Wells, der ein ähnlicher Weltverbesserer war, wie Kästner. Die Wells-Kritiken sind von Sven Hanuschek ausführlich besprochen worden;¹²² aus Platzmangel müssen sie hier außen vor bleiben, mit Ausnahme einer Textstelle, in der Kästners tiefe Verwurzelung im Zeitalter der Aufklärung besonders deutlich zu Tage tritt: Wer Kritik übt, muß in einer Falte seines Herzens noch gläubig sein, und wer Utopien schreibt, muß hoffen, daß die Menschheit besserungsfähig ist. Ohne Idealismus sind Utopien unmöglich und unnütz.« […] »Politik und Religion, Dichtung und Pädagogik treffen sich hier. Und so gehört es zu den wenigen Schriften, die der ›Erziehung der Menschheit‹ gewidmet wurden.¹²³

122 Sven Hanuschek: »Wie läßt sich Geist in Tat verwandeln« – Zu Erich Kästners Politikbegriff. In: Silke Becker, Ders. (Hg.): Erich Kästner und die Moderne. Marburg 2016, S. 87–99; vgl. auch Zonneveld: Publizistik (s. Anm. 1), S. 124 und S. 210. 123 GG 1: Menschen, Göttern gleich, 27. September 1927, S. 108.

Ulrike Leuschner

Von Ellipsen, Auslassungspunkten und anderen Tropen Zu einigen Feuilletons Erich Kästners für die Neue Zeitung Als Erich Kästner Mitte März 1945 im Zillertal eintrifft, hat er den Krieg schon fast überstanden. Ende Mai wird das Geld knapp, das Leben in Mayrhofen immer prekärer. Den Sommer über sondiert er die Lage, im August siedelt er nach München über. An Möglichkeiten mangelt es nicht, doch entscheidet Kästner sich gegen die Beteiligung am Wiederaufbau des Hamburger Rundfunks und gegen die Übersiedlung in seine angestammten Städte Berlin oder Dresden. Das in jeder Hinsicht komfortabelste Angebot kommt vom Chefredaktor der Neuen Zeitung, dem Remigranten und begeisterten Kästner-Leser Hans Habe.¹ Der Anstellungsvertrag bei der Neuen Zeitung verschafft Kästner und seiner Lebensgefährtin Luiselotte Enderle die Zuzugsgenehmigung nach München und Wohnraum, das rarste Gut von allem in der zerstörten Stadt. Im Oktober verpflichtet sich Kästner, das Feuilleton der »amerikanische[n] Zeitung für die deutsche Bevölkerung« – so der Untertitel – zu leiten. Die Neue Zeitung ist das Medium der amerikanischen Besatzung zur politischen Umerziehung der Deutschen, soweit sie als Leserschaft erreichbar sind. Auf dem Programm steht die »demokratische Neuausrichtung des deutschen Kulturund Bildungswesens«.² Dagmar Barnouw hat die historischen und politischen Bedingungen beschrieben,³ Sven Hanuschek Kästners außergewöhnliches Geschick, seinem Auftrag mit fremden und eigenen Texten beizukommen.⁴ Auf dieser sicheren Grundlage lassen sich an ausgewählten Beispieltexten Muster und Eigenheiten von Kästners Schreibhaltung beobachten.

1 Die Empfehlung »Wenn er überlebt, mag er einer der wichtigen Männer für die Nachkriegsperiode werden« hatte Carl Zuckmayer 1943/44 in seinem Rapport über Kästner für das ›Office of Strategic Services‹ (OSS) abgegeben; Carl Zuckmayer: Geheimreport. Hg. von Gunther Nickel u. Johanna Schrön. Göttingen 2002, S. 104. 2 DMe [Dennis Meyer]: Reeducation. In: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld 32015, S. 21–23, hier S. 22. 3 Dagmar Barnouw: Erich Kästner und die Neue Zeitung. Inländische Differenzierungen. In: Manfred Wegner (Hg.): »Die Zeit fährt Auto«. Erich Kästner zum 100. Geburtstag. München 1999, S. 143–152. 4 Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners. München, Wien 3 2017, S. 322–339. https://doi.org/10.1515/9783111085081-008

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Ich darf kurz rekapitulieren: Die von den Alliierten propagierte Reeducation beeindruckt Kästner kaum. In seiner Selbstwahrnehmung inklusive der Einschätzung seines persönlichen Umfeldes findet die Stunde Null vor allem in materieller Hinsicht statt, als Wendepunkt zwischen Zerstörung und Wiederaufbau des Landes. Ein Umdenken, gar ein Umlernen sind aus seiner Vorstellungswelt ausgeschlossen; nicht einmal ein Wiederanknüpfen an die linksliberalen Überzeugungen der Weimarer Jahre hält er für nötig, sie seien nie verlassen worden. Sich und uns möchte Kästner eine ungebrochene Kontinuität glaubhaft machen. Eine unheilige Kontinuität bildet der Ort des Geschehens. Gedruckt wurde die Neue Zeitung in der Schellingstraße im ehemaligen Haus des deutschen Buches, das dem Bombardement entgangen war, auf den noch intakten Druckmaschinen des Völkischen Beobachters und zwangsläufig in dessen Format. Gleich zur ersten Nummer vom 18. Oktober 1945 liefert Kästner den Münchener Theaterbrief. Das Thema ist Programm: Die »Schaubühne als moralische Anstalt« (Schiller) zu betrachten und zu verpflichten, macht Kästner sich zur vordringlichen Aufgabe. Etwa ein Drittel seiner Feuilletons sind ganz oder teilweise Theaterkritiken. Der Münchener Theaterbrief, wie die meisten Artikel Kästners geschrieben in der Ich-Form, berichtet von der »trotz Trümmern, Not und Kummer« ungeheuren Aufbruchstimmung unter den Kulturschaffenden aller Sparten und von überall her, die im zugigen Pensionszimmer des Schreibers aufeinandertreffen. Es gilt, diesseits der von den Siegermächten aufgestellten Kategorien Mitstreiter am Wiederaufbau zu finden. Kurz nach Kriegsende hatte der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung in einem Interview in der Zürcher Weltwoche ⁵ den Begriff Kollektivschuld geprägt, ein Vorwurf, der schwer auf Kästner lastet. Wie ein Kommentar dazu liest sich, was er Ende Juni 1945 im Blauen Buch notiert: »Die anständige deutsche Bevölkerung muss als jenes Volk dargestellt werden, das als erstes, am längsten und am nachhaltigsten von den Nazis ausgepowert und malträtiert worden ist.«⁶ Sich selbst stilisiert Kästner ganz im Sinne seines Helden Gotthold Ephraim Lessing zum gemischten Charakter, der die NS-Zeit mit einer Art traumwandlerischer Sicherheit überlebt, »zwölf Jahre lang ein ironisches Gesicht gemacht und den Stammtisch im Leon gehalten«⁷ habe. Nicht eine von außen gesteuerte Umerziehung, nur eine Erneuerung von innen könne das bessere Deutschland hervorbringen. Ein nahtloser Übergang scheint immerhin möglich. In der New York Times vom 20. September

5 Am 11. Mai 1945. 6 Erich Kästner: Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941–1945. Hg. von Sven Hanuschek in Zusammenarbeit mit Ulrich von Bülow und Silke Becker. Aus der Gabelsberger’schen Kurzschrift übertragen von Herbert Tauer. Zürich. Erweiterte Neuausgabe 32018, S. 227 (unter dem 29.6.1945). 7 Erich Kästner: Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 92 (30.4.1946, an Margot Schönlank).

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1945 entdeckt er eine Besprechung der umstrittenen Deutschlandapologie The German Talks Back des Exilanten Heinrich Hauser, der, ein Journalist und Abenteurer von schillernder Persönlichkeit, offene Kritik an der Besatzungspolitik der Amerikaner übt. Hausers Quintessenz entnahm Kästner der Book Review zitatweise: »Was die Deutschen denken werden, ohne es laut zu sagen, ist: Die Welt hat uns gründlich mißverstanden.« Ohne nähere Kenntnis des Inhalts (»Nun, in ein paar Monaten werden wir Hausers Buch selbst lesen, nicht nur Kritiken darüber«) nimmt Kästner die Begegnung mit dem »alten Bekannten« Hauser zum Aufmacher seiner eigenen Aufbruchsphantasie. Auch jetzt noch – sechs Monate nach dem Ende der mörderischen Ereignisse zu Lande, aus der Luft, vorm Volksgerichtshof und in den Konzentrationslagern – erlebt man täglich, daß zwischen überfüllten Gasthaustischen oder gar mitten auf dem Fahrdamm seriöse Männer vorgerückten Alters einander um den Hals fallen und sich gegenseitig gerührt auf den Rücken klopfen. Nun gehörten derart handgreifliche Vertraulichkeiten nie ins deutsche Repertoire. Sie sind nur verständlich, wenn man berücksichtigt, welch reichhaltiger Auswahl an Todesarten die Männer, die sich jetzt empfindsam in die Arme fallen, entkommen sind, und wie schwer es zudem in der letzten Zeit war und noch heute ist, Genaues über den Verbleib unserer Mitmenschen und Mitarbeiter zu ermitteln. Das alte Notizbuch mit den alten Adressen haben wir fortgeworfen. Jetzt können wir das neue Notizbuch anlegen. Wir wissen wieder, mit welchen und mit wieviel Freunden und Kollegen wir künftig werden rechnen dürfen.⁸

Er war der Diener zweier Herren, mit bewundernswertem Einfallsreichtum kam er den Empfindlichkeiten seines Publikums entgegen und stellte zugleich seine Arbeitgeber zufrieden. In diesem Spagat macht er mit der List einer Captatio benevolentiae aus der Vorstellung von Hausers Buch ein Lehrstück in Sachen Zensurfreiheit. Die »Großzügigkeit«, die Veröffentlichung nicht zu unterdrücken, verrate beispielhaft »politische Klugheit«. Und, so Kästner weiter, »Man kann nur hoffen, daß wir den Satz, die Großzügigkeit der anderen sei Klugheit, durch unser Verhalten nicht Lügen strafen.«⁹ In Deutschland erscheint Hausers Buch nicht, auch Kästners Artikel bleibt ephemer. In die erste Werkausgabe 1958 wird Kästner ihn nicht aufnehmen. Unter der Überschrift Neues von Gestern wird er dort etwa die Hälfte seiner rund 90 Artikel aus der Neuen Zeitung auswählen und die Anthologie mit dem Münchener Theaterbrief eröffnen.¹⁰ Was dabei allerdings fehlt, ist die einleitende Präambel, mit

8 Erich Kästner: Ein Deutscher antwortet. Amerika spricht von Heinrich Hausers »The German talks back«. In: Die Neue Zeitung 1/6 (1945), Sonntag, 4. November 1945. 9 Ebd. 10 An diese Regelung halten sich auch die beiden folgenden Werkausgaben; Erich Kästner: Gesammelte Schriften für Erwachsene. Bd. 8: Vermischte Beiträge III. Zürich 1969, S. 9–190, und Erich Kästner: Splitter und Balken. Publizistik. Hg. von Hans Sarkowicz und Franz Josef Görtz in Zu-

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der er sich den Lesern der Neuen Zeitung in der dritten Person selbst vorgestellt hatte. Wir haben unseren Schriftleiter Erich Kästner gebeten, der Leserschaft ein paar passende Worte über den Schriftsteller Erich Kästner zu sagen. – Nun, E. K. war im Laufe der letzten zwölf Jahre elfeinhalb Jahre verboten. Das klingt lustiger als es war. Trotzdem blieb er während der ganzen Zeit in der Heimat, d. h. vorwiegend in Berlin und Dresden, und fühlte Deutschland den Puls. Eines Tages wird er versuchen, die Krankengeschichte niederzuschreiben.¹¹

Nicht auf seine journalistische Erfahrung oder seine Bekanntheit als Schriftsteller rekurriert Kästner hier. Vielmehr ist es das Verbot durch die Nazis, das ihn dazu prädestinieren soll, die anspruchsvolle Aufgabe anzugehen. Vollends irritierend aber ist der Satz »Das klingt lustiger als es war«. Die notorische Appellstruktur der Kästner’schen Texte ist hier an einen paradoxen Punkt gelangt. Die zugrundeliegende Redefigur der rhetorischen Emphase gehört zu den GrenzverschiebungsTropen, mittels derer ein unangenehmer Gedanke durch eine harmlos scheinende Äußerung kaschiert wird.¹² Imaginiert wird ein Dialogpartner, der die absurde Lustigkeit des Lebens als verbotener Autor behauptet haben soll. Als Projektionsfläche böte sich der Geheimdienstoffizier Joseph Dunner an, der Kästners Gründe für den Verbleib in Deutschland beargwöhnt hatte, was bei diesem, ganz im Sinne der missverstandenen Deutschen in Hausers Buch, basses Erstaunen auslöste.¹³ Kaschiert durch den Überraschungseffekt der das aptum außer Acht lassenden Rede wird eine Vergangenheit, in der der Autor zwar Restriktionen unterworfen war, in der seine Bücher aus den öffentlichen Bibliotheken verbannt und verbrannt wurden, in der er aber auch die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer beantragt und damit seine Bereitschaft zur Teilanpassung kundgetan hatte, in der er Devisen erwirtschaften konnte und in der er durch listige Ausnutzung eines Netzwerks von Kollegen und Freunden dem Publikationsverbot durch pseudonyme oder kollektive Arbeiten auszuweichen verstanden hatte. An der Füllung dessen, was er hinter der Formulierung von der vermeintlichen Lustigkeit versteckt und ausspart, wird Kästner sich weidlich abarbeiten. So wirbt er in Gescheit und trotzdem tapfer,

sammenarbeit mit Anja Johann. München, Wien 1998, S. 481–593 (= Erich Kästner: Werke. Hg. von Franz Josef Görtz, Bd. 6). 11 Erich Kästner: Münchener Theaterbrief. In: Die Neue Zeitung 1/1 (1945), Donnerstag, 18. Oktober 1945. 12 Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie. 4., durchgesehene Ausgabe, München 1971, S. 137 f. 13 Erich Kästner: Notabene 45. In: Ders.: Splitter und Balken (s. Anm. 10), S. 438–441; ders.: Das Blaue Buch (s. Anm. 6), S. 218.

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dem Artikel, mit dem er im Januar 1946 im ersten Heft der von ihm parallel zur Arbeit in der Neuen Zeitung herausgegebenen Jugendzeitschrift Pinguin auftritt, um Verständnis dafür, »wie schwer es den Deutschen gemacht wurde, ihre menschlichen Tugenden zu bewahren«.¹⁴ Mit dem Versprechen an sein Publikum, die verbrecherischen zwölf Jahre des nationalsozialistischen Deutschlands als »Krankengeschichte« einer Art Heilungsprozess zu unterziehen, definiert er sein Verständnis von Reeducation. Er wird die Einlösung schuldig bleiben. Die Aufgabe, die schlechterdings nicht zu leisten ist, die ihn in mehrfacher Hinsicht überfordert, ist die publizistische ›Bewältigung‹ des Holocaust und der Kriegsverbrechen. Als akkreditierter Journalist besucht er die Eröffnungsveranstaltung des Nürnberger Prozesses, des »Internationale[n] Militärtribunal[s] gegen 24 Hauptkriegsverbrecher und sechs als verbrecherisch angeklagte Organisationen des Nationalsozialismus«.¹⁵ Meine Überkorrektheit ist hier durchaus beabsichtigt, denn Kästners Artikel gibt zu einiger Verwunderung Anlass. Die Neue Zeitung brachte die mit Streiflichter aus Nürnberg überschriebene Reportage am Freitag, 23. November 1945, einen Tag nach der Abfassung, der eingangs mit »Nürnberg, 22. November« angegeben ist. Die Anklageerhebung hatte am Dienstag, dem 20. November stattgefunden – »Dienstag morgen«, heißt es im Text –, die Anreise müsste folglich am 19. November erfolgt sein, und noch am Donnerstag will Kästner sich in Nürnberg aufgehalten haben. Die zeitlichen Determinanten befestigen den Text ebenso wie die topographischen; die Beschreibung der Fahrten auf der Autobahn München – Nürnberg und zurück rahmen den Bericht ein, dessen Schlussteil demnach erst in München geschrieben wurde. Die Überwindung der Strecke schafft Raum zur Reflexion und zu phantasievollen Reminiszenzen. Fast zu symbolträchtig in der Schilderung der Hinfahrt sind zwei Szenen am Straßenrand, die eine, in der sich Frauen und Kinder am Feuer wärmen, das ein farbiger GI entfacht hat, die andere ist ein Sinnbild der anstehenden ›Vergangenheitsbewältigung‹: Ein mit Dung beladener Ochsenkarren stolpert durch den Nebel. Die Räder stecken bis zur Nabe in weißlich brauendem Dampf. Und drüben, mitten auf dem Feld, ragen ein paar Dutzend kahler, hoher Hopfenstangen in die Luft. Es sieht aus, als seien Galgen zu einer Vertreterversammlung zusammengekommen …¹⁶

14 Zit. nach: Erich Kästner: Wir sind so frei. Chanson, Kabarett, Kleine Prosa. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke. München 1998, S. 22–25, hier S. 25 (= Erich Kästner: Werke. Hg. von Franz Josef Görtz, Bd. 2). 15 DMe [Dennis Meyer]: Nürnberger Prozess. In: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Bielefeld 2015, S. 23 f., hier S. 23. 16 Erich Kästner: Streiflichter aus Nürnberg. In: Die Neue Zeitung 1/11 (1945), Freitag, 23. November 1945.

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Der Satz endet mit drei Auslassungspunkten. Auf dem Weg nach Nürnberg sinniert der Reporter über den Wahnwitz des Krieges, auf der Heimfahrt sieht er die Allegorien von Krieg, Pogrom, Menschenraub, Mord und Folter »[r]iesengroß und unsichtbar […] neben den angeklagten Menschen« auf der Anklagebank sitzen. Die Atmosphäre im Gerichtsgebäude schildert er als bedrohliches Szenario von Uniformen und Kontrollen, vor dem er sich wiederum in eine Phantasie respektive fantasy rettet. Diesmal imaginiert er einen Fremdenführer, der hunderte von Jahren später gelangweilt die historischen Fakten »herunterleiern« wird. Der Technik der Synchronsprechanlage schenkt der Reporter mehr Aufmerksamkeit als den Angeklagten. So, wie sie beschrieben werden, würde sich das, ins Glamouröse gewendet, in einer Gesellschaftsspalte gut ausnehmen: »Göring trägt eine lichtgraue Jacke«, Keitel eine »tressenlose Uniformjacke, grau mit grünem Kragen«, die »schwarzen Augenbrauen« von Rudolf Heß »wirken […] geradezu unheimlich«, Rosenberg »zupft […] an der Krawatte« … – diesmal mache ich drei Pünktchen. Ein echter Fauxpas unterläuft dem Reporter bei der Aufzählung. Die Angeklagten sitzen in zwei Reihen à zehn Personen, der Reporter beginnt in der ersten Reihe links mit Göring und endet mit Hans Fritzsche, dem »letzte[n] der zweiten Reihe, und damit [dem] letzte[n] der Zwanzig überhaupt«. Aber – nur 19 Personen werden genannt. Es fehlt Albert Speer, dessen elegante Erscheinung sich in der Gesellschaftsspalte sicher gut ausgenommen hätte; er war der dritte von rechts in der zweiten Reihe.¹⁷ Fast scheint es, als sei es Kästner nicht möglich gewesen, seinen Text professionell abzuschließen. Grässlich ist die Wiedergabe der Anklage, dreimal rettet der Reporter sich in Auslassungspunkte, nach der dritten Leerstelle heißt es unvermittelt: »Um zwölf ist Mittagspause.« Man spürt geradezu die Erleichterung. Für den lebhaften Betrieb in den Gängen des Gerichtsgebäudes wählt der Reporter den Begriff »Jahrmarktstreiben« und späht spürbar animiert nach Prominenz aus. »Die Leser unseres Blattes. Sie verstehen …«, entschuldigt er seine Neugier gegenüber einem amerikanischen Kollegen. Zu entdecken sind John Dos Passos, Erika Mann, Peter de Mendelssohn, Howard Smith¹⁸ und William Shirer.¹⁹ Wiederum mit Auslassungszeichen wird die bedrückende Fortsetzung der Verlesung der Anklagepunkte am Nachmittag überstanden. »Das Herz tut mir weh, nach allem, was ich gehört habe …«, fasst der Reporter zusammen. Hätte es damit sein Bewenden, ließen sich die

17 Vgl. Albert Speer: Erinnerungen. Frankfurt a. M. 1969, S. 515. 18 Howard K. Smith (1914–2002) hatte 1940 in Berlin Hitler, Himmler und Goebbels interviewt. 1942 war Last Train from Berlin. An Eye-Witness Account of Germany at War erschienen. 19 Der US-amerikanische Historiker und Journalist William Lawrence Shirer (1904–1993) war 1934 bis 1940 als Auslandskorrespondent in Berlin, 1941 veröffentlichte er das Berlin Diary. 1946 ging er als Prozessbeobachter nach Nürnberg.

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Auslassungspunkte am Ende auch dieses Satzes wohl verzeihen, doch kann er sich einer Pointe nicht enthalten: »Und die Ohren tun mir auch weh«, schließt er den Absatz. »Die Kopfhörer hatten eine zu kleine Hutnummer.« Die Fallhöhe zu den Anklagepunkten – »Mord an Kriegsgefangenen, Mord an Geiseln, Raub, Deportation, Sterilisation, Massenerschießungen mit Musikbegleitung, Folterungen, Nahrungsentzug, künstliche Krebsübertragungen, Vergasung,Vereisung bei lebendigem Leibe, maschinelle Knochenverrenkung« – ist horrend. Die humoristische Volte ist der letzte Versuch, das Ungeheure zu trivialisieren und auf den Alltag herunterzubrechen.²⁰ Die im Freud’schen Sinne entlastende Funktion teilt das Komische mit der Zukunftsphantasie, wenn der Fremdenführer den Touristen erklären muss, was es mit dem unter einem Glassturz ausgestellten Stahlhelm auf sich hat, weil irgendwann in den folgenden Jahrhunderten der Krieg abgeschafft wurde, oder mit der Szene in den Gängen, als das Entgegenkommen des Kollegen metafiktional kommentiert wird: »Der andere versteht. Wozu ist er Journalist!« – womit zugleich die eigenen stilistischen Schwankungen und faktischen Nachlässigkeiten legitimiert wären. Schnell geschrieben, schnell abgelegt – das metaphorische Titelwort Streiflichter zielt in dieselbe Richtung und fragmentarisiert die Aufklärung. Lavieren, vor der Unerträglichkeit der Geschehnisse ausweichen, zum Selbstschutz wie zur Schonung der Leser, all dies ließe sich der Textsorte und dem Publikationsort gemäß konzedieren. Auf der Heimfahrt herrscht Nebel. »Ich blicke aus dem Fenster und kann nichts sehen. Nur zähen, milchigen Nebel …«. Auch dieser Satz, in dem der Reporter seine Insuffizienz offenlegt, endet mit drei Pünktchen, ebenso wie wenig später der ganze Artikel. Der Reporter stellt sich vor, dass Prozesse wie der Nürnberger den Krieg zum Aussterben bringen könnten, so dass »spätere Generationen […] eines Tages über die Zeiten lächeln [könnten], da man einander millionenweise totschlug«, und endet mit der Hoffnung, »wenn es doch wahr würde! Wenn sie doch eines Tages über uns lächeln könnten«. Die Auslassungspunkte, die hier folgen, öffnen Raum für die einvernehmliche Hoffnung von Reporter und Leser. Der Text wurde unverändert in alle Werkausgaben aufgenommen. Der fehlende zwanzigste Angeklagte blieb dabei offenbar unbemerkt; vielleicht auch fiel der Fauxpas angesichts der entlastenden Wirkung des Artikels weiter nicht ins Gewicht. Keine Entlastung stellt sich ein im nächsten zentralen Holocaust-Artikel, mit dem Kästner seinem Reeducation-Auftrag nachkommt. Im Januar 1946 wird in den deutschen Kinos der Film Die Todesmühlen gezeigt, ein Zusammenschnitt von

20 Vgl. dazu grundsätzlich: Stefanie Cetin: Was gibt’s denn da zu lachen? Erich Kästners moderner Humor. In: Silke Becker, Sven Hanuschek (Hg.): Erich Kästner und die Moderne. Marburg 2016, S. 47 bis 67.

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Aufnahmen aus den befreiten Konzentrationslagern. Bei Kästners Beschreibung dessen, was dort zu sehen ist, wird aus dem »zähen, milchigen Nebel« finstere Nacht. »Es ist Nacht«, mit dieser die Möglichkeit von Aufklärung negierenden Sequenz beginnt jeder der sechs Absätze in Wert und Unwert des Menschen, dem Artikel, den Kästner am Montag, dem 4. Februar 1946, in die Neue Zeitung einrückt. Es sei eine Auftragsarbeit, er solle über den Film schreiben, heißt es gleich im Anschluss. Die folgenden Sätze des ersten Abschnitts sind sämtlich syntaktisch unvollständig, als sei der Versuch, das Gesehene zu schildern, nur um den Preis des Satzbaus möglich. »Ich bringe es nicht fertig, über diesen unausdenkbaren, infernalischen Wahnsinn einen zusammenhängenden Artikel zu schreiben«, heißt es nach dem seriellen Eingangssatz im zweiten Abschnitt. »Die Gedanken fliehen, sooft sie sich der Erinnerung an die Filmbilder nähern. Was in den Lagern geschah, ist so fürchterlich, daß man darüber nicht schweigen darf und nicht sprechen kann.« Kästner beschreibt die kommerzielle Auswertung der Leichen, die KZ-Aufseherinnen, die Wirkung auf das Publikum, das sich hinter den Verdacht von Propagandalügen rettet, zitiert Ignazio Silones Schule der Diktatoren, kämpft mit persönlicher Betroffenheit – von den dreißig Kindern, die in Theresienstadt Emil und die Detektive aufgeführt haben, haben nur drei überlebt. Schuldbekenntnis und Abwehr der Kollektivschuld, einmal mehr gepaart mit der deutschen Opferrolle, beschließen den Text: »Nun, wir Deutschen werden gewiß nicht vergessen, wieviel Menschen man in diesen Lagern umgebracht hat. Und die übrige Welt sollte sich zuweilen daran erinnern, wieviel Deutsche darin umgebracht wurden.« In Kästners Artikel mit der irreführenden Überschrift Unser Weihnachtsgeschenk nimmt das Bildfeld der Aufklärung eine dialektische Richtung: »Diese Weihnachten ist es weniger denn je angebracht, daß sich der für den Festartikel abkommandierte Zeitungsmann einen doppeltbreiten, schönwallenden weißen Bart vors Gesicht hängt, ehe er zur Schreibmaschine tritt«, beginnt Kästner. »Auch braucht er keine Kerzen am Schreibtisch anzünden zu lassen. Es wäre unwürdig, die Situation durch eine festliche Beleuchtung verdunkeln zu wollen.«²¹ Statt einer erbaulichen Übung erzählt der »Zeitungsmann«, wie er Augenzeuge der Pogromnacht des 10. November 1938 in Berlin wurde und wie in unheimlicher Geschwindigkeit die Verkehrung von Gut und Böse eintrat. Wieder diffundieren Täter und Opfer, wieder steckt buchstäblich der Karren im Dreck fest: […] hier, auf dem Gebiete des Gewissens und Charakters, lag der furchtbarste, der unheimlichste Fluch jener zwölf Jahre. […] Das Gewissen vieler, die nicht besser oder schlechter waren als andere Menschen auf der Welt, wurde ratlos. […]

21 Erich Kästner: Unser Weihnachtsgeschenk. In: Die Neue Zeitung 1/20 (1945), Montag, 24. Dezember 1945; dann wieder aufgenommen in die Werkausgaben.

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Die Ratlosigkeit des Gewissens, das war das Schlimmste. Die Ausweglosigkeit aus dem morastigen Labyrinth, in das der Staat ein Volk hineingetrieben hatte und an dessen Ausgängen die Henker standen. Wer es nicht erlebt hat, wer nicht verzweifelnd in diesem Labyrinth herumgeirrt ist, der hat es zu leicht, den ersten Stein auf dieses Volk zu werfen.²²

Es wäre nun ein Leichtes, beim Thema Opferrolle versus Kollektivschuld zu bleiben, aus notorischen wie aus auf den ersten Blick unbetroffenen Artikeln ein Zitatkorpus zu kollagieren und in den Spannungsbögen von Bekenntnis und Auslassung zu interpretieren. Aber damit wäre die Leistung des Feuilletonisten Kästner nur sehr partiell beschrieben. Der nämlich beherrscht virtuos eine Fülle von kleinen Formen. Glossen, Reportagen, Landschaftsbilder, Reiseberichte, Milieustudien, Anekdoten, Theaterspielpläne und Neuigkeiten aus dem Feld der Literatur und des Films gestaltet er in der Regel als in sich geschlossene Einheiten, aus denen er in unterschiedlicher Vollständigkeit und wechselnder Reihenfolge viele seiner Artikel kombiniert. Die erzählerischen Texte hält er dem Merkmal der Gattung Feuilleton gemäß in betont persönlicher Schreibweise, nach seiner individuellen Manier pointiert und – als Schüler des 18. Jahrhunderts – witzig. Der Grad der Fiktionalisierung, die jeder Verschriftlichung per se innewohnt, ist unterschiedlich ausgeprägt; in nüchternen oder moralisch fundierten Sachtexten kann das Operieren mit Humor im weiteren Sinne befremdliche Kippmomente generieren. Etliche von Kästners Feuilletons haben narrative Anteile – vier hat Sven Hanuschek zu Recht in den Band Der Herr aus Glas. Erzählungen aufgenommen.²³ (Nebenbei: Nach welchen Kriterien Kästner selbst mit dem Neue Zeitung-Fundus verfuhr und die ausgewählten Artikel auf die beiden Sammlungen Der tägliche Kram und Neues von gestern verteilte, wäre durchaus eine Untersuchung wert.) Die drei Feuilletons, von denen jetzt die Rede sein soll, stehen, das zweite und dritte in chronologisch vertauschter Reihenfolge, in Band 8 der grünen Werkausgabe von 1969 unter Neues von gestern. ²⁴ Die kommentierte Werkausgabe von 1998 bietet aus

22 Ebd. 23 Erich Kästner: Der Herr aus Glas. Erzählungen. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2019. Darin enthalten: Mama bringt die Wäsche. Aus Berliner Tagebuchblättern, S. 210–216 (Die Neue Zeitung 3/21 [1947], 14. März 1947); Kurzgeschichte in fünf Akten, S. 217–220 (Die Neue Zeitung 3/34 [1947], 28. April 1947); Das Märchen von der Vernunft, S. 221–224 (Die Neue Zeitung 4/21 [1948], 14. März 1948); Wahres Geschichtchen, S. 225–227 (Die Neue Zeitung 4/69 [1948], 28. August 1948). 24 Erich Kästner: Gesammelte Schriften Bd. 8 (s. Anm. 10), darin: Gespräch mit Zwergen, S. 59–65 (Die Neue Zeitung 2/20 [1946], 11. März 1946); Rehfisch und die Berliner Eintracht. Eine Welturaufführung im Hebbel-Theater, S. 119–123 (Die Neue Zeitung 2/76 [1946], 23. September 1946); Mein Wiedersehen mit Berlin, S. 126–130 (Die Neue Zeitung 2/75 [1946], 20. September 1946).

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dieser Suite unter ebendieser Überschrift ohne Begründung und Nachweis insgesamt nur eine Auswahl²⁵ und verzichtet auf den zweiten respektive dritten Text. Die drei lose zusammenhängenden Texte beweisen, wie vergnügt über die deutsche Misere geschrieben werden kann. Im ersten mit dem Titel Gespräch mit Zwergen erzählt der Redakteur Kästner, dass er, um der Flut von Leserbriefen Herr zu werden und da der Platz in seiner Wohnung beschränkt sei, die aus Schneewittchen bekannten Zwerge als Privatsekretäre engagiert zu haben, was sich bequem gestalte: Sie nehmen nicht viel Platz weg. Sie essen verhältnismäßig wenig. Und wenn ich abends abgekämpft im Ohrenstuhl sitze, hocken sie rings auf meiner Lehne, hübsch dicht beieinander, wie Kinder auf dem Zaun, und berichten an Hand unwahrscheinlich niedlicher Notizblöcke, was die Leser über dieses und jenes Thema denken.²⁶

Doch könne er nur fünf Zwerge beschäftigen. Schuld daran seien die aktuellen politisch-bürokratischen Hürden, was einen satirischen Seitenhieb auf die Bürokratie unter der Besatzung erlaubt: Der sechste habe noch keine »Briefleselizenz«, der siebente sei noch nicht endgültig entnazifiziert, was der Zwerg mit einer verächtlichen Bemerkung abtut. Im zweiten Text, Mein Wiedersehen mit Berlin, wird der satirische Seitenhieb gegen die Spruchkammerverfahren wiederaufgegriffen: Die Zwerge hoffen, umso leichter als »›Mitläufer‹ davonzukommen«; denn da sie »von Natur aus kleine Schritte machen […], sei ihre Mitläuferei im Grunde völlig bedeutungslos gewesen«. Im dritten Text, Rehfisch und die Berliner Eintracht, besucht der Ich-Erzähler in Begleitung des Zwergs Professor Enoch Kleiner – selbstverständlich tragen alle Zwerge hübsche Namen – eine Premiere im Hebbel-Theater, was man sich so vorzustellen hat: »Im Zuschauerraum wurde es dunkel. Ich zog den winzigen, weißbärtigen Professor aus meinem Jackett, setzte ihn auf meinen Schoß und …« Was diesmal auf die drei Auslassungspunkte folgt, ist eine kleine Sottise über die Missachtung des Stückeschreibens in der Dichterzunft. Wie der Kritiker und sein Zwerg die Aufführung von Hans José Rehfischs Quell der Verheißung dann verreißen und am nächsten Tag mit Begeisterung die einhellig schlechte Beurteilung in den Berliner Zeitungen aus sämtlichen vier Besatzungszonen zur Kenntnis nehmen, das ist nun wirklich von höchster Komik. »Wie schön«, sagte der Zwerg gerührt, der auf meiner Bettkante saß und die Blätter studierte. »Soviel Einigkeit, herrlich! Hoffentlich schreibt Herr Rehfisch bald wieder ein so schlechtes

25 Erich Kästner: Neues von Gestern. In: Ders.: Splitter und Balken (s. Anm. 10), S. 481–593. 26 Erich Kästner: Gespräch mit Zwergen. In: Die Neue Zeitung 2/20 (1946), Sonntag, 11. März 1946.

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Theaterstück«. Ich antwortete in meiner bekannten gutherzigen Art: »Es muß ja nicht immer Herr Rehfisch sein.«²⁷

Die direkte Rede ist ein häufig angewandtes Stilmittel in Kästners Feuilletons, mit fiktiven wie der Realität entstammenden Gesprächspartnern lassen sich auch schwierige Fragen unterhaltsam erörtern. Einen Dialog in epistolarischer Form inszeniert Kästner im Artikel Betrachtungen eines Unpolitischen,²⁸ mit boshafter Raffinesse gleichlautend betitelt wie Thomas Manns kriegsbejahende Schrift von 1918. Im Unterschied zu zahlreichen seiner Landsleute, allen voran Walter von Molo und Frank Thieß,²⁹ deren gegen Manns Beschuldigungen der im Lande gebliebenen Deutschen gerichtete Offene Briefe seit Sommer 1945 eine regelrechte Lawine ins Rollen gebracht hatten, wählte Kästner eine andere Form. Den Höhepunkt hatte die Kampagne nach Manns Neujahrsansprache für Deutsche Hörer erreicht, die am 30. Dezember 1945 über BBC ausgestrahlt worden war. Am 14. Januar 1946 auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung spricht Kästner in Onkelmanier fiktive »liebe Kinder« an. Rhetorisch entbehrt der Brief weder Kalauer mit dem Namen »Mann« noch einer beträchtlichen Marc-Antonhaftigkeit. Doch wird trotz aller Sottisen deutlich, dass Kästner den Großdichter verehrte und bewunderte. Anfang Juni 1947 trafen sie beim Internationalen PEN-Kongress in Zürich aufeinander. Am 10. Juni hält Thomas Mann im Auditorium Maximum der ETH eine Ansprache an die Zürcher Studenten und liest aus dem gerade beendeten Doktor Faustus. ³⁰ Kästner ist stolz darauf, dass er »vom gleichen Plätzchen aus« werde reden dürfen. »Eine auch für mich wichtige Sache«, schreibt er an Luiselotte Enderle.³¹ Das »Wiedersehen mit der ›Emigration‹« habe sich »frei von jedem Mißtrauen und Mißton« gehalten, verlautbart er am 27. Juni 1947 in der Neuen Zeitung. »Wir gaben uns, wahrhaftig nicht ganz ungerührt, die Hand und wußten sofort: Das Band zwischen uns, das mancher zerrissen glaubte, war heil und unversehrt geblieben.«³² Drei Tage später

27 Erich Kästner: Rehfisch und die Berliner Eintracht. Eine Welturaufführung im Hebbeltheater. In: Die Neue Zeitung 2/76 (1946), Montag, 23. September 1946. 28 Erich Kästner: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Die Neue Zeitung 2/4 [1946], Montag, 14. Januar 1946. 29 Vgl. J. F. Grosser (Hg.): Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland. Hamburg 1963. – Kästners Artikel wird in dieser Zusammenstellung ignoriert, seine satirische Einkleidung passt nicht zum pathetisch-moralischen Betroffenheitsgestus des Bändchens. 30 Vgl. Katrin Bedenig: Thomas Mann und Max Frisch in der Tradition des politischen Schriftstellers – 1945 bis 1955. In: Thomas Mann Jahrbuch 25 (2012), S. 275–290, hier S. 279. 31 Zit. nach Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht (s. Anm. 4), S. 346. Kästners Vortrag fand am 20. November 1947 statt. 32 Erich Kästner: Reise in die Vergangenheit. Wiedersehen mit Dingen und Menschen. In: Die Neue Zeitung 3/51 (1947), Freitag, 27. Juni 1947.

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rückt er dort Thomas Manns Glückwunsch zu Hermann Hesses 70. Geburtstag ein; es ist ein Verständigungstext unter Emigranten.³³ Am 9. Juli 1947 fordert Kästner in einer vom Office of Military Government For Bavaria veranstalteten Umfrage über Thomas Mann und andere Emigranten, »alles für die Rückkehr der Dichter, Professoren und Verleger« zu tun. Wohl wissend, dass Thomas Mann auf eine endgültige Rückkehr keinen Wert legte, möchte er ihn wenigstens davon überzeugen, »wie wichtig seine ›Anstandsvisite‹ in Deutschland sei«,³⁴ und fordert in diesem Interesse sogar, weitere negative Stellungnahmen in den Medien zu unterdrücken.³⁵ Am 26. September druckt Kästner in der Neuen Zeitung den Aufsatz Die Aufgabe des Schriftstellers wieder ab, den Mann am 18. April der neugegründeten Monatszeitschrift des Schutzverbandes Deutscher Autoren als Geleitwort geschenkt hatte.³⁶ Ende Oktober 1947 ist Kästner erneut in Zürich. Der Bericht, den er am 21. November in der Neuen Zeitung druckt, ist in vieler Hinsicht typisch. Eingangs, wie so oft, stehen Naturimpressionen: Auch am Zürichsee ließen Herbst und Regen lange auf sich warten. Auch hier erinnerten die waldigen Hügel bis vor kurzem an verschossen grüne Sofalehnen. Erst jetzt liegen, wie sich’s für alte Kanapees gehört, große und bunte, prächtig bestickte Kissen auf dem vergilbten, ausgeblichenen Grün. Die Möwen kreischen am See. Fahrig und zappelig flattern sie überm Wasser. Es wirkt, als hätten sie sich in dem undurchsichtigen silbergrauen Nebel wie in wehenden Schleiern und Vorhängen verfangen und als suchten sie sich mit wilden, angstvollen Flügelschlägen zu befreien.³⁷

Die anschließende Schilderung der sozialen Bedingungen liest sich entschieden anders als noch fünf Monate zuvor im Artikel Reise in die Vergangenheit. Wo im Juni noch das reinste Schlaraffenland war, mit Erdbeerduft und Gratiszigaretten,

33 Thomas Mann: Glückwunsch an Hermann Hesse. In: Die Neue Zeitung 3/52 (1947), Montag, 30. Juni 1947. Darin heißt es u. a.: »Das äußere Geschehen, das unvermeidliche Verderben des armen Deutschland zumal haben wir zusammen vorausgesehen und zusammen erlebt – in weiter räumlicher Entfernung voneinander, die zeitweise gar keinen Austausch zuließ, aber doch immer zusammen, doch immer im gegenseitigen Gedenken.« 34 Jost Hermand, u. Wigand Lange: »Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben?« Deutschland und die Emigranten. Hamburg 1999, S. 139. 35 Ebd., S. 140. 36 Thomas Mann: Die Aufgabe des Schriftstellers. In: Der Schriftsteller 1 (1947), H. 1; gedruckt in: Wilfried F. Schoeller (Hg.): Diese merkwürdige Zeit. Leben nach der Stunde Null. Ein Textbuch aus der »Neuen Zeitung«. Frankfurt a. M., Wien, Zürich 2005, S. 208–211.Vgl. auch den Beitrag Heimkehr? von Karl O. Paetel in Die Neue Zeitung 3/1 (1947), Samstag, 4. Januar 1947; gedruckt ebd., S. 179–181. 37 Erich Kästner: Treffpunkt Zürich. In: Die Neue Zeitung 3/93 (1947), Freitag, 21. November 1947; in die Werkausgaben nicht aufgenommen. Teildruck der Brecht-Passagen in: Dreigroschenheft 3 (2014), S. 3–5. Online unter https://www.dreigroschenheft.de/downloads/3gh2014-3.pdf (20.02. 2022).

