Autor und Autorität: Historische, systematische und praktische Perspektiven [1 ed.] 9783737009485, 9783847109488

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Autor und Autorität: Historische, systematische und praktische Perspektiven [1 ed.]
 9783737009485, 9783847109488

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Wiener Jahrbuch für Theologie

Band 12/2019

Herausgegeben im Auftrag der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien

Die Bände des Wiener Jahrbuchs für Theologie sind peer-reviewed.

Uta Heil / Antje Klein / Annette Schellenberg (Hg.)

Autor und Autorität Historische, systematische und praktische Perspektiven

Mit weiteren Beiträgen aus der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien Mit 12 Abbildungen

V&R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien. © 2019, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Christus als Lehrer, Sarkophag in Arles (Foto: Uta Heil) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 1607-4289 ISBN 978-3-7370-0948-5

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autor und Autorität Marianne Grohmann Deuteronomistische und rabbinische Autorisierungsstrategien der Tora .

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Clarissa Breu Autor_ität. Der Autor der Johannesoffenbarung als Zeuge . . . . . . . . .

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Hermut Löhr Die Geburt des Autors aus der Überlieferung der Texte. Überlegungen zum Phänomen der Pseudepigraphie in Quellen des entstehenden Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Uta Heil Ein Mischmasch aus Irrtum und Absicht. Zur christlichen Pseudepigraphie bis zum Ausklang der Spätantike . . . . . . . . . . . . .

73

Patrick Leistner Rekonstruktionen und Überlegungen zur Theorie des Autors bei Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Christian Danz Autor und Autorität der Schrift. Anmerkungen zur Schriftlehre der Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Wilfried Engemann Worin besteht die Autorität der »Heiligen Schrift«? Anmerkungen zum Umgang mit der Bibel im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

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Inhalt

Aus der Forschungswerkstatt Andreas Lindemann Erwägungen zur »Theologie des Neuen Testaments«. Ein Gespräch mit Kurt Niederwimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Karl W. Schwarz »[E]minently qualified for a theological professorship«. Der Absolvent der Wiener Fakultät Alexander Venetianer und seine fehlgeschlagenen akademischen Ambitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Karl-Reinhart Trauner Gottesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis: Georg Molin (1908–2003) . . 195 Michael Hackl »Kommet her zur Physik, und erkennet das Wahre!« Mitwissenschaft bei Schelling und Bohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Thomas Scheiwiller Religion – Macht – Verblendung. Zum Sinnbegriff in der Religionssoziologie Pierre Bourdieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Friedrich Schumann Die Phänomenologie Jean-Luc Marions im Horizont einer theologia resurrectionis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Ulrich H.J. Körtner Vielfalt und Verbindlichkeit. Christsein in einem pluralistischen Kontext

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Gottfried Adam Das »Biblische Haus« in Görlitz – ein Juwel der Bibelillustration der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Susanne Heine Radikalisierung. Zur Psychodynamik von Angst, Hass und Gewalt

. . . . 299

Inhalt

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Predigt Michael Bünker »Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.« (Mt 5,6). Predigt im Gottesdienst zum Gedenken an den ersten Österreicher-Transport nach Dachau . . . . . . . . . . . . . . 323 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Vorwort

Ein Autor hat eine Autorität und eine Verantwortung. Worte haben Macht und wollen wiederum Macht erzeugen oder machtvoll wirken. Schließlich sollen andere dazu gebracht werden, diese Worte zur Kenntnis zu nehmen. Autorschaft und Autorität sind also nicht nur etymologisch verwandt, ihr Wechselverhältnis spielt auch und gerade in der Auseinandersetzung mit religiösen und kanonischen Texten eine zentrale Rolle. Jedoch gibt es eine große Bandbreite von Möglichkeiten, wie Autorität entsteht oder wirkt, beschrieben, etabliert oder dekonstruiert werden kann. Inwiefern ist ein Autor eine Autorität? Inwiefern verleiht ein Autor einer Schrift Autorität? Inwiefern verleiht eine Schrift einem Autor Autorität? Weitere Aspekte wie die Bedeutung des biblischen Kanons und die Lehre der Inspiration der Schrift, das Phänomen der Pseudepigraphie, die Möglichkeit einer Autorengruppe sowie intertextueller Autoritätsbezüge und die Bedeutung der Wirkungsgeschichte und Rezeptionsgeschichte eines Textes sind ebenso relevant wie auch neuere Diskussionen um den Tod bzw. inzwischen die Wiederkehr des Autors eines Textes. Das Verhältnis zwischen Texten, ihren Autoren und ihrer beanspruchten sowie zugeschriebenen Autorität stand im Zentrum einer Podiumsdiskussion mit eingeladenen Gastdozenten aus allen theologischen Disziplinen an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien im Sommersemester 2017. Daraus entstand die Anregung zum Thema des diesjährigen Jahrbuchs der Fakultät. Einige Mitglieder der Fakultät sowie Hermut Löhr als Gastdozent beleuchten das Thema aus fachspezifischer Perspektive. Marianne Grohmann untersucht deuteronomistische und rabbinische Strategien zur Autorisierung der Tora. Das Deuteronomium und das deuteronomistische Geschichtswerk erweisen die Autorität des Deuteronomiums sowohl durch die Gestaltung als Rede Mose, die Gottesrede wiedergibt, als auch durch die »Wortsicherungsformel« von Dtn 4,2; 13,1 und die Legende von der Auffindung der Tora-Rolle in 2 Kön 22–23, bei denen neben der Mündlichkeit auch die Schriftlichkeit eine Rolle spielt. Im rabbinischen Judentum beziehen sich Au-

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Vorwort

torisierungsstrategien sowohl auf die Tora als schriftlich fixierten Text als auch auf die mündliche Tora und entsprechende mündliche Diskurse. Clarissa Breu wendet in ihrer Analyse der Offenbarung des Johannes neuere Texthermeneutik in Anlehnung an Derrida an, nach der ein Text nicht eine Autorintention bietet, sondern sich seine Bedeutung und Wirklichkeit konstruiert. So sei Johannes als Zeuge für etwas außerhalb des Textes zu verstehen, wie auch das Wort Gottes außerhalb des Textes liege. Hermut Löhr widmet sich den neutestamentlichen und weiteren frühchristlichen Schriften und möchte mit seinem Beitrag eine Alternative zu der seiner Ansicht nach falschen Gegenüberstellung von echten und gefälschten Schriften anbieten: Die frühchristlichen Texte bekommen erst einen Autor, so dass nicht eine geschichtliche Gestalt hinter einem Text steht, sondern ein »Autor« erst entstehe, vielfach sogar mehrere Autoren hinter einem Text stehen. Uta Heil verlässt den Rahmen der biblischen Schriften und behandelt das Phänomen der Pseudepigraphie in der Alten Kirche. Nach einer Auseinandersetzung mit Bart Ehrman (Forgery and Counterforgery. The Use of Literary Deceit in Early Christian Polemics, 2013) stellt sie das Konzept der Autorität eines Lehrers und Märtyrers vor, das besonders attraktiv für vielfältige pseudepigraphe Zuschreibungen wurde. Aus der Perspektive der systematischen Theologie stellt Patrick Leistner die Autorvorstellung von Schelling in seiner biographischen Entwicklung vor. Bei Schellings Bild von Dante und Kant sei ein Konzept eines individuell konstruierten Geschichtsbewusstseins bei einzelnen Autoren erkennbar. Ideengeschichtlich verstehe Schelling hier einen Autor als Vollzugsmedium der geschichtlichen Vernunft. In kritischer Auseinandersetzung mit dem Schriftprinzip der »altprotestantischen Orthodoxie«, besonders aber mit dem Konzept von Pannenberg, Glaube und Geschichte zusammenzuführen, begründet Christian Danz die Schriftautorität neu aus ihrem religiösen Gebrauch: Ihre Autorität liege allein in ihrer Verwendung in religiöser Kommunikation vor. Religiöse Kommunikation, genauer gesagt, das gottesdienstliche Geschehen steht auch im Beitrag von Wilfried Engemann im Zentrum: Entgegen einer falschen Anwendung von biblischer Autorität als Machtwort entstehe eine Autorität der Schrift alleine aus einer Kommunikation des Evangeliums, die auf das Verstehen, nicht das Gehorchen ausgerichtet ist. Engemann wendet sich damit gegen eine unangemessene Aktualisierung, welche die wissenschaftliche Erforschung des Textes übergehe, sowie auch gegen eine pauschale Verehrung der Heiligen Schrift (Martin Nicol: »Bibelkult«). Die weiteren Beiträge des Jahrbuches gehen auf unterschiedliche Forschungsaktivitäten der Mitglieder der Fakultät zurück; manche davon entstanden im

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Vorwort

Rahmen eines Dissertationsvorhabens. Zwei Beiträge befassen sich mit Persönlichkeiten aus der österreichischen akademischen Protestantismusgeschichte (Karl W. Schwarz; Karl-Reinhart Trauner). Besonders hervorzuheben ist der Gastbeitrag von Andreas Lindemann, der auf einen Vortrag am 7. Dezember 2016 anlässlich der Gedenkveranstaltung zum Tod von Kurt Niederwimmer zurückgeht. Wir Herausgeberinnen danken auch Bischof Michael Bünker, uns seine Predigt, welche die historische Bedeutung des Jahres 1938 aufgreift, zum Abdruck zur Verfügung gestellt zu haben. Wir danken der Universität Wien für einen Druckkostenbeitrag und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, insbesondere Herrn Oliver Kätsch, für die gute Betreuung des Bandes. Die Herausgeberinnen wünschen eine anregende Lektüre! Uta Heil, Antje Klein und Annette Schellenberg

Wien, November 2018

Autor und Autorität

Marianne Grohmann

Deuteronomistische und rabbinische Autorisierungsstrategien der Tora1

Durch seine erzählerische Rahmenhandlung ist das Deuteronomium als Abschiedsrede des Mose an seinem Sterbetag, sozusagen als Vermächtnis des Mose, gestaltet. Das deuteronomistische Korpus von Gesetzen bzw. Tora im Sinne einer Summe von Einzelweisungen und Geboten ist in diese Rahmenhandlung eingeflochten und wird in Form von Reden präsentiert. Die Gestaltung als Rede, die Gotteswort weitergibt, favorisiert die Mündlichkeit als Autorisierungsstrategie. Die gesetzlichen Teile (mit ihrem Kern in Dtn 12–26) sind in paränetische Rahmenkapitel (Dtn 1–11 und Dtn 27–30) eingebunden. Textimmanent ist im Deuteronomium die Verschriftlichung der Tora notwendig, weil der Offenbarungsmittler Mose stirbt. Die literarische Entstehungsgeschichte zeigt einen komplexen Redaktionsprozess, der an die schriftliche Überlieferung der Texte gebunden ist. In deuteronomistischen Texten begegnen immer wieder Formulierungen, die dem ‫( ֵסֶפר ַהתּוֹ ָרה‬dem Tora-Buch/der Tora-Rolle) autoritativen Rang zusprechen. Dies ist z. B. in den rahmenden Teilen des Deuteronomiums (Dtn 1–4.27–32) oder in der Buchauffindungslegende (2 Kön 22) der Fall. Einzelne Textbeispiele aus diesem Kontext sollen nun unter der Fragestellung gelesen werden, wie Autoritätszuschreibung hier textimmanent geschieht: Lässt sich Verschriftlichung als Autorisierungsvorgang in den Texten festmachen? Welche Rolle spielt Mose in der Vermittlung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit? Liegen in diesen Beispielen aus deuteronomistischer Literatur Hinweise auf eine Würdigung biblischer Texte als (Teile) Heiliger Schrift im Sinne eines kanonischen Prozesses?2 Daran anknüpfend werden exemplarisch Autorisierungsstrategien der Tora in der rabbinischen Literatur mit ihrem Konzept der mündlichen Tora dargestellt. 1 Für Korrekturen und Anregungen danke ich Arnim Janssen, Jeanine Lefèvre, Karoline Rumpler und Annette Schellenberg. 2 Vgl. Konrad Schmid: Schriftwerdung und Kanonbildung, in: ders.: Schriftgelehrte Traditionsliteratur. Fallstudien zur innerbiblischen Schriftauslegung im Alten Testament (FAT 77), Tübingen 2001, 61–83; ders./Raymond F. Person (Hg.): Deuteronomy in the Pentateuch, Hexateuch, and the Deuteronomistic History (FAT 2,56), Tübingen 2012.

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Marianne Grohmann

Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf poststrukturalistischen Midraschlektüren, die die Autorität von Texten in die Lesenden und den Pluralismus ihrer Zugänge verlagern.

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Die »Wortsicherungsformel« Dtn 4,2; 13,1

Die sog. »Kanonformel« oder »Wortsicherungsformel« ist in zwei Versionen überliefert, Dtn 4,2 und Dtn 13,1. Dtn 4,2

‫תִספוּ ַעל־ַה ָדָּבר ֲא ֶשׁר ָאנ ִֹכי ְמַצ ֶוּה‬ ֹ ‫ל ֹא‬ ‫מר‬ ֹ ‫ֶאְתֶכם ְול ֹא ִת ְג ְרעוּ ִמ ֶמּנּוּ ִל ְשׁ‬ ‫ֶאת־ִמְצוֹת ְיה ָוה ֱאל ֵֹהיֶכם ֲא ֶשׁר ָאנ ִֹכי‬ ‫ְמַצ ֶוּה ֶאְתֶכם׃‬

Fügt nichts hinzu zu dem Wort, das ich euch gebiete, und nehmt nichts davon weg, um die Gebote JHWHs, eures Gottes, zu halten, die ich euch3 auftrage! Dtn 13,1 ‫ ֵאת ָכּל־ַה ָדָּבר ֲא ֶשׁר ָאנ ִֹכי ְמַצ ֶוּה‬Das ganze Wort, das ich euch ‫תֵסף‬ ֹ ‫שׂות ל ֹא־‬ ֹ ‫תו ִת ְשְׁמרוּ ַלֲע‬ ֹ ‫א‬ ֹ ‫ ֶאְתֶכם‬gebiete, das haltet, um es zu tun! ‫ ָעָליו ְול ֹא ִת ְג ַרע ִמ ֶמּנּוּ׃‬Füge nichts zu ihm dazu, und nimm nichts davon weg!

Dtn 4,2 gehört zu den paränetischen Rahmenkapiteln des Deuteronomiums, genauer zum jüngeren, äußeren Rahmen, Dtn 1–3.4.31–34.4 Der Vers ist in formelhafter Sprache gestaltet. Bezüglich der Datierung von Dtn 4 besteht weitgehender Konsens darin, dass es sich um ein spätdeuteronomistisches, nachexilisches Kapitel handelt.5 Eine genauere Eingrenzung zwischen dem 6. und dem 4. Jahrhundert v. Chr. ist allerdings schwer.6 Die Bezeichnung »Kanonformel« für Dtn 4,2; 13,1 ist insofern unpassend, als es noch nicht um einen »Kanon« im Sinne einer Liste von als autoritativ geltenden Schriften oder Büchern geht, sondern um die »Sicherung des Wortlauts eines autoritativen Textes.«7 »Wort-« oder »Textsicherungsformel« ist daher angemessener.8

3 Die LXX fügt hier ein σήμερον (»heute«) ein. Dass sie dies auch in Dtn 4,40; 6,6; 7,11; 8,1.11; 10,13; 11,8 u. ö. tut, deutet auf formelhaften Sprachgebrauch hin. Übersetzungen der Bibeltexte MG. 4 Vgl. Jan Christian Gertz: Tora und Vordere Propheten, in: ders. (Hg.): Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments (UTB 2745. Theologie, Religion), Göttingen 42010, (193–311) 255. 5 Z. B. Eckart Otto: Deuteronomium 1–11 1. Deuteronomium 1,1–4,43 (HThKAT), Freiburg i.Br. 2012, 539 u. a. ordnet Dtn 4,2 den nachexilischen »Autoren der deuteronomistischen Moabredaktion« zu. 6 Vgl. Lothar Perlitt: Deuteronomium 4 (BKAT 5,4), Neukirchen-Vluyn 2006, 301–302. 7 Otto: Deuteronomium 1–11 (s. Anm. 5), 539. 8 Vgl. Christoph Koch: Art. Kanonformel, 2012, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), verfügbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/23172/ [11. 07. 2018].

Deuteronomistische und rabbinische Autorisierungsstrategien der Tora

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Die formelhafte Gegenüberstellung von ‫»( יסף‬hinzufügen«) und ‫»( גרע‬wegnehmen«/»abschneiden«) kommt nur an diesen beiden Stellen vor (und in Koh 3,14, dort allerdings bezogen auf »alles, was Gott macht«). Aufgrund des seltenen Vorkommens dieser Formel wurde immer wieder eine gewisse Skepsis geäußert, ob sie etwas über die Anfänge des kanonischen Prozesses aussagt.9 Der Grundsatz »nichts weglassen – nichts hinzufügen« ist – allerdings in dieser, umgekehrten Reihenfolge – aus altorientalischen »Vorbildern« in unterschiedlichen Verwendungsweisen bekannt.10 Er ist also sehr gut im Alten Vorderen Orient und Ägypten verankert und lässt deshalb durchaus Rückschlüsse auf die Frühgeschichte der Kanonentwicklung zu. So heißt es z. B. in der Lehre des Cheti 20,3, einem Text aus der ersten Zwischenzeit (um 2216 bis 2025 v. Chr.), der in Schulen verwendet wurde, um den Beamtenberuf anzupreisen und Schüler zu motivieren, das Schreiben zu lernen:11 Wenn ein hoher Beamter dich mit einer Botschaft schickt, dann richte sie so aus, wie er sie gesagt hat: Lasse nichts fort, füge nichts hinzu. Wer vorschnell ist oder vergesslich, dessen Name bleibt nicht bestehen. Wer aber all seine Wesenszüge vervollkommnet hat, vor dem bleibt nichts verborgen.12

In ähnlicher Weise heißt es in der Lehre für Kagemni 2,5: Alles, was in dieser Buchrolle geschrieben steht, nehmt es auf, wie ich es gesagt habe. Geht (aber auch) nicht hinaus über das, was festgelegt ist.13

Der wortgetreuen Wiedergabe einer Botschaft als grundlegende Aufgabe eines Schreibers wird in diesen ägyptischen Texten ein hoher Stellenwert beigemessen.14 Texte bekommen dadurch Autorität, dass sie Bestandteile eines Curriculums der Schreiberausbildung sind. Das Rezitieren und Memorieren, also der mündliche Vortrag, haben die gleiche Autorität wie der schriftlich fixierte Text.15 9 Vgl. Brevard S. Childs: Analysis of a Canonical Formula. »It shall be recorded for a future generation«, in: Erhard Blum (Hg.): Die hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (Festschrift für Rolf Rendtorff zum 65. Geburtstag), Neukirchen-Vluyn 1990, (357–364) 357: »the formula is peripheral to the Old Testament«. 10 Vgl. Manfred Oeming: »Du sollst nichts hinzufügen und nichts wegnehmen« (Dtn 13,1). Altorientalische Ursprünge und biblische Funktionen der sogenannten Kanonformel, in: ders.: Verstehen und Glauben. Exegetische Bausteine zu einer Theologie des Alten Testaments (BBB 142), Berlin 2003, 121–137. 11 Vgl. Andreas Vonach: Die sogenannte »Kanon- oder Ptahotepformel«. Anmerkungen zu Tradition und Kontext einer markanten Wendung, in: PzB 6 (1997), (73–80) 75. 12 Die Lehre des Cheti 10,3 (Hellmut Brunner [Hg. und Übers.]: Die Weisheitsbücher der Ägypter. Lehren für das Leben, Zürich ²1991, [158–168] 166). 13 Die Lehre für Kagemni 2,5 (Hellmut Brunner [Hg. und Übers.]: Die Weisheitsbücher der Ägypter. Lehren für das Leben, Zürich ²1991, [134–136] 135). 14 Vgl. Vonach: Kanon- oder Ptahotepformel (s. Anm. 11), 76. 15 David M. Carr bemüht als moderne Analogie die Parallele zwischen den Texten als »Disketten« (oder allgemeiner: dem Speichermedium: CD-Roms, USB-Sticks) und den traditio-

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Marianne Grohmann

Die Verwendungsweise als »Schreiberformel« ist durchaus als Hintergrund für Dtn 4,2 vorstellbar: Das Anliegen der genauen Wiedergabe des Wortlautes kommt aus der mündlichen Traditionsweitergabe. Die in Dtn 4,2 nachgestellte, in Dtn 13,1 vorangestellte »Verpflichtungsformel« auf das Tun der Gebote lässt an einen Vertrag denken und weist Parallelen zu ähnlichen Formeln in altorientalischen Rechtszusammenhängen auf.16 Im mesopotamischen Raum ist die Sicherung des Wortlautes gegen Veränderungen in zahlreichen, stereotypen Formulierungen überliefert: »Ehrfurcht, Würde und Schutz des geschriebenen Wortes ist ein fester Topos der Literatur.«17 Eine häufige Verwendungsweise sind Urkunden, Verträge und Rechtssammlungen. So begegnet z. B. in einem Staatsvertrag Asarhaddons (ca. 681–669 v. Chr.) mit medischen Fürsten folgende Formulierung: Wer den Eid auf dieser Tafel ändert, vernachlässigt, verletzt, tilgt, […] lügt […] So möge Assur, der König der Götter, der [die Geschicke] bestimmt, ein böses, ungutes Geschick euch bestimmen, […] das Erlangen eines sehr hohen Alters möge er euch nicht bescheren […].18

Die Formel in Dtn 4,2 und 13,1 wird als »Schutzformel für einen Gesetzestext verwendet und es kann von einer Sicherung des Schriftkanons im Sinne einer verbindlichen Sammlung heiliger Schriften mit Sicherheit nicht die Rede sein.«19 Wichtig ist die Vollständigkeit und Vollzahl der Gebote, die nur in der Summe recht gehalten werden können. Die beiden Formulierungen ‫ ִל ְשׁמֹר‬und ‫ִת ְשְׁמרוּ‬ ‫שׂות‬ ֹ ‫ ַלֲע‬bestärken die ethische Komponente: Es geht um das Bewahren, Tun und Einhalten der Gebote. Es ist an beiden Stellen offen, worauf sich die Forderung, nichts hinzuzufügen und nichts wegzunehmen, bezieht: Mit »das Wort, das ich euch gebiete« (Dtn 4,2) bzw. »das ganze Wort, das ich euch gebiete« (Dtn 13,1) kann der unmittelbare Kontext der zweiten Rede des Mose gemeint sein, das Deuteronomium oder die gesamte Tora. Es betrifft wohl zunächst die Zusammenstellung von Tora im Sinne von mündlich ausgesprochenen Geboten: »das Wort« im Sinne der Botschaft JHWHs, die durch Mose übermittelt wird: »Moses ›ganzes Wort‹ kann nur als die

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nellen Kernüberlieferungen, die mündlich weitergegeben werden, als »Software:« vgl. David M. Carr: Schrift und Erinnerungskultur. Die Entstehung der Bibel und der antiken Literatur im Rahmen der Schreiberausbildung (AThANT 107), Zürich 2015, 18 (Originaltitel: Writing on the Tablet of the Heart. Origins of Scripture and Literature, Oxford 2005). Vgl. Georg Braulik: »Worauf ich euch heute eidlich verpflichte«. Beobachtungen zur Verpflichtungsformel des Deuteronomiums, in: Erasmus Gass/Hermann-Josef Stipp (Hg.): »Ich werde meinen Bund mit euch niemals brechen!« (Ri 2,1). Festschrift für Walter Groß zum 70. Geburtstag (HBS 62), Freiburg i.Br. 2011, (29–54) 44–45. Oeming: Ursprünge (s. Anm. 10), 125. Die Vasallenverträge Asarhaddons mit medischen Fürsten 35–37 (Rykle Borger [Hg. und Übers]: Assyrische Staatsverträge, in: TUAT 1,2, Gütersloh 1983, [155–176] 169). Vonach: Kanon- oder Ptahotepformel (s. Anm. 11), 78.

Deuteronomistische und rabbinische Autorisierungsstrategien der Tora

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ganze Willensoffenbarung Jahwes verstanden werden, als deren Mittler Mose berufen ist.«20 Gleichzeitig ist in der weiten Semantik von ‫ דבר‬durchaus auch ein verschriftlichter Text mit gemeint. In dem Begriff trifft sich das Wechselspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, das für die Schriftkulturen des Alten Orients charakteristisch ist.21 Das Ideal, den Wortlaut möglichst genau weiter zu geben, steht auf jeden Fall in Spannung zu der Tatsache, dass gerade das Deuteronomium in seiner überlieferten Form das Produkt eines langen Fortschreibungsprozesses ist. Die sog. Kanonformel lässt sich sowohl als Hinweis auf die besondere religiöse Dignität oder den normativen Charakter lesen, der biblischen Texten bereits in ihrer Entstehungsgeschichte zugeschrieben wird,22 als auch als Hinweis darauf, »dass man am Buch Deuteronomium zu der Zeit, als man mit ihr den Wortlaut sichern wollte, noch Veränderungen vorgenommen hat.«23 Für die Fragestellung, inwieweit es Autoritätszuschreibungen schon innerhalb biblischer Texte gibt, sind Dtn 4,2 und 13,1 auf jeden Fall relevante Texte: Autorisierung geschieht mit der Wortsicherungsformel durch – die Person des Mose, der das Gotteswort an die nächste Generation weiter gibt; – das Kriterium, den Wortlaut in der Weitergabe – sowohl mündlich als auch schriftlich – möglichst unverändert, ohne Kürzungen und Hinzufügungen, weiterzugeben; – eine vertragliche Verpflichtung auf das Tun der Gebote und damit eine Schutzformel für einen Gesetzestext.24

20 Perlitt: Deuteronomium (s. Anm. 6), 306. 21 Vgl. Carr: Schrift (s. Anm. 15), 15. 22 Vgl. z. B. Uwe Becker: Exegese des Alten Testaments. Ein Methoden- und Arbeitsbuch (UTB 2664), Tübingen 32011, 86–87; Johannes Taschner: »Fügt nichts zu dem hinzu, was ich euch gebiete, und streicht nichts heraus!« Die Kanonformel in Deuteronomium 4,2 als hermeneutischer Schlüssel der Tora, in: Georg Steins/ders. (Hg.): Kanonisierung – die Hebräische Bibel im Werden (BThSt 110), Neukirchen-Vluyn 2010, 46–63. 23 Raik Heckl: Das Alte Testament – Grundlage christlicher Identität. Von der Entstehung der autoritativen Literatur des Judentums zu einer Hermeneutik des Alten Testaments, in: ThLZ 143 (2018), (437–452) 440. 24 Der letztgenannte Aspekt, die halachische Dimension, wird in der rabbinischen Tradition verstärkt: So wird Dtn 13,1 in SifDev 82 auf drei Gebote bezogen, bei denen nichts verändert werden soll: das Blut-Sprengen im Opferkult im Jerusalemer Tempel, der Feststrauß beim Laubhüttenfest und das Sprechen des aaronitischen Segens.

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Marianne Grohmann

Zur »Auffindungslegende« einer Tora-Rolle (‫ )ֵסֶפר תּוֹ ָרה‬in 2 Kön 22–23

Die Auffindung eines ‫ֵסֶפר תּוֹ ָרה‬, einer Tora-Rolle/eines Tora-Buches/einer ToraSchrift im Tempel ist ein gleichermaßen markantes wie umstrittenes Ereignis der Geschichte Israels.25 Das Finden des Buches und die sog. Reform des Josia lassen sich auf das Jahr 622 v. Chr. datieren, nach 2 Kön 22,3 das 18. Jahr seiner Regierungszeit. Fragen der konkreten Abfolge dieser Reform, ihrer Historizität und Datierung, des Inhaltes der Rolle, der Einordnung in deuteronomistische Theologie etc. werden höchst kontrovers beurteilt.26 Das hat zwei Hintergründe: Zum einen gibt es eine Debatte über den historischen Quellenwert der biblischen Überlieferung für eine Rekonstruktion der Religionsgeschichte Israels, der häufig sehr gering veranschlagt wird. Und zum anderen ist die lange Zeit unumstrittene Gleichsetzung des Toradokuments, das nach dem Bericht in 2 Kön 22–23 vom Priester Hilkija im Tempelbezirk entdeckt wurde, mit dem »Urdeuteronomium« immer wieder bezweifelt worden und damit das religiöse Programm der Reform fraglich geworden. So glaubte man 1980 noch weitgehend, dass Einigung darüber bestehe, dass die Erzählung in 2 Kön 22–23 mehr oder weniger stark deuteronomistisch redigiert worden sei, dass das Gesetzesbuch mit einer Vorform des Deuteronomiums identifiziert werden könne und dass dem Reformbericht ein historischer Kern zugrunde liege. Mittlerweise sind selbst diese Eckpfeiler historischer Arbeit zunehmend in Frage gestellt worden.27 Bei 2 Kön 22–23 handelt »[…] es sich um eine vom Dtn selbst inspirierte Legende zur Legitimation des Dtn.«28 Der historische Wert des Textes ist zudem fragwürdig, weil er deuteronomistisch redigiert ist und weil archäologische Belege für die Reform des Josia fehlen. Trotz aller Kontroversen zwischen minimalistischen 25 Vgl. Bernd Diebner/Claudia Nauerth: Die Inventio des ‫ ֵסֶפר תּוֹ ָרה‬in 2 Kön 22. Struktur, Intention und Funktion von Auffindungslegenden, in: DBAT 18 (1984), (95–127) 95. 26 Vgl. dazu z. B. Norbert Lohfink: Zur neueren Diskussion über 2 Kön 22–23, in: ders. (Hg.): Das Deuteronomium. Entstehung, Gestalt und Botschaft (BEThL 68), Leuven 1985, 24–48; Hermann Spieckermann: Juda unter Assur in der Sargonidenzeit (FRLANT 129), Göttingen 1982. – Als kleine Auswahl aus der umfangreichen Literatur vgl. Walter Groß (Hg.): Jeremia und die »deuteronomistische Bewegung« (BBB 98), Weinheim 1995; Georg Braulik: Studien zum Deuteronomium und seiner Nachgeschichte (SBA 33), Stuttgart 2001; Karin Finsterbusch: Deuteronomium. Eine Einführung (UTB 3626), Göttingen 2012, 21–22; Philip R. Davies: The Authority of Deuteronomy, in: Diana V. Edelman (Hg.): Deuteronomy–Kings as Emerging Authoritative Books. A Conversation (SBL Ancient Near East Monographs 6), Atlanta 2014, 27–47. 27 Vgl. Michael Pietsch: Die Kultreform Josias. Studien zur Religionsgeschichte in der späten Königszeit (FAT 86), Tübingen 2013, 1–24; Geert Johan Venema: Reading Scripture in the Old Testament. Deuteronomy 9–10; 31 – 2 Kings 22–23 – Jeremiah 36 – Nehemiah 8 (OTS 48), Leiden 2004, 52–72. 28 Gertz: Tora (s. Anm. 4), 252.

Deuteronomistische und rabbinische Autorisierungsstrategien der Tora

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und maximalistischen Positionen wird heute davon ausgegangen, dass die in 2 Kön 22–23 geschilderten Vorgänge zumindest einen historischen Kern im 7. Jh. v. Chr. haben.29 Für unsere Fragestellung nach textimmanenten Autorisierungsstrategien ist v. a. 2 Kön 22,1–23,3 von Relevanz. Die Ereignisse werden in 2 Kön 22 so erzählt: Im Zuge von Ausbesserungsarbeiten am Tempel findet der Hohepriester Hilkija das ‫תּו ָרה‬ ֹ ‫»( ֵסֶפר ַה‬Tora-Buch«). Er bringt es zum Schreiber Schafan, dieser liest es zuerst für sich, geht dann zum König und liest es ihm vor. 2 Kön 22,8–11: 8 ‫ַויּ ֹאֶמר ִחְלִק ָיּהוּ ַה ֹכֵּהן ַה ָגּד ֹול‬ ‫תּו ָרה‬ ֹ ‫סֵּפר ֵסֶפר ַה‬ ֹ ‫ַעל־ ָשָׁפן ַה‬ ‫ָמָצאִתי ְבֵּבית ְיה ָוה ַו ִיּ ֵתּן ִחְלִק ָיּה‬ ‫ֶאת־ַה ֵסֶּפר ֶאל־ ָשָׁפן ַו ִיְּק ָרֵאהוּ׃‬ 9

‫סֵּפר ֶאל־ַה ֶמֶּלְך‬ ֹ ‫ַו ָיּב ֹא ָשָׁפן ַה‬ ‫ַו ָיּ ֶשׁב ֶאת־ַה ֶמֶּלְך ָדָּבר ַויּ ֹאֶמר‬ ‫ִה ִתּיכוּ ֲעָב ֶדיָך ֶאת־ַה ֶכֶּסף ַה ִנְּמָצא‬ ‫ַב ַבּ ִית ַו ִיּ ְתּ ֻנהוּ ַעל־ ַיד עֹ ֵשׂי‬ ‫ַה ְמָּלאָכה ַה ֻמְּפָק ִדים ֵבּית ְיה ָוה׃‬

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‫מר‬ ֹ ‫סֵּפר ַל ֶמֶּלְך ֵלא‬ ֹ ‫ַו ַיּ ֵגּד ָשָׁפן ַה‬ ‫ֵסֶפר ָנַתן ִלי ִחְלִק ָיּה ַה ֹכֵּהן‬ ‫ַו ִיְּק ָרֵאהוּ ָשָׁפן ִלְפ ֵני ַה ֶמֶּלְך׃‬

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‫מ ַע ַה ֶמֶּלְך ֶאת־ ִדְּב ֵרי‬ ֹ ‫ַו ְיִהי ִכּ ְשׁ‬ ‫תּו ָרה ַו ִיְּק ַרע ֶאת־ ְבּ ָג ָדיו׃‬ ֹ ‫ֵסֶפר ַה‬

Und Hilkija, der Hohepriester, sagte zu Schafan, dem Schreiber: Das Buch [die Rolle] der Tora habe ich im Haus JHWHs gefunden. Und Hilkija gab das Buch Schafan, und der las es. Und Schafan, der Schreiber, kam zum König und erstattete dem König Bericht und sagte: Deine Knechte haben das Geld, das sich im Haus befand, ausgeschüttet und es in die Hand der Handwerker gegeben, die am Haus JHWHs eingesetzt sind. Und Schafan, der Schreiber, berichtete dem König weiter: Ein Buch hat mir Hilkija, der Priester, gegeben. Und Schafan las es vor dem König. Und es geschah, als der König die Worte der Tora-Rolle hörte, da zerriss er seine Kleider.

Die Entdeckung des Toradokuments löst auf der Erzählebene die Trauer des Königs aus und führt zu den weiteren Ereignissen und Reformmaßnahmen. Hier wird vorausgesetzt, dass das aufgefundene Schriftstück einerseits eine Tora enthält, die bereits den frühen Generationen bekannt gewesen ist, und andererseits Gottes Zorn für den Fall ankündigt, dass die dort niedergelegten Weisungen missachtet werden. Die bestehende Kultform wird von Josia als falsch gegenüber dem gefundenen Schriftstück erkannt.30 Bei dem aufgefundenen ‫ֵסֶפר‬ 29 Vgl. Nadav Na’aman: The »Discovered Book« and the Legitimation of Josiah’s Reform, in: JBL 130 (2011), 47–62; Pietsch: Kultreform (s. Anm. 27), 471. 30 Vgl. Pietsch: Kultreform (s. Anm. 27), 39–45. – Die Rolle wird mit ihrer Fixierung zu einem eigenständigen Objekt und zu einer »gefährlichen Schrift«: vgl. Susanne Gillmayr-Bucher: »Wenn Worte einen Körper bekommen«, in: Franz Gruber u. a. (Hg.): Geistes-Gegenwart. Vom Lesen, Denken und Sagen des Glaubens. Festschrift für Peter Hofer, Franz Hubmann und Hanjo Sauer (LPTR 17), Frankfurt a.M. 2009, (37–50) 48.

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‫»( ַהתּוֹ ָרה‬Tora-Buch/-Rolle«) handelt es sich eindeutig um ein schriftliches Dokument. Der Artikel, mit dem das Dokument eingeführt wird, deutet darauf, dass seine Bekanntheit vorausgesetzt wird. Das Vorlesen und das Hören der Worte löst beim König Trauer aus. Schriftlichkeit und Mündlichkeit sind hier also eng verwoben. Es ist im Alten Orient üblich, dass das geschriebene Wort, das nur wenigen, hier dem Schreiber, zugänglich ist, dazu dient, das mündliche »Vorlesen/Ausrufen/Vortragen« (‫ )קרא‬zu unterstützen.31 Josia schickt eine Delegation seiner Regierung zu Hulda, um Gott zu befragen (2 Kön 22,13). Ihre Prophezeiung ist Anlass für umfangreiche Maßnahmen Josias, eine Kultzentralisation im Sinne des JHWH-Monotheismus (2 Kön 22,11– 20).32 Mit der Gottesbefragung über die Prophetin Hulda (2 Kön 22,14) ist eine weitere narrative Autorisierungsstrategie gegeben. In der rabbinischen Tradition gilt Hulda neben Sara, Mirjam, Debora, Hanna, Abigajil und Esther als eine der sieben jüdischen Prophetinnen (bMeg 14a). Bei jeder wird mit Schriftstellen begründet, warum sie Prophetin ist. Die Rabbinen interessiert v. a. die Frage: »Wie kommt es, dass sie an dem Ort, an dem es Jeremia gab, weissagte [bzw. als Prophetin wirkte]?«, und sie finden darauf drei Antworten (bMeg 14b): »Die Weisen des Lehrhauses von Rab sagten im Namen Rabs: Hulda war eine Verwandte von Jeremia, und er nahm es ihr nicht übel.« Doch diese Antwort ist noch nicht zufriedenstellend, und so fragen sie von einer anderen Seite: »Wie kommt es, dass Joschija selbst Jeremia beiseiteließ und zu ihr schickte?« Die Antwort der Schüler aus dem Lehrhaus von R. Schila lautet: »Weil die Frauen barmherziger [‫ ]רחמניות‬sind.« Und die dritte Antwort – von R. Jochanan – lautet: »Weil Jeremia nicht da war, denn er ging, die zehn Stämme zurück zu holen.«33 Die Rabbinen sehen also die gleichzeitige Wirkung von Hulda und Jeremia und versuchen zu erklären, warum der König Joschija seine Delegation nicht zu Jeremia, sondern zu Hulda schickt – eine Tatsache, die im Bibeltext als selbstverständlich hingenommen wird. Nach 2 Kön 23,1–3 wird der Inhalt des Schriftstücks dem ganzen Volk bekannt gemacht, indem es vorgelesen wird. Daraufhin verpflichtet sich zunächst der König auf den Inhalt der Schrift, auf die Gebote, Satzungen und Ordnungen, und das Volk macht es ihm nach (V. 3b).