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herrscht jetzt Teuerung, so dass ein »›freier Journalist‹ […] sich und den Federhalter mächtig strecken [muss] […] und das neue Buch von Thomas Mann vierundzwanzig Franken und achtzig Rappen« kostet. Das Umrechnen von Buchpreisen in die nachkriegsdeutsche Zigarettenwährung führt zu schwindelerregenden Summen. Doch geblieben ist der Treffpunkt Zürich, wie der Artikel denn auch heißt. Man biegt um eine Straßenecke und läuft in Carl Zuckmayer hinein. Man will zum Bühneneingang des Schauspielhauses und trifft Bertold [sic!] Brecht. Man geht ins Kaffeehaus und sieht plötzlich Alexander Lernet-Holenia. ›Treffpunkt Schweiz‹ heißt eine Rubrik in der ›Weltwoche‹, und das muß wahr sein: Die Schweiz ist heute ein Rendezvousplatz par excellence. Man stürzt aus dem einen Wiedersehen ins nächste, und die Freude darüber, daß die Katastrophe so manchen guten Kopf verschont hat, ist echt, und keiner verhehlt sie, mag er nun Engländer, Amerikaner, Staatenloser oder Österreicher geworden oder am Ende gar Reichsdeutscher geblieben sein. Schon nach dem ersten kurzen Gespräch spürt man, daß man einander, nach so langem Fernesein, wohl gar durch eben dieses Fernesein, nähersteht als je zuvor.³⁸

Kästner ein Eireniker? Eher lag ihm wohl daran, Kontroversen nicht öffentlich werden zu lassen. Horst Lange registriert in der Runde der Kollegen »Intrigen, Intrigen, Intrigen, Fehlleistungen, Vormachtkämpfe, indirekt und lächerlich«.³⁹ In Kästners Beschreibung entfaltet wieder der Humor seine entspannende Wirkung, diesmal anekdotisch und in angemessener Komplexität: Als Oda Schaefer, die Lyrikerin, die inzwischen zur Engländerin erblühte Diseuse Blandine Ebinger⁴⁰ wiedersah, sagte sie konsterniert: »Sie haben sich so wenig verändert, daß ich Sie zuerst gar nicht erkannt habe!« Der Satz wurde von den Umstehenden herzlich belacht, doch auch der Hintersinn wurde gefühlt.⁴¹

38 Kästner: Treffpunkt Zürich (s. Anm. 37). 39 Oda Schaefer: Die leuchtenden Feste über der Trauer. Erinnerungen aus der Nachkriegszeit. München 1977, S. 78. 40 Blandine Francisca Ebinger (1899–1993), Schauspielerin, Chansonsängerin, Liedermacherin, stand rund 70 Jahre auf der Bühne. 1937 emigrierte sie in die USA, konnte sich jedoch nicht durchsetzen und kehrte 1946 nach Europa zurück. 1947 gastierte sie am Schauspielhaus Zürich, Kästner hatte sie bereits bei seinem früheren Besuch getroffen: »Blandine Ebinger lief ich im ›Pfauen‹ in die Arme, der berlinischsten Chansonette. ›O Mond, kieke mal nich so doof‹, ›Een Groschen liegt uff meiner Ehre‹, diese und andere Lieder, die sie einst sang und die Friedrich Holländer für sie schrieb, gehören für immer zu Berlin – und nun kam Blandine, äußerlich um nichts verändert, aus Amerika und hatte einen englischen Paß!« Erich Kästner: Reise in die Vergangenheit. In: Die Neue Zeitung 3/51 [1947], Sonntag, 27. Juni 1947. 41 Kästner: Treffpunkt Zürich (s. Anm. 37).

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Zünftige Fachsimpeleien »über Sprache, Stil, Drama und Roman« werden veranstaltet, und »eine soeben in Wiesbaden erschienene zweibändige Geschichte der deutschen Dichtung von 1885 bis 1947« belustigt die versammelten Künstler über die Maßen. Erschienen unter dem Haupttitel Literatur als Geschichte stammt das Werk von Paul E. H. Lüth, einem halbverkrachten Arzt und Geheimdienstler von höchst zweifelhaftem Ruf. Die Nachrichtenbörse kocht über. Brecht möchte in München oder Berlin inszenieren, mit Helene Weigel in der Hauptrolle – für Fragen der Remigranten zu den deutschen Bühnen ist Theaterkenner Kästner bestens gerüstet. Den Lesern der Neuen Zeitung stellt er den Spielplan des Zürcher Schauspielhauses vor; »während des Dritten Reiches ein Mahnmal des deutschen Geistes«, befinde es sich in einem »Übergangsstadium«, die interessanteren Angebote ergäben sich aus dem Nachholbedarf deutscher Bühnen an Stücken aus England, Frankreich, Amerika und den Arbeiten der Emigranten. Den »tiefsten und nachhaltigsten Eindruck« habe er nicht im Theater, sondern im Kino erfahren, bei Vittorio de Sicas neorealistischem Streifen Sciuscià, einem der »erschütterndsten sozialen Filme, die seit dem ›Panzerkreuzer Potemkin‹ entstanden sind«. Der Abschnitt etwa in der Mitte des Textes wartet wieder mit drei Auslassungspunkten auf, denen ich abschließend nachspüren will. In den letzten Tagen saßen wir oft beisammen: der jetzt in Zürich ansässige Werner Bergengruen, Horst Lange aus München, Lernet-Holenia aus St. Wolfgang im Salzkammergut, Brecht aus Santa Monica, Zuckmayer aus Vermont (USA) und der Schweizer Dramatiker Max Frisch. Es war wie in alten Zeiten, aber ohne die alten Zeiten. Wir sprachen darüber, was Schriftsteller in Tagen, umdüstert wie die unseren, tun müßten und wie wenig wir tun könnten. Daß der Schriftsteller das Amt der Kassandra habe, mindestens diesen verlorenen Posten, und wie närrisch es sei, als einzelner in die Brandung der Geschehnisse hineinzurufen. Daß es trotzdem gelingen müsse, sich wenigstens Gehör zu verschaffen! Es wurden Pläne gefaßt und verworfen und modifiziert – mehr kann im Augenblick noch nicht gesagt werden […].⁴²

So vage, wie Kästner glauben machen will, endete die Zusammenkunft nicht. Ihr Ergebnis war vielmehr eine Friedensinitiative; nach der Erinnerung von Alexander Lernet-Holenia hatte »wahrscheinlich« Brecht die gemeinsame »Erklärung[] gegen die Atombombe« angeregt.⁴³ Das alte Zeitzeugenproblem scheint auf – dem Ehepaar Schaefer/Lange war »das aus USA getürmte, nicht ganz saubere augsburgische TigerMäuschen Bert Brecht«⁴⁴ nicht geheuer; an seinem fehlenden Engagement sei die

42 Ebd. 43 Alexander Lernet-Holenia: Zwei deutsche Dichter. In: Forum 3/33 (1956), S. 321–323, hier S. 323. 44 Horst Lange über den knapp der Internierung entronnenen Brecht; zit. nach Schaefer: Die leuchtenden Feste (s. Anm. 39), S. 78. – Brecht hatte am 30. Oktober 1947 vor dem ›Komitee für

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Friedensinitiative gescheitert. »Er lächelte schlau, schwieg sich aus, er gedachte nicht zu unterzeichnen«, meint Oda Schaefer sich zu erinnern.⁴⁵ Von Brechts Weigerung wiederum weiß Max Frischs Tagebuch nichts zu berichten. Unter »Zürich, 9.11.1947« zitiert Frisch den Appell, den die Zürcher Versammlung zustande gebracht hat: Die unterzeichneten Schriftsteller, die sich in Zürich begegnet sind, stellen fest, daß die Existenz zweier verschiedener ökonomischer Systeme in Europa für eine neue Kriegspropaganda ausgenutzt wird. Nicht nur besorgt um das Schicksal ihrer Länder, sondern der ganzen Welt, bitten sie die Schriftsteller aller Nationen, den beiliegenden Artikel mitzuunterschreiben und in seinem Sinne zu wirken.⁴⁶

Dringlicher noch in der materialistischen Begründung klingt Brechts Begleitschreiben: Mit steigendem Alarm stellen wir fest, daß die Existenz zweier verschiedener ökonomischer Systeme in Europa für eine neue Kriegspropaganda ausgenutzt wird. Wir bitten die Schriftsteller aller Nationen, den folgenden Aufruf zu unterscheiben und in seinem Sinne zu wirken.⁴⁷

Den Inhalt des Offenen Briefes überliefern Brecht und Frisch fast gleichlautend. Die Erwartung eines neuen Krieges paralysiert den Wiederaufbau der Welt. Wir stehen heute nicht mehr vor der Wahl zwischen Frieden oder Krieg, sondern vor der Wahl zwischen Frieden oder Untergang. Den Politikern, die das noch nicht wissen, erklären wir mit Entschiedenheit, daß die Völker den Frieden wollen.⁴⁸

Frisch übernahm es, die Resolution bei der russischen Militärregierung in Berlin zu übergeben. »Die Russen mögen heimlich nicht schlecht gelacht haben über soviel

unamerikanische Umtriebe‹ ausgesagt, war tags darauf nach Paris geflogen, hatte sich dort mit Anna Seghers getroffen, war nach Zürich weitergereist, um mit Kästner, »von München gekommen, […] ab und zu zu Abend zu essen. Die Berichte aus Deutschland sind finster«, schreibt er am 13. November an Lion Feuchtwanger. Bertolt Brecht: Briefe 2. Bearb. von Günter Glaeser unter Mitarbeit von Wolfgang Jeske und Paul-Gerhard Wenzlaff. Berlin, Weimar, Frankfurt a. M. 1998, S. 428 (= Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 29). 45 Schaefer: Die leuchtenden Feste (s. Anm. 39), S. 78. 46 Max Frisch: Die Tagebücher. 1946–1949. 1966–1971. Berlin, Darmstadt, Wien o. J. [1978], S. 182. 47 Brecht: Briefe 2 (s. Anm. 44), S. 429. 48 Frisch: Tagebücher (s. Anm. 46), S. 183. Marginale Abweichungen sind in der Beilage zu Brechts Brief an Lion Feuchtwanger zu konstatieren: »Wir stehen heute« > »Sie [die Welt] steht heute«; »oder Krieg« > »und Krieg«; »oder Untergang« > »und Untergang«; »die das noch nicht« > »die dies noch nicht«; Brecht: Briefe 2. (s. Anm. 44), S. 429 f.

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edle Einfalt und stille Größe der hommes de lettres«,⁴⁹ mokiert sich Horst Lange. Das Nein aus Moskau erfolgte denn auch prompt.⁵⁰ Dass Kästner selbst den erarbeiteten Text nicht mitteilt, ist in der Zeit des immer eisiger werdenden Kalten Krieges⁵¹ mit Rücksicht auf seinen Arbeitgeber nicht verwunderlich. Den Abschied von der Neuen Zeitung dürfte solche Rücksichtnahme ihm erleichtert haben. Die Arbeit belastete ihn immer mehr, Ende 1946 nimmt ihm Luiselotte Enderle das meiste ab. 1947 liefert er immer weniger eigene Beiträge, im April 1948 steigt er endgültig aus. Er bezieht sich auf sein im Vorspann zum Münchener Theaterbrief gegebenes Versprechen, den ultimativen Roman zum ›Dritten Reich‹ schreiben zu müssen. Die Schwierigkeiten benennt er in der Nummer vom 20. Januar 1947: Immer wieder wird die ungeduldige Frage laut, wann endlich die ersten deutschen Schriftsteller ihre Abrechnung mit der Vergangenheit präsentieren! Nun, auch nach 1918 erschienen die ersten Abrechnungen, die Bücher von Henri Barbusse und Leonhard Frank, im neutralen Ausland. Die entscheidenden deutschen, das heißt in Deutschland selbst erlebten und selbsterlebten Dichtungen wurden später, großenteils viel später geschrieben und veröffentlicht. Kristallisation, auch des durchlittenen Schmerzes und der überstandenen Verzweiflung, braucht ihre Zeit. Und Kristalle sollen es doch werden…⁵²

Kristalle wurden es nicht, an ihre Stelle traten das Schauspiel Die Schule der Diktatoren, das frisierte Kriegstagebuch Notabene 45 und die Anthologie Der tägliche Kram mit rund 20 Texten aus der Neuen Zeitung. Der Artikel Treffpunkt Zürich endet folkloristisch: In der Schweiz geht inzwischen alles seinen gemessenen, jeder Art von Sprüngen, auch von Vorsprüngen, abholden Gang. Zur Zeit redet man im Für und Wider über die nahende Abstimmung zum Frauenwahlrecht. So erstaunlich es klingt – in der Schweiz dürfen die Frauen nicht wählen.Viele Schweizerinnen finden das ganz in Ordnung.Viele Schweizer natürlich erst recht. Neulich erklärte ein Nationalrat auf einer Versammlung: »Ich bin nachdrücklich gegen das Frauenwahlrecht. Der Rütlischwur fand schließlich auch ohne Frauen statt!«⁵³

49 Schaefer: Die leuchtenden Feste (s. Anm. 39), S. 79. 50 Frisch: Tagebücher (s. Anm. 46), S. 194. 51 Nach dem Zerfall der Kriegsallianz eskalierte der Kalte Krieg ab Mitte 1947 von Monat zu Monat, die Amerikaner reagierten darauf mit einer erneuten Selektion politisch und kulturell brauchbarer Personen; vgl. Hermand u. Lange: Deutschland und die Emigranten (s. Anm. 34), S. 37 f. 52 Erich Kästner: Theater in der Nachkriegszeit. In: Die Neue Zeitung 3/4 (1947), Montag, 20. Januar 1947. 53 Kästner: Treffpunkt Zürich (s. Anm. 37).

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Der Spott freilich ist wohlfeil. An der Resolutionsversammlung hatten »wie in alten Zeiten« nur die Herren Anteil. Die ebenfalls anwesenden Frauen Helene Weigel und Oda Schaefer sind Kästner keiner Erwähnung wert.

Stefan Neuhaus

Kleine Freiheiten Erich Kästner und das Kabarett der Nachkriegszeit

1 Kästner und das Kabarett: Vorbemerkung Das Kabarett hat sich gewandelt, die Übergänge zur Comedy sind heute fließend. Volker Kühn hat 2007 festgestellt: »Man soll es nicht glauben. Das Kabarett ist nun schon mehr als hundert Jahre alt. Was das nun eigentlich ist, weiß niemand so recht. Diese Frage wird von Zeit zu Zeit von den jeweiligen Zeitgenossen jeweils verschieden beantwortet.«¹ Leichter ist die Frage zu beantworten, was das Kabarett einmal war. Anders als das französische Vorbild gehörte das deutschsprachige Kabarett, mit seinen Zentren in Wien, Berlin und München, schon Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer Bewegung junger kritischer Intellektueller, die mit den politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen im immer noch absolutistischen Deutschen Kaiserreich mehr als unzufrieden waren. Frank Wedekind, einer der ersten berühmten deutschsprachen Kabarettisten, musste sogar für seine kabarettistisch formulierte Kritik am Kaiser ins Gefängnis.² Wedekind wurde einer der geistigen Ziehväter Bertolt Brechts.³ Für Erich Kästner setzten vermutlich eher der Kabarett-Texte schreibende Kurt Tucholsky und der vermutlich bekannteste Kabarettist der Spätphase der Weimarer Republik, Werner Finck, die Maßstäbe.⁴ In dem von Finck mit begründeten Berliner Kabarett Die Katakombe wurden immer wieder auch Texte von Erich Kästner auf die Bühne gebracht. Kästner schrieb außerdem für das Tingeltangel und trat im

1 Volker Kühn: Hundert Jahre und kein bisschen leise. In: Tobias Gladek, Christian Haberecht u. Christoph von Ungern-Sternberg (Hg.): Politisches Kabarett und Satire. Berlin 2007, S. 9–13, hier S. 9. Zur Geschichte des Kabaretts vgl. auch: Klaus Budzinski: Pfeffer ins Getriebe. So ist und wurde das Kabarett. München 1982; Ders.: Wer lacht denn da? Kabarett von 1945 bis heute. Braunschweig 1989; Volker Kühn: Die zehnte Muse. 111 Jahre Kabarett. Köln 1993; Klaus Budzinski u. Reinhard Hippen, in Verbindung mit dem Deutschen Kabarettarchiv: Metzler Kabarett Lexikon. Stuttgart, Weimar 1996; Joanne McNally, Peter Sprengel (Hg.): Hundert Jahre Kabarett. Zur Inszenierung gesellschaftlicher Identität zwischen Protest und Propaganda. Würzburg 2003. 2 Vgl. Georg W. Forcht: Frank Wedekind und die Anfänge des deutschsprachigen Kabaretts. Freiburg 2009. 3 Vgl. Klaus Völker: Bertolt Brecht. Eine Biographie. Reinbek 1988, S. 25 u. S. 44. 4 Zur Bedeutung Fincks vgl. etwa Friedrich Luft: Einleitung. In: Werner Finck: Alter Narr – was nun? Die Geschichte meiner Zeit. München, Berlin 1972, S. XI–XIV. https://doi.org/10.1515/9783111085081-009

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KüKa (Künstler-Kaffee) unweit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf, »wo Kästner sich selber rezitierte.«⁵ Bekanntlich wurden nach der Machtergreifung Kästners Werke von den Nationalsozialisten verbrannt und ihm wurde Publikationsverbot erteilt. »Nach 1933 schrieb Kästner anonym noch ein paar Chansons für die ›Katakombe‹ sowie für Trude Hesterbergs Musenschaukel […]«.⁶ Auf der Bühne der am 16.10.1929 eröffneten Katakombe (für die übrigens zunächst Kästners Freund Erich Ohser das Bühnenbild gestaltete)⁷ stand, bis zu ihrem Verbot im Mai 1935, weiterhin Werner Finck. Selbst die Verhöre und Internierungen in der NS-Zeit konnten ihn nicht brechen. Friedrich Luft hat dazu festgestellt: »Nie habe ich einen Menschen so guter Dinge in so mieser Lage gesehen. Seitdem verehre ich ihn.«⁸ Fincks halb selbstkritische, halb auf seiner künstlerischen Perspektive insistierende Bestandsaufnahme nach dem Krieg hätte durchaus auch von Erich Kästner stammen können: »Wir Kabarettisten machten in der Weimarer Republik keine Ausnahme: auch wir unterschätzten Hitler: ›Ein Verrückter!‹ (Als ob das was ausmacht in der Politik!)«⁹ Kästners blaues Notizbuch verrät eine ähnliche Haltung. So notiert der mittlerweile sogar mit Schreibverbot belegte Autor am 19. März 1941 einen zirkulierenden Witz: »Ein Lehrer gibt das Thema zum Klassenaufsatz: ›Hätte sich Werther auch im Dritten Reich erschossen?‹ Der kleine Fritz gibt schon nach fünf Minuten das Heft ab. Was hat er geschrieben? ›Nein, aber Goethe!‹«¹⁰ Dieter Hildebrandt, der wohl bedeutendste deutschsprachige Kabarettist der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat auf Finck als sein großes Vorbild verwiesen: Die Vorstellung, dass Finck im Jahr 1934 – also ein Jahr nach der Machtübernahme Adolf Hitlers – vor einem ängstlichen Publikum, das genau wusste, wie viele SA-Leute im Parkett der »Katakombe« saßen, frech und unbekümmert erklärte, dass sein erhobener rechter Arm nichts anderes zu bedeuten hätte als: »aufgehobene Rechte«, machte mir deutlich, dass wir kleinen Nachkriegsnarren so viel wie nichts riskierten.¹¹

5 Budzinski, Hippen: Metzler Kabarett Lexikon (s. Anm. 1), S. 180, vgl. außerdem S. 212. 6 Ebd., S. 180. 7 Vgl. ebd., S. 181. 8 Ebd., S. XII. 9 Finck: Alter Narr – was nun? (s. Anm. 4), S. 53. 10 Erich Kästner: Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941–1945. Hg. von Sven Hanuschek in Zusammenarbeit mit Ulrich von Bülow u. Silke Becker. Aus der Gabelsberger’schen Kurzschrift übertragen von Herbert Tauer. Zürich 2018, S. 75. 11 Dieter Hildebrandt: Die Zukunft von Gestern: Brettl am Stock? In: Daniel Kosthorst (Red.): Spaß beiseite. Humor und Politik in Deutschland. Begleitbuch zur Ausstellung. Hg. v. der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Leipzig 2010, S. 25–27, hier S. 25 f.

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Hildebrands zweites großes Vorbild war Erich Kästner, den der junge Mann als Platzanweiser in der Kleinen Freiheit in München kennenlernte. Kästner hat Die kleine Freiheit mitbegründet und dazu bemerkt: Der Titel des Programms ›Die kleine Freiheit‹ stammt nicht von uns. Der Autor heißt: »Die Zeit!« Mit diesen Zeilen eröffneten wir im Januar 1951 unser zweites Kabarett in München. »Die Schaubude«, das erste und schon Ende 1945 gegründete, war an den Folgen einer unvermeidlichen »Die Währungsreform« genannten Operation unsanft entschlafen.¹²

Die Schaubude, die ihr erstes Kabarettprogramm am 15. August 1945 in den Münchner Kammerspielen zeigte,¹³ steht am Beginn des literarisch-politischen Kabaretts der Nachkriegszeit und Kästner spielt dabei eine wesentliche Rolle: »Die ›Schaubude‹ hätte das Durchschnittsgebrettl, das nach dem Ende des ›Dritten Reichs‹ allenthalben seine rasch verwelkenden Blüten trieb, nicht so hoch überragt, wenn nicht Erich Kästners Gedichte, Szenen und Chansons ihr Rückgrat und Gewicht gegeben hätten.«¹⁴ Ein Text wurde besonders berühmt, das von Ursula Herking gesungene Marschlied 1945, vertont von Edmund Nick,¹⁵ mit dem Kästner bereits vor dem Krieg zusammenarbeitete. Die folgende Interpretation ausgewählter Kabarett-Texte Kästners soll der wohl bis heute weit verbreiteten, immer noch auf Walter Benjamins aus ideologischen Motiven gefasstes Diktum von der angeblichen ›linken Melancholie‹ der Texte Kästners zurückgehenden Auffassung widersprechen,¹⁶ in »Kästners Satire« habe »ein resignatives Irgendwie-Linkssein« gelegen,¹⁷ seine Texte hätten lediglich der »Desillusioniertheit« eine Stimme gegeben und Probleme ›festgestellt‹, statt sie »aktiv« anzugehen. Budzinski meint sogar: »Ähnlich resignativ reagierte Kästner nach dem Krieg auf die allgemeine Verdrängung der jüngsten Vergangenheit.«¹⁸ Kästner hätte dann wohl kaum nach dem Krieg eine umfangreiche publizistische Tätigkeit mit einem »aufklärerischen Programm«¹⁹ entfaltet und er wäre auch nicht

12 Erich Kästner: Wir sind so frei. Chansons, Kabarett, Kleine Prosa. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarb. mit Lena Kurzke. München, Wien 1998 (Werke, Bd. 2), S. 190. Der Band wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit der Sigle KW und Seitenzahl. 13 Vgl. Budzinski, Hippen: Metzler Kabarett Lexikon (s. Anm. 1), S. 350. 14 Budzinski: Pfeffer ins Getriebe (s. Anm. 1), S. 172. 15 Vgl. Budzinski, Hippen: Metzler Kabarett Lexikon (s. Anm. 1), S. 350; Kästner: Wir sind so frei (s. Anm. 12), Kommentar S. 432. 16 Vgl. hierzu bereits Stefan Neuhaus: Schlechte Noten für den Schulmeister? Der Stand der ErichKästner-Forschung. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 32/1 (1999), S. 43–71, hier S. 45. 17 Vgl. Budzinski: Pfeffer ins Getriebe (s. Anm. 1), S. 173. 18 Alle Zitate ebd., S. 174. 19 Sven Hanuschek: Erich Kästner. Reinbek 42018, S. 104.

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zu einem der gefragtesten Vertreter der Intellektuellen der jungen Bundesrepublik geworden: »Kästner wurde in den Nachkriegsjahren zu einer wenn nicht omnipräsenten, doch zumindest repräsentativen Figur.«²⁰ Dabei stand er in Opposition zu den konservativen politischen Weichenstellungen: »Kästner hielt Adenauers Politik für falsch«, er bezeichnete sie später sogar als »eine Aera der Demokratur«.²¹ Als einer der gefragtesten Redner stellte er sich mit an die Spitze der Proteste »gegen die drohende atomare Bewaffnung der Bundeswehr in den fünfziger Jahren« und als »einziger Autor seiner Generation sprach er eine Grußadresse auf der Münchner Demonstration ›Gegen den Krieg in Vietnam‹.«²² Auch Kästners Texte zeigen, so wie das Verhalten ihres Autors, genau das Gegenteil von Melancholie und Resignation und sie wurden von den Zeitgenossen so aufgefasst: »Tumultuarische Zustimmung muss es nach den Erzählungen von Zeitzeugen zum Marschlied 1945 gegeben haben […].«²³ Auf diesen Text soll zunächst etwas näher eingegangen werden.

2 Aufbruch statt Resignation: Das Marschlied 1945 und Das Spielzeuglied Der für die Bühne geschriebene Text, der Konsequenzen aus der Katastrophe zieht, die Kästners Marschliedchen von 1932 angekündigt hatte,²⁴ beginnt mit einer Regieanweisung: »Prospekt: Landstraße. Zerschossener Tank im Feld. Davor junge Frau in Männerhosen und altem Mantel, mit Rucksack und zerbeultem Koffer« (KW, 52). In der ersten Strophe wird von der Sängerin bzw. Ich-Erzählerin die Ausgangssituation geschildert: In den letzten dreißig Wochen zog ich sehr durch Wald und Feld. Und mein Hemd ist so durchbrochen, daß man’s kaum für möglich hält. Ich trag Schuhe ohne Sohlen,

20 Ebd., S. 107. 21 Ebd., S. 111. 22 Ebd., S. 130. 23 Ebd., S. 109. 24 Vgl. Erich Kästner: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte. Hg. von Harald Hartung in Zusammenarbeit mit Nicola Brinkmann. München, Wien 1998 (Werke, Bd. 1), S. 220 f. u. Komm. 446 f. – Der intertextuelle – oder intratextuelle – Verweis ist offensichtlich. Auch andere Gedichte Kästners aus der Spätphase der Weimarer Republik warnen vor den Nationalsozialisten bzw. allgemein vor antidemokratischen Tendenzen rechter Bewegungen.

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und der Rucksack ist mein Schrank. Meine Möbel hab’n die Polen und mein Geld die Dresdner Bank. Ohne Heimat und Verwandte, und die Stiefel ohne Glanz, – ja, das wär nun der bekannte Untergang des Abendlands! (Ebd.).

Schon die Schlusszeilen sind erkennbar ironisch, die Erzählerin macht sich mit Galgenhumor über ein Stereotyp lustig. Mit dem geflügelten Wort wird wohl auch auf Oswald Spenglers Werk Der Untergang des Abendlandes: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918) angespielt, das diesen Untergang bereits für das Ende des Ersten Weltkriegs konstatierte und eine Zeit des zivilisatorischen Niedergangs vorhersah. Anders als Spengler oder auch nur seine titelgebende Formulierung erkennt die Erzählerin für sich selbst den Untergang nicht an, denn: »Ich habe den Kopf, ich hab ja den Kopf / noch fest auf dem Hals« (ebd.). Der Text ist gegliedert in drei erzählende Strophen, die von drei wiederholenden, refrainhaften Strophen unterbrochen werden – und jeder Refrain endet, somit auch der ganze Text, mit den zitierten Zeilen der Selbstvergewisserung des eigenen Lebens und der daraus resultierenden Möglichkeiten. Schließlich heißt es vor dem letzten Refrain: Tausend Jahre sind vergangen samt der Schnurrbart-Majestät. Und nun heißt’s: Von vorn anfangen! Vorwärts marsch! Sonst wird’s zu spät! (KW, 53).

Mit der komischen Formulierung »Schnurrbart-Majestät« wird der ›Führer‹ des gescheiterten Regimes als verkappter Monarch entlarvt und vom Sockel des scheinheilig als (national‐)sozialistisch ausgegebenen Absolutismus geholt. Das erzählende und singende Ich behauptet sich gegen die einst herrschenden Mächte und nimmt die Herausforderung an, einen neuen und – angesichts der Herrschaftskritik – demokratischen Aufbau zu gestalten.²⁵ Von Melancholie oder Resignation also keine Spur.

25 Eine solche Wirkungsintention unterstellt dem Text auch: Martin Kottkamp: Marschlied 1945. Erich Kästner und das deutsche Nachkriegskabarett. In: Praxis Deutschunterricht 3 (2021), S. 32–38. Ansonsten finden sich in dem Artikel allerdings, von einigen allgemeinen Hinweisen und einer Anzahl von Kontext-Materialien, mit denen Schüler*innen arbeiten sollen, keine weitergehenden Informationen.

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Zur deutlichen Abrechnung mit dem deutschen Militarismus gerät Das Spielzeuglied, aufgeführt in der Schaubühne im Oktober 1946, ebenfalls vertont von Edmund Nick und gesungen von Ursula Herking (KW, Komm. 437). Die Begeisterung für den Krieg wird ›männlich‹ konnotiert, eine für die Zeit ungewöhnlich kritische Reflexion über die Ursachen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts.²⁶ Programmatisch lautet die Regieanweisung: »Antimilitaristischer Prospekt. Also Schaukelpferde, Papierhelme usw. Davor eine junge einfache Frau« (KW, 96). Es ist eine weibliche Figur und Erzählerin, die den Leser*innen und dem Publikum die Zusammenhänge erklärt, beginnend mit der Entwicklung in der frühen Kindheit. Hier die erste Strophe: Wer seinem Kind ein Spielzeug schenkt, weiß vorher, was passiert: Das Spielzeug ist, bevor man’s denkt, zerlegt und ruiniert. Der Knabe haut und boxt und schlägt begeistert darauf ein. Und wenn’s auch sehr viel Mühe macht: Am Ende, am Ende, am Ende kriegt er’s klein (ebd.).

Das – der Deutlichkeit halber satirisch gezeichnete – ›männliche‹ Verhalten geht zwar auf einen angeborenen Aggressionstrieb zurück, der aber nicht durch Erziehung sublimiert und in andere, konstruktive Bahnen gelenkt wird. Die unkritische Haltung widerspricht sogar dem Wunsch des Kindes, das sein Spielzeug gar nicht zerstört wissen, sondern wiederhaben möchte: »Der Knabe starrt das Spielzeug an / und wünscht sich’s wieder heil!« (Ebd.). Der Aggression zu begegnen verhindert die Zuneigung: Das Beste wär: Wir legten sie mal gründlich, mal gründlich, mal gründlich übers Knie. Es ist nur so: wir lieben sie. Ihr Schmerz ist unser Schmerz. Wir legen sie nicht übers Knie. Wir drücken sie ans Herz (ebd.).

26 Zu den entsprechenden Codierungen in Gesellschaft und Literatur vgl. Torsten Voß: Körper, Uniformen und Offiziere. Soldatische Männlichkeiten in der Literatur von Grimmelshausen und J. M. R. Lenz bis Ernst Jünger und Hermann Broch. Bielefeld 2016.

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Die Allegorie wird für alle verständlich aufgelöst, hier der Anfang, bevor das Verhalten von Knaben und Soldaten enggeführt wird: Es steckt ein Kind in jedem Mann. Ein Spielzeug ist sein Ziel. Nur, was dabei zustande kommt, das ist kein Kinderspiel. Das Glück der Welt ist zart wie Glas und gar nicht sehr gesund. Doch wenn die Welt aus Eisen wär, – die Männer, die Männer, sie richten sie zugrund! (KW, 97)

Die Formulierung ›Welt aus Eisen‹ spielt an auf eine berühmt-berüchtigte Rede von Otto von Bismarck, Architekt und starker Mann des zweiten Deutschen Kaiserreichs, aus dem Jahr 1862: »Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, das ist der große Fehler von 1848 und 1849 [des Paulskirchenparlaments; d. Red.] gewesen, sondern durch Eisen und Blut.«²⁷ So wird die Linie des deutschen Militarismus historisch zurück verfolgt bis in die Gründungsphase des Kaiserreichs, in dem Kästner zur Welt kam und vor dessen Traditionen er immer wieder warnte. Und so lässt sich auch der Schluss seiner Teilautobiographie Als ich ein kleiner Junge war (1957) interpretieren – die exemplarisch gezeichnete Familiengeschichte in absolutistischen Zeiten endet im Ersten Weltkrieg und mit dem Satz: »Der Weltkrieg hatte begonnen, und meine Kindheit war zu Ende.«²⁸ Die letzte Strophe endet, wie viele Gedichte Kästners (auch bereits vor dem Zweiten Weltkrieg),²⁹ mit einem Appell zu Einsicht und Veränderung: Sie werden nicht gescheiter, solang ein Rest noch steht… Diesmal war’s ein Gefreiter…

27 Kalenderblatt: 30. September 1862. Bismarcks berühmte »Eisen und Blut«-Rede. In: Welt.de vom 27.09. 2016. Online unter https://www.welt.de/geschichte/kalenderblatt/article158393968/Bismarcksberuehmte-Eisen-und-Blut-Rede.html (03.02. 2022). 28 Erich Kästner: Parole Emil. Romane für Kinder I. Hg. von Franz-Josef Görtz in Zusammenarbeit mit Anja Johann. München, Wien 1998 (Werke, Bd. 7), S. 48. Vgl. auch Stefan Neuhaus: »Eigentlich hatte ich ein ganz anderes Buch schreiben wollen«: Strategien metafiktionalen Erzählens im Werk Erich Kästners. In: Silke Becker, Sven Hanuschek (Hg.): Erich Kästner und die Moderne. Marburg 2016, S. 29–46. 29 Vgl. Stefan Neuhaus: Erich Kästners lyrische Imperative. In: Sven Hanuschek, Gideon Stiening (Hg.): Politik und Moral. Die Entwicklung des politischen Denkens im Werk Erich Kästners. Berlin, Boston 2021, S. 21–35.

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Das geht nicht, das geht nicht, das geht nicht mehr so weiter, wenn das so weitergeht! (KW, 98)

Mit der Umkehrung der Machtverhältnisse – die Frau äußert sich öffentlich über den Mann und das ›männliche‹ Verhalten hat zur Katastrophe geführt – thematisiert das Gedicht eine Problematik, die erst in den vergangenen Jahrzehnten, nach dem Aufkommen der Gender Studies, stärkere Beachtung erfahren hat: Heute wird jedoch immer häufiger wahrgenommen, daß die meisten »Frauenthemen« auch Männerthemen sind. Frauen sind nicht von ökonomischer Diskriminierung betroffen, ohne daß Männer hieraus ökonomischen Vorteil zögen. […] Aber die meisten Männer fühlen sich nicht privilegiert. Und die meisten Männer fühlen sich nicht besonders mächtig – oder sie fühlen sich nur mächtig in der Phantasie […]. Sehr viele Männer fühlen sich stark von Frauen herausgefordert, und sie sind sich im unklaren darüber, wie sie Mann sein sollen in der neuen Welt der Massenarbeitslosigkeit, der wechselnden globalen Märkte, der selbstsicheren Frauen und der sich wandelnden sexuellen Kodierungen.³⁰

Die »naturalisierte gesellschaftliche Konstruktion«³¹ der Geschlechter, die sich in einer ›männlichen Herrschaft‹ ausdrückt, durchtränkt die ganze Gesellschaft und hat bis heute Konsequenzen. Auch wenn die saloppe Aufforderung, den Knaben doch einfach mal übers Knie zu legen, weder heutigen pädagogischen Prinzipien entspricht noch zur Gewaltfreiheit aufruft, geht die Tendenz des Texts doch eindeutig in eine – wie es das erste Wort der Regieanweisung sagt – ›antimilitaristische‹ und zugleich auch genderkritische Richtung. Die gewünschte Züchtigung des Knaben lässt sich nun wahlweise als ernst gemeinter und somit neuralgischer Punkt des Texts lesen oder als Teil seiner Komik, eines wie schon für das Marschlied 1945 konstatierten Galgenhumors, der aus dem Kontrast zwischen den millionenfachen Morden erwachsener Männer und der weiblichen Hand auf dem Hintern des Kleinen entsteht. Die Kabarett-Ballade Deutsches Ringelspiel 1947, im Februar des Jahres in der Schaubühne aufgeführt (KW, Komm. 441), widmet sich zunächst ebenfalls dem Status quo für den größten Teil der überlebenden Bevölkerung; die Situation des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs symbolisiert durch Schnee und Kälte. Doch geht es diesem Text um eine ganz aktuelle Kritik an den »Geschäftemacher[n]« (KW, 109) der durch den Krieg ausgelösten Krise, vertreten durch einen »auffällig dicke[n] Mann mit steifem Hut, jovial und gerissen lächelnd« 30 Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Übersetzt von Christian Stahl. Hg. und mit einem Geleitwort versehen von Ursula Müller. Opladen 1999, S. 13. 31 Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Aus dem Französischen von Jürgen Bolder. Frankfurt a. M. 22013, S. 11.

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(ebd.), wobei der ›steife Hut‹ als negativ konnotiertes Requisit des Bankräubers und Taschendiebs Grundeis aus Emil und die Detektive (1929) bekannt ist. Seine Position wird durch ihn selbst eindeutig markiert: Ihr rennt wie hungrige Mäuse im Kreise. Ich mache die Preise! Es liegt mir nicht, mich lange zu loben. Fett – schwimmt oben! (Ebd.)

Das Stereotyp des durch unangemessenen Wohlstand dick gewordenen Mannes wird überzeichnet, um das Prototypische der Figur zu betonen. Die Perspektive wird durch die Einführung weiterer prototypischer Figuren erweitert, es tritt ein ›heimkehrender älterer Kriegsgefangener‹ auf (ebd.), ein ›Frauenzimmer‹ (KW, 110), ein ›Dichter‹ (ebd.) und schließlich »die Figur der ›armen Jugend‹, ein junges Mädchen« (KW, 111). Im ›Dichter‹ darf ein Alter ego Kästners vermutet werden, aber zugleich eine exemplarische Figur für alle linken Intellektuellen in der Tradition, wie sie Pierre Bourdieu beschrieben hat, am Beispiel von Émile Zolas berühmtem Offenen Brief J’accuse… von 1898, der die sogenannte Dreyfus-Affäre auslöste: So ist es paradoxerweise die Autonomie des intellektuellen Feldes, die den Stiftungsakt eines Schriftstellers ermöglicht, der unter Berufung auf genuine Normen des literarischen Feldes in das politische Feld eingreift und sich auf diese Weise zum Intellektuellen konstituiert. Das »J’accuse«, »Ich klage an«, ist Abschluß und Vollendung des kollektiven Emanzipationsprozesses, der sich nach und nach im Feld der Kulturproduktion vollzog: Als prophetischer Bruch mit der etablierten Ordnung bekräftigt er erneut wider alle Staatsräson den irreduziblen Charakter der Werte Wahrheit und Gerechtigkeit und im gleichen Zug die Unabhängigkeit der Hüter dieser Werte gegenüber den Normen der Politik (der des Patriotismus zum Beispiel) und den Zwängen des Wirtschaftslebens.³²

Der von Kästner angesprochene Typus gehört zu dem der Figur der Kassandra verwandten Mahner, der außerhalb des »Ensemble[s] an geregelten Prozeduren« eine Wahrheit ausspricht, die nicht wahrgenommen wird – bis sich, und das ist die Intention der Aussage, die Regeln und Prozeduren geändert haben.³³ Kästner selbst hat diese Position, die er stets für sich selbst in Anspruch genommen hat, in einer

32 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt a. M. 2001, S. 210. 33 Vgl. Michel Foucault: Die politische Funktion des Intellektuellen. In: Ders.: Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader Diskurs und Medien. Hg. von Jan Engelmann. Stuttgart 1999, S. 22–29, Zitat S. 29.

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bekannten Rede über sich selbst (Erstdruck 1949; vgl. KW, Komm. 463) als »Zwickmühle«, als Paradoxie beschrieben: Unser Gast, meine Damen und Herren, ist gar kein Schöngeist, sondern ein Schulmeister! Betrachtet man seine Arbeiten – vom Bilderbuch bis zum verfänglichsten Gedicht – unter diesem Gesichtspunkte, so geht die Rechnung ohne Bruch auf. Er ist ein Moralist. Er ist ein Rationalist. Er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung, spinnefeind der unechten »Tiefe«, die im Lande der Dichter und Denker nie aus der Mode kommt, untertan und zugetan den drei unveräußerlichen Forderungen: nach der Aufrichtigkeit des Empfindens, nach der Klarheit des Denkens und nach der Einfachheit in Wort und Satz. Er glaubt an den gesunden Menschenverstand wie an ein Wunder, und so wäre alles gut und schön, wenn er an Wunder glaubte, doch eben das verbietet ihm der gesunde Menschenverstand. Es steckt jeder in seiner eigenen Zwickmühle. Und auch unser Gast hätte nichts zu lachen, wenn er nicht das besäße, was Leute, die nichts davon verstehen, seinen »unverwüstlichen und sonnigen Humor« zu nennen belieben (KW, 326 f.).

Dennoch ist es im Ringelspiel nicht der Dichter, der das letzte Wort behält, sondern das junge Mädchen – wieder eine weibliche Figur, dazu eine junge, also die Generation verkörpernd, auf der Kästners Hoffnungen für die Zukunft lagen. Sie spricht den wegweisenden Appell: Seid Menschen, nicht Nationen! Vergeßt den alten Brauch! Der Himmel wird’s Euch lohnen und wir, die arme Jugend, auch (ebd.).

Damit ist der Text aber noch nicht zu Ende, weitere exemplarisch gedachte Figuren treten auf, ein nur an sich selbst denkender ›Parteipolitiker‹ (KW, 112) ebenso wie ein »verwildert« aussehender ›Halbwüchsiger‹, der nicht ins »Erziehungshaus« möchte (ebd.). Allegorisch und mahnend ist dann die Figur des »Widersachers« (KW, 113) gestaltet, die in einer Tradition von Figuren steht, die von Goethes Faust-Tragödien (1808/32) über Klaus Manns Roman Mephisto – Roman einer Karriere (1936) bis zu Thomas Manns Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1947) reicht. Zynisch verkündet die Figur, die »[a]lte Breeches und schwarze Reitstiefel« wie frühere Offiziere trägt: »Wir richten Deutschland jedesmal zugrund – / Und dann kommt ihr und dürft es retten« (ebd.). Das letzte Wort hat jedoch die bis dahin verhüllte, auf einem Sockel stehende, allegorische »Figur der Zeit«, sie hat »wie Justitia eine Binde vor den Augen« (ebd.). Ihre Position relativiert alle anderen: Ich kenn die Guten und die Bösen nicht. Ich trenn die Guten und die Bösen nicht.

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Ich hasse keinen. Keiner tut mir leid. Ich bin die Zeit (KW, 114).

Allerdings verliert die Figur ihre Gelassenheit, sie wird »immer verächtlicher, immer unnahbarer«, als die die durch ihr »beten, fluchten, schrein« und durch »Schüsse« auffallenden Menschen auffordert: »Seid endlich still!«, und: »laßt euren Streit!« Im Angesicht der »Unendlichkeit« (ebd.) sollen die Menschen begreifen, wie unwichtig ihr irdischer Zwist eigentlich ist. Der Autor Kästner aktualisiert hier ein Konzept von Gebrauchslyrik, das er bereits in lyrischen Texten der Zeit der Weimarer Republik vertreten hat und das ihn mit Brecht verbindet, der in seiner Hauspostille (1927) fordert, sich nicht auf ein Jenseits vertrösten zu lassen, sondern im Hier und Jetzt etwas zu ändern.³⁴

3 Schlussfolgerungen Die wenigen Beispiele konnten belegen (um dies ausführlicher zu zeigen, wäre eine monographische Studie notwendig), dass Kästner als selbsterklärter »Urenkel der deutschen Aufklärung« mit seinen Kabarett-Texten der Nachkriegszeit einerseits an die Themen und Funktion seiner operativen Gebrauchslyrik der Zeit vor der Machtergreifung anknüpft und andererseits die politische Aussage noch deutlicher markiert – etwa, indem er Allegorien nicht nur setzt, sondern auch erklärt und die Allegorie der ›Zeit‹ sogar enthüllt, anders als es sein Vorbild Friedrich Schiller in der berühmten Ballade Das verschleierte Bild zu Sais (1795) getan hat. Der Protagonist von Schillers Ballade, ein »Jüngling, den des Wissens heißer Durst / Nach Sais in Ägypten trieb«³⁵, hebt verbotenerweise den Schleier des Bildes – und stirbt. Hier die letzte Strophe: Er sprichts und hat den Schleier aufgedeckt. Nun, fragt ihr, und was zeigte sich ihm hier? Ich weiß es nicht. Besinnungslos und bleich, So fanden ihn am andern Tag die Priester Am Fußgestell der Isis ausgestreckt. Was er allda gesehen und erfahren, Hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig War seines Lebens Heiterkeit dahin, Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe.

34 Vgl. Neuhaus: Erich Kästners lyrische Imperative (s. Anm. 29), S. 34 f. 35 Friedrich Schiller: Gedichte. Dramen I. Lizenzausg. Darmstadt 81987 (Sämtliche Werke, Bd. 1), S. 224.

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»Weh dem«, dies war sein [des Priesters] warnungsvolles Wort, Wenn ungestüme Frager in ihn drangen, »Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld, Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.«³⁶

In Kästners Ringelspiel wird der Schleier gehoben und die Wahrheit ausgesprochen, so wie im Spielzeuglied die Allegorie ausgeführt und im Marschlied die Ausgangssituation möglichst genau beschrieben wird – jeweils, um daran eine Warnung zu knüpfen, nicht so weiterzumachen und nicht schon wieder in eine Katastrophe zu steuern. Kästners Kabarett-Balladen bleiben daher nicht bei einer ›Inventur‹ stehen, wie Günter Eichs berühmtes Gedicht mit diesem Titel, das 1947 zuerst gedruckt wurde,³⁷ also in dem Jahr, das Kästners Ringelspiel in den Titel hebt. Im Gegenteil – das, was sich an die Inventur anschließt, wird zum Wesentlichen, worauf es dem Autor nun ankommt. Gegenüber dem Meta-Gedicht aus dem früheren Gedichtband Ein Mann gibt Auskunft (1930) mit dem Titel Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner? ist also eine Kehrtwende zu verzeichnen. Darin werden die Rezipient*innen noch darauf hingewiesen, dass es Aufgabe der Literatur ist, Fragen zu stellen und nicht, Antworten zu geben: Und immer wieder schickt ihr mir Briefe, in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt: »Herr Kästner, wo bleibt das Positive?« Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.³⁸

Es wird eine der Lehren gewesen sein, die Kästner aus dem Nationalsozialismus gezogen hat, zumindest bei der Gebrauchslyrik für die Kabarettbühne:Verschleierte Wahrheiten mögen ästhetischen Ansprüchen genügen, aber als Versuche, operativ aus dem Feld der Literatur in das der Politik einzugreifen, reichen sie nicht mehr aus. Für den stets sprachbewusst und formbetont schreibenden Autor dürfte dieses Problem Teil jener ›Zwickmühle‹ gewesen sein, in der er sich zunehmend selbst sah, und die vielleicht später auch zu seinem allmählichen Verstummen beigetragen hat – angesichts einer Menschheit, die wenig aus ihren Erfahrungen gelernt zu haben scheint.

36 Ebd., S. 226. 37 Vgl. Günter Eich: Inventur. Jürgen Zenke: Poetische Ordnung als Ortung des Poeten. Günter Eichs Inventur. In: Walter Hinck (Hg.): Gegenwart. Stuttgart 1982, S. 71–82, hier S. 72. 38 Kästner: Zeitgenossen (s. Anm. 24), S. 170.

IV. Kästners Prosa der Aufklärung?

Alexander Košenina

Universität, »eine Anstalt für schwachsinnige Kinder« Erich Kästners Roman Der Gang vor die Hunde zeichnet ein tragisches Bild der Akademie Eine der Szenen, die für die Druckfassung von Kästners Erfolgsroman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931) gestrichen wurde, trägt im ursprünglichen Manuskript zum vierten Kapitel die Überschrift »Der empörte Autobus«. Darin treiben die beiden Hauptfiguren Jakob Fabian und Stephan Labude ziemlich ausgelassenen Schabernack. Auf dem kurzen Stück auf der Straße ›Unter den Linden‹ zwischen der Markthalle nahe dem Alexanderplatz und dem Brandenburger Tor leisten sie sich aus dem Bus heraus den übermütigen Spaß, die markantesten Gebäude der preußischen Geschichte mit überlauter Stimme karikierend umzubenennen. Im Gestus eines Touristen erkundigt sich Labude bei seinem Freund, den er hier Jonathan nennt, nach den vor dem Fenster vorbeiziehenden Sehenswürdigkeiten: Aus dem Dom – Sinnbild der natürlichen Theologie in der Berliner Aufklärung und Ruhestätte vieler Hohenzollern bis hin zum Kaiserreich – wird die Hauptfeuerwache; aus der so still daliegenden Staatsbibliothek – zuvor die seit 1701 öffentlich zugängliche Königlich-preußische Privatbibliothek – wird das völlig vereinsamte Rathaus im Ferienmodus; und aus dem Brandenburger Tor von König Friedrich Wilhelm II. mit der Quadriga ein simpler Verkehrsturm mit einem halb nackten Kutscher (statt der Göttin Victoria) oben drauf (»symbolisch«: »Wegen der Steuern«, 42).¹ Zwischen Dom und Staatsbibliothek liegt – im ehemaligen Prinz-Heinrich-Palais – die Universität, damals mit dem Namen des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. versehen. Diese gibt Labude als »eine Anstalt für schwachsinnige Kinder« aus, sie sei so riesig, weil »der Schwachsinn […] hier sehr verbreitet ist« (41). Würde man diese Nonsense-Bemerkung ein wenig ernst nehmen, dann könnte sie in zweierlei Hinsicht verstanden werden: erstens in Analogie zu den anderen Umkehrungen (Dom, Staatsbibliothek, Brandenburger Tor) als Verbildlichung eines ›mundus inversus‹; zweitens als Teil jener politischen Warnung vor einem »Abgrunde« im Erscheinungsjahr 1931, »dem sich Deutschland und damit Europa näherten« (240). So Kästners Worte anlässlich der Neuauflage des Romans 1946. Die 1809 gegründete preußische Universität wäre dann ein Teil der geistigen und mo-

1 Erich Kästner: Der Gang vor die Hunde. Roman. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2017. Der Text wird im Folgenden wie hier mit nachgestellter Seitenzahl zitiert. https://doi.org/10.1515/9783111085081-010

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ralischen Gleichschaltung im Nationalsozialismus, ihre noch nicht verdrängten und vertriebenen Kritiker bzw. jüdischen Wissenschaftler kämen so »schwachsinnigen Kindern« gleich. Für beide Lesarten gilt, was dieses Nachwort von 1946 zur Perspektive eines Moralisten zu sagen hat. Statt ein »Photographiealbum« präsentiert er »Satire«, die immer »übertreibt« und der eigenen Zeit »keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten« versucht (240).² Dom, Universität und Staatsbibliothek sowie das Brandenburger Tor zur Hauptfeuerwache, Kinderpsychiatrie, Stadtverwaltung und Verkehrszentrale umzudeuten entspricht genau diesem Konzept einer Reihe von Zerrspiegeln. Die beiden mittleren Vergleichsglieder sind die Zentralorte des akademischen, wissenschaftlichen Geistes. Im vierten Kapitel ist das sehr passend platziert. Denn davor liest Fabian, da Labude noch in der Bibliothek ist, gerade in Descartes systematischer Wissensreflexion, an deren Ende das ›Cogito, ergo sum‹ als philosophischer Ausgangspunkt der Moderne steht. Hier bereitet der Blick in Descartes’ Meditationes de prima philosophia (1641) ein Gespräch mit dem zurückkehrenden Labude über dessen Lessing-Habilitation vor, deren vermeintliche Ablehnung durch die Fakultät ihn am Ende in den Selbstmord treiben wird. Das qualvolle Warten auf die Lektüre und Bewertung der Schrift durch den Geheimrat – bis dahin »habe ich einen kniefreien Vollbart« (39), so Labude – gibt keinen Anlass zur Zuversicht. Doch der Anspruch, Lessings Theaterästhetik – etwa im Briefwechsel über das Trauerspiel oder der Hamburgischen Dramaturgie – als sensualistisch »geweihte Logik […] psychologisch« zu verstehen statt wie bisher als bloß rationalistischen »Logos mit Freilauf« misszuverstehen (39), erscheint Fabian gleichwohl groß und grundlegend.³ Er nennt die Studie »eine der besten und originellsten literarhistorischen Arbeiten« (187). So wird schließlich auch das Urteil des Geheimrats lauten, der die Habilitationsschrift der Fakultät ausdrücklich als »reifste literarhistorische Leistung der letzten Jahre« (196) empfehlen wird. Dass dieses adelnde Ausnahmeprädikat durch einen missgünstigen Konkurrenten unterdrückt und ins Gegenteil verkehrt werden wird, ist kein argloser »Scherz« (197), sondern ein tragisches Exekutionsurteil.

2 Diese »kabarettistische Steheinlage« kommentiert ausführlicher Gideon Stiening: Kästners politischer Moralismus im ›Der Gang vor die Hunde‹. In: Ders., Sven Hanuschek (Hg.): Politik und Moral. Die Entwicklungen des politischen Denkens im Werk Erich Kästners. Berlin, Boston 2021, S. 145–170, hier S. 145–153. 3 Zu Kästners eigenem Verständnis der Aufklärung zwischen Rationalismus und Geniezeit auf Grundlage seiner Dissertation vgl. den differenzierten Beitrag von Daniel Fulda in diesem Band.

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Mit Lessing hat all das zunächst wenig zu tun.⁴ Wenn nach Fabians Schuldzuweisung (184) auch Labudes Vater im 19. Kapitel den Hamburger Dramaturgen recht kurzschlüssig als »Todesursache« (188) bezeichnet,⁵ das Porträt über dem Schreibtisch – das auch in der Verfilmung von Dominik Graf eine leitmotivische Rolle spielt – von der Wand nimmt und zerstört, dann ist das eine starke, kaum zu begründende Anklage; zumal für einen an schlüssige Ableitungen gebundenen Justizrat. Kaum zufällig schneidet er sich dabei am zerbrechenden Glas – symbolisch vielleicht auch an Lessings legendär schneidend kritischem Verstand? – und befiehlt seinem Diener: »›Kehre den Dreck fort und bringe Heftpflaster‹« (188). Für Fabian wie für Erich Kästner selbst steht außer Frage, dass nicht der Gegenstand von Labudes Habilitation satirisch in Frage zu stellen ist. Sie befasst sich mit keinem abstrusen Thema, das sonst in der Gelehrtensatire seit der Aufklärung beliebt ist.⁶ Den Titel der eigenen Dissertation gibt Fabian nicht preis, einem neugierig fragenden Redaktionskollegen gegenüber behauptet er hingegen mit satirischem Übermut, sie habe dem Rätsel: »Hat Heinrich von Kleist gestottert?« gegolten; dieses Thema habe er erst bearbeitet, nachdem die »Stiluntersuchungen« zur Frage, ob »Hans Sachs Plattfüße gehabt hat« (31), verworfen wurde. Fabians Ironie richtet sich nicht nur gegen die Institution Universität, in der abseitige und nutzlose Interessen oft in groteske Abschlussarbeiten münden, sondern auch mit Bitterkeit gegen sich selbst. Denn sein akademischer Grad hat seine Entlassung aus dem Journalismus nicht verhindert und die Neuorientierung als Werbetexter nicht befördert. – Kästners eigener Dissertation zur Aufklärungsepoche über Reaktionen auf Friedrich des Großen Schrift De la littérature allemande von 1925⁷ kann man eine Kon-

4 Schon Claudia Albert hebt »die pure Verweisungsstruktur der philosophischen Bezugnahmen« auf Descartes und Lessing hervor, das sei eher »Philosophie als Medium der Selbstermächtigung« von einem »Protagonisten in der splendid isolation dessen, der ohnehin alles besser weiß«. Vgl. Claudia Albert: Konstruierte Autorenrolle: Erich Kästner zwischen Moral und Unterhaltung. In: Literatur für Leser 26 (2003), S. 82–101, hier S. 89 f. 5 Gideon Stiening versucht gleichwohl in einer philosophischen Deduktion zu zeigen, dass der Schritt vom moralischen Emotionalismus der Aufklärung zu einer an Kategorien orientierten Prinzipienethik à la Kant noch nicht gelingt und deshalb »Labudes Selbstmord und Fabians ›Gang vor die Hunde‹ […] denselben Verantwortlichen: Lessing«, haben. Vgl. Stiening: Moralismus (s. Anm. 2), S. 170. 6 Vgl. Alexander Košenina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen 2003, S. 172–195. 7 Erich Kästner: Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Die Erwiderungen auf seine Schrift De la littérature allemande. Phil. Diss. Leipzig 1925. Neudruck Stuttgart 1972 (111 S.).

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zentration auf Nebensächliches ebensowenig nachsagen wie Labude. Dennoch hat man längst biographische Züge in der Akademiker-Kritik des Romans entdeckt.⁸ Kästner promovierte mit dieser Aufklärungs-Arbeit in Leipzig bei Georg Witkowski (1863–1939). In der mündlichen Prüfung wurde er von Hans Driesch (1867– 1941) auch zu René Descartes befragt. Fabian erinnert sich bei seiner DescartesLektüre an eben dieses Ereignis beim gleichen, sogar namentlich genannten Professor: »Driesch hatte in der mündlichen Prüfung dergleichen wissen wollen.« (37) Kästners Doktorvater Witkowski wird im Fabian zwar nicht erwähnt, dennoch hat Fabian Beer einige Spuren seines akademischen Lebens überzeugend für den Roman reklamiert. Witkowski scheiterte im ersten Anlauf mit seiner 1888 eingereichten Habilitationsschrift über die Geschichte der anakreontischen Dichtung in Deutschland, ein Jahr später wurde ihm aber die Venia legendi mit einer überarbeiteten Fassung erteilt. Auf das Extraordinariat (1897) wartete der jüdische Privatdozent allerdings weitere acht Jahre, die Berufung zum ordentlichen Professor erfolgte erst 1930, kurz vor der Emeritierung. Mitverantwortlich für diese verzögerte Karriere waren der Direktor der Leipziger Germanistik Rudolf Hildebrand (1824–1894) und sein Nachfolger Albert Köster (1862–1924). Letzterer mag für Kästners Roman, so kann Fabian Beer zeigen, ebenfalls eine Rolle gespielt haben.⁹ Für Kösters Selbstmord im Mai 1924 dürften mehrere Gründe zusammengespielt haben, Depressionen, Gram über Verhältnisse seiner Frau – Gerüchte rechnen die Verleger Ernst Rowohlt und Kurt Wolff zu ihren Liebhabern –, eine ›verhängnisvolle Naturanlage‹, wie Georg Witkowski in seiner Autobiographie vornehm Kösters Homosexualität umschreibt, und vor allem die Angst, man könne ihn damit an der Universität erpressen oder bloßstellen. Fabian Beer fasst das als »Suizid aus Scham« zusammen,¹⁰ nicht ohne auf Parallelen zu dem von seiner Freundin hintergangenen Labude zu verweisen, der in seinem Abschiedsbrief schreibt: Die Ablehnung meiner Arbeit ist, faktisch und psychologisch, mein Ruin, vor allem psychologisch. Leda wies mich zurück, die Universität weist mich zurück, von allen Seiten erhalte ich die Zensur Ungenügend. Das hält mein Ehrgeiz nicht aus, das bricht meinem Kopf das Herz und meinem Herzen das Genick. (178)

8 Vgl. Fabian Beer: Neues aus der »Anstalt für schwachsinnige Kinder«. Die Alma mater lipsensis im Zerrspiegel von Erich Kästners Fabian. In: Sebastian Schmideler (Hg.): Erich Kästner – so noch nicht gesehen. Impulse und Perspektiven. Marburg 2012, S. 335–353. 9 Vgl. Fuldas (s. Anm. 3) ergänzende Hinweise auf das Aufklärungsbuch Kösters, der auch physiognomische Züge mit dem Geheimrat des Romans teilt. 10 Beer: Neues aus der Anstalt (s. Anm. 8), S. 345–349.

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Über diese möglichen biographischen Rückgriffe gehen die Fechtübungen mit Walter Benjamin noch hinaus. Der hatte im Oktober 1930 unter dem Titel Linke Melancholie eine polemische Rezension zu Kästners Gedichten verfasst, in der er befremdlich undifferenziert die »linksradikalen Publizisten vom Schlage Kästner, Mehring oder Tucholsky«¹¹ im Handstreich erledigen wollte. Nachdem die Frankfurter Zeitung die Zusendung abgelehnt hatte, erschien die Besprechung drei Monate später in der Zeitschrift Die Gesellschaft (8/1931). Kästner könnte, so meint Justus Fetscher, diesen Verriss während der Arbeit am Roman, der dem Verlag erst Anfang Juli 1931 vorlag, gekannt und zu einer Gegenattacke motiviert haben.¹² Die stärksten Indizien dafür wären erstens die 1925 aus Angst vor einer Ablehnung zurückgezogene Frankfurter Habilitation; zweitens deren Thema Ursprung des deutschen Trauerspiels, womit Benjamin – ähnlich wie Labude – eine fundamentale Umdeutung im Tragödienverständnis zwischen Barock und Aufklärung anstrebte; drittens die gemeinsame Berliner Kindheit bzw. Studienzeit in Verbindung mit einem »politische[n] Ausflug nach Frankfurt« (178), wo Labude in sozialistischen Studentengruppen agitiert; viertens (schon schwächer) eine mögliche Parallele zwischen dem fatalen Anteil des Assistenten Max Horkheimer am gescheiterten Habilitationsversuch Benjamins und der bösartigen Intrige des nationalistischen universitären Schleichers Doktor Weckherlin im Fall Labude; fünftens (noch schwächer) die Beobachtung, dass Walter Benjamin und Jakob Fabian auf den ersten Blick beides Vor- statt Nachnamen sein könnten. Das knappe halbe Jahr zwischen Benjamins Verriss und Kästners Roman mögen für die vermeintliche Racheaktion zwar gereicht haben, die Frage ist aber, ob die doch recht gesuchten Gründe, in Labude eine Figur zu sehen, »die an Benjamin erinnert«, den Roman nicht doch zu sehr zu bloßer »Kolportage«¹³ herabwürdigen. Einwenden könnte man vor allem, dass die Identifikation konkreter Vorbilder wie Benjamin, Köster oder Witkowski gar nichts an Kästners literarischer Kritik langwieriger akademischer Karrierewege und des damit oft einhergehenden Konkurrenzverhaltens bis hin zur Intrige ändern würde. Es bedarf keiner Einzelbeispiele, um das Habilitationsgeschehen vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik historisch zu verstehen. Die Erteilung einer Venia legendi oder Licentia docendi durch Habilitation und die Etablierung von Privatdozenten, die als akademischer Mittelbau kein bloßes Übergangsstadium zur Professur darstellten, sondern als Berufsstand ohne Festanstellung, bezahlt lediglich aus Hörergeldern, existierten, kommen 11 Walter Benjamin: Linke Melancholie. In: Gesammelte Schriften. Hg. von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 3, S. 280. 12 Justus Fetscher: Nach Port Bou. Walter Benjamin in der Literatur. In: literaturkritik.de Nr. 9 (September) 2006. Online unter https://literaturkritik.de/id/9898 (15. Februar 2023). 13 Ebd.

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universitätsgeschichtlich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts auf. Die Ablehnungsquote von Habilitationsgesuchen war, wie eine exemplarische Untersuchung zur Universität Tübingen zeigt, nicht eben niedrig; sie konnten aus Mangel an Bedarf oder fehlender Zulassungsvoraussetzungen, wegen schlechten Leumunds, aufgrund negativer Außengutachten oder einfach ohne Begründung zurückgewiesen werden.¹⁴ In einer Struktur großer Ordinarienherrlichkeit, straff und vielfach antisemitisch dirigiert von einem starken Ministerium, war der Aufstieg zum Privatdozenten, Extraordinarius und schließlich Ordinarius mehr als steinig und extrem limitiert. In Preußen betrieb der Jurist Friedrich Althoff als Ministerialdirektor seit 1897 an Stelle des Kultusministers die Berufungspolitik für alle Disziplinen fast alleine. Dieses ›System Althoff‹¹⁵ war von einzigartiger Macht. Im Briefwechsel mit dem altphilologischen Superordinarius Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf kann man beispielsweise exemplarisch verfolgen, wie Althoff mit seinen ausgewählten Geheiminformanten in einzelnen Fächern aufgrund weniger brieflicher Zeilen, einiger abfälliger oder zustimmender Bemerkungen langfristig über Karrieren entschied.¹⁶ Privatdozenten, Extraordinarien und Ordinarien wurden in Windeseile wie Figuren auf einem Schachbrett verschoben oder einfach aus dem Feld geschlagen. Für diese Einsicht bedurfte Kästner nicht unbedingt der konkreten Vorbilder seiner akademischen Lehrer, auch wenn das Anregungen aus der Wirklichkeit keineswegs ausschließt. Statt um »Kolportage« geht es Erich Kästner offensichtlich um die satirische Offenlegung autoritärer Universitätsstrukturen, die zugleich das politische System der Zeit in einer anderen Sphäre spiegeln. Nur ein Justizrat wie Labudes Vater kann es wagen, einen hoch angesehenen Geheimrat spät abends zuhause anzurufen. Von der Ehefrau erfährt er, dass ihr Gatte noch auf einer »Tagung der ShakespeareGesellschaft« (188) in Weimar ist. Sein Auftritt am nächsten Morgen in der Universität gleicht einem Akt symbolischer Herrschaftsinszenierung. Der »Institutsdiener« lässt wissen, der Herr Ordinarius werde gleich erwartet, der »Assistent« 14 Vgl. Sylvia Paletschek: Zur Geschichte der Habilitation an der Universität Tübingen im 19. und 20. Jahrhundert. Das Beispiel der Wirtschaftswissenschaftlichen (ehemals Staatswirtschaftlichen / Staatswissenschaftlichen) Fakultät. In: Helmut Marcon (Hg.): 200 Jahre Wirtschafts- und Staatswissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Bd. 2: Leben und Werk der Professoren. Stuttgart 2004, S. 1364–1399. 15 Vgl. Bernhard vom Brocke: Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907: das ›System Althoff‹. In: Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs. Hg. von Peter Baumgart. Stuttgart 1980, S. 9–118. 16 Vgl. Berufungspolitik innerhalb der Altertumswissenschaft im wilhelminischen Preußen. Die Briefe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs an Friedrich Althoff (1883–1908). Hg. von William M. Calder III. u. Alexander Košenina. Frankfurt a. M. 1989.

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steht schon bereit, Labudes Eltern sollen artig im »Vorzimmer« warten. Endlich erscheint der Professor, »ein Mann von altväterischer Eleganz« (194), der »Handkoffer« wird ihm nachgetragen, das Handtuch beim Händewaschen bereitgehalten (195). Vom »tragischen Geschick« Labudes (195) weiß er da bereits aus der Morgenzeitung. Nach seinen Beteuerungen, die Arbeit sei nicht abgelehnt worden, sondern sie leiste ganz im Gegenteil »der modernen Forschung unschätzbare Dienste« (196), kombiniert Fabian rasch. Er prügelt den Assistenten Weckherlin, der bis hin zur ungewöhnlichen Schreibung den gleichen Namen wie der höfische Barockdichter Georg Rudolf Weckherlin (1584–1653) führt, von seinen Katalogkästen hinauf ins Dienstzimmer des Geheimrats, um ihn zu verhören. Dieser Intrigant räumt die frei erfundene Nachricht von der Ablehnung von Labudes Habilitationsschrift und die Behauptung, sie sei eine Belästigung der Professoren und eine »öffentliche Blamage« (197), tatsächlich ein. Immerhin ist es konsequent, dass der Geheimrat diesen »Subalternbeamte[n] des Mittelhochdeutschen« (199) sofort entlässt. Die durch »Lüge« und »vergiftete Worte« verübte Rache »am Begabten« (199) wird umgehend geahndet. In Dominik Grafs Film Fabian oder der Gang vor die Hunde (2021) ist die Szene signifikant verändert. Der Geheimrat (Michael Hanemann) erscheint als etwas weltfremder Gelehrter, nicht als professorale Autorität. Fabian (Tom Schilling) fordert ihn ultimativ auf, seinen Assistenten Dr. Weckherlin (Lukas Rüppel) zu entlassen, nachdem er ihn verprügelt und die Treppe hinuntergestoßen hat. Im Roman heißt es: »Der Geheimrat sagte markig, als habe er endlich einen Ausweg gefunden: ›Doktor Weckherlin ist entlassen.‹« (198) Im Film hingegen stammelt der Professor am Kopf der Treppe völlig verunsichert: »Was soll ich unternehmen? Labude zum Doktor posthum deklarieren? Die Welt geht vor die Hunde.« Die Wendung ›zum Privatdozenten posthum deklarieren‹ traut man den Publikumskenntnissen offenbar nicht zu. Vor einer Entlassung schreckt der Ordinarius jedenfalls zurück, verzagt, fast entschuldigend stellt er fest: »Aber das liegt außerhalb meiner Befugnis, das soll der Rat entscheiden. Labude, was musste er politisch auch so lautstark agieren.« Da die Universitätsintrige für die Zuschauer vermeintlich so fern liegt, versucht Dominik Graf die Szene politisch zu wenden. Auf Fabians Frage: »Werden Sie bedroht?« räsoniert der Geheimrat zu militärischem Trommeln im Hintergrund gegen den Hedonismus und das Nachkriegschaos, um eine »neue Ordnung« zu fordern, »es muss ja aufwärts gehen«.¹⁷ Gleich darauf erscheint Weckherlin als künftiger SA-Mann in Uniform mit Hakenkreuz-Armbinde, gleich-

17 Vgl. die Szene im Spielfilm von Dominik Graf: Fabian oder Der Gang vor die Hunde, Minute 2:30– 2:32.

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sam als Antizipation für das Publikum. Damit wird suggeriert, dass die als »Scherz« getarnte Denunziation Weckherlins ein durchaus politisches Manöver und keine ›bloße‹ Universitätsintrige war. Als Fabian den Abschiedsbrief öffnet und liest, wird im Film entsprechend überhaupt nichts vom vermeintlichen akademischen Scheitern erwähnt, die einzigen erhaltenen Sätze lauten: Ich weiß, dass auch »bedeutende Männer schlechte Schüler und unglückliche Liebhaber waren. […] Ich kann, wenn ich meinen augenblicklichen Zustand betrachte, sagen: Die ganze Richtung paßt mir nicht.« (178)¹⁸ Der Spielfilm muss die programmatische Absage des Romans an eine gefällige Handlung ignorieren, die Publikumserwartung erfordert es. Im »Nachwort für die Kunstrichter« erklärt Kästner: »Das Buch hat keine Handlung und keinen architektonischen Aufbau und keine sinngemäß verteilten Akzente und keinen befriedigenden Schluß.« (238) Im Film hingegen wird die Abgabe der fertigen Habilitationsschrift dem vierten Buchkapitel hinzugefügt, nicht zuletzt, um den Opportunisten und Politicus Weckherlin schon hier mit seinem neuen Nazi-Haarschnitt (»Ehrenhausfrisuren«) einzuführen. Die Fragen: »Was vom Geheimrat gehört? Hat er deine Arbeit gelesen?« (39), sind übernommen, doch die Antwort lautet jetzt: »Nee, hab’ noch nicht abgegeben […]. Bin nochmal drüber gegangen, ein drittes Mal«. Gemeinsam eilen Labude und Fabian zur Universität, steigen eben jene Treppe hoch, die der Assistent später hinabpurzeln wird, eilen an der Porträtgalerie vorbei (»schön haben sie’s hier, die kleinen Deppen«) und übergeben im Vorzimmer die Arbeit mit den Worten: »Richten Sie ihm [dem Geheimrat] bitte meine Grüße aus, und damit einhergehend wünsche ich eine anregende Lektüre.« Die Sekretärin, Fräulein Menasse (Catalina Navarro Kirner), hat die Schrift »reichlich weit unten einsortiert im Stapel«. Deshalb bittet Labude seinen Konkurrenten (»eine geistig subalterne Existenz«), etwas für ihn zu tun: »Beförderung meines Schriftguts nach etwas weiter oben, ich spendier’ Dir auch einen Abend bei Onkel Pelle«.¹⁹ Doch Weckherlin weist das kühl zurück, auf solche Sozialkontakte komme es ihm nicht an: »Der Mensch braucht nur ne’ Heimat, weißt’e, sonst nischt.«²⁰ Im Film setzt Weckherlin auf völkische Gemeinschaft oder studentische Burschenschaft, im Buch geht es ihm akademisch um Sicherheit und Anstellung – er verkörpert den ›Brotgelehrten‹ im Gegensatz zum ›philosophischen Kopf‹ im Sinne von Schillers Jenaer Antrittsvorlesung als Geschichtsprofessor. Für Labude hinge-

18 Ebd., Minute 2:20–2:21. 19 Bienert, der die Schauplätze minutiös identifiziert und auf Stadtplänen verzeichnet, bietet auch ein Foto des Eingangstors zum Vergnügungspark »Onkel Pelle« im Wedding (Müllerstraße). Vgl. Michael Bienert: Kästners Berlin. Literarische Schauplätze. Berlin 2014, S. 88. 20 Graf: Fabian (s. Anm. 17), Minute 0:14–0:16.

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gen zählt, mit Lessing gesprochen, die Liebe zur Sache,²¹ nämlich eine fundamentale Durchdringung und Kritik von dessen Aufklärungsdenken. Insgesamt reduziert Dominik Grafs Film die Darstellung der akademischen Institutionen und Karrieren, denn damit glaubte man beim breiten Publikum kein Interesse erregen zu können. Gewiss nehmen auch in Kästners Roman die Großstadtkultur der 20er Jahre, die Welt des Journalismus’, des Films und der Reklame, die Arbeitslosigkeit und die verruchten Kneipen und Bordelle mehr Raum ein, dennoch bleiben Labudes scheiternde Universitätslaufbahn und Fabians drohendes akademisches Prekariat prägende Leitthemen. Diese Alleinstellung hätte Kästner eigentlich kalt lassen können gegenüber der »Schreckensnachricht«, so Hanuschek im Nachwort, dass Hermann Kesten mit Glückliche Menschen ebenfalls an einem Roman »vom arbeitslosen Akademiker in Berlin« (283) schrieb. Mit Max Blattner tritt darin zwar ein orientierungsloser Akademiker als Hauptfigur auf, der sich 1929 rund um den Hermannplatz in Neukölln durchschlägt, sich verliebt, seinen Schwiegervater in spe mit gestohlenem Geld zufriedenzustellen versucht, dafür von einem Nebenbuhler erpresst wird, bis seine Geliebte sich schließlich für ihn aufopfert und das Leben nimmt. Das halbherzig betriebene Studium der Nationalökonomie spielt dabei aber nur eine nebensächliche Rolle. Kästner wird bald erkannt haben, dass dieser Roman seines Freundes Kesten, der nach Abbruch einer Dissertation über Heinrich Mann seit 1928 als Lektor beim Kiepenheuer-Verlag in Berlin arbeitete, seinem Fabian keine Konkurrenz machen konnte. Entsprechend versah er die zweite Auflage von 1948 mit einem wohlwollenden Vorwort, in dem er Kesten (wie Fabian) zu den »Moralisten« zählt, »also zu jenen Schriftstellern, die sich zwar künstlerischer Mittel bedienen, deren eigentliches und brennendstes Anliegen jedoch nicht die Kunst, sondern der Mensch« sei. Dieser Typus des Moralisten schaffe »keine Kopierbücher und Photographiealben des Alltags«, sondern zeichne »das Schicksal der großstädtischen Jugend […], das trotz seiner Sensationen an Schicksalslosigkeit grenzt.«²² Auch wenn Kästner hier fast identische Begriffe aus dem Vorwort zur Neuauflage des Fabian von 1946 aufgreift – sein Roman sei »kein Photographienalbum, sondern eine Satire«, die »übertreibt« –, so sind die Unterschiede zu Glückliche Menschen doch unübersehbar. Während Kästner eine unsystematische Großstadtcollage ohne stringente Handlung als Bühne für Flaneure und Lebemenschen schafft, folgt Kesten doch eher den Konventionen einer Liebesgeschichte, sei sie auch tragisch und versehen mit grotesken wie satirischen Zügen. 21 Vgl. die Anwendung dieses Ideals von Lessing auf seine Dramen: Hinrich C. Seeba: Die Liebe zur Sache. Öffentliches und privates Interesse in Lessings Dramen. Tübingen 1973. 22 Vgl. Hermann Kesten: Glückliche Menschen. Roman. Mit einem Vorwort von Erich Kästner. Kassel 1948, S. 8 und S. 11.

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Auch Dominik Graf glaubt mit seinem Spielfilm eine Handlung über die viel modernere Szenencollage der Vorlage stellen zu müssen. Diese Linie bietet die zerbrechende Liebesgeschichte von Fabian und Cornelia, die sich dem Filmgewerbe und einem älteren Produzenten verschreibt, sich für Kunst und glamouröse Erfolge letztlich prostituiert. In ihrem Abschiedsbrief an den schlafenden Fabian ist es ihr, als hätte sie sich »an die Anatomie verkauft« (154). Es geschieht ohne Reue und wird mit Erfolg belohnt. Fabian hingegen entsagt mit neusachlicher Abgeklärtheit allen Aussichten auf eine Karriere, seine Promotion hat ihm nichts genützt, er versieht einen relativ beliebigen Job. Im Unterschied zur Opportunistin Cornelia und zum melancholischen Fatalisten Fabian, der aber – wie der letzte Satz des Romans zeigt – das Schwimmen (auch im Leben) nie gelernt hat, erscheint Labude als Idealist. Mit unverbrüchlicher Liebe zur Sache bringt er eine grundlegende Studie zu Lessing hervor, mit der er sich dem universitären Karrieresystem aber nicht andient. Auf das vermeintliche Scheitern reagiert er mit maximaler Verweigerung, schließlich mit dem Freitod. Der Film enthält eine Szene, die den akademischen Aufklärer und politischen Idealisten zusammenbringt. Labude unterrichtet mit Lessing’s Schriften in der Hand (es scheint ein dunkler Halblederband der Lachmann-Edition zu sein) einige Studenten an einem Regentag im Park, ein Spitzel mit Schlapphut beobachtet den Stehauftritt aus dem Strauchwerk. Labude zitiert Lessings anakreontisches Lied Die Gewißheit (1771): Die Gewißheit. Ob ich morgen leben werde, Weiß ich freylich nicht: Aber, wenn ich morgen lebe, Daß ich morgen trinken werde, Weiß ich ganz gewiß.²³

Die witzig-paradoxe Lehre der Anakreontik, dass der fortgesetzte Konsum von Wein und Liebe wahrscheinlicher sei als das eigene Weiterleben, vermag Labude nur vorzuspielen. Gleich anschließend wird er ernst und grundsätzlich. Mit Lessing fragt er, ob wir nicht öfters in Gesellschaften geraten, »in welchen wir aushalten müssen« und in denen uns »die Zeit unendlich langweilig wird auf dem Krankenlager«. Labude wirbt dafür, tätig zu werden und sich mit Studierenden in anderen Städten zusammenzuschließen, er beschwört das »Zeitalter der Menschenwürde«

23 Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. 3. Aufl., besorgt durch Franz Muncker. Stuttgart 1886, Bd. 1 S. 63 f.

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herauf ²⁴ und damit die Ideale der amerikanischen Menschenrechtsdeklaration und spielt auf Lessings Titel Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) an. Seine Zuhörer reagieren ohne Begeisterung, tuscheln reserviert miteinander, nur der Spitzel im Hintergrund hört aufmerksam zu. Die Szene geht auf das achte Buchkapitel zurück, in dem Labude von seiner Rede vor Hamburger Studenten im Auditorium maximum erzählt, von seinem Plädoyer für eine »kulturelle Vertiefung der Erziehung und des Unterrichts«, um eine »Querverbindung der Klassen« zu ermöglichen (72); sowie vom Wunsch, »mit den sozialistischen Studenten eine Art Kartellverbindung einzugehen« (73). Abschließend stellt sich die Frage, warum der Roman gerade jetzt wieder so starke Aufmerksamkeit findet. Gleichzeitig mit der Verfilmung von Dominik Graf brachte Frank Castorf den Fabian im Sommer 2021 auf die Bühne des Berliner Ensembles. Hier stehen der Selbstmord und Abschiedsbrief am Anfang, das Gelehrtenthema spielt aber auch hier eine gänzlich untergeordnete Rolle. In den Vordergrund tritt – wie im Film – die augenblickliche Renaissance der Goldenen Zwanziger, die Welt verruchter Varietés und mondäner Etablissements, der boomenden Filmwirtschaft und Werbebranche, eleganter Kleidung und teurer Autos. Die historischen Berliner Kriminalromane von Volker Kutscher, die auch unter dem Titel Babylon Berlin (seit 2017) von Tom Tykwer in mehreren Staffeln für die ARD produziert werden, stehen als populärste Beispiele für diese Mode. Der großstädtische Zerrspiegel eines Moralisten, als den Kästner die Neuauflage seiner Satire 1946 ankündigte, ist inzwischen etwas blind geworden. Die Kritik am hierarchischen Universitätssystem jedenfalls scheint für ein größeres Publikum kaum noch interessant. Gleichwohl haben die von Kästner karikierten Verhältnisse sich auch nach rund hundert Jahren nur unwesentlich verbessert.