31 Vgl. Karel Van der Toorn: Scribal Culture and the Making of the Hebrew Bible, Cambridge, MA 2007, 12. 32 Vgl. Marianne Grohmann: Hulda, die Prophetin (2 Kön 22,14–20), in: CV 45 (2003), 209–216. 33 Deutsche Übersetzungen MG.

Deuteronomistische und rabbinische Autorisierungsstrategien der Tora

2 Kön 23,3: ‫ַויּ ֹאֶמר ַה ֶמֶּלְך ַעל־ָהַעמּוּד ַו ִיְּכר ֹת‬ ‫ֶאת־ַה ְבּ ִרית ִלְפ ֵני ְיה ָוה ָלֶלֶכת ַאַחר‬ ‫מר ִמְצוָֹתיו ְוֶאת־ֵע ְדוָֹתיו‬ ֹ ‫ְיה ָוה ְוִל ְשׁ‬ ‫ְוֶאת־ֻח ֹקָּתיו ְבָּכל־ֵלב וְּבָכל־ ֶנֶפשׁ‬ ‫ְלָהִקים ֶאת־ ִדְּב ֵרי ַה ְבּ ִרית ַה ֹזּאת‬ ‫מד‬ ֹ ‫ַה ְכֻּתִבים ַעל־ַה ֵסֶּפר ַה ֶזּה ַו ַיֲּע‬ ‫ָכּל־ָהָעם ַבּ ְבּ ִרית׃‬

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Und der König stand auf der Säule und schloss den Bund vor JHWH, JHWH nachzufolgen, seine Gebote, seine Zeugnisse und seine Ordnungen zu bewahren mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele, um die Worte dieses Bundes aufzurichten, die in diesem Buch aufgeschrieben sind. Und das ganze Volk stand in dem Bund.

Autorisierung entsteht hier durch einen Bundesschluss des Königs und des Volkes mit Gott. Das Buch (die Rolle) wird als bekannt vorausgesetzt. Der Bund dient dazu, die geschriebenen Worte zu verwirklichen. Die Formulierung ist hier eine andere: »die Worte dieses Bundes, die in diesem Buch aufgeschrieben sind«. Die Toraschrift wird mit der Bundesurkunde gleichgesetzt (vgl. Dtn 19,19–20).34 Diese Texte aus der deuteronomistischen Literatur sind Beispiele dafür, wie Verschriftlichung als Autorisierungsvorgang gedacht werden kann. So zeigen sie exemplarisch auf, dass die komplexe Literatur- und Redaktionsgeschichte der biblischen Bücher und die Entstehung des Kanons zwar als unterschiedliche Vorgänge voneinander zu unterscheiden, aber gleichzeitig eng miteinander verwoben sind und sich nur zum Teil klar voneinander trennen lassen. Verschriftlichung ist nicht vom kanonischen Prozess zu trennen. Mit der Rede vom »kanonischen Prozess« gelingt es, den dynamischen Charakter dieser Entwicklung der Autoritätszuschreibung zu beschreiben, die in den biblischen Texten beginnt und sich in der nachbiblischen Festsetzung unterschiedlicher Kanones fortsetzt.35 Es lässt sich schwer genau feststellen, ab wann »Tora« an sich als textliche Größe begriffen wird. Auch wenn Formulierungen wie ‫ ֵסֶפר ַהתּוֹ ָרה‬auf ein Buch bzw. eine Schriftrolle hindeuten, wird daneben ständig die mündliche Weitergabe der Literatur praktiziert und hat gleichermaßen autoritativen Charakter.36 In beiden Textbeispielen wird Verbindlichkeit nicht nur durch Worte – schriftlich und mündlich – sondern auch durch einen Vertrag, der das Tun der Gebote sicherstellen soll, hergestellt.

34 Vgl. Pietsch: Kultreform (s. Anm. 27), 161. 35 Vgl. Schmid: Schriftwerdung (s. Anm. 2), 61; Markus Witte u. a. (Hg.): Die deuteronomistischen Geschichtswerke. Redaktions- und religionsgeschichtliche Perspektiven zur »Deuteronomismus«-Diskussion in Tora und Vorderen Propheten (BZAW 365), Berlin 2006. 36 Vgl. Thomas Pola: »Wer nicht auswendig lernt, ist des Todes schuldig« (mAv 1,13). Der bleibende Vorrang des mündlichen vor dem schriftlichen Wort – Indizien aus dem Alten Testament, in: ThBeitr 45 (2014), 16–31.

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Autorisierungsstrategien der Tora in der rabbinischen Literatur

Der Begriff »Tora« hat, ausgehend vom biblischen Sprachgebrauch, im rabbinischen Judentum ein weites Bedeutungsspektrum: Er kann von der einzelnen Weisung, einem einzelnen Gebot, über den Pentateuch auch die gesamte jüdische Bibel, den Tanach meinen. Darüber hinaus umfasst Tora die Summe von schriftlicher und mündlicher Tora: Die Unterscheidung und gleichzeitig die Zusammengehörigkeit von schriftlicher und mündlicher Tora, die nach rabbinischer Vorstellung beide dem Mose am Sinai gegeben wurden, ist ein grundlegendes Konzept jüdischer Hermeneutik: Als Gott sich am Sinai offenbarte, um Israel die Tora zu geben, sagte er sie dem Mose der Reihe nach: Schrift [Miqra] und Mischna, Talmud und Aggada, wie es heißt: »Und Gott sprach alle diese Worte« (Ex 20,1). – Sogar was der Schüler den Lehrer fragt, sagte Gott Mose in dieser Stunde. […] Ich gebe ihnen die Schrift [Miqra] schriftlich, aber die Mischna, den Talmud und die Aggada mündlich: »Schreibe dir«– das ist die Schrift, »denn aufgrund dieser Worte habe ich einen Bund geschlossen mit dir« (Ex 34,27) – das ist die Mischna und der Talmud, denn sie unterscheiden zwischen Israel und den Völkern (ShemR 47,1).37

Mit dieser Vorstellung wird die rabbinische Autorität in eine Linie mit der Offenbarung an Mose am Sinai gestellt. Die standardisierte Bezeichnung für schriftliche (‫ )תורה שבכתב‬und mündliche Tora (‫ )תורה שבעל פה‬begegnet erst in amoräischer Zeit (ca. 300–500 n. Chr.), eine Vorform findet sich aber in SifDev 351.38 Das Konzept der Mündlichkeit ist eng mit dem lauten Lesen, Memorieren und Auswendiglernen im rabbinischen Lehrhaus verknüpft.39 Es setzt schriftlich fixierte Bibeltexte voraus, und die mündlichen Diskussionen wurden schriftlich festgehalten. Es ist also insgesamt von einem Ineinander von Schriftlichkeit und Mündlichkeit auszugehen: »Was herauskommt ist ein ›zirkuläres‹ Verständnis der Wechselbeziehung der rabbinischen Texte und ihrer mündlichen performativen Darstellung: Mündlichkeit, die in einer Textlichkeit gründet, die mündlich im Fluss bleibt.«40 Das Konzept der Mündlichkeit der rabbinischen

37 Vgl. die älteren, talmudischen Parallelen jPea 2,4; bMeg 19b. – An anderer Stelle (bMen 29b) heißt es, dass auch alle Halachot, die einst Rabbi Akiva von den »Krönchen« der ToraBuchstaben ableiten wird, bereits Mose am Sinai gegeben wurden. 38 Vgl. z. B. bSuk 46a; bShab 31a; zum Zusammenhang von schriftlicher und mündlicher Tora vgl. Hermann L. Strack/Günter Stemberger: Einleitung in Talmud und Midrasch (Beck’sche Elementarbücher), München 71982, 41–54; Manuel Goldmann: »Die große ökumenische Frage …« Zur Strukturverschiedenheit christlicher und jüdischer Tradition und ihrer Relevanz für die Begegnung der Kirche mit Israel (NBST 22), Neukirchen-Vluyn 1997, 137–147. 39 Vgl. Gerhard Langer: Midrasch (Jüdische Studien 1/UTB 4675. Judaistik), Tübingen 2016, 43. 40 Steven D. Fraade: Literary Composition and Oral Performance in Early Midrashim, in: Oral Tradition 14 (1999), (33–51) 36 (Übersetzung von Langer: Midrasch [s. Anm. 39], 44).

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Tradition ist für die Entwicklung jüdischer Identität zentral und hat sich zum Teil in Abgrenzung vom Christentum entwickelt.41 Ein bekanntes Beispiel für die Vielfalt rabbinischer Autorisierungsstrategien ist die berühmte Legende im Talmud-Traktat Baba Metzia 59b:42 Es wird gelehrt: An jenem Tag brachte Rabbi Eliezer alle Einwände der Welt vor, aber sie [i. e. seine Kollegen] akzeptierten sie nicht. Da sagte er zu ihnen: »Wenn die Halacha nach mir geht, wird es dieser Johannisbrotbaum beweisen.« Da rückte der Johannisbrotbaum 100 Ellen von seinem Ort, manche sagen: 400 Ellen. Sie erwiderten ihm: »Man bringt keinen Beweis von einem Johannisbrotbaum.« Er [R. Eliezer] sprach erneut zu ihnen: »Wenn die Halacha nach mir geht, wird es der Wasserkanal beweisen.« Da trat der Wasserkanal zurück. Sie erwiderten ihm: »Man bringt keinen Beweis von einem Wasserkanal.« Er sprach erneut zu ihnen: »Wenn die Halacha nach mir geht, werden es die Mauern des Lehrhauses beweisen.« Da neigten sich die Mauern des Lehrhauses [und drohten] einzustürzen. Da schrie Rabbi Jehoschua sie an und sagte zu ihnen: »Wenn die Gelehrten[schüler] einander in der Halacha besiegen [‫]מנצחים‬, was geht das euch an?« Daraufhin stürzten sie [die Mauern] nicht ein wegen der Ehre von Rabbi Jehoschua und richteten sich nicht [wieder] auf wegen der Ehre von Rabbi Eliezer, sondern sie stehen noch immer geneigt. Er [Rabbi Eliezer] sprach erneut zu ihnen: »Wenn die Halacha nach mir geht, wird man es vom Himmel beweisen.« Da erklang eine himmlische Stimme [‫בת‬ ‫ ;קול‬wörtl.: »Tochter der Stimme«] und sagte: »Was habt ihr gegen Rabbi Eliezer? Die Halacha geht doch überall nach ihm!« Da stellte sich Rabbi Jehoschua auf seine Füße und sagte: »Sie ist nicht im Himmel!« [‫ ;ל ֹא ַב ָשַּׁמ ִים ִהוא‬Dtn 30,12]. Was heißt: »Sie ist nicht im Himmel«? Rabbi Jirmeja sagte: »Weil die Tora vom Berg Sinai (‫ )מהר סני‬gegeben wurde, achten wir nicht auf eine himmlische Stimme; denn du hast schon am Berg Sinai in der Tora geschrieben: sich der Mehrheit zu beugen [‫ַאֲח ֵרי ַר ִבּים‬ ‫טּת‬ ֹ ‫ ;ְלַה‬Ex 23,2].« Es traf Rabbi Nathan [den Propheten] Elia und sagte zu ihm: »Was tat der Heilige – Gelobt Sei Er – in dieser Stunde?« Er [Elia] antwortete ihm: »Er schmunzelte und sagte: Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt [‫«!]נצחוני בני‬43

41 Vgl. Israel Jacob Yuval: The Orality of Jewish Oral Law. From Pedagogy to Ideology, in: Lothar Gall/Dietmar Willoweit (Hg.): Judaism, Christianity, and Islam in the Course of History. Exchange and Conflicts (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 82), Oldenburg 2011, 237–260. 42 Der Text steht im Zusammenhang mit einer Diskussion über die Reinheit eines Ofens – des Ofens von Aknai. Für die weiteren Ausführungen hat dieser halachische Kontext jedoch keine Relevanz und wird daher hier ausgeklammert – vgl. zum Folgenden Marianne Grohmann: Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 2000, 188–197. 43 Der (eigenen) Übersetzung liegt die übliche Druckausgabe des babylonischen Talmud zugrunde (ND der Ausgabe Romm, Wilna 1880–1886). Die Legende ist in zwei Rezensionen überliefert: im palästinischen Talmud: yMQ 81c,68–81d,13 (III 1) (Übersetzung von HeinzPeter Tilly: Übersetzung des Talmud Yerushalmi 2,12. Moed Qatan. Halbfeiertage, hg. v. Martin Hengel, Tübingen 1995, 54–56) und in der hier vorliegenden Fassung des babylonischen Talmuds: bBM 59b; sie wird später in MHG Wa 282–283 wieder aufgenommen. Eine Zusammenstellung der Übersetzungen beider Rezensionen findet sich bei Peter Kuhn: Bat

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In diesem Midrasch44 sind Texte aus ganz verschiedenen Epochen auf eine Ebene gebracht, ineinander und in den Kontext einer Diskussion der Gelehrten verwoben: Die rabbinischen Diskussionen greifen auf Bibelstellen aus der als autoritativ angesehenen Schrift zurück. Die Zuordnung zu einzelnen Rabbinen soll den Interpretationen Autorität verleihen, Datierungen bleiben aber hypothetisch.45 So stammt die Diskussion im Lehrhaus zwischen Rabbi Eliezer und seinen Gegnern, von denen Rabbi Jehoschua in besonderer Weise hervortritt, vermutlich aus tannaitischer Zeit: In vier Beweisgängen versucht Rabbi Eliezer seine Kollegen von der Richtigkeit der von ihm vertretenen Halacha zu überzeugen. Rabbi Eliezer (ben Hyrkanos) gehört zur zweiten Generation der Tannaiten (um 90 bis 130 n. Chr.) und lehrte in Lydda. Rabbi Jehoschua (ben Chananja) ist ebenfalls Tannait der zweiten Generation. Er wirkte in Peqiin und tritt häufig in Kontroversen mit Rabbi Eliezer auf.46 Die Erklärung zu Dtn 30,12 in Aramäisch lässt sich aufgrund des genannten Rabbi Jirmeja in amoräische Zeit datieren. Sie greift wieder auf ein Schriftzitat – Ex 23,2 – zurück. Abgeschlossen wird die Legende mit einer Begegnung von Rabbi Nathan mit Elia und Reaktion Gottes auf die Lehrhausdiskussion: Diese Fortsetzung fehlt im Jerusalemer Talmud. Sie wird ebenfalls – aufgrund der aramäischen Sprache – in amoräische Zeit datiert.47

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Qol. Die Offenbarungsstimme in der rabbinischen Literatur. Sammlung, Übersetzung und Kurzkommentierung der Texte (EichM 13, Abt. Philosophie und Theologie 5), Regensburg 1989, 30, 31, 56. Hier soll der Text aus bBM 59b Grundlage der Diskussion sein, auf literarkritische Vergleiche wird verzichtet. – Vgl. dazu: Alexander Guttmann: The Significance of Miracles for Talmudic Judaism, in: HUCA 20 (1947), 363–406; Albert I. Baumgarten: Miracles and Halakah in Rabbinic Judaism, in: JQR 73 (1983), 238–253. Diese wenigen Hinweise sind nur ein kleiner Ausschnitt aus der umfangreichen Sekundärliteratur zu dieser Stelle. Die talmudische Legende in bBM 59b ist nicht Midrasch im Sinne einer literarischen Gattung, sondern in einem weiten Verständnis von Midrasch als aggadischer rabbinischer Interpretationspraxis. In der rabbinischen Literatur werden diverse Auslegungen häufig im Namen eines bestimmten Rabbinen überliefert. In den meisten Fällen ist es nicht möglich, eine absolute Chronologie aufzustellen, in einer relativen Chronologie werden aber die Rabbinen in Generationen eingeteilt (fünf Generationen von Tannaiten, sieben von Amoräern). Allerdings ist die Namensüberlieferung insgesamt problematisch: Aus dem kritischen Apparat der Textausgaben geht hervor, dass gerade bei den Namen die Überlieferung in Handschriften und Drucken sehr unsicher ist: Häufig werden sie untereinander verwechselt, die Verwendung von Abkürzungen führt zu verschiedenen Deutungen etc. Außerdem wäre es, auch wenn sich der ursprüngliche Name der Rabbinen erschließen ließe, nur in den seltensten Fällen wahrscheinlich, dass tatsächlich ipsissima vox bestimmter Rabbinen vorliegt. Viel wichtiger als der Name ist der Inhalt der überlieferten Tradition. – Zur ausführlichen Diskussion dieser Problematik vgl. Strack/Stemberger: Einleitung (s. Anm. 38), 65–103; dort findet sich auch eine Auflistung der wichtigsten Rabbinen. Vgl. Strack/Stemberger: Einleitung (s. Anm 38), 76–78. Vgl. Jonah Fraenkel: Darkhe ha-’aggadah, Giv’atajim 1991, 626 (Anm. 116); anders Gold-

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Aus der Hebräischen Bibel werden Dtn 30,12 und Ex 23,2 zitiert: Ex 23,2 steht im Kontext von Ex 23,1–9, sozialen Geboten im Rahmen des Bundesbuches.48 Es geht um das gerechte Verhalten, Unparteilichkeit in der Rechtsprechung. Ex 23,2 ist ein Vers, der textkritisch Schwierigkeiten bereitet und semantische Leerstellen enthält; der Masoretische Text ist problematisch und in der vorliegenden Form schwer verständlich: ‫ ל ֹא־ִתְה ֶיה ַאֲח ֵרי־ ַר ִבּים ְל ָרעֹת ְול ֹא־ַתֲע ֶנה ַעל־ ִרב‬Sei nicht nach der Mehrheit zum ‫טּת׃‬ ֹ ‫ ִל ְנטֹת ַאֲח ֵרי ַר ִבּים ְלַה‬Bösen, und antworte nicht im Rechtsstreit, um dich zu beugen der Mehrheit, zu biegen.

Unklar ist die Bedeutung von ‫על־רב‬: Während der masoretische Text (MT) ‫ִרב‬ vokalisiert (in einem Streit), geht die Septuaginta (LXX) von ‫»( ַרב‬Menge«, »Mehrheit«) aus und übersetzt μετὰ πλήθους. Unklar ist weiters der Bezug des letzten Wortes, ‫טּת‬ ֹ ‫»( ְלַה‬beugen«, »neigen«, »biegen«, »abweichen«, »abfallen«): Seine Bedeutung hängt von den verschiedenen Möglichkeiten der syntaktischen Unterteilung des Verses ab. Wird ‫»( ִל ְנטֹת ַאֲח ֵרי ַר ִבּים‬sich nach der Mehrheit zu richten«) zusammengezogen, wirkt ‫טּת‬ ֹ ‫ ְלַה‬entweder überflüssig oder eliptisch: 49 Daher ergänzt LXX hier κρίσιν. In dieser Form ist der Vers ein Plädoyer gegen Mehrheitsentscheidungen, wenn dadurch das Recht gebeugt würde. Die rabbinische Tradition bis hin zu Raschi teilt hier den Vers anders ab50 und zieht ‫ ִל ְנטֹת ַאֲח ֵרי ַר ִבּים‬zusammen, so dass folgende Übersetzung zustande kommt: Sei nicht nach der Mehrheit zum Bösen; antworte nicht, dich einem Streit zuzuneigen; folge der Mehrheit.

Durch diese Abtrennung wird das ‫»( ל ֹא‬nicht«) nur auf den mittleren Versteil bezogen und das ‫טּת‬ ֹ ‫»( ְלַה‬beugen«, »neigen« etc.) am Schluss nicht in diese Negation eingeschlossen; es entsteht so geradezu der gegenteilige Sinn. Das zweite Schriftzitat, Dtn 30,11–14, gehört zum Rahmen des Deuteronomiums (Dtn 1–4; 29–32), ist Teil agendarischer Notizen über den Bundesschluss zwischen Gott und Israel (Dtn 29–30), literarisch gefasst als Moserede, vermutlich in spätexilischer Zeit:51

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mann: Die große ökumenische Frage (s. Anm. 38), 172, der darin eine Fortsetzung der Baraita sieht. Zu den komplizierten Datierungsfragen vgl. Cornelis Houtman: Das Bundesbuch. Ein Kommentar (DMOA 24), Leiden 1997; Ludger Schwienhorst-Schönberger: Das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33). Studien zu seiner Entstehung und Theologie (BZAW 188), Berlin 1990. Die Übersetzungen der Lutherbibel (1984 und 2017) folgen eher den Ergänzungen der Septuaginta. Das Spiel mit der Satzabtrennung ist durchaus eine weit verbreitete Praxis rabbinischer und mittelalterlicher jüdischer Exegese. – Vgl. z. B. Sifra Qid 1 zu Lev 19,10. Vgl. Georg Braulik: Das Buch Deuteronomium, in: Erich Zenger: Einleitung in das Alte Testament (KStTh 1,1), Stuttgart 21996, 76–88.

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Dtn 30,11–14: 11 ‫ ִכּי ַה ִמְּצ ָוה ַה ֹזּאת ֲא ֶשׁר ָאנ ִֹכי ְמַצ ְוָּך‬Denn dieses Gebot, das ich dir ‫ ַהיּ ֹום ל ֹא־ ִנְפֵלאת ִהוא ִמ ְמָּך ְול ֹא‬heute gebiete, ist nicht zu ‫חָקה ִהוא׃‬ ֹ ‫ ְר‬wunderbar für dich und nicht zu fern. 12 ‫מר ִמי‬ ֹ ‫ ל ֹא ַב ָשַּׁמ ִים ִהוא ֵלא‬Es ist nicht im Himmel, dass man ‫ ַיֲעֶלה־ ָלּנוּ ַה ָשַּׁמ ְיָמה ְו ִי ָקֶּחָה ָלּנוּ‬sagen könnte: Wer wird uns zum ‫אָתהּ ְו ַנֲע ֶשׂ ָנּה׃‬ ֹ ‫ ְו ַי ְשִׁמֵענוּ‬Himmel hinaufsteigen und es uns holen und verkündigen, dass wir es tun? 13 ‫מר ִמי‬ ֹ ‫ ְול ֹא־ֵמֵעֶבר ַל ָיּם ִהוא ֵלא‬Und es ist nicht jenseits des ‫ ַיֲעָבר־ָלנוּ ֶאל־ֵעֶבר ַה ָיּם ְו ִי ָקֶּחָה‬Meeres, dass man sagen könnte: ‫אָתהּ ְו ַנֲע ֶשׂ ָנּה׃‬ ֹ ‫ ָלּנוּ ְו ַי ְשִׁמֵענוּ‬Wer wird uns hinüber schreiten über das Meer und es uns holen und verkündigen, dass wir es tun? 14 ‫אד‬ ֹ ‫ ִכּי־ָקר ֹוב ֵאֶליָך ַה ָדָּבר ְמ‬Sondern sehr nahe ist dir das Wort ‫ת ו׃‬ ֹ ‫שׂ‬ ֹ ‫ ְבִּפיָך וִּבְלָבְבָך ַלֲע‬in deinem Mund und in deinem Herzen, dass du es tust.

Mose ermahnt Israel in diesem Text, das Gebot der Tora zu halten: Es ist nahe, d. h. kann erfüllt werden. Die Erfüllung der Gebote der Tora liegt nicht jenseits menschlicher Erreichbarkeit, nicht in weiter Ferne, die nur durch Wunder zu überwinden wäre, sondern ist Israel ganz nahe. Die Legende lässt sich als Beispiel für rabbinische Intertextualität interpretieren: »a nearly explicit commentary on midrashic intertextuality«52: Im vorliegenden Endtext sind unterschiedliche Textebenen ineinander verwoben. Bibeltexte werden gelesen, aus ihrem Kontext genommen, zur Unterstützung der eigenen Position herangezogen und miteinander und mit der eigenen Realität verschränkt. Die rabbinischen Argumentationen intendieren, eine Autorität für sich zu beanspruchen, die jener des Mose ähnlich ist oder sie sogar übersteigt. Durch den Rückgriff auf die Autorität der Tora wird für die rabbinischen Texte selbst Autorität beansprucht: Rabbi Jehoschua greift im Rahmen der Diskussion auf Dtn 30,12 zurück, um seinem Argument gegen die göttliche Stimme Gewicht zu verleihen. Er schafft eine neue Bedeutung dadurch, dass er diesen Vers in einen neuen Kontext schreibt: Soll in Dtn 30,11–14 die Erfüllbarkeit der Tora, ihre Nähe zum Menschen betont werden, so wird diese Nähe in der rabbinischen Diskussion ganz wörtlich genommen und zugespitzt: Die Tora ist nicht mehr im Himmel, sondern im Lehrhaus. Im Rahmen der amoräischen Erklärung zu Dtn 30,12 durch Rabbi Jirmeja wird zur Unterstützung auf ein weiteres Schriftzitat – Ex 23,2 – zurückgegriffen: Durch die abweichende Abtrennung wird Ex 23,2 gegen den Strich gelesen, im ursprünglichen Kontext meint er gerade nicht die Entscheidung nach der 52 Daniel Boyarin: Intertextuality and the Reading of Midrash (ISBL), Bloomington, IN 1990, 33.

Deuteronomistische und rabbinische Autorisierungsstrategien der Tora

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Mehrheit. Dass die Tora vom (‫ )מ־‬Berg Sinai gegeben wurde, wird ganz wörtlich verstanden, nicht nur als Herkunft, sondern als Weggeben: Die Tora und ihre Deutung sind nicht mehr im Himmel, sondern sie sind ins Lehrhaus gegeben worden. Diese Auslegung kommt dadurch zustande, dass ‫טּת‬ ֹ ‫»( ְלַה‬beugen«, »neigen« etc.) am Versende überflüssig wirkt, nach rabbinischem Grundsatz aber in der Tora nichts überflüssig sein darf.53 Rabbi Jirmeja macht durch seine Auslegung einen Grundsatz der Rechtsprechung (Ex 23,2) zu einem allgemeinen hermeneutischen Prinzip. Interessant ist hier die Verschränkung der Ebenen, der Bibeltexte und der Diskussion darüber: Die mündliche Tora wird im interaktiven Prozess dialektischer Lektüre der Tora entwickelt. Es ist nicht nur ein Diskurs auf der Metaebene, sondern gleichzeitig schafft R. Jehoschua mündliche Tora durch seinen Widerspruch, seine Diskussion. Die Textebenen vermischen sich auch in der Erklärung von R. Jirmeja. Es ist keine Diskussion über den Tora-Text, sondern im und aus dem Text der schriftlichen Tora: Sie wird diskutiert, und dadurch wird mündliche Tora kreiert, die, wie das Schmunzeln Gottes am Schluss zeigt, auch als legitim angesehen wird. Widerspruch ist ein wesentlicher Bestandteil des rabbinischen Diskurses in bBM 59b: R. Yehoshua schreit die Mauern an, er stellt sich im wahrsten Sinne des Wortes auf seine Füße und argumentiert mit Gott über Gottes eigenen Text, indem er der göttlichen Stimme ein Tora-Zitat entgegenhält. Die Legende – v. a. die vier Beweisgänge von R. Eliezer – zeigt, dass die rabbinische Diskussion keine rein theoretische ist, sondern dass sie von einem aktuellen Problem – der Reinheit eines Ofens – ausgeht, dass sie in das Leben eingreift, Naturerscheinungen, die Mauern des Lehrhauses und zuletzt sogar Gott selbst bewegen kann.54 In dieser Legende wird das Dilemma jeder Auslegung deutlich gemacht: Die schief stehenden Mauern des Lehrhauses sind quasi ein Symbol für einander widersprechende Auslegungsmöglichkeiten. Gleichzeitig wird eine spannungsvolle Lösung für das Dilemma der Grenzen der Interpretation, der Autorität der Schrift angeboten: In der Erklärung von R. Jirmeja wird es so gelöst, dass gegen eine ausufernde Interpretationspraxis – durch intertextuelle Einfügung von 53 Der unvokalisierte Konsonantentext gilt als autoritativ und darf nicht verändert werden; unterschiedliche Bedeutungen entstehen durch verschiedene Vokalisierungen, Satzabtrennungen etc. – Vgl. Arnold Goldberg: Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger, in: FJB 15 (1987), 1–15. 54 Wie sehr Lehre und Lebenswirklichkeit miteinander verknüpft sind, drückt sich etwa in dem Grundsatz aus, dass der Mensch durch die Gebote leben soll (‫ ; ָוַחי ָבֶּהם‬Lev 18,5) und nicht sterben, und dass daher Lebensgefahr die Gebote außer Kraft setzt (bSanh 74a par.). – Vgl. Goldmann: Die große ökumenische Frage (s. Anm. 38), 132: »So ist die Torah per se in umfassendster Weise auf die Erfahrungswirklichkeit bezogen und führt unter den verschiedensten Perspektiven in die Auseinandersetzung mit ihr hinein.«

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Ex 23,3 (»sich der Mehrheit zu beugen«) – das Kriterium der Mehrheit der Interpretationsgemeinschaft eingeführt wird. Selbst die göttliche Stimme, die wie ein deus ex machina vom Himmel kommt, hat zunächst nicht das letzte Wort, sondern wird ins Lehrhaus zurückgegeben.55 Hier werden zwei gegensätzliche Standpunkte auf unterschiedliche Weise göttlich autorisiert: R. Eliezer wird durch eine Offenbarungsstimme56 autorisiert, die sagt, dass die Halacha immer nach ihm geht. Gleichzeitig wird auch R. Jirmeja, der mit Gottes eigenen Worten gegen diese göttliche Stimme Einspruch erhebt, durch das Schmunzeln Gottes am Schluss der Legende legitimiert. Zuletzt hat doch Gott selbst das letzte Wort, indem er im Prinzip seine Niederlage eingesteht – »meine Kinder haben mich besiegt« –, andererseits durch sein Schmunzeln die Mehrheitsentscheidung durchaus akzeptiert. Die Tatsache, dass die Entscheidungsmacht vom Berg Sinai ins Lehrhaus, in den Diskurs übergegangen ist, wird von Gott positiv bewertet. Es gibt kein Herausfallen aus Gott, solange aus seiner Tora zitiert wird. Die beiden Diskurse – der Rabbinen untereinander und mit Gott – sind durch das Wort ‫»( נצח‬siegen«) miteinander verknüpft: Einmal bekämpfen bzw. besiegen die Gelehrten einander, das andere Mal wird sogar Gott selbst besiegt, er wird mit seinen eigenen Waffen, seiner eigenen Tora geschlagen, er wird beim Wort genommen.57 Der Midrasch stellt hier den Anspruch, dass Gott selbst die Mehrheit der Rabbinen autorisiert und ihnen sogar eine Interpretation ermöglicht, die ihm widerspricht.58 Interessant ist, wie in dieser rabbinischen Legende Gott als Autor vorkommt: Er spricht als ‫ בת קול‬vom Himmel und stellt sich auf die Seite R. Eliezers. Er gilt als Gesprächspartner und Schriftsteller zugleich: R. Jirmeja spricht ihn direkt auf seine Worte an: »du hast geschrieben am Berg Sinai in der Tora«. Er gilt als Autor von »Sie ist nicht im Himmel« und »sich der Mehrheit zu beugen«. Er schmunzelt über seine Schüler und kann sich durchaus 55 »Da himmlische Interventionen auf ihre Weise nicht weniger ambivalent sind als menschliche Mehrheitsentscheidungen auch, ist Rabbi Eliesers Beweis – kein Beweis.« – Goldmann: Die große ökumenische Frage (s. Anm. 38), 171 (Anm. 150). 56 ‫בת קול‬, wörtlich »Tochter einer Stimme«, wurde von einem ursprünglich nichtreligiösen Verständnis als Echo (so auch im säkularen Modernhebräischen), lautes, aber unbestimmbares Geräusch, lauter Ton, vernommener Schall in der rabbinischen Literatur i. A. in religiösem Sinne als Terminus technicus für eine auf der Erde gehörte übernatürliche Offenbarungsstimme verstanden. »Daß '‫ ב' ק‬indeterminiert ist, bedeutet bei der Übertragung auf den Bereich der Offenbarung mit großer Wahrscheinlichkeit, dass wir es nicht mit einem durchgehenden Offenbarungsmodus Gottes zu tun haben, der sich immer wieder manifestiert – der bat qol in Analogie zu der Schekhinah und zu dem hl. Geist –, sondern mit immer neuen, wenn auch in ihrem Wesen gleichbleibenden Offenbarungsphänomenen.« – Peter Kuhn: Offenbarungsstimmen im Antiken Judentum. Untersuchungen zur Bat Qol und verwandten Phänomenen (TSAJ 20), Tübingen 1989, 280. 57 Vgl. Kuhn, Offenbarungsstimmen (s. Anm. 56), 270. 58 Vgl. Goldmann: Die große ökumenische Frage (s. Anm. 38), 172–173.

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einmal ihnen geschlagen geben.59 Gott wird hier also personifiziert als Autor vorgestellt, der schreibt, spricht und mit dem man über sein Werk diskutieren kann.

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Poststrukturalistische Midrasch-Lektüren60

Erzählungen wie diese werden nicht nur in der Judaistik breit diskutiert, sondern auch in poststrukturalistischen Literaturtheorien: Sie hinterfragen Autorschaft und Autorität von Texten grundsätzlich, knüpfen bei rabbinischen Texten wie dem hier dargestellten Midrasch an und verbinden ihn mit eigenen Lesestrategien. V. a. in den USA gibt es Neuansätze in der Midrasch-Forschung, die Grundelemente poststrukturalistischer Literaturtheorie nach Jacques Derrida u. a. zur Beschreibung und Analyse rabbinischer Hermeneutik heranziehen. Der Midrasch stößt seit den 1980er-Jahren auf vermehrtes Interesse in »poststructuralist literary circles«61: Sie untersuchen weniger die literarische Sprache des Midrasch, rhetorische oder poetische Formen, sondern sehen Midrasch »as a hermeneutic, as an exegetical act«62. Während historisch-kritische MidraschExegese versucht, möglichst nahe an die ursprüngliche Bedeutung eines Textes heranzukommen, sieht man in poststrukturalistischer Midrasch-Lektüre den Pluralismus im Midrasch, der aus dem Text selber kommt. Gesucht wird nicht nach der Bedeutung »hinter« dem Text, sondern im Textmaterial, in der Sprache und Intertextualität des Midrasch selbst.63 In der zeitgenössischen amerikanischen Literaturtheorie, in Dekonstruktion und Poststrukturalismus begegnet geradezu eine inflationäre Verwendung des Begriffs »Midrasch«. Überschneidungen zwischen literary criticism und rabbinischer Hermeneutik werden v. a. in drei Punkten gesehen: in der Intertextualität, der Kreativität und der vielfältigen Interpretierbarkeit. Wenn es keine Originalbedeutung von Texten gibt, sondern nur ständige Interpretation, so wird Midrasch, der per definitionem Interpretationsliteratur ist, zum Modell für alles Lesen und Schreiben.64 Die klassische

59 Langer: Midrasch (s. Anm. 39), 55, spricht von einer »Machtübernahme« durch die Rabbinen. 60 Vgl. zum Folgenden Grohmann: Aneignung (s. Anm. 42), 112–125; Langer: Midrasch (s. Anm. 39), 68–72. 61 David Stern: Parables in Midrash. Narrative and Exegesis in Rabbinic Literature, Cambridge, MA 1991, 1. 62 Stern: Parables (s. Anm. 61), 1. 63 Vgl. Stern: Parables (s. Anm. 61), 44. 64 Vgl. Lieve Teugels: Midrash in the Bible or Midrash on the Bible? Critical Remarks about the Uncritical Use of a Term, in: Gerhard Bodendorfer/Matthias Millard (Hg.): Bibel und Midrasch. Zur Bedeutung der rabbinischen Exegese für die Bibelwissenschaft, Tübingen 1998, (43–63) 43, 50.