24 Vgl. Graf: Fabian oder Der Gang vor die Hunde (s. Anm. 17), Minute 0:57–0:58.

Helmuth Kiesel

Kästners flache Aufklärung Niemand, glaube ich, wird leugnen, dass Erich Kästner ein Schriftsteller aus dem Geist der Aufklärung war. Auch ich will diesen Niemand nicht geben, und dies umso weniger als ich Kästner vor gut vierzig Jahren zu Beginn meines ihm gewidmeten Autorenbüchleins im Beck-Verlag ausdrücklich als Aufklärer charakterisierte und rühmte: Die »meisten seiner Gedichte und Essays, die wichtigsten seiner Romane und Bühnenstücke sind geschrieben als Beiträge zur Sisyphusarbeit der Aufklärung«, und: »Als Aufklärer verstand Kästner sich selbst«.¹ Als seine Vorbilder nannte er aufklärerische Autoren: Swift und Voltaire, Büchner und Heine, vorzugsweise aber Lessing, mit dem er sich während seines Studiums ja lange beschäftigt hatte: »Lessing, der Sachse mit dem feurigen Verstande, der Mann mit dem Herzen im Kopf – immer wieder werde ich an ihm zum Schwärmer […].« In einer seiner Selbstcharakterisierungen bekennt er sich als Nachfahre der Aufklärung und nennt die Dimensionen, in denen sich dies insbesondere zeigt: Er ist ein Moralist. Er ist ein Rationalist. Er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung, spinnefeind der unechten ›Tiefe‹, die im Lande der Dichter und Denker nie aus der Mode kommt, untertan und zugetan den drei unveräußerlichen Forderungen: nach der Aufrichtigkeit des Empfindens, nach der Klarheit des Denkens und nach der Einfachheit in Wort und Satz.²

Der Anspruch, der mit dieser Selbstcharakterisierung aus dem Jahr 1958 erhoben wird, wird durch Kästners Werk eingelöst: Es ist ein einziges großes Plädoyer für Vernunft, Humanität und Toleranz gegenüber allem, was mit Vernunft und Humanität vereinbar ist, nicht aber gegenüber allen Formen von Irrationalismus, Inhumanität und Dogmatismus oder gar Fanatismus jeder Art. Diese waren ihm so zuwider, dass in seinem Werk keine Spur davon zu finden ist. Kästner repräsentiert die vollendete Aufklärung, die alles Irrationale abgestreift oder überwunden und so weit hinter sich gelassen hat, dass sie an sich selbst nichts mehr davon beobachten kann und nicht im Entferntesten in Gefahr kommt, unter Verlustgefühlen zu leiden, der Aufklärung zu misstrauen und nach einem Remedium für negative und schmerzende Aufklärungsfolgen zu suchen. Das aber unterscheidet Kästner von jenem anderen Sachsen, der die religiöse Aufklärung zu Ende gebracht hat, Friedrich Nietzsche, und von Zeitgenossen wie Max Weber (1864–1920), Ernst

1 Helmuth Kiesel: Erich Kästner. München 1981, S. 7. 2 Erich Kästner: Gesammelte Schriften in sieben Bänden. Bd. 5: Vermischte Beiträge. Zürich 1959, S. 567. https://doi.org/10.1515/9783111085081-011

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Troeltsch (1865–1923), Alfred Döblin (1878–1957), Gottfried Benn (1886–1956), Hermann Broch (1886–1951), Ernst Jünger (1895–1989), Elisabeth Langgässer (1899–1950) und Bertolt Brecht (1898–1956), die von diesem finalen Akt der religiösen Aufklärung überwältigt wurden und – wie Nietzsche selbst – unter dem Verlust metaphysischer Sinnsysteme und Perspektiven litten, dann auch noch von jüngeren Autoren wie Paul Celan (1920–1970) und Martin Walser (1927–2030), die sich mit dem Verschwinden Gottes aus dem Bewusstsein nicht stillschweigend abfinden mochten. Dies möchte ich mit den folgenden Ausführungen illustrieren, um Kästners Heraustreten aus dieser Reihe weltanschaulich unglücklicher Zeitgenossen und um seine Abstinenz in metaphysischen oder religiösen Fragen augenfällig werden zu lassen. Kästner wird dabei wenig zu Wort kommen – eben, weil er diesen Fragen seine Aufmerksamkeit oder sein Wort verweigert hat. Das ist zunächst einmal kein Vorwurf, sondern eine bloße Feststellung. Warum sollte Kästner sich mit Fragen herumschlagen, die er – wie viele andere Zeitgenossen – offensichtlich als überholt betrachtete? Verhielt er sich damit nicht genau so, wie Benn als bekennender Sohn der Moderne es für zeitgemäß hielt, als er am 17. Februar 1949 an seinen Briefpartner F. W. Oelze schrieb, »dass ein moderner Geist nicht nach den letzten Dingen fragt, er wird schon mit den vorletzten nicht fertig«.³ Man muss aber bei dieser bloßen Feststellung nicht stehenbleiben, sondern kann fragen, worin denn die Differenz zwischen Kästner und jenen anderen Zeitgenossen liegt und wie sie im Hinblick auf die post-aufklärerischen Beunruhigungen, die von diesen erfahren wurden, zu bewerten ist. Die Antwort ist in der Überschrift meines Beitrags angedeutet: Da Kästner sich auf die post-aufklärerischen Beunruhigungen und Fragen seiner Zeitgenossen (einschließlich Benns) nicht einließ, übersah er sowohl die ihrerseits aufklärungsbedürftige Bedingt- und Begrenztheit der Aufklärung als auch ihre Perversionsmöglichkeiten, die nicht erst 1947 unter der Formel »Dialektik der Aufklärung« sichtbar gemacht wurden. Kästners Aufklärung blieb vergleichsweise flach. *** Locus classicus für das Leiden am Verlust Gottes und eines metaphysischen Sinnhorizonts ist die Geschichte von dem »tollen Menschen« in Nietzsches großer, 1882 erstmals publizierter Aphorismensammlung Die fröhliche Wissenschaft, dort im dritten Buch unter der Nummer 125. Sie handelt von einem »tollen Menschen«, »der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich

3 Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze. Zweiter Band / Erster Teil: 1945–1949. Hg. von Harald Steinhagen u. Jürgen Schröder. Wiesbaden 1979, S. 180.

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schrie: ›Ich suche Gott! Ich suche Gott!‹«, um dann festzustellen: »Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!« Dieses »ungeheure Ereignis«, heißt es dann weiter, »sei noch unterwegs […] und noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen«.⁴ Aber das fünfte Buch beginnt unter der Nummer 343 mit der Feststellung: »Das größte neuere Ereignis, – dass ›Gott todt ist‹, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen.«⁵ Die meisten Zeitgenossen, so fährt der Aphorismus dann fort, würden dies als erschreckende »Verdüsterung und Sonnenfinsternis« erfahren, als »Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz» aller auf den Glauben sich stützenden Überzeugungen und Normen, beispielsweise der «ganze[n] europäische[n] Moral«. Für die wahren Philosophen und »freien Geister« aber bedeute jenes Ereignis »eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung, Morgenröthe«: »endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ›offenes Meer‹.«⁶ Es scheint, dass die meisten Zeitgenossen die Nachricht vom Tod Gottes nicht als beglückend, sondern als beängstigend empfanden.⁷ Mit Gott verschwand ja auch der Urheber und Garant eines nicht von Menschen ersonnenen und überzeitlich gültigen Wertsystems. Es begann die Zeit des Nihilismus oder des historistischen Relativismus, der alle Werte als historisch bedingt relativierte. An Max Weber und Ernst Troeltsch, die von 1894 bis 1915 in Heidelberg in engem häuslichen Kontakt über die Probleme der Zeit nachdachten,⁸ sind zwei sozusagen idealtypische Reaktionsweisen zu beobachten: Max Weber charakterisierte in seinem berühmten, 1917 gehaltenen und 1919 gedruckten Münchner Vortrag Wissenschaft als Beruf ⁹ den von Nietzsche ins Bewusstsein gehobenen Prozess des Gottesverlusts als einen

4 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1980, Bd. 3, S. 480 f. 5 Ebd., S. 573. 6 Ebd., S. 574. – Zur Interpretation der Rede vom Tod Gottes bei Nietzsche vgl. den Artikel »Gott« von Peter Köster in Henning Ottmann (Hg.): Nietzsche-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2000, S. 245–248. 7 Vgl. dazu Bruno Hillebrand (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur I: Texte zur NietzscheRezeption 1873–1963. München, Tübingen 1978. 8 Vgl. dazu Wolfgang Schluchter, Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Asketischer Protestantismus und der »Geist« des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch. Tübingen 2005. 9 Im Folgenden zitiert nach Max Weber: Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Hg. von Wolfgang J. Mommsen u. Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod = Max Weber: Gesamtausgabe. Hg. von Horst Baier u. a., Bd. 17: Schriften und Reden. Tübingen 1992, S. 49–111.

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Prozess, der nicht nur zur »Entzauberung« oder Rationalisierung und Säkularisierung des Weltbild führte, sondern eben auch zu Ablösung des einen, göttlich verbürgten Wertsystems zugunsten »verschiedener Wertordnungen«, die nun »in unlöslichem Kampf untereinander stehen«.¹⁰ Weber wollte sich – nolens volens – damit abfinden. Der Mensch lebe, so sagte er, gegenwärtig in einer »gottfremden, prophetenlosen Zeit«,¹¹ die keine letzte Sinn- und Werterkenntnis ermögliche, und wer »dies Schicksal der Zeit nicht männlich ertragen« könne, tue gut daran, »in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirchen« zurückzukehren.¹² Dies hatte der Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch nicht nötig, weil er seine protestantische Kirche nie verlassen hatte. Aber Troeltsch fragte in umfangreichen Schriften nach den Problemen des Historismus¹³ und nach den Möglichkeiten seiner Überwindung. Mit dem Titel einer 1922 publizierten Aufsatzsammlung – Der Historismus und seine Überwindung ¹⁴ – benannte Troeltsch, wie Lothar Köhn 1974 mit einem überaus umsichtigen und eindringlichen literaturgeschichtlichen Aufsatz dargetan hat,¹⁵ ein fundamental wichtiges Begehren der Jahrzehnte zwischen ungefähr 1920 und 1950: den Wunsch nämlich, aus dem orientierungslos machenden Bann des Nihilismus herauszutreten, den »Zerfall der Werte«, wie Hermann Brochs vielgebrauchte Formel lautet,¹⁶ zu beenden und in eine neue, metaphysisch oder religiös begründete Wertschöpfung einzutreten. Anders gesagt: Ein guter Teil von Kästners Zeitgenossen erlebte die Vollendung der religiösen Aufklärung, die in der Feststellung vom Tod Gottes ihre Abschlussformel fand, nicht als Befreiung, wie Nietzsche gehofft hatte, sondern als Sturz in die Obdach- und Orientierungslosigkeit des Nihilismus, die nicht alle »männlich« zu ertragen vermochten, wie es Max Weber verlangte, und deswegen früher oder später versuchten, sich aus ihr her-

10 Ebd., S. 99. 11 Ebd., S. 106. 12 Ebd., S. 110. 13 Vgl. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Tübingen 1922. 14 Vgl. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung: fünf Vorträge. Berlin 1924. 15 Lothar Köhn: Überwindung des Historismus: zu Problemen einer Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1918 und 1933. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974), S. 704–766, sowie 49 (1975), S. 94–165. – Mehrfach nachgedruckt, zuletzt 2018 als Buch im LIT-Verlag Münster. – Vgl. zum Thema Historismus und Überwindung des Historismus auch Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt a. M. 1983. 16 Siehe insbesondere die Essayfolge »Zerfall der Werte« im dritten Teil der Schlafwandler-Trilogie: Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe. Bd. 1: Die Schlafwandler. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1980, S. 418 ff.

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auszuarbeiten. Einen geradezu dramatischen Charakter nahm dieser Prozess bei Alfred Döblin an. *** Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, entstammt einer assimilierten jüdischen Familie, wuchs ab 1888 in Berlin auf, studierte ab 1900 Medizin und begann schriftstellerisch zu arbeiten. Gleich ein erster Essay von 1902 galt Nietzsches Erkenntnislehre und charakterisierte Nietzsche als den Philosophen, der, indem er alle bisherigen metaphysischen Gewissheiten destruiert habe, den Religionen ein »neues Lebensrecht« gegeben habe:¹⁷ Die Religionen, so ist dies zu verstehen, waren diskreditiert, aber die Kräfte, die einst zu ihrer Bildung geführt hatten, waren weiterhin wirksam und konnten sich in der Nacht des Nihilismus neu und frei entfalten. Vorerst ging es Döblin aber darum, sich selber von überkommenen Vorstellungen zu befreien. 1912 trat Döblin aus der Berliner jüdischen Gemeinde aus, und 1919 schrieb er unter dem Titel Jenseits von Gott ¹⁸ einen vielfach an Nietzsche und Freud gemahnenden Essay, in dem sich der Wille zur Loslösung vom überkommenen Gottesbegriff auf drastische Weise artikuliert: Man sage nicht, daß Gott tot sei für die Ungläubigen. Als etwas, das nicht lebt und das nicht stirbt, als ein Gespenst geht er unter ihnen um in einem schrecklichen erschütternden Marasmus. […] Er findet sich in mir vor, wie etwas Selbständiges, das ich nicht aus meinem Haus weisen kann, ja das mitbesitzend in diesem Hause wohnt. Aber ich will ihn nicht, ich brauche ihn nicht, er steht leichenhaft in mir herum. Ich muß feststellen, was das ist, das ihn so verewigt; der Boden muß durchwühlt werden. Es soll niemand ein Unrecht geschehen[,] weder mir noch ihm. Nicht darauf kommt es an, das Gespenst zu beseitigen, sondern darauf, sowohl das Gespenst zu beseitigen als auch zu etwas anderem hinzufinden, wonach ich offenbar dränge, und was sich ratlos jetzt noch an die Leiche, das Gespenst, eine historische Blüte hängt, sie begießend, die längst wurzellos und eingetrocknet ist.¹⁹

Bevor die Suche nach jenem »anderen« beginnt, muss allerdings »reiner Tisch« gemacht werden, gilt die Devise »los von Gott«.²⁰ Damit werden aber nicht etwa alle tradierten religiösen Vorstellungen und Praktiken verworfen, vielmehr sollen sie, wie die anschließenden Ausführungen zeigen, nur von ihrer dogmatischen Einengung und missbräuchlichen Verwendung befreit und einer neuen Nutzung zuge-

17 Alfred Döblin: Der Wille zur Macht als Erkenntnis bei Friedrich Nietzsche. In: Ders.: Kleine Schriften I. Hg. von Anthony W. Riley. Olten, Freiburg i. Br. 1985, S. 13–29, Zitat S. 27. 18 Ebd., S. 246–261. 19 Ebd., S. 246. 20 Ebd., S. 247.

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führt werden. Es gilt, die Säkularisation zu vollenden, um die völlige religiöse Freiheit zu gewinnen. Verfolgt man Döblins Weg weiter,²¹ so zeigt sich, dass das Verlustgefühl bei ihm immer stärker und die Suche nach einem religiösen Fundament immer intensiver wurde. In dem großen Roman Berlin Alexanderplatz (1929) wird die Geschichte des Helden Franz Biberkopf, eines Exponenten der völlig säkularisierten und gewalttätigen Moderne, im Horizont typologisch verwendeter biblischer Figuren und Geschehnisse in heilsgeschichtlicher Perspektive kritisch bedacht. Einige Jahre später kam Döblin unter dem Eindruck der fundamental verbrecherischen NSHerrschaft mehr und mehr zur Überzeugung, dass diese eine Folge des Religionsverlustes sei und dass zu ihrer wirklichen Überwindung eine Rückkehr zur Religion, und zwar zur christlichen, nötig sei. Am 30. November 1941 ließ er sich im kalifornischen Exil katholisch taufen, und zwei Jahre später bekannte er sich bei der Feier seines 65. Geburtstags zum christlichen Glauben, was die mitfeiernden Schriftstellerkollegen nicht nur überraschte, sondern und irritierte und zum Teil empörte.²² Döblin hat aber den langen Erfahrungs- und Denkweg, der ihn zur Annahme des christlichen Glaubens katholischer Prägung führte, in mehreren großen Romanen – Amazonas (1935–1937), November 1918 (1939–1943), Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende (1945–1946) – sowie zwei großen »Religionsgesprächen« – Der unsterbliche Mensch (1946) und Der Kampf mit dem Engel (1950– 1952) und der autobiographischen Schrift Schicksalsreise (1940–1948) mehrfach reflektiert und als Auseinandersetzung mit der Moderne gestaltet. Alle diese Werke sind – nicht nur, aber auch – als Versuche zu verstehen, die Rückwendung eines säkularisierten Bewusstseins zum christlichen Glauben als notwendige und allein heilungsfähige Reaktion auf die Katastrophe der säkularisierten Moderne in den historisch beispiellosen Mordaktionen der modernen Totalitarismen zu erweisen. Die Begrenztheit ihrer Überzeugungskraft war Döblin selbst sehr wohl bewusst. Den Versuch wollte er gleichwohl unternommen haben. Mit der Botschaft vom Tod Gottes mochte er sich nicht abfinden, weil er darin eine Kapitulation und einen Kotau des menschlichen Geistes vor dem Ansturm der kreatürlichen Vergänglichkeit, der geschichtlichen Destruktivität und der kognitiven Begrenztheit sah. *** Hermann Brochs Reaktion auf Nietzsches Botschaft vom Tod Gottes ist der Döblin’schen vergleichbar, doch manifestierte sie sich weniger dramatisch und führte 21 Vgl. dazu Sabina Becker (Hg.): Döblin-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2016; Winfried F. Schoeller: Alfred Döblin: eine Biographie. München 2011; Helmuth Kiesel: Literarische Trauerarbeit: das Exil- und Spätwerk Alfred Döblins. Tübingen 1986. 22 Vgl. dazu Kiesel: Literarische Trauerarbeit (s. Anm. 21), S. 188ff.

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am Ende nicht zu einem dezidierten Bekenntnis.²³ Wie Döblin stammte Broch, 1886 in Wien geboren, aus einer assimilierten jüdischen Familie. 1909 trat er aus der jüdischen Gemeinde aus und ließ sich katholisch taufen, um eine katholische Frau heiraten zu können. Eine engere Bindung an die katholische Kirche ergab sich aber nicht, vielmehr konstatierte er die Auflösung aller religiösen Gewissheiten und die Vollendung des neuzeitlichen Säkularisierungsprozesses. Dies ist Gegenstand nicht nur seiner weltanschaulichen Essayistik, die in den 1920er Jahren einsetzte, sondern auch seiner großen Romantrilogie Die Schlafwandler (1931–1932). Der erste Roman, Pasenow oder die Romantik, spielt im Jahr 1888 und zeigt am Beispiel eines preußischen Junkers das Verblassen des religiös begründeten Wertsystems und die daraus erwachsende Verunsicherung des Lebens, die von Pasenow als Unglück erfahren wird. Der zweite Roman, Esch oder die Anarchie, spielt im Jahr 1903 und handelt von einem Buchhalter, der, bereits ohne religiöse Führung aufgewachsen, ein völlig diesseitsorientiertes Leben führt. Anders als Pasenow spürt er keinen Verlustschmerz; wohl aber lebt er – angesichts der allenthalben zu beobachtenden und an sich selbst erfahrenen Mühseligkeit des kleinbürgerlichen Daseins – im Gefühl, dass die Menschheit erlösungsbedürftig sei und den Weg in einen besseren Zustand finden müsse. Wie Pasenow wendet sich Esch im dritten Roman, Huguenau oder die Sachlichkeit, der Religion zu. Dieser im Jahr 1918 spielende Roman hat aber einen Geschäftsmann zum Helden, der sich nun ganz und gar in der säkularisierten Welt eingerichtet hat und sie als Chance begreift, seine Geschäftsinteressen ohne alle moralischen Skrupel zu verfolgen: der Mord an dem Druckereibesitzer Esch, den er in den Revolutionstagen begeht, um so leicht wie möglich in den Besitz der Druckerei zu kommen, ist für ihn nichts anderes als eine jetzt eben mögliche und angebrachte geschäftliche Aktion. Warum auch sollte man einen unliebsamen Sozius, anstatt ihn auf umständliche Weise ökonomisch zu ruinieren oder juristisch auszumanöverieren, nicht einfach physisch liquidieren? Die Revolutionswirren boten Gewähr dafür, dass keine polizeiliche Untersuchung folgte. Das heißt: Der Glaubens- oder Gottesverlust, der sich – wie der dritte Roman in langen historischen Exkursen zu erweisen sucht – als Konsequenz des neuzeitlichen Denkens seit der Reformation einstellte, führt zum Verlust aller moralischen Werte und zur Herrschaft des bedenkenlos Bösen in der Welt. Dieser Zustand ist – Broch zufolge – für die Menschen allerdings nicht aushaltbar. Sie brauchen eine neue Grundorientierung oder eine neue basale Wertordnung, die so zwingend ist und so verpflichtend 23 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Brochs erzählerisches und essayistisches Werk und auf die vorzüglich informierende Dissertation von Claudia Scheufele: Glaubensverlust und Erlösungsbedürfnis: Hermann Brochs »religiosistisches« Werk. Würzburg 2020. Zum biographischen Hintergrund vgl. Paul Michael Lützeler: Hermann Broch. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1988.

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wirkt, wie dies nur von einer religiösen Manifestation zu erwarten ist. Broch sah die Menschheit an dem Punkt der geistigen Entwicklung angelangt, an dem die Auflösung aller Werte, wie es Nietzsche prophezeit hatte, in eine neue Wertbildung und Sinnerkenntnis umschlagen musste. In dieser Situation kam der Dichtung – Broch zufolge – die Aufgabe zu, im vollen Bewusstsein sowohl der geschichtlichen Entwicklung als auch der modernen Problemlage als Leitmedium zu fungieren. Broch war ein »poeta doctus«, der sich – philosophiegeschichtlich und erkenntnistheoretisch bestens geschult – intellektuell gänzlich auf der Höhe der Zeit bewegte. Die Dichtung war seiner Meinung nach dazu berufen, die Funktion des Pionier- oder Leitmediums zu übernehmen, weil sie nicht nur – selbstverständlich! – über die neuesten Erkenntnisse der modernen Wissenschaften verfügte, sondern auch über alles, was in den Mythologien, Religionen und historischen Überlieferungen gespeichert war, und weil sie in der Lage war, dies alles kreativ zu nutzen. In diesem Sinne schrieb er am 25. Oktober 1934 an die Gattin seines Verlegers, Daisy Brody: »Die Dichtung steht stets am Anfang und am Ende des Glaubens, sie ist seine Morgen- und Abenddämmerung, aber mythische Dämmerung.«²⁴ Dichtung in diesem Sinn konnte Abgesang auf eine überlebte religiöse Phase oder Präludium zu einer neuen religiösen Phase sein, konnte – wie die Schlafwandler-Trilogie – den Tod einer Religion beschreiben oder – wie der große Roman Der Tod des Vergil (1936–44) – mit der Geburt eines Erlöser-Kindes den Beginn einer neuen religiösen Orientierung ankündigen. Dichtung dieser Art war nach Brochs Verständnis keine »religiöse« Dichtung, sondern (nur) eine »religiosistische« –: keine verkündende, sondern (nur) eine religiös gestimmte, in religiöser Erwartung verharrende und religiöse Suchbewegungen inspirierende Dichtung. Wenn Broch – in seinem letzten Erzählwerk Die Schuldlosen (1949–1950) – im Namen Gottes reden lässt, variiert er die biblische Formel der Selbstaussprache Gottes im Sinne der apophatischen oder negativen Theologie, indem er alles, was er die göttliche Stimme in freien Versen sagen lässt, gleich wieder in Abrede stellt – aber eben doch eine mögliche, erwünschte, erhoffte Stimme: Ich bin, und Ich bin nicht, da Ich bin. Deinem Glauben bin ich entrückt Mein Antlitz ist Nicht-Antlitz, Meine Sprache Nicht-Sprache, und dies wußten Meine Propheten: Anmaßung ist jegliche Aussage über mein Sein oder Nicht-Sein, und die Frechheiten des Leugners wie die Unterwerfung des Gläubigen sind gleicherweis angemaßtes Wissen.²⁵

24 Broch: Kommentierte Werkausgabe (s. Anm. 16), Bd. 13/1: Briefe 1 (1913–1938), S. 310. 25 Ebd., Bd. 5: Die Schuldlosen, S. 242.

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Man kann das wohl auch als theologische Aufklärung bezeichnen, die der menschlichen Rede über Gott oder der Verwendung des Wortes »Gott« jede Gewissheit nimmt, aber, indem sie eine göttliche Stimme reden lässt oder die biblische Rede Gottes oder über Gott fortsetzt, an der Vorstellung, dass es Gott geben könne, festhält. Religiöse Aufklärung hat an diesem Punkt ihre Grenze. Sie kann die Existenz Gottes dementieren, aber nicht seine Vorstellbarkeit. *** Gottfried Benn, 1886 in Mansfeld (Westpriegnitz) als Sohn eines protestantischen Pfarrers geboren, wuchs in einer dörflich-frommen Umgebung auf, in welcher, wie Benn 1913 in einem ersten literarischen Essay schrieb, »jedes Ding nur mit Gott oder dem Tod verknüpft wurde«, aber nie mit seiner »Irdischkeit«.²⁶ Dann überkam ihn, induziert durch die Lektüre Nietzsches und das Medizinstudium an der Berliner Kaiser-Wilhelms-Akademie, die »Seuche der Erkenntnis«,²⁷ durch welche die religiöse Orientierung fast restlos aufgehoben wurde. Die Gedichte und essayistischen Schriften der 1920er und 1930er Jahre zeigen einen Benn, dem der Sinn der menschlichen Existenz insgesamt und im Einzelnen nur noch fragwürdig war und der – Nietzsche folgend – versuchte, im Nihilismus eine Entlastung zu sehen. »Nihilismus ist ein Glücksgefühl«, schrieb er 1931 und wiederholte es 1934 und 1937.²⁸ Aber es scheint, dass er den Nihilismus nicht nur als Glück empfand. Symptomatisch ist das elegische Gedicht Verlorenes Ich von 1943, das im Angesicht der wissenschaftlich »zerdachten« Welt nach einem sinnstiftenden »Stichwort« fragt, aber ein solches nirgendwo finden kann – und mit zwei Strophen schließt, die wehmütig an jene Zeit erinnern, in der alles im gemeinsamen Glauben an Gott aufging: Verlorenes Ich Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären, Opfer des Ion –: Gamma-Strahlen-Lamm – Teilchen und Feld –: Unendlichkeitsschimären auf deinem grauen Stein von Notre-Dame. Die Tage gehen dir ohne Nacht und Morgen, die Jahre halten ohne Schnee und Frucht bedrohend das Unendliche verborgen – die Welt als Flucht. […]

26 Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe in Verbindung mit Ilse Benn. Hg. von Gerhard Schuster. Bd. III: Prosa 1. Stuttgart 1987, S. 26 (Heinrich Mann. Ein Untergang). 27 Ebd. 28 Ebd., S. 315 und S. 320 (Rede auf Heinrich Mann) und Sämtliche Werke, Bd. IV: Prosa 2. Stuttgart 1989, S. 185 (Lebensweg eines Intellektualisten, Kap. III a) und S. 226 (Weinhaus Wolf ).

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Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten und was die Menschheit wob und wog, Funktion nur von Unendlichkeiten – die Mythe log. Woher, wohin – nicht Nacht, nicht Morgen, kein Evoë, kein Requiem, du möchtest dir ein Stichwort borgen – allein bei wem? Ach, als sich alle einer Mitte neigten und auch die Denker nur den Gott gedacht, sie sich den Hirten und dem Lamm verzweigten, wenn aus dem Kelch das Blut sie rein gemacht, und alle rannen aus der einen Wunde, brachen das Brot, das jeglicher genoß – o ferne zwingende erfüllte Stunde, die einst auch das verlorne Ich umschloß.²⁹

Vermutlich hatte Benn, als er die letzten Strophen schrieb, den berühmten Genter Altar der Brüder Jan und Hubert van Eyck vor Augen, den er während seiner Dienstzeit bei der deutschen Besatzungsarmee in Belgien um 1916 gesehen haben dürfte. Zeigt er doch auf der großen Mitteltafel des unteren Teils die in der Geheimen Offenbarung 7,9–12 verheißene Zusammenkunft aller Völker und Gruppen, die zusammenströmen, um sich wie die Engel im engsten Kreis dem blutspendenden Lamm auf dem Altar in der Mitte zuzuneigen. Der Altar entstand 1432 oder 1435, als es mit dieser Einheit zu Ende ging. Für die Gegenwart schloss Benn die Rückwendung zu einem religiös grundierten und perspektivierten Denken und Dichten indessen aus. Mit kritischem Blick auf den katholisch gewordenen Döblin, der sich nun in religiösen Schriften erging, bekräftigte Benn 1949/50 in den poetologischen Passagen seiner Autobiographie Doppelleben, was er schon 1927 im zweiten Teil seines Essays Epilog und lyrisches Ich geschrieben hatte: »Gott ist ein schlechtes Stilprinzip«,³⁰ was auch heißt: ein schlechtes Denkprinzip. Wenn es einen Ausweg aus dem Nihilismus gab, so musste er – Benn zufolge – durch künstlerische Anstrengung gefunden werden. Auch für dieses »Artistenevangelium« (wie es in der Benn-Literatur genannt wird) war Nietzsche der Anreger. Er hatte in seinem berühmten Frühwerk Die Geburt der Tragödie (1872) die These vertreten, dass »das Dasein der Welt« oder »das Dasein und die Welt« »nur als aesthetisches Phänomen

29 Benn: Sämtliche Werke (s. Anm. 26), Bd. I: Gedichte 1. Stuttgart 1986, S. 205 f. 30 Ebd., Bd. V: Prosa 3. Stuttgart 1986, S. 166 (Doppelleben), und Bd. III: Prosa 1, S. 131 (Epilog und lyrisches Ich, wo es heißt: »ungünstiges Stilprinzip«).

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gerechtfertigt« seien,³¹ und hatte an anderen Stellen zu verstehen gegeben, dass die Kunst »die eigentliche Aufgabe« und erlösende Kraft des Lebens sei.³² Dem schloss Benn sich an, indem er die Kunst als die «letzte metaphysische Tätigkeit innerhalb des europäischen Nihilismus» begriff.³³ Was Döblin vom Rückgriff auf den Katholizismus und Broch von einem neuen religiösen Durchbruch erhoffte, versprach sich Benn von der Kunst – was die Frage aufwirft, ob dies nicht eine Überforderung ist.³⁴ *** Von all dem gibt es bei Kästner, soweit ich sehe, nichts. Sven Hanuscheks Biographie ist zwar zu entnehmen, dass Kästner wohl schon als Primaner mit Nietzsches Werk, speziell mit Zarathustra, in Berührung kam, aber davon nicht sonderlich beeindruckt oder gar beunruhigt wurde.³⁵ Die Botschaft vom Tod Gottes scheint er nicht vernommen zu haben, oder sie hat ihn nicht erschüttert. Es gibt bei Kästner keinen Aufschrei, wie bei Döblin, keinen Überwindungsversuch wie bei Broch, keine Verlustklage und keinen Griff nach einem Religionsersatz wie bei Benn. Das einzige Gedicht, mit dem sich Kästner, wenn ich es recht sehe, in bemerkenswerter Weise auf eine religiöse Thematik einlässt, ist das Gedicht Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag, das am 24. Dezember 1928 unter dem Titel Weihnachts-Hymne in einer Tageszeitung erschien (und dann in die Ein Mann gibt Auskunft (1930) aufgenommen wurde). Aber Jesus wird dort in leicht lamentierender Melancholie nur als gescheiterter Sozialrebell in Erinnerung gerufen: Zweitausend Jahre sind es fast, seit du die Welt verlassen hast, du Opferlamm des Lebens! Du gabst den Armen ihren Gott. Du littest durch der Reichen Spott. Du tatest es vergebens! […]

31 Nietzsche: Sämtliche Werke (s. Anm. 3), Bd. 1, S. 17, S. 47 und S. 152. 32 Einschlägig hierfür: ebd., Bd. 13, S. 522, sowie Bd. 3, S. 351 f., und Bd. 6, S. 438 f. – Vgl. dazu im Nietzsche-Handbuch (s. Anm. 5), S. 194 f., den Artikel »Artistenmetaphysik« von Christian Schüle. 33 Benn: Sämtliche Werke (s. Anm. 26), Bd. IV: Prosa 2, S. 185 (Lebensweg eines Intellektualisten, Kap. III a); vgl. dazu den Artikel Nihilismus oder die Apotheose der Kunst aus dem Geiste Nietzsches von Christian Schärf, in: Christian M. Hanna u. Friederike Reents (Hg.): Benn-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2016, S. 5 f. 34 Vgl. dazu Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens: Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik. Pfullingen 1985, S. 50 f. und S. 365–370. 35 Vgl. Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht: das Leben Erich Kästners. München, Wien 1999, S. 61 und S. 64.

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Die Menschen wurden nicht gescheit. Am wenigsten die Christenheit, trotz allem Händefalten. Du hattest sie vergeblich lieb. Du starbst umsonst. Und alles blieb beim Alten.³⁶

Religiös oder theologisch gesehen ist dies so unterkomplex wie das früher entstandene Gedicht Weihnachtslied, chemisch gereinigt, das sich ebenfalls in der Klage über Armut erschöpft.³⁷ Kein Wort davon, dass Jesus nicht (nur) ein Sozialrebell war, der den Armen eine Religion gab, sondern – nach traditionellen christlichen (und hier nur grob umrissenen) Vorstellungen – primär der in die Menschheit eingetretene Sohn des einen wahren und ewigen Gottes war, der von diesem einen wahren und ewigen Gott Zeugnis ablegte und am Kreuz nicht als Sozialrebell starb, sondern als der Heiland, der die Sünden der Welt auf sich nahm und die gefallene, aus dem Paradies vertriebene und mit der Erbsünde belastete Menschheit dadurch in den Zustand der Gnade oder der prinzipiellen Erlöstheit zurückführte. Die Reduzierung der Lehre und des Wirkens Jesu auf die sozialrevolutionäre Botschaft, sofern man davon wirklich sprechen kann, blendet die Frage nach seiner göttlichen Natur und seiner messianischen Bedeutung, die bis heute im Zentrum christlicher Religiosität und Theologie steht, völlig aus; sie wird nicht einmal als mögliche Frage in Erwägung gezogen oder als ein Thema oder Problem angesprochen, das Zeitgenossen noch immer beschäftigt. Es scheint, dass für Kästner die Aufklärung, die zur Säkularisierung des Weltbilds und zu der von Brecht im Leben des Galilei gefeierten Entleerung oder Abschaffung des Himmels geführt hatte,³⁸ so zwingend oder eigentlich: so selbstverständlich war, dass sich jeder Gedanke darüber hinaus erübrigte und verbot. Dies übergeht allerdings die historistische Einsicht, dass auch diese Position historisch bedingt sein dürfte und metaphysische oder religiöse Fragen keineswegs ein für alle Mal erledigt sind. Die Debatte über Jürgen Habermas’ 2019 erschienene Geschichte der Philosophie zeigt,³⁹ dass dies nicht der Fall ist. 36 Kästner: Gesammelte Schriften 1 (s. Anm. 2), S. 207 f. 37 Ebd., S. 82 f. 38 Vgl. Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht u. a. Bd. 5: Stücke 5, S. 11 und S. 26. 39 Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie: Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen; Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen. Berlin 2019; Franz Gruber, Markus Knapp (Hg.): Wissen und Glauben: theologische Reaktionen auf das Werk von Jürgen Habermas »Auch eine Geschichte der Philosophie«. Mit einer Replik von Jürgen Habermas. Freiburg, Basel, Wien 2021; Burkhard Liebsch, Bernhard H. F. Taureck: Trostlose Vernunft? Vier Kommentare zu Jürgen Habermas’ Konstellation von Philosophie und Geschichte, Glauben und Wissen. Hamburg 2021.

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Die religiöse Aufklärung ist nicht abgeschlossen, sondern braucht offensichtlich weitere Aufklärung über sich selbst. Bei Döblin, Broch und Benn wurde die thematisch; Kästner blieb davon unberührt. Die Frage stellt sich, ob diese Differenz generationsbedingt ist. Döblin war 21 Jahre älter als Kästner, Broch und Benn waren 13 Jahre älter, also keineswegs eine ganze Generation (wenn man den mittleren Generationenabstand für 1900 bei etwa 30 Jahren ansetzt),⁴⁰ aber doch eine Zeitspanne, die möglicherweise dafür ausreichte, dass Nietzsches Botschaft vom Tod Gottes weniger erschütternd als vielmehr plausibel und zwingend wirkte, zumal sie bei den Jahrgängen, denen Kästner und Brecht angehörten, zu einer Zeit ankam, in welcher ein mörderischer Krieg den Glauben an einen von Gott bewohnten Himmel oder, anders gesagt, an einen von Gott getragenen Sinn der Welt oder gar an einen göttlichen Heilsplan radikal in Frage stellte; Kästners Gedicht Stimmen aus dem Massengrab deutet darauf hin.⁴¹ Andererseits ist Elisabeth Langgässer mit ihrem »supranaturalistischen«⁴² Roman Das unauslöschliche Siegel, der ab 1936 entstand und 1946 publiziert wurde, ein Beispiel dafür, dass auch die Angehörigen dieser Jahrgänge – wie Kästner wurde Langgässer 1899 geboren – nicht allesamt bereit waren, der radikalen religiösen Aufklärung zu folgen und den Tod Gottes klaglos hinzunehmen. Das Unauslöschliche Siegel ist ein Roman, der aus der säkularisierten Welt heraus durch die Erfahrung zweier Kriege in die Welt eines zwar nicht dogmatisierten oder kirchentreuen, aber unbedingten Glaubens zurückführt.⁴³ Und auch bei den Angehörigen einer späteren Generation ist die Frage nach Gott keineswegs erledigt, sondern wird als Artikulation eines von der Not der Zeit erfüllten Bewusstseins gestellt: bei Paul Celan (1920–1970) etwa in dem 1961 entstandenen und 1963 publizierten Gedicht Psalm,⁴⁴ das eine Art verneinender Beschwörung des abwesenden und nicht einmal ansprechbaren Gottes darstellt,⁴⁵ oder bei Martin Walser, in dessen Roman Muttersohn die Frage nach Gott als eine menschliche Notwendigkeit erklärt und die

40 https://de.wikipedia.org/wiki/Generation#Generationenabstand (letzter Zugriff: 3. März 2023). 41 Kästner: Gesammelte Schriften 1 (s. Anm. 2), S. 96. 42 Elisabeth Langgässer: Das unauslöschliche Siegel. Roman. München 1989, S. VII. 43 Siehe dazu die Ausführungen von Scheufele (s. Anm. 20), S. 83–86. 44 Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2003, S. 132 f. 45 Vgl. dazu die einlässliche Untersuchung von Jan-Heiner Tück: Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung – eine theologische Provokation. Freiburg, Basel, Wien 2020.

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Möglichkeit des Sprechens über Gott im Rückgriff auf die Mystik und die negative Theologie sowohl vorgeführt als auch in Frage gestellt wird.⁴⁶ *** Auch unter einem anderen Aspekt erscheint mir Kästners unangefochtenes Aufklärertum, sein vernunftgewisses Bekenntnis zur »Klarheit des Denkens« unterkomplex gewesen zu sein, ein bisschen zu naiv und zu optimistisch hinsichtlich seiner Erkenntnisleistung und Überzeugungskraft oder, anders gesagt, hinsichtlich seiner Überlegenheit über alle Formen des Irrationalismus. Damit soll nicht einfach dem Irrationalismus das Wort geredet werden, sondern nur – mit dem Philosophen Herbert Schnädelbach⁴⁷ – darauf hingewiesen werden, dass die Frage nach den möglichen Grenzen der Aufklärung und nach der möglichen Triftigkeit oder Wahrheit irrationaler Einsichten, die Karl Jaspers beispielsweise den »Grenzerfahrungen« zuschrieb,⁴⁸ nicht so leicht, wie es nach Kästner zu sein scheint, von der Hand zu weisen ist. Bei manchen seiner Zeitgenossen stellte sich ja im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr der Verdacht ein, dass aufklärerisches Denken nicht ausreiche, die Welt zu erklären und das Leben zu steuern.⁴⁹ So setzte Ernst Jünger während seiner Erkundungsfahrt durch die ukrainischen Kriegsgebiete unter dem Eindruck der gigantischen Kampf- und Vernichtungsmaschinerie am 23. Dezember 1942 in seinem Journal zu einer Kritik der Aufklärung an: »Die Blindheit wächst mit der Aufklärung; der Mensch bewegt sich in einem Irrgarten von Licht. Er kennt die Macht der Finsternis nicht mehr.«⁵⁰ Die Aufklärung, so ist dies wohl zu verstehen, war eine Verführung zu einer optimistischen Weltsicht, in der die menschliche Bösartigkeit, die für den Platoniker und Gnostiker Jünger⁵¹ in der dichotomischen Beschaffenheit der Welt verankert war, weder in ihrer Unaufhebbarkeit erkannt noch in ihrer destruktiven Wucht wahrgenommen wurde, so dass man jetzt, im Dezember 1942, mit Entsetzen und Ratlosigkeit auf die Vorgänge blickte, die man bald darauf als Einbruch der »Barbarei» und später mit einem von Dan Diner geprägten Begriff als »Zivilisationsbruch« bezeichnete. 1947

46 Martin Walser: Muttersohn. Reinbek bei Hamburg 2011, S. 121–128 sowie S. 147 f.. 47 Schnädelbach: Philosophie in Deutschland (s. Anm. 13), S. 174–180: »Metaphysik des Irrationalen«. 48 Ebd., S. 195. 49 Vgl. dazu Helmuth Kiesel: Aufklärung und neuer Irrationalismus in der Weimarer Republik. In: Jochen Schmidt (Hg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt 1989, S. 497–521. 50 Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Bd. 2: Tagebücher II / Strahlungen I. Stuttgart 1979, S. 462. 51 Siehe zu diesem Aspekt insbesondere Peter Koslowski: Der Mythos der Moderne: die dichterische Philosophie Ernst Jüngers. München 1991.

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erschien dann mit Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung das 1944 verfasste Buch, das die »rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung«⁵² auf eine für alle Adepten der Aufklärung – den Verfasser dieses Beitrag eingeschlossen – erschütternde Weise skandalisierte, indem es mit dem zweiten Satz des Hauptteils feststellte, »die vollends aufgeklärte Erde« stehe nicht etwa unter der Herrschaft der Vernunft und sei keineswegs dem menschlichen Glück förderlich, sondern strahle »im Zeichen triumphalen Unheils».⁵³ Manches von dem, was Horkheimer und Adorno zur Begründung anführten, hat Kästner, wie Stefan Neuhaus gezeigt hat,⁵⁴ auch gesehen und kritisch thematisiert. Aber wie weit ist seine Kritik der instrumentellen oder technologischen Vernunft von der emphatischen Eindringlichkeit entfernt, die in der Dialektik der Aufklärung und davor in der Rationalitäts- und Fortschrittskritik etwa von Döblins Amazonas-Roman (1935– 1937), Brochs Huguenau oder die Sachlichkeit (1932), Benns Gedichten Chaos (1923) und Qui sait (spätestens 1927) oder Jüngers »theologischem« Heliopolis-Roman (1949) zu beobachten ist. Für Benn und Jünger hatte Kästner als Vertreter des rein gesunden Menschenverstands allerdings nur Spott übrig, wie er mit seiner Marktanalyse um 1950 wissen ließ: Der Kunde zur Gemüsefrau: »Was lesen Sie denn da, meine Liebe? Ein Buch von Ernst Jünger?« Die Gemüsefrau zum Kunden: »Nein, ein Buch von Gottfried Benn. Jüngers kristallinische Luzidität ist mir etwas zu prätentiös. Benns zerebrale Magie gibt mir mehr.«⁵⁵

52 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung: philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1969, S. 1. 53 Ebd., S. 9. 54 Stefan Neuhaus: »Urenkel der Aufklärung«: eine synoptische Lektüre von Werken Erich Kästners und der Dialektik der Aufklärung. In: Klaus Müller-Salget, Sigurd Paul Scheichl (Hg.): Nachklänge der Aufklärung im 19. und 20. Jahrhundert. Innsbruck 2008, S. 267–278. 55 Kästner: Gesammelte Schriften 5 (s. Anm. 2), S. 230.

Gideon Stiening

Der Schock des Blauen Buches Kästners Aufklärungskonzepte vor und nach 1945

1 Einleitung Die folgenden Überlegungen gehen von zwei Stellen im Blauen Buch – jenem ›Geheimen Tagebuch‹, das Kästner zwischen 1941 und 1945 führte¹ – aus, die zunächst analysiert und interpretiert werden, um sie anschließend in einen weiteren werkgeschichtlichen Kontext zu stellen. Eine Korrelation beider Passagen lässt nämlich erkennen, dass Kästners Selbstverständnis als Aufklärer in der Nachfolge Lessings,² als – wie er sich selbst bezeichnet – »Urenkel der deutschen Aufklärung«,³ durch die im Blauen Buch niedergeschriebenen Erlebnisse eine schwere Erschütterung erfuhr und – so die aus diesen Beobachtungen entwickelte These – von einem grundlegend anderen Aufklärungskonzept abgelöst wurde. Kästner wechselt auch nach diesen Erlebnissen nicht auf die Seite einer allgemeinen Aufklärungsskepsis oder gar gegenaufklärerischen Haltungen und Positionen. Alle drei Stellungen zur Aufklärung waren nach 1945 zu verzeichnen, wobei es den Anhängern dieser Bewegung als eines ›Wandels durch Vernunft‹⁴ besonders schwer wurde, nicht an den eigenen Überzeugungen zu zweifeln oder gar irre zu werden. Denn die intellektuelle Atmosphäre der ersten Nachkriegszeit kann nicht eben als aufklärungsfreundlich beschrieben werden.⁵ Dieses Urteil gilt für die ›Aufklä-

1 Erich Kästner: Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941–1945. Hg. von Sven Hanuschek in Zusammenarbeit mit Ulrich von Bülow und Silke Becker. Zürich 22021. 2 Dass Kästner vor allem im Konzept des moralischen Emotionalismus und dessen zentralem Wert, dem Mitleid, lange Zeit ein Anhänger Lessings war, versuche ich zu zeigen in Gideon Stiening: Kästners politischer Moralismus im ›Der Gang vor die Hunde‹. In: Sven Hanuschek, Gideon Stiening (Hg.): Politik und Moral. Die Entwicklungen des politischen Denkens im Werk Erich Kästners. Berlin, Boston 2021, S. 145–170; allerdings scheint sich Kästner schon gegen Ende der Weimarer Republik von diesem Konzept verabschiedet zu haben. 3 Erich Kästner: Kästner über Kästner. In: Ders.: Werke. Hg. von Franz-Josef Görtz. München, Wien 1998, Bd. 2, S. 323–328, spez. S. 326. 4 So die präzise Formel für die Substanz des Aufklärungsgedankens bei Georg Schmidt: Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert. München 2009. 5 Siehe hierzu u. a. Winfried Barner (Hg.): Geschichte der Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 1994, S. 3–30. https://doi.org/10.1515/9783111085081-012

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Gideon Stiening

rung‹ als Epoche und als Projekt.⁶ So verfassten schon kurz vor Kriegsende die Granden des in die USA exilierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, eine programmatische Schrift, die der Aufklärung eine Dialektik zuschrieb, welche bei allen Versuchen der Beförderung von Freiheit, Toleranz und Humanität eine instrumentelle Rationalität befördert habe, die in die technisch fundierte Massenvernichtung von Auschwitz und Treblinka geführt habe; hier wird die Aufklärung und ihr angeblich ungebrochener Fortschrittsoptimismus unmittelbar für den Holocaust verantwortlich gemacht.⁷ In anderer Weise setzte Carl Schmitt, zwar ohne öffentliches Amt, aber mit großem Einfluss auf die bundesdeutsche Jurisprudenz und die philosophischen und politischen Funktionsträger,⁸ seine dezidiert gegenaufklärerische Argumentation und Agitation fort, indem er nicht nur seinen Antisemitismus fortschrieb, sondern diesen mit den schon in den 1930er Jahren kritisierten Entwicklungen des Liberalismus und Demokratismus in Verbindung setzte sowie dieses ideologische ›Konstrukt‹ für den ›Hitlerismus‹ verantwortlich machte.⁹ Es ist der eifrige SchmittSchüler Reinhard Koselleck, der aus dieser systematischen Verwerfung der säkularen Moderne noch in den 1950er Jahren eine deftige Kritik der historischen Aufklärung ableitet,¹⁰ deren Geschichtsphilosophie und Utopismus der Autor nicht nur für die Französische Revolution, sondern noch für die Entstehung des Ost-WestKonfliktes des 20. Jahrhunderts verantwortlich macht. Auch Martin Heidegger, zunächst nach dem Krieg wegen seiner zeitweiligen Mitwirkung an der nationalsozialistischen Universitäts- und Bildungspolitik scheinbar diskreditiert, wurde zügig rehabilitiert und konnte mit seiner explizit gegenaufklärerischer Kritik am ›Humanismus‹ und später mit seinen Überlegungen zur ›Technik‹ großen Einfluss auf die intellektuellen Debatten der Nachkriegszeit

6 Zu dieser Differenzierung vgl. u. a. Annette Meyer: Die Epoche der Aufklärung. Berlin 2010, S. 9–21 oder auch Stefanie Stockhorst (Hg.): Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Göttingen 2013. 7 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1947 (EA 1944); zu einer überzeugenden Kritik an dem hier kultivierten Rationalitäts- und Aufklärungsverständnis vgl. Sonja Lavaert, Winfried Schröder (Hg.): Aufklärungs-Kritik und Aufklärungs-Mythen. Horkheimer und Adorno in philosophiehistorischer Perspektive. Berlin, New York 2018. 8 Siehe hierzu Jan Werner Müller: Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa. Darmstadt 22001, S. 61 ff. 9 Siehe hierzu u. a. Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie. München 2009, S. 463 ff. 10 Reinhard Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg, München 1959; vgl. hierzu demnächst Marion Heinz: Reinhart Koselleck Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. (1959). In: Aufklärung 35 (2023), [i. D.].

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gewinnen.¹¹ Letztlich sei als gewichtiges Mitglied dieser großintellektuellen Modernitäts- und Aufklärungskritiker noch Thomas Mann erwähnt, der im Nachkriegsdeutschland erneut eine weitreichende Rezeption erfuhr,¹² und das auch mit einem Literatur- und Politik-Verständnis, das sich von seiner wütenden Verwerfung von Demokratie und westlicher Zivilisation kaum wirklich abgegrenzt hatte.¹³ Andererseits zeigten nicht nur die Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse mit der Anwendung des Völkerrechts als juridischem Prinzip,¹⁴ der parlamentarische Rat mit den Versuchen der Einsetzung einer stabilen Verfassung nach Rechtsstaatsund Demokratieprinzipien,¹⁵ wie letztlich die Inthronisation der Vereinten Nationen mit der Fortentwicklung des Menschenrechtsgedankens,¹⁶ dass gewichtige Grundsätze der historischen Aufklärung nun endlich nicht nur in Deutschland, sondern auch im Hinblick auf der Neuordnung der internationalen Beziehungen zu einer tatsächlich politischen Praxis und deren Ordnung zu werden schienen. Gleichwohl zeigten die ersten Wahlen im Jahre 1949 – zumindest in WestDeutschland –, dass eher der konservative Zeitgeist die sozio- und herrschaftspolitischen Debatten bestimmen würde,¹⁷ während zudem die prägende personelle Kontinuität zur NS-Zeit nicht nur in der bundesdeutsche Lehrer- und Richterschaft,¹⁸ sondern auch bis in höchste Staatsämter,¹⁹ dem Verfolgen aufklärerischer Prinzipien nicht eben bedeutenden Erfolg zu versprechen schien.

11 Siehe hierzu u. a. Marion Heinz, Sidonie Kellerer (Hg.): Martin Heidegger »Schwarze Hefte«. Eine philosophisch-politische Debatte. Frankfurt a. M. 2016. 12 Siehe hierzu Hans Wißkirchen: Rezeption und Wirkung in Deutschland. In: Andreas Blödorn, Friedhelm Marx (Hg.): Thomas Mann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2015, S. 379–384, spez. S. 380 ff. 13 Siehe hierzu u. a. Jan-Dirk Müller: Renaissance, Reformation und der deutsche ›Sonderweg‹.Von Thomas Manns »Betrachtungen eines Unpolitischen« zum »Doktor Faustus«. In: Helmut Koopmann, Frank Baron (Hg.): Die Wiederkehr der Renaissance im 19. und 20. Jahrhundert. Münster 2013, S. 233–257 sowie Gideon Stiening: »Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand«. Thomas Manns ›Begriff des Politischen‹ und dessen Darstellungsverfahren in den Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Euphorion 117.1 (2023), S. 107–126. 14 Siehe hierzu u. a. Annette Weinke: Die Nürnberger Prozesse. München 2006. 15 Siehe hierzu u. a. Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. 4 Bde. München 32016, Bd. 3: Vom kalten Krieg zum Mauerfall, S. 110 ff. 16 Siehe hierzu u. a. Justin Morris: Origins of the United Nations. In: Thomas G. Weiss, Sam Daws (Hg.): The Oxford Handbook on the United Nation, Oxford, New York 22018, S. 41–59. 17 Winkler: Geschichte des Westens (s. Anm. 15), Bd. 3, S. 110. 18 Siehe hierzu u. a. Michael Stolleis: Nahs Unrecht, Fernes Recht. Zur juristischen Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert. Göttingen 2014, S. 65–95 (Rechtsordnung und Justizpolitik in Deutschland 1945– 1949). 19 Gemeint ist damit u. a. Hans Globke, der seit 1949 als Staatssekretär im Kanzleramt wieder unmittelbaren Einfluss auf die staatspolitischen Entscheidungen nehmen konnte, vgl. hierzu Erik

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Trotz der durchaus unklaren Lage entschied sich Kästner unmittelbar nach dem Kriegsende, eine aktive Rolle in der Entstehung und Entwicklung des neuen rechtstaatlichen und demokratischen Gemeinwesens einzunehmen; die Zeit des kritischen, aber doch eben passiven Beobachtens, wie diese Haltung Fabian begründet hatte,²⁰ war vorüber. Weniger Lessings Mitleid als Kants sapere aude scheint sich Kästner nach dem Kriege zum eigenen ›Wahlspruch‹ erkoren zu haben.²¹ Zumindest bis Anfang der 1950er Jahre, in anderer Weise auch danach – und selbst nach der sogenannten ›Wiederbewaffnung‹ – verstand Kästner seine publizistische und literarische Kunst als ein aktives Funktionselement für den Aufbau und die Verteidigung eines neuen, demokratischen und rechtstaatlichen Gemeinwesens,²² vor allem aber als Instrument zur Abwehr eines weiteren Krieges. Nicht nur Kästner, sondern auch Wolfgang Koeppen oder Peter Rühmkorf, Albert Thomsen und Werner Riegel wähnten sich noch in den frühen 1950er Jahren Zwischen den Kriegen;²³ man lebte z. T. bis in die frühen 1960er Jahre, also bis hin zur Kuba-Krise, unter dem Zeichen eines neuen Weltkrieges.²⁴ Dass es in diesem Zusammenhang, d. h. in den späten Kriegsjahren und der frühen Nachkriegszeit zu einem Umsturz des kästnerschen Verhältnisses zur politischen Umwelt, und damit auch einer Modifikation seines Aufklärungsverständnisses kam, sollen die nachfolgenden Überlegungen zu dokumentieren versuchen; und auch dass bestimmte Erlebnisse der späten Kriegsjahre dafür eine prägende Rolle spielten.

Lommatzsch: Hans Globke (1898–1973). Beamter im Dritten Reich und Staatsekretär Adenauers. Frankfurt a. M. 2009, spez. S. 160 ff. sowie Klaus Bästlein: Der Fall Globke. Propaganda und Justiz in Ost und West. Berlin 2018. 20 Siehe hierzu Erich Kästner: Der Gang vor die Hunde. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 42013, S. 46. u. ö. 21 Vgl. hierzu Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Ders.: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900 ff., Bd. 8, S. 33–42, spez. S. 35. 22 Siehe hierzu u. a. Sven Hanuschek: »Keiner blickt dir hinter das Gesicht.« Das Leben Erich Kästners. München 22010, S. 322 ff. 23 Zu den politischen und ästhetischen Bedingungsfaktoren dieser Zeitschrift und der ihr zugrunde liegenden Haltung des Finismus vgl. Rüdiger Schütt (Hg.): Zwischen den Kriegen. Werner Riegel, Klaus Werner Röhl und Peter Rühmkorf – Briefwechsel mit Kurz Hiller 1953–1971. München 2009. 24 Siehe hierzu u. a. Winkler: Geschichte des Westens (s. Anm. 15), Bd. 3, S. 139 ff.

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2 Wandlungsprozesse im Blauen Buch Zu Recht hat Sven Hanuschek in seiner Einleitung der von ihm besorgten Ausgabe des Blauen Buches darauf hingewiesen, dass trotz der höchst unterschiedlichen Quantitäten der jährlichen Aufzeichnungen zwischen 1941 und 1945 ein erkennbarer Wandel im Verhältnis des Tagebuchschreibers zu den beschriebenen Ereignissen und Erfahrungen zu verzeichnen ist.²⁵ Dies betrifft nicht allein – aber erkennbar auch – den allmählichen ›Verlust‹ humoristischer, zumeist ironischer bzw. sarkastischer Distanz, sondern darüber hinaus die zunehmende Kritik an den »Steigerungen des Antisemitismus«.²⁶ Spätestens im Rahmen der umfangreichen Aufzeichnungen zum Jahr 1945 wird zudem ersichtlich, dass Kästner die gelebte und bis weit über 1933 kultivierte Rolle des »Beobachters« aufgegeben hatte und aufgeben musste, um den gewaltsamen Exzessen gegen die sogenannten »›Endphasenverbrechen‹«²⁷ zu entgehen, d. h. schlicht um zu überleben. Gleichwohl wird das Gros der frühen Aufzeichnungen zwischen 1941 und 1943 noch durch jenen Kästner eigentümlichen Humor gestaltet, der mehr erzwungene Lässigkeit als elegante Souveränität zum Ausdruck brachte, letztlich jedoch an seinen Gegenständen allmählich zerbröselte.

2.1 Zur Kritik des »Unpolitischen Idealisten« Gleichwohl werden von Kästner schon früh– weniger der humoristischen Form als dem weltanschaulichen Inhalte nach – explizite Änderungen der eigenen Position reflektiert. Eine erste bedeutende Passage in dieser Hinsicht datiert vom 21. Januar 1941: Unpolitische Idealisten, wie ich einer war, erleben wohl immer das Gleiche: Eines Tages verachten sie die Menge, aber doch eben nur, weil sie die Menge vorher überschätzten. Und trotzdem: Sie schließlich zu verachten erscheint mir immer noch als eine erträglichere Lösung als etwa den Satz zu sprechen: »Vergib ihnen, den sie wissen nicht, was sie tun.« Daß sie es nicht wissen, dass sie es noch immer nicht wissen, ist unverzeihlich. Man schämt sich, im Namen aller, vor der Geschichte.²⁸

25 Sven Hanuschek: Kästners Kriegstagebücher. Eine Einführung. In: Kästner: Das Blaue Buch (s. Anm. 1), S. 7–41. 26 Ebd., S. 12. 27 Ebd., S. 16. 28 Kästner: Das Blaue Buch (s. Anm. 1), S. 51.

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Zunächst soll im Folgenden der Begriff des »unpolitischen Idealisten« im Zentrum der Betrachtungen stehen, als den Kästner sich hier bezeichnet. Er vollzieht diese Selbstzuschreibung allerdings in der Vergangenheitsform – er war ein solcher unpolitischer Idealist –, nunmehr hat er diese Position oder Haltung allerdings aufgegeben. Was aber bedeutet »unpolitisch«, was »Idealist«? Betrachtet man zunächst den Begriff des ›Unpolitischen‹, dann bedeutet dieses Prädikat im kästnerschen Kosmos der 1920er und frühen 1930er Jahre eine Zurückhaltung oder gar Distanz gegenüber dem Feld des herrschafts- und machtpolitischen Handelns (im wertneutralen Sinne), das er zumal ab den späten 1920er Jahren als ein durch weltanschauliche Ideologien und handfeste Gewalt in den Saalschlachten und politischen Morden der Zeit abstoßendes Feld erlebt hatte.²⁹ Wenn hier von ›abstoßend‹ gesprochen wird, dann beinhaltete dieses Prädikat für Kästner weniger ein Abgestoßensein in ästhetischer als in moralischer Hinsicht. Denn er sah in dieser Art von ›Politik‹, wie sie die späte Weimarer Republik kennzeichnete,³⁰ moralische Prinzipien unberücksichtigt, ja konterkariert, konkreter: Politik und Moral traten in den parteipolitischen Auseinandersetzungen Weimars auseinander – ein für Kästners politischen Moralismus schwer erträglicher Zustand,³¹ dem er allerdings nicht durch eigenes politisches Handeln, sondern durch Distanz begegnete. Kästners ›Begriff des Unpolitischen‹ impliziert dabei nicht im Sinne Thomas Manns einen metaphysischen Gehalt, dessen antimoderne Grundlegung und anthropologische Fundierung bei Kästner nicht vorhanden ist;³² ›unpolitisch‹ ist vielmehr ein weitgehend pragmatischer Begriff, der sich auf die Distanz gegenüber der Parteipolitik bezieht.³³ Kästner ist als ›unpolitischer Idealist‹ auch nicht in jeder Hinsicht unpolitisch: Dieses Unpolitische bezieht sich vor allem auf ein gesellschaftspolitisches Handeln,

29 Siehe hierzu u. a. Heinrich August Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 2018, S. 350 ff. 30 Vgl. hierzu Larry Eugene Jones: Von der Demokratie zur Diktatur. Das Ende der Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus. In: Nadine Rossol, Benjamin Ziemann (Hg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik. Darmstadt 2021, S. 120–141. 31 Siehe hierzu u. a. Sven Hanuschek: »Wie lässt sich Geist in Tat verwandeln?« Zu Erich Kästners Politikbegriff. In: Sebastian Schmideler (Hg.): Erich Kästner – so noch nicht gesehen. Impulse und Perspektiven. Marburg 2012, S. 87–99 32 Siehe hierzu Gideon Stiening: »Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand«. Thomas Manns ›Begriff des Politischen‹ und dessen Darstellungsverfahren in den Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Euphorion 117.1 (2023), S. 107–126. 33 Zu Kästners auch andernorts geäußerter Distanz zur Parteipolitik vgl. die Hinweise zu Piscator in Erich Kästner: Dokumentarisches Theater. Piscators »Rasputin«. In: Ders.: Gemischte Gefühle. Literarische Publizistik aus der »Neuen Züricher Zeitung« 1923–1933. Hg. von Alfred Klein. 2 Bde. Berlin, Weimar 1989; Bd. 2, S. 34–36, spez., S. 35.

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für das auch der durch den Krieg beschädigte und desillusionierte Moralist Fabian die Menschen nicht für reif genug gehalten hatte.³⁴ Diese Zurückhaltung gegenüber direkter politischer Handlung bedeutete aber nicht, dass Kästner – ebenso wie seine Kunstfigur – nicht eine deutliche Haltung politischer Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse entworfen und entwickelt hätte. ›Unpolitisch‹ ist der »unpolitische Idealist« Kästner vor 1933 vor allem als politisch Handelnder, nicht aber als poetischer und essayistischer Kritiker der Zeit. Über die konkreten Inhalte dieser politischen Kritik und der ihr zugunde liegenden, eher moralistischen als tatsächlich politischen Haltung mag man streiten,³⁵ was beispielsweise in einer Auseinandersetzung mit der Kritik Walter Benjamins an Kästner zu geschehen hätte,³⁶ wobei stärker als bisher zu berücksichtigen wäre,³⁷ dass Benjamins geschichtsphilosophischem Messianismus eine politische Theologie zugrunde lag,³⁸ die sich auch und vor allem an Kästners der Moderne zugewandter, gelassener Säkularität abarbeitete.³⁹ Kästners Moralismus und Säkularismus ist aber – anders als die politische Theologie Benjamins – einer Aufklärung verpflichtet, die wie u. a. bei Lessing, Garve oder Wieland in der Ausbildung der moralischen Gesinnung des Einzelnen einen Fortschritt auf den Gebieten der Sozio- und Staatspolitik erhoffte, ja erwartete.⁴⁰

34 Vgl. Kästner: Der Gang vor die Hunde (s. Anm. 20), S. 46 ff. 35 Die Frage nach der spezifischen Kontur der politischen Haltung und Position Kästners bis 1933 ist auch in Auseinandersetzung mit einer neuerdings erhobenen feministischen Kritik an Kästner zu führen, die mich nicht vollends zu überzeugen vermochte, weil die ausgewählten Beispiele eher Kästners Kritik an den vorgestellten weiblichen Rollenmustern ausführt als deren Affirmation, vgl. aber Laura Schütz: »Es gibt da eine Sorte junger Damen«. Frauenbilder in Kästners Lyrik um 1930 als Kontrapunkt zu den Weiblichkeitsentwürfen der Zeit. In: Sven Hanuschek, Gideon Stiening (Hg.): Politik und Moral. Die Entwicklungen des politischen Denkens im Werk Erich Kästners. Berlin, Boston 2021, S. 173–199. 36 Walter Benjamin: Linke Melancholie. Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Hermann Schweppenhäuser u. Rolf Tiedemann. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 8, S. 279–283. 37 Das gilt noch für die gegenüber Benjamin immerhin kritisch-reflektierte Studie von Walter Delabar: Linke Melancholie? Erich Kästners Fabian. In: Jörg Döring, Christian Jäger u. Thomas Wegmann (Hg.): Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert. Opladen 1996, S. 15–34. 38 Siehe hierzu u. a. Benjamins überaus positive Aufnahme von Carl Schmitts Schrift Politische Theologie (Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. München, Leipzig 1922) in Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schrften. Hg. von Hermann Schweppenhäuser u. Rolf Tiedemann. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 1, S. 203–430, spez. S. 245–248 u. S.412. 39 Zu Kästners selbstverständlicher Säkularität vgl. Stiening: Kästners politischer Moralismus (s. Anm. 2), S. 157 f. 40 Siehe hierzu u. a. Hans-Jürgen Schings: ›Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch‹: Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980, 22012; oder auch Gideon Stiening: Glück statt

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Das Unpolitische ist also – anders als im metaphysischen Geraune Thomas Manns oder der politischen Theologie Carl Schmitts und Walter Benjamins – präzise bestimm- und eingrenzbar, nämlich auf eine Abstinenz von dem konkreten, während der Weimarer Republik insbesondere parteipolitischen Handeln. Auch der Begriff des »Idealisten« lässt sich genau abgrenzen und so präzise bestimmen, was durch eine Betrachtung der nachfolgenden Passage erläutert werden kann: Wenn auch nicht durch das Instrument bzw. auf dem Wege der Politik, so besteht der Idealismus dieses Idealisten vor allem in der Annahme, die »Menschen anständig und vernünftig machen« zu können, wie es im Gang vor die Hunde heißt.⁴¹ Der Idealismus des ›Herrn Dr. Kästner‹ ist vor diesem Hintergrund den Zielen einer bestimmten Aufklärung, nämlich einer im späten 18. Jahrhundert verstärkt einsetzenden Volksaufklärungskonzeption zu verdanken,⁴² die in der Ausbildung von Rationalität und moralischer Gesinnung des Einzelnen eine grundlegende Befriedung und Wohlstandsmehrung des gesellschaftlichen und staatlichen Allgemeinen zu bewerkstelligen hoffte.⁴³ Das Ideal des ›unpolitischen Idealisten‹ ist die Ausbildung eines vernünftigen und moralischen Bewusstseins der einzelnen Menschen mit dem Ziel der Rationalisierung und Moralisierung von Gesellschaft, Politik, Kultur und Staat. Ausdrücklich weist Fabian – in diesem Zusammenhang alter ego seines Autors – die historisch-materialistische Auffassung seines Freundes Labude, nach der man zunächst »das System vernünftig gestalten« müsse, damit sich anschließend »die Menschen anpassen« könnten und würden,⁴⁴ zurück, weil jede grundlegende Änderung von Gesellschaft und Staat beim Einzelnen ansetzen müsse. Dieses ›politische‹ Konzept gesellschaftlichen Wandels impliziert auch, dass Fabian und damit Kästner eher auf Reformprozesse als auf revolutionäre Veränderungen setzten.⁴⁵

Freiheit – Sitten statt Gesetze. Wielands Auseinandersetzung mit Rousseaus politischer Theorie. In: Wieland-Studien 9 (2016), S. 61–103. 41 Kästner: Der Gang vor die Hunde (s. Anm. 20), S. 46: » Ich möchte helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche Eignung hin anzuschauen.« 42 Siehe hierzu Holger Böning, Reinhart Siegert (Hg.): Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. 3 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990–2015. 43 Siehe hierzu paradigmatisch: Richie Robertson: The Enlightenment. The Pursuit of Happiness. New York 2021. 44 Kästner: Der Gang vor die Hunde (s. Anm. 20), S. 46. 45 Dass Kästner mit diesem kritischen Verhältnis zur Revolution als politischem Veränderungsmodus einer bestimmten Fraktion der Spätaufklärung nahesteht, lässt sich u. a. nachlesen bei Wolfgang Rother: Natur- und Staatsrecht im Zeitalter der Revolution. In: Helmut Holzhey, Vilem

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Zu erreichen sind diese Ziele nach Kästner und Fabian nicht mit parteipolitischer Aktivität, ja überhaupt nicht mit Formen politischer Vergemeinschaftung, sondern durch Erziehung des Einzelnen sowie durch Literatur und Kultur. Der ›unpolitische Idealist‹ Kästner bezog und kultivierte während der Weimarer Zeit eine Position, die als Spätaufklärung in den Nachfolge Lessings, Christian Garves oder Johann Georg Heinrich Feders,⁴⁶ in bestimmter Hinsicht auch des Schillers der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen ⁴⁷ bezeichnet werden kann. Letzeren hatte auch Georg Büchner als ›Idealisten‹ bezeichnet, weil Schiller wie der frühe Kästner von einem normativ geprägten Menschenbild ausging und nicht etwa wie Büchner selber von den – wenn auch betrüblichen – Realien der menschlichen Existenz.⁴⁸ Diese Haltung eines sich der politischen Handlung dezidiert enthaltenden Volksaufklärers wird jedoch im Jahre 1941 als eine vergangene Position bezeichnet, weil sie in das Stadium einer Verachtung jener Masse, Kästner spricht von »Menge«, übergegangen ist, die eine ästhetische Erziehung zu Vernunft und Moral verunmöglicht, und zwar deshalb, weil jene Verachtung impliziert, dass diese Menge gar nicht zu Vernunft und Moral veranlasst bzw. erzogen werden will und kann. Im Hintergrund dieser Ansicht steht die bis 1943 währende, überwältigende Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur Kriegspolitik und zum Antisemitismus des Nationalsozialismus, insbesondere Adolf Hitlers.⁴⁹ Bei aller erkennbaren Verzweiflung bewegt sich Kästner an dieser Stelle gleichwohl am Rande jener menschen-, vor allem aber volksverachtenden Zynismen, die schon Martin Heideggers Ausführungen zum von ihm sogenannten ›Man‹⁵⁰ oder Thomas Manns ästhetizistischen Elitarismus der Betrachtungen eines Unpolitischen auszeichneten;⁵¹ Kästner Murdoch (Hg.): Die Philosophie des 18. Jahrhunderts 5. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa. Basel 2014, S. 1260–1294. 46 Siehe hierzu die hilfreiche Textzusammenstellt bei Zwi Batsch, Jörn Garber: »Despotismus von jeder Art reizt zur Widersetzlichkeit«. Die Französische Revolution in der deutschen Popularphilosophie. Frankfurt a. M. 1989. 47 Siehe hierzu u. a. Gideon Stiening: »Der Versuch eines mündig gewordenen Volks«. Schillers allgemeine und besondere Revolutionstheorie (2.–3. Brief ). In: Gideon Stiening (Hg.): Friedrich Schiller: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Berlin, Boston 2019, S. 49–62. 48 Siehe hierzu Büchners Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835. In: Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Hg. von Henri Poschmann. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1992/99; Bd. 2, S. 409–411; spez. S. 411. 49 Vgl. hierzu u. a. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949. München 2003, S. 675 f. 50 Vgl. hierzu Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 161986, S. 126 ff. 51 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke. 2 Bde. Frankfurt a. M. 2009, spez. Bd. I, S. 243–408 (Politik).

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bewegt sich mit dieser Notiz am Rande einer sarkastischen Gegenaufklärung. Allerdings unterscheidet er sich von der Verachtung der ›Massen‹ bei Mann, Heidegger oder Carl Schmitt durch eine Reflexion auf die spezifischen Gründe bzw. Bedingungen für diese Haltung; diese liegen nämlich nicht in der intellektuellen Minderbemittlung oder moralischen Depravation der Massen selber, sondern im Fehlurteil des politischen Idealisten, der deren Möglichkeiten und Fähigkeiten zu Vernunft und Moral lange Zeit überschätzte. Intellektuell-elitäre Verachtung der Massen ist nach Kästner mithin, der seine Erfahrungen hier verallgemeinert, Produkt mangelnder Urteilsfähigkeit des Intellektuellen selber. Zugleich ist für ihn diese Geste der Verachtung durch den Intellektuellen immerhin noch legitimer als die der Vergebung durch den Gottessohn,⁵² weil die letztere erstens die grundsätzliche Unveränderbarkeit der Menge impliziert und zweitens ein Herrschaftsgefälle zwischen Prediger und Menge voraussetzt, das Kästner für sich, selbst als ›ehemaligen‹ Idealisten offenkundig zurückweist. Es ist das Autoritäre und Herrische der religiösen Vergebungsgeste gegenüber der gewaltsamen Masse, die sie noch der ebenso falschen Verachtung ihr gegenüber problematischer macht. Kästner gelassene Säkularität schlägt in solchen Passagen in deutliche Kritik der politischen Theologie um. Dabei ist das eigentlich Bemerkenswerte und der daher interpretationsbedürftige Sachverhalt, dass Kästner überhaupt im Zusammenhang seines sich verändernden Verhältnisses zum Volk vom Objekt moralischer Erziehung zu einem politischen Subjekt auf das Verhältnis Christi zur gläubigen Menge kommt – und dabei die Vergebungsgeste des Erlösers als schlechte Lösung des Problems bewertet, dass sie sich nicht zum politischen Subjekt ausbilden lassen wollen. Im Hintergrund dieser in dem Zitat ganz selbstverständlichen argumentativen Verbindung steht sicher zum einen der nach dem Krieg erneut zunehmende Einfluss der Kirchen und dabei zum anderen deren Vergebungsgestus, mit dem eigene und fremde Vergehen während der Naziherrschaft exkulpiert werden sollten. Entscheidend ist zudem, dass Kästner an dieser Stelle nicht individualistisch argumentiert, sondern sich einem Typus zugesellt, nämlich dem des enttäuschten unpolitischen Idealisten, dem es grundsätzlich so ergehen würde wie ihm. Tatsächlich gibt es literarische Figuren, so Friedrich Hölderlins ›Hyperion‹, der nach einer politischen Tat, die er mit der griechischen Bevölkerung durchführte, nämlich den Aufstand gegen die türkische Besatzung, in eine Verachtung des Volkes sich verliert, weil die Griechen sich gegenseitig plünderten und so gerade nicht als po-

52 Lk 23, 32–49: »Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«

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litisches Subjekt, als Realisation einer volonté générale, auftraten.⁵³ Hyperion aber versinkt in Verzweiflung, während der ehemals ›unpolitische Idealist‹ Kästner zum zynischen Verächter wird. Man wird es kaum von der Hand weisen können, dass vor allem bei den häufig unerträglichen Witzen des Blauen Buches diese zynische, eben verachtende Haltung zum Ausdruck kommt; so heißt es am 26. Januar 1941, und zwar kommentarlos: »Neuer Witz: ›Der Krieg wird wegen seines großen Erfolges verlängert.‹«⁵⁴ Auch eine solche Aufzeichnung lässt sich angesichts der unerhörten Grausamkeiten des schon 1 ½ Jahre wütenden Krieges nur als unpolitischer Zynismus interpretieren. Doch Kästner wird auch diesen Habitus noch aufgeben müssen.

2.2 Nach dem Krieg – Stalin, eine ausgefallene Revolution und ein Bericht »aus den Lagern« Den Stand des unpolitischen Idealisten hatte Kästner also erklärtermaßen 1941 verlassen, was nicht nur impliziert, dass er sich zuvor, wie etwa auch sein Fabian, ebenso verstanden hatte, sondern auch, dass Kästners Selbstverständnis als Spätaufklärer in der Tradition Lessings und Garves schon weit vor der Tagebuch-Passage aus dem Jahre 1945 bröckelte, die im Folgenden betrachtet werden soll. Diese Passage zeigt aber auch, dass Kästner die zwischenzeitlich eingenommene Haltung des unpolitischen Zynikers nicht zu halten vermag und daher erneut aufgeben muss. Es ist vor allem die letzte Eintragung des Blauen Buches, auf deren besondere Bedeutung auch Sven Hanuschek schon mehrfach hingewiesen hat.⁵⁵ Sie stammt vom 29. Juli 1945, also knapp drei Monate nach Ende des Krieges. Dieses Ende selber und die nachfolgenden Wochen werden von Kästner in einer eher lakonischen Weise kommentiert. Es geht um zumeist konstatierte Versorgungsnöte, Aufenthaltsgenehmigungen und die jämmerlichen Exkulpationsversuche der lange Jahre in die Diktatur verstrickten deutschen Zeitgenossen. Kästner kommentiert auch das Verhalten der Siegermächte, wobei er Stalin in besondere Weise belobigt, weil der nicht nur tonnenweise Getreide nach Deutschland schicke,⁵⁶ sondern auch eine

53 Vgl. hierzu Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der eremit in Griechenland. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. 3 Bde. Hg. von Michael Knaupp. München 1992/94, Bd. 2, S. 720 ff. 54 Kästner: Das Blaue Buch (s. Anm. 1), S. 54. 55 Hanuschek: Kästner Kriegstagebücher (s. Anm. 25), S. 37 sowie Sven Hanuschek: Gesinnungswechsel auf Kommando. Politische Moral im Blauen Buch. In: Ders., Gideon Stiening (Hg.): Politik und Moral. Die Entwicklungen des politischen Denkens im Werk Erich Kästners. Berlin, Boston 2021, S. 63–74. 56 Kästner: Das Blaue Buch (s. Anm. 1), S. 210.

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geschicktere Politik betreibe, weil er den Vorwurf der Kollektivschuld offenkundig nicht teilt: Stalin erlässt viel freundlichere Verlautbarungen als die Engländer und Amerikaner. Er fängt die Mäuse mit Speck. Und er wird durch Reklame besser abzuschneiden versuchen. Er klagt auch nicht jeden Deutschen an, wie es die Westmächte tun. Er weiß besser, welche Möglichkeiten das Volk hat, sich in einer Diktatur gegen grausame Maßnahmen zu wehren. Er weiß, das es keine Möglichkeiten hat.⁵⁷

Mit dieser Interpretation des politischen Verhaltens Stalins sieht sich Kästner in seiner eigenen Einschätzung bestärkt, die ebenfalls zwischen den Nazis und den Deutschen zu unterscheiden sucht;⁵⁸ so heißt es schon am 8. Mai 1945, dem Tag der von Kästner gefeierten Kapitulation: »Deutschland ist das am längsten von den Nazis besetzte und unterdrückte Land gewesen – nur so kann man die Situation einigermaßen richtig sehen.«⁵⁹ Gerade weil Stalin aber politisch klüger agiert, erkennt Kästner die durchaus als bedrohlich gekennzeichnete Möglichkeit, dass die Deutschen erneut die Demokratie fliehen und sich dem russischen Diktator unterwerfen: Wenn das so weitergeht, brauchen sich die Westmächte nicht zu wundern, wenn ihnen die deutsche Bevölkerung abspringt und kommunistisch wird. Erstaunlich, dass die Demokratien so kurzsichtig sein sollten. Sie hätten es so leicht, viel leichter als die Russen, Proselyten zu machen!⁶⁰

Nicht nur den mehrfach vehement zurückgewiesenen Vorwurf der Kollektivschuld, sondern auch die Tatsache der politischen Entmündigung der deutschen Bevölkerung durch die Besatzung und die damit fehlende staatspolitische Souveränität wird von Kästner mehrfach kritisierten. In diesem Zusammenhang bedient sich der Tagebuchschreiber nunmehr eines positiv besetzen Revolutionsbegriffes; so heißt es am 9. Juni 1945: Sehr überlegenswert ist: In Deutschland ist durch die feindliche Besatzung eine Umwälzung revolutionärer Art, eine Abrechnung mit den Unterdrückern völlig ausgeschaltet worden. Dadurch hat sich nun auch gar keine Auseinandersetzung zwischen den verschieden denkenden Gegenrichtungen entwickeln können. Sie wird, in ruhiger Form kommen, sobald die

57 Ebd., S. 208 f. 58 Erkennbar nutzt Kästner dieses Urteil über Stalin aber auch dazu, den mangelnden Widerstand gegen Hilter und die nationalsozialistische Herrschaft – und d. h. auch seine eigene Widerstandslosigkeit – zu exkulpieren. 59 Ebd., S. 205: Kästner wiederholt diese Einschätzung am 29. Juni 1945, vgl. ebd., S. 227. 60 Ebd., S. 210.