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Marianne Grohmann

jüdische Schriftinterpretation wird zu einem alternativen Paradigma von Kritik, zu einem Typ literarischen Diskurses gemacht.65 Die Bemühungen um Verbindungen zwischen rabbinischer Hermeneutik und moderner Literaturwissenschaft werden interdisziplinär in unterschiedlichen Forschungsgebieten – von Literaturwissenschaft über Sprachphilosophie, rabbinische und postrabbinische Exegese bis hin zu Midrasch- und Kabbala-Forschung – betrieben. Bekannte Vertreter/innen dieser Richtung sind Susan Handelman66, José Faur67 und Daniel Boyarin68. Exemplarisch für die Rezeption poststrukturalistischer Literaturtheorien im Bereich der Midraschforschung soll hier an eine Studie des amerikanischen Judaisten Daniel Boyarin, »Intertextuality and the Reading of Midrash«, erinnert werden.69 Dabei handelt es sich um eine Untersuchung der Mekhilta de Rabbi Jischmael, eines halachischen Midraschs, eines Kommentars zu Ex 12,1–23,19; 31,12–17; 35,1–3, der im Allgemeinen ins 3. Jahrhundert n. Chr. eingeordnet wird.70 Boyarin sieht in der Mekhilta »the earliest of rabbinic midrashic texts«71, wobei Fragen der Datierung für seine Überlegungen nicht zentral sind, da er seine Untersuchung nicht als Kommentar versteht, sondern als »a (post-)modern reconstruction of midrashic exegesis«72. Es geht ihm also um die Entfaltung der hermeneutischen Gedankengänge des Midrasch. Boyarins These ist, dass die exegetische Praxis der Rabbinen, ihr Konzept der Gleichzeitigkeit von in historischem Sinne ungleichzeitigen Ereignissen, das Zusammenlesen verschiedener Bibeltexte aus ganz unterschiedlichen Kontexten, eine Form von Intertextualität ist. Der Midrasch selbst ist ein Interpretationsmodell, eine Hermeneutik, eine Lektüremethode – entstanden durch die Inter-

65 Vgl. David Stern: Moses-cide: Midrash and Contemporary Literary Criticism, in: Proof. 4 (1984), (193–204) 193. 66 Susan Handelman: The Slayers of Moses. The Emergence of Rabbinic Interpretation in Modern Literary Theory (SUNYMJL), Albany 1982; dies.: Fragments of Redemption. Jewish Thought and Literary Theory in Benjamin, Scholem, and Levinas (Jewish Literature and Culture), Bloomington, IN 1995. 67 José Faur: Golden Doves with Silver Dots. Semiotics and Textuality in Rabbinic Tradition (Jewish Literature and Culture), Bloomington, IN 1986. 68 Boyarin: Intertextuality (s. Anm. 52); ders.: Border Lines. The Partition of Judaeo-Christianity (Divinations. Rereading Late Ancient Religion), Philadelphia 2004 (dt. Übersetzung: Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums [ANTZ 10/Arbeiten zur Bibel und ihrer Umwelt 1], Dortmund 2009). 69 Boyarin: Intertextuality (s. Anm. 52); vgl. zum Folgenden Grohmann, Aneignung (s. Anm. 42), 118–125. 70 Vgl. Günter Stemberger: Midrasch. Vom Umgang der Rabbinen mit der Bibel. Einführung, Texte, Erläuterungen, München 1989, 33–38; Strack/ders.: Einleitung (s. Anm. 38), 236–241. 71 Boyarin: Intertextuality (s. Anm. 52), 130. 72 Alexander Samely: Justifying Midrash. An »Intertextual« Interpretation of Rabbinic Interpretation, in: JSS 39 (1994), (19–32) 19.

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aktion zwischen rabbinischen Lesern und dem heterogenen, schwierigen und gleichzeitig für sie normativen Bibeltext.73 Boyarin schlägt eine »intertextuelle« Lektüre von Midrasch-Texten vor und definiert Intertextualität in Aufnahme der Intertextualitätskonzeption von Michael Riffaterre74 folgendermaßen: – Ein Text besteht immer aus einem Mosaik von bewusster und unbewusster Zitierung eines früheren Diskurses. – Texte können von Natur aus dialogisch angelegt sein – die Bibel ist ein Beispiel für einen solchen Text. – Es gibt kulturelle Codes (bewusst oder unbewusst), die die Produktion neuer Texte in einer Kultur einschränken oder fördern. Diese Codes können mit der »Ideologie der Kultur« identifiziert werden.75 Midrasch ist damit einerseits explizite Intertextualität: Das Schriftzitat ist ein substanzielles Element des Midrasch. Andererseits folgt er den Linien der Intertextualität innerhalb der Bibel, die auf der synchronen Ebene bedeutsam sind, worauf poststrukturalistische Forschung76 aufmerksam gemacht hat. Die Intertextualität des Midrasch erwächst aus seiner Fähigkeit, die Bibel als ein intertextuelles, sich selbst kommentierendes Buch zu lesen. Die biblischen Erzählungen haben unvermeidliche gaps (Lücken, Leerstellen) sowie Brüche und sind dialogisch, leserorientiert angelegt. Die Rolle des Midrasch ist es, diese Leerstellen zu füllen und Brüche zu glätten. Die rabbinischen Leser füllen die gaps des Bibeltextes in narrativer Form und passend zu ihren eigenen kulturellen Codes, sie finden in der Tora ihren eigenen Intertext, der sie befähigt, die Bedeutung des Bibeltextes zu finden. Das Material dafür wird auf zwei Arten im Intertext gefunden: einerseits im Intertext, den der biblische Kanon selbst zur Verfügung stellt, in den intertextuellen und interpretatorischen Beziehungen zwischen verschiedenen Teilen des Kanons, und andererseits innerhalb des ideologischen intertextuellen Codes der rabbinischen Kultur.77 Ausgehend von einem Verständnis von Intertextualität, wonach alle Texte ein Mosaik von markierter und nicht markierter Zitierung früherer Texte sind, untersucht Boyarin die Rolle der Zitate im Midrasch-Text: einerseits Texte der Tora, die der Midrasch explizit auslegt und andererseits prooftexts. Entgegen einem Verständnis von prooftexts, wonach Zitate eines Bibelverses aus einem anderen als dem jeweils diskutierten Teil der Bibel als prooftexts gelten, die vorher ge73 74 75 76

Vgl. Boyarin: Intertextuality (s. Anm. 52), 5–6. Vgl. Michael Riffaterre: The Intertextual Unconscious, in: Critical Inquiry 13 (1987), 371–385. Vgl. Boyarin: Intertextuality (s. Anm. 52), 12. Vgl. z. B. Meir Sternberg: The Poetics of Biblical Narrative. Ideological Literature and the Drama of Reading (ISBL), Bloomington, IN 1985. 77 Vgl. Boyarin: Intertextuality (s. Anm. 52), 13–17.

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zogene Schlussfolgerungen unterstützen sollen, ist Boyarin der Ansicht, dass die zitierten Texte die »generative Kraft« sind, dass die sogenannten prooftexts als Intertexte und Cotexte der Tora-Erzählung zu lesen sind, als Subtexte der Midrasch-Interpretation. Es besteht eine Spannung zwischen der Bedeutung eines zitierten Textes in seinem »originalen« Kontext und in seinem gegenwärtigen Kontext. So enthält ein Zitat im Midrasch eine neue Bedeutung, die sowohl Momente von Bruch als auch von Rekonstruktion enthält. Spannend am Midrasch ist, dass er beansprucht, der neue Kontext sei im alten impliziert. Die Objektivität von Zitaten ist eine Illusion. Gerade weil der Midrasch zu einem großen Teil aus Zitaten zusammengesetzt ist, bestätigt und transformiert er den biblischen Text zugleich.78 Die Mekhilta wird von Boyarin als Text ausgelegt, der in der Heterogenität seiner narrativen Struktur auf die Intertextualität der Tora antwortet. Ihre synchrone, dialektisch-dialogische Lektüremethode, die sie mit poststrukturalistischer Literaturtheorie gemeinsam hat, bietet eine Alternative zu diachronen Methoden wie der Quellenkritik. Der Midrasch geht einen dritten Weg zwischen historisch-kritischer Forschung, die Widersprüche in der Tora als diachrone Kompositionsstadien erklärt, um dadurch die Spannungen im Text zu reduzieren, und fundamentalistischer Bibelinterpretation, die zwar wie der Midrasch von der göttlichen Inspiration der Texte ausgeht, Spannungen aber von vornherein harmonisiert.79 Der Midrasch nimmt auf kreative, pluralistische Weise die Lücken, Spannungen, Wiederholungen etc. als Herausforderungen an, er füllt die gaps in einem synchronen Verständnis der Einheit der Schrift mit seinem eigenen Kontext. So ermöglichen, wie in jeder Literatur, auch in der Bibel, also gerade die Bruchstellen das Lesen. In Boyarins Argumentation spielt die besprochene rabbinische Legende aus bBM 59b eine wichtige Rolle.80 Sie wird als ein Beispiel für unterschiedliche rabbinische Autorisierungsstrategien und die Polysemie biblischer Texte gelesen. Die Diskussionen illustrieren, dass die Akzeptanz der Vielstimmigkeit im Bereich der Aggada größer ist als auf dem Feld der Halacha.81 Wie weit der Pluralismus geht – ob er die rabbinische Literatur insgesamt82 oder nur eine bestimmte 78 Die seit 1981 existierende Zeitschrift »Prooftexts«, in der Zusammenhänge von Judaistik und Literaturwissenschaft untersucht werden, ist ein Forum der oft kontrovers geführten Diskussionen. Der Name leitet sich von der rabbinischen Konzeption des ‫’( אסמכתא‬asmakta) ab: Prooftexts sind »Beweistexte«, Bibelstellen, die die Rabbinen verwenden, um ihre eigenen Interpretationen zu legitimieren. 79 Vgl. Boyarin: Intertextuality (s. Anm. 52), 39. 80 Vgl. Boyarin, Intertextuality (s. Anm. 52), 22–38. 81 Vgl. Goldmann: Die große ökumenische Frage (s. Anm. 38), 150; Isaak Heineman: Darkhe haAggadah, Jerusalem 21954, 192. 82 Steven Fraade: Rabbinic Polysemy and Pluralism Revisted. Between Praxis and Thematization, in: AJSR 31 (2007), 1–40.

Deuteronomistische und rabbinische Autorisierungsstrategien der Tora

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Epoche betrifft (»a post-tannaitic phenomenon«83) –, ist allerdings weiterhin Gegenstand intensiver Diskussionen.84 Für die Frage nach rabbinischen Autorisierungsstrategien ist an diesem Ansatz interessant, dass die Autorität von Texten in einem Wechselspiel von intertextuellen innerbiblischen Textbezügen und rabbinischen Lesern verortet wird.

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Fazit: Biblische und rabbinische Autorisierungsstrategien der Tora

Die Beispiele aus der deuteronomistischen Literatur zeigen, dass Schriftlichkeit prinzipiell Texten Autorität verleiht, aber mit Mündlichkeit verknüpft ist. Der Autoritätsanspruch wird sowohl über einen verschriftlichten Text als auch über den mündlichen Vortrag hergestellt, der weiterhin praktiziert wird. Beispiele von textinternen Autorisierungsstrategien der Tora in den hier genannten Deuteronomium-Texten sind: die Zuschreibung zu Mose als Autor, die Wortsicherungsformel, die Auffindungslegende einer Tora-Rolle, die Trauer auslöst und eine Reform in Gang bringt, und das öffentliche Vorlesen von Tora-Texten. Als Vorstufen des kanonischen Prozesses zeigen die besprochenen Beispiele, wie textimmanent Tora autorisiert wird. Wie für antike Traditionsliteratur üblich, tritt der Autor hinter den Text zurück.85 Die Autorisierungsstrategie, Gott als Autor der Texte zu zeigen, steht in den besprochenen Texten implizit im Hintergrund, wird aber nicht explizit gemacht. Dies ist an anderen Stellen – vgl. z. B. Ex 24,2.12; 32,32; Dtn 4,13; 5,22; 9,10; 31,9.24 – deutlicher, an denen die Vorstellungen von Mose und von Gott als Schreiber nahe nebeneinander liegen.86 Die Autorisierungsstrategien der rabbinischen Texte betreffen sowohl die Tora als schriftlich fixierten Text als auch die mündliche Tora, die sozusagen aus 83 Azzan Yadin-Israel: Rabbinic Polysemy. A Response to Steven Fraade, in: AJSR 38 (2014), (129–141) 129; Boyarin: Border Lines (s. Anm. 68). 84 Vgl. Steven Fraade: Response to Azzan Yadin-Israel on Rabbinic Polysemy. Do They »Preach« What They Practice?, in: AJSR38 (2014), 339–361. Vielfältige Weiterentwicklungen von Boyarins Ansatz finden sich z. B. bei Charlotte Fonrobert u. a. (Hg.): Talmudic Transgressions. Engaging the Work of Daniel Boyarin (JSJ.S 181), Leiden 2017. 85 Vgl. Erhard Blum: Historiographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in: ders./Christof Hardmeier (Hg.): Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch? Beiträge des Symposiums »Das Alte Testament und die Kultur der Moderne« anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971), Heidelberg, 18.–21. Oktober 2001 (Altes Testament und Moderne 10), Münster 2005, (65–86) 72–75. 86 Vgl. z. B. Raik Heckl: Mose als Schreiber. Am Ursprung der jüdischen Hermeneutik des Pentateuch, in: ZAR 19 (2013), (179–234) 191–194; Erich Bosshard-Nepustil: Schriftwerdung der Hebräischen Bibel. Thematisierungen der Schriftlichkeit biblischer Texte im Rahmen ihrer Literaturgeschichte (AThANT 106), Zürich 2015.

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Gesprächsprotokollen von zunächst mündlichen Diskursen entstanden ist. Rabbinische Texte erhalten durch ihre doppelte Dialogizität autoritativen Charakter. Ihre Autorität entsteht zum einen im Gespräch mit der Tora und zum anderen im Gespräch mit anderen Menschen, wobei hier wiederum das Kriterium der Mehrheitsentscheidung wesentlich ist. Die Tora ist und bleibt der Bezugspunkt schlechthin und auch das Argumentationsfundament: Mit ihr kann sogar gegen Gott argumentiert werden. Die Kenntnis der Tora ist es, durch welche die Rabbinen selbst von Gott autorisiert werden. In der rabbinischen Literatur wird die Autorität des Mose dadurch verstärkt, dass er sowohl in der Gabe der schriftlichen als auch der mündlichen Tora eine wesentliche Mittlerrolle spielt.87 Die Rabbinen im Lehrhaus verstehen sich in der Tradition des Mose und beanspruchen eine vergleichbare Autorität für sich. Sie setzen die Autorität des Bibeltextes voraus und beanspruchen gleichzeitig Autorität für ihre eigene Auslegung, die die Autorität des Mose übersteigt. Durch die Verschriftlichung wird der Text gleichsam dem ursprünglichen Mittler Mose entzogen und seine Nachfolger, die Rabbinen, haben die Autorität, den Text aktuell und normativ auszulegen. Poststrukturalistische literaturwissenschaftliche Konzepte, die vom Zurücktreten des Autors hinter seinen Text ausgehen, lassen sich mit der Anonymität biblischer Texte und rabbinischen Diskursen verbinden. In der Frage nach Autorisierungsstrategien kommen Produktion und Rezeption von Texten zusammen. Der Leser/die Leserin wird zum Autor/zur Autorin.

87 Vgl. Günter Stemberger: Mose in der rabbinischen Tradition (Veröffentlichungen der PapstBenedikt XVI.-Gastprofessur an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg), Freiburg i.Br. 2016.

Clarissa Breu

Autor_ität. Der Autor der Johannesoffenbarung als Zeuge

1

Autor_ität

1.1

Autorschaft und Autorität

Der Unterstrich im Wort »Autor_ität« soll andeuten, dass Autorschaft und Autorität schon etymologisch zusammenhängen. Das Wort auctoritas ist abgeleitet von auctor.1 Es bezeichnet »de[n] Umstand, dass eine Person oder Sache volle Kraft und Geltung hat oder verleiht« oder das Ansehen und die Geltung einer Person oder Sache.2 Sie ist an die konkrete Person, die sie innehat, gebunden. Der Grund, dass Handlungen aufgrund der auctoritas einer Person gesetzt werden, liegt in der auctoritas selbst.3 Man könnte Autorität also als »Selbstdurchsetzungskraft« definieren oder – mit Hannah Arendt gesprochen – als etwas Drittes zwischen Überzeugen mit Argumenten und Machtausübung.4 Ein auctor (von augere – »vermehren«; nämlich die »Rechtsmacht des Handelnden«5) wiederum ist die Person, die »eine Sache zur vollen Kraft bringt, ihr Bestand, Gedeihen, Anerkennung und Dauer leiht.«6 So wie auctoritas sich als Beglaubigung oder Verbürgung – z. B. für ein Zeugnis – auswirken kann,7 kann auch der auctor als Bürge, Gewährsmann oder Urheber von Erzählungen bezeichnet werden und sogar als Verkündiger oder Zeuge.8 In einem gerichtlichen Prozess wird der tutor formell zum Bürgen, indem er auctor fio sagt.9 1 Gerhard Radke: Art. Auctoritas, in: KlPauly 1, München 1979, (729–730) 729. 2 Reinhold Klotz (Hg.): Handwörterbuch der lateinischen Sprache 1, Graz 31963, s.v. auctoritas. 3 Vgl. Jürgen Miethke: Art. Autorität I. Alte Kirche und Mittelalter, in: TRE 5, Berlin 1980, (17– 32) 18. 4 Vgl. Hannah Arendt: Was ist Autorität? in: dies.: Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays, Frankfurt a.M. 1957, (117–138) 118. 5 Radke: Auctoritas (s. Anm. 1), 729. 6 Klotz: Handwörterbuch (s. Anm. 2), s.v. auctor. 7 Vgl. Klotz: Handwörterbuch (s. Anm. 2), s.v. auctoritas. 8 Vgl. Klotz: Handwörterbuch (s. Anm. 2), s.v. auctor.

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Clarissa Breu

Ein auctor ist demnach zunächst ein Bürge, der seine Autorität aus seiner Funktion gewinnt. Der Autor als auctor könnte als Bürge oder Zeuge für ein Zeugnis, den Text, verstanden werden. Als Urheber eines Textes bürgt er für diesen und bezeugt ihn. Seine Autorität liegt also im Bürgen für seinen Text, das etymologisch auch eng mit Urheberschaft zusammenhängt.

1.2

Unterwanderte Autorität

Der Zusammenhang zwischen Urheberschaft und Autorität wird in der Textauslegung besonders durch die Kategorie der Autorintention hergestellt.10 Da die Autorin Urheberin ihres Textes ist, wird ihr besondere Autorität über diesen zugeschrieben, indem sie auch als Ursprung seiner Bedeutung verstanden wird. In dieser Vorstellung bedeutet der Text das, was die Autorin aussagen wollte. Der Zusammenhang von Urheberschaft und Autorität ist aber nicht notwendig gegeben. Da auctoritas »Selbstdurchsetzungskraft« bedeutet und daher auf nichts außerhalb ihrer selbst gründet, ihre Begründung also nicht näher ausgeführt werden muss, kann sie auch hinterfragt werden.11 Auch das soll der Unterstrich im Wort »Autor_ität« andeuten: Er steht für die Hinterfragung des Zusammenhangs von Autorschaft (als Urheberschaft) und Autorität. Dieser Zusammenhang wurde zunächst in Wiliam K. Wimsatts und Monroe C. Beardsleys Aufsatz »Der intentionale Fehlschluss«12 hinterfragt, dann von Roland Barthes (»Der Tod des Autors«13) und Michel Foucault (»Was ist ein Autor?«14), aber auch von Jacques Derrida, Julia Kristeva, Paul de Man, Gilles Deleuze/Félix Guattari und anderen. Hinter all diesen Ansätzen steht der linguistic turn, der dem Autor oder der Autorin deshalb die Autorität über den Text und seine Bedeutung entzieht, weil die Sprache als ein System erscheint, das 9 Vgl. Radke: Auctoritas (s. Anm. 1), 729. 10 Vgl. dazu exemplarisch Eric D. Hirsch: Prinzipien der Interpretation (UTB 104. Literaturwissenschaft), München 1972 oder Helmut Utzschneider u. a.: Art. Autorenintention, in: Oda Wischmeyer (Hg.): Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin 2009, 63–64. 11 So schreibt Jacques Derrida, dass Autorität »uns vor die Frage nach ihrer eigenen Herkunft stellt«; Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität« (Edition Suhrkamp, NF 645), Frankfurt a.M. 1991, 18. 12 William K. Wimsatt/Monroe C. Beardsley: Der intentionale Fehlschluss, in: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft (Reclams Universal-Bibliothek 18058), Stuttgart 2000, 84–101. 13 Roland Barthes: Der Tod des Autors, in: Jannidis u. a.: Theorie der Autorschaft (s. Anm. 12), 185–193. 14 Michel Foucault: Was ist ein Autor? in: Jannidis u. a.: Theorie der Autorschaft (s. Anm. 12), 198–229.

Autor_ität. Der Autor der Johannesoffenbarung als Zeuge

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Autor und Autorin übersteigt und bis zu einem gewissen Grad beherrscht. Die Autorin ist ebenso Produkt der Sprache wie sie aus dieser etwas produziert. Autoren halten die Bedeutung des Textes nicht in Händen, sondern entlassen den Text mit dem Schreiben in die Freiheit. Sie werden nicht als Ursprung von Texten gesehen, sondern die Sprache. Stattdessen entstehen sie als Autoren erst mit ihren Texten.15 Dieser Aufsatz orientiert sich in erster Linie an der Dekonstruktion, die von Jacques Derrida ausging. Sie versteht sich nicht als Methode, sondern als eine bestimmte Art, zu lesen.16 Im Blick auf den Autor und die Autorin sucht sie nach Momenten, in denen der Text als sprachliches Produkt diesen entgleitet. Sie sucht also, anders gesagt, nach dem Unterstrich im Wort »Autor_ität«. Die Suche nach der Autorintention wird deshalb hinterfragt, weil Derrida nicht davon ausgeht, dass Autorinnen und Autoren eine Bedeutung in Texte hinein legen, die die Lesenden dann aus den Texten wieder ausgraben.17 Vielmehr produziert der Text seine eigene Welt, die sowohl den Autor oder die Autorin als auch deren Intention verwandelt. Hinter die Textwelt kann nicht einfach zurückgegangen werden, indem nach einem Etwas (sei es einer Botschaft, einer Autorintention, einem historischen Sachverhalt o. ä.) gesucht wird. Es wird also nicht danach gefragt, was ein Text darstellt, sondern danach, inwiefern der Text seine eigene Wirklichkeit konstruiert. Die Dekonstruktion fragt nach der Selbstbezüglichkeit des Textes. Sie sucht nach Mechanismen im Text, die das, was wir ihm entlocken wollen, wieder hinterfragen. Kurz: Es geht nicht um das Etwas, das ein Text darstellen könnte, sondern um die Mechanismen, die zeigen, dass so ein Etwas immer konstruiert ist. Im Folgenden wird zunächst durch eine Betrachtung des Bildes »Die zwei Mysterien« von René Magritte über Mechanismen der Selbstbezüglichkeit bzw. Präsentation18 reflektiert. Danach wird – ausgehend von der theoretischen Ausgangsbasis der Dekonstruktion – die Johannesoffenbarung als selbstbezüg15 Als Menschen gab es sie natürlich schon vor dem Schreiben. Die erwähnten Theorien streiten auch nicht ab, dass reale Autorinnen und Autoren Texte schreiben. Sie streiten jedoch die direkte und unhinterfragte Verbindung zwischen realen Autorinnen und Autoren und Bedeutungen von Texten ab, indem sie die Selbigkeit des Autors oder der Autorin vor und nach dem Schreiben anzweifeln. 16 Vgl. Peter Zeillinger: Dekonstruktive Bibellektüre. Aufmerksamkeiten für die Textualität monotheistischer Schriften, in: Ursula Roth/Jörg Seip (Hg.): Schriftinszenierungen. Bibelhermeneutische und texttheoretische Zugänge zur Predigt. Festgabe für Gerhard Ulrich und Erich Garhammer zum 65. Geburtstag (ÖSP 10), München 2016, (143–164) 147; Henning Hupe: Lukas’ Schweigen. Dekonstruktive Relektüren der »Wir-Stücke« in Acta (Passagen philosophische Theologie), Wien 2008, 33. 17 Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, (325–351) 349: »Als Schrift ist die Kommunikation nicht das Beförderungsmittel von Sinn.« 18 Vgl. zu diesem Begriff den Abschnitt 1.3 »Autorität und Präsentation«.

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licher Text in den Blick genommen. Dabei wird besonders die Rolle des Autors im Verhältnis zu seinem Text beleuchtet. Diese Rolle wird v. a. dadurch charakterisiert, dass Johannes als Zeuge begegnet. Zeugenschaft lässt sich mit Derridas Gedanken gut vereinbaren: Sie macht etwas anwesend, das außerhalb des Zeugnisses existiert. Trotzdem wird dieses erst durch das Zeugnis gegenwärtig.19 Es entsteht daher im Moment des Zeugnis-Gebens auf ganz eigene, neue Weise.20 Wird der Autor als Bürge für ein Zeugnis oder als Zeuge verstanden, dann ist er nicht in erster Linie Ursprung und damit auch Bedeutungsgarant eines Textes. Er repräsentiert nicht etwas, sondern konstruiert es und wird dadurch selbst als Bürge bzw. Zeuge konstruiert. Schließlich werden in einem Fazit Schlussfolgerungen für die exegetische Auseinandersetzung mit religiösen Texten gezogen.

1.3

Autorität und Präsentation

Zur Veranschaulichung soll hier das Bild »Die zwei Mysterien« von René Magritte dienen (s. Abb. 1).21 Wir sehen eine Pfeife und davor das Bild von einer Pfeife mit der Aufschrift »Das ist keine Pfeife«. Auf den ersten Blick würde man natürlich denken, hier wurde die Pfeife im Hintergrund im Sinne einer mimetischen Wiedergabe gemalt. Denn Magrittes Malstil ist nicht abstrakt oder verfremdend, sondern scheinbar mimetisch. Aber genau damit spielt Magritte und sagt in einem In19 So schreibt Derrida über das religiöse Zeugnis: »[…] glaube mir, glaube an das, woran ich glaube, dort, wo du nie (etwas) an meiner statt wirst wissen oder sehen können, unersetzbarer und dennoch beispielhafter Ort meiner Rede, Stätte ohne Ersatz, die sich verallgemeinern und universalisieren lässt«; Jacques Derrida: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der »Religion« an den Grenzen der bloßen Vernunft, in: ders./Gianni Vattimo: Die Religion (Edition Suhrkamp 2049), Frankfurt a.M. 2001, (9–106) 102. 20 Das begründet Derrida mit seinem Begriff von »Iterabilität«, der notwendigen Wiederholbarkeit einer Sache, die aber zugleich auch deren Veränderung in der Wiederholung beinhaltet; vgl. Derrida: Glaube und Wissen (s. Anm. 19), 102, 105. Wenn also ein Zeuge oder eine Zeugin etwas Erlebtes zeugnishaft wiederholt, ist es bereits unterschieden von dem, was »tatsächlich« passiert ist. Umgekehrt ist aber, was »tatsächlich« passiert ist, nur zugänglich über dieses Zeugnis; so Derrida: Glaube und Wissen (s. Anm. 19), 101: »In der Bezeugung wird die Wahrheit jenseits aller Beweisführung, aller Wahrnehmung, allen anschaulichen Zeigens versprochen.« Für mehr zum Begriff »Iterabilität« siehe Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext (s. Anm. 17). 21 Auch Michel Foucault las das Werk Magrittes unter postmodernem Blickwinkel, was sein Essay: Dies ist keine Pfeife. Mit zwei Briefen und vier Zeichnungen von René Magritte (Edition Akzente), München 1997, zeigt. Foucault widmet sich dort ebenfalls dem Bild »Die zwei Mysterien«, setzt jedoch andere Schwerpunkte, weshalb im Folgenden nicht speziell darauf eingegangen wird. Für eine Deutung von Foucaults Essay vgl. Niels Werber: Art. Repräsentation/repräsentativ, in: ÄGB 5, Stuttgart 2003, (264–290) 285.

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Abb. 1: René Magritte: Les deux Mystères, 1966, Tuschezeichnung, H. 19,7 cm, B. 13,3 cm. Siegfried Gohr: Magritte. Das Unmögliche versuchen, Köln 2009, 117, verfügbar unter: unidam.univie.ac.at [17. 09. 2018].

terview: »[…] können Sie sie stopfen, meine Pfeife? Nein, nicht wahr, sie ist nur eine Darstellung. Hätte ich also unter mein Bild ›Dies ist eine Pfeife‹ geschrieben, hätte ich gelogen!«22 Das Bild der Pfeife ist nicht dasselbe wie eine reale Pfeife. Ebenso ist das Wort »Pfeife« nicht dasselbe wie eine reale Pfeife. Deshalb heißt das Bild »Die zwei Mysterien«, weil sowohl Wort als auch Bild nicht dem entsprechen, was sie scheinbar darstellen.23 Das Bild auf der Leinwand verweist auf das dahinter liegende Bild einer Pfeife, nicht auf eine reale Pfeife. Das Bild stellt also nicht etwas, eine Pfeife, dar, sondern es ist ein Verweissystem in sich. Wir betrachten es als Wechselwirkung zwischen Pfeife im Hintergrund, Pfeife auf der Leinwand und Text. Es handelt sich also nicht um eine mimetische Wiedergabe 22 René Magritte: Interview mit Claude Vial, in: ders.: Sämtliche Schriften, hg. v. André Blavier, München 1981, (535–537) 536–537. 23 Vgl. Werber: Repräsentation (s. Anm. 21), 285.

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eines Originals. Diese würde eine Hierarchie zwischen dem Original, das früher da war, und der Nachahmung, die diesem nie ganz gerecht würde, implizieren. Stattdessen werden Ähnlichkeiten und Unterschiede zugleich wiederholt.24 In dem Bild von Magritte gibt es kein Original. Wir haben keine Ahnung, wie die echte Pfeife, die eventuell Vorbild war, ausgesehen hat, welche Eigenschaften sie mit der Pfeife auf dem Bild teilt. Das Bild auf der Leinwand ist ein Bild eines Bildes. Beide Pfeifen und auch die Aufschrift sind in einem künstlerischen Akt entstanden; nicht das eine war vor dem anderen. Es gibt nicht Original und Nachahmung, sondern ein Netz von Nachahmungen und Verweisen. Deshalb wurde hier bewusst der Begriff »Präsentation« gewählt. Er soll zeigen, dass es sich nicht um eine Re-präsentation handelt, also nicht um ein »Wiederpräsent-Machen«,25 sondern um ein »Präsent-Machen«: Die Pfeife Magrittes entsteht als solche erst durch das Bild. Dieses Präsent-Machen ist aber auch zu unterscheiden von »Präsenz«,26 da es zugleich Abwesenheit beinhaltet: Das Bild einer Pfeife, das zugleich keine Pfeife ist, verweist auf die Abwesenheit einer realen Pfeife.27 Das Bild thematisiert sich selbst als Bild. Es zeigt, dass es von einer dahinterliegenden Realität entkoppelt ist. So wie das Bild auf seinen eigenen Bildcharakter verweist, ist es Derrida ein Anliegen, zu zeigen, inwiefern ein Text auf sich selbst als einen Text verweist und dadurch die scheinbare Wirklichkeit hinter ihm – also auch der Autor oder die Autorin und deren Intention – zu seinem Produkt wird. Der Text verweist also auf etwas scheinbar außerhalb des Textes Liegendes, das aber doch Produkt des Textes ist. Der Autor gerät als Teil eines Verweissystems ins Blickfeld, nicht als letzte Autorität über die Bedeutung des 24 Vgl. Jacques Derrida: De la Grammatologie (Collection critique), Paris 1967, 412: »La représentation parfaite est toujours déjà autre que ce qu’elle double et re-présente«; zu Deutsch: »Die perfekte Repräsentation ist immer schon anders als das, was sie verdoppelt und repräsentiert« (Übersetzung CB). 25 Zur Problematik des Repräsentationsbegriffs s. Werber: Repräsentation (s. Anm. 21), insbes. 283–288. 26 Zum Unterschied von Repräsentation und Präsenz vgl. Bent Gebert/Uwe Mayer: Mythos zwischen Präsenz und Repräsentation. Zur Einführung, in: dies. (Hg.): Zwischen Präsenz und Repräsentation. Formen und Funktionen des Mythos in theoretischen und literarischen Diskursen (linguae & litterae 26), Berlin 2014, (1–24) 11. Die dort in Form einer Tabelle dargestellte Unterscheidung zeigt, dass der hier verwendete Präsentations-Begriff sich zwischen Präsenz und Repräsentation bewegt: Er meint »Selbstreferenz« (in der Tabelle in der Rubrik »Präsenzbegriffe«) im Unterschied zur dort beim Begriff »Repräsentation« angesiedelten »Fremdreferenz«. Umgekehrt impliziert er aber nicht weitere in der Rubrik »Präsenzbegriffe« angesiedelte Begriffe wie »Natur«, »Ursprung« oder »Unmittelbarkeit«, sondern eher Begriffe in der Rubrik »Repräsentationsbegriffe« wie »Vermittlung«, »Verhüllung«, »Narration«. 27 Zum Zusammenhang von Repräsentation und Abwesenheit vgl. Carlo Ginzburg: Repräsentation. Das Wort, die Vorstellung, der Gegenstand, in: ders.: Holzaugen. Über Nähe und Distanz, Berlin 1999, (97–119) 97.

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Textes. Der Text re-präsentiert nicht etwas, das außerhalb seiner selbst liegt, sondern er präsentiert etwas, das durch ihn erst entsteht.

2

Die Johannesoffenbarung als Zeugnis

Aber kommen wir vom Theoretischen zur Anwendung: Die Johannesoffenbarung und Johannes als ihr Autor gelten als besonders autoritativ. Das wird v. a. an der Textsicherungsformel in Offb 22,18–1928 und den einleitenden Worten in 1,1–3 festgemacht, wo Johannes seine Autorität scheinbar direkt von Christus bzw. Gott bekommt.29 Nimmt man jedoch den zeugnishaften Charakter der Offenbarung ernst, so wird auch die Einschätzung ihrer Autorität und der ihres Autors differenzierter. Im Folgenden soll daher gezeigt werden, inwiefern der Text der Offenbarung auf sich selbst als Text verweist, inwiefern er damit dem Autor entgleitet und wie Präsentations-Mechanismen des Textes beschrieben werden können. Einleitend soll jedoch ihr zeugnishafter Charakter dargestellt werden.

2.1

Hinführung: Die Offenbarung als Zeugnis und die Gattungsfrage

Bei der Offenbarung handelt es sich um eine hybride Gattung,30 wobei ihr zeugnishafter Charakter klar hervortritt: 28 S. zur Textsicherungsformel im Deuteronomium Marianne Grohmanns Beitrag in diesem Band. 29 So etwa bei Hanna Roose: Das Zeugnis Jesu. Seine Bedeutung für die Christologie, Eschatologie und Prophetie in der Offenbarung des Johannes (TANZ 32), Tübingen 2000, 151, 158; oder Ben Witherington: Revelation (NCBC), Cambridge 2003, 3; s. auch Akira Satake: Die Gemeindeordnung in der Johannesapokalypse (WUNT 21), Neukirchen-Vluyn 1966, 68; Paul Metzger: Sie über sich. Eine exegetische Untersuchung zur Autorität der Schrift in ökumenischer Perspektive, Tübingen 2018, 214. 30 So Gregory L. Linton: Reading the Apocalypse as Apocalypse. The Limits of Genre, in: David L. Barr (Hg.): The Reality of the Apocalypse. Rhetoric and Politics in the Book of Revelation (SBLSymS 39), Atlanta 2006, (9–41) 10; und Ian Paul: Source, Structure, and Composition in the Book of Revelation, in: Garrick V. Allen u. a. (Hg.): The Book of Revelation (WUNT 2,411), Tübingen 2015, (41–54) 41, der von einem »mix of three major genres – of epistle, prophecy and apocalyptic« spricht; David E. Aune: Revelation 1–5 (WBC 52A), Waco 1997, LXXXIX bezeichnet die Offenbarung ähnlich als mixtum compositum, was er mit seinen redaktionskritischen Ergebnissen verbindet: Eine erste Ausgabe als Apokalypse (4,1–22,9) sei in einer zweiten Ausgabe mit mehr prophetischen Anteilen (1,1–3,22; 22,10–21) versehen worden. Dies sei in dem Interesse geschehen, den Dualismus von Gerechten und Verdammten, sowie die ahistorische Perspektive von Apokalypsen hin zu einer historischen Verankerung und der Möglichkeit zur Umkehr, die eher dem prophetischen Anliegen entsprächen, zu glätten (vgl. Aune: Revelation 1–5, XC). Die Begriffe der Hybridität oder des mixtum compositum sind

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Als »Brief« bezeichnete Martin Karrer die Offenbarung.31 Er beschreibt die ihr zugrundeliegende Kommunikationssituation als von der Gattungspragmatik des Briefes geprägt. So sieht er in der Verbindung von Offb 1,4–6 und 22,21 eine briefliche Rezeptionsanweisung für den ganzen Text.32 Interessant ist nun, dass er »apostolisch-prophetische Autorität« und »persönliches Verbürgen«33 im Sinne von μαρτυρεῖν (»bezeugen«) einander gegenüberstellt. Letzteres ereigne sich in der Kommunikationsform »Brief«. So verbinde sich die briefliche Form mit der Tätigkeit der Autorfigur, die als Bezeugen (1,2) beschrieben wird. Der Text erscheine als Prophetie, doch nicht als diejenige eines gegenüber den anderen Christinnen und Christen herausgehobenen Apostels oder Propheten, sondern als die eines »exemplarische[n] Empfänger[s] und Zeuge[n], der prinzipiell allen Christen gleichermaßen zugedachten Offenbarung Jesu Christi.«34 Karrer geht also nicht von einer besonders großen Autorität des Johannes aus. Als Briefschreiber ist Johannes ein exemplarischer Zeuge. Der titelartige Beginn der Offenbarung weist sie zudem als Apokalypse aus (1,1). Freilich sind sich Exegetinnen und Exegeten einig, dass der Begriff »Apokalypse« zur Entstehungszeit der Offenbarung noch keine Gattungsbezeichnung war.35 Umso schwerer ist es, diese Gattung zu definieren, die viele verschiedene Texte mit unterschiedlichen Merkmalen umfasst. Michael Wolter beschreibt daher nicht »Apokalypsen«, sondern »Apokalyptik« als »Redeform«. Sein Ansatz ähnelt somit Karrers, der die Gattungsanalyse als Textpragmatik versteht. »Apokalyptisch« nennen wir eine Redeform, die wir in solchen Texten vorfinden, deren Autoren die Leser zu Beginn darüber informieren (und zwar in der 1. Person Singular), dass [sie] ihnen etwas mitteil[en], was menschlicher Erkenntnisfähigkeit bisher prin-

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32 33 34 35

freilich problematisch, da sie suggerieren, es gäbe eine reine Form, die sich in konkreten Texten realisiert. S. Martin Karrer: Die Johannesoffenbarung als Brief. Studien zu ihrem literarischen, historischen und theologischen Ort (FRLANT 140), Göttingen 1986. Weitere Einschätzungen der Offenbarung als Brief finden sich etwa bei Robert H. Charles: A Critical and Exegetical Commentary on The Revelation of St. John 1, Edinburgh 1920, 8; Eugene M. Boring: Revelation, Atlanta, GA 1989, 5–8; Ulrich B. Müller: Die Offenbarung des Johannes (ÖTK 19), Gütersloh 1984, 28; Heinz Giesen: Die Offenbarung des Johannes (RNT 16), Regensburg 1997, 32; Gregory K. Beale: The Book of Revelation. A Commentary on the Greek Text (NIGTC 21), Grand Rapids 1999, 38–39; Edmondo Lupieri: A Commentary on the Apocalypse of John (Italian Texts and Studies on Religion and Society), Grand Rapids 2006, 39–40; Traugott Holtz: Die Offenbarung des Johannes, hg. v. Karl-Wilhelm Niebuhr (NTD 11), Göttingen 2008, 5. Vgl. Karrer: Brief (s. Anm. 31), 16. Karrer: Brief (s. Anm. 31), 101. Karrer: Brief (s. Anm. 31), 102. Vgl. Linton: Apocalypse (s. Anm. 30), 33; Roose: Zeugnis Jesu (s. Anm. 29), 148; Elisabeth Schüssler Fiorenza: The Book of Revelation. Justice and Judgement, Philadelphia 1985, 150; Michael Wolter: Apokalyptik als Redeform im Neuen Testament, in: NTS 51 (2005), (171–191) 173, 178.