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Besatzungsmächte beginnen, den Deutschen selber gewissen Befugnisse zu überlassen. […] Ja, durch die Besetzung ist keine Revolution entstanden, aus der sich eines Tages dieser Wiederaufbau naturgeschichtlich hätte entwickeln können.⁶¹

Mit dieser Klage über eine verunmöglichte Revolution in Deutschland, die als Bedingung der Möglichkeit eines gleichsam ›naturgeschichtlichen Wiederaufbaus‹ bezeichnet wird,⁶² hat Kästner erkennbar und deutlich seine langen Jahre revolutionskritische, reformorientierte Position zum Modus politischer Veränderungen verlassen. Erkennbar bedient er sich dieses Arguments auch, um die »Besatzung« Deutschlands durch die Siegermächte und damit den Entzug der politischen Souveränität auch jener Deutschen zu beklagen, die er von den Nazis unterscheiden will. Gleichwohl zeigen diese Überlegungen, dass Kästner schon durch die Naziherrschaft und die letzten Kriegsjahre hindurch einen erheblichen Modifikationsprozess seiner politischen Überzeugungen durchlaufen hat. Von ironischen oder sarkastischen Distanzierungen sind diese Überlegungen im Übrigen völlig frei. Gleichwohl verbleiben auch diese Tagebuchreflexionen noch im Modus distanzierter Beobachtung. Das ist auch einerseits wenig verwunderlich, weiß doch auch Kästner – wie viele seiner Zeitgenossen – noch nicht, wie es weitergehen soll. Allerdings steht er auch Plänen seiner Münchener Freunde, die Arbeit am Theater wieder aufzunehmen, skeptisch gegenüber; die Versuche der Stadt München, ihn für den Neuaufbau des Theaters zu engagieren, weist er entschieden zurück, denn »ich hatte keine Lust«.⁶³ Kästner reflektiert vielmehr über Romanprojekte oder Pläne zu einem sozialpsychologischen »Essay über die fatalistische, herdenmäßige Dulderfähigkeit und Geduldausdehnbarkeit im deutschen Volk«.⁶⁴ Diese Form der Distanznahme ändert sich offenkundig erst nach der oben schon angedeuteten Tagebuchnotiz vom 29. Juli 1945, nach der die Eintragungen abrupt abbrechen. Eigentlich ist Kästners Situation nach der Übersiedelung nach Schliersee, wo er den Juli über bleibt, beruhigter; er hat eine Aufenthaltsbewilligung und eine Arbeitsgenehmigung; er ist zudem offenkundig hinreichend mit Nahrung versorgt und kann auch einige Besuche empfangen. Doch einer dieser Besucher scheint alles zu ändern, zumindest wird danach das Blaue Buch beendet; die Eintragung beginnt noch reichlich unaufgeregt: »Heute kam, als Pralinenbote 61 Ebd., S. 219 f. 62 Was Kästner hier unter »naturgeschichtlich« versteht, bleibt unklar – zumal als Referenz auf einen Terminus Technicus der aufklärerischen Naturforschung (vgl. hierzu u. a. Philipp Sloan: Natural History. In: Knud Haakonssen [Hg.]: The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. Cambridge 2006, S. 903–938). Vermutlich meint Kästner damit, dass allererst eine Revolution eine naturwüchsige, d. h. angemessene und selbstverständliche Form des Aufbaus ermöglicht hätte. 63 Ebd., S. 220. 64 Ebd., S. 217.

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für Lore, von dem Sergeanten Andy, ein in amerikanische Uniform gesteckter Konzentrationshäftling aus Berlin namens Katz.«⁶⁵ Kästner traut dem Besucher nicht vollends über den Weg, aber: »Was er aus den Lagern erzählte, wird im großen Ganzen zutreffen.«⁶⁶ Und dann folgen zwei geradezu atemlose Seiten mit Berichten aus den Konzentrationslagern, die unmittelbar nach dem letzten zitierten Satz anheben: Die Vergasung von jedesmal 800 schwächlichen Eingelieferten, denen man erzählte, sie sollten mit Wasser und Seife abgebraust werden; von Häftlingskommandos, die die achthundert Leichen herausschleppen mussten, damit der Raum für die nächste achthundert leer wurde, und daß die Sonderkommandoleute später selber erledigt wurden, damit sie nichts ausplaudern konnten, von den Zahnärzten, die den jeweils achthundert Leichen die Kronen, Brücken, usw. aus dem Mund schlugen, von der Rückgewinnung des Goldes und Platins.⁶⁷

Kästner lässt diese Schilderungen vollkommen unkommentiert, der Tagebuchschreiber hat offenkundig jede Distanz zu dem Beschriebenen verloren; es fehlt an Sarkasmen ebenso wie an Zynismen, selbst Empörung scheint ihm angesichts dieser Grausamkeiten fehl am Platze oder gar unmöglich. Vielmehr folgen weitere Elemente des Berichts von Männe Kratz, jenem ehemaligen KZ-Häftling, der nun in der US-Armee arbeitet.⁶⁸ Dazu zählen Ausführungen über »Sadisten«, die Häftlinge quälten, »Kapos«, also jüdische Häftlinge, die als Wachmannschaften dienten und dabei auch befohlene Morddienste an den Mithäftlingen ausführten, oder SS-Ärzte, die grausame Versuche an Häftlingen durchführten. Kästner beendet Kratzʼ Bericht mit Ausführungen zu den erschütternden Ereignissen um die Befreiung des Konzentrationslagers sowie einer besonderen Erwähnung des ehemaligen Häftlings über einen Wohltäter. Einen einzigen menschlichen Mann hat er in der ganzen Zeit kennen gelernt, einen Hauptsturmführer Doktor Frank aus Stuttgart, einen Zahnarzt, auf dessen Station er längere Zeit in begünstigtem Posten half. (Unter anderm, aus den Gebissresten der Vergasten das Gold und Platin herausschmelzen, das dann kiloweise nach Berlin geschickt wurde.)⁶⁹

Auch noch diesen einzigen Moment gebrochener Humanität – denn Kratzens Dienste für Frank sind Handlangerarbeiten der Vernichtung – lässt der Tage-

65 Ebd., S. 231. 66 Ebd., S. 234. 67 Ebd. 68 Zu einigen Informationen zu Kratz, der noch bei den Auschwitzprozessen 1964 aussagte, vgl. ebd., S. 382. 69 Ebd., S. 235 f.

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buchschreiber unkommentiert; vielmehr enden nach diesen Sätzen die Aufzeichnungen. Vergleicht man diesen Bericht mit dem Rest des Tagebuches, nimmt man den scheinbar unverwüstlichen Humor des ›Herrn Dr. Kästner‹ in seinem gesamten Werk,⁷⁰ dann ist diese Stelle nur als ungewöhnlich zu werten, und zwar nicht allein wegen der geschilderten Gräuel, sondern auch wegen der Art der Schilderung, die sich nahezu jeder Wertung, jeden Kommentars enthält, weil er sich für den überwältigten Tagebuchschreiber ersichtlich verbietet. Natürlich fehlt es auf diesen Seiten auch an jedem Humor, dessen je neue Varianten im Tagebuch zuvor häufig auftauchen.⁷¹ Eine Interpretation dieser ungewöhnlichen letzten Seiten des Tagebuchs scheinen wenig Probleme zu bereiten: Kästner ist von den Schilderungen erschüttert, allerdings in einer Weise, die ihn sie immerhin aufzeichnen lässt. Dies vollzieht er jedoch in einer Form, die seinem Schreiben kaum je entspricht. Er muss schreiben, präzise, nüchtern, und doch getrieben durch die unerhörten Grausamkeiten, die er zu schildern hat. Man muss allerdings berücksichtigen, dass diese Informationen für Kästner offenkundig neu sind. Er weiß von Lagern, er weiß auch von Grausamkeiten, von jenen »Vernichtungsdingen«, die als Teil des deutschen Organisationswesen von einigen Holländern ebenso gefürchtet wie bewundert werden.⁷² Aber die von Männe Kratz geschilderten Dimensionen des Holocaust sind für Kästner erkennbar neu; sie sind ihm unbekannt, im Wortsinne ›unerhört‹ und lassen den Kommentator und seine Reflexionen folglich verstummen. Wie schon erwähnt bricht das Tagebuch nach diesem eigentümlichen Eintrag abrupt ab. Dieser Sachverhalt kann durchaus äußerliche Gründe haben – so seine endgültig erfolgte Übersiedelung nach München im August 1945; er kann aber auch Ausdruck dafür sein, dass nun, nach der Kenntnis und im Angesicht solcher Verbrechen die Zeit für Tagebuchreflexionen nicht mehr wirklich vorhanden ist. Kästner kann nämlich vor diesem Hintergrund – und damit ist noch einmal auf die erste zitierte Passage aus den Jahre 1941 zurückzukommen – nicht mal mehr die Haltung eines ehemaligen ›unpolitischen Idealisten‹ einnehmen, denn die Masse, oder die Menge, ist nicht nur träge und zu Vernunft und Moral unfähig, sie ist vielmehr grausam, sogar böse im Sinne einer aktiven, furchterregenden Unmoral, und dies in einem Ausmaß, das menschliche Vorstellungskraft übersteigt, das aber vor allem jede Form ästhetizistischer Beobachtung und Zurückhaltung, jeden Witz, 70 Siehe hierzu vorläufig: Stefanie Çetin: Was gibt’s denn da zu lachen? Erich Kästners moderner Humor. In: Silke Becker, Sven Hanuschek (Hg.): Erich Kästner und die Moderne. Marburg 2016, S. 147– 170. 71 Siehe hierzu auch Hanuschek: Kästners Kriegstagebücher (s. Anm. 25), S. 10. 72 Ebd., S. 65.

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ja selbst jede Verachtung verunmöglicht. Sie macht nur noch oder immerhin vor allem Angst – selbst wenn sie sich nach Ende des Krieges durch gegenseitige Verleumdung und Denunziation zu verstecken sucht. Sicher ist aber zugleich, dass angesichts solcher Gräuel auch die vormalige Haltung des unpolitischen Idealisten grundlegend unmöglich geworden ist. Traten Moral und Politik noch im Fabian auseinander, weil man sich in der Politik die Finger schmutzig machen musste, war selbst ein Handeln aus moralischen Prinzipien nach 1933 vollkommen unmöglich geworden, weil nicht nur die staatliche Politik, sondern auch die fanatisierten Massen jede Bindung an moralische Prinzipien aufgegeben hatten, was den ehemals ›unpolitischen Idealisten‹ in Verachtung und Zynismus trieb, so wird es nach den Schilderungen Männe Kratzens für Kästner offenkundig zur moralischen Pflicht, politisch zu handeln. Diese Pflicht wird erkennbar motiviert, um das erneute Ausbrechen eines solch ›radikalen Bösen‹ zu verhindern und wohl auch, um für vergangenes Unrecht Verantwortung zu übernehmen. Es scheinen ähnliche Überlegungen gewesen zu sein, die Kästners Handeln in den folgenden Jahren leiteten. Zu Recht hält Hanuschek für die Schilderungen Kratzens fest: Sie haben Kästner grundlegend verändert.⁷³ Sicher ist aber auch, dass Kästner eben jene letzte Passage aus dem Blauen Buch nur in deutlich modifizierter Weise in die Überarbeitung und poetische Gestaltung seines Tagebuchs in Notabene 45 übernommen hat, obwohl er nicht nur einen Eintrag zu ebenjenem 29. Juli 1945 aufnimmt, sondern diesen auch durch die erste Passagen aus dem nämlichen Eintrag im Blauen Buch ausgestaltet.⁷⁴ Männe Kratz aber tritt nur als nicht identifizierbares Kürzel in Erscheinung und dessen ›Erlebnisse‹ werden 1961 in eine durch Nummerierung geordnete Auflistung in die Eintragung zum 2. August 1945 gebracht. Kästner hat diese nur äußerliche Formierung ausdrücklich begründet; diese Begründung drückt nur erneut jene Urteilsunfähigkeit aus, die schon seine ursprünglichen Tagebuchaufzeichnungen auszeichneten: Kr. kam, um zu erzählen, und was er erzählte, war grauenhaft. Es hat nicht den mindesten Sinn, den Abscheu, den der Bericht erregte, in Worte zu fassen. Der Ekel über das, was in den Lagern geschehen ist, läßt sich überhaupt nicht artikulieren. Man kann die Beispiele nur aufzählen, als handle sich’s um einen Katalog, um statistisches Material, um Eintragungen ins Register, ins Sündenregister, ins Todsündenregister einer Verbrecherschaft. Es sind beispiellose Beispiele. Die Mörder waren Tiere, die sich für Menschen hielten. Die Opfer waren Menschen, die man für Tiere hielt. Die Geschehnisse gehören nicht in die Geschichte, sondern

73 Sven Hanuschek: Es gibt chronische Aktualitäten. Nachwort des Herausgebers. In: Erich Kästner: Resignation ist kein Gesichtspunkt. Politische Reden und Feuilletons. Zürich 2023, S. 196 f. 74 Vgl. Erich Kästner: Notabene 45. In: Ders.: Werke (s. Anm. 3), Bd. 6, S. 301–480, spez., S. 470–472.

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in des Teufels Gesangbuch. Die Lager glichen Irrenhäusern, aber in der Umkehrung, denn wahnsinnig waren nicht die Insassen, sondern das Personal.⁷⁵

Diese Ausführungen, die die nachfolgende Aufzählung der Gewalttaten gemäß den Eintragungen ins Blaue Buch präludieren, sind ebenso konventionell wie hilflos; besonders auffällig sind die ästhetische Prädikate, derer sich Kästner zu Beginn der Passage bedient: Abscheu und Ekel. Die weiteren Bestimmungsversuche, der TierMensch-Vergleich, das »Gesangbuch des Teufels« und die Pathologisierung der Täter verstärken den offenkundig bewussten Versuch, der Hilflosigkeit Ausdruck zu verleihen, denn die äußerlich bleibende Reflexion auf sie kann über sie selbst nicht hinwegtäuschen. Anfang der 1960er Jahre war man in dieser Hinsicht eigentlich schon weiter.⁷⁶ Über die Gründe für jenen auffälligen Sachverhalt, ist an dieser Stelle nur tentativ zu spekulieren: Dass Kästner nach 1945 nicht davor zurückschreckt, die Schrecken der Nazi-Diktatur, die Gräuel der Konzentrationslager und die Gefahren der personellen Kontinuitäten der BRD zum Nationalsozialismus zur beschreiben, zu beklagen und zu kritisieren, steht außer Frage.⁷⁷ Aber womöglich weiß er auch darum, dass seine Form von Aufklärung durch moralischen Emotionalismus, die an Lessing und Garve anknüpfte, – bei aller Modifikation – an den Unmenschlichkeiten der »Lager« abprallt.⁷⁸ Diese – hier nur als These formulierte – Einsicht in die Grenzen seiner literarischen und publizistischen Möglichkeiten der Reflexion auf die Unmenschlichkeiten der KZ-Lager bedeutet aber nicht, dass Kästner nicht Konsequenzen aus dieser mittelbaren Erfahrung und Erkenntnis dieses Berichtes gezogen hätte; im Gegenteil scheinen seine Aktivitäten ab August 1945 und noch bis in die 1960er Jahren aus dieser Erschütterung zu erwachsen.

3 Politischer Journalismus als objektive Pflicht Kästner hat nämlich nach 1945 schnell reagiert – und dies nicht nur, weil er nach dem Zusammenbruch neue Erwerbsquellen suchte. Er geht mit Luiselotte Enderle

75 Ebd., S. 472 f. 76 Siehe hierzu u. a. Torben Fischer, Matthias N. Lorenz: Lexikon der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland – Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld 32015, S. 64–132. 77 Siehe hierzu auch Klaus Doderer: »Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen.« – Erich Kästner als Zeitzeuge des letzten Jahrhunderts. In: Erich Kästner Jahrbuch 4 (2004), S. 17–26. 78 Siehe hierzu auch die kritischen Bemerkungen zu Notabene 45 bei Hanuschek: Das Leben Erich Kästners (s. Anm. 22), S. 311 ff.

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nach München, schon Anfang 1946 gar in eine eigene Wohnung und stürzt sich in Arbeit: er wird »Feuilletonchef der Neuen Zeitung, Herausgeber der Jugendzeitschrift Pinguin«, schreibt »Rezensionen, Reportagen, Feuilletons, Kabarett-Chansons und Kinderbücher«.⁷⁹ All diese arbeitsintensiven Aktivitäten werden von Kästner aber offenkundig bewusst vollzogen, er verbindet mit ihnen einen reflektierten Zweck: Die Problemlage, der er sich nach dem Krieg und durch die eben vorgestellten verstörenden Erkenntnisse gegenüber sah, sowie seine Reaktion darauf auch im Hinblick auf die spezifisch literarische Formation seiner Lösungsvorschläge hat er nämlich präzise und eindrücklich reflektiert. Diese Selbstreflexion vollzieht er in dem nachmals für die erste Sammlung seiner in dieser Zeit entstandenen Texte titelgebenden Artikel Der tägliche Kram ⁸⁰ seiner Zeitschrift Pinguin ⁸¹ aus dem Juli 1946: Hier schildert er zunächst die Bedingungen und Ereignisse, unter denen und durch die er nicht nur Feuilletonredakteur, sondern auch Autor eines literarischen Kabaretts und dessen täglichem Sofortbedarf wurde, obwohl ihm die Bedingungen der zeitgebundenen Arbeit – wie frühes Aufstehen, Termingebundenheit, Bindungen an soziale Netzwerke – nicht liegen und seine Neigungen nach dem 12jährigen Schreibverbot⁸² eher dahin gingen, den »Stoff für zwei Romane und drei Theaterstücke« auszuarbeiten, die in den ›Schubfächern seines Gehirns‹ lägen⁸³ und – wie wir wissen – in den Notizen des Blauen Buches tatsächlich aufbewahrt worden waren.⁸⁴ Die Referenz auf das vor dem Hintergrund des bedeutenden Zieles läppische Frühaufstehen zeugt zudem davon, dass auch der Humor durchaus wieder zurückgekehrt war, bemerkenswert im Jahre 1946. Gegen seine Neigungen – die als starke vorgeführt werden, weil frühes Aufstehen und Schreibverbot als subjektiv und objektiv stärkste denkbare äußere Einflüsse gewertet werden – widmet Kästner sich seiner Pflicht, die er zunächst ridikülisierend wie folgt beschreibt: »Und dass ich das genaue Gegenteil tat, dass ich nun in einem fort im Büro sitze, am laufenden Band Besuche empfange, redigiere, konferiere, kritisiere, telephoniere, depeschiere, diktiere, rezensiere und schimpfiere.«⁸⁵ Dies sind die Elemente des ›täglichen Krams‹, die ihn »noch nicht eine 79 Ebd., S. 322. 80 Erich Kästner: Der tägliche Kram. In: Ders.: Werke (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 80–82. 81 Zu dieser Zeitschrift siehe Birgit Ebbert: Erziehung zu Menschlichkeit und Demokratie: Erich Kästner und seine Zeitschrift Pinguin im Erziehungsgefüge der Nachkriegszeit. Bern u. a. 1994 sowie Lothar van Laak: Kästner und der Pinguin. Vermittlung der Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Silke Becker, Sven Hanuschek (Hg.): Erich Kästner und die Moderne. Marburg 2016, S. 137–146. 82 Dass hierbei eine nicht unerhebliche Selbstinszenierung vorlag, hat Hanuschek: Das Leben Erich Kästners (s. Anm. 22), S. 317 ff. herausgearbeitet. 83 Kästner: Der tägliche Kram (s. Anm. 80), S. 81. 84 Kästner: Das Blaue Buch (s. Anm. 1), S. 265–335. 85 Kästner: Der tägliche Kram (s. Anm. 80), S. 81.

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Zeile« schreiben ließen in jenem Jahr seit Mitte 1945 und die ihn bisweilen wie ein »Verwandter des Tods von Basel« aussehen lassen.⁸⁶ Kästner gönnt sich und seinen Lesern ein langes Entree, dessen Aussageintention nicht sogleich ersichtlich wird und dessen leichter Ton nicht immer gelingt bzw. als nicht-gelingender inszeniert wird. So wirkt die Kombination von frühem Aufstehen und Aufhebung des Schreibverbots als negativen Motivationen für die Arbeit als Redakteur erzwungen. Ausdrücklich muss Kästner also hinzufügen, dass es ihm nicht um die egomanische Darstellung entsagungsreicher Pflichterfüllung ginge, er sich mithin auf dieses Tun nichts einbilde. Als Gründe für sein Abarbeiten am täglichen Kram gibt Kästner vielmehr in einem bisher ungehörten Ton an: Weil es nötig ist, daß jemand den täglichen Kram erledigt, und weil es zu wenig Leute gibt, die es wollen und können. Davon, daß jetzt die Dichter dicke Kriegsromane schreiben, haben wir nichts. Die Bücher werden in zwei Jahren, falls dann Papier vorhanden ist, gedruckt und gelesen werden, und bis dahin – ach du lieber Himmel! – bis dahin kann der gesamte Globus samt Europa, in dessen Mitte bekanntlich Deutschland liegt, längst zerplatzt und zu Haschee geworden sein. Wer jetzt beiseite steht, statt zuzupacken, hat offensichtlich stärkere Nerven als ich. Wer jetzt an seine Gesammelten Werke denkt statt ans täglich Pensum, soll es mit seinem Gewissen ausmachen. Wer jetzt Luftschlösser baut, statt Schutt wegzuräumen, gehört vom Schicksal übers Knie gelegt. Das gilt im übrigen nicht nur für die Schriftsteller.⁸⁷

Diese für einen Kästner-Leser erneut durchaus überraschenden Sätze bilden eine ausnehmend komplexe Passage aus, auch wenn sie prima vista ganz schlicht zu sein scheint: Sie besteht aus der Aufforderung zur alltäglichen wie täglichen, hier journalistischen Arbeit am zu sichernden Weltfrieden.⁸⁸ Gleichwohl ist die Passage auf jenen nüchternen propositionalen Gehalt nicht zu reduzieren; es gibt nämlich Elemente an ihr, die wenig zu Kästner passen, so vor allem das – wenn auch humoristisch eingehegte – Pathos des Postulats zur politischen Partizipation. »Wer jetzt beiseite steht« – klingt mehr nach der Rhetorik einer Endzeit als nach Aufbau. Auch die kritische Zurückweisung dichterischer Reflexion auf die jüngste Vergangenheit wirkt für einen Autor, der sich der – wie im Fabian – moralisierenden Beobachtung verschrieben hatte,⁸⁹ ungewöhnlich, ja verstörend. Wie verzweifelt musste Kästner sein, wie groß muss die Angst vor einem scheinbar aufziehenden neuen Krieg oder der Rückkehr der faschistischen Mörder-Banden sein, um sich

86 Ebd. 87 Ebd., S. 82; Hvhb. von mir. 88 So Elisabeth Guzy: Erich Kästner und das Theater. Ein bisschen mehr als Emil und Fabian. Hamburg 2013, S. 51. 89 Vgl. hierzu die wegweisende Interpretation bei Hanuschek: Das Leben Erich Kästners (s. Anm. 22), S. 195–211.

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solcher Rhetorik und solcher literaturkritischen Reflexion zu bedienen? Wir kennen diese Ängste und Verzweiflungen aus anderen Texten der Nachkriegsjahre: Die aufziehende Gefahr eines neuen Krieges wurde – wie schon angedeutet – als unmittelbar und real empfunden.⁹⁰ So ist auch das Pathos Kästners zu verstehen, wenigstens aber nachvollziehbar. Die Bestrebungen zur Wieder- bzw. Neubewaffnung der Bundesrepublik beförderte ab den frühen 1950er Jahren diese Eindrücke und Ängste in besonderem Maße.⁹¹ Vor allem aber – und wir wissen es jetzt durch die Edition des Blauen Buches: Es sind die Berichte der unerhörten Grausamkeit in den KZs, aber auch in den Kriegshandlungen, die Kästner zu jenem ›täglichen Kram‹ treiben – als Verantwortung gegenüber den Taten sowie als Prävention gegen ihre Wiederkehr. Ersichtlich ist allerdings die humoristische Einhegung dieses Pathos äußerst kästnerisch; nicht nur in der Art der heterogenen Fügungen, sondern vor allem in der Systematik der Einhegung. Kästner geht in drei Schritten vor: 1.) »Denn wer jetzt beiseite steht, statt zuzupacken, hat offensichtlich die besseren Nerven als ich.« Kästner formuliert hier zunächst einen mehr psychologisierend-subjektivischen Einwand, der im Schein der Belobigung eine Kritik an der unpolitischen Ignoranz der Zeitgenossen transportiert. Vor 1933 hatte er diese Nerven selber, aber wohl auch deshalb, weil er die Gefahren des Nationalsozialismus nicht wirklich erkannte. 2.) Der Hinweis auf »das schlechte Gewissen«, das beim Zur-Seite-Stehen und dem Verfolgen persönlicher Ziele in der Ordnung gesammelter Werke quälen müsse, moralisiert schon deutlich drastischer und verlässt damit die nur subjektivische Problemdimension. Wer nicht mittut beim Weltfrieden und der Verantwortung gegenüber den Gräuel »der Lager« kann dies nur mit schlechten Gewissen. Kästner weiß allerdings um die Hilflosigkeit dieses Arguments und greift ebendeshalb zum Pathos. 3.) Letztlich aber ist derjenige, der nicht mithilft, täglich den Weltfrieden zu bewahren, nach Kästner ›straffällig‹, allerdings nicht vor einem irdischen Gericht, sondern nur vor einer metaphysischen Instanz, dem »Schicksal«. Hiermit formuliert Kästner ein Urteil, das mithilfe einer Ridikülisierung durch Infantilisierung von seinem Pathos zu befreien sucht; »übers Knie« legte man nämlich ungehörige Kinder. Klar aber bleibt, dass der Autor politisch unangemessenes Verhalten in

90 Vgl. hierzu u. a. Gerhard Wetting: Von der Entmilitarisierung zur Aufrüstung in beiden Teilen Deutschlands 1945–1952. In: Bruno Thoss, Wolfgang Schmidt (Hg.): Vom kalten Krieg zur deutschen Einheit: Analysen und Zeitzeugenberichte zur deutschen Militärgeschichte 1945 bis 1995. München 1995, S. 3–35. 91 Vgl. hierzu Erich Kästner: Die kleine Freiheit. In: Werke (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 192: »Man baut Flugzeuge und Panzer nicht, um sie eines Tages fabrikneu zu verschrotten.«

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diesen vom Krieg bedrohten Zeiten für strafwürdig hält, und mit dem Strafmaß der körperlichen Züchtigung zu belegen ist – wenn auch deren Ausführung nur durch eine überirdische Instanz zu gewährleiten ist. Bei allem – erzwungen wirkenden – Humor ist es Kästner doch offenbar bitterernst mit seinem Postulat, dessen Geltungsumfang er schließlich ausweitet, weil es nicht nur auf Schriftsteller anzuwenden sei, sondern auf alle Zeitgenossen der Nachkriegszeit. Die aktuelle politische Arbeit an der Sicherung des Weltfriedens und der Verarbeitung der Gewalttaten in den Lagern ist offenbar Aufgabe für jedermann unter Absehung der individuellen Eigenbedürfnisse, wie gesammelter Werke. Kästner formiert mit diesen Sätzen ein klassisch moralisches Argument für eine bestimmte Politik, deren Ziele und die auf diese abgestimmten Mittel durchaus nicht selbst wieder moralische Inhalte transportieren müssen. Der Weltfrieden ist nicht Ziel einer Moral, er ist Ziel einer – moralisch indifferenten – Politik, die auf Gemeinwohl und Sicherheit abzuzielen hat.⁹² Gleichwohl bedient sich Kästner zur Aufforderung der täglichen Arbeit an einer solchen Politik der moralischen Argumente: Unter bestimmten Bedingungen, hier die drängende Gefahr eines dritten Weltkrieges oder die Rückkehr des faschistischen Terrors ist das Laster der künstlerischen Selbstbezogenheit ›Hochverrat‹ – so könnte man diese Passage aus Kästners Der tägliche Kram mit Büchners Dantons Tod erläutern.⁹³

4 Fazit Es lässt sich folglich erkennen, dass der im Blauen Buch aufgezeichnete und so für uns zu rekonstruierende Prozess Kästner von einem »unpolitischen Idealisten« über einen distanziert-beschreibenden, noch immer nur politisch interessierten Zyniker zu einem politischen Realisten machte, der – der Einsicht in die unerhörte Not des Krieges und die Grausamkeiten »der Lager« geschuldet – zur Tagespolitik journalistisch betrug, weil er einen drohenden Dritten Weltkrieg verhindern wollte und musste. Die Befähigung der Menge zu Vernunft und Moral war nach den letzten Notizen im Blauen Buch offenbar keine relevante Frage mehr; die Not und Angst vor dem Wiederholen oder gar Verstärken des soeben beendeten Grauens scheint diese letztlich bornierte Haltung obsolet gemacht zu haben. Dass sich diese Überzeugung eines politischen Realisten in den 1950er Jahren – man denke an die sogenannte Wiederbewaffnung – wieder weitgehend verlor, steht auf einem anderen Blatt. An 92 Vgl. hierzu Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. In: Ders.: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900 ff., Bd. VIII, S. 341–386. 93 Siehe Georg Büchner: Dantons Tod. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Hg. von Henri Poschmann. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1992/99, Bd. 1, S. 34.

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Kästners fortgesetzen Aktivitäten im und mit dem PEN-Zentrum aber lässt sich erkennen, dass er nie wieder vollständig in die Rolle des moralischen Beobachters oder verachtenden Zynikers zurückkehrte. Nicht nur die Angst um den Weltfrieden, sondern auch Männe Kratzens Bericht über den Terror »der Lager« werden ihn dazu veranlasst haben.

V. Aufgeklärte Kinderliteratur?

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Der Detektiv als Aufklärer Bemerkungen zu Erich Kästners »Emil und die Detektive« »Wunderbar habt ihr das gemacht, ihr Jungen«, meinte der Kommissar und steckte sich eine dicke Zigarre an. »Die Kerls haben glänzend funktioniert, wirklich wahr«, rief Emil begeistert.¹

1 Kästners Welterfolg von 1928 »Emil und die Detektive« reiht sich ein in die in den 1920er Jahren entstehende neu-sachliche Kinderliteratur, für die neben Kästners »Emil« vor allem Wolf Durians »Kai aus der Kiste« und die Jahrgänge der zwischen 1921 und 1928 erschienen Kinderzeitschrift »Der heitere Fridolin« einstehen. »Halbmonatsschrift für Sport, Spiel, Spaß und Abenteuer« lautete deren Untertitel. Es ging darum, in die publizistisch adressierte Kinderwelt endlich auch die großstädtische Gegenwart – Kinos, U-Bahnen, Hochhäuser, Automobile, Telefone, Boxkämpfe, Leuchtreklamen, 6-Tage-Rennen, Liftboys usw. – zu integrieren und Schluss zu machen mit der verschämten Ausklammerung der sozialen und technischen Realitäten des 20. Jahrhunderts.² Als ob man den Kindern die harte, kalte Welt der historischen Gegenwart vorenthalten müsste.³ Umgekehrt könnte man aber auch sagen: Es ging darum, die Kinder an die laufende technische Moderne anzuschließen und sie an eine anonyme, entzauberte Welt zu gewöhnen, in der Menschen sich vornehmlich als Fremde begegnen, in der jeder jedermanns eifersüchtiger Konkurrent ist, in der niemand, wenn er klug ist, niemandem traut und für die – in geschichtsphilosophischer Allgemeinheit gesprochen – das gilt, was Hermann Broch in der Roman-Trilogie »Die Schlafwandler« zu beschreiben suchte: der irreversible »Zerfall der Werte«. In Brochs großer Romantrilogie führt dieser Zerfall von der altpreußischen Romantik über die moralische Anarchie um die Jahrhundertwende bis in die brutale, aggressive Sachlichkeit

1 Erich Kästner: Emil und die Detektive. Illustriert von Walter Trier. Zürich 2018 [Berlin-Grunewald 1929], S. 141 f. 2 Vgl. Birke Tost: Moderne und Modernisierung in der Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 2005, S. 109 ff. 3 Vgl. dazu Helga Karrenbrock: »Großstadtromane für Kinder«. In: Nobert Hopster (Hg.): Die Kinder- und Jugendliteratur in der Zeit der Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 2012, Teil 1, S. 208 ff. https://doi.org/10.1515/9783111085081-013

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des Weltkriegs. Den Wertezerfall und den Nihilismus der Gegenwart charakterisiert Broch wie folgt: Krieg ist Krieg, l’art pour l’art, in der Politik gibt es keine Bedenken, Geschäft ist Geschäft –, dies alles besagt das nämliche, dies ist alles von jener unheimlichen […] Rücksichtlosigkeit, ist von jener auf die Sache und nur auf die Sache gerichteten grausamen Logizität, die nicht nach rechts und nicht nach links schaut – oh, dies alles ist der Denkstil dieser Zeit! Man kann sich der brutalen und aggressiven Logik, die aus allen Werten und Unwerten der Zeit hervorbricht, nicht entziehen.⁴

Brechts »Lesebuch für Städtebewohner« hat für dieselbe kalte, aggressive Welt die folgenden Ratschläge parat – die an bösartigem Witz gewinnen, wenn man sie vor dem Hintergrund der innigen Mutter-Sohn-Beziehung⁵ liest, wie Erich Kästners Musterknabe Emil sie zelebriert: Lasst eure Träume fahren, dass man mit euch Eine Ausnahme machen wird. Was eure Mutter euch sagte Das war unverbindlich Lasst euren Kontrakt in der Tasche Er wird hier nicht eingehalten. Lasst nur eure Hoffnungen fahren.⁶

Die Frage, der ich ausgehend von der eben skizzierten Lage nachgehen möchte, ist sehr einfach. Sie lautet: Inwiefern lässt sich Kästners Berliner Kinder-GroßstadtAbenteuer-Hetzjagd-Roman als pädagogisch aufklärerisches Projekt begreifen? Was sind eigentlich die emanzipatorischen Gehalte, die Kästners »Musterknabe« als identifikatorisches »role model« lesenden Kindern 1928 vermittelt? Gibt es diese emanzipatorischen Gehalte überhaupt? Oder gefällt Kästner zusammen mit den durchgängig ungeheuer sympathisch gezeichneten Erwachsenen- und Autoritätsfiguren des Romans, von Mutter und Großmutter bis zu den Schaffnern, Schupos, netten Zeitungsjournalisten, sich nicht einfach darin – das war bekanntlich der

4 Hermann Broch: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1978, S. 496 5 Vgl. auch zum »Idyllenmotiv« vom »Zusammensein von Mutter und Sohn» in Kästners Lyrik: Dirk Walter: Zeitkritik und Idyllensehnsucht. Erich Kästners Frühwerk (1928–1933) als Beispiel linksbürgerlicher Literatur in der Weimarer Republik. Heidelberg 1977, S. 201 ff. 6 Bertolt Brecht: »Aus einem Lesebuch für Städtebewohner«. In: Ders.: Gesammelte Werke 8. Gedichte I (Werkausgabe). Frankfurt a. M. 1967, S. 274–275.

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Vorwurf Walter Benjamins⁷ –, die Wirklichkeit ins grottenfalsche Licht einer ebenso trivialen wie belanglosen Menschlichkeit zu setzen, die außer den Käufern des Romans gar niemanden etwas kostet und moralisch eher triviale Lehren erteilte, etwa: »teile Deine Stulle lieber mit Deinem Nächsten (wenn du nicht willst, dass er sie dir klaut)«, »male Großherzögen keine Schnurrbärte und roten Nasen aufs städtische Denkmal«, »überweise größere Geldsummen am besten nur per Postanweisung«, »finde Zeitungsredaktionen und Ufa-Filme aufregend«, »traue im Prinzip keinem Menschen, es sei denn es handelt sich um wildfremde, berlinernde Straßenjungen, die immer alles knorke finden«. Statt aufzuklären über eine soziopolitische Wirklichkeit, die systematisch Arbeitslose, Kriegskrüppel, Bettler, Penner, Inflationsarmut, Schlägertrupps, Dolchstoßlegendenerzähler, Industriekartelle, Kündigungen und Wohnungsräumungen usw. produziert, statt also aufzuklären über die unbehaglichen Realitäten der Weimarer Republik, frisiert Kästner sie in seinem Kinderroman zum lustig-schönen Großstadt-Abenteuer um – in dem es, genau betrachtet, eigentlich nur einen einzigen bösen Menschen gibt, nämlich den Namensfälscher und Bankräuber Grundeis-Müller-Kießling. Er wird von einer gut organisierten Meute anständiger Berliner Straßen-Kinder gejagt, gefasst und zur Strecke gebracht. Von Grundeis-Müller-Kießling erfährt man im Roman nicht mehr, als dass er einen unehrlichen Tripel-Namen sowie ein charakteristisches Kleidungsstück trägt, nämlich den berühmten steifen Hut, und dass er sich vornehmlich in Cafés und Hotels herumtreibt. Sven Hanuschek kommentierte zu Recht: »Die aus kindlicher Perspektive eher bedrohliche, unüberschaubare Großstadt wird hier [im Roman] zur Glückserfahrung, so schnell und leicht funktioniert alles, wie es soll; das ist ja wie im Kino, freut sich der Junge mit der Hupe.«⁸

2 Die Frage nach den emanzipatorischen Gehalten in Kästners Erfolgsroman gewinnt an Relief, wenn man sich das historische Schicksal der mit der Figur des Emil Tischbein und seiner Detektivspiel-Kameradinnen sozialisierten Kindergeneration von 1928 noch einmal vergegenwärtigt. Ein literarisch herausragender Vertreter dieser neusachlichen Kinder-Generation – es ist die Generation der kurz vor oder nach 1920 Geborenen – wird 1947 im Rückblick schreiben – gewissermaßen als erwachsen gewordener Emil Tischbein, der in der Zwischenzeit nicht nur Geld-

7 Vgl. Walter Benjamin: Linke Melancholie [1937]. In: Ders.: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a. M. 1966, Bd. 2, S. 447–461. 8 Sven Hanuschek: Erich Kästner. Reinbek 2004, S. 50.

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scheindiebe gesehen hat, sondern auch eine ganze Menge Nazis, die Ostfront, Leichenberge, Gefangenenlager und bis zur Unkenntlichkeit zerbombte deutsche Städte: Wir sind die Generation ohne Bindung und ohne Tiefe. Unsere Tiefe ist Abgrund. Wir sind die Generation ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied. Unsere Sonne ist schmal, unsere Liebe grausam und unsere Jugend ist ohne Jugend. Und wir sind die Generation ohne Grenze, ohne Hemmung und Behütung – ausgestoßen aus dem Laufgitter des Kindseins in eine Welt, die die uns bereitet, die uns darum verachten. Aber sie gaben uns keinen Gott mit, der unser Herz hätte halten können, wenn die Winde dieser Welt es umwirbelten. So sind wir die Generation ohne Gott, denn wir sind die Generation ohne Bindung, ohne Vergangenheit, ohne Anerkennung. Und die Winde der Welt, die unsere Füße und unsere Herzen zu Zigeunern auf ihren heißbrennenden und mannshoch verschneiten Straßen gemacht haben, machten uns zu einer Generation ohne Abschied. Wir sind die Generation ohne Abschied.⁹

Damit ist im Rückblick die historische Lage jener Kindergeneration umrissen, der Kästner 1928 noch ein spielerisches Detektiv-Abenteuer mitsamt Happy End geschenkt hatte. Und Happy End hieß 1928 in Kästners Roman konkret: 1000 Mark Finderprämie von einer zufrieden gestellten Bank sowie das eigene Bild in der Zeitung, Geld und »celebrity«, »rich and famous« also – nicht zu vergessen im Hintergrund: eine bis zum Platzen stolze Mutter. Pony Hütchen bekommt ein neues Fahrrad, Muttchen eine elektrische Haartrockenanlage und einen pelzgefütterten Wintermantel, die Kinder heiße Schokolade und Apfelkuchen. Was Kästners modernes Kinder- und Jugendbuch Heranwachsenden wie Wolfgang Borchert oder Heinrich Böll oder auch Paul Celan, die alle zur selben Generation gehören, offenbar nicht geschenkt hatte, das waren Dinge wie: Bindung, Anerkennung, Tiefe, Gott, Grenze, Hemmung. Für das Kanonenfutter des Zweiten Weltkriegs waren derart pathetisch-metaphysische Werte nicht mehr vorgesehen, auch in Kästners Detektivroman nicht. Die Borchert’sche Substantivreihe nennt Dinge, über die in den Jahren der forcierten Sachlichkeit bekanntlich nur noch ironisch gelächelt, wenn nicht sarkastisch gelacht wurde, jedenfalls im modernen Angestellten- und Intellektuellenmilieu der zwanziger Jahre. Bindung, Tiefe, Gott, Grenze, das waren Begriffe, deren Haltbarkeitsdatum schon lange überschritten war, es waren unsachliche Irrationalismen, pathetische Kitsch-Vokabeln, die man sich in der technischen Großstadt-Welt glatt sparen konnte.¹⁰ In Kästners modernem Kinderroman kommen die genannten Wörter deswegen auch nirgendwo vor.

9 Wolfgang Borchert: »Generation ohne Abschied«. In: Ders.: Das Gesamtwerk. Hg. von Michael Töteberg. Reinbek 1991, S. 59. 10 Zu den technokratischen »Illusionen« der Neuen Sachlichkeit vgl. Helmut Lethen: Neue Sachlichkeit: 1924–1932. Studien zur Literatur des »weißen Sozialismus«. Stuttgart 21975, S. 58 ff.