Autor_ität. Der Autor der Johannesoffenbarung als Zeuge

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zipiell verschlossen war, weil es nur im Wege einer kognitiven Grenzüberschreitung zugänglich ist. Der vorliegende Text erhebt dabei den Anspruch, diesen Inhalt erstmals in den Bereich der menschlichen Erkenntnis zu überführen und damit bekannt zu machen.36

In dieser Definition klingt – wie auch in Karrers Verständnis der Offenbarung als Brief – die Rolle des Autors als Zeuge an. Wer apokalyptisch redet, bezeugt etwas, das ansonsten unzugänglich wäre. Explizit wird die Offenbarung »Prophetie« (ἡ προφητεία) genannt (1,3; 22,19). Die Gattungen – oder nennen wir sie mit Wolter »Redeformen« – »Prophetie« und »Apokalyptik« können nur schwer klar voneinander unterschieden werden. Häufig wird angeführt, dass Prophetie auf die Veränderung der gegenwärtigen Realität ausgerichtet sei und daher zur Umkehr auffordere, während Apokalyptik schon gefällte Urteile in Form einer Zukunftsschau verkünde.37 Diese beiden Merkmale können aber oft nicht so klar voneinander getrennt werden. Daher führt etwa Elisabeth Schüssler Fiorenza beide Gattungen zusammen, indem sie die Offenbarung als »genuine expression of early Christian prophecy whose basic experience and self-understanding is apocalyptic«38 beschreibt.

36 Wolter: Apokalyptik (s. Anm. 35), 181. 37 Vgl. dazu David E. Aune: Prophecy in Early Christianity and the Ancient Mediterranean World, Grand Rapids 1983, 113; Greg Carey: Elusive Apocalypse. Reading Authority in the Revelation to John (StABH 15), Macon, GA 1999, 99; Beate Kowalski: Prophetie und die Offenbarung des Johannes, in: Joseph Verheyden u. a. (Hg.): Prophets and Prophecy in Jewish and Early Christian Literature (WUNT 2,286), Tübingen 2010, (253–293) 261; Ulrich Luz: Stages of Early Christian Prophetism, in: Sacra Scripta 5 (2007), (45–62) 48. 38 Elisabeth Schüssler Fiorenza: Apocalypsis and Propheteia. The Book of Revelation in the Context of Early Christian Prophecy, in: Jan Lambrecht u. a. (Hg.): L’Apocalypse johannique et l’Apocalyptique dans le Nouveau Testament (BETL 53), Leuven 1980, (105–128) 114 (s. auch 111); ähnlich Hans-Georg Gradl: Buch und Offenbarung. Medien und Medialität der Johannesapokalypse (HBS 75), Freiburg i.Br. 2014, 106: »Unter gattungskritischer Hinsicht gewinnt die Johannesoffenbarung ihr besonderes Profil im Neben- und Ineinander von typisch prophetischen und apokalyptischen Gattungselementen«; oder ebd., 123: »Der prophetische Ruf zur Umkehr findet seinen theologischen Anker in der visionären Enthüllung der Zukunft und der im Himmel bereits vollzogenen Geschichtswende […] Die visionäre Vermittlungsarbeit ist nicht auf eine funktionslose Wissensenthüllung angelegt. Selbst die Zukunftsweissagung steht im Dienst der Gegenwartswahrnehmung und -bewältigung. Damit fließen die formal und inhaltlich differenzierbaren Strukturmerkmale der Johannesoffenbarung als prophetisch-apokalyptisches Werk in einem gemeinsamen Funktionsanliegen zusammen«; vgl. André Feuillet: L’Apocalypse. État de la question (StudNeo.S 3), Paris 1963, 8: »Ce qui fait l’originalité de l’Apocalypse johannique c’est que tout en utilisant le style, l’imagerie et les procédés de l’apocalyptique juive, elle demeure fidèle à ce qui fait le grandeur de l’ancienne prophétie«; s. auch Roose: Zeugnis Jesu (s. Anm. 29), 148; Metzger: Sie über sich (s. Anm. 29), 182; Gerd Theißen: Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem (SPHKHAW 40), Heidelberg 2007, 258; David Hill: Prophecy and Prophets in the Revelation of St. John, in: NTS 18 (1972), (401–418) 401: »[…] it is not always easy to draw clear lines of demarcation between these two phenomena, and biblical scholars

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Als Prophetie ist die Offenbarung eng mit Zeugenschaft verbunden. Das wird in 19,10 explizit, wo der Engel sagt: Ich bin dein und deiner Brüder Mitsklave, die das Zeugnis Jesu haben. Bete Gott an! Das Zeugnis Jesu aber ist der Geist der Prophetie. σύνδουλός σού ει᾿μι καὶ τῶν ἀδελφῶν σου τῶν ἐχόντων τὴν μαρτυρίαν Ἰησοῦ· τῷ θεῷ προσκύνησον. ἡ γὰρ μαρτυρία Ἰησοῦ ἐστιν τὸ πνεῦμα τῆς προφητείας.

Zeugenschaft und Prophetie hängen hier zusammen, indem das eine die Glaubwürdigkeit des anderen unterstützt. Das Zeugnis Jesu erscheint als Inhalt oder antreibende Kraft der Prophetie. Johannes wird hier als Bruder und Mitsklave derer bezeichnet, die das Zeugnis Jesu haben. Er ist also Teil einer größeren Zeuginnen-und-Zeugen-Gemeinschaft: In Kapitel 11 treten zwei Zeugen auf, aber auch Antipas (2,13) und viele andere (6,9; 12,11.17; 17,6; 20,4) werden als Zeugen dargestellt. In 1,2 wird Johannes als derjenige, der das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu bezeugt (ἐμαρτύρησεν), namentlich aus dieser Gruppe hervorgehoben. Die wiederholte Betonung seines Sehens und Hörens in Verbindung mit einem Schreibbefehl lässt ihn als Zeugen erscheinen. So klar der zeugnishafte Charakter der Offenbarung hervortritt, so schwer ist sie einer einzigen Gattung zuzuordnen. Versteht man sie, wie eingangs erwähnt, als hybrides Genre, so liegt hier ein erstes Moment vor, an dem der Text dem Autor entgleitet: Selbst wenn wir von einem bewussten Einsatz verschiedener Gattungssignale durch den Autor ausgehen, spielen die Lesenden eine notwendige Rolle bei der Bedeutungsgenerierung.39 Sie können bestimmte gattungsspezifische Elemente betonen und andere in den Hintergrund stellen:40 Wird der prophetische Charakter der Schrift betont, so auch die besondere Beauftragung des Autors, die durch die Zeugenschaft des Johannes auf ihn als persönlichen Bürgen verweist. Außerdem steht dann die konkrete Auswirkung der Botschaft für die Gegenwart der Adressatinnen und Adressaten im Mittelpunkt, also der Aufruf, sich an die Worte des Buches zu halten, gegebenenfalls das Verhalten zu ändern, motiviert durch einen neuen Blick auf die Wirklichkeit. Dieser Blick wird wiederum ermöglicht durch einen apokalyptischen Einblick in eine Welt jenseits der vorfindlichen Wirklichkeit. Wird der apokalyptische Charakter der Offenbarung betont, so die verheißene Erlösung in der Zukunft, die allerdings aus himmlischer Perspektive bereits sichtbar ist.

differ considerably both in the interpretation of the relationship between them and in the identification of the characteristics which belong to each genre […].« 39 Vgl. Linton: Apocalypse (s. Anm. 30), 4; s. auch Carey: Elusive Apocalypse (s. Anm. 37), 94. 40 Vgl. Linton: Apocalypse (s. Anm. 30), 23.

Autor_ität. Der Autor der Johannesoffenbarung als Zeuge

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Wird der briefliche Charakter betont, so die direkte Anrede der Adressatinnen und Adressaten, die nicht nur als Könige und Priester, die in der zukünftigen Wirklichkeit herrschen werden (βασιλεύσουσιν; Offb 5,10; s. auch 22,5) und jetzt schon herrschen,41 sondern auch – und gerade angesichts dieser Verheißung – in ihren konkreten gegenwärtigen Lebensvollzügen angesprochen werden.42 Diese konkreten Lebensvollzüge sind wiederum der Bereich, auf den die prophetischen Elemente der Schrift einwirken. Die verschiedenen Gattungssignale können also nicht vollständig voneinander abstrahiert werden. Stefan Alkier begründet dies mit dem Inhalt der Botschaft, der nicht adäquat in menschliche Sprache verpackt werden könne, dem also nicht eine bestimmte Gattung besonders gerecht würde. Indem aber verschiedene Gattungseffekte zugleich benützt würden, bliebe die Bedeutung des Textes im Fluss,43 eine immer neue Herausforderung an die Lesenden. Diese können nur schwer ihre eigene Lesart verabsolutieren, die durch unzählige mögliche andere Schwerpunktsetzungen relativiert wird. Selbst wenn Johannes bewusst ein hybrides Genre wählte, um eine Botschaft zu transportieren, liegt es in der Hand der Lesenden, dieses zu identifizieren und zu deuten, Schwerpunkte zu setzen und Aspekte in den Hintergrund zu stellen. Auf dem Hintergrund der hybriden Gattung seines Textes wird auch Johannes zu einer schillernden Figur zwischen Briefschreiber, Apokalyptiker und Prophet. In allen diesen Rollen ist er jedoch auch Zeuge. Im Folgenden wird daher seine Rolle als Zeuge hervorgehoben.

41 Textkritisch interessant ist, dass im Codex Alexandrinus, der für die Offenbarung als der zuverlässigste Textzeuge gilt, und in weiteren Handschriften hier das Präsens (βασιλεύουσιν) bezeugt ist (das Futur bezeugt u. a. der Codex Sinaiticus); s. dazu Martin Karrer: Johannesoffenbarung 1. Offb 1,1–5,14 (EKK 24,1), Göttingen 2017, 439. Da der ganze Satz aber im Aorist steht (καὶ ἐποίησας αὐτοὺς τῷ θεῷ ἡμῶν βασιλείαν καὶ ἱερεῖς), ist der Unterschied zwischen Präsens und Futur nicht stark zu gewichten: Das Präsens betont mehr die dauerhafte Gültigkeit dessen, dass Jesus die Adressatinnen und Adressaten zu Königen und Priestern gemacht hat, das Futur die Gültigkeit bis in die Zukunft hinein; vgl. ebd., 469. 42 »[Die Apokalypse] verwurzelt ihre Leserinnen und Leser so tief und so stringent im Himmel, dass sie der irdischen Wirklichkeit dank des Schauens und des Lauschens auf die größere himmlische Wirklichkeit zuversichtlich zu begegnen vermögen«; Karrer: Johannesoffenbarung (s. Anm. 41), 470. 43 Vgl. Stefan Alkier: Die Johannesapokalypse als »ein Zusammenhängendes und vollständiges Ganzes«, in: Michael Labahn/Martin Karrer (Hg.): Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung (ABIG 38), Leipzig 2012, (147–171) 149.

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2.2

Der Text weist von seinem Autor als Urheber weg

2.2.1 Die undefinierte Erzählstimme Johannes wird nicht als Urheber des Textes thematisiert. In Offb 1,1–2 stellt vielmehr eine undefinierte Erzählstimme den Text vor als Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in Kürze geschehen soll; indem er sie durch seinen Engel sandte, übermittelte er sie seinem Knecht Johannes, / der das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi bezeugt, alles, was er gesehen hat. Ἀποκάλυψις Ἰησοῦ Χριστοῦ ἣν ἔδωκεν αὐτῷ ὁ θεὸς δεῖξαι τοῖς δούλοις αὐτοῦ ἃ δεῖ γενέσθαι ἐν τάχει, καὶ ἐσήμανεν ἀποστείλας διὰ τοῦ ἀγγέλου αὐτοῦ τῷ δούλῳ αὐτοῦ Ἰωάννῃ, / ὃς ἐμαρτύρησεν τὸν λόγον τοῦ θεοῦ καὶ τὴν μαρτυρίαν Ἰησοῦ Χριστοῦ ὅσα εἶδεν.

Erst in 1,9 spricht Johannes in der ersten Person. Dem ganzen Text ist durch das Incipit eine anonyme Einführung vorangestellt, deren Aussage ohne Autorfigur auskommt. So konstatiert auch ein Exeget ohne postmodernen Hintergrund, Thomas Hieke: »Man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass der Text seine Entstehungssituation und Entstehungsgeschichte sowie den hinter ihm stehenden (historischen) Autor verschleiert.«44 Jacques Derrida schreibt über die Offenbarung: Nun […] gab es eine Präambel ohne Erzählstimme, oder jedenfalls ohne Erzählerstimme, eine Art Titel oder Medaillenaufschrift, die man weiß nicht woher gekommen ist und die apokalyptische Aufdeckung an die Sendung bindet. Diese Zeilen sind eigentlich […] die Apokalypse, die sich sendet.45

Man könnte also sagen, das Incipit lässt die Offenbarung als Text erscheinen, der sich selbst sendet, dessen Ursprung transzendent ist und nicht nur an einem konkreten Autor hängt. Dass es diesen konkreten Autor aber trotzdem braucht, wird später noch thematisiert. 2.2.2 Der Text als verwirklichter Schreibbefehl Außerdem fällt auf, dass Hören bzw. Sehen und Schreiben bei Johannes nicht ausdrücklich zusammenhängen. Johannes erhält zwar Schreibbefehle, aber die Notiz »und er schrieb« fehlt. Anders ist das z. B. in Dtn 31,19, wo es heißt: »So schreibt nun dieses Lied […].«, und in V. 22: »Also schrieb Mose dies Lied zur 44 Thomas Hieke/Tobias Nicklas: »Die Worte der Prophetie dieses Buches«. Offenbarung 22,6– 21 als Schlussstein der christlichen Bibel Alten und Neuen Testaments gelesen (BThSt 62), Neukirchen-Vluyn 2003, 93. 45 Jacques Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, in: ders.: Apokalypse, hg. v. Peter Engelmann (Edition Passagen 3), Graz 1985, (11–75) 57–58.

Autor_ität. Der Autor der Johannesoffenbarung als Zeuge

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selben Zeit auf.« Die Offenbarung existiert aber als Text, der zum Inhalt hat, was Johannes sah und hörte. Sie könnte daher als performative Veranschaulichung des nicht genannten Schreibens gelten. Der Text präsentiert sich selbst als verwirklichter Schreibbefehl. Schließlich liegt in Offb 22,10 plötzlich ein Buch vor, dessen Worte nicht versiegelt werden sollen (»Versiegle nicht die Worte der Prophetie dieses Buches; denn die Zeit ist nahe!« / μὴ σφραγίσῃς τοὺς λόγους τῆς προφητείας τοῦ βιβλίου τούτου, ὁ καιρὸς γὰρ ἐγγύς ἐστιν.). Das Buch erscheint als schon existente Größe, ohne dass erwähnt wird, wer es geschrieben hat oder dass Johannes es geschrieben hat. Der Aufruf, die Worte nicht zu versiegeln, folgt auf die Aussage: »Ich, Johannes [bin es], der dies gehört und gesehen hat« in 22,8 (Κἀγὼ Ἰωάννης ὁ ἀκούων καὶ βλέπων ταῦτα.). Im Verlauf der Offenbarung hört und sieht Johannes Dinge, die er aufschreiben soll. In 22,10 aber hört er, dass er das Buch, das bereits geschrieben ist, nicht versiegeln soll und schreibt das in eben dieses schon existente Buch. Das aber wiederum heißt, dass es ein Buch im Buch gibt (so auch in 5,1; 10,2; 13,8; 17,8; 20,12.15; 21,27),46 das mit dem Text der Offenbarung erst entsteht, diesen aber zugleich präsentiert. Insofern ist die Offenbarung vergleichbar mit dem Bild »Die zwei Geheimnisse« von Magritte. Dort gibt es ein Bild von einem Bild im Bild. Hier einen Text über ein Buch in einem Buch. Der Text der Offenbarung präsentiert sich so als Text, wie sich Magrittes Bild als Bild präsentiert. Der Autor wird zu einem Teil der Textwelt und erscheint nicht als Instanz, die dem Text vorgeordnet ist. 2.2.3 Das Lesen als Aktualisierung Der Text weist von Johannes als seinem Urheber weg, indem er – wie beschrieben – auf sich selbst als Text verweist, aber auch, indem er den Lesevorgang als Aktualisierung einführt. In Offb 1,3 tut er das durch eine Seligpreisung: »Selig ist, wer liest und die hören die Worte der Prophetie und behalten, was darin geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe.« (Μακάριος ὁ ἀναγινώσκων καὶ οἱ ἀκούοντες τοὺς λόγους τῆς προφητείας καὶ τηροῦντες τὰ ἐν αὐτῇ γεγραμμένα, ὁ γὰρ καιρὸς ἐγγύς.). In 1,2 steckt die notwendige Aktualisierung durch den Lesevorgang im Aorist ἐμαρτύρησεν. Das Bezeugen des Johannes wird mit diesem Wort ausgedrückt. Es kann als brieflicher Aorist verstanden werden. D. h. es versetzt das Genannte in die Gegenwart der Lesenden. Hier würde das bedeuten: »Wann immer ihr das lest, bezeugt Johannes.« Möchte man nicht mit Martin Karrer die Offenbarung insgesamt als Brief lesen, kann es sich hier trotzdem um einen brieflichen Aorist handeln, da dieser auch in Prologen verwendet wird.47 Das 46 Mehr zum Buch und den Büchern in der Offenbarung: Gradl: Buch (s. Anm. 38). 47 Vgl. Satake: Gemeindeordnung (s. Anm. 29), 111; Aune: Revelation 1–5 (s. Anm. 30), 6;

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Bezeugen ist also nichts Vergangenes, sondern etwas, das mit jedem Lesen aktualisiert wird. Es hängt nicht allein am Autor, sondern auch an den Lesenden.

2.2.4 Das Zeugnis Jesu Ein weiterer Aspekt führt von Johannes als Urheber des Textes weg: Das Zeugnis, das der Text ist, ist nicht sein eigenes, sondern das Zeugnis Jesu. Das, was Johannes gesehen und gehört hat, verweist somit auf etwas anderes, das »Zeugnis Jesu« (μαρτυρία Ἰησοῦ). Diese Wendung kommt mehrmals in der Offenbarung vor (1,2.9; 12,17; 19,10; 20,4). Im Gegensatz zu Johannes wird Jesus auch explizit »Zeuge« genannt, nämlich »treuer Zeuge« (ὁ μάρτυς, ὁ πιστός) in 1,5 und »treuer und wahrhaftiger Zeuge« (ὁ μάρτυς ὁ πιστὸς καὶ ἀληθινός) in 3,14. Aber handelt es sich beim Zeugnis Jesu um das Zeugnis über Jesus oder um das Zeugnis, das Jesus selbst gibt, um einen genitivus subiectivus48 oder einen genitivus obiectivus?49 Ich möchte hier mit einigen anderen Exegetinnen und Exegeten und Grammatikbüchern50 den Versuch wagen, genitivus obiectivus und subiectivus gleichzeitig in dieser Wendung zu finden. Das Zeugnis Jesu wäre dann zugleich Friedrich Blass u. a.: Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 171990, 273; Metzger: Sie über sich (s. Anm. 29), 195. 48 So Johannes Beutler: Martyria. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Zeugnisthema bei Johannes (FTS 10), Frankfurt a.M. 1972, 189; Norbert Brox: Zeuge und Märtyrer. Untersuchungen zur frühchristlichen Zeugnis-Terminologie (SANT 5), München 1961, 94; George B. Caird: A Commentary on the Revelation of St. John the Divine (BNTC), London 1966, 237; Jan A. du Rand: The Ethical Response of an Alternative Community in a Critical Situation. Marturia and Martyrdom in the Apocalypse of John, in: François S. Malan/ Jan G. van der Watt (Hg.): Identity, Ethics, and Ethos in the New Testament (BZNW 141), Berlin 2006, (565–594) 583; Ferdinand Hahn: Das Geistverständnis in der Johannesoffenbarung, in: Friedrich W. Horn/Michael Wolter (Hg.): Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung. Festschrift für Otto Böcher zum 70. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2005, (3–9) 4; Frederick D. Mazzaferri: Martyria Ie¯sou Revisited, in: BT 39 (1988), (114–122) 114, 120; Allison A. Trites: The New Testament Concept of Witness (MSSNTS 31), London 1977, 156; Olutola A. Peters: The Mandate of the Church in the Apocalypse of John (SBLit 77), New York 2005, 83 mit dem Hinweis, dass es nicht sinnvoll ist, die beiden Genitiv-Arten zu stark voneinander abzugrenzen. 49 So Josephine Massyngberde Ford: For the Testimony of Jesus is the Spirit of Prophecy, in: IThQ 42 (1975), (284–291) 286; Petros Vassiliadis: The Translation of Martyria Ie¯sou in Revelation, in: BT 36 (1985), (129–134) 132. 50 Z. B. Beale: Revelation (s. Anm. 31), 184; Nigel Turner: A Grammar of New Testament Greek 3. Syntax, Edinburgh 1963, 201; Maximilian Zerwick: Biblical Greek, hg. v. Josef Smith (SubBi 41), Rom 2011 (9. ND), 13. Für keinen der beiden Genitive entscheiden wollen sich außerdem Boudewijn Dehandschutter: The Meaning of Witness in the Apocalypse, in: Lambrecht u. a.: L’Apocalypse johannique (s. Anm. 38), (283–288) 286; Loren L. Johns: The Lamb Christology of the Apocalypse of John. An Investigation into its Origins and Rhetorical Force (WUNT 2,167), Tübingen 2003, 173; Satake: Gemeindeordnung (s. Anm. 29), 99, 101, 111.

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Ursprungsgarantie und inhaltliches Gütesiegel. Aber wie kann man beide Genitive zusammen denken? Wir kommen wieder zurück zum Bild von Magritte. Das Auge wandert zwischen zwei Präsentationen, ohne etwas über die reale Pfeife, die eventuell als Vorlage diente, zu erfahren. So entsteht das Zeugnis Jesu erst durch seine Präsentation im Text der Offenbarung, es ist den Lesenden als dem Text vorgängige Größe nicht zugänglich. Kurz: Das Zeugnis Jesu ist kein Original, das mimetisch reproduziert wurde. Das kann exegetisch an der Rolle von Mittlerfiguren festgemacht werden. Das Zeugnis Jesu spricht sich nicht von selbst, sondern vermittelt durch Johannes, den Engel und andere Zeuginnen und Zeugen. Diese Mittlerfiguren machen aber deutlich, dass das Zeugnis nur in der Präsentation durch jemanden zugänglich ist. Oder – mit Emmanuel Levinas gesprochen – das Unendliche ereignet sich im Modus des Zeugnisses, »indem es durch den bedeutet, dem es bedeutet«.51 Hier leuchtet also wieder auf, was eingangs über den Ursprung des Wortes auctoritas gesagt wurde: Die auctoritas ist immer an eine bestimmte Person gebunden. Für Levinas ist es die besondere Eigenschaft des Unendlichen, Transzendenten, in unserem Fall des Zeugnisses Jesu, dass es sich nur durch menschliche Vermittlung ereignen kann. Die Mittlerfigur präsentiert daher das Unendliche, verweist aber zugleich auf dessen Abwesenheit. Denn es kann sich nicht selbst präsentieren. Der genitivus subiectivus, das Zeugnis, das Jesus ablegt, kann also nicht ohne den genitivus obiectivus, das Zeugnis, das jemand von Jesus ablegt, existieren. Der Text der Offenbarung ist wesentlich durch das Zeugnis Jesu bedingt und das Zeugnis Jesu wird erst durch den Text zugänglich. Das Zeugnis, das Jesus gibt, ist also nicht einfach Ursprung des Zeugnisses, das Johannes ablegt, sondern auch das Zeugnis des Johannes ist Ursprung des Zeugnisses Jesu, das uns vorliegt. Wir können nicht zur Größe »Zeugnis Jesu« vordringen wenn nicht durch Johannes. Wir entkommen nicht der Kette der Präsentation. Oder – um es noch einmal mit dem Bild von Magritte zu verdeutlichen – wir wissen nicht, ob die große Pfeife oder die Pfeife auf der Leinwand zuerst da war. Beide sind gleichermaßen Präsentationen. Johannes als Autor ist Bürge für das Zeugnis Jesu im doppelten Sinne: für das Zeugnis, das Jesus ablegt, und für das, das er von Jesus ablegt. Er hat also deshalb Autorität, weil er notwendig ist, damit sich das Zeugnis ereignen kann und damit es so präsentiert werden kann, wie er es präsentiert. Zugleich aber ist diese Autorität unterwandert, weil er durch seine Anwesenheit auf die Abwesenheit dessen verweist, was er darstellen möchte. 51 Übersetzung CB; franz. Original: Emmanuel Levinas: Vérité du Dévoilement et Vérité du Témoignage, in: Enrico Castelli (Hg.): La Testimonianza (AF), Padua 1972, 107: »signifiant par celui à qui il signifie […].«

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Das System von Zeugen in der Offenbarung

Ein Text, der bei einer Beschäftigung mit der Offenbarung als Zeugnis nicht ausgelassen werden darf, ist der Bericht über die beiden Zeugen in Offb 11,1–14. Die beiden Zeugen werden oft als messianische Gestalten mit priesterlichem und königlichem Hintergrund verstanden. Dies basiert auf einer Deutung des alttestamentlichen Vorbilds der Vision in Sach 4,14, wo »die Söhne des Olivensafts« als Serubbabel, einen Davididen, der als persischer Statthalter den Wiederaufbau des Tempels übernahm, und Jeschua, einen Hohepriester, der den Kult neu organisierte, verstanden wurden.52 Es wäre m. E. aber zu einfach, eindimensional aufzulösen, für wen die beiden Zeugen stehen. Sie haben jedoch mit der Zweiheit von Wort Gottes und Zeugnis Jesu, die aber doch eng zusammen gehören, viel gemeinsam.53 So wie das Zeugnis des Johannes sich auf das Zeugnis Jesu beruft, ist dieses wiederum inhaltlich als Wort Gottes qualifiziert. Zeugnis Jesu und Wort Gottes sind in Offb 1,2.9 und 20,4 durch ein καί verbunden. Es handelt sich wahrscheinlich um ein καί epexegeticum, d. h. das Wort Gottes qualifiziert das Zeugnis Jesu näher.54 Das Zeugnis Jesu präsentiert das Wort Gottes, es ist nicht unabhängig von diesem. Es ist von ihm unterschieden und doch gleich. Stefan Alkier und Thomas Paulsen zeigen, inwiefern Gott und Jesus unterschieden und doch eins sind: Christus erscheine eher als Zeuge, der in das Weltgeschehen hinein gestellt ist, Gott dem gegenüber als transzendent.55 Und doch sei in Offb 22,3 vom Thron Gottes und des Lammes die Rede. Danach heißt es aber: »und seine Knechte werden ihn verehren« (καὶ ὁ θρόνος τοῦ θεοῦ καὶ τοῦ ἀρνίου ἐν αὐτῇ ἔσται, καὶ οἱ δοῦλοι αὐτοῦ λατρεύσουσιν αὐτῷ). So sei in dem unerwarteten Singular die Einheit von Gott und Christus angedeutet.56 Ganz ähnlich ist es mit den beiden Zeugen in Kapitel 11: Denn Feuer kommt »aus ihren (Pl.) Mund (Sg.)« (ἐκ τοῦ στόματος αὐτῶν; 11,5), »ihre (Pl.) Prophetie (Sg.)« wird vollendet (τῆς προφητείας αὐτῶν; 11,6). Ebenso wird »ihre (Pl.) 52 Vgl. Holger Delkurt: Sacharjas Nachtgesichte. Zur Aufnahme und Abwandlung prophetischer Traditionen (BZAW 302), Berlin 2000, 214; Wim A.M. Beuken: Haggai-Sacharja 1–8. Studien zur Überlieferungsgeschichte der frühnachexilischen Prophetie (SSN 10), Assen 1967, 271; vgl. auch David E. Aune: Revelation 6–16 (WBC 52B), Waco 1998, 599; Martin Karrer: Der Gesalbte. Die Grundlagen des Christustitels (FRLANT 151), Göttingen 1991, 105, 148; Stephen Pattemore: The People of God in the Apocalypse. Discourse, Structure, and Exegesis (MSSNTS 128), Cambridge 2004, 162. 53 Vgl. Aune: Revelation 6–16 (s. Anm. 52), 602; Kenneth A. Strand: The Two Witnesses of Revelation, in: AUSS 19 (1981), (127–135) 134. 54 Vgl. Aune, Revelation 1–5 (s. Anm. 30), 19; Brian K. Blount: Can I Get a Witness? Reading Revelation through African American Culture, Louisville 2005, 48. 55 Vgl. Stefan Alkier/Thomas Paulsen: Der kommende Gott. Philologische, literaturwissenschaftliche und theologische Beobachtungen zur Komposition der Johannesapokalypse, in: ThLZ 141 (2017), (453–472) 463. 56 Vgl. Alkier/Paulsen: Der kommende Gott (s. Anm. 55), 464.

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Leichnam (Sg.)« (τὸ πτῶμα αὐτῶν; 11,8) auf dem Marktplatz liegen (vgl. auch V. 9).57 In 11,11 sind die Füße im Plural, was das Schema allerdings nicht unterbricht, da ja auch eine Person zwei Füße hätte. Eventuell ist das Griechisch hier also nicht einfach nur falsch – wie es oft eingeschätzt wird –,58 sondern veranschaulicht einen paradoxen Sachverhalt performativ. Die Einheit und Differenz von Zeugnis Jesu und Wort Gottes sowie der beiden Zeugen tritt klar hervor. Sie zeigt, dass etwas aus mehreren Mündern bezeugt wird, dass das Etwas, das beide bezeugen, auch in der Präsentation durch verschiedene Akteurinnen und Akteure erkennbar bleibt. Trotzdem wird durch diese Vielheit deutlich, dass es präsentiert ist. Bezeichnend ist, dass nicht erwähnt wird, was die beiden Zeugen bezeugen. In ihrem Zeugnis ist das, was sie bezeugen, abwesend. Ihre Zweiheit, sowie die Zweiheit von Wort Gottes und Zeugnis Jesu, können in der antiken Tradition als Glaubwürdigkeitsgarant gesehen werden. Die Vorstellung, dass zwei Zeugen zur Beglaubigung notwendig sind, findet sich auch in Dtn 19,15; Mt 18,16; Joh 8,17 und 2 Kor 13,1. Im antiken Rechtswesen berichtet ein Augenzeuge Erfahrenes und ein zweiter Zeuge kann als Bürge den Augenzeugen autorisieren.59 Es braucht also einen Zeugen des Zeugen. Das Bild auf der Leinwand als Präsentation einer gemalten Pfeife bei Magritte ist also auf einer Ebene mit dem Zeugnis des Johannes über das Zeugnis Jesu. Nur dass dieses auch noch das Wort Gottes präsentiert und daher keine eigenständige Größe ist. Die Vielzahl der Zeugen wird literaturtheoretisch von Derrida reflektiert. In »Bleibe. Maurice Blanchot« setzt er sich mit dem Satz Paul Celans »Zeugnis ablegend für das Fehlen einer Bezeugung«60 auseinander. Er zeigt auf, dass der Bericht über ein Zeugnis immer dieses Zeugnis beglaubigt, zugleich aber das Moment der Abwesenheit in dieses einträgt. Denn das Zeugnis kann sich nicht selbst, nicht ohne Erzähler, erzählen. Es ist auf Vermittlung angewiesen und markiert dadurch die Abwesenheit des tatsächlich Erlebten.61 Indem also mehrere Instanzen dasselbe bezeugen, zeigen sie damit zugleich, dass sich die Wahrheit des Gesagten nicht von selbst versteht.

57 Vgl. Ekkehardt Müller: The Two Witnesses of Revelation 11, in: JATS 13 (2002), (30–45) 40, der aber aus diesem sprachlichen Befund schließt, dass es sich bei den beiden Zeugen um die Schrift in ihrer Zweiheit aus Altem Testament und Neuem Testament handelt (vgl. ebd., 45). 58 Diese Einschätzung fand wohl ihren Höhepunkt in Edward C. Selwyns Feststellung, das Griechisch der Offenbarung »would disgrace the exercise of an English fifth-form schoolboy« (Edward C. Selwyn: The Christian Prophets and the Prophetic Apocalypse, London 1900, 258). 59 Vgl. Müller: The Two Witnesses (s. Anm. 57), 34; Georg Busolt: Griechische Staatskunde 1. Allgemeine Darstellung des griechischen Staates (HAW 4,1,1,1), München 1920, 550. 60 Jacques Derrida: Bleibe. Maurice Blanchot, hg. v. Peter Engelmann (Passagen Forum), Wien 2003, 30. 61 Vgl. Derrida: Bleibe (s. Anm. 60), 25, 28.

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Im Bild von Magritte scheint die Pfeife auf der Leinwand auch identisch mit der dahinter. Sie sind jedoch beide Präsentationen und zeigen das gerade in ihrer Zweiheit.

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Der Text der Offenbarung weist von sich weg

Die Offenbarung wandert von Zeuge zu Zeuge. Sie betont, dass hier etwas von mehreren Seiten bezeugt wird, ohne dieses inhaltlich zu bestimmen. Als Text präsentiert sie den Akt des Bezeugens. Sie ist kein Text über ein Zeugnis, sondern über das Bezeugen. Als Zeugnis bezeugt sie, dass das Zeugnis in ihr von mehreren Seiten bezeugt ist. Als zeugnishafter Text verabsolutiert sie sich aber nicht. Sie thematisiert sich selbst als vorübergehend. In Offb 11,7 wird z. B. erwähnt, dass eine Zeit kommt, in der die beiden Zeugen ihr Zeugnis vollendet haben werden. Ihr Zeugnis ist zeitlich begrenzt. Aber der ganze Text ist auf die Wiederkunft Jesu ausgerichtet, was sich in den »Komm«-Rufen in Offb 22,17.20 besonders deutlich zeigt. Die Offenbarung weist voraus auf die noch ausstehende Erlösung und Wiederkunft. Zugleich aber beschreibt sie eine bereits herrschende Wirklichkeit Gottes neben der scheinbaren Herrschaft des Römischen Reiches. Sie präsentiert also eine Realität, die zugleich anwesend und abwesend ist, die als Ankommende zugleich noch nicht ganz da und bereits da ist.62 Der Text ist vergleichbar mit dem Tempel. In ihm ist die Anwesenheit Gottes besonders verdichtet und zugleich ist er gerade dadurch ein Marker der Abwesenheit bzw. Unfassbarkeit Gottes.63 So auch die Offenbarung: Sie bezeugt die Wirklichkeit Gottes und ist damit zugleich ein Marker für deren Entzogenheit.

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Fazit

Oft wird Johannes in der exegetischen Literatur als besonders autoritativer Autor dargestellt, weil er ein wichtiger Zeuge ist, aufschreibt, was er selbst gesehen und gehört hat, und auch noch von Christus und Gott autorisiert ist. Gerade der zeugnishafte Charakter des Textes unterwandert aber solche Autoritätszu62 Alkier/Paulsen: Der kommende Gott (s. Anm. 55), 470 betonen, dass im Prädikat ὁ ἐρχόμενος in Offb 1,4.8 das Theodizeeproblem gelöst wird: Gott ist Kommender. D. h. zum einen ist seine vollständige Ankunft sicher und zum anderen ist »das Ziel des Kommens, nämlich das ungestörte Zusammensein von Gott, Jesus Christus und ihren Zeugen schon jetzt wirksam«, trotzdem aber noch nicht vollständig vollzogen. 63 Vgl. Robert M. Price: Saint John’s Apothecary. Différance, Textuality and the Advent of Meaning, in: BibInt 6 (1998), (105–112) 111: »The text itself is the only thing revealed.«

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schreibungen. Der Text lenkt von einseitigen Ursprungszuschreibungen weg zu einem Netz von Zeuginnen und Zeugen, die einander Glaubwürdigkeit garantieren. Zugleich legen sie gerade durch ihre Vielheit offen, dass sie sich innerhalb eines Systems von Präsentationen bewegen. D. h., in der Offenbarung sendet nicht der Autor Johannes etwas, eine bestimmte Botschaft, sondern die Offenbarung sendet sich. Sie sendet, dass in ihr etwas gesendet wird. Diesem Etwas können die Lesenden immer nur hinterher sein, es aufspüren in dem Wissen, dass sie es nicht greifen können. Bezeichnen wir dieses Etwas als Wort Gottes, so kann dessen Transzendenz gerade dadurch gewahrt werden, dass wir uns seiner als in Texten Präsentiertem bewusst sind. Der Gedanke, dass das Wort Gottes Teil der Textwelt und somit konstruiert und präsentiert ist, bedeutet somit nicht gleichzeitig, dass es in dieser Textwelt aufgeht. Der hier verwendete Präsentationsbegriff entspricht religiösen Texten, weil er zwar die Vergegenwärtigung von Transzendentem in Texten nicht ausschließt, zugleich aber an dessen Unverfügbarkeit festhält. Die Autorität des Autors als Bürge für sein Zeugnis, den Text, wird durch die Abwesenheit dessen, was er bezeugt, zugleich etabliert und unterwandert. Damit sein Zeugnis Wirkung erlangt, ist er auf die interpretierende Aktualisierung durch Lesende angewiesen. Die Lesenden kommen daher nicht nachträglich zum Text hinzu und graben eine vom Autor in den Text gelegte Aussage aus: Die Aussage entsteht erst in der Wechselwirkung zwischen Autor, Text und Lesenden. Exegetisch würde der hier entwickelte Gedankengang angewendet, wenn nicht nach der Sache hinter dem Text – einer Botschaft, einer Autorintention, einem historischen Sachverhalt – gesucht würde, sondern Mechanismen analysiert würden, die ein heiliger Text braucht, um etwas Transzendentes in Worte zu fassen. Damit wäre die Anschlussfähigkeit der Exegese an kulturwissenschaftliche Fragestellungen über Rolle, Auslegung und Autorität religiöser Texte untermauert.

Hermut Löhr

Die Geburt des Autors aus der Überlieferung der Texte. Überlegungen zum Phänomen der Pseudepigraphie in Quellen des entstehenden Christentums

1 Das Martyrium Polycarpi ist das älteste erhaltene Beispiel frühchristlicher Märtyrerliteratur. Es wird für gewöhnlich auf die frühere zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. datiert, also in Nähe zu den historischen Ereignissen selbst, doch gibt es auch Stimmen, die für eine sehr viel spätere Abfassungszeit plädieren.1 Ein briefliches Präskript, welches enge Parallelen in frühchristlichen Briefen innerhalb und außerhalb des Neuen Testaments hat, leitet die Schrift ein: Die Versammlung Gottes, welche in Smyrna wohnt, der Versammlung Gottes, die in Philomelium wohnt, und allen Wohnstätten der heiligen und allgemeinen Versammlung, die an jedem Ort wohnen: Erbarmen und Friede und Liebe Gottes, des Vaters und unseres Herrn Jesus Christus mögen sich mehren!2

1 Zur Diskussion vgl. etwa Gerd Buschmann: Das Martyrium des Polykarp, in: Wilhelm Pratscher (Hg.): Die Apostolischen Väter. Eine Einleitung, Göttingen 2009, (147–169) 151–152; Bart D. Ehrman: Forgery and Counterforgery. The Use of Literary Deceit in Early Christian Polemics, Oxford 2013, 493–501; Paul Hartog: Polycarp’s Epistle to the Philippians and the Martyrdom of Polycarp. Introduction, Text and Commentary (Oxford Apostolic Fathers), Oxford 2013, 171–186; Candida R. Moss: On the Dating of Polycarp. Rethinking the Place of the Martyrdom of Polycarp in the History of Christianity, in: EC 1 (2010), 539–574 (S. 574: »MPol as a third-century composition that may have been redacted in the fourth century«). – Eine neue kritische Textausgabe mit Erläuterungen von Martyrium Polycarpi hat Otto Zwierlein: Die Urfassungen der Martyria Polycarpi et Pionii und das Corpus Polycarpianum 1–2 (Band 1: Editiones criticae; Band 2: Textgeschichte und Rekonstruktion. Polykarp, Ignatius und der Redaktor Ps.-Pionius) (UALG 116), Berlin 2014 vorgelegt. Sie wurde regelmäßig verglichen. Für die rekonstruierte Urfassung nimmt auch Zwierlein: Urfassungen 2, 107 eine »zeitliche Nähe zu den Geschehnissen« an. 2 Martyrium Polycarpi, prologus (306 Holmes): Ἡ ἐκκλησία τοῦ θεοῦ ἡ παροικοῦσα Σμύρναν τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ τῇ παροικούσῃ ἐν Φιλομηλίῳ καὶ πάσαις ταῖς κατὰ πάντα τόπον τῆς ἁγίας καὶ καθολικῆς ἐκκλησίας παροικίαις· ἔλεος καὶ ει᾿ρήνη καὶ ἀγάπη θεοῦ πατρὸς καὶ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ πληθυνθείη. – Die Zitate aus den Apostolischen Vätern folgen, soweit nicht anders angegeben Michael W. Holmes: The Apostolic Fathers. Greek Texts and English Translations, Grand Rapids 32007.

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Die Angabe des kollektiven Autors, nämlich einer spezifischen ἐκκλησία, wie auch die Grußformel haben eine besonders enge Parallele im 1. Klemensbrief. Der Schluss von Martyrium Polycarpi weist eine recht komplexe Struktur auf, und es lassen sich leichte Abweichungen innerhalb der Texttradition feststellen. Der konventionelle Briefschluss in Kap. 20 lautet: Ihr batet darum, dass man euch das Geschehene genauer offen lege; wir haben aber für diesmal das Hauptsächliche in Erinnerung gerufen durch unseren Bruder Markion. Schickt den Brief, nachdem ihr dies zur Kenntnis genommen habt, auch den weiter entfernten Brüdern weiter, damit auch sie den Herren loben, der aus seinen eigenen Sklaven erwählt.3

Die Formulierung erinnert erneut an den 1. Klemensbrief. Dieser wurde nach Angaben eines Briefes des Bischofs Dionysius von Korinth an seinen Amtsbruder in Rom, Soter, aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. und überliefert im vierten Buch von Eusebs Kirchengeschichte4, von »euch« (d. h. der Versammlung in Rom) an »uns« (diejenige in Korinth) »durch« (διά) einen gewissen Clemens (der im Text5 vom 1. Klemensbrief selbst nirgends genannt ist) geschrieben. Darüber hinaus belegt der Briefschluss des Martyrium Polycarpi die frühchristliche Praxis des wechselseitigen Austausches von Schriften zwischen vermutlich geographisch benachbarten Gemeinden. Das älteste erhaltene Beispiel für diesen Usus findet sich in Kol 4,16. Die Textpassagen, welche diesem Briefschluss noch folgen, sind vermutlich sekundäre Hinzufügungen. Zunächst wird in Kapitel 22 das Todesdatum des Polykarp angegeben. Angefügt ist danach ein weiterer brieflicher Wunsch, sodann folgen zwei Notizen, die sich auf unterschiedliche Personen beziehen, welche mit der Überlieferung des Schreibens befasst waren: Gaius, der in derselben Stadt wie Irenäus lebte, hat diesen Bericht aus den Aufzeichnungen des Irenäus, eines Schülers des Polykarp, abgeschrieben. Ich, Sokrates, schrieb ihn in Korinth aus der Abschrift des Gaius ab. Die Gnade sei mit allen! Und ich, Pionius, schrieb ihn wieder ab aus dem zuvor Geschriebenen, nach dem ich gesucht hatte, denn der selige Polykarp hatte es mir in einer Offenbarung gezeigt, wie ich im Folgenden darlegen werde. Ich sammelte es, als es durch die Zeit fast schon 3 Martyrium Polycarpi 20,1 (328 H.): Ὑμεῖς μὲν οὖν ἠξιώσατε διὰ πλειόνων δηλωθῆναι ὑμῖν τὰ γενόμενα, ἡμεῖς δὲ κατὰ τὸ παρὸν ὡς ἐν κεφαλαίῳ μεμηνύκαμεν διὰ τοῦ ἀδελφοῦ ἡμῶν Μαρκίωνος. μαθόντες οὖν ταῦτα καὶ τοῖς ἐπέκεινα ἀδελφοῖς τὴν ἐπιστολὴν διαπέμψασθε, ἵνα καὶ ἐκεῖνοι δοξάζωσι τὸν κύριον τὸν ἐκλογὰς ποιούμενον τῶν ι᾿δίων δούλων. Zwierlein: Urfassungen 1 (s. Anm. 1), 4 weist die Kap. 20–22 insgesamt Ps.-Pionius zu. 4 Euseb, Historia ecclesiastica 4,23,11 (GCS.NF 6, 378,4–10 Schwartz/Mommsen/Winkelmann). S. Hermut Löhr: Studien zum frühchristlichen und frühjüdischen Gebet. Untersuchungen zu 1Clem 59 bis 61 in seinem literarischen, historischen und theologischen Kontext (WUNT 160), Tübingen 2003, 115–117. 5 Wohl aber in den Paratexten. Nach dem syrischen Textzeugen war dieser Clemens ein Schüler des Petrus, vgl. Holmes: Fathers (s. Anm. 2), 44, apparatus ad locum.

Die Geburt des Autors aus der Überlieferung der Texte

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abgenutzt war, auf dass der Herr Jesus Christus mich auch sammele mit seinen Erwählten in seine himmlische Herrschaft. Ihm sei Ehre mit dem Vater und dem heiligen Geist in alle Ewigkeit. Amen.6

Diese Textpassagen sind der authentische oder fiktive Niederschlag der Überlieferungsgeschichte des Martyrium Polycarpi; sie beginnt in der ἐκκλησία von Philomelium, wohin der Text ursprünglich adressiert war.7 Wir können sie als Kolophone dreier verschiedener Schreiber bezeichnen: Gaius hatte Zugang zu den Papieren des Polykarp-Schülers Irenäus (von Lyon) – ob vor oder nach dem Tod des Irenäus, ist nicht ganz deutlich, doch deutet der Verweis auf die »Aufzeichnungen« (συγγράμματα) vermutlich auf eine Zeit nach dem Tode des Irenäus (d. h. in absoluter Chronologie: nach 200 n. Chr.). Dann kopierte Sokrates von Korinth den von Gaius geschriebenen Text. Und schließlich verfertigte ein gewisser Pionius – dessen Identifizierung mit dem Märtyrer aus decianischer Zeit und dem Autor einer Vita Polycarpi nicht sicher ist8 – eine neue Abschrift von derjenigen des Sokrates, weil diese abgenutzt war (eine Bemerkung, die darauf deutet, dass die Handschrift wiederholt benutzt wurde). Zu dieser Zeit, so scheint es, war Polykarp schon zu einer himmlischen Gestalt geworden, zu einem Heiligen, der besondere Offenbarungen zuteilwerden lassen konnte. Eine etwas andere Geschichte der frühen Textüberlieferung erzählt die Moskauer Handschrift M Mosquensis 390 aus dem 13. Jahrhundert im sog. epilogus Mosquensis:9 Dies schrieb Gaius aus den Aufzeichnungen des Irenäus ab; er war auch ein Mitbürger des Irenäus, der ein Schüler des heiligen Polykarp geworden war. Dieser Irenäus nämlich, der zur Zeit des Martyriums des Bischofs Polykarp in Rom war, lehrte viele Menschen. Von ihm sind viele sehr schöne und höchst zutreffende Schriften im Umlauf. In ihnen erwähnt er, dass er bei Polykarp gelernt habe. Trefflich wies er jede Häresie auf 6 Martyrium Polycarpi 22,2–3 (330 H.): Ταῦτα μετεγράψατο μὲν Γάϊος ἐκ τῶν Ει᾿ρηναίου, μαθητοῦ τοῦ Πολυκάρπου, ὃς καὶ συνεπολιτεύσατο τῷ Ει᾿ρηναίῳ. ἐγὼ δὲ Σωκράτης ἐν Κορίνθῳ ἐκ τῶν Γαΐου ἀντιγράφων ἔγραψα. ἡ χάρις μετὰ πάντων. Ἐγὼ δὲ πάλιν Πιόνιος ἐκ τοῦ προγεγραμμένου ἔγραψα ἀναζητήσας αὐτά, κατὰ ἀποκάλυψιν φανερώσαντός μοι τοῦ μακαρίου Πολυκάρπου, καθὼς δηλώσω ἐν τῷ καθεξῆς, συναγαγὼν αὐτὰ ἤδη σχεδὸν ἐκ τοῦ χρόνου κεκμηκότα, ἵνα κἀμὲ συναγάγῃ ὁ κύριος Ἰησοῦς Χριστὸς μετὰ τῶν ἐκλεκτῶν αὐτοῦ ει᾿ς τὴν οὐράνιον βασιλείαν αὐτοῦ, ᾧ ἡ δόξα σὺν πατρὶ καὶ ἁγίῳ πνεύματι ει᾿ς τοὺς αι᾿ῶνας τῶν αι᾿ώνων, ἀμήν. 7 Für Zwierlein: Urfassungen 1 (s. Anm. 1), 6 gehört die Adresse nach Philomelium jedoch nicht zum ältesten Text. 8 Die Namensnennung hier für fiktiv, d. h. die Passage für pseudepigraphisch, zu halten, ist wohl nur dann sinnvoll, wenn Pionius als eine sonst bekannte Gestalt der christlichen Tradition aufgefasst werden sollte. 9 Vgl. dazu Oscar (von) Gebhardt: Collation einer Moskauer Handschrift des Martyrium Polycarpi, in: ZHTh (1875), (355–395) 368–370. Eine Übersicht über den Inhalt der Handschrift findet sich bei Christian Friedrich von Matthäi: Accurata Codicum Graecorum MSS. Bibliothecarum Mosquensium Sanctissimae Synodi Notitia et Recensio 1, Leipzig 1805, 89–90.

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und den kirchlichen und umfassenden Maßstab, wie er ihn von dem Heiligen empfangen hatte. […] Auch dies wird in den Schriften des Irenäus überliefert: dass zu dem Tag und der Stunde, als Polykarp in Smyrna das Martyrium erlitt, Irenäus, der in Rom war, eine Stimme wie eine Posaune hörte, die sprach: »Polykarp hat Zeugnis abgelegt«. Wie vorher erwähnt, schrieb Gaius aus den Aufzeichnungen des Irenäus ab, aus der Abschrift des Gaius aber Isokrates in Korinth. Ich, Pionius, schrieb wiederum aus der Abschrift des Isokrates ab, nachdem ich sie gemäß einer Offenbarung des heiligen Polykarp gesucht und gesammelt hatte, obwohl sie durch die Zeit fast schon abgenutzt waren.10

Diese Fassung des Kolophons befasst sich ausführlicher mit zwei Persönlichkeiten, die in unterschiedlicher Weise für den Text und seine Überlieferung besonders bedeutsam waren: Polykarp, dessen Geschichte im Text erzählt wird, sowie sein Schüler Irenäus, der ein sehr bekannter Zeitgenosse ist, zugleich aber die Quelle der Überlieferung, die Gaius, Isokrates und Pionius verwenden. Diese Textpassagen bieten deutlich mehr als kurze Notizen betreffs der Hand des Schreibers und der Datierung von Manuskripten und Abschriften. Sie erzählen eine Geschichte, in welcher die Entstehung und Übermittlung von Texten eng verknüpft sind mit der Entstehung von Personaltraditionen bzw. -legenden. Sie sind damit ein Zeugnis für die Funktion und Wichtigkeit, die Polykarp und Irenäus im Laufe der Traditionsgeschichte zugeschrieben wurden. Das hier am Beispiel von späteren Anhängen eines Textes (vielleicht) aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. zu Beobachtende hat Parallelen in anderen und früheren Texten des entstehenden Christentums. Ein prominentes Beispiel ist der doppelte Schluss des Johannesevangeliums. In Joh 20,30–31 heißt es einfach: Jesus nun tat auch viele andere Zeichen vor seinen Schülern, die nicht in diesem Buch aufgeschrieben sind. Diese aber sind aufgeschrieben damit ihr glaubt, dass Jesus der Gesalbte ist, der Sohn Gottes, und damit ihr, weil ihr glaubt, das ewige Leben habt in seinem Namen.11

10 Martyrium Polycarpi, epilogus Mosquensis 2–3 (330–332 H.): Ταῦτα μετεγράψατο μὲν Γάϊος ἐκ τῶν Ει᾿ρηναίου συγγραμμάτων, ὃς καὶ συνεπολιτεύσατο τῷ Ει᾿ρηναίῳ, μαθητῇ γεγονότι τοῦ ἁγίου Πολυκάρπου. οὗτος γὰρ ὁ Ει᾿ρηναῖος, κατὰ τὸν καιρὸν τοῦ μαρτυρίου τοῦ ἐπισκόπου Πολυκάρπου γενόμενος ἐν Ῥώμῃ, πολλοὺς ἐδίδαξεν· οὗ καὶ πολλὰ αὐτοῦ συγγράμματα κάλλιστα καὶ ὀρθότατα φέρεται· ἐν οἷς μέμνηται Πολυκάρπου, ὅτι παρ᾿ αὐτοῦ ἔμαθεν. ἱκανῶς τε πᾶσαν αἵρεσιν ἤλεγξεν καὶ τὸν ἐκκλησιαστικὸν κανόνα καὶ καθολικόν, ὡς παρέλαβεν παρὰ τοῦ ἁγίου, καὶ παρέδωκεν. […] καὶ τοῦτο δὲ φέρεται ἐν τοῖς τοῦ Ει᾿ρηναίου συγγράμμασιν, ὅτι ᾗ ἡμέρᾳ καὶ ὥρᾳ ἐν Σμύρνῃ ἐμαρτύρησεν ὁ Πολύκαρπος, ἤκουσεν φωνὴν ἐν τῇ Ῥωμαίων πόλει ὑπάρχων ὁ Ει᾿ρηναῖος, ὡς σάλπιγγος λεγούσης· Πολύκαρπος ἐμαρτύρησεν. ἐκ τούτων οὖν, ὡς προλέλεκται, τῶν τοῦ Ει᾿ρηναίου συγγραμμάτων Γάϊος μετεγράψατο, ἐκ δὲ τῶν Γαΐου ἀντιγράφων Ἰσοκράτης ἐν Κορίνθῳ. Ἐγὼ δὲ πάλιν Πιόνιος ἐκ τῶν Ἰσοκράτους ἀντιγράφων ἔγραψα, κατὰ ἀποκάλυψιν τοῦ ἁγίου Πολυκάρπου ζητήσας αὐτά, συναγαγὼν αὐτὰ ἤδη σχεδὸν ἐκ τοῦ χρόνου κεκμηκότα. 11 Joh 20,30–31: Πολλὰ μὲν οὖν καὶ ἄλλα σημεῖα ἐποίησεν ὁ Ἰησοῦς ἐνώπιον τῶν μαθητῶν [αὐτοῦ], ἃ

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Der zweite Buchschluss in Joh 21,20–25 – seine Ursprünglichkeit steht in Frage – ist komplexer gestaltet: Petrus wandte sich um und sah, dass der Jünger, den Jesus lieb hatte und der beim Mahl an seiner Brust gelegen und gefragt hatte: »Herr, wer ist es, der dich ausliefert?«, folgte. Als Petrus diesen nun sah, sagte er zu Jesus: »Herr, was ist mit diesem?« Jesus sagte ihm: »Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was heißt das für dich? Du folge mir nach!« Es verbreitete sich nun das Wort bei den Brüdern, dass dieser Schüler nicht stirbt. Jesus hatte ihm aber nicht gesagt, dass er nicht stirbt, sondern: »Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was heißt das für dich?« Dies ist der Schüler, der Zeugnis gibt für diese Dinge und der dies geschrieben hat, und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist. Es gibt aber noch vieles andere, was Jesus tat. Würde man es zusammen aufschreiben, so, meine ich, könnte die Welt die geschriebenen Bücher nicht fassen.12

Im Unterschied zu dem Schluss (oder dem Kolophon)13 von Martyrium Polycarpi werden hier keinerlei Namen genannt. Während jedoch die Schlusspassage in Kap. 20 nicht Bezug nimmt auf eine einzelne Persönlichkeit, macht Kap. 21 eine Gestalt der erzählten Welt – den anonymen Jünger neben Petrus, der mit dem Schüler, den Jesus lieb hatte, identifiziert wird (V. 20) – zum Zeugen der erzählten Ereignisse und darüber hinaus zum Autor der Schrift. Doch ist auch dies nicht das Ende: Zwei weitere Stimmen lassen sich in dieser Textpassage vernehmen: eine »Wir«-Stimme, welche die Bedeutung des erwähnten Schülers erklärt, und schließlich eine »Ich«-Stimme, welche den Reichtum an Informationen über Jesus betont, die nicht in das vorliegende Buch aufgenommen werden konnten. Wer ist also letztendlich der Autor des Johannesevangeliums? Die Geschichte, wie der anonyme Schüler und Autor im Laufe des 2. Jahrhunderts n. Chr. zunächst vermutlich zum »Alten« Johannes, dann aber zum Zebedäus-Sohn Johannes wurde, ist mehrfach von der Exegese erzählt und kri-

οὐκ ἔστιν γεγραμμένα ἐν τῷ βιβλίῳ τούτῳ· ταῦτα δὲ γέγραπται ἵνα πιστεύ[σ]ητε ὅτι Ἰησοῦς ἐστιν ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ, καὶ ἵνα πιστεύοντες ζωὴν ἔχητε ἐν τῷ ὀνόματι αὐτοῦ. 12 Joh 21,20–25: Ἐπιστραφεὶς ὁ Πέτρος βλέπει τὸν μαθητὴν ὃν ἠγάπα ὁ Ἰησοῦς ἀκολουθοῦντα, ὃς καὶ ἀνέπεσεν ἐν τῷ δείπνῳ ἐπὶ τὸ στῆθος αὐτοῦ καὶ εἶπεν· κύριε, τίς ἐστιν ὁ παραδιδούς σε; τοῦτον οὖν ι᾿δὼν ὁ Πέτρος λέγει τῷ Ἰησοῦ· κύριε, οὗτος δὲ τί; λέγει αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς· ἐὰν αὐτὸν θέλω μένειν ἕως ἔρχομαι, τί πρὸς σέ; σύ μοι ἀκολούθει. ἐξῆλθεν οὖν οὗτος ὁ λόγος ει᾿ς τοὺς ἀδελφοὺς ὅτι ὁ μαθητὴς ἐκεῖνος οὐκ ἀποθνῄσκει· οὐκ εἶπεν δὲ αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς ὅτι οὐκ ἀποθνῄσκει ἀλλ᾿· ἐὰν αὐτὸν θέλω μένειν ἕως ἔρχομαι [, τί πρὸς σέ]; Οὗτός ἐστιν ὁ μαθητὴς ὁ μαρτυρῶν περὶ τούτων καὶ ὁ γράψας ταῦτα, καὶ οἴδαμεν ὅτι ἀληθὴς αὐτοῦ ἡ μαρτυρία ἐστίν. Ἔστιν δὲ καὶ ἄλλα πολλὰ ἃ ἐποίησεν ὁ Ἰησοῦς, ἅτινα ἐὰν γράφηται καθ᾿ ἕν, οὐδ᾿ αὐτὸν οἶμαι τὸν κόσμον χωρῆσαι τὰ γραφόμενα βιβλία. 13 Die Unterscheidung von Textschluss und Kolophon ist nur bezogen auf konkrete Handschriften präzise durchzuführen: Was einmal Kolophon war, kann in späteren Handschriften (die ihrerseits eigene Kolophone aufweisen können) zum Textschluss werden.

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tisch befragt worden.14 Diese Diskussion hat darin ihr Verdienst, dass sie unsere Aufmerksamkeit wieder auf die einschlägigen Texte gerichtet hat. Sie hat aber darin ihre Beschränkung, dass sie nach meinem Urteil die primäre literarische, historische und hermeneutische Bedeutung dieser Tradition vernachlässigt hat, indem sie, statt vornehmlich Kontext und Analogien der aufgezeigten Tradition zu untersuchen, sich auf die Suche nach dem historischen Autor des vierten Evangeliums begeben hat. Mir sind zwar keine Handschriften des Johannesevangeliums bekannt, die neues Material böten, doch können wir nicht sicher sein, dass unser Bild vollständig ist, einfach deshalb, weil wir noch keine zuverlässige und umfassende Übersicht über die Paratexte wichtiger biblischer Texte und Handschriften haben. Es sei angefügt, dass der Wortlaut der drei in der Tradition Johannes zugeschriebenen Briefe, die für die Exegese seit ca. der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Produkt eines »johanneischen Kreises« oder einer »johanneischen Schule« sind, nicht ausdrücklich auf die Autor-Tradition in Joh 20 und 21 Bezug nimmt. Es scheint also, dass in diesem Fall die Konstruktion einer expliziten gemeinsamen Tradition oder Genealogie erst später begann.15 Weniger entfaltet, aber vergleichbar sind Spuren für die Entstehung der Tradition paulinischer Verfasserschaft, die bereits im Neuen Testament zu finden sind: Erwähnt wurde schon die einschlägige und bekannte Passage des pseudopaulinischen Briefes an die Kolosser. In Kol 4,16 heißt es: Und wenn bei euch der Brief verlesen worden ist, sorgt dafür, dass er auch in der Versammlung der Laodizener verlesen wird, und sorgt auch dafür, dass ihr denjenigen aus Laodizea verlest.16

Diese Aussage geht über Notizen in paulinischen Briefen noch hinaus, welche implizieren, dass es sich um Zirkularschreiben handelt, wie etwa der Galaterbrief oder die adscriptio in 2 Kor 1,1, der nicht nur an die Gemeinde in Korinth gerichtet sein will, sondern an »alle Heiligen in der ganzen Achaia« (τοῖς ἁγίοις πᾶσιν τοῖς οὖσιν ἐν ὅλῃ τῇ Ἀχαΐᾳ) – eine Gruppe, die sich nicht allein in Korinth versammelt haben dürfte.

14 Vgl. nur Martin Hengel: Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch (WUNT 67), Tübingen 1993. 15 Eine solche Verbindung ist vielleicht im Canon Muratori (Z. 26–31) greifbar, vgl. dazu Georg Strecker: Die Johannesbriefe (KEK 14), Göttingen 1989, 12–13. – Codex P (025) aus dem 9. Jh. n. Chr. bietet in der inscriptio zum 1. Johannesbrief den Verweis auf den »Evangelisten« Johannes; vgl. Nestle-Aland26 (Eberhard Nestle u. a. [Hg.]: Novum Testamentum Graece, Stuttgart 261979), apparatus ad locum. 16 Kol 4,16: καὶ ὅταν ἀναγνωσθῇ παρ᾿ ὑμῖν ἡ ἐπιστολή, ποιήσατε ἵνα καὶ ἐν τῇ Λαοδικέων ἐκκλησίᾳ ἀναγνωσθῇ, καὶ τὴν ἐκ Λαοδικείας ἵνα καὶ ὑμεῖς ἀναγνῶτε.

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Kol 4,16 hallt später (im 2. bis 4. Jahrhundert n. Chr.) nach in einem Brief des Paulus an die Laodizener, einem Text, der jetzt zu den neutestamentlichen Apokryphen gerechnet wird und dessen Kanonizität in der Geschichte des Neuen Testaments sowohl bejaht als auch verneint wurde. Es liegt nahe anzunehmen, dass der Brief an die Laodizener schlicht dazu geschaffen wurde, die Überlieferungslücke zu schließen, auf die der allgemein akzeptierte Kolosserbrief hinwies. Doch schon die möglicherweise jüngste Schrift des neutestamentlichen Kanons, der 2. Petrusbrief, enthält nicht nur einen Hinweis auf Paulus als Autor, sondern kennt auch eine Sammlung paulinischer Schreiben, ein Corpus Paulinum (2 Petr 3,16). Zugleich damit sind der 1. und der 2. Petrusbrief natürlich Zeugen der Entstehung einer Petrus-Brief-Tradition,17 die auch außerhalb des Kanons Spuren hinterlassen hat, etwa in Codex VIII,2 der Nag-Hammadi-Texte, in welchem sich ein Brief des Petrus an Philippus findet, oder im Einleitungsteil der Pseudo-Clementinen, welcher einen Brief des Petrus an Jakobus bietet.

2 Diese Beispiele wurden gewählt, um einen neuen Zugang zur Interpretation und Bewertung des Phänomens der Pseudepigraphie in frühchristlicher Literatur vorzuschlagen, einen Zugang, der seinen Ausgangspunkt nicht bei der Unterscheidung zwischen »authentischen« und »gefälschten« Texten nimmt, sondern bei der Suche nach der Entstehung und der Entwicklung von Autor-Traditionen im entstehenden Christentum, seien sie in historischer Perspektive nun zuverlässig oder nicht. Die vergleichende Rekonstruktion solcher Traditionen oder Entwicklungslinien könnte sehr zu einem besseren Verständnis der Geschichte des neutestamentlichen Kanons beitragen. Zugleich würde sie einen Ausweg aus einer hermeneutischen und theologischen Zwickmühle weisen, welche zwar nicht von der historisch-kritischen Analyse der Bibel geschaffen, aber sehr wohl durch sie gefördert wurde: Ernsthafte und berechtigte Zweifel an der Authentizität der behaupteten Autorschaft einiger Schriften stehen der empfundenen Notwendigkeit gegenüber, den bestehenden Kanon auch in historischer Perspektive begründen und verteidigen zu sollen. Dies kann, so meine ich, nicht gelingen, und der hier vorgeschlagene und skizzierte Zugriff ist nicht nur in historischer Perspektive nüchterner und befriedigender, sondern auch hilfreicher für den

17 Diese ist nur eine Teilmenge der Petrus-Literatur der frühchristlichen Zeit; vgl. den Überblick von Georg Röwekamp: Art. Petrus-Literatur, in: LACL, Freiburg i.Br. 21999, 495–498. Zum Corpus Polycarpianum in der Forschungsgeschichte vgl. die knappen Hinweise bei Zwierlein: Urfassungen 1 (s. Anm. 1), 1–2.

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Gebrauch der kanonischen Schriften in theologischer Reflexion oder in der Praxis der christlichen Glaubensgemeinschaft. Vor diesem Hintergrund möchte ich vorschlagen, die Kategorie der »Pseudepigraphie« und der mit ihr implizierten Heuristik für die exegetische und theologische Arbeit an frühchristlichen Texten zurückzustellen und nach Alternativen zu suchen. Warum? Das Phänomen der antiken Pseudepigraphie selbst ist geläufig und wurde in der Geschichte der Exegese und darüber hinaus intensiv erforscht und diskutiert.18 In Hinsicht auf die Kategorien von Autorschaft und Authentizität ist seine Relevanz für die frühe Geschichte des Kanons unleugbar, und seine Erkundung gab für die Entstehung und Entwicklung historisch-kritischer Arbeit an der Bibel seit dem 18. Jahrhundert wertvolle Impulse. Noch heute ist die »Echtheit« einer Schrift ein wichtiges Thema in Lehrbüchern zur Einführung in das Neue Testament und andere frühchristliche Schriften. Das Phänomen wurde auch im Rahmen antik-jüdischer und griechisch-römischer Literatur untersucht; und die moralische oder ethische Herausforderung, die es an Leser der kanonischen Schriften als Glaubende stellt, wird auch gegenwärtig noch diskutiert: Frühchristliche Pseudepigraphie innerhalb oder außerhalb des Kanons lässt nach der Glaubwürdigkeit der Bibel als Heiliger Schrift fragen, aber auch nach der Zuverlässigkeit der Inhalte, der geschichtlichen Darstellungen von Jesus, Paulus und anderen sowie der vermittelten Botschaft. Diese Herausforderung ist nicht erst das Produkt der Aufklärung und des historischen Zugangs zur Bibel, der zumindest in der westlichen Tradition akademischer Theologie seit ca. 200 Jahren bevorzugt wird, doch wurde sie ohne Zweifel durch die moderne Fassung biblischer Untersuchungen intensiviert. Wenn man, wie weiter oben formuliert, das Phänomen der Pseudepigraphie als Zwickmühle für eine auf der Autorität der Schrift gründende Theologie auffasst, legt es sich nahe, nach Auswegen zu suchen. Tatsächlich wurden in dieser Hinsicht verschiedene Vorschläge gemacht: So könnte man die Fragen nach Autorschaft und Authentizität für nicht bedeutsam für die Rezeption der in Frage stehenden Texte erklären. Sich auf die Texte, wie sie nun vorliegen, zu konzentrieren und dabei die wenigen Passagen in ihnen, die sich explizit auf ihre Autoren, die Zuverlässigkeit des Berichteten und die Überlieferung der Texte selbst beziehen, zu vernachlässigen, ist eine Art selektiver Lektüre, die leicht fällt. Gleichwohl würde ich gegen einen solchen Umgang mit den Texten einwenden, dass der berühmte »Tod des Autors«, der sich 18 Vgl. – mit reichen Literaturangaben – Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 92017, 355–359. Problematisch scheint mir die Tendenz der Darstellung, neutestamentliche Pseudepigraphie als literarisches, historisches und theologisches Sonderphänomen abzugrenzen, sowie besonders das Übergehen des sonstigen Befundes im entstehenden Christentum.

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möglicherweise (aber nicht notwendig) mit diesem Zugriff verbindet, mit guten Gründen aus literarischen Studien und hermeneutischer Reflexion verabschiedet werden sollte. Wie besonders Seán Burke19 überzeugend zeigen konnte, hat er in Aporien und Selbstwidersprüche geführt. Eine andere Möglichkeit wäre, die Bedeutung der zentralen Themen oder die Botschaft der fraglichen Texte oder des Kanons herauszustellen, was auf ein Konzept von »Mitte der Schrift« hinausläuft, das im Grunde ebenfalls ohne einen identifizierbaren Autor auskommt. Auch dies war bekanntlich eine Option in der Geschichte von Exegese und Theologie. Doch die thematische Mitte einer Schrift – oder gar eines Kanonteiles – zu bestimmen, ist und bleibt eine höchst subjektive Angelegenheit; ihre Begründung allein aufgrund exegetisch-literarischer Kriterien ist schwierig. Darüber hinaus wäre ein solcher Zugriff das Gegenteil dessen, was in der Geschichte der Kirche in Hinsicht auf Kanonisch und Unkanonisch diskutiert und – meist eher implizit als explizit – entschieden wurde. Sind die Interpretation- und Erinnerungsgemeinschaften,20 die wir Kirchen nennen, wirklich dazu bereit, einen solchen Widerspruch im Umgang mit dem Kanon bewusst zu tragen (und nicht bloß zu übersehen)? Wieder eine andere Lösung bestände darin zu unterscheiden zwischen der inneren Glaubwürdigkeit eines Textes und seiner äußeren Verpackung. Doch würde ein solcher Zugriff den Einfluss unterschätzen, welchen die pseudepigraphische Fiktion auf die Komposition und Inhalt der Schriften, aber auch auf ihre Rezeption hatte. Unmöglich wird ein solcher Ansatz m. E. dann, sofern die Interpretation der Texte stärker an ihrer Pragmatik als an ihren Propositionen interessiert ist. Auch könnte man das Phänomen der frühchristlichen Pseudepigraphie aus seinem literarisch-historischen Kontext heraus zu bewerten versuchen und behaupten, dass die Kategorien von Echt und Unecht in der Antike anders verstanden wurden als in der Moderne. Diese Annahme jedoch träfe, wie entsprechende Untersuchungen gezeigt haben, nur zum Teil zu, und damit ist sie für eine historische Heuristik wenig tauglich. Diese und andere, vergleichbare Versuche, das Problem zu lösen, sind nach meinem Urteil mehr oder weniger apologetisch. Dies ist zwar verständlich, bedenkt man den Kontext, in welchem die Bibel primär gelesen und untersucht wird, aber nicht hilfreich in Hinsicht auf die Wahrnehmung von Textphänomenen, ihre historische Interpretation und zuletzt auch ihren theologischen Ge19 Vgl. Seán Burke: The Death and Return of the Author. Criticism and Subjectivity in Barthes, Foucault and Derrida, Edinburgh 32008. Der Widerspruch aus theologischer Perspektive wurde besonders überzeugend formuliert von Kevin J. Vanhoozer: Is There a Meaning in This Text? The Bible, the Reader, and the Morality of Literary Knowledge, Grand Rapids 1998. 20 Zu diesem Aspekt der Frage nach dem Kanon vgl. Hermut Löhr: Der Kanon in der Bibliothek, in: ZNT 12 (2003), 18–26.

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brauch. Denn eine theologische Hermeneutik der Bibel sollte niemals so entworfen werden, dass sie dem unbefangenen Betrachter als Nachhutgefecht auf dem Felde zeitgenössischer Epistemologie oder Hermeneutik erscheinen muss. Daher schlage ich vor, unsere Erkundungen auf dem Felde der Autorschaft im frühen Christentum nicht mehr von der Kategorie der Pseudepigraphie ausgehen zu lassen – eine Kategorie, welche sich übrigens in der Geschichte der Forschung ihrer (durchaus wechselnden) Meinungen in Hinsicht auf Echt und Unecht wohl auch etwas zu sicher war. Anhand vieler Beispiele könnte illustriert werden, dass die im Fokus stehenden Texte nicht durchgängig ihre Abfassung durch eine einzige geschichtliche Gestalt behaupten. Das Bild ist bunter, und sowohl die klassische historischkritische Analyse der Bibel als auch modernere Zugänge, die auf dem Modell der Kommunikation oder auf einer die Textpragmatik individueller Texte fokussierenden semiotischen Analyse beruhen, sind möglicherweise nicht besonders dazu geeignet, sich der durch die alten Texte und Textsammlungen gegebenen Herausforderung zu stellen. Die erste Aufgabe wäre es dann nicht, den pseudepigraphischen Charakter dieser oder jener Schrift aufzudecken oder zu begründen, sondern – neutraler – nach den Techniken (wenn es sie denn gibt) der Gestaltung, Konstruktion, Autorisierung oder Authentifizierung zu fragen, die in verschiedenen Texten und zu verschiedenen Zeiten zur Anwendung kommen. Gewiss ist die Frage, ob diese Techniken den historischen Realitäten entsprechen, keineswegs verboten, doch ist sie nicht die erste, die wir stellen sollten, und sie zu beantworten, ist möglicherweise auch in theologischer Perspektive weniger bedeutsam als anzunehmen wir uns im Laufe der Forschungsgeschichte angewöhnt haben. Ich bin davon überzeugt, dass eine solche Heuristik der Autor-isierung reichen Ertrag bringen wird. Nur einige Beispiele seien angedeutet: Erwähnt wurden schon die Epiloge oder Kolophone, die einer Schrift angehängt wurden. Sie können, wie das Beispiel des Martyrium Polycarpi und seine Parallele in Joh 21 schon zeigten, sich eng an den Text und seine Erzählung anlehnen; in anderen Fällen sind diese und jene jedoch weniger eng miteinander verknüpft. Nicht übersehen werden darf ferner, dass Titel (inscriptiones) und Subskriptionen Teil der Texttradition sind; sie enthalten für uns wichtige Informationen darüber, was man auf den verschiedenen Etappen der Überlieferungsgeschichte über Autoren und Adressaten der jeweiligen Schriften annahm.21 In dieser Hinsicht scheint es mir problematisch, dass die 28. Auflage der Nestle-Aland-

21 Vgl. die Bemerkungen von David Trobisch: A User’s Guide to the Nestle-Aland 28 New Testament (SBL Text Critical Studies 9), Atlanta 2013, 43–44.