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Von Hemmungen, Bindungen, Gott, Tiefe, Behütung, Abschied u. dgl. ist nirgendwo die Rede. Für eine Wendung wie die von einem »Gott, der unser Herz hätte halten können«, die Borchert 1947 anklagend benutzt, gibt es in »Emil und die Detektive« keinen Platz, weder soziologisch noch handlungsökonomisch, weder sprachlich noch geographisch. Pastoren, Nonnen, Altäre, Kapellen, Kanzelreden, Gewissenserforschungen, Gebete tauchen nirgendwo auf. Sie sind vergangen. Kästner selbst wäre Borcherts sehnsüchtige Wendung zu Gott vermutlich kitschig und falsch, wenn nicht unverschämt vorgekommen – menschlich vielleicht verständlich, aber weltanschaulich doch völlig zwecklos, wie Kästner im Schlusssatz seiner Doktorarbeit zum Phänomen romantischer Irrationalismen schrieb.¹¹ Darüber hinaus hätte Kästner – als Schiller- und folglich Kant-Verehrer¹² – eine derartige invocatio Dei für erkenntnistheoretisch unhaltbar, historisch überwunden, anti-modern und anti-emanzipatorisch gehalten, für etwas, wohin die Moderne sowieso nicht mehr zurück kann. Immerhin lässt sich von der retrospektiven Mängelliste Wolfgang Borcherts her aber ein erstes Merkmal des Kästner’schen Aufklärungsbegriffs erschließen. Wenn es einen aufklärerischen Gehalt des Romans »Emil und die Detektive« von 1928 gibt, dann ohne Zweifel den, dass darin – sozusagen im klassisch-kantischen Sinn des Begriffs – keinerlei Platz mehr ist für übersinnliche Welten, metaphysische Schwärmereien, ganz zu schweigen von Vatergöttern, Wundern, Heiligen, Märtyrern, Sünden, religiös begründeten Moralnormen usw. – kurzum, für alles, was nach Weihrauch, Priesterbetrug, Opferstock und Märtyrerblut riecht. Kästners vollkommen rational agierende Detektiv-Kinder haben nicht den geringsten Sinn für metaphysische Sinn- und Hinterwelten.¹³ Sie sind technisch aufgeklärt und benötigen keine Metaphysik; sie können lesen, rechnen, logisch schließen, wunderbar organisieren (in der Hauptsache Stullen und Spiegeleier); sie können in Windeseile nachrichtendienstliche Befehlsketten nach dem Vorbild des preußischen Heeres oder der Post einrichten, amerikanische Automobilmarken voneinander unterscheiden, Telefonapparate bedienen; sie wissen in Geographie und modernen Fremdsprachen Bescheid. Was sie bei ihrer kollektiven Treibjagd auf Herrn Grundeis-Müller-Kießling nicht gebrauchen können, was weder in ihrer Kinderwelt noch in der Welt der für sie zuständigen Erwachsenen vorkommt, sind schrullige Zeremonial-Dinge aus historisch vergangenen Zeiten: biblische Gebote, Weisheiten aus dem kleinen und großen Katechismus, Tisch- und Abendgebete, 11 Erich Kästner: Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Die Erwiderungen auf seine Schrift »De la littérature allemande«. Stuttgart u. a.1972, S. 101. 12 Der Romanprolog feiert Schiller ganz ausdrücklich. 13 Vgl. Petra Kirsch: Erich Kästners Kinderbücher im geschichtlichen Wandel. Eine literarhistorische Untersuchung. München 1986, S. 61 ff.

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Vaterunser, Ave Maria usw. In ihrer urbanen Geschäftigkeit und Handlungseffizienz haben moderne Kinder auch keine Zeit für mehr oder weniger tiefsinnige Reflexionen und Spekulationen über den Sinn des Lebens, des Staates, des Geldes, des Bankenwesens, über das Gute und das Böse usw., wie es etwa noch in den Abenteuerromanen Karl Mays gang und gäbe war – den Arno Schmidt deswegen auch als den vorletzten »Großmystiker« bezeichnet hat. Religion oder – noch allgemeiner – Sinnfragen nach dem Warum und Wozu der Dinge spielen in Kästners rasant ablaufendem Kinderdetektivroman keine Rolle, weder von nah noch von fern. Und weil sie keine Rolle mehr spielen, handelt es sich – könnte man fast tautologisch sagen – auch um einen aufgeklärten, modernen Roman.¹⁴ Theologisch-metaphysische Spekulations-Mucken stünden dem pragmatischen Funktionalismus der generalstabsmäßig operierenden Kinderbande nur im Weg. An deren Stelle sind paramilitärische Präzision – »Parole Emil« –, Tatsachenwissen, juristische Kenntnisse, rational geplante Organisationabläufe und handfeste Schlaf- und Ess-Bedürfnisse getreten. Im 1928 entstandenen »Weihnachtslied, chemisch gereinigt« – zeitgleich zum Roman also – reimte Kästner an die Adresse »lieber Kinder«, von denen womöglich einige noch immer an den Weihnachtsmann glaubten, im selben aufklärerischen Sinn: Lauft ein bisschen durch die Straßen! Dort gibt‘s Weihnachtsfest genug. Christentum, vom Turm geblasen, macht die kleinsten Kinder klug. Kopf gut schütteln vor Gebrauch! Ohne Christbaum geht es auch. Tannengrün mit Osrambirnen lernt drauf pfeifen! Werdet stolz! Reisst die Bretter von den Stirnen, denn im Ofen fehlt‘s an Holz! Stille Nacht und heil‘ge Nacht Weint, wenn‘s geht, nicht! Sondern lacht! Morgen, Kinder, wird‘s nichts geben! Wer nichts kriegt, der kriegt Geduld! Morgen, Kinder, lernt fürs Leben! Gott ist nicht allein dran schuld.

14 Zum Umstand, dass Kästner »auch in der Wahl der Form [des aufgeklärten Romans] an bestimmte aufklärerische Traditionen anschließt« vgl. Oliver Bach: »›Unterschiede, die sich schwer begreifen lassen‹. Gesetz und Moral in Erich Kästners Emil und die Detektive«. In: Sven Hanuschek, Gideon Stiening (Hg.): Politik und Moral. Die Entwicklungen des politischen Denkens im Werk Erich Kästners. Berlin, Boston 2021, S. 225–251, hier S. 231.

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Gottes Güte reicht so weit… Ach, du liebe Weihnachtszeit!¹⁵

Das chemisch gereinigte, neue Lied entspricht jenem neuen aufgeklärten Kindertyp, an den Kästner in seinem Detektivroman appelliert und den er pädagogisch herbeischreibt. Im »Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur« hat Klaus Doderer die Eigenschaften dieses neuen Typs wie folgt umschrieben: Das moderne, mit allen Wassern der Großstadt gewaschene und in der Hauptsache, wie man hinzufügen muss, männliche Kind ist: selbständig, selbstbewusst, klug, kooperationsbereit, zupackend; es richtet sein eigenes Leben ebenso vernünftig wie furchtlos ein; es strebt nach Erfolg, ob im Boxen, in der Schule oder in der Gruppenhierarchie, und steht damit in Opposition zum allzu gehorsamen, braven, frommen Kind der Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts.¹⁶ Insofern könnte man Emil, Gustav mit der Hupe, den kleinen Dienstag, den Professor, Pony Hütchen usw. in der Tat in die Tradition der Aufklärung und des Ausgangs aus der – bei Kindern in der Regel noch fremdverschuldeten – Unmündigkeit stellen. Moderne Kinder jedenfalls fürchten sich nicht mehr vor dunklen Höllen- und Himmels-Mächten; sie werden nicht von religiösen Hirngespinsten und Schreckfiguren der schwarzen Pädagogik wie Max und Moritz, Struwwelpeter oder Hans-Guck-in-die Luft geplagt. Stattdessen kämpfen sie furchtlos und entschlossen für das herrschende Gute und Gerechte und sind dabei zuletzt auch, und zwar mit tatkräftiger Unterstützung der preußischen Polizei, der Berliner Presse und einer freigebigen Bank aus Hannover, rundum erfolgreich. Polizei, Banken, Zeitungsredaktionen kämpfen nämlich in Kästners Roman – nachdem sie von den Kindern über den wirklichen Stand der Dinge informiert worden sind und ein Indizienbeweis (mittels Stecknadel) den Herrn Grundeis-Müller-Kießling sozusagen im Handumdrehen überführt hat – genau denselben guten Kampf gegen das asoziale Böse, den auch die Berliner Kinderbande kämpft.

3 Spätestens hier drängt sich noch einmal die Frage nach der phantastisch wunscherfüllenden Umschrift auf, um nicht zu sagen: nach der Verzerrung und Verfäl15 Erich Kästner: »Weihnachtslied, chemisch gereinigt«. In: Ders.: Bei Durchsicht meiner Bücher. Eine Auswahl aus vier Versbänden. München 1989 [1. Aufl. Zürich 1946], S. 102. 16 Vgl. Klaus Doderer (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Personen-, Länder- und Sachartikel zu Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendliteratur. Weinheim 1984, Bd. 2, S. 125 f.

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schung der Realitäten, die Kästners Roman vornimmt, wenn er alle bedrohlichen Seiten der Gegenwart der späten Weimarer Republik in die aufregende, abenteuerliche Glückserfahrung einer organisch konzipierten Kindergemeinschaft umbiegt. In dieser Gemeinschaft spielen – ganz anders als in der Wirklichkeit der zwanziger Jahre – weder Bildungs- noch Klassenunterschiede eine Rolle, weder Stadt-Land-Differenzen noch Konfessionsunterschiede. Sie werden bewusst negiert und sind je schon aufgehoben. In Kästners Roman verstehen sich alle auf Anhieb, Berliner Gören und Neustädter Landeier, Erwachsene und Kinder; alle staatlichen und privatwirtschaftlichen Autoritäten – ob Schupos, Kriminalkommissare, Bankbeamte, Wachtmeister oder Journalisten – arbeiten einträchtig an der Wiederherstellung gerechter Eigentumsverhältnisse. Und wenn Lohnarbeit womöglich in die Armut, manchmal sogar ins Unglück treibt, so hilft am Ende doch immer noch das schöne Lotterie- und Finderprämienglück, so dass das Glück dem Tüchtigen, wie vorgesehen, zuteil werden kann. Konflikte fallen in dieser Ordnung aus, damit aber auch neue, womöglich unvorhergesehene und desillusionierende Erkenntnisse, was soziale, politische, historische, ökonomische oder militärische Wirklichkeiten angeht. Walter Benjamins Satz zu Kästner – dass man sich’s in einer ungemütlichen Situation, nämlich der eines faschistisch geschützten Kapitalismus, nie gemütlicher eingerichtet habe – erscheint vor dem Hintergrund der forcierten Harmonisierungen, die der Roman von 1928 vornimmt, plausibel. Vom aufklärerischen Impuls bleibt in »Emil und die Detektive« zuletzt allein der Verzicht auf metaphysische Sinnfragen und Spekulationen. Sie werden abgelöst von einem pragmatischen, an militärischer Organisation geschulten Funktionalismus. Jeder in der Berliner Kindergemeinschaft hat die ihm zugewiesene Aufgabe als Pflicht im Dienst des Ganzen zu erfüllen und dazu beizutragen, a-soziale und kriminelle Störenfriede dingfest zu machen und sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Aus genau diesem Grund ernennt die Großmutter den kleinen Dienstag zum vorbildlichen Beispiel aufopferungsvoller Pflichterfüllung und verleiht ihm nach geschlagener Schlacht gewissermaßen den großen Telefonverdienstorden mit Apfelkuchen am Bande. Aus dieser Perspektive erscheint »Emil und die Detektive« aber viel weniger als Kinderversion eines tatsächlichen Detektivromans à la Sherlock Holmes oder Hercule Poirot denn als die vergnügliche Kinderversion jener anderen Hetzjagd, die Fritz Lang und Thea von Harbou in ihrem Film »M« (Eine Stadt sucht einen Mörder) 1931 dann in Szene gesetzt haben – mit dem großen Unterschied, dass Fritz Langs Film den Bösewicht als verzweifelt tragische Figur der Selbstentfremdung und nicht einfach als öligen Hochstapler aus der Hannoverschen Provinz in Szene setzt. Mit der klassischen Idee des Detektivs jedenfalls – als skeptischer Instanz gegenüber den allzu schematisch denkenden staatlichen Erkennungsdiensten, vulgo: gegenüber der Polizei – hat die Hetzjagd der Emilbande nichts zu tun. Und mit der

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aufklärerischen Idee, Licht ins Dunkel verworrener Indizien und trügerischer Erscheinungen zu bringen, ebenfalls nicht. In Kästners Kinderroman liegen die Dinge von Anfang bis Ende glasklar, ohne jedes Rätsel zutage. Das heißt, mit der Idee des Detektivromans – wie Richard Alewyn sie 1963 literaturgeschichtlich ausgearbeitet hat¹⁷ – hat Kästners Kinderroman nichts zu tun. Detektivische Skepsis gegenüber Staat, Ökonomie, Polizei, Schule, Zeitung, Kino taucht im Roman genauso wenig auf. Aufklärung über die Motive oder gar die Persönlichkeitsstruktur des Täters findet nicht statt, noch nicht einmal der eigentliche Tathergang des Diebstahls wird genau rekonstruiert – ob Grundeis mit K.o.-Tropfen (ob Ketamin oder Temazepam) oder ob er mit Hypnose gearbeitet hat, bleibt unklar. Und womöglich ist Emil – könnte man ketzerisch einwenden – nur der überschießenden eigenen Phantasie respektive der Phantasie seines Autors zum Opfer gefallen. Jedenfalls weist die Struktur des poetologischen Prologs mit seinen Nonsens-Ideen – mit Bratäpfeln schießende Taschenmesser, Walfische mit Beinen, schwarz-weiß karierte Kannibalenmädchen usw. – erstaunliche Ähnlichkeiten zum Nonsens-Albtraum Emils im vierten Kapitel des Romans auf. Und zieht – nebenbei gefragt – nicht jeder erfolgreiche Kinderbuchautor als anderer Herr Grundeis seinen Leser*innen das Geld gezielt aus der Tasche? Anstelle der minuziösen detektivischen Rekonstruktion der Tat, ihrer Motive, ihres Ablaufs tritt in Kästners Roman eine paramilitärisch organisierte Überwachung des immer schon überführten Täters und die Jagd auf ihn sowie ein schnelles Geständnis, von dem man wiederum nicht erfährt, wie es eigentlich zustande gekommen ist, geschweige denn, ob es vor Gericht tatsächlich verwertbar sein wird. Mit solchen kriminaltechnischen und verfahrensrechtlichen Fragen hält sich Kästners Detektivkinderbuch – seinem Titel zum Trotz – nicht auf. Und es hält sich auch nicht mit Fragen nach dem Motiv oder nach der juristischen und moralischen Beurteilung der Tat auf. Die kindlichen Leser*innen werden keinen verzwickten Urteilsfindungsproblemen, auch keinen Selbstzweifeln oder Entscheidungsfragen ausgesetzt. Stattdessen gewährt ihnen das Buch durchgängige Wunscherfüllung: Geld, Ruhm, Apfelkuchen und eine erfolgreiche Verbrecherjagd, die nirgendwo von trockenen, formalen Rechtsprozeduren ausgebremst, sondern von sämtlichen offiziellen Instanzen immerzu nur unterstützt und bestätigt wird. Polizei, Presse, Film und Banken: sie alle stehen in Kästners Roman im Dienst hart und ehrlich arbeitender Leute, die selbstverständlich nicht von Mietkosten, Arbeitslosigkeit, Inflation, riskanten Zinsgeschäften und anderen Realitäten bedroht werden, sondern ausschließlich von bösen Räubern und Dieben, die nichtstuerisch in Cafés und

17 Vgl. Richard Alewyn: »Ursprung des Detektivromans«. In: Ders.: Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt a. M. 1974, S. 341–360.

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Clemens Pornschlegel

Hotelbars herumlungern und denen eine gut organisierte Berliner Kinderbande das Handwerk legen kann. Das größte Glück aber, das der Roman seinen Leser*innen wunscherfüllend schenkt, ist die Aufnahme eines Einzelnen in eine famose Gemeinschaft, die Anerkennung und Geborgenheit gibt. Ich komme von hier aus noch einmal auf die Eingangsfrage nach dem aufklärerischen und emanzipatorischen Gehalt des Romans zurück: Inwiefern lässt sich Kästners Detektivroman für Kinder als ein Stück aufklärerischer, emanzipatorischer Kinderliteratur begreifen? Die bisher gemachten Textbeobachtungen legen es nahe, die Frage zurückhaltend zu beantworten. Das »Aufklärerische« des Romans besteht vor allem in der Ausklammerung übersinnlich metaphysischer Sachverhalte aus der Welt der Kinder, die sich auf ihren Verstand, ihre Findigkeit und Kooperationsvermögen verlassen können;¹⁸ das »Emanzipatorische« besteht im selbständigen Gebrauch der Verstandesvermögen. Die Kinderdetektive benötigen für ihr Handeln keine Autoritätspersonen und keine Anleitung von außen. Allerdings gehen beide Momente – das selbständige Handeln wie die Ausklammerung jeder Art von Metaphysik – mit der bruchlosen Affirmation einer gesellschaftlichen Ordnung einher, die kritiklos affirmiert wird und deren allzu harmonisches Bild sich angesichts des Umgangs mit den historischen Realitäten kaum anders als »ideologisch« bezeichnen lässt. Fragwürdig wird der emanzipatorische Gehalt des Romans dort, wo Kästners Roman das Bild einer klassenübergreifenden, konfliktlosen gesellschaftlichen Ordnung, sozusagen utopisch, entwirft, in der eine organisch-funktionale Gemeinschaft – nämlich die der sich spontan assoziierenden Berliner Kinder – ihr Gründungsmotiv im denunziatorischen Ausschluss eines einzelnen Bösen und in der kollektiven Hetzjagd auf ihn hat. Gerechtigkeit wird nicht mittels Rechtsprozeduren oder spitzfindiger juridisch-moralischer Deliberationen hergestellt, sondern mittels einer gemeinschaftlichen Hetzjagd, die polizeilich legitimiert ist. Das aufklärerische, ideologiekritische Moment gegenüber der historischen Wirklichkeit der 1920er Jahre und gegenüber den tatsächlichen politischen und ökonomischen Dynamiken der Zeit verschwindet

18 Vgl. dazu Bach: Unterschiede (s. Anm. 14), S. 238: »Der Autor Kästner tut seinem Titelhelden und dessen Freunden nicht den Gefallen, eine Lösung zu finden, die nicht ganz von ihnen selbst produziert ist. Sie müssen den Dieb stellen, und zwar bei dem Versuch, das gestohlene Geld durch Umtausch auf der Bank zu waschen, und durch das Beibringen von Beweisen, nämlich den Nadelstichen in den Geldscheinen. Emil und die Detektive werden das Problem weder mit ganz niederen Mitteln [Diebstahl] noch mit Hilfe ganz von oben [Gott] lösen. Sie handeln mithin in der Tat aufgeklärt, weil sie die Prinzipien ihres Handelns zwar von Gott, nicht aber von der Moral abgelöst haben; ihr Handeln ist weder theologisch noch machiavellistisch fundiert. Sie sind Akteure einer autonomen Moral.«

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damit aber in der Gemeinschaftsfeier einer Jugend mit gesundem Menschenverstand und quasi-militärischem Organisationstalent. Wenn Kinder von 1928 sich zwanzig Jahre später als glücklose »Generation ohne Bindung und ohne Tiefe« bezeichnen müssen, dann vermutlich auch deswegen, weil ihnen in den langen Hitler- und Kriegsjahren, die ihrer Kindheit folgten, eine Erkenntnis dämmerte, wie dunkel auch immer, die Jürgen Habermas wie folgt formuliert hat: »Der Aufklärungsprozess, den die Wissenschaften ermöglichen ist kritisch, aber die kritische Auflösung der Dogmen befreit nicht, sie macht gleichgültig: sie ist nicht emanzipatorisch, sondern nihilistisch.«¹⁹

19 Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M. 41977, S. 355.

Sven Hanuschek

»Männer merken nie etwas« Das doppelte Lottchen und die Entstehung des deutschen Grundgesetzes

1 Peter Rühmkorf, der ein Kästner-Leser war und eine Kästner-Anthologie herausgegeben hat, hat in seiner Büchnerpreisrede aus den frühen 1990er Jahren an die unmittelbare Nachkriegszeit erinnert: Es war eine Zeit – Sie erinnern sich oder haben sie sich von kompetenten Zeitzeugen schildern lassen – , als nach der Niederwerfung der Nazis tatsächlich für einige Monate Sinn in der Geschichte zu erkennen war, wirklich faßbarer Freiheitssinn, und die gemeinheitlich bedrückende Brotfrage sogar sowas wie einen Ahnungshauch von Egalität aufkommen ließ,¹

– da habe er für sich Georg Büchner entdeckt, mit 17 habe ihm die »schneidende Weise von Menschenspott vor Scharfrichterthronen«² wie Musik in den Ohren geklungen. Sinn in der Geschichte, ein Ahnungshauch von Egalität – große Worte, und eine deutliche Erinnerung an die Werte der Französischen Revolution, an liberté und die egalité; wie es mit den Brüdern ist – der fraternité –, darauf kommen wir noch. In dieser Stimmung, die vielleicht im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee spürbar war (und vielleicht ja auch in Kästners Doppeltem Lottchen), ergab sich eine kuriose Gleichzeitigkeit, die ich zu Beginn kurz beschreiben und den Roman auch in Erinnerung rufen will.

2 Das doppelte Lottchen ist Kästners erfolgreichster Kinderroman nach Emil und die Detektive. Die Geschichte von Luise Palfy und Lotte Körner ist 1949 zum ersten Mal erschienen und vermutlich allen nach 1949 Geborenen in der einen oder anderen

1 Peter Rühmkorf: In meinen Kopf passen viele Widersprüche. Über Kollegen. Mit Dichterporträts von F. W. Bernstein. Hg. von Susanne Fischer u. Stephan Opitz. Göttingen 2012, S. 57. 2 Ebd. https://doi.org/10.1515/9783111085081-014

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Sven Hanuschek

Fassung geläufig: Die beiden begegnen sich in einem Ferienheim in Seebühl am Bühlsee zum ersten Mal und entdecken, dass sie eineiige Zwillinge sind. Sie wurden von ihren Eltern mit dreieinhalb Jahren getrennt; die Mädchen beschließen, ihre Leben zu tauschen, weil sie den jeweils anderen Elternteil kennenlernen wollen. Am Ende der Ferien fährt Lotte, die sonst bei ihrer Mutter in München lebt, zum Vater nach Wien; der ist ein ›besserer Herr‹, Opernkapellmeister und Komponist. Luise dagegen lernt das Leben ihrer mäßig verdienenden Mutter kennen, die als Bildredakteurin bei der Münchner Illustrierten einen ziemlich anstrengenden Job hat. Obwohl die Mädchen unterschiedliche Charaktere und Fähigkeiten haben, bemerkt niemand den ›Schwindel‹ bis auf Peperl, den Hund des Wiener Hofrats (und Hausarztes) Strobl; aber als der Kapellmeister wieder heiraten will und es Lotte nicht gelingt, die »Pralinendame«, das Fräulein Gerlach, zu vertreiben, wird sie schwer krank, ein psychosomatisches Nervenfieber. Die Mutter in München hat spät, aber doch das Spiel durchschaut, als sie in der Redaktion ein Foto der Zwillinge aus Seebühl zu Gesicht bekommen hat; und Luise alarmiert sie, als die Schwester nicht mehr ›postlagernd‹ schreibt. Beide fliegen nach Wien; Vater und Mutter bringen es nicht mehr über sich, ihre Kinder – und sich – erneut zu trennen, sie heiraten abermals, Fräulein Gerlach guckt in die Röhre. Das Happyend kümmert sich nicht sonderlich um das aktuelle Scheidungsrecht, und auch nicht um historische Kontexte überhaupt. So erfolgreich das Buch war, die strenge Ruth Klüger – bekannter durch ihre Autobiographie Weiter leben (1992), sie war auch Literaturwissenschaftlerin – hatte doch einiges zu kritisieren: sie warf dem Roman »Sentimentalität schon mit dem Setting« vor: Handelt es sich nämlich um die Gegenwart, so müßte es ja Besatzungstruppen geben, und während der zehnjährigen Trennung der Eltern, auf die sich die Geschichte unentwegt bezieht [es sind sechseinhalb Jahre, S. H.] war vermutlich Krieg. Handelt es sich indes um einen ›historischen‹ Roman, also um eine Geschichte, die in den dreißiger Jahren spielt, dann liegen Krieg und Besatzung noch vor dieser Familie, und das Happy-end wird hinfällig.³

Das klingt nach einem profunden Einwand; die relative Zeitenthobenheit des Stoffs erst einmal zugegeben (sie könnte der Entstehungszeit des allerersten Treatments als Filmstoff 1942 geschuldet sein) handelt es sich aber eben doch um einen von Kästners muntersten Kinderromanen, die kaum ein Gesamtbild einer Epoche liefern können oder wollen. Auch auf die ersten Kinderromane hin hat er manchmal, dann noch in der Weimarer Republik, die Kritik zu hören bekommen, die Bücher

3 Ruth Klüger: Korrupte Moral: Erich Kästners Kinderbücher. In: Dies.: Frauen lesen anders. Essays. München 1996, S. 63–82, hier S. 65.

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seien nicht politisch genug; er hat in der Regel nur etwas brummig in Briefen auf solche Anwürfe reagiert und gemeint, ob man denn jetzt schon die Kinder agitieren wolle, und die entsprechenden Rezensenten gern kollektiv als »blödsinnige Bande«⁴ bezeichnet. Wie gesagt: der erste Entwurf, das Viertel einer »Filmnovelle von Bertold Bürger«, Das große Geheimnis, stammt von 1942; ein vollständiges Treatment stammt von 1943; es gibt eine undatierte frühe Romanfassung; und schließlich den endgültigen Text, den Kästner 1948 auf der Insel Frauenchiemsee schrieb.⁵

3 Wer dieses Buch nun liest und anderes von Kästner kennt, dem fällt schon mit der ersten Seite ein gewichtiger Unterschied auf. Es gibt kein Buch Kästners ohne Vorwort, so sehr, dass er später selber darüber Witze gemacht hat – »kein Buch ohne Vorwort, kein Vorwort ohne Buch«⁶ – hier ist aber alles anders; das Lottchen ist (fast) sein einziges Buch ohne Vorwort. Das liegt nun nicht daran, dass er keines geschrieben hätte; aber er hat es nicht fertig geschrieben, und vor allem hat er es nie drucken lassen, es ist sehr düster ausgefallen. Der Text findet sich im Nachlass, Ruth Klüger konnte ihn nicht kennen, als sie ihren Kästner-Aufsatz geschrieben hat; das (Fragment eines) Vorwort(s) ist mittlerweile hie und da veröffentlicht worden, ohne größere Aufmerksamkeit zu erregen. In diesem Text beschreibt der Erzähler, vielleicht Kästner selber, der ja oft in den Vorworten auftritt, seinen Weg zum Tennisplatz, der durch ein Trümmergrundstück führt, also offensichtlich nach dem Krieg: »Halbe Stockwerke hängen, gerade noch von rostigen, verbogenen Drähten und Trossen gehalten, schräg in der Luft. Morgen schon können sie herunterbrechen. […] Eine staubige, muffige Elendslandschaft!« In der »gottverlassenen Ruine« spielen ein paar zerlumpte Kinder den »Verlorenen Bruder«; einem der Jungen fehlen zwei Finger an der Hand.⁷ Das Mädchen Käte erklärt dem Erzähler das Spiel: 4 Erich Kästner in einem Brief an Ida Kästner (17.1.1930), in dem er Kritiken über Emil und die Detektive kommentiert, hier zit. n. Erich Kästner: Mein liebes, gutes Muttchen, Du! Dein oller Junge. Briefe und Postkarten aus 30 Jahren. Ausgewählt und eingeleitet von Luiselotte Enderle. Hamburg 1981, S. 106. 5 Die Daten hier nach Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners. München, Wien 1999, S. 357 f. 6 Es gibt eine ganze Dissertation zu diesem Thema, vgl. Thomas von Pluto-Prondzinski: »Kein Buch ohne Vorwort«. Erich Kästners Paratexte als Medien eines demokratischen Literaturverständnisses. Marburg 2016. 7 Hier zit. nach dem Abdruck in Erich Kästner: Wer Kind bleibt, ist ein Mensch. Von Kicherfritzen, dem vergesslichen Christoph und anderen. Hg. von Sylvia List. Zürich 2016, S. 144–146, hier S. 144 f.

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Der Bruder ist eben aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen. Ich spiele die ältere Schwester. Die Eltern sind tot. Luftangriff, verstehen Sie. Nun ist Georg also wieder da. Drei Jahre lang hatten wir gedacht, er sei vermisst oder erfroren. Oder sonst etwas. Er hat aber bloß Wasser in den Füßen, und zwei Finger sind weg. Da ist er vom Bahnhof zu unserem alten Haus gehumpelt. Aber das Haus war nicht mehr da. Jemand aus der Nachbarschaft hat ihm erzählt, wo wir seitdem wohnen. In einem Keller, mit einem Stückchen Haus darüber und einem Schornstein, aus dem es raucht.⁸

Der Erzähler meint, das sei ja kein schönes Spiel, und ob sie nicht manchmal ›Mutter und Kind‹ spielten: Es gibt keine schönen Spiele, wie Sie das meinen. Wir kennen keine. […] Mutter und Kind auf der Flucht sind todmüde, und wie sie in einem Dorf bleiben wollen, kommen die Bauern und jagen sie fort. Oder Weihnachten in einer Baracke, und kein Licht und keine Kohlen, und die Kinder haben keine Milch und gar nichts. Und dann kommt ein Flugzeug und wirft Bonbons ab. Einen ganzen Sack voll. Und dann sieht uns ein Polizist und nimmt uns alles weg.⁹

Diese Einleitung ist nur schwerlich mit dem Kinderroman zusammenzubringen; das Doppelte Lottchen wirkt dagegen fast harmlos, aber nur fast: Der Roman hat auch in der veröffentlichten Fassung ein Anliegen, das zuvor im Kinder- und Jugendbuch undenkbar gewesen ist, vielleicht ein Grund, warum er seinen Illustrator Walter Trier schalt, die beiden Lottchen seien auf den Zeichnungen doch wohl etwas »zu süss und lieb«¹⁰ geraten: Im Roman wird versucht, die Bedeutung einer Scheidung der Eltern für Kinder nachzuempfinden und auch kindgemäß zu erzählen. Am eindringlichsten ist Kästner das wohl in einem Traum gelungen. Die heimwehkranke Lotte träumt ihn und vermischt dabei das Märchen von Hänsel und Gretel »mit eignen Ängsten und eignem Jammer«.¹¹ In ihrem Alptraum droht Palfy damit, seine Kinder zu halbieren: »Mit der Säge! Ich kriege eine halbe Lotte und von Luise eine Hälfte, und Sie auch, Frau Körner!« Die Zwillinge sind zitternd ins Bett gesprungen. Mutti stellt sich, mit ausgebreiteten Armen, schützend vor das Bett. »Niemals, Herr Palfy!« Aber der Vater schiebt sie beiseite und beginnt, vom Kopfende her, das Bett durchzusägen. Die Säge kreischt so, dass man friert, und sägt das Bett Zentimeter auf Zentimeter der Länge nach durch.

8 Ebd., S. 145. 9 Ebd., S. 146. 10 Kästner an Walter Trier, 2. 5.1950; zit.n. Erich Kästner: Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972. Hg. von Sven Hanuschek. Zürich 2003, S. 162. 11 Erich Kästner: Das doppelte Lottchen. Illustriert von Walter Trier. Neuausgabe. Zürich 2018, S. 82. – Zitate künftig nach dieser Ausgabe im fortlaufenden Text in Klammern.

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»Lasst euch los!«, befiehlt der Vater. Die Säge kommt den ineinandergefalteten Geschwisterhänden immer näher, immer näher! Gleich ritzt sie die Haut! – Mutti weint herzzerbrechend. […] Die Säge schneidet zwischen ihnen das Bett endgültig auseinander, bis zwei Betten, jedes auf vier Füßen, daraus geworden sind. »Welchen Zwilling wollen Sie haben, Frau Körner?« »Beide, beide!« »Bedaure«, sagt der Mann. »Gerechtigkeit muss sein. Na, wenn Sie sich nicht entschließen können – ich nehm die da! Mir ist es eh gleich. Ich kenn sie ja doch nicht auseinander.« […] »Nein«, schreit nun Lotte. »Ihr dürft uns nicht halbieren!« »Haltet den Mund!«, erklärt der Mann streng. »Eltern dürfen alles!« (S. 86 f.)

Bei allem Erfolg, den das Buch hatte, rief gerade dieses Anliegen Kästners Kritik hervor; erstaunlicherweise, aus der sicheren Distanz von heute gesprochen: Kinder dürften von einer wirklichen Scheidung schließlich weit überforderter sein als von einem Buch, damals wie heute, der Erzähler frotzelt, der Kinderstar Shirley Temple habe schließlich in Filmen mitgespielt, die das Mädchen im Kino noch gar nicht ansehen durfte (vgl. S. 64). Es gab tatsächlich zuvor kein Kinderbuch, das die Scheidung der Eltern thematisierte und die Bedeutung deutlich machte, die das für Kinder hat (die Protagonistinnen sind zu Beginn 9, am Ende 10 Jahre alt). Und es finden sich sehr ›erwachsene‹ Sätze in Kästners Roman, als direkte Anrede an die lesenden Kinder, dass es auf der Welt viele geschiedene Eltern gebe und sehr viele Kinder, die darunter litten – und »sehr viele andere Kinder, die darunter litten, dass die Eltern sich nicht scheiden ließen!« (S. 65) Warum Kästner das Vorwort weggelassen hat, wissen wir nicht; vielleicht war er der Meinung, ein ›großes‹ Thema, wie die Scheidungsgeschichte, reiche für ein Kinderbuch, vielleicht ist ihm der Ruinen-Text als Überfrachtung erschienen, als Ablenkung vom eigentlichen Thema des Romans. Oder es ist ihm nicht eingefallen, wie er von einem derart düsteren Text den Bogen zur Sommergeschichte mit Happyend schlagen sollte, in diesem Fall hätte Klüger um einige Ecken herum doch recht. Teil des Erfolges sind auch die zahllosen Verfilmungen; für die erste unter der Regie von Josef von Baky hat Kästner im Sommer 1950 das Drehbuch selbst geschrieben, den Erzähler aus dem Off gesprochen, er ist auch kurz am Anfang des Films zu sehen. Jutta und Isa Günther spielten die Zwillinge, ausgesucht aus 120 Zwillingspaaren von Kästner und Baky; der Film hat 1951 die ersten überhaupt vergebenen Bundesfilmpreise gewonnen, für Drehbuch, Produktion, Regie, auch heute noch ein durchaus ansehnlicher deutscher Kino-Beitrag. Es gibt zahllose Remakes und Neuverfilmungen, amerikanische, britische, japanische, polnische, schwedische, auch deutsche, die letzte 2017; insgesamt 14 ›reguläre‹ Filme, dazu noch ein paar Halb-Plagiate.

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4 So viel fürs erste als Einführung in den Stoff; Kästner war direkt nach dem Krieg Feuilletonchef der Neuen Zeitung in München, eine wichtige Position im kulturellen Leben der Zeit, Teil der amerikanischen reeducation mit dem Ziel, die im sogenannten Dritten Reich verbotene Kultur, auch die Moderne überhaupt, die Kunst und Literatur der Emigration wieder ins Land zu holen, er hätte nicht die Zeit gehabt, an größeren Prosaarbeiten zu sitzen. 1948 hat er diese Stelle niedergelegt, ohne Redaktionsarbeiten schrieb er im Sommer und Herbst den Romantext. Im August 1948 arbeitete er auf der Fraueninsel im Chiemsee – eine Art Teilzeiturlaub, Niederschrift mit Schwimm-Möglichkeiten. Gleichzeitig, wenigstens zwei Wochen lang, tagte der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 32 Spezialisten aus den westlichen Besatzungszonen. Sie arbeiteten an der westdeutschen Verfassung, die später Grundgesetz heißen würde. Einer Anekdote zufolge wusste der Vertreter und Justizminister von Württemberg-Hohenzollern, Carlo Schmid, von Kästners Aufenthalt und wollte ihn auf der Nachbarinsel besuchen, ließ sich sogar mit einem Sturmboot übersetzen; Kästner hatte aber von dem Blitzbesuch erfahren und blieb unauffindbar.¹² Nun war Schmid ein renommierter Staatsrechtler und SPD-Politiker, vor allem auch ein überaus literaturinteressierter Mann, mehr als das, auch selbst nicht nur ein Jurist, sondern auch ein Literat: Heute noch ist seine Übersetzung von Baudelaires Fleurs du Mal, Die Blumen des Bösen, als Insel-Taschenbuch im Handel, er hat auch Macchiavelli und André Malraux übersetzt; seine Mutter war Französin, sein Vater unterrichtete an der Universität in Toulouse, er selbst ist in Perpignan geboren. Wolfgang Koeppens großer Bonn- und Polit-Roman Das Treibhaus, 1953 veröffentlicht, hat als Protagonisten den fiktiven SPD-Bundestagsabgeordneten Felix Keetenheuve, der auch ein Literat ist – diese Figur dürfte in Teilen Carlo Schmid nachempfunden sein. Also, eigentlich nicht der schlechteste Besuch, den man hätte haben können. Was hat nun der August 1948 auf der Fraueninsel – und auf Herrenchiemsee miteinander zu tun? Ist das mehr als ein apartes, aber zufälliges, bestenfalls anekdotisches Zusammentreffen? Hat der Kinderroman womöglich etwas mit dem Grundgesetz zu tun, hat Kästner da etwas aufgeschnappt und dann auch gleich aufgenommen? Als so direkte Vorstellung wäre das wohl zu einfach; dieser Konvent hat ja nicht das Grundgesetz geschrieben, das hat der Parlamentarische Rat danach in Bonn getan, mit einer eher kleinen Überschneidung des Personals (Carlo Schmid war eine der wenigen Personen, die in beiden Gremien vertreten waren). Der Konvent war von den Ministerpräsidenten der Länder in den Westzonen eingesetzt 12 Vgl. Blitzbesuch bei Kästner. In: Oberbayerisches Volksblatt, 29./30. 8.1998.

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worden und hat den sogenannten »Chiemseer Entwurf« für das Grundgesetz geschrieben; bei einigen Aspekten, wo die Delegierten sich nicht einigen konnten, gibt es Parallelformulierungen. Insgesamt handelt es sich aber doch um ein umfangreiches Papier von 149 Artikeln, die Grundlage der deutschen Verfassung geblieben sind und schon in großen Teilen übernommen wurden; zumal die ersten Paragraphen, die Grundrechte, sind weitgehend identisch. Statt »Die Würde des Menschen ist unantastbar« heißt es dort »Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar«, allerdings noch vorangesetzt: »Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.«¹³ Der Verfassungskonvent hat einen Bericht von an die 100 Druckseiten verabschiedet, inklusive dieses vollständigen Entwurfs einer Verfassung;¹⁴ alle wichtigen Grundsatzprobleme für das Schreiben einer neuen Verfassung in Westdeutschland sind hier diskutiert worden, allem voran die Frage, ob die Deutschen überhaupt berechtigt zu solchem Tun waren – was war das eigentlich für ein Gebilde, 1948? Gab es überhaupt die nötige konstituierende Gewalt in Deutschland? Carlo Schmids Auffassung war, dass das Recht weiterhin beim deutschen Volk liege, bei den Menschen, die auf dem Gebiet Deutschlands lebten. Das Recht, sich zu konstituieren, stand ihnen im Prinzip zu, war durch die und seit der Kapitulation nur von den Alliierten suspendiert worden. Das Rechtssubjekt Deutschland sei nicht handlungsfähig (weil ein Teil fehlte, Ostdeutschland), deshalb könne nur ein Übergangszustand geschaffen werden, bis zur eines Tages wieder zu erzielenden deutschen Einheit. Das »Staatsfragment«¹⁵ sollte schon tun können, was normalerweise ein Staat tut, es sollte aber die beginnende Spaltung Deutschlands nicht vertiefen. Schmids Auffassung war die der Mehrheit; der Versammlungsleiter, Chef der Bayerischen Staatskanzlei (Anton Pfeiffer, BVP, dann CSU), vertrat dagegen die zweite wichtige Meinung auf dem Konvent, den »Minderheitsstandpunkt«,¹⁶ es bestehe kein deutsches Staatsvolk mehr, man müsse eine neue Souveränität be-

13 Vgl. »Chiemseer Entwurf«. Grundgesetz für einen Bund deutscher Länder. Online unter https:// www.verfassungen.de/de49/chiemseerentwurf48.htm (10. 3. 2023). 14 Die Darstellung im Folgenden nach: Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz der westlichen Besatzungszonen: Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948. München 1948. Faksimile der Münchner Universitätsbibliothek online unter https://epub.ub.uni-muenchen.de/21036/1/4Polit.3455.pdf (10. 3. 2023). – Der (hier sehr gute) Wikipedia-Artikel ist im Wesentlichen nach diesem Bericht und nach den Memoiren Schmids gearbeitet (Carlo Schmid: Erinnerungen. Bern, München, Wien 1979), vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Verfas sungskonvent_auf_Herrenchiemsee (10. 3. 2023); ausführlich vgl. Angela Bauer-Kirsch: Herrenchiemsee. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee – Wegbereiter des Parlamentarischen Rates. Bonn 2005 (Online-Publikation der UB Bonn). 15 Verfassungsausschuss: Bericht (s. Anm. 14), S. 18. 16 Ebd., S. 19.