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Ausgabe des griechischen Neuen Testaments22 einen Teil dieser Paratexte aus dem kritischen Apparat entfernt hat. Wie Simon Gathercole in seinem Aufsatz über die Evangelienüberschriften zeigt, kannte die Antike verschiedene Möglichkeiten, einen Buchtitel zu platzieren.23 Tatsächlich sind die Varianzen in neutestamentlichen Handschriften geringer, doch eine Präsentation – genauer: ihr teilweises Fehlen – wie in der genannten Textausgabe ist zwar unter pragmatisch-editorischem Gesichtspunkt für eine Handausgabe gut verständlich, könnte aber dazu verleiten, den Text weniger, wie jedoch erforderlich, als Ergebnis einer Überlieferungsgeschichte zu verstehen, die mit den frühesten und bzw. »besten« Handschriften keineswegs zum Ende gekommen ist. Wenden wir uns den Texten selbst zu, so können wir verschiedene Techniken der Authentifikation beobachten, von denen die Nennung des Autors oder der Autoren nur eine ist. Nach Auffassung der historisch-kritischen Exegese bietet das Corpus Paulinum das früheste Beispiel für diese Technik, vermutlich schon im Kolosserbrief, sicher jedoch im Epheserbrief. Wie die – vermutlich – echten Paulus-Briefe kennt auch die Paulus-Pseudepigraphie sowohl Briefe, die von Paulus allein verfasst wurden, als auch solche, die von Paulus und anderen gemeinsam gesendet wurden. Analoges gilt für die genannten expliziten Adressaten. Natürlich beschränken sich die Strategien der Authentifizierung von PaulusBriefen nicht nur auf die Nennung von Namen. Auch die Gestaltung formaler Aspekte wie briefliches Präskript und Postskript oder die Nachahmung von Formulierungen und Stil finden Verwendung. Allerdings ist bei ihrer Identifikation besondere Vorsicht geboten, um nicht in die Falle zirkulärer Argumentation zu tappen. Wir sind es ja gewohnt, Unterschiede zwischen verschiedenen Texten in Hinsicht auf die Verwendung besonderer Schlagwörter, Motive und Konzepte festzustellen. Ebenso wichtig für unsere Fragestellung, aber weit weniger gewiss und erforscht ist, ob es je einen typisch paulinischen Stil gab, der von zeitgenössischen Lesern oder Hörern als solcher wahrgenommen werden konnte. Dasselbe gilt m. E. auch für das sog. paulinische Briefformular. Die Exegese hat überwiegend in die entgegengesetzte Richtung geschaut und nach stilistischen

22 Barbara Aland u. a. (Hg.): Novum Testamentum Graece, Stuttgart 282012. 23 Vgl. Simon Gathercole: The Title of the Gospels in the Earliest New Testament Manuscripts, in: ZNW 104 (2013), (33–76) 34. Matthew D.C. Larsen: Correcting the Gospel. Putting the Titles of the Gospels in Historical Context, in: Abraham J. Berkovitz/Mark Letteney (Hg.): Rethinking »Authority« in Late Antiquity (Routledge Monographs in Classical Studies), London 2018, 78–102 versucht nachzuweisen, dass die Evangelientitel in der Form κατά + Name nicht auf einen Autor, sondern auf den Bearbeiter einer schon vorhandenen Tradition weisen wollen.

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oder lexikalischen Differenzen gefragt, welche die Unechtheit dieses oder jenes Schreibens belegen sollten. Weitere Techniken sind ausdrückliche Bezugnahmen oder indirektere Anspielungen auf die Biographie des Apostels, darunter besonders seine Titulierung als Apostel und die Erwähnung seiner Sendung zu den Völkern, aber auch die Erwähnung seiner Leiden oder die Einführung von Namen, die uns aus anderen Quellen als Mitglieder des paulinischen Kreises bekannt sind. Schön ließe sich diese Technik etwa in der pseudo-paulinischen Korrespondenz mit dem Philosophen Seneca beobachten.24 Eine besondere Herausforderung für die Exegese sind Briefe (oder Teiltexte derselben), die aus diesem oder jenem Grund als Pseudepigraphon gelten und die auf Personen oder Umstände Bezug nehmen, von denen wir aus anderen Quellen nicht hören. Sind solche Textphänomene Ausdruck der Verschmelzung von Paulus-Fiktion und tatsächlichem, historischen Kontext, welchem der pseudepigraphische Text zugehört? In textpragmatischer Perspektive würde eine solche Verschmelzung vermutlich nur funktionieren, wenn der zeitliche Abstand zur Zeit des Paulus minimal ist und die Kenntnis vom Tod des Paulus sich noch nicht verbreitet hatte.25 Daher ist in den meisten Fällen die Annahme plausibler, dass durch solche Ergänzungen, ja Erfindungen, die Paulus-Fiktion lebendiger gemacht werden sollte. Mit anderen Worten: Wir beobachten hier das Entstehen einer PaulusLegende, die dann, z. B. in den Acta Pauli, weiterentwickelt wurde und die den Tod des (historischen) Autors voraussetzt und seine Wiederkehr oder Neu-Geburt in die literarische Tradition gestaltet. Aus der Evangelienliteratur wurde bereits Joh 20–21 erwähnt. Es ist zwar nicht sicher, ob diese Passagen fiktiv sind, doch unterliegt jedenfalls die Aussage Joh 21,24, der Autor sei ein direkter Augenzeuge des Auftretens Jesu, in der Exegese erheblichen Zweifeln; es fehlt freilich auch nicht an anderen Stimmen.26 In den Evangelien nach Matthäus und Markus ist vermutlich die entgegengesetzte Technik der Authentifizierung zu beobachten: die Einfügung des Autors (als Zeuge) in die erzählte Welt des Textes. Der Wechsel von Levi zu Matthäus in Mt 9,9 im Vergleich zu Mk 2,14 par. Lk 5,27 oder die Erwähnung eines jungen Mannes in Mk 14,52, der nackt aus dem Garten Gethsemane flieht, sind vielleicht Kerne einer entstehenden Tradition von Augenzeugen als Autoren. Doch bleibt 24 Vgl. Alfons Fürst u. a. (Hg.): Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus. Zusammen mit dem Brief des Mordechai an Alexander und dem Brief des Annaeus Seneca über Hochmut und Götterbilder (UTB 3634; SAPERE 11), Tübingen 22012. 25 Insbesondere für die Beurteilung der Abfassungsverhältnisse des Kolosserbriefes spielen solche Überlegungen eine Rolle. 26 Vgl. z. B. Richard Bauckham: Jesus and the Eyewitnesses. The Gospels as Eyewitness Testimony, Grand Rapids 2006, 358–471.

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hier die Frage, ob die implizierten Rezipienten der Texte solche Signale verstanden hätten. Eindeutiger ist der Befund im lukanischen Doppelwerk: Die beiden Prologe sowie auch die Wir-Passagen in der Apostelgeschichte27 lassen die Stimme des Autors der Bücher zu Wort kommen. Ob die Wir-Passagen aus einer älteren Quelle aufgenommen wurden und erst auf redaktioneller Ebene mit der AutorStimme der Prologe zusammengefügt wurden, ist für unser Anliegen dabei ohne Belang (im Unterschied zur Frage nach dem historischen Autor). Interessanter ist die Beobachtung, dass beide Prologe den Namen des expliziten Adressaten, Theophilos, nennen, nicht aber denjenigen des Verfassers der beiden Bücher. Dürfen wir daher annehmen, der Name des Autors sei ursprünglich in einem Stück des Textes – oder in einem Paratext –, das verloren ging, erwähnt worden? Andere Beispiele für die Präsenz des Autors in der Erzählung ließen sich finden, so z. B. im apokryphen Petrus-Evangelium oder in apokalyptischen Schriften wie der Offenbarung, die im ersten Kapitel den Autor des Textes, einen gewissen Johannes, einführt und als Empfänger der im Text erzählten Offenbarung präsentiert, oder im Hirten des Hermas. Indirekter ist der Hinweis auf den Autor als Augenzeuge in der Schlusspassage des Protevangelium des Jakobus (Mitte des 2. Jh. n. Chr.). Dort heißt es: Ich, Jakobus, der ich diese Geschichte in Jerusalem aufgeschrieben habe, als Unruhe entstand, zog mich, als Herodes starb, in die Einöde zurück, bis die Unruhe in Jerusalem sich legte. Ich werde den Herrscher, der mir die Weisheit gab, diese Geschichte aufzuschreiben, preisen.28

Es wäre auch zu unterscheiden zwischen solchen Texten, die von einem einzelnen Autor verfasst sein sollen, oder solchen – wie z. B. die Didache oder die Epistula Apostolorum –, die kollektive Autorschaft beanspruchen, seien es nun die zwölf Apostel oder eine Untergruppe von ihnen. Haben solche Unterschiede Konsequenzen für die Gestaltung des Textcorpus oder für unsere Interpretation der Texte? Das Zusammenspiel verschiedener solcher Techniken trägt zur Bildung eines Corpus auch abgesehen von und außerhalb des Kanons bei und kann selbst als Strategie der Authentifizierung verstanden werden, deren zeitliche Verortung jedoch, wie zu Martyrium Polycarpi angedeutet, vor erhebliche Herausforderungen stellt und Umsicht fordert. 27 Vgl. Apg 16,10–17; 20,5–15; 21,1–18; 27,1–28,16. 28 Protevangelium des Jakobus 49 (hg. v. Émile de Strycker: La forme la plus ancienne du Protévangile de Jacques [SHG 33], Brüssel 1961, 188,1–190,1): Ἐγὼ δὲ Ἰάκωβος ὁ γράψας τὴν ἱστορίαν ταύτην ἐν Ἱεροσολύμοις, θορύβου γεναμένου, ὅτε ἐτελεύτησεν Ἡρώδης, συνέστελλον ἑαυτὸν ἐν τῇ ἐρήμῳ ἕως παύσηται ὁ θόρυβος Ἰερουσαλήμ. Δοξάσω δὲ τὸν Δεσπότην τὸν δόντα μοι τὴν σοφίαν τοῦ γράψαι τὴν ἱστορίαν ταύτην.

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Schließlich sollten wir auch nicht übersehen, dass es unter den christlichen Pseudepigrapha nicht nur solche gibt, die Persönlichkeiten der näheren Vergangenheit oder den formativen Anfängen des neuen Glaubens zugeschrieben werden, sondern auch solche – manchmal, aber nicht immer als Überarbeitung jüdischer Texte –, die auf biblische Gestalten verweisen. Machte dies für die Rezipienten einen Unterschied in Hinsicht auf Glaubwürdigkeit oder Ernsthaftigkeit der Autor-Fiktion? Wir mögen intuitiv zu dieser Annahme neigen, doch bedürfte sie der weiteren Verifizierung aus den Quellen selbst.

3 Wie diese Beispiele illustrieren, finden sich in der Literatur des entstehenden Christentums eine ganze Reihe unterschiedlicher Techniken der Authentizifierung. Diese Techniken selbst erlauben uns keine sicheren Rückschlüsse auf Echtheit oder Unechtheit der in Frage stehenden Schriften. Ein Text wie Gal 6,11, den die Forschung fast einhellig für echt hält, mag belegen, dass der Wunsch und der Bedarf nach Authentifikation ein Element christlicher Literatur von ihren Anfängen an war: Seht, mit wie großen Buchstaben ich euch schreibe mit eigener Hand!29

Dieses Streben nach Beglaubigung ist aus den Umständen der Überlieferungsgeschichte erklärlich: Eingespielte und stabile Netzwerke der Veröffentlichung und Verbreitung bestanden in den Anfängen des Christentums offenkundig noch nicht. Die in den Blick genommenen Textstücke sind damit wichtige Zeugen für die Mediengeschichte des entstehenden Christentums. Zugleich sind sie Teil des größeren Zusammenhangs von literarischer Überlieferung und Authentifikation in der Antike; und sie zeigen an, dass sie als Zeugen einer formativen Vergangenheit gelesen werden sollten. Uns geben die angeführten Beispiele aus Martyrium Polycarpi, dem Johannesevangelium oder einigen paulinischen Briefen deutliche Hinweis zum Verstehen der Ausbildung formativer Traditionen und des Kanons. Sie veranschaulichen – neben den klassischen textexternen Zeugnissen der altkirchlichen Tradition30 – das Bemühen, Diskurs-Traditionen zu begründen, die auf einzelne Autoren zurückgeführt werden können. Polykarp, Johannes, Paulus, Ignatius, Petrus oder Jakobus sollten daher in unserer Beschäftigung mit den Anfängen 29 Gal 6,11: Ἴδετε πηλίκοις ὑμῖν γράμμασιν ἔγραψα τῇ ἐμῇ χειρί. Vgl. 1 Kor 16,2; Kol 4,18; 2 Thess 3,17; Phlm 19. 30 Auf diese, z. B. die Papias-Notizen, ist hier nicht erneut einzugehen. Ein vollständiges Bild der jeweiligen Autor-Traditionen ergibt sich natürlich nur aus der Zusammenschau aller verfügbaren Daten.

Die Geburt des Autors aus der Überlieferung der Texte

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des Christentums nicht allein als historische Figuren betrachtet werden, sondern auch als Gründer-Gestalten des jeweiligen Diskurses. Während die einen nach apostolischer und kanonischer Anerkennung strebten, wurden andere zu wichtigen Mittlern zwischen Vergangenheit und jeweiliger Gegenwart.

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Ein Mischmasch aus Irrtum und Absicht. Zur christlichen Pseudepigraphie bis zum Ausklang der Spätantike

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Zum Einstieg drei Entdeckungen

Es ist ein großes Verdienst der modernen historisch-kritischen Forschung, so manche pseudepigraphe Schrift als »Schrift mit falscher Überschrift«1 sowie literarische Fälschung2 aus der Frühzeit des Christentums bis zum Ausklang der Spätantike aufgedeckt zu haben. Oft waren solche Entdeckungen mit einem gewissen öffentlichen Aufsehen verbunden.3 1 Vgl. Martina Janßen: Art. Pseudepigraphie, 2011, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), verfügbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 53905/ [30. 07. 2018]. Ganz allgemein handelt es sich also um Texte, die eine Verfasserschaft evozieren, die nicht der (zu vermutenden) tatsächlichen entspricht. Dieser Aufsatz basiert auf zwei Vorträgen, gehalten im November 2015 auf dem Annual Meeting SBL in Atlanta und in dem Arbeitskreis zum christlichen Diskurs der Spätantike und des Frühmittelalters der Universität Wien. 2 Der Begriff »Fälschung« impliziert eine Täuschungsabsicht, was nicht bei jeder pseudepigraphen Schrift der Fall sein muss, s. u. Anm. 41. 3 Intensiv hat sich Wolfang Speyer damit beschäftigt: Wolfgang Speyer: Religiöse Pseudepigraphie und literarische Fälschung im Altertum, in: JbAC 8/9 (1965/66), 88–125; ders.: Art. Fälschung, literarische, in: RAC 7, Stuttgart 1969, 236–277; ders.: Bücherfunde in der Glaubenswerbung der Antike. Mit einem Ausblick auf Mittelalter und Neuzeit (Hyp. 24), Göttingen 1970; ders.: Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum. Ein Versuch ihrer Deutung (HAW 1,2), München 1971. Ebenso hat sich Norbert Brox, auf Speyer aufbauend, immer wieder mit Pseudepigraphie befasst: Norbert Brox: Zum Problemstand in der Erforschung der altchristlichen Pseudepigraphie, in: Kairos 15 (1973), 10–23; ders.: Falsche Verfasserangaben. Zur Erklärung der frühchristlichen Pseudepigraphie (SBS 79), Stuttgart 1975; ders. (Hg.): Pseudepigraphie in der heidnischen und jüdisch-christlichen Antike (WdF 484), Darmstadt 1977; ders.: Methodenfragen der Pseudepigraphieforschung, in: ThRv 75 (1979), 275–278. Weiters sind relevant: Armin Daniel Baum: Literarische Echtheit als Kanonkriterium in der alten Kirche, in: ZNW 88 (1997), 97–110; ders.: Pseudepigraphie und literarische Fälschung im frühen Christentum. Mit ausgewählten Quellentexten samt deutscher Übersetzung (WUNT 2,138), Tübingen 2001; Jörg Frey u. a. (Hg.): Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen (WUNT 246), Tübingen 2009; Marc Vessey: The Forging of Orthodoxy in Latin Christian Literature. A Case Study, in: JECS 4 (1995), 495–513. Eine ausführliche Forschungsgeschichte bietet Martina Janßen: Unter falschem Namen. Eine kritische Forschungsbilanz frühchristlicher Pseudepigraphie (ARGU 14), Frankfurt a.M. 2003;

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Das Bestreben, Fälschungen zu entlarven, setzte jedoch schon im frühneuzeitlichen Humanismus ein, als zum Beispiel Laurentius Valla die sogenannte Konstantinische Schenkung4, nach der Kaiser Konstantin um 330 als Dank für seine wundersame Heilung an Papst Silvester und seine Nachfolger die Stadt Rom und das Abendland übergeben habe, als eine Fälschung aufgedeckt hatte,5 was prompt Martin Luther kirchenpolitisch verwerten konnte: Am 01. 12. 1517 hatte nämlich Ulrich von Hutten die im Jahr 1440 erschienene Schrift von Laurentius Valla (1406–1457) De falso credita et ementita Constantini donatione neu herausgegeben; spätestens im Februar 1520 war diese Neuausgabe Martin Luther bekannt.6 Er baute deren Ergebnis in seine berühmte Adelsschrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung vom Sommer 1520 ein, um exemplarisch zu zeigen, dass das kanonische, geistliche Recht mit Lügen durchzogen sei: Mich verdrießt, dass wir solche unverschämte grobe tolle Lügen im geistlichen Recht lesen und lehren müssen, dazu für christliche Lehre halten, obgleich es doch teuflische Lügen sind. Welcher Art auch die unerhörte Lüge De donatione Constantini ist. Es muss vgl. auch ihren Artikel in wibilex (s. o. Anm. 1). Vgl. auch David G. Meade, Pseudonymity and Canon. An Investigation into the Relationship of Authorship and Authority in Jewish and Earliest Christian Tradition (WUNT 39), Tübingen 1986. 4 Edition: Horst Fuhrmann (Hg.): Das Constitutum Constantini (MGH.F 10), Hannover 1968, mit einer ausführlichen Einleitung über die verschiedenen Fassungen der Schenkung, die als Teil der Silvesterakten und der pseudoisidorischen Dekretale eine enorme Wirkungsgeschichte entfaltet hatte. 5 Laurentius Valla: De Falso credita et ementita Constantini donatione declamatio, hg. v. Walther Schwahn (BSGRT), Stuttgart 1928. Vgl. dazu Jürgen Miethke: Die »Konstantinische Schenkung« in der mittelalterlichen Diskussion. Ausgewählte Kapitel einer verschlungenen Rezeptionsgeschichte, in: Andreas Goltz/Heinrich Schlange-Schöningen (Hg.): Konstantin der Große. Das Bild des Kaisers im Wandel der Zeiten (BAKG 66), Köln 2008, 35–109; er bespricht auch: Johannes Fried: Donation of Constantine and Constitutum Constantini. The Misinterpretation of a Fiction and its Original Meaning. With a Contribution by Wolfram Brandes: »The Satraps of Constantine«, Berlin 2007, in: H-Soz-Kult, 30. 08. 2007, verfügbar unter: www. hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-7580 [30. 07. 2018]. 6 Aber noch heute sind nicht alle Fragen der Silvesterakten geklärt: Das Editionsunternehmen einer historisch-kritischen Textausgabe der lateinischen Silvesterakten (CPL 2235) harrt der Fertigstellung; vgl. Wilhelm Pohlkamp: Memoria Silvestri. Zur frühen Erinnerungs- und Verehrungsgeschichte des Tagesheiligen vom 31. Dezember, in: Uwe Ludwig/Thomas Schilp (Hg.): Nomen et Fraternitas, Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag (RGA.E 62), Berlin 2008, 249–296. Zu den pseudoisidorischen Dekretalen gibt es inzwischen einen Konsens, das Werk in die 830er Jahre zu datieren und mit Corbie zu verbinden, durch Klaus ZechielEckes’ Entdeckung aus dem Jahr 2000 (Zwei Arbeitshandschriften Pseudoisidors [Codd. St. Petersburg F. v. I. 11 und Paris lat. 11611], in: Francia 27 [2000], 205–210; ders.: Fälschung als Mittel politischer Auseinandersetzung. Ludwig der Fromme [814–840] und die Genese der pseudoisidorischen Dekretalen [Vorträge/Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste, Geisteswissenschaften 428], Paderborn 2011); vgl. Steffen Patzold: Gefälschtes Recht aus dem Frühmittelalter. Untersuchungen zur Herstellung und Überlieferung der pseudoisidorischen Dekretalen (AHAW.PH), Heidelberg 2015.

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eine besondere Plage von Gott gewesen sein, dass so viel verständige Leute sich haben bereden lassen, solche Lügen aufzunehmen, obgleich sie doch überaus grob und ungeschickt sind, dass mich dünkt, es sollte ein trunkener Bauer gewandter und geschickter lügen können.7

Mit deftigen Worten kritisierte Luther also sowohl die Form als auch den Inhalt der Konstantinischen Schenkung. Es war die Zeit seiner intensiven Beschäftigung mit dem Kirchenrecht, als bereits der Häresieprozess gegen ihn lief. Am Ende des Jahres (10. 12. 1520) hat er dann die ausgestellte Bannandrohungsbulle gegen ihn samt einer Ausgabe des Kirchenrechts öffentlich verbrannt.8 Ein weiterer berühmter Text, dessen unklare Verfasserschaft für mehrere heftige Kontroversen sorgte, war das sogenannte Apostolikum, das bis in die Neuzeit hinein als summarisches Glaubensbekenntnis der Apostel galt, woher auch der Name rührt.9 Auch hier war Laurentius Valla der erste, der deutliche Zweifel an der Verfasserschaft des Apostolikums durch die Apostel äußerte, und zwar mit bis heute überzeugenden Argumenten:10 Er verwies darauf, dass in dem Bericht über das sogenannten Apostelkonzil in der Apostelgeschichte kein Bekenntnis vorkomme. Wenn es ein Text aller zwölf Apostel sei, müsse es höhere Geltung gehabt haben als die vier Evangelien, die nur je einen Apostel als Autor haben; überdies scheint keiner der Kirchenväter ein solches Bekenntnis zu kennen. Und warum sollte das Konzil von Nizäa ein neues Bekenntnis aufstellen,

7 Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung [1520] (WA 6), Weimar 1888, (404–469) 434,22–29 (in Art. 9 der Reformartikel; modernisiert); vgl. Thomas Kaufmann: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (Kommentare zu Schriften Luthers 3), Tübingen 2014, 252– 253. Vgl. auch Martin Luther: Responsio Lutheriana ad condemnationem doctrinalem per magistros nostros Lovanienses et Colonienses factam (WA 6), Weimar 1888, (181–195) 183 zu Laurentius Valla. 8 Horst Fuhrmann beschreibt (Die Fälschungen im Mittelalter. Überlegungen zum mittelalterlichen Wahrheitsbegriff, in: HZ 197 [1963], 529–554), warum manche Humanisten sich nicht Luther angeschlossen und wie sie gerade mit den mittelalterlichen Fälschungen für die Tradition argumentiert haben, so dass es zu einer Neuedition der pseudoisidorischen Dekretale noch im 16. Jahrhundert kam. Die protestantische Fälschungskritik erwächst umgekehrt vor allem aus der Absicht, die überlieferte Tradition dadurch als wertlos zu zeigen, nicht aus grundsätzlichem philologischen Interesse. 9 Vgl. den um 400 entstandenen Kommentar: Rufin von Aquileia, Commentarius in Symbolum apostolorum (Expositio symbolum) (CChr.SL 20, 133–182 Simonetti). 10 Vgl. dazu Markus Vinzent: Der Ursprung des Apostolikums im Urteil der kritischen Forschung (FKDG 89), Göttingen 2006, 31–32. Der historische Kontext sind die Unionsverhandlungen auf dem Konzil von Florenz mit den Griechen, denen das Apostolikum unbekannt war. Die Äußerungen Vallas finden sich in seinen Invektiven gegen Poggius: Lorenzo Valla: Antidotum primum. La prima apologia contra Poggio Bracciolini, hg. v. Ari Wesseling (Respublica literaria Neerlandica 4), Assen 1978; vgl. auch Lorenzo Valla: Apólogo contra Poggio Bracciolini [1452]. Poggio Bracciolini, Quinta invectiva contra Lorenzo Valla [1453], hg. v. Virginia Bonmatí Sánchez, Léon 2006.

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wenn es das Apostolikum schon gegeben hätte? Die Inquisition zwang ihn schließlich, diese damals radikalen Thesen zu widerrufen.11 Unter den Humanisten blieben diese Einsichten dennoch erhalten; auch Erasmus von Rotterdam machte sie sich zu eigen und über ihn wohl auch Luther, was letztendlich der Grund dafür war, dass er seine Auslegung des Apostolikums nicht mehr in zwölf Abschnitte, sondern trinitarisch in drei gliederte. Während auf dem Trienter Konzil noch die apostolische Verfasserschaft ausdrücklich festgehalten wurde, setzte sich die Einschätzung einer späteren Entstehung mehr und mehr durch.12 Dennoch sorgten dieses Bekenntnis und seine wissenschaftliche Erforschung immer wieder für Aufregung wegen seiner großen kirchlichen und theologischen Bedeutung, so dass es mehrmals zu Apostolikums-Streitigkeiten kam. Die berühmteste war die in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, in die auch Adolf von Harnack verwickelt wurde, als er in Thesen auf eine Anfrage von Studenten reagierte,13 wovon die erste lautete14: Ich teile mit den Fragestellern die Ansicht, daß es der evangelischen Kirche ziemen würde, an die Stelle des Apostolikums oder neben dasselbe ein kurzes Bekenntnis zu setzen, das das in der Reformation und in der ihr folgenden Zeit gewonnene Verständnis des Evangeliums deutlicher und sicherer ausdrückte und zugleich die Anstöße beseitigte, die jenes Symbol in seinem Wortlaut vielen ernsten und aufrichtigen Christen, Laien und Geistlichen, bietet.

Besonders die Aussagen »empfangen durch den heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria« seien für heutige Christen nicht zu glauben, ferner seien »Gemeinschaft der Heiligen« und »Auferstehung des Fleisches« nicht wörtlich zu verstehen. So handele es sich zwar um einen ehrwürdigen alten Text aus der Zeit der Alten Kirche, der nicht einfach so abgeschafft werden könne, solange nicht ein neuer guter adäquater Text gefunden werde. Ein Mensch mit geschichtlichem Sinn könne jedoch auch eine positive Stellung zu dessen Grundgedanken entwickeln. Harnacks Thesen sorgten für einige Aufregung und viele Streitschriften und hatten überdies zur Folge, dass er an der Berliner Evangelisch-Theologischen

11 Vgl. allg. Frank Bezner: Lorenzo Valla, in: Wolfram Ax (Hg.): Lateinische Lehrer Europas. Fünfzehn Portraits von Varro bis Erasmus von Rotterdam, Köln 2005, 353–389. 12 Vgl. Vinzent: Der Ursprung (s. Anm. 10), 31–48 und 56–59. 13 Der Anlass war, dass der württembergische Pfarrer Christoph Schrempf vor allem, weil Jungfrauengeburt und Höllenfahrt Legenden seien, die Rezitation des Apostolikums während der Taufe verweigert hatte, was zu seiner Entlassung führte. Relevante Texte sind in: Kurt Nowak (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Zeiten des Kaiserreiches und der Weimarer Republik 1–2, Berlin 1996. 14 Adolf von Harnack: In Sachen des Apostolikums, in: ChW 6 (1892), 768–770.

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Fakultät eine weitere Professur an die Seite gestellt bekam, die mit Adolf Schlatter besetzt wurde.15 Neben eher kirchenrechtlichen Texten wie der Konstantinischen Schenkung und christlichen Bekenntnissen wie dem Apostolikum (auch von dem sogenannten Athanasianum ist inzwischen erkannt, dass es nicht von Athanasius stammt16) wurden natürlich auch die Schriften der Bibel der neuzeitlichen historisch-kritischen Forschung unterzogen. Man erkannte beispielsweise, dass die Evangelien nicht von den in den jeweiligen Titeln genannten Aposteln geschrieben wurden und dass auch nicht alle Briefe des Paulus tatsächlich von Paulus stammen. Exemplarisch sei auf die Einsicht verwiesen, dass die sogenannten Pastoralbriefe (1. und 2. Timotheusbrief, Titusbrief) nicht von Paulus selbst geschrieben worden sein konnten, was seit der Zeit der Alten Kirche bis ins 19. Jahrhundert noch unbestritten war. Es war der berühmte Berliner Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), der im Jahr 1807 dies zuerst von dem 1. Timotheusbrief annahm;17 Johann Georg Eichhorn hatte daran angeknüpft und die Einschätzung auf alle drei Pastoralbriefe ausgedehnt (Einleitung in das Neue Testament 3, Leipzig 1812, 315–328). Schleiermachers Werk war ein Paukenschlag. Die Verteidiger der Echtheit ließen nicht lange auf sich warten; schon die Rezensionen auf Schleiermachers Werk fielen überwiegend ablehnend aus. Die These war wohl damals allzu revolutionär. Einer schrieb 1809:18 Es bestünde die Gefahr, dass »dieser Anfang der Zerstörung noch Schlimmeres befürchten ließ, nämlich Fortgang und, sofern man nicht gewaltsam Einhalt thäte, ein trauriges Ende mit dem Ruin des ganzen, für unerschütterlich festgehaltenen theologischen Fundaments« finden werde.19 15 Vgl. dazu jetzt Julia Winnebeck: Apostolikumsstreitigkeiten. Diskussionen um Liturgie, Lehre und Kirchenverfassung in der preußischen Landeskirche 1871–1914 (AKThG 44), Leipzig 2016, bes. 238–286. 16 Vgl. dazu Volker H. Drecoll: Das Symbolum Quicumque als Kompilation augustinischer Tradition, in: ZAC 11 (2007), 30–56. 17 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos. Ein kritisches Sendschreiben an J.C. Grass, Nachdruck in: Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe 1,5. Schriften aus der Hallenser Zeit 1804–1807, hg. v. Hermann Patsch, Berlin 1995, 153–242. Vgl. auch Hermann Patsch: Die Angst vor dem Deuteropaulinismus. Die Rezeption des »kritischen Sendschreibens« Friedrich Schleiermachers über den 1. Timotheusbrief im ersten Jahrfünft, in: ZThK 88 (1991), 451–477. Neben den formal-stilistischen und inhaltlich-theologischen Argumenten ist vor allem die Überlegung wichtig geworden, dass man die Pastoralbriefe nicht in die Biographie des Paulus einfügen kann. 18 Zitiert aus Hermann Patsch: Die Angst vor dem Deuteropaulinismus (s. Anm. 17), 467: Anonyme Rezension in: Neue Theologische Annalen (1809), (812–847) 841. 19 Vgl. dazu auch Ingo Broer: Täuschungsabsicht in den kanonischen Schriften? Ein Problembericht, in: Rudolf Hoppe/Michael Reichardt (Hg.): Lukas – Paulus – Pastoralbriefe. Festschrift für Alfons Weiser zum 80. Geburtstag (SBS 230), Stuttgart 2014, (233–252) 234– 235.

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Diese Diskussion wird bis heute heftig geführt, auch in Bezug auf andere Paulusbriefe,20 und ist durchaus apologetisch motiviert. Das liegt natürlich daran, dass es sich um ein Textkorpus aus dem Kanon der biblischen Schriften handelt. Daher geht es um mehr als um eine rein historische Frage der apostolischen oder nicht-apostolischen Verfasserschaft, weil die Frage nach der Lauterkeit der Motive der Verfasser mit ins Spiel kommt.21 Jürgen Roloff fasst treffend zusammen:22 Die Einsicht in ihre Nichtechtheit könnte darum die Konsequenz nahe legen, daß wir es mit einer bewußt auf Irreführung und Täuschung der Leser angelegten Fälschung zu tun hätten, durch deren Aufnahme in den biblischen Kanon dessen Würde und theologische Integrität nach Meinung der Echtheitsverteidiger ernstlich in Frage gestellt wären.

Es stellt sich demzufolge die Frage nach der Berechtigung, pseudepigraphe Schriften in den Kanon mit aufzunehmen: Ist also eventuell die Konsequenz zu ziehen, jene Schriften als außerkanonisch zu verstehen, wenn heute die altkirchliche Überzeugung, es handele sich um Texte der Apostel, nicht mehr geteilt wird? Sind solche Texte also nicht salonfähig bzw. kanonfähig? Das wird gegenwärtig z. B. vor allem von evangelikalen Autoren erwogen.23 Oder basiert die Abfassung pseudepigrapher Schriften schlichtweg auf einem anderen Verständnis von geistigem Eigentum in der Antike und könnte daher auch gerechtfertigt werden? Ist es gar ein weit verbreitetes Phänomen? Das betonte vor allem Norbert Brox, einer der Neutestamentler,24 der sich viel mit Pseudepigraphie beschäftigt hat. Er meint, es läge keine Fälschung, Lüge oder Täuschung vor, sondern sei eine akzeptable Fortschreibung der paulinischen Theologie. Ähnlich argumentiert auch Martin Hengel: Pseudepigraphie sei in jüdisch-hellenistischer Literatur sogar der Normalfall, wo ein Autor sich zugunsten eines allgemeinen Überlieferungsprozesses bzw. einer Traditionszuschreibung zurücknehme.25 Eine weitere Erklärung bietet Charles Stang, der ein anderes 20 Seit einiger Zeit wird nun sogar wieder der pseudepigraphe Charakter der Pastoralbriefe in Frage gestellt, vgl. Jens Herzer: Abschied vom Konsens? Die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe als Herausforderung an die neutestamentliche Wissenschaft, in: ThLZ 129 (2004), 1267–1282. 21 Vgl. Broer: Täuschungsabsicht (s. Anm. 19), 236. 22 Jürgen Roloff: Der erste Brief an Timotheus (EKK 15), Zürich 1988, 25. Vgl. auch Janßen: Pseudepigraphie (s. Anm. 1), Abschnitt 2.5 und 2.6. 23 Vgl. Janßen: Unter falschem Namen (s. Anm. 3), 267 (Anm. 1022) mit einer entsprechenden Liste. 24 S. o. Anm. 3 zu Norbert Brox. 25 Auch Speyer entwirft eine ähnliche Sonderkategorie der »Echten religiösen Pseudepigraphie« (Die literarische Fälschung [s. Anm. 3], 35–37), in welcher Gott als Offenbarer und Urheber des schriftlichen Denkmals angesehen werde (36), so dass derartige Texte die religiöse Ergriffenheit widerspiegeln (36) und von einem Glauben an Inspiration getragen seien (36).

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Zeitverständnis der Spätantike in Rechnung stellt und Pseudepigraphie als Folge einer fortdauernden imaginären Präsenz der apostolischen und nachapostolischen Personen (»timeless communion«, »living dead«) in späterer Zeit erklärt.26 Oder sollte man einfach das Paradox akzeptieren, dass solche Schriften trotzdem weit verbreitet waren, obwohl Fälschungen auch damals schon abgelehnt wurden? Schließlich warnen gerade fälschende Autoren selbst vor Fälschungen.27 Mit diesen drei spektakulären Beispielen sei das weite Feld der Pseudepigraphie eröffnet: mit der Konstantinischen Schenkung als einem rechtlich bedeutenden Text aus dem Frühmittelalter, mit dem Apostolikum als einem bis heute bedeutenden Text aus der Zeit der Kirchenväter und mit den Pastoralbriefen als einem Textkorpus aus dem Neuen Testament. Das heißt natürlich nicht, dass Pseudepigraphie ein rein christliches Phänomen ist oder dass es nur in dieser Zeit der Antike Fälschungen gab – man denke etwa an die Aufregung um die angeblichen Hitlertagebücher –, oder dass es nur literarische Fälschungen gab – man erinnere sich beispielsweise an die offenbar grandiosen gefälschten Bilder von Beltracchi, was erst im Jahr 2010 bekannt wurde. Es zeigt im Gegenteil, wie vielfältig die Problem- und Forschungslage hier ist.

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Pseudepigraphie bei den Kirchenvätern – ein wenig erforschtes Feld

Während die Konstantinische Schenkung eine geschickte strategische Fälschung in einem bestimmten historischen Kontext gewesen ist, sind die Umstände und Entstehungsprozesse des Apostolikums bis heute unklar und umstritten: Wann ist der Text wo und wie von wem zusammengestellt worden?28 Die Pastoralbriefe Andere Versuche der kanontheologischen Rechtfertigung sind bei Janßen: Unter falschem Namen (s. Anm. 3), 263–268, sowie in ihrem Art. Pseudepigraphie (s. Anm. 1) unter 2.6 zusammengestellt. 26 Charles M. Stang: Apophasis and Pseudonymity in Dionysius the Areopagite: »No longer I« (OECS), Oxford 2012, bes. 41–80. 27 Vgl. dazu auch Meade: Pseudonymity (s. Anm. 3), 4–12, der das Phänomen in drei forschungsgeschichtliche Lösungen unterteilt (»Schule«; »religiöse Pseudepigraphie« [wie Speyer] und »eklektischer Ansatz« [wie Brox]). Vgl. ferner Broer: Täuschungsabsicht (s. Anm. 19), 248–252, der auf die verbreitete Anwendung bei gleichzeitiger Ablehnung der Pseudepigraphie hinweist (250) und diese damit begründet, dass die Verfasser trotzdem ihre eigene Fälschung für berechtigt hielten (251) aufgrund ihrer »abgrundtiefen Überzeugung von der Wahrheit und alleinigen Berechtigung der eigenen Glaubens-Überzeugung« (252). M. E. ist damit zwar das Problem beschrieben, aber nicht wirklich gelöst. 28 Vgl. die Diskussion über die Thesen von Markus Vinzent in Uta Heil: Markell von Ancyra und das Romanum, in: Annette von Stockhausen/Hanns Christof Brennecke (Hg.): Von Arius zum Athanasianum. Studien zur Edition der »Athanasius Werke« (TU 164), Berlin 2010, 85– 103.

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wiederum, deren Entstehungskontext und Aussageabsicht ungefähr erschlossen werden können, zeigen die zugespitzten Probleme von Fälschungen im Kanon der biblischen Schriften. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade auf diesem letzteren Feld bislang am intensivsten zur Pseudepigraphie geforscht worden ist. Das ist in Bezug auf die Schriften der Kirchenväter nicht der Fall, auch wenn es natürlich solch spektakuläre Texte gibt wie das Apostolikum. Es gibt ein paar wenige Bereiche, in denen schon intensiver geforscht wurde, wie beispielsweise in dem großen Komplex der apollinaristischen Fälschungen. Diese waren aber schon in der Spätantike umstritten, vor allem im Kontext der sogenannten christologischen Streitigkeiten und im Umfeld der Synode von Konstantinopel 553.29 Ferner – um einige weitere Beispiele anzuführen – ist es längst bekannt, dass es viele unechte Predigten von Johannes Chrysostomus gibt;30 außerdem sind so einige Augustinus-Predigten nicht von Augustinus. Unter den Pseudepigrapha stellen die Predigten aber einen Sonderfall dar, da gerade hier ein größeres Durcheinander in der Überlieferung zu verzeichnen ist. Viele Predigten wurden bereits damals als Mustertexte versandt, in Sammlungen zusammengestellt und von anderen Autoren wiederverwendet, so dass es beispielsweise zur Durchmischung von Predigten des Augustinus mit Predigten des Caesarius von Arles kam.31 Aufgedeckt wurde überdies, dass der Autor »Dionysius Areopagita« nicht der in Apg 17,34 erwähnte Dionysius ist, welcher sich dem Paulus nach dessen Predigt auf dem Areopag angeschlossen habe,32 oder dass Cyprian von Karthago neben mehreren anti-jüdischen Schriften33 interes29 Apollinarisgut, unter dem Namen »Athanasius« überliefert, sind: CPG 3738 (De incarnatione Dei verbi); CPG 3737 (Quod unus sit Christus); CPG 3665 (Ad Iovianum); CPG 2230 (Oratio IV contra Arianos [?]); CPG 2243 (Contra Sabellianos [?]). Vgl. dazu Hans Lietzmann: Apollinaris von Laodicaea und seine Schule. Texte und Untersuchungen, Tübingen 1904 sowie die Beiträge in Silke-Petra Bergjan u. a. (Hg.): Apollinarius und seine Folgen (STAC 93), Tübingen 2015. 30 Ps.-Chrysostomus CPG 4500–5197 dubia et spuria. Vgl. auch Chrysostomus Latinus CPL 915– 945 (sermones) sowie auch Texte unter CPL 227–228, 237 (Petrus Chrysologus), 368 (Ps.Augustinus, sermones spurii), 594–598 (Hieronymus), 707 (Opus imperfectum in Matthaeum), 766 und 1146–1148 (Ps.-Ephraem Latinus). 31 Vgl. den sehr hohen Anteil von Sermones unter den spuria bei Augustinus (CPL 368–372). Vgl. dazu Clemens Weidmann: Discovering Augustine’s Words in Pseudo-Augustinian Sermons, in: Anthony Dupont u. a. (Hg.): Tractatio Scripturarum. Philological, Exegetical, Rhetorical and Theological Studies on Augustine’s Sermons (IPM 65), Turnhout 2012, 41–58. 32 Dionysius Areopagita CPG 6600–6635. Vgl. dazu Beate R. Suchla: Dionysius Areopagita. Leben – Werk – Wirkung, Freiburg i.Br. 2008. Nach erster Kritik durch Petrus Abaelard und dann von Laurentius Valla und Erasmus hat sich die Einsicht in der Neuzeit durchgesetzt. Vgl. zu Dionysius Areopagita als pseudepigraphes Werk auch Stang: Apophasis (s. Anm. 26). 33 Ps.-Cyprian, Adversus Iudaeos (CPL 75, auch als Ps.-Novatian); De montibus Sina et Sion (CPL 61); Ad Vigilium episcopum de iudaica incredulitate (unter CPL 67; vgl. CPG 1101). Sie knüpfen in der Zuschreibung wohl an Cyprians Schriftstellensammlung Ad Quirinium (CPL 39) an.

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santerweise auch donatistische Schriften und Texte Novatians zugewiesen wurden,34 und dass die bekannten altkirchlichen Kirchenordnungen doch nicht von den Aposteln oder von Hippolyt stammen.35 In der Regel kam es aber dazu, dass mit der Erkenntnis ihrer Nicht-Authentizität diese Schriften kaum mehr beachtet wurden. Als Beispiel sei auf Athanasius von Alexandrien (328–373) verwiesen. Die Differenzierung zwischen authentischen und nicht-authentischen Texten von Athanasius geht bis heute im Wesentlichen auf die Gelehrten aus der Benediktinerkongregation St. Maurus, Bernhard de Montfaucon und Jacques Lopin, zurück, die eine erste vollständige Edition der Werke des Athanasius in einer dreibändigen Ausgabe herausgaben, welche in Paris im Jahr 1698 erschienen ist.36 Die als unecht ausgeschiedenen Schriften wurden in einem eigenen Band als Anhang zu den echten Schriften

34 Ps.-Cyprian: CPL 69 (De bono pudicitiae), 70 (De spectaculis), 72–74 (Epistulae), 75–76 (Adversus Iudaeos; Ad Novatianum): Novatianischer Kontext; CPL 722 (Epistula ad plebem Carthaginensem; donatistisch); CPL 62 (De singularitate clericorum, vgl. CPL 770); CPL 64 (Epistula ad Turasium, vgl. CPL 769): pelagianischer Kontext. Das spiegelt das hohe Ansehen des Märtyrers Cyprian in Nordafrika wider. Ansonsten galten als cyprianisch neben CPL 57– 67 noch De pascha computus (CPL 2276) und De duodecim abusivis saeculi aus dem Frühmittelalter. 35 Die Didache möchte mit der Überschrift »Lehre der zwölf Apostel« (in der Kurzfassung nach dem Codex Hierosolymitanus [διδαχὴ τῶν δώδεκα ἀποστόλων]; die zweite, längere Fassung in demselben Codex lautet »Lehre des Herrn durch die zwölf Apostel an die Heiden« [διδαχὴ κυρίου διὰ τῶν δώδεκα ἀποστόλων τοῖς ἔθνεσιν]; vgl. Georg Schöllgen: Einleitung zur Didache, in: ders./Wilhelm Geerlings [Hg. und Übers.]: Didache, Zwölf-Apostel-Lehre. Traditio Apostolica, Apostolische Überlieferung [FC 1], [25–94] 25–26 zum Titel; der Text ebd., 98–139) den Eindruck apostolischer Verfasserschaft erwecken. Vgl. zu der erst im Jahr 1883 entdeckten Schrift die Einführung von Jonathan A. Draber in: Wilhelm Pratscher (Hg.): Die Apostolischen Väter. Eine Einleitung, Göttingen 2009, 17–38. Die Zuschreibung einer Schrift ἀποστολικὴ παράδοσις/Traditio Apostolica an Hippolyt beruht auf der Schriftenliste auf dem Sockel einer Skulptur (heute im Vatikan), vgl. die Ausgabe mit Einleitung von Wilhelm Geerlings ebenfalls in FC 1, 143–313 (Einleitung 143–208), mit 146–147 zum Titel, sowie Wolfram Kinzig u. a. (Hg.): Tauffragen und Bekenntnis. Studien zur sogenannten »Traditio Apostolica«, zu den »Interrogationes de fide« und zum »Römischen Glaubensbekenntnis« (AKG 74), Berlin 1999. Interessant ist auch ein Blick in Hieronymus, De viris illustribus: Außer seiner Kritik an einigen apostolischen Schriften (De viris illustribus 1: 2. Petrusbrief; 2: Jakobusbrief; 4: Judasbrief; 5: Hebräerbrief und Laodicenerbrief; 7: Apostelakten; 9: 2. und 3. Johannesbrief) nennt er ein paar weitere Vorbehalte (15: 2. Clemensbrief und Disputation zwischen Petrus und Appion; 25: Theophil von Antiochien schrieb weder einen Evangelienkommentar noch einen Kommentar zu Proverbia; 32: Schriften des Modestus; 58: Minucius Felix verfasste nicht De fato; 70: Novatian, De trinitate, wird fälschlich auch Cyprian zugewiesen; 117: Es sei unklar, ob Gregor von Nazianz eine Schrift zum Lobe von Maximus geschrieben habe). Das zeigt ein Bewusstsein des Problems, auch wenn nicht so viele Pseudepigrapha gelistet werden. 36 Bernard de Montfaucon/Jacques Lopin (Hg.): Τοῦ ἐν ἁγίοις Πατρὸς ἡμῶν Ἀθανασίου Ἀρχιεπισκόπου Ἀλεξανδρείας τὰ εὑρισκόμενα πάντα. Sancti Patris nostri Athanasii Archiep. Alexandrini Opera omnia […] 1–3 Paris 1698.

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veröffentlicht. Diese Textausgabe wurde dann37 von Jean-Paul Migne in der Patrologia Graecae (PG) im 19. Jahrhundert nachgedruckt (1857–1866), und zwar in den vier Bänden PG 25–28. So wurde im Prinzip die Entscheidung der Mauriner in den weit verbreiteten Migne-Bänden zementiert. Die Einschätzungen von Montfaucon wurden ebenfalls in den Migne-Bänden nachgedruckt, und diese Admonitiones zeigen, dass sich Montfaucon auf grobe stilistische und lexikalische Einschätzungen berufen hatte. Im Wesentlichen wurde diese Aufteilung dann von Alfred Stülcken im Jahr 1899 bestätigt: Athanasiana. Litterar- und dogmengeschichtliche Untersuchungen (TU 19,4, Leipzig 1899). Das hatte zur Folge, dass sich die Forschung seitdem fast ausschließlich auf die echten Werke des Athanasius konzentriert hat – mit einer einzigen Ausnahme: Als man im 20. Jahrhundert entdeckte, dass unter den Schriften des Athanasius echte Werke des Markell von Ankyra und Apollinaris von Laodicaea verborgen sind, die beide als Häretiker verurteilt worden waren, wurden (nur) diese Texte näher angeschaut,38 aber nicht, um das Phänomen Pseudepigraphie bei den Kirchenvätern zu verstehen, sondern um bislang verschüttete Texte der Häretiker wieder zugänglich zu machen. Das ist zwar ein legitimes Forschungsinteresse, das gar nicht in Frage zu stellen ist, hilft aber kaum zur Erforschung der Pseudepigraphie. Ein großes Manko wiederum der Arbeiten zur Pseudepigraphie ist, dass sie kaum eigene Forschungen über pseudepigraphe Texte betreiben, sondern sich vor allem auf Aussagen über Pseudepigraphie bei einigen wenigen Autoren, so vorhanden, stützen und allerhöchstens ganz vereinzelt einige wenige Pseudepigrapha mit heranziehen. So stellt sich momentan die Forschungslandschaft eigenartig verzerrt dar: Insgesamt ist die Forschung zur Pseudepigraphie vornehmlich auf die kanonische Pseudepigraphie konzentriert, wie bereits dargestellt, andererseits werden Texte der Kirchenväter, sofern sie Aussagen über Pseudepigraphie tätigen, gerne herangezogen, zudem es ja keine derartigen Aussagen der Apostel Paulus u. a. selbst gibt. Andererseits gibt es wiederum kaum Forschungen zur Pseudepigraphie bei den Kirchenvätern selbst, was aber nötig wäre, um auch solche Aussagen bei den Kirchenvätern besser einschätzen zu können.

37 Unter Hinzuziehung noch der Ausgabe von Nicolao Antonio Giustiniani: Sancti Patris nostri Athanasii Alexandrini Opera Omnia, Padua 1777. 38 S. o. Anm. 29 sowie Anton Stegmann: Die pseudoathanasianische »IVte Rede gegen die Arianer« als κατὰ Ἀρειανῶν λόγος. Ein Apollinarisgut, Tübingen 1917; und Eduard Schwartz: Der s.g. Sermo maior de fide des Athanasius (SBAW.PPH 1924, 6. Abhandlung), München 1925.

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Bart Ehrmans polemische und apologetische Fälschungen

Um dieses Problem zu illustrieren, sei eine neuere Publikation zur Pseudepigraphie vorgestellt, die im Jahr 2013 erschienen ist und provozieren wollte: Bart Ehrman, »Forgery and Counterforgery«.39 Der Titel betont schon sein Argumentationsziel: Pseudepigraphie sei immer mit einer ausdrücklichen Fälschungsabsicht verbunden. Ehrman möchte vor allem die Motivation sowie die Funktion von Fälschungen und Gegenfälschungen benennen und stellt daher Texte hinten an, die nur fälschlich einem anderen Autor zugewiesen wurden oder bei denen einfach Fehler in der Überlieferung passierten. Letzteres geschah natürlich oft bei namensgleichen Autoren oder auch anonymen Schriften. Im Unterschied dazu betont Ehrman, dass die meisten pseudepigraphen Schriften doch als absichtliche Fälschungen zu deklarieren sind, besonders da ein Empfinden für Authentizität auch damals vorhanden war. So wendet er sich gegen eine Tendenz in der biblisch-exegetischen Forschung, das Problem der pseudepigraphen Schriften im Kanon mit einer Ausnahmesituation zu erklären.40 Ehrman sagt ausdrücklich, dass er sich mit den ersten vier Jahrhunderten beschäftigen möchte (69). So verweist er immer wieder auf Beispiele aus der nachneutestamentlichen Zeit der Spätantike, die zeigten, dass man damals um Fälschungen wusste, darüber diskutierte, diese ablehnte, gegen falsche Zuschreibungen protestierte und Machenschaften der Häretiker, unter anderem Namen zu publizieren, angegriffen habe (75). Beispielsweise beschwere sich Hieronymus oft über Briefe, die in seinem Namen gefälscht worden und im Umlauf seien (82–83). Auch verweist Ehrman auf den Konflikt des Salvian von Marseille mit einem Salonius über seine gefälschten Bücher des Timotheus (84, 94–96, 119–120). Ebenfalls werden Rufins Beschwerden über (Ver-)Fälschungen der Werke des Origenes herangezogen (64–65) sowie der Konflikt des Athanasius mit Kaiser Konstantius über Briefe des Bischofs an den Usurpator Magnentius, die Athanasius als Fälschungen zurückweist (64–65, 75, 82). Deswegen stecke hinter jeder falschen Zuschreibung eine unbedingte Fälschungsabsicht (129–132, »intention to deceit«). Ehrman geht dann noch einen Schritt weiter, was er mit dem zweiten Titelstichwort »Counterforgeries« ausdrückt: Solche Fälschungen stünden überwiegend in einem polemischen und apologetischen Kontext (149–153). Er lehnt es 39 Bart D. Ehrman: Forgery and Counterforgery. The Use of Literary Deceit in Early Christian Polemics, Oxford 2013. Vgl. die ausführliche, im Ergebnis sehr kritische Besprechung durch David Brakke: Early Christian Lies and the Lying Liars Who Wrote Them. Bart Ehrman’s Forgery and Counterforgery, in: Journal of Roman Religion 96 (2016), 378–391. Die in diesem Abschnitt in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf die Monographie von Ehrmann. 40 S. o. S. 78–79.

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demzufolge ab, die Frühzeit des Christentums als eine Art Sonderraum zu verstehen mit einem geringer ausgeprägten Sinn für geistiges Eigentum, oder wo andere literarische Regeln gegolten hätten. Daher kritisiert er Versuche, die neutestamentlichen Autoren vom Vorwurf der Fälschung freizusprechen, als ob damals bei ihnen Pseudepigraphie ein anerkanntes und allgemein verbreitetes Mittel literarischer Produktion gewesen sei. Die Texte wollten den Leser täuschen (128) und seien daher nicht mit einer noblen Lüge (132–137) zu rechtfertigen. Ehrmans Vorhaben, das Phänomen der Pseudepigraphie in einem größeren zeitlichen Rahmen zu analysieren, nicht nur in Bezug auf die biblischen Texte, ist zu begrüßen, schon alleine deswegen, weil vergleichbare Äußerungen der Apostel nicht vorliegen. Auch die historische Tatsache, dass der Kanonisierungsprozess erst im vierten Jahrhundert zu einem relativen Abschluss gekommen ist und ehedem in die Zeit der Spätantike reicht, spricht dafür. Allerdings ist sein Fokus »on the use of forgery in Christian apologetics and polemics of the first four centuries« problematisch. Ehrman erreicht dies auf der Basis einer zirkulären Argumentation: Zunächst wählt er solche Texte aus, die er als polemische Fälschungen deklariert, und erkennt dann an ihnen, dass Fälschungen polemischapologetisch beabsichtigt waren.41 Hier wird außerdem die Argumentation mit den patristischen Autoren problematisch. Es war damals eine durchaus verbreitete Strategie, seinen Kontrahenten mit allen möglichen Mitteln zu diskreditieren, auch mit dem Vorwurf, Schriften zu fälschen oder gefälschte Schriften zu verbreiten oder sich auf gefälschte Schriften zu berufen. Das ist natürlich nicht immer wortwörtlich oder ernst zu nehmen als Beschreibung der Absicht eines Autors eines solchen Textes. Oft steht dahinter eine rhetorische Strategie, seinen Gegner zu verunglimpfen. Wenn Cyrill von Alexandrien eine gefälschte Version des athanasianischen Epiktetbriefes zurückweist, will er seine Gegner blamieren und sich selbst als 41 Ehrman stellt somit folgende Hintergründe und Anlässe für Pseudepigraphie hintenan: den Wunsch, einen Autor und Titel für anonyme Texte zu finden; den Wunsch, Leerstellen zu füllen (horror vacui); den Wunsch, eine Nachfrage zu befriedigen (z. B. die Nachfrage nach apostolischer Literatur: Paulusakten »aus Liebe zu Paulus«) und Lücken der Überlieferung füllen; Verwechslungen, vor allem bei gleichen Autornamen; Vertauschungen von Absender und Adressat; Versehen bei Schriften mit gleichem Titel; Fehler bei Zusammenstellungen von Textcorpora oder auch in Bibliotheken; in der Überlieferung verlorengegangene Titelblätter (v. a. Mischrollen und Mischkodizes); das Phänomen der Prosopopoiie (was hätte Person »X« zu Problem »Y« gesagt?); das Bestreben, die Autorschaft zu verhüllen aus verschiedenen Gründen (eine Person ist politisch umstritten, der Inhalt ist zu privat, es besteht eine Sorge um literarischen Ruhm oder Angst vor Kritik); die Vermeidung von Eigenlob; die Furcht vor Schriften- oder Büchervernichtung; fiktive Zuschreibungen als Werbeargument bzw. aus dem Wunsch nach größerer Wirkung; ein Werk als Auftragsarbeit für eine andere Person usw. Vgl. die Zusammenstellung von Janßen: Pseudepigraphie (s. Anm. 1) unter 1.2–1.4 mit der durchaus sinnvollen Grundunterscheidung zwischen primärer = autorseitiger und sekundärer = rezipientenseitiger Pseudepigraphie.

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Hüter der rechtgläubigen alexandrinischen Tradition erweisen.42 Ebenfalls sind Ehrmans Verweise auf Briefe des Hieronymus und dessen Beschwerden über Fälschungen sowie auf den Streit um das Werk des Origenes in der Zeit um 400 n. Chr. und die damit zusammenhängende Korrespondenz mit Rufinus (75, 83) problematisch. Manches davon ist nur eine unterstellte Fälschung und betont daher überproportional den polemisch-apologetischen Charakter der Fälschungen. Keineswegs sind daher alle Texte immer von Attacke bzw. Gegenattacke geleitet. Nicht tragfähig ist der Verweis auf gefälschte Briefe des Athanasius in seiner Apologie an Konstantius (75, 82): Athanasius deklariert hier Briefe, die er an den Usurpator Magnentius geschrieben haben soll, als Fälschung, um sich aus der Affäre zu ziehen und deren kompromittierende Inhalte unschädlich zu machen. Inzwischen hatte Kaiser Konstantius Magnentius besiegt, und die wohl echten Briefe konnten ihm einen Prozess wegen Hochverrats mit Todesstrafe einhandeln.43 Dieser Fall ist also keinesfalls als ein Beleg dafür, dass ihm Häretiker gefälschte Briefe untergejubelt haben (»victim of an Arian letter forged in his name« [75]), heranzuziehen. Die Auffüllung der Argumentation mit entsprechenden Zitaten der Kirchenväter, die überwiegend aus polemischen und apologetischen Kontexten stammen, verengt also die Perspektive und führt zu einer einseitigen Einschätzung des Phänomens Pseudepigraphie. Gerade die große Spannbreite, die oben schon genannt wurde, geht verloren. Hinzu kommt, dass es nicht ausreicht, Pseudepigraphie mit Polemik zu erklären. Auch wenn manche pseudepigraphe Texte polemische und apologetische Aspekte aufweisen, entspricht das nicht dem ganzen Bild. Die Werke des Autors von Lukas-Apostelgeschichte oder auch der Kirchenordnungen wie der Didaskalie, des Briefwechsels zwischen Paulus und Seneca (101, 520–527) oder auch die Märtyrerakten (493–502) als polemisch-apologetische Fälschungen zu beschreiben, verengt das Bild. Die Korrespondenz zwischen Jesus und Abgar (101, 152, 362, 366) ist mehr als eine anti-jüdische Apologie und das Protevangelium Jakobi ist mehr als eine apologetische Antwort auf Christentums-Kritiker wie Celsus (489–491). Pseudepigraphie ist also ein breiteres Phänomen, als Ehrman es erkennen lässt. Er gesteht zwar zu, dass seine Vorgehensweise eingeschränkt ist, betont aber dennoch, dass »the majority of our early Christian forgeries […] appear to have been generated out of a polemical context« (531).

42 Cyrill von Alexandrien, Epistulae 39,8 (Unionsbrief Laetentur an Johannes von Antiochien); 44,3 (an Eulogius) und 45,14 (an Succensus). Vgl. Silke-Petra Bergjan: Epistula ad Epictetum, in: Peter Gemeinhardt (Hg.): Athanasius Handbuch, Tübingen 2011, 244–248. 43 Athanasius von Alexandrien, Apologia ad Constantium 6–14 (hg. v. Hanns Christof Brennecke, Uta Heil u. Annette von Stockhausen: Athanasius Werke 2. Die »Apologie«, 8. Lieferung, Berlin 2006, 284,10–289,24).

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Pseudepigraphie bei den Kirchenvätern – Lehrer und Märtyrer

4.1

Vorkonstantinische Zeit

Das Phänomen der Pseudepigraphie bei den christlichen Autoren bis zum Ausklang der Spätantike kann natürlich nicht in einem Aufsatz umfassend behandelt werden. Ein Wechsel der Perspektive verspricht jedoch erhellend zu sein: Wer von den »Kirchenvätern« wird überhaupt Anknüpfungspunkt von pseudepigraphen Zuschreibungen? Folgende Beobachtungen zu den nachapostolischen Autoren sind von Interesse: Aus der Zeit vor Nizäa gibt es größere Konglomerate pseudepigrapher Schriften bei folgenden Autoren: Clemens von Rom44; Xystus (Sixtus II.) von Rom45; Ignatius von Antiochien46; Justin47; Hippolyt48; Cyprian von Karthago49; (Origenes50;) Dionys von Alexandrien51 und Petrus von Alexandrien52. Keine oder 44 Clemens Romanus: spuria CPG 1003–1008 (v. a. Briefe wie 2. Clemens; zwei Briefe an Jungfrauen; zwei Briefe an den Herrenbruder Jakobus); Pseudo-Clementinen CPG 1015–1022. Vgl. dazu auch Jürgen Wehnert: Pseudoklementinische Homilien 1. Einführung und Übersetzung (Kommentare zur apokryphen Literatur 1), Göttingen 2010. 45 Von ihm sind keine originalen Schreiben erhalten; Sixtus (II.) wurden dann die »SixtusOrakel« bzw. Sententiae Sexti zugeschrieben. Heftige Kritik an der Authentizität wurde schon – gegen Rufinus’ Überzeugung von der Echtheit – von Hieronymus geäußert, vgl. Wilfried Eisele (Hg.): Die Sextussprüche und ihre Verwandten (SAPERE 26), Tübingen 2015. 46 Ignatianen CPG 1026–1031; vgl. zu den Ignatianen jetzt den Sammelband: Thomas J. Bauer/ Peter von Möllendorff (Hg.): Die Briefe des Ignatius von Antiochia. Motive, Strategien, Kontexte (Millennium Studien), Berlin 2018. Entweder wurde hier das Œuvre eines historischen Märtyrers erweitert oder »Ignatius« ist von vorneherein eine Fiktion. 47 Ps.-Justins Schriften (vgl. CPG 1081–1089): De resurrectione (CPG 1081, vier Fragmente, bei Johannes von Damaskus zitiert; als Autor wird heute Athenagoras oder Hippolyt vorgeschlagen); Diognetbrief (CPG 1112, nach Codex graecus 9, Straßburg); Oratio ad Graecos (CPG 1082; auch nach dieser Handschrift und eine längere Fassung in Syrisch); Cohortatio ad Graecos (CPG 1083; Codex Parisinus graecus 450 und 451; von Markell von Ankyra?); De monarchia (CPG 1084; apologetische Testimoniensammlung, Codex graecus 9, Straßburg, und Codex Parisinus graecus 450; CPG 1082–1084 sind ediert in SC 528); Epistula ad Zenam et Serenum (CPG 1085; Codex Parisinus graecus 451, novatianisch?); Expositio rectae fidei (CPG 6218, im Codex Parisinus graecus 450: Theodoret von Kyros); Quaestiones et responsiones ad orthodoxos (CPG 6285, 161 Fragen; im Codex Parisinus graecus 450: Theodoret von Kyros); Quaestiones Christianorum ad Graecos (CPG 1087; Codex Parisinus graecus 450; fünf Fragen); Quaestiones Graecorum ad Christianos (CPG 1088; 15 Fragen); Confutatio dogmatum quorumdam Aristotelicorum (CPG 1086; Codex Parisinus graecus 450; 65 Paragraphen); im Codex Parisinus graecus 450 sind auch noch Briefe enthalten. Vgl. Christoph Riedweg: Art. Iustinus Martyr II (Pseudo-justinische Schriften), in: RAC 19, Stuttgart 2001, 848–873. 48 S. o. Anm. 35 sowie Beate R. Suchla: Art. Hippolyt, in: LACL, Freiburg i.Br. 21999, 336–339. 49 Zu Cyprian s. o. Anm. 33 und 34. Unter seinem Namen fälschte noch Erasmus eine Schrift: De dupolici martyrio. Erasmus wollte seine Märtyrertheologie mit der Autorität eines Kirchenvaters verteidigen; die Schrift wurde von ihm veröffentlicht als Teil seiner zweiten Werkausgabe von Cyprian im Jahr 1530. 50 Origenes wurde oben eingeklammert wegen seiner Verurteilung nach den sogenannten

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kaum pseudepigraphe Schriften liegen dagegen z. B. bei Irenäus von Lyon, Clemens von Alexandrien oder Tertullian vor.53 Weshalb wurden gerade jenen Autoren weitere Pseudepigrapha zugeschrieben? Es fällt auf, dass alle diese Autoren als Märtyrer in Erinnerung gehalten wurden: Clemens gilt als Mitarbeiter des Paulus und soll unter Trajan hingerichtet worden sein; die Ignatianen selbst sind schon von seinem bevorstehenden Martyrium geprägt; Justin wurde in Rom um 165 hingerichtet; Hippolyt starb verbannt auf Sardinien; Cyprian erlitt den Märtyrertod während der valerianischen Verfolgung wie auch Sixtus II.; Origenes starb an den Folterfolgen nach seiner Verhaftung unter Decius; Dionys von Alexandrien floh während der Decischen Verfolgung und wurde Confessor während der Valerianischen Verfolgung, als er verbannt wurde (er starb 264); Petrus von Alexandrien wurde zunächst in der Diocletianischen Verfolgung verhaftet, dann unter Maximinus Daja hingerichtet. Diese Personen waren offenbar hoch angesehene Autoritäten in der nach-apostolischen Zeit: Sie galten als vertrauenswürdige Christen, die in den lebensbedrohenden Christenverfolgungen standhaft geblieben waren, ihr Christsein bekannten und dafür mit dem Leben bezahlten. Ihre Verehrung

»origenistischen Streitigkeiten«, was die Überlieferung seiner Schriften massiv beeinträchtig hatte. Spuria mit Homilien in CPG 1510–1525, darunter Ps.-Origenes/Origenes latinus: CPL 668–675 = CPG 1510–1517 (Homiliae VIII in Matthaeum); CPG 1518–1519 (Homilia in Melchisedech; Fragmentum de Mechisedech); CPG 1520 (Homilia XVII in Genesim); CPG 1521 (Commentarii in Iob = CPL 707a aus vandalischer Zeit; vgl. auch CPG 2075: Dieter Hagedorn [Hg.]: Der Hiobkommentar des Arianers Julian. Commentarius in Iob [PTS 14], Berlin 1973); CPG 1726 Adamantiusdialog De recta in Deum fide (von Rufin als Werk des Origenes betrachtet) und CPG 1522–1525 (weitere Homilien). 51 Dionysius von Alexandrien (CPG 1550–1597 echt): CPG 1599–1612 dubia et spuria (v. a. Briefe; z. T. armenisch, drei Briefe sind unklar); außerdem wohl CPG 1706 (Akten der Synode von 268); CPG 1708 (Brief des Dionysius von Alexandria an Paulus von Samosata); CPG 1709 (Propositiones et responsiones: 10 Thesen von Paulus und Antworten von Dionysius); CPG 1710 (Libri ad Sabinum); ferner Dokumente aus dem »Streit der Dionyse«; vgl. Charles L. Feltoe (Hg.): The Letters and Other Remains of Dionysius of Alexandria (CPT), Cambridge 1904, 165–198 und Uta Heil: Athanasius von Alexandrien, De sententia Dionysii. Einleitung, Übersetzung und Kommentar (PTS 52), Berlin 1999, 36–71 zur Frage der Echtheit. 52 Petrus von Alexandrien: CPG 1650–1662 dubia et spuria. 53 Irenäus nur CPG 1320 (Epistula ad Demetrium diaconum de fide); Clemens von Alexandrien nur CPG 1390–1399 mit 1397, dem umstrittenen Brief an Theodorus über das geheime Markusevangelium (s. Helmut Merkel [Übers]: Das geheime Markusevangelium; in: Christoph Markschies/Jens Schröter [Hg.]: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung 1. Evangelien und Verwandtes, Tübingen 72012, 390–399). Auch liegen keine Pseudepigrapha bei anderen Märtyrern und anderen Apologeten und kaum bei Laktanz vor (CPL 1457 [Carmen de passione Domini] ist anonym, als Werk Cyprians und als Werk von Laktanz überliefert; CPL 1518 [Centum]); nur eine Fortschreibung gibt es bei Minucius Felix: Dialog De fato (CPL 37a; nach Octavius 36,2; s. o. Anm. 35 zu Hieronymus). Bei Theophil von Antiochien gibt es eine lat. Zuschreibung (CPL 1001 bei CPG 1109: Commentarius in quattuor Evangelia [PLS 3, 1283–1329]).

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steigerte sich noch in der nach-konstantinischen Zeit im vierten und fünften Jahrhundert, als auch der Großteil der Märtyrererzählungen verfasst wurde. Pseudepigraphie hat also im Wesentlichen mit einer Suche nach Autorität zu tun, und zwar nach einem Autor, der glaubwürdig und überzeugend Autorität vermittelt. Ohne Zweifel waren die Märtyrer eine große Autorität für die Kirche, nach den Aposteln standen sie gleich an zweiter Stelle. Aber es sind natürlich nicht alle Märtyrer auch Anknüpfungspunkte für Pseudepigraphie geworden, sondern solche Personen, die bereits als bedeutende Lehrer in der Kirche bekannt waren wie eben Clemens, Ignatius, Justin, Hippolyt, Cyprian, Origenes, Dionys und auch Petrus: Ignatius hat die ausgewählten Gemeinden in Kleinasien mit Briefen instruiert; Justin, der christliche Philosoph in Rom, hatte nicht nur die bekannte Apologie sowie den Dialog mit dem Juden Tryphon verfasst, sondern auch weitere apologetische Schriften sowie anti-häretische Traktate gegen Markion und die Gnostiker; Cyprian hat als Bischof mit Briefen und Traktaten seine Lehrautorität in den schwierigen Zeiten der Verfolgung verfestigt, bevor er als Märtyrer starb. Das Ansehen des Origenes war in der Zeit vor den sogenannten »origenistischen Streitigkeiten« unbestritten, auch Dionys von Alexandrien war ein engagierter Lehrer und Disputant seiner Zeit. So wurden also vornehmlich diejenigen Märtyrer, die auch als bekannte Lehrautoritäten bekannt waren, Anziehungspunkt für weitere Zuschreibungen, auch wenn die jeweiligen Gründe in der Überlieferung unterschiedlich gewesen sein mögen. Interessanterweise sind ja nicht alle bekannten Bischöfe oder Autoren vergleichbare Magnete für Pseudepigraphie geworden: beispielsweise nicht Irenäus von Lyon oder Clemens von Alexandrien, auch nicht Eusebius von Cäsarea, nicht Tertullian, nicht Laktanz (s. o.). Eine Ausnahme bildet hier wohl Gregor Thaumaturgos, der als charismatischer Wundertäter verehrt wurde (gest. um 270). Bei ihm gibt es ebenfalls ein paar spuria; manches ist umstritten und einiges auch aufgrund des Namens ihm zugewiesen, da mehrmals Schriften von »Gregor« in der Überlieferung durcheinandergeraten sind.54 So zeigt das Bild der Pseudepigraphie doch eine gewisse Stringenz und gar nicht ein so undurchdringliches Chaos, wie man vermuten könnte. Es handelt sich nicht einfach um die Gruppe der Apostel und dann alle »Kirchenväter«, auch wenn Michael Wolter in dem entsprechenden TRE-Artikel es so formuliert: »Es gibt in dieser Zeit keinen Kirchenvater, unter dessen Namen nicht Schriften

54 Gregor Thaumaturgos, CPG 1772–1794 spuria (darunter die Disputatio de anima ad Tatianum [CPG 1773]); beispielsweise ist die Schrift CPG 1775 als CPG 3214 Gregor von Nyssa überliefert und CPG 1774 auch als CPG 3222 Gregor von Nyssa; vgl. auch CPG 3061 Gregor von Nazianz ist eigentlich Gregor Thaumaturgos. Gregor von Nyssa: CPG 3214–3226 spuria (s. u. Anm. 70). Vgl. auch den Fall des Gregor von Nazianz, CPG 3062 De fide orthodoxa = CPL 551 Gregor von Elvira.

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lanciert wurden.«55 Es steht auch nicht nur das selbstverständliche Prinzip, dass das Ältere das Bessere und Wahrere sei (presbyteron kreitton), im Hintergrund, oder dass die jeweiligen Repräsentanten prinzipiell austauschbar waren, frei nach dem Motto: egal wer, Hauptsache alt! Natürlich genossen zunächst die Apostel eine außerordentliche Autorität (Ehrman: Forgery [s. Anm. 39], 120). Aber während Ehrman einfach von »leaders« oder Personen mit »well-known names« (532) »who carried some weight« (121), oder allgemein von »subapostolic authorities« und »respected authorities« (150) spricht, oder auch Wolfgang Speyer56 von »anerkannten Schriftstellern« bzw. von den »in ihrer Zeit in Geltung stehenden Autoren«, lässt sich das Phänomen offenbar etwas konkreter beschreiben: Anerkannte Autoritäten als Märtyrer und Lehrer eigneten sich besonders gut für weitere Zuschreibungen.57 Diese Beobachtung ergänzt die sicher ebenfalls zutreffende Beschreibung von Martina Janßen, Pseudepigraphie setze eine gewisse »Plausibilität« voraus, so dass sie auch das Kriterium der »Angemessenheit« heranzieht.58 Gemeint ist, dass ein Anknüpfungspunkt vorliegen müsse, was die Inanspruchnahme eines Namens auch glaubwürdig und angemessen erscheinen lasse, so dass das Pseudepigraphon auch plausibel erscheine.