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gründen, die nicht mehr mit dem Deutschen Reich verknüpft sei. Rechtssubjekte seien nur noch die Länder wie eben Bayern, Baden, Hessen, Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen usw., die ja auch Vertreter geschickt hatten; aus denen müsse ein neuer Staatenbund konstituiert werden, dem eines fernen Tages auch die Länder Ostdeutschlands würden beitreten können. Aus dieser Auffassung sprach großes Misstrauen gegen Zentralinstanzen, Zentralisierungen überhaupt, die man im vorangegangenen System 12 Jahre lang erlebt hatte; die Länder sollten ihre Souveränitätsrechte weitgehend behalten und vor allem die »Freiheitsrechte der Bevölkerung«¹⁷ schützen. Wie gesagt, diese Auffassung hat sich nicht durchgesetzt; letztlich war der Konvent und nach ihm auch der Parlamentarische Rat mehrheitlich der Auffassung, dass von einer Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches auszugehen sei, und von einer provisorischen Neu-Organisation der Westzonen, das Vorläufige wurde immer stark betont.¹⁸ Strittig blieben einige Fragen des Föderalismus (des Verhältnisses zwischen Bund und Ländern), der Finanzverwaltung, der Schaffung von Kammern (einer Länderkammer und eines Bundes-Parlaments); gerade die Verfassung also blieb weitreichend bestehen wie hier niedergelegt, das Verhältnis von Bundesregierung und Parlament, der Ausschluss von Präsidialregierungen, die Einrichtung eines neutralen Staatsoberhaupts, die Unmöglichkeit eines Volksbegehrens auf Bundesebene; viele Lehren wurden aus dem gezogen, was in der Weimarer Verfassung schief gegangen war. Das alles wurde dem Parlamentarischen Rat zugeleitet und dort erneut debattiert, es geht also schon um einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung des Grundgesetzes, wenn auch nicht bis ins Letzte um das Grundgesetz selbst.

5 Was hat nun das Doppelte Lottchen damit zu tun, bzw.: hat es überhaupt damit zu tun? Ich will die Antwort gewissermaßen zweistufig anlegen, zuerst über zwei Sätze des Grundgesetzes sprechen und zeigen, dass sie sich im Roman mehr oder minder implizit, soll heißen: auf der Handlungsebene durchaus wiederfinden lassen; schließlich geht es mir darum, so etwas wie eine politische Ebene des Romans zu skizzieren, die sich sogar in einigen ganz expliziten Andeutungen im Text finden lässt.

17 Ebd., S. 20. 18 Vgl. ebd., S. 17.

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Der erste Satz des Grundgesetzes ist eine Revolution; in der endgültigen Formulierung, noch einmal: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Ein solches Bekenntnis zur Menschenwürde hat es in keiner Verfassung zuvor gegeben. Die Fürstenthrone des 19. Jahrhunderts haben Menschen- und Bürgerrechte gar nicht – oder gnädig herablassend von oben gewährt. In der direkt vorausgegangenen Diktatur 1933–1945 war da ohnehin nichts zu melden. Über den Begriff der Menschenwürde lassen sich philosophische und rechtsphilosophische Abhandlungen ohne Ende lesen, angefangen in der römischen Antike, natürlich bei Immanuel Kant, später auch in der Folge der UN-Charta von 1945 und eben dieses GrundgesetzSatzes.¹⁹ Die Menschenwürde ist der oberste Wert des Grundgesetzes überhaupt, und das Revolutionäre ist auch: Hier wird nicht etwas festgestellt, das einfach da ist, und damit ist es getan; vielmehr erteilt die Verfassung dem Staat hier einen Auftrag, einen Gestaltungsauftrag mit Ewigkeitsgarantie – diese Würde ist ja nicht unbedroht, sie muss immer wieder neu verteidigt, oder auch: hergestellt werden; und eine Änderung dieses Artikels 1, ebenso von Artikel 20 (demokratischer und sozialer Rechtsstaat, Verfassungsbindung von Recht und Gesetz, Widerstandsrecht gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsgemäße Ordnung zu beseitigen) ist unzulässig. Aus dem Auftrag, die menschliche Würde zu achten und zu schützen, ergibt sich, ganz allgemein gesagt, dass der einzelne nicht zum Objekt gemacht werden darf, er hat immer, auch vor allen staatlichen Instanzen, das Recht auf Mitwirkung in allen Vorgängen, die ihn betreffen; die Persönlichkeit soll sich frei entfalten können. Der Artikel ist damit die Summe aller Grund- und Menschenrechte; dazu gehören die drei Maximen der französischen Revolution, liberté, egalité, fraternité und ihre Ableitungen – deshalb ist heute Folter und Kindesmisshandlung verboten, und jeder Mensch hat ein Recht auf gewaltfreie Erziehung, natürlich auch Recht auf Freiheit der Person und auf Selbstbestimmung, neben vielem anderen. Man könnte nun an Kästners beiden Lottchen und gerade an den Ängsten, die die beiden Kinder durchleben, sehr wohl diskutieren, wie es denn eigentlich mit der Würde der Kinder bestellt ist: Gelten solche Verfassungswerte auch für Kinder? Gesetzlich gelten sie von Geburt an, und ich würde schon annehmen, dass Kästner genau diese Kinderrechte einklagt: Offensichtlich sind diese beiden hier nie gefragt worden, ob sie auseinandergerissen werden dürfen. »Darf man Kinder halbieren?« (S. 39) heißt es in einer Kapitelüberschrift, und Luise fragt einmal ausdrücklich: »Warum haben sie uns halbiert?« (S. 45)

19 Vgl. als Einführung und Überblick z. B. Dietmar von der Pfordten: Menschenwürde. München 2016.

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Lotte beobachtet ihren dirigierenden Vater, passenderweise dirigiert er Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel. Das Mädchen identifiziert sich immer mehr mit den Kindern auf der Bühne, die beide in den Wald geschickt wurden, um sie loszuwerden; und sie fragt sich, ob ihre Eltern tun durften, was sie getan haben (S 79). Sie seien ja bestimmt keine bösen Menschen, aber »was sie taten, das war böse!« Zumal ihre eigenen Eltern keineswegs die materielle Not litten, von der in Hänsel und Gretel die Rede ist. Lotte empfindet im Bett ihrer Schwester einen »scharf geschliffene[n] Schmerz« im Gemüt (S. 81), und sie träumt den oben zitierten Traum: Herr Palfy, der Vater, will in Lottes Angst- und Alptraum »die Kinder halbieren«, sie in der Mitte durchsägen; er kennt die Zwillinge nicht auseinander (das erlebt sie ja gerade, ihr Vater hat mitnichten bemerkt, dass sie nicht ihre Schwester ist); und er sagt in ihrem Traum den markanten Satz: »Eltern dürfen alles«. Dieser Gefühlshaushalt, das macht Kästner ganz klar, bleibt ihr auch im Wachen, sie weiß manchmal selber nicht mehr, welche der beiden sie ist, im Fieber erschrickt sie von der Berührung durch die Hand ihres Vaters. Dem Nachbarn des Vaters, einem Kunstmaler, mit dem das Mädchen sich angefreundet hat, wird das Kompliment gemacht, er wisse, »wie schwer Kummer auf ein Kinderherz drücken kann. Er war selber einmal ein Kind und hat es, im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen, nicht vergessen.« (S. 112) Offensichtlich, das suggeriert Kästner mehrfach, sind diese beiden Kinder zum Objekt gemacht worden; sie haben ihre Selbstbestimmung verloren – allein schon dadurch, dass sie auseinandergerissen worden sind. Im Verständnis von Menschenwürde ist der Kinderroman also ganz nah am ersten Artikel des Grundgesetzes, und auch der Auftrag wird insofern als solcher verstanden, als ein besserer, angemessener Zustand am Ende der Geschichte hergestellt wird – in einer fiktionalen Geschichte, »jedoch immerhin« (Ödön von Horváth). Der andere Artikel, von dem die Rede sein soll, ist der dritte, Gleichheit vor dem Gesetz; hier steht als Satz 2: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Der Staat hat hier den Auftrag, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung zu fördern und bestehende Nachteile zu beseitigen. Das ist nun noch eine besondere Geschichte; dieser Satz steht nicht im Chiemseer Entwurf. Der Konvent bestand aus 32 Männern, die zwar ihre Frauen mitbringen konnten, aber für die gab es ein Damenprogramm; mitwirken konnten sie nicht. Das war im Parlamentarischen Rat anders; unter den 65 Mitgliedern dort waren 4 Frauen, Friederike Nadig (SPD), Elisabeth Selbert (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum), die sogenannten Mütter der Verfassung. Nadig hat die Formulierung »Männer und Frauen sind gleichberechtigt« eingebracht. Die Mehrheit im Rat war dagegen – man müsste ja dann das ganze Bürgerliche Gesetzbuch aus dem Kaiserreich umschreiben, in dem das Weib dem Manne untertan ist, und das war den versammelten Herren zu viel Arbeit, sie scheuten die Konsequenzen. Elisabeth Selbert hat einen

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weiteren Versuch unternommen, sie sagte in der Versammlung: »Die Frau, die während der Kriegsjahre auf den Trümmern gestanden und den Mann an der Arbeitsstelle ersetzt hat, hat heute einen moralischen Anspruch darauf, so wie der Mann bewertet zu werden.«²⁰ Niemand widersprach; zudem konnte sie vorrechnen, dass die Frauen keineswegs eine diskriminierte Minderheit waren, sondern zu diesem Zeitpunkt eine diskriminierte Mehrheit: Auf 100 männliche Wähler kamen 170 weibliche. Die Abgeordneten stimmten dennoch gegen den Passus, ein zweites Mal. Selbert gab nicht auf; sie reiste wochenlang durch Deutschland und rief die Frauen zum Protest auf, und wirklich wurde der Parlamentarische Rat mit Protestschreiben geflutet – nun endlich stimmte der Hauptausschuss einstimmig für die Aufnahme des Satzes ins Grundgesetz.²¹ Nun ist am Doppelten Lottchen doch auffällig, dass sich dieser Kinderroman von anderen Texten Kästners gerade in dieser Hinsicht stark unterscheidet; Kästners Frauenbild ist bekanntlich keineswegs über jede Kritik erhaben, geradezu im Gegenteil, es gibt da immer wieder auch höchst Problematisches. Hier aber gibt es eine äußerst emanzipierte Mutter, die wenigstens eine der Töchter allein versorgen kann. Sie sind nicht reich, aber sie kommen über die Runden; sie ist Bildredakteurin bei einer Zeitung, und sie heißt Luiselotte Palfy, nennt sich aber wieder Körner, ihr Geburtsname. Der Vorname stammt von Kästners Lebensgefährtin Luiselotte Enderle, die in der Tat Redakteurin bei der Münchner Illustrierten war. Auch die Zwillinge heißen also nach ihr – beide. Frau Palfy-Körner hat die Scheidung eingereicht, stellt sich heraus, weil ihr Mann sich in seinem Komponier-Appartement auch mit Opernsängerinnen getroffen hat und mit ihnen »Gesangsrollen studierte« (S. 66), was immer wir uns als nichtkindliche Leserinnen und Leser darunter vorstellen. Er wird als unreifer junger Künstler dargestellt, der zwar ein kompliziertes Seelenleben hat, aber als Vater eine echte Niete ist, »Männer merken nie etwas« (S. 60), konstatiert Lotte. Der Roman spricht nicht von Schuld, aber es ist schon klar, dass der Anteil des Vaters an der ganzen Misere bei weitem der größere ist, schließlich ist er im Grunde eine schwache Figur, umzirzt und betört von Frauen, noch die Pralinendame, die ihn heiraten will, »Fräulein Gerlach«, ist souveräner als er. Schließlich wird die ganze Romanintrige, die Schwestern und Eltern wieder zusammenbringt, von den beiden Mädchen ausgeheckt und auch bravourös

20 Zit. n. Heribert Prantl: Waschkorbweise Post für die Gleichberechtigung. Elisabeth Selbert hat vor 70 Jahren heldinnenhaft dafür gesorgt, dass der Artikel 3 ins Grundgesetz kam. Das Land dankte es ihr nicht. In: Süddeutsche Zeitung, 12. 8. 2018, auch online unter https://www.sueddeutsche.de/poli tik/prantls-blick-waschkorbweise-post-fuer-die-gleichberechtigung-1.4090611 (11. 3. 2023). 21 Vgl. Ramona Pisal: Elisabeth Selbert: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt«. In: djbZ (Zeitschrift des deutschen Juristinnenbundes) 3 (2008), S. 133–136.

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durchgeführt. In anderen Kästner-Büchern gibt es immer wieder die typischen Musterknaben, in Emil und die Detektive, in Pünktchen und Anton, auch Jakob Fabian im Erwachsenenroman hat mindestens Anteile davon, obwohl sich Kästner von dieser Figur auch partiell distanziert. Jedenfalls: im Doppelten Lottchen gibt es weit und breit keinen Musterknaben, die Mädchen sind auf sich gestellt, und sie bringen alle Energie, alles Schauspieltalent, auch die Selbständigkeit auf, das vonnöten ist, um diesen Plan durchzuführen. Hier wird vorgeführt, dass Frauen (und Mädchen) gleichberechtigt sind, und das gar nicht als Soll-Vorschrift, sondern als Selbstverständlichkeit. Es ließe sich schon fragen, ob Kästner die Besetzung der Herreninsel aus diesem Grund vielleicht nicht gefallen hat, ob er sich deshalb gegenüber Carlo Schmid hat verleugnen lassen… aber damit wären wir im Reich der Spekulation (vielleicht war er auch einfach mit einer Freundin dort und hatte besseres zu tun). Es ist immerhin festzustellen, dass Kästner hier etwas gestaltet hat, das in der Luft lag – und das seinem eigenen Verhalten, auch einigen seiner Texte, widersprach.

6 Nun noch etwas ganz anderes, einen kleinen Schritt entfernt vom Grundgesetz selber. In Kästners letzten Kinderromanen (Der kleine Mann und Der kleine Mann und die kleine Miss, 1963/67) ist eine Ebene eingezogen, die nur Erwachsene verstehen: Der Autor zotet da ein bisschen herum, eine einfallsreiche Anzüglichkeit, die auf Kinder so gar nicht wirken kann, die Erwachsene aber bemerken könnten, ohne ordinäres oder eindeutiges Vokabular, sehr faszinierend.²² Aus dieser Perspektive ließe sich auf den früheren Roman zurückblicken mit der Frage, ob womöglich auch das Doppelte Lottchen so etwas hat wie einen doppelten Boden. Das Ergebnis ist schon erstaunlich: Es ist zu Beginn der Geschichte nicht weiter auffällig, dass jedes der Kinder nur einen Elternteil hat, das passt ja in die Entstehungszeit: »Ich hab nur noch eine Mutti«, flüstert Lotte, ein zeitgenössischer Leser würde am Anfang ergänzen: armes Kind, wahrscheinlich ist der Vater gefallen; später fragt Luise auch mal ausdrücklich, ob Lottes Vater schon lange tot sei (S. 33). Die beiden Mädchen, die sich am Anfang fremd sind, werden als so interessant bezeichnet wie ein Kalb mit drei Köpfen, ich erinnere daran, dass die Besatzungsgebiete der Westalliierten auch als Trizone bezeichnet wurden. Eins der Kinder ist zu ernst für sein Alter, heißt es; in einem Kapitel ist von Waffenstillstand die Rede, von Verhandlungen, die geführt werden müssen, »vom Waffenstillstand

22 Etwas ausführlicher angedeutet in Hanuschek: Kästner (s. Anm. 5), S. 414–416.

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zum Frieden ist ein weiter Weg« (S. 24), heißt es, wenn von einem ersten langen Gespräch der beiden Mädchen die Rede ist. Die Hänsel- und Gretel-Geschichte hier wird im Traum in Gang gesetzt, weil es keinen Platz mehr gibt, der Vater sagt, »wir haben zu viel Brot im Hause« (S. 83), seine Frau und die andere Tochter sind sozusagen die armen Verwandten (hier im Westen statt im Osten, von Wien auf München gesehen). Jede für sich ist »die arme Hälfte« (S. 88), weil die andere, die »Hauptsache« (81) fehlt; es gibt »diplomatische Gespräche« (S. 102) im Kaffeehaus. Die biographische Situation Kästners ist bekannt, sie sei nur ganz kurz nachgetragen; er stammt ja aus Dresden, hat in Leipzig studiert, den Großteil seines beruflichen Lebens in Berlin verbracht. Seine Wohnung dort (mitsamt seinem vollständigen Besitz, der Bibliothek, Mobiliar, seine Kleidung…) ist Opfer eines Bombenangriffs geworden, vollständig ab- und ausgebrannt; er ist mit einer abenteuerlichen Geschichte in den letzten Wochen der NS-Diktatur nach Süden gekommen, zuerst nach Tirol, dann 1945 nach München, dort ist er gewissermaßen hängengeblieben, auch durch das Engagement bei der Neuen Zeitung. Seine Eltern sind aber in Dresden geblieben; mit Kriegsende ist für ein paar Wochen die Postverbindung abgerissen, die rege permanente Korrespondenz mit der Mutter Ida fiel weg. Das hat er nun ganz gut überstanden, sie aber nicht; sie ist über der Trennung geradezu verrückt geworden, ihre Demenz fing in dieser Zeit an, ohne dass sie jemals wieder herausgekommen wäre. Auch als die Post wieder funktioniert hat, als er (selten) nach Dresden fahren und die Eltern besuchen konnte, tauchte sie nicht mehr auf. Bei seinem letzten Besuch im Sanatorium hat sie ihn nicht erkannt, sie soll ihn gefragt haben, wo denn der Erich sei. Kästner wusste also, wie es sich anfühlt, von nahen Verwandten getrennt zu sein; und sehr sparsam, sehr dezent, lassen sich die beiden Lottchen auch als Allegorie auf die 1948/49 ja bereits manifest bestehende deutsche Teilung lesen. Was zusammengehört, soll man nicht trennen; das beginnt schon mit dem Namen Luiselotte, der eben nur ein Name ist, der von Kästners Lebensgefährtin. Selbstverständlich ist 1948/49 von den Vätern und Müttern der Verfassung gesprochen worden, im Chiemseer Entwurf haben Grundfragen auch der deutschen Teilung eine große Rolle gespielt: Bei einer staatsrechtlich falschen Aufstellung könnte eine Einheit der deutschen Bundesländer für alle Zeiten verspielt sein, deshalb war es wichtig, ob der Konvent der reicheren Schwester (bei der es eher zu viel Brot gibt) die beginnende Teilung verfestigt, oder ob er ausdrücklich Schlupflöcher für eine künftige, andere Entwicklung offen lässt. Es gibt also durchaus eine zeithistorische Ebene, die allerdings so subtil (wenn auch konsequent) eingebaut ist, dass sie bislang nicht so recht wahrgenommen wurde.

Autorinnen und Autoren Silke Becker, M.A., Bibliothekarin, 1994–2015 Handschriftensammlung des Deutschen Literaturarchivs Marbach, seit 2021 Cheflektorin und Leiterin des Bereichs Medien in der Stadtbibliothek Bremen Forschungsschwerpunkte: Bearbeitung des handschriftlichen Nachlasses Erich Kästners Neuere Publikationen: Erich und die große Stadt. Motive und Spuren im Nachlass. In: Erich Kästner und die Moderne (2016, Tectum); Kästner, Erich: Das blaue Buch. Hg. zus. m. Sven Hanuschek u. Ulrich von Bülow (2018, Atrium) Dr. Ulrich Dittmann Germanist und Editor, bis 2003 als Akademischer Direktor am Institut für deutsche Philologie der LMU tätig; war von 1992 bis 2015 Vorsitzender der Oskar Maria Graf-Gesellschaft München e. V. Forschungsschwerpunkte: Adalbert Stifter, Oskar Maria Graf; hochschuldidaktische Fragen im Fach Germanistik. Kommentierung literarischer Texte. Neuere Publikationen: Kritisch edierte Neuausgaben von 14 Erstdrucken der Erzählsammlungen und einzelner Romane O. M. Grafs (allitera Verlag); Oskar Maria Graf. Rebellischer Weltbürger, kein Bayerischer Nationaldichter (zus, mit Waldemar Fromm).1917 (Pustet Verlag): von 1993 bis 2021 Mitherausgeber des Jahrbuchs der O.M. Graf-Gesellschaft (List-Verlag und allitera); Band 11,3 (Briefe 1854–1858) der Historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters 2022. Prof. Dr. Hans-Edwin Friedrich, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der CAU Kiel. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18.–21. Jahrhunderts, Neoavantgarden, nichtkanonische Literatur. Neuere Pulikationen: Hg.: Peter Rühmkorf: Sämtliche Werke. Bd. I/9: Essays und Monographien 1. Schriften zur Poetik (1953–1967). Göttingen 2023; Hülle und Kratzer. Medien und Diskurse im Werk von Herbert Achternbusch. München 2023. Mitherausgeber u. a. von neoAvantgarden (2011 ff.). Prof. Dr. Daniel Fulda ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg und war dort 2007–2020 Leiter des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung. Gastprofessuren in Paris (EPHE und EHESS), Notre Dame, USA, und Lyon (ENS). 2016 zum ordentlichen Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig gewählt. 2023–2027 Präsident der International Society for Eighteenth-Century Studies. Forschungsschwerpunkte: Die Aufklärung und ihre Wirkungsgeschichte, Materialität der Literatur, TextBild-Beziehungen, Literatur & Geschichte Neuere Publikationen: Aufklärung fürs Auge. Ein anderer Blick auf das 18. Jahrhundert (Hg., Halle 2020); Seit wann und warum gibt es »deutsche Klassiker«? Zwölf Thesen im Ausgang von Klassiker-Erwartung und Buchmarkt des langen 18. Jahrhunderts (Stuttgart, Leipzig 2021); Revolution trifft Aufklärungsforschung. 1989/90, DDR-Erbe und die Gründung des hallischen Aufklärungszentrums (Hg., Halle 2021, 2., erweit. Aufl. 2023); Die Erfindung der Aufklärung. Eine Begriffs-, Bild- und Metapherngeschichte aus der ›Sattelzeit‹ um 1700, in: Archiv für Begriffsgeschichte 64 (2022), S. 7–100; Identity in Diversity: Programmatic Pictures of the Enlightenment. In: Journal for Eighteenth-Century Studies 45, 1 (2022), S. 43–62. Prof. Dr. Sven Hanuschek, Germanist und Publizist, seit 2004 Geschäftsführer des Departments für Germanistik der LMU München; Mitglied des PEN und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. https://doi.org/10.1515/9783111085081-015

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Autorinnen und Autoren

Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts, Biographien, Editionen, Geschichte literarischer Institutionen, Literatur und Ethnologie, Literatur und Film. Neuere Publikationen: Erich Kästner: Resignation ist kein Gesichtspunkt. Politische Reden und Feuilletons (Hg., 2023, Atrium Verlag); Arno Schmidt. Biografie (2022, Hanser Verlag); Wir leben noch. Ida und Erich Kästner, Kurt Vonnegut und der Feuersturm von Dresden. Eine Zugfahrt (2018, Atrium Verlag); Elias Canetti: Ich erwarte von Ihnen viel. Briefe (Hg. zus. m. Kristian Wachinger, 2018, Hanser Verlag). Mitherausgeber u. a. von treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre (2007 ff.) und neoAvantgarden (2011 ff.), beide in der edition text + kritik Prof. Dr. Helmuth Kiesel war von 1990 bis 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturgeschichte mit Schwerpunkt Literatur der Moderne. Zuletzt ist von ihm erschienen Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933 (Band X der von Helmut de Boor und Richard Newald begründeten »Geschichte der deutschen Literatur« beim C. H. Beck, München). Prof. Dr. Alexander Košenina Germanist und Literaturkritiker, seit 2008 Lehrstuhl an der Leibniz Universität Hannover. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Medizin, Theatergeschichte, Kriminalliteratur, Editionen. Neuere Publikationen: Kriminalfallgeschichten (Hg. 2014, Text+Kritik); Literarische Anthropologie (2016, de Gruyter); »Es denkt«. Facetten der Aufklärung (2022, Wehrhahn Verlag); Günter de Bruyn und die Märkische Dichtung (Hg. 2022, Wehrhahn Verlag) Dr. Ulrike Leuschner, germanistische Literaturwissenschaftlerin, Editionsphilologin, bis 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Darmstadt. Forschungsschwerpunkte: Aufklärung und Goethezeit, Nachkriegsliteratur und 50er Jahre Neuere Publikationen: Judith Hermann, Schriftstellerin und Medienfigur. In: Christiane Caemmerer et al. (Hg.): Fräuleinwunder. Zum literarischen Nachleben eines Labels. Frankfurt a. M.: Peter Lang Edition, 2017; Johann Heinrich Merck: Gesammelte Schriften. 9 Bde. Hg., Göttingen: Wallstein, 2012–2021; Briefe der Liebe. Henriette von der Malsburg und Georg Ernst von und zu Gilsa, 1765 bis 1767. Hg., Marburg: Historische Kommission für Hessen, 2018; Die ›deutsche Sappho‹ liest Homer. In: Ute Pott (Hg.): Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch – Leben und Werk. Göttingen: Wallstein, 2022; Mithg. von treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre München: edition text + kritik, 2005 ff. Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Neuhaus unterrichtet seit 2012 Neuere deutsche Literatur an der Universität Koblenz. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18.–21. Jahrhunderts, Literaturtheorie, Literatur und Film. Neuere Publikationen: Der Krimi in Literatur, Film und Serie. Eine Einführung (2021, UTB-Verlag); Grundriss des Interpretierens (2022, UTB-Verlag). Als Herausgeber: In den Plural setzen. Marlene Streeruwitz und ihr dramatisches Werk (2022, Tectum-Verlag); Mit Haut und Haar. Die Lyrik und Poetik Ulla Hahns (2023, Tectum-Verlag); (mit Werner Moskopp) Figurationen des Bösen. Ein Kompendium (2023, Verlag Königshausen & Neumann). Dr. Nicole Pasuch, derzeit Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Kinder- und Jugendliteratur, Erich Kästner. Neuere Publikationen: Erich Kästner als Intellektueller nach dem Zweiten Weltkrieg: Zeitdiagnosen und

Autorinnen und Autoren

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politische Interventionen. (Band 7 der Erich Kästner Studien, 2023, De Gruyter); Artikel »Das doppelte Lottchen«, »Die Konferenz der Tiere«, »Wirtschaftswunderjahre und Friedensbewegung« und »Politik« in Stefan Neuhaus (Hg.): Erich-Kästner-Handbuch (2023, Metzler). Prof. Dr. Clemens Pornschlegel, germanistische Literaturwissenschaft an der LMU München. Forschungsschwerpunkte: das Verhältnis von Literatur und Religion im 19. und 20. Jahrhundert, deutschfranzösische Kulturtransfers. Letzte Publikationen: Proletarische Allegorese. Zum Verhältnis von Poesie, Religion und Arbeit bei Simone Weil und Charles Baudelaire. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 95.4 (2021), S. 397–421; De l’esthétique du droit chez Alexander Kluge. In: Wolfgang Asholt, Vincent Pauval, Jean-Pierre Morel (Hg.): Alexander Kluge. Cartographie d’une œuvre plurielle. Les colloques Cérisy. Paris 2022, S. 31–42; Gabe des Gedichts. Zum Verhältnis von Religion und Poesie bei Stéphane Mallarmé. In: Johannes Greifenstein (Hg.): Predigt als Bibelauslegung. Praktische Hermeneutik in interdisziplinären Perspektiven. Tübingen 2022, S. 221–233. Prof. Dr. Gideon Stiening, apl. Prof. an der LMU München; z. Z., wiss. Koordinator am SFB 1385 Recht und Literatur an der WWU Münster. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Recht; Philosophie, Wissenschaften und Künste der europäischen Aufklärung; Rechtsphilosophie der frühen Neuzeit. Neuere Publikationen: (Hg. mit Maximilian Benz): Nach der Kulturgeschichte. Perspektiven einer neuen Ideen- und Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Berlin, Boston 2022; (Hg. mit Christoph SchmittMaaß u. Friedrich Vollhardt): Katholische Aufklärung? Möglichkeiten, Grenzen und Kritik eines Konzepts der Aufklärungsforschung [Aufklärung 33 (2021)], Hamburg 2022; (Hg. mit Hans-Peter Nowitzki, Enrico Pasini u. Paola Rumore): Johann Heinrich Lambert (1728–1777). Wege zur Mathematisierung der Aufklärung. Berlin, Boston 2022. PD Dr. Sophia Wege, Studium der Germanistik, Anglistik, Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig; 2011 Promotion an der LMU München; 2021 Habilitation an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zu Fontane und Schopenhauer; seit 2015 Lehrkraft für besondere Aufgaben an der MLU. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts. Neuere Publikationen: Metaphysischer Realismus. Arthur Schopenhauers Willensphilosophie im Erzählwerk Theodor Fontanes, de Gruyter 2023.

Personenregister Adenauer, Konrad 56, 150, 192 Adorno, Theodor W. 19, 38, 67, 187, 190 Althoff, Friedrich 166 Améry, Carl 59 Andersch, Alfred 59 Arens, Hanns 59 Aristoteles 60 Aust, Stefan 50 Bachmann, Ingeborg 59 Baky, Josef von 229 Balzac, Honoré de 61 Baudelaire, Charles 61, 230 Baudrillard, Jean 2 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de 67 Beauvoir, Simone de 61 Becher, Johannes R. 59 Beethoven, Ludwig van 44 f. Benjamin, Walter 14, 115, 149, 165, 195 f., 215, 220 Benn, Gottfried 59, 174, 181–183, 185, 187 Bense, Max 59 Bernhard, Thomas 59 Bierbaum, Otto Julius 59 Bismarck, Otto von 153 Böll, Heinrich 59, 216 Borchardt, Rudolf 59 Borchert, Wolfgang 59, 216 f. Brecht, Bertolt 59, 110, 113, 118, 140–143, 147, 157, 174, 184 f., 214 Brecht, Walter 40 Brentano, Clemens 14 Broch, Hermann 59, 174, 176, 178–180, 183, 185, 187, 213 f. Broder, Henryk 50 Brody, Daisy 180 Bruckner, Ferdinand 114, 118 Brosses, Charles de 63 Buchheim, Lothar-Günter 59 Büchner, Georg 5, 59, 173, 197, 209, 225 Bürger, Gottfried August 65 Buhre, Werner 56 Busch, Wilhelm 59, 124 https://doi.org/10.1515/9783111085081-016

Camus, Albert 61 Carus, Carl Gustav 59 Casanova, Giacomo 60 Cassirer, Ernst 7, 26, 30, 36 Castorf, Frank 171 Celan, Paul 174, 185, 216 Claudius, Matthias 66 Corrinth, Curt 121 Cysarz, Herbert 22 Dalberg, Johann Friedrich Hugo 66 Daumier, Honoré 71 Davis, Garry 96 f. Defoe, Daniel 45 Descartes, René 107, 162–164 Desch, Kurt 60 f. Dickens, Charles 60 Diderot, Denis 2, 16, 67, 126 Dietrich, Marlene 6 f. Döblin, Alfred 59, 174, 177.179 182 f., 185, 187 Dos Passos, John 134 Dreiser, Theodore 118 Drews, Jörg 60, 67 Driesch, Hans 164 Dürrenmatt, Friedrich 59 Dunner, Joseph 132 Durian, Wolf 213 Edschmid, Kasimir 56, 59 Eggebrecht, Axel 67 Eich, Günter 158 Elschenbroich, Adalbert 67 Enderle, Luiselotte 56 f., 60 f., 63, 99, 129, 139, 144, 205, 227, 235 Engels, Friedrich 59 Enzensberger, Hans Magnus 14, 39, 45 f. Fallada, Hans 59 Faulkner, William 60 Feder, Johann Georg Heinrich Feuchtwanger, Lion 59, 143 Fielding, Henry 45 Finck, Werner 147 f.

197

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Personenregister

Flake, Otto 59, 67 Fleißer, Marieluise 113 f. Fontane, Theodor 59 Forster, Georg 66 Foucault, Michel 2, 14 f., 155 Frances, Anatole 65 Frank, Leonhard 59, 144 Friedenthal, Richard 56, 59 Friedrich II. 19, 26, 32, 42, 44, 66, 76 Friedrich Wilhelm III. 161 Frisch, Max 59, 142 f., 144 Fritzsche, Hans 134 Fromm, Hans 49 Garve, Christian 195, 197 Gellert, Christian Fürchtegott 68 George, Stefan 40 Gide, André 61 Giraudoux, Jean 61 Globke, Hans 191 f. Göpfert, Herbert G. 18, 48–50 Göring, Hermann 134 Goes, Albrecht 59 Goethe, Johann Wolfgang 1, 44 f., 59 f., 63 f., 68, 148, 156 Goetz, Wolfgang 65 Goeze, Johann Melchior 18 Goya, Francisco de 67, 71 Goldschmit, Rudolf 46 Gottsched, Johann Christoph 17, 23, 68, 107, 109, 113, 120 Gracián, Baltasar 64 Graf, Dominik 163, 167, 169–171 Grimm Gunter E. 46, 50 Gundolf, Friedrich 22, 59, 64 Habe, Hans 59, 129 Hagedorn, Friedrich von 1 Harbou, Thea von 220 Hauptmann, Gerhard 110, 120 Hauser, Heinrich 131 f. Heidegger, Martin 2, 190, 197 f. Heimeran, Ernst 59 Heine, Heinrich 32, 59, 61, 71, 115, 173 Helvétius, Claude-Adrien 45 Herder, Caroline 63 Herder, Johann Gottfried 44 f., 62 f., 66

Herking, Ursula 149, 152 Herwegh, Georg 115 Hesse, Hermann 59, 140 Heß, Rudolf 134 Heym, Stefan 59 Hildebrand, Rudolf 164 Hildebrandt, Dieter 148 f. Hiller, Kurt 59 Hitler, Adolf 134, 148, 197, 223 Hochhuth, Rolf 59 Hofmannsthals, Hugo von 14, 59 d‘Holbach, Paul Henri Thiry 2 Horkheimer, Max 19, 38, 67, 165, 187, 190 Horváth, Ödön von 119, 234 Huch, Ricarda 59 Hugo, Victor 14 Hume, David 74 Humperdinck, Engelbert 234 Ibsen, Henrik

110

Jacob, Heinrich Eduard 59 Jaspers, Karl 59, 67, 186 Johst, Hanns 48 Jünger, Ernst 174, 186 f. Jünger, Friedrich Georg 59 Jung, Carl Gustav 130 Jung-Stilling, Johann Heinrich

66

Kästner, Abraham Gotthelf 63 Kant, Immanuel 1, 8, 14, 63, 66, 76, 89–102, 107, 163, 192, 209, 217, 233 Kantorowicz, Ernst 59 f. Katz, Richard 60 Keitel, Wilhelm 134 Kessel, Martin 60 Kesten, Hermann 60 , 110, 119, 169 Kippenberg, Anton 48 Kleist, Heinrich von 25, 60, 63, 65, 163 Klopstock, Friedrich Gottlieb 66 Knigge, Adolph von 61 König, Eva 72 Koeppen, Wolfgang 192, 230 Köster, Albert 14–27, 30, 33 f., 47, 60, 73, 75 f., 107, 109–111, 164 f. Kolb, Annette 60 Korff, Hermann August 17, 22, 26 f., 47, 126

Personenregister

Koselleck, Reinhard 15, 190 Kratz, Männe 202–204, 210 Kraus, Karl 60 Kuhn, Hugo 49 Lachmann, Karl 62, 170 Lämmert, Eberhard 42 f. Lampel, Peter Martin 117–119 Lang, Fritz 220 Lange, Horst 60, 141 f., 144 Langgässer, Elisabeth 60, 174, 185 Le Fort, Gertrud von 65 Lenz, Siegfried 60 Lepman, Jella 56, 98 f. Lernet-Holenia, Alexander 63, 141 f. Lessing, Gotthold Ephraim 1, 4, 8, 15, 18–21, 26, 29, 30–36, 45, 62, 64, 71–87, 106–109, 112, 115, 118 f., 124–126, 130, 162 f., 169–171, 173, 189, 192, 195, 197, 199, 205 Lessing, Theodor 29, 67 Lichnowsky, Mechthilde 60 Lichtenberg, Georg Christoph 30, 65, 122 Lindgren, Astrid 60 List-Beisler, Sylvia 57 Locke, John 67, 74 Ludwig, Emil 60 Lüth, Paul E.H. 142 Luther, Martin 71 Mahlke, Knud 49 Mann, Erika 134 Mann, Heinrich 80, 169, 181 Mann, Klaus 156 Mann, Thomas 2, 28–30, 40, 60, 68, 139–141, 156, 191, 194, 196 f. Marc Aurel 60 f. Martin, Alfred von 67 Mehring, Walter 60, 110, 113, 122, 165 Mendelssohn, Peter de 60, 134 Michael, Friedrich 46, 48 Möser, Justus 1, 23, 30 f., 45, 74 f. Molière 126 Mollier, Lore 63 Molo, Walter von 139 Müller-Seidel, Walter 47–51 Musil, Robert 60

245

Nadig, Friederike 234 Neumann, Alfred 60 Neumann, Friedrich 48 Neumann, Robert 60 Nick, Edmund 149, 152 Nicolai, Friedrich 17 Nietzsche, Friedrich 28, 66–68, 108, 173–178, 180–186 Oehler, Adalbert 65 Oelze, Friedrich Wilhelm Ohser, Erich 148

174

Penzoldt, Ernst 60 Pestalozzi, Heinrich 60 Pfeffel, Konrad Gottlieb 61, 65, 68 Pfeiffer, Anton 231 Pinthus, Kurt 48 Pirandello, Luigi 72 f. Piscator, Erwin 107, 110 f., 113, 115–118, 121, 123, 194 Platen, August von 65 Polgar, Alfred 60 Pressburger, Emmerich 65 Rabener, Gottlieb Wilhelm 61 Ranke, Leopold von 60 Ratzinger, Joseph 2 Rehfisch, Hans José 137–139 Reinhardt, Max 110, 115 Rezzori, Gregor von 60 Riegel, Werner 192 Rilke, Rainer Maria 60, 78 Ringelnatz, Joachim 60 Rosenberg, Alfred 134 Rosenow, Liselotte 49 f. Roth, Joseph 60 Rousseau, Jean-Jacques 1, 67 Rowohlt, Ernst 164 Rühmkorf, Peter 192, 225 Saalfeld, Martha 60 Salin, Edgar 65, 67 Sartre, Jean-Paul 61 Schaefer, Oda 60, 141–145 Schickele, René 60 Schiller, Friedrich

246

Personenregister

Schmid, Carlo 230 f., 236 Schmidt, Arno 218 Schmidt, Erich 30 Schmitt, Carl 2, 190, 195 f., 198 Schneider, Ferdinand Joseph 17, 30, 108 f. Schöffler, Herbert 25 Schopenhauer, Arthur 60, 64, 108, 125 Schubart, Walter 67 Schücking, Levin Ludwig 25, 47 Schwimmer, Max 63 Seghers, Anna 60, 143 Selbert, Elisabeth 234 f. Sembdner, Helmut 63 Sengle, Friedrich 49 Shakespeare, William 44, 60, 120, 122, 166 Shirer, William 134 Sicas, Vittorio de 142 Silones, Ignazio 136 Smith, Howard 134 Speer, Albert 134 Spengler, Oswald 151 Spiel, Hilde 60 Stalin, Joseph 199 f. Steinmetz, Horst 43, 50 f. Sterne, Laurence 45, 122 Stifter, Adalbert 60 Storm, Theodor 61 Suphan, Bernhard 42 Swift, Jonathan 67, 71, 122, 173 Thieß, Frank 139 Thomsen, Albert 192 Tieck, Ludwig 61 Thomasius, Christian 76

Timmerman, Felix 65 Trier, Walter 99, 213, 228 Troeltsch, Ernst 36, 174–176 Tucholsky, Kurt 60, 77, 147, 165 Unger, Rudolf

22

Voltaire 45, 67, 71, 119, 173, Voß, Johann Heinrich 17 Walser, Martin 174, 185 f. Wassermann, Jakob 60 Weber, Helene 234 Weber, Max 47, 173, 175 f. Wedekind, Frank 60, 113, 147 Weigel, Helene 142, 145 Weisenborn Günther 60 Wells, Herbert George 83–86, 127 Weckherlin, Georg Rudolf 165, 167 f. Werner, Bruno E. 60 Wessel, Helene 234 Weyrauch, Wolfgang 60 Wezel, Johann Karl 45 Wiechert, Ernst 60 Wieland, Christoph Martin 1, 65, 68, 195 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von 166 Wildenbruch, Ernst Adam von 121 Witkowski, Georg 20 f., 46–48, 107, 164 f. Wolf, Friedrich 119 Wolff, Kurt 164 Zola, Émile 80, 155 Zuckmayer, Carl 60, 110, 113, 116–118, 129, 141 f. Zweig, Stefan 60