4.2

Nachkonstantinische Zeit

Wirft man einen Blick auf das vierte Jahrhundert, so bestätigt sich diese Tendenz, auch wenn es etwas unübersichtlicher wird aufgrund der Fülle der Autoren und Texte. Es treten hier ein paar besondere Phänomene auf, die zu berücksichtigen sind. Einerseits sind viele exegetische Fragmente in der Zuweisung unsicher, wenn sie aus Florilegien sowie Katenen stammen, da hier die Überlieferung kompliziert ist und oft Fehler bei Zuschreibungen passiert sind.59 Ferner liegen 55 Michael Wolter: Art. Pseudonymität II. Kirchengeschichtlich, in: TRE 27, Berlin 1997, (662– 670) 665. 56 In seiner Studie Speyer: Die literarische Fälschung (s. Anm. 3), 219. 57 Martina Janßen: Antike (Selbst-)Aussagen über Beweggründe zur Pseudepigraphie, in: Frey u. a.: Pseudepigraphie und Verfasserfiktion (s. Anm. 3), 125–179; vgl. dies.: Unter falschem Namen (s. Anm. 3): »historisch bedeutsame Namen«, »Autorität eines bekannten Namens« (164); »vergangene Autoritäten«, und verweist auf die Suche nach höherer »gravitas« (165). 58 Janßen: Unter falschem Namen (s. Anm. 3), 166–167, 173. Es ist interessant, dass der Faktor der Kanonisierung der biblischen Schriften die Produktion der Pseudepigraphie kaum beeinträchtigt hatte: Es gab Pseudepigraphie bei anderen Autoren als den Aposteln schon vor dem relativen Abschluss des Kanons in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, umgekehrt werden auch nach dem vierten Jahrhundert noch pseudepigraphe »apostolische« Schriften verfasst. 59 Grundlegend ist noch immer der Katalog: Georg Karo/Hans Lietzmann: Catenarum Graecarum Catalogus (NGWG.PH), Göttingen 1902; vgl. ferner Joseph Reuss: Matthäus-, Markus-

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besonders bei den Homilien falsche Zuschreibungen vor, wie bereits erwähnt, oder sogar doppelte oder gar keine Zuweisungen. Neben exegetischen Fragmenten und Homilien finden sich oft Dialoge unter den Pseudepigrapha, da es später offenbar ein Bedürfnis gab, anerkannte Autoren im Dialog mit ihren Gegnern sowie in Quaestiones et responsiones-Literatur (Erotapokriseis) auftreten zu lassen, um die Argumente deutlicher zu präsentieren. Das betrifft beispielsweise Dionys von Alexandrien60, Athanasius61, die Kappadokier62, Cyrill von Alexandrien63, Theodoret64 und Augustinus65. Einen Sonderfall stellen ferner gänzlich erfundene Personen dar wie beispielsweise Ambrosius von Chalcedon (eine pelagianische Fälschung)66; Agathonius von Tarsus (eine monophysitische Fälschung)67; Eusebius von Alexandrien (Sermones zu liturgischen Fragen) sowie der gallikanische Euseb (eine große Predigtsammlung)68.

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und Johannes-Katenen nach den handschriftlichen Quellen untersucht (NTA 18,4–5), Münster 1941; Karl Staab: Die Pauluskatenen nach den handschriftlichen Quellen untersucht (SPIB 3), Rom 1926; Ursula Hagedorn/Dieter Hagedorn: Die älteren griechischen Katenen zum Buch Hiob 1–4 (PTS 40, 48, 53, 59), Berlin 1994–2004; vgl. dazu Ekkehard Mühlenberg: Art. Katene, in: TRE 18, Berlin 1989, 14–21; ders.: Psalmenkommentare aus der Katenenüberlieferung 1–3 (PTS 15, 16, 19), Berlin 1975–1978; ders.: Athanasius-Exzerpte in den Psalmenkatenen, in: Gemeinhardt: Athanasius Handbuch (s. Anm. 42), 384–386. Zu Dionys s. o. Anm. 51. Vgl. seine dreitägige Disputation mit einem Chiliasten (Euseb von Cäsarea, Historia ecclesiastica 7,24,6–9). Ps.-Athanasius, Disputatio contra Arium (CPG 2250); De s. trinitate dialogi V (CPG 2284); Dialogi contra Macedonianis II (CPG 2285); Dialogus Athanasii et Zacchaei (CPG 2301); Dialexis Montanistae et orthodoxi (CPG 2572); sowie Quaestiones ad Antiochum ducem (CPG 2257); Quaestiones in evangelia (CPG 2258); Quaestiones in scripturam sanctam (CPG 2260); Quaestiones aliae (CPG 2261); vgl. auch Vigil von Thapsus, Contra Arianos, Sabellianos et Fotinianos dialogus (PL 62, 179–238; CChr.SL 90B, 247–414 Hombert). Zu den Kappadokiern s. Anm. 70. Cyrill von Alexandrien (CPG 5200–5411 echt): nur CPG 5430–5438 als spuria mit CPG 5433 Dialog zwischen Cyrill und Nestorius. Theodoret (CPG 6200–6278 echt): nur CPG 6285 (Quaestiones et responsiones ad orthodoxos [PG 6, 1249–1400]) dubia und noch drei spuria CPG 6286–6288. Augustinus: CPL 373a (Dialog zwischen Augustinus und Orosius); CPL 364 (Contra Varimadum); CPL 366 (Dialog zwischen Augustinus und Pascentius). Vgl. auch Ps.-Augustinus, De altercatione Ecclesiae et Synagoge dialogus (CChr.SL 69A, 25–47 Hillgarth); Ps.-Hieronymus, Dialog zwischen Augustinus und Hieronymus über den Ursprung der Seele (Epistula 37 [PL 30, 261–271]). Ambrosius von Chalcedon, Expositio fidei catholicae (CPL 778). Agathonius von Tarsus: CPG 5621–5627 (mit zwei Dialogschriften: CPG 5623 [Disputatio cum Iustino de resurrectione]; CPG 5624 [Dialogus cum Stratonico]). Euseb von Alexandrien, der angebliche Nachfolger von Cyrill von Alexandrien, dem 22 Homilien zugewiesen werden (CPG 5513–5529; PG 86,1, 313–462, 509–536); vgl. François Nau: Notes sur diverses homélies pseudépigraphiques, sur les ɶuvres attribuées à Eusèbe d’Alexandrie et sur un nouveau manuscrit de la chaîne contra Severianos, in: ROC 13 (1908), 406–421. Sermones des gallikanischen Euseb unter CPL 220–221 und 226 (bei Ps.-Maximus); 368 (Ps.-Augustinus); 498 (Sententia ad monachos als Ps.-Eucherius von Lyon); 503 (Hilarius von Arles); 843 (Sermo 30 von Ps.-Fulgentius von Ruspe); 966–977 (Ps.-Euseb von Emesa;

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Stellt man diese Sonderfälle zurück, so gibt es vor allem zwei Autoren der Spätantike, die eine außerordentlich große Anzahl an pseudepigraphen Schriften an sich gezogen haben: Athanasius von Alexandrien (s. u.) und Johannes Chrysostomus (CPG 4500–519769). Bei Chrysostomus handelt es sich überwiegend, analog zu seinem überlieferten Werk, um Predigten. Er ist bekanntlich ebenfalls als Märtyrer gestorben, nachdem er zum zweiten Mal aus Konstantinopel vertrieben wurde und auf dem Weg zu seinem Exilsort umkam. Erstaunlicherweise gibt es im Vergleich dazu kaum Pseudepigrapha bei den Kappadokiern,70 ein paar wenige bei Cyrill von Jerusalem – es handelt sich wieder überwiegend um Predigten, viele mit dem Schwerpunkt der Kreuzesverehrung –, kaum etwas bei Epiphanius von Salamis (unter den Homilien und Exegetica71); bei Theophil von Alexandrien gibt es einige nicht edierte arabische und armenische Homilien (unklar).

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Athanasius von Alexandrien

Wenn sich das Bild bestätigen sollte, so stellt sich natürlich die Frage, warum ausgerechnet Athanasius so viele Pseudepigrapha zu verzeichnen hat. Es gibt mehr als 200 Texte, die ihm zugeschrieben wurden (CPG 2140–2309). Leider sind nur wenige dieser pseudepigraphen Texte genauer analysiert worden, was an eben diesem Verdikt des Pseudepigraphen hängt (s. o.), so dass eine Gesamtschau nur ansatzweise möglich ist. Einige dieser Texte gehören sicher in die Kategorie »Überlieferungsfehler«, andere rühren von dem Bestreben her, einen berühmten Namen für anonyme Schriften zu finden. Manches ist auch auf Homonymität zurückzuführen; so eine Homilie über den Teufel, die wohl aria-

manches davon auch als Ps.-Augustinus überliefert). Vgl. Lisa Kaaren Bailey: Christianity’s Quiet Success. The Eusebius Gallicanus Sermon Collection and the Power of the Church in Late Antique Gaul, Notre Dame, IN 2010. 69 S. o. Anm. 30. 70 Basilius von Caesarea (CPG 2835–2908 echte Schriften): CPG 2910–2914 dubia mit CPG 2911 (Jesaja-Kommentar [PG 30, 117–668], umstritten); CPG 2920–2954 spuria: Homilien von Ps.Basilius (einige als echt verteidigt, CPG 2935–2954 nicht ediert); Dialoge mit Basilius CPG 2963 (s. o. Anm. 54). Gregor von Nazianz (CPG 3010–3057 echte Schriften): CPG 3059–3063 fünf spuria; hier gibt es sehr viele Dialoge bzw. Quaestiones et responsiones als spuria: CPG 3064–3080. Gregor von Nyssa (CPG 3135–3207 echte Schriften): CPG 3214–3226 spuria, z. T. ein anderer Gregor. Zu »Gregor« s. o. Anm. 54. 71 Cyrill von Jerusalem, CPG 3590–3594 spuria (homiliae und epistulae, so ein Briefwechsel Cyrills mit Augustinus); Epiphanius von Salamis: CPG 3765–3791 spuria (meist homiliae und exegetica; darunter CPG 3766 [Physiologus]; 3777 [De prophetarum vita et obitu]), darunter auch CPG 3780–3782 (Apostellisten).

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nisch ist und eventuell von Athanasius von Anazarba verfasst wurde.72 Oder man wollte eine Einschätzung von Athanasius für spätere Probleme erhalten wie in der Schrift Sermo contra omnes haereses, in der Athanasius gegen diverse Häresien bis hin zum Apollinarismus anschreibt.73 Manche lassen Athanasius in einem Dialog auftreten74. Daher gibt es auch plagiierte Schriften: Aussagen des Athanasius wurden gesammelt, neu zusammengestellt, erweitert und als neue Texte herausgegeben. Auf die bei ihm überlieferten Schriften der verurteilten Häretiker Markell und Apollinaris wurde oben schon verwiesen. Die berühmteste darunter ist wohl der »athanasianische« Brief an Jovinian, den bereits Cyrill von Alexandrien als authentisches Dokument betrachtet hatte und der die Hauptquelle für die so umstrittene Aussage μία φύσις τοῦ θεοῦ λόγου σεσαρκομένη wurde.75 Eine Einschätzung des exegetischen Materials wie auch des Psalmenkommentars ist allerdings schwer, insbesondere weil kein unumstrittener rein exegetischer Text von Athanasius als Vergleichspunkt überliefert ist.76 Interessanterweise gibt es auch rein lateinische »Produktionen« des »Athanasius«, die keine Übersetzungen aus dem Griechischen sind. Das sogenannte Athanasianum ist wohl der berühmteste darunter. Es handelt sich also um eine große Sammlung, für die kein einheitliches Raster gefunden werden kann, was die Zuschreibungen erklärt, und gibt genau die Vielfalt wieder, die Ehrman ausschließen möchte.77 Unbestritten ist, dass Athanasius eine große Autorität genoss. Er galt als der Bischof und rechtgläubige Lehrer der Kirche, dem die Christenheit zu verdanken hat, dass das Nizänum durch die Wirren des trinitarischen Streits hindurch in Geltung blieb. So hat er sich selbst inszeniert und ist in Erinnerung geblieben, wie es die Darstellungen in den späteren Kirchengeschichten bei Sokrates, Sozomenus und Theodoret bezeugen. Er hat sich dabei auf eine sehr subtile Weise als einen Lehrer beschrieben, der seinen eigenen Anteil an der Lehre sowohl unterstrich als auch wiederum zurücknahm. Als Bischof lehre er zwar seine Gemeinde, aber eben nicht seine eigene Lehre, sondern die der Kirche bzw. die Lehre Christi, welcher der eigentliche Lehrer der Kirche ist. Er sei nur der Vermittler dieser Lehre, wie er es darstellt. Das unterscheide ihn von seinen Gegnern, wie er nicht oft genug betonen kann, die nämlich ihre eigenen Ideen proklamieren und ständig neue Lehren erfinden würden. Im Unterschied dazu ver72 Ps.-Athanasius, Sermo de diabolo (CPG 2080): Felix Scheidweiler: Eine arianische Predigt über den Teufel, in: ZKG 67 (1955/56), 132–140. 73 Uta Heil: Athanasius, Apollinarius und der pseudathanasianische Sermo contra omnes haereses, in: Bergjan u. a.: Apollinarius und seine Folgen (s. Anm. 29), 143–166. 74 S. o. Anm. 61. 75 Lietzmann: Apollinaris von Laodicea (s. Anm. 29), 250–253. Vgl. dazu Volker H. Drecoll: Apollinarius, Ad Jovianum. Analyse und Bedeutung für die Apollinarisfrage, in: Bergjan: Apollinarius und seine Folgen (s. Anm. 29), 35–57. 76 S. Mühlenberg: Athanasius-Exzerpte (s. Anm. 59 ). 77 S. o. Anm. 41.

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mittele er nur die Lehre der Kirche und zitiere die Bibel ohne neue eigenwillige Sonderlehren.78 Hinzu kommt aber noch ein anderer Aspekt, der wiederum mit dem Martyrium zu tun hat: Athanasius hat es erreicht, sein Leben selbst als ein großes Martyrium zu inszenieren, obwohl er eigentlich im hohen Alter nach 45 Jahren auf dem Bischofssitz verstorben ist.79 Er hat nämlich seine vielen Exile als ein Martyrium gedeutet und inszeniert, so dass auch er als ein Leidender im Kampf für den orthodoxen Glauben in Erinnerung gehalten wurde. In mehreren Texten polemisiert er gegen die Umtriebe seiner Gegner, seien es Melitianer, seien es Eusebianer oder seien es die Kaiser, und beschreibt sein Exil und das Leiden seiner Gemeinde in Alexandrien mit Begriffen, die an die Zeit vor 311 anknüpfen: Er spricht von Verfolgung, Folter (Apologia de fuga sua 7), Verhören, Zerstörung und Plünderung von Kirchen, Bücherverbrennung, Entweihung von Baptisterien und Beschlagnahmungen (Apologia de fuga sua 3,4). Seinen Gegnern, die ja eigentlich Christen sind, unterstellt er nicht nur Häresie, sondern auch Tieropfer, Götzendienst und andere Machenschaften, da sie sich mit Heiden zusammengetan hätten (Apologia de fuga sua 5,4; 6) – Athanasius differenziert hier nicht weiter. Letztendlich haben sie es sogar auf seinen Tod abgesehen (Apologia de fuga sua 3,4). So sei die gegenwärtige Lage eigentlich sogar schlimmer als zur Zeit der Christenverfolgung vor 311, da nun sogar Christen gegen Christen vorgehen würden. Das ist natürlich einerseits Polemik: Athanasius will seine Gegner diskreditieren, da sie sogar schlimmer als Heiden seien. Andererseits bietet er damit eine neue, andere Interpretation seines Lebens und wendet erstmals in geänderter Form die Martyriumstheologie in der Zeit nach den Verfolgungen auf sich selbst an – seine Vertreibungen und Exile seien keine Zeichen seines Scheiterns, sondern das Gegenteil. Er beansprucht damit als Bischof in der Verfolgung, als Quasi-Märtyrer, höchste Autorität. Viele haben ihm damals zunächst seine Selbstdeutung nicht abgenommen: Wenn er Märtyrer sein möchte, warum ist er dann geflohen und hat sich seiner Verhaftung entzogen? Athanasius verteidigt sich gegen diese Vorwürfe vor allem in seiner Apologia de fuga sua (356 n. Chr.; Apologia de fuga sua 1,1; 2,5; 8), die offenbar erfolgreich und wirkmächtig gewesen ist. Es handelt sich dabei um die erste kreative Neuverwendung der Märtyrertheologie in einem anderen Kontext, 78 Vgl. dazu auch Uta Heil: Apocalyptic Literature – A Never-Ending Story, in: Veronika Wieser (Hg.): Cultural History of Apocalyptic Thought/Kulturgeschichte der Apokalypse, Berlin (im Druck). Ganz deutlich wird das exemplarisch in seinem berühmten 39. Festbrief. 79 Vgl. dazu Uta Heil: Athanasius of Alexandria – Teacher and Martyr of the Christian Church, in: Eve-Marie Becker/Jacob Mortensen (Hg.): Paul as Homo Novus. Authorial Strategies of Self-Fashioning in Light of a Ciceronian Term (Studia Aarhusiana Neotestamentica 6), Göttingen 2018, 177–196.

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als die eigentlichen Verfolgungen längst vorbei waren. In seiner Apologie verweist er auch auf biblische Beispiele des Fliehens (Apologia de fuga sua 10; 18); sogar Christus sei geflohen (Apologia de fuga sua 12). Daher sei eine Flucht an sich nicht zu verurteilen (Apologia de fuga sua 21), sondern wenn man sich ausliefere, so sei das Selbstmord (Apologia de fuga sua 17). Gott allein aber sei der Spender und Beender des Lebens (Apologia de fuga sua 25,1). Wenn man daher die Gelegenheit zur Flucht habe, solle man sie auch ergreifen (Apologia de fuga sua 11 zu Mt 10,23).80 Athanasius war erfolgreich, sich polemisch-apologetisch als Fast-Märtyrer zu inszenieren, und hat seinen Ruf als unbeugsamer Streiter für die Orthodoxie gefestigt. Seine fünf Exile haben ihm nicht geschadet, sondern im Gegenteil dieses Bild verstärkt. Er ist dadurch offenbar zu einer so herausragenden Autorität geworden, dass er zu einem bedeutenden Magneten auch für Pseudepigraphie wurde.

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Ein kleiner Ausblick

1. Diese Beobachtungen stützen die Annahme, dass meistens nur besondere Autoritäten sich zum Anknüpfungspunkt für weitere pseudepigraphe Zuschreibungen entwickelten. Anfangs waren es Apostel, anschließend bekannte Lehrer, die auch Märtyrer wurden. Auf Athanasius traf das in einer besonderen Weise ebenfalls zu. Später kamen noch hoch angesehene Asketen hinzu,81 und in der lateinischen Kirche des Westens schließlich die päpstliche Autorität.82 Außerdem erfuhren ein paar hoch angesehene griechische Kirchenväter lateinische pseudepigraphe Zuwächse im Westen.83 80 Die Darstellung seiner Flucht wurde dann zum Anknüpfungspunkt für Legenden, die um seine Flucht und seine Verstecke in Ägypten kreisen; vgl. Peter Gemeinhardt: Herkunft, Jugend und Bildung, in: ders.: Athanasius Handbuch (s. Anm. 42), 75–82. 81 Vgl. z. B. Makarius der Ägypter/Ps.-Makarius (CPG 2410–2427); Evagrius Ponticus (CPG 2465–2482; selbst unter Nilus überliefert: CPG 2439, 2447, 2451–2452, 2455) und Nilus von Ankyra (CPG 6075–6084). Über Ephraem Graecus (CPG 3905–4175) lässt sich gegenwärtig nur aussagen: impossibile adhuc videtur scripta graeca quae sub nomine Ephraemi traduntur, cum certitudine in authentica, dubia et spuria distinguere (Mauritius Geerard [Hg.]: CPG 2. Ab Athanasio ad Chrysostomum, Turnhout 1974, 366 ad »Ephraem Graecus«). 82 Im lateinischen Westen haben wir einerseits Pseudepigrapha bei Ambrosius, dann bei Hieronymus und natürlich bei Augustinus (vor allem Briefe und Predigten, s. o. Anm. 31) – das sind die großen Kirchenväter des lateinischen Westens. Zieht man aber die große Masse der Predigten ab, so bleibt der Umfang überschaubar. 83 Origenes, Athanasius und Johannes Chrysostomus (s. o. Anm. 30; 50); vgl. Christoph Müller: Das Phänomen des »lateinischen Athanasius«, in: von Stockhausen/Brennecke: Von Arius zum Athanasianum (s. Anm. 28), 3–42; ders.: Lateinische Übersetzungen, in: Gemeinhardt: Athanasius Handbuch (s. Anm. 42), 378–381.

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2. Auch in Bezug auf die Apostel scheint es zuzutreffen, das vor allem diejenigen, die als bedeutende Lehrer galten (Paulus, Petrus, Jakobus, Johannes), Pseudepigraphie an sich zogen – eine Autorität wie ein Märtyrer wurde ihnen sowieso zugesprochen. 3. Pseudepigraphie setzt eine gewisse Plausibilität voraus (s. o.), was das Bild eines Lehrers und Märtyrers abrundet. Der Maßstab für Plausibilität war damals sicher anders als für uns heute nach vielen Jahrzehnten der historischkritischen Erforschung der Schriften der Kirchenväter. Dennoch ergibt sich eine gewisse Stimmigkeit – auch wenn der Umfang und die Vielschichtigkeit der athanasianischen Pseudepigrapha den üblichen Rahmen sprengen. 4. Ehrman ist zuzustimmen, die Forschungen zur Pseudepigraphie nicht auf die »biblischen« Autoren zu beschränken, sondern bis hin zur Spätantike zu erweitern; seine Beschreibung als apologetische Pseudepigraphie ist jedoch eine starke Engführung. 5. Die Forschung zur Pseudepigraphie ist nicht nur auf Aussagen von antiken und spätantiken Autoren über Pseudepigraphie zu beziehen, sondern sollte in erster Linie umfassend das Phänomen der pseudepigraphen Schriften an sich berücksichtigen. 6. Die Suche nach einer Autorität vereint alle Typen der Pseudepigraphie, sowohl die absichtlichen Fälschungen oder falschen Zuschreibungen als auch die zufälligen oder irrtümlichen. Diese Autorität ist ein Konsens sowohl bei den »Produzenten« als auch bei den »Rezipienten« der Schriften. In vormoderner Zeit war der wohlbekannte Name die beste Garantie, in der Erinnerung zu bleiben und weiter rezipiert zu werden. 7. Das Paradox einer gleichzeitigen Kritik an sowie Anwendung von Pseudepigraphie lässt sich also gerade damit erklären, dass überhaupt solche Autoritäten wie die Apostel und später andere Kirchenväter zum Maßstab (Kanon) und Orientierungspunkt wurden, um sich auf das zu verständigen, was in der Pluralität der Meinungen als wahrhaft christlich gilt. 8. Wenn man allerdings verstehen will, was in der Spätantike oder auch später als »paulinisch« oder »athanasianisch« angesehen wurde, sind diese pseudepigraphen Schriften mit hinzuzunehmen und zeitlich sowie regional differenziert mit zu betrachten – die moderne Unterscheidung von echt und unecht ist anachronistisch für jene früheren Epochen.

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Rekonstruktionen und Überlegungen zur Theorie des Autors bei Schelling

Obgleich literarhermeneutische Fragen Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Denken während seines Studiums in Tübingen stark anregten, lassen sich diese in den Schriften nach 1794, die sich vornehmlich mit transzendentalphilosophischen und naturphilosophischen Themen befassen, auf den ersten Blick kaum wiederfinden. Die Schelling-Forschung ging lange davon aus, dass die philosophischen Werke seit 1794 für den Werdegang des Philosophen bedeutender sind als die Frühschriften der Tübinger Studienzeit. Die Einschätzung war freilich auch der damaligen Quellenlage geschuldet. In der Mehrzahl wurden bzw. werden die Frühschriften erst in jüngster Zeit der Forschung zugänglich.1 Der Fokus wurde von der älteren Forschung nicht selten allein auf transzendentalphilosophische Begründungsfragen gelegt, was in der Folge wiederum den Zugriff auf die Naturphilosophie zwischen 1797 und 1801 verengen konnte. Die nachfolgenden Rekonstruktionen und Überlegungen zum Thema Autor und Autorität in Schellings Werk bis 1804 möchten alternative Perspektiven anbieten. Es wird skizziert, wie Schelling ursprünglich literarhermeneutische Fragen wie diejenige des Autors in seiner Natur- und Identitätsphilosophie vertieft. Deshalb wird im Folgenden zunächst ein interpretativ auf die Frage des Autors zugespitztes Panorama der Werkgeschichte Schellings bis 1804 geboten (1). Die Begriffe »Autor« und »Autorität« begegnen relativ selten in diesem Abschnitt des Werks. Danach wird die Geschichtsphilosophie seit 1802 als Hintergrund der weiteren Darstellung von Autorschaft dargelegt (2). 1803 widmet Schelling dem 1 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Ausgabe, Reihe 2. Nachlass 2,1,1; 2,3–5, im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. v. Thomas Buchheim u. a., Stuttgart 2013–2017. – Die Werke Schellings werden nachfolgend entweder – sofern dort bereits ediert – nach der seit 1976 erschienenen Akademie-Ausgabe (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Ausgabe, Reihe 1–3, 33 Bde., im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. v. Thomas Buchheim u. a., Stuttgart 1976–2017) mit der Sigle »AA« und der Angabe des Bandes wie der Seitenzahl zitiert oder nach den »Sämmtlichen Werken« (Karl Friedrich August Schelling [Hg.]: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings Sämmtliche Werke, 1. Abtheilung 1–10, Stuttgart 1856–1861), dann mit der Sigle »SW« und der Angabe des Bandes wie der Seitenzahl.

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Dichter Dante Alighieri (1265–1321) einen Aufsatz und arbeitet dabei die Situation des dichtenden Schriftstellers in der »neuere[n] Zeit«2 – gemeint ist nicht die Neuzeit im landläufigen Sinne – heraus (3). Schließlich wird an dem Nachruf auf den philosophischen »Schriftsteller[…]«3 Immanuel Kant (1724–1804) von 1804 gezeigt, wie darin die bisherigen Überlegungen gebündelt werden (4). Die Darstellungen wollen im Ganzen zeigen, dass sich Schelling bis 1804 ein anspruchsvolles philosophisches Konzept erarbeitet, das den Autor als Vollzugsmedium der geschichtlichen Vernunft versteht und zugleich seine historische Individualität würdigt, und dies in einem einheitlichen philosophischen Konzept. In diesem spiegeln sich Anliegen wider, die die historisch-kritische Exegese der Theologie am Ende des 18. Jahrhunderts prägten. Der historische Autor sollte hier umfassend als Literatur produzierende Instanz gewürdigt werden, so dass der historische Sinn der Texte in den Blick kommt. Die Frage der Wahrheit der biblischen Texte, die nicht etwa fallen gelassen wird, sollte nicht im Rekurs auf die traditionellen supranaturalen Verbalinspirationstheorien beantwortet werden. Schellings Überlegungen führen diese beiden Anliegen, die er in seinem Theologiestudium kennenlernte, zu einem philosophischen Konzept weiter, das das Historische wie das Notwendige in der Produktion von Literatur durch Autoren überprüfbar im Zusammenhang darzustellen vermag.

1 Das folgende werkgeschichtliche Panorama thematisiert drei Stadien von Überlegungen Schellings zur Frage des Autors. Auf die Darstellung der frühen theologisch-exegetischen Überlegungen folgt daran anschließend eine Interpretation der Naturphilosophie seit 1797. Das Modell einer zunächst mythischen Vernunftgeschichte, das die theologisch-exegetischen Überlegungen und die Naturphilosophie seit 1797 voraussetzen, wird dann von der Identitätsphilosophie weiter bearbeitet, die an dritter Stelle in diesem Abschnitt in den Blick kommt. Die Abkehr von traditionellen altprotestantischen Inspirationstheorien als Begründungen der Normativität der biblischen Literatur sowie der darin enthaltenen Produktionstheorien der biblischen Literatur4 regte die deutsche historisch-kritische Exegese in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dazu an, für 2 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ueber Dante in philosophischer Beziehung, in: Kritisches Journal der Philosophie 2 (1803), 35–50 = SW 5 (s. Anm. 1), (152–163) 152. 3 [Friedrich Wilhelm Joseph Schelling:] Immanuel Kant, in: Würzburger Staats- und Gelehrte Zeitung 49 (24. 03. 1804), 199–200; 50 (27. 03. 1804), 203–204 = SW 6 (s. Anm. 1), (3–10) 3. 4 Vgl. Carl-Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung 1, Gütersloh 1964, 71–137.

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die biblische wie nichtbiblische Literatur neue Konzepte von Autorschaft zu entfalten. Diese sollten die Produktion von Literatur historisch-kritisch thematisieren, zugleich aber das ehemals durch die Inspirationslehre beschriebene Moment von Notwendigkeit und Bestimmtheit in der Produktion von Literatur zur Geltung bringen und verständlich machen.5 Bei diesem Kreis von Fragen setzt auch Schelling in der Tübinger Studienzeit an.6 Frühe Tübinger Texte skizzieren, wie die biblischen Autoren oder Redaktoren in der jeweiligen Vorstellungswelt ihrer Epoche natürlicherweise bestimmte mythische oder religiöse Symbole ausprägten und schließlich in Form von Literatur festhielten.7 Im Hintergrund dieser Theorie steht bei Schelling ein umfassendes Konzept einer zunächst mythischen Vernunftgeschichte, die mit den exegetischen Untersuchungen gekoppelt wird. In der Darstellung treten Dimensionen wie der Affekt in der Produktion von Sinneinheiten hervor. Der Affekt steht nicht für etwas Irrationales, sondern ist das Medium der Vernunft auf dieser geschichtlichen Stufe. Die Vernunft oder die Ideen drücken sich in bestimmten mythischen Darstellungen aus. Sehr früh hat Schelling bereits sein exegetisch-mythentheoretisches Modell auch auf die neutestamentlichen Evangelien angewandt. Die Skizzen zum Matthäus- und Lukas-Evangelium verdeutlichen,8 dass Schelling zeitgenössische Begründungen der Autorität biblischer Schriften anstelle der Berufung auf die ältere Inspirationslehre ablehnt.9 – Ein interessantes Beispiel der Behandlung der Frage des Autors wie der Autorität ist Schellings frühe Paulus-Exegese.10 Sie 5 Vgl. Gottfried Hornig: Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther (FSThR 8), Göttingen 1961, 56–115; Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers 2,2. Schleiermachers System als Theologie, hg. v. Martin Redeker (Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften 14,2), Berlin 1966, 630–650. 6 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Antiquissimi de prima malorum humanorum origine philosophematis Genes. III. explicandi tentamen criticum et philosophicum. […], Tübingen 1792 = AA 1,1 (s. Anm. 1), 63–100; vgl. daneben auch ders.: Über Dichter, Propheten, Dichterbegeisterung, Enthusiasmus, Theopnevstie, u. göttliche Einwirkung auf Menschen überhaupt [1792], in: AA 2,4 (s. Anm. 1), 15–28. 7 Vgl. Anm. 6. 8 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Proben eines Commentars über die früheste Geschichte Jesu nach Lukas und Matthäus [1793/94], in: AA 2,5 (s. Anm. 1), 123–124. 9 Gemeint ist der Versuch rationalistischer und supranaturalistischer Theologen wie Johann Philipp Gabler oder Gottlob Christian Storr (vgl. hierzu: Christian Danz: Editorischer Bericht zu »Proben eines Commentars« [s. Anm. 8], in: AA 2,5 [s. Anm. 1], [117–121] 120– 121), die Evangelien historisch-kritisch zu untersuchen, ferner ihre Genese durch menschliche Autoren und deren Intentionen strikt historisch zu verstehen, jedoch deren Autorität gegenüber anderer Literatur durch die Behauptung zu rechtfertigen, dass die historischen Verfasser der Evangelien authentische Augenzeugen der Christus-Offenbarung waren. Vgl. David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu 1, Tübingen 1835, 677–681; Christian Hartlich/Walter Sachs: Der Ursprung des Mythosbegriffes in der modernen Bibelwissenschaft (SSEA 2), Tübingen 1952, 158. 10 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Animaduersiones ad quaedam loca Epistolæ ad Romanos [1792], in: AA 2,4 (s. Anm. 1), 37–136; ders.: Kommentar zum Galaterbrief [1793],

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thematisiert im »Kommentar zum Galaterbrief« die Frage der »Auktorität« des Paulus als Apostel, die zugleich seine Autorität als Autor ist.11 Vernunft und Affekt sind hier die zentralen Dimensionen in der Produktion religiöser Symbole und Literatur durch Paulus. Schellings philosophische Überlegungen auf dem Feld der Transzendentalphilosophie, Naturphilosophie und Ästhetik nach dem Ende des Tübinger Theologiestudiums 1794 sind dann Theorien der Produktion von sprachlichen oder sprachähnlichen Sinn-Medien. Die rationalitätstheoretische Voraussetzung einer zunächst mythischen Vernunftgeschichte, die die Arbeiten der Tübinger Studienzeit bis 1794 ansetzen, bleibt dabei im Wesentlichen beibehalten. Die Natur wird als das mythologische Zeitalter der Vernunft begriffen. Sie wird – in der Tradition des alten Topos des Buchs der Natur12 und freilich auch im Kontext oftmals weniger reflektierter frühromantischer Poetisierungen der Welt – als Autor verstanden,13 der sich vernünftig-mythisch in eigenen Medien darstellt. Das prinzipiell gesetzte Verhältnis von Idee, Affekt und Darstellung in der Genese symbolisch-sprachlicher Einheiten, wie es während des Theologiestudiums bis 1794 bedacht wurde, wird von der Naturphilosophie seit 1797 auf einem nur scheinbar entfernten Feld vertieft. Ähnlich wie in der Tübinger Konzeption erscheint in der Naturphilosophie »der Autor« nicht als ein primär vorhandenes abstraktes Subjekt, sondern als eine Instanz, die nur in der Bildung von symbolischen Medien darstellbar ist, d. h. in einer Bildungsgeschichte. Die von dem Naturphilosophen dargestellte ideale Bildungsgeschichte in der autorengleichen Produktion der Natur beschreibt die normativen bzw. autoritativen Dimensionen und Voraussetzungen von Produktion. Was sich innerhalb der naturphilosophischen Darstellungen Schellings bis 1801 immer deutlicher herausbildet, ist das Anliegen, die Natur bzw. die Vernunft in ihrem mythologischen Zeitalter möglichst aus sich selbst zu verstehen. So wie auch die Bibel bereits früher bei Schelling aus sich selbst verstanden werden sollte, indem sie historisch in ihrem Sinn und philosophisch in ihrer in: AA 2,4 (s. Anm. 1), 249–289; ders.: Stellensammlung zu Paulus [1793], in: AA 2,4 (s. Anm. 1), 297–299. Vgl. hierzu Christopher Arnold: Schellings frühe Paulus-Deutung. Eine Untersuchung zur Entwicklung von F.W.J. Schellings Schriftinterpretation im Zusammenhang der Tübinger Theologie seiner Studienzeit und der hermeneutischen Theoriebildung seit der Frühaufklärung, Diss. Theol., Wien 2016. 11 Schelling: Kommentar zum Galaterbrief (s. Anm. 10), 249. Eine umfassendere Untersuchung zur Frage des Autors bei Schelling müsste freilich die frühe Paulus-Exegese stärker einbeziehen und fragen, inwiefern Paulus dort als erster Autor der neuen Zeit gelten kann. 12 Vgl. hierzu Karen Gloy: Art. Naturphilosophie, in: TRE 24 (1994), (118–132) 124. 13 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur. Erstes, zweytes Buch, Leipzig 1797 = AA 1,5 (s. Anm. 1), 64; ders.: Vorlesungen über die Methode des academischen Studium, Tübingen 1803 = SW 5 (s. Anm. 1), (207–352) 246.

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Wahrheit interpretiert wird – die Eintragung von dogmatischen Lehren, dann auch von aufgeklärten Idealen von Moralität, ist hier das Feindbild –, soll nun auch die Natur in überprüfbarer Weise aus sich selbst verstanden werden. Das Naturverständnis von Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), aber auch der praktischen Philosophie Kants, wird bis 1801 immer heftiger als Moralisierung der Natur kritisiert. Der Aufsatz »Über den wahren Begriff der Naturphilosophie«14 aus der Ausarbeitungszeit des Identitätssystems bietet geradezu hermeneutische Überlegungen in diesem Sinne. Schellings Kritik zielt hier auf den undurchschauten interessegeleiteten Vorgriff des Naturtheoretikers, der Moralität oder Freiheitsbewusstsein in die Theorie der Natur hineinspielt. Diese erscheine dann wie bei Fichte als Material der Pflichterfüllung oder wie bei Carl August Eschenmayer (1768–1852) als erst durch die Spontaneität des menschlichen Bewusstseins zum Leben erweckte Natur.15 Hinzufügen ließe sich auch Schellings eigenes Verständnis der Natur als Vorgeschichte des Selbstbewusstseins im »System des transzendentalen Idealismus« von 1800.16 Die Natur soll nicht im Sinne eines interessegeleiteten Vorgriffs als Mittel zu einem externen Zweck modelliert oder auch ontologisiert werden.17 Dagegen, d. h. gegen die Voraussetzung einer ursprünglichen Differenz zwischen Natur und einem externen Relat, setzt Schelling die Natur als Indifferenz an.18 Damit soll die Natur als ein indifferentes, auch bestimmbares Medium beschrieben werden, das hinsichtlich seiner ursprünglichen Indifferenz in allen naturphilosophischen Bereichen zu würdigen ist.19 Mit der so vollzogenen Ablösung der Naturphilosophie von der 14 Er erschien Anfang 1801 im ersten Heft des zweiten Bandes der »Zeitschrift für spekulative Physik«, 110–146, unter dem Titel »III. Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer betreffend den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen« (= AA, 10 [s. Anm. 1], 83–106). 15 Freilich stellt dies eine Überzeichnung der Positionen Fichtes und Eschenmayers dar. Vgl. zu Eschenmayer: Schelling: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie (s. Anm. 14), 105; vgl. zu Fichte: Friedrich Wilhlem Joseph Schelling an Johann Gottlieb Fichte, 3. 10. 1801, in: AA 3,2,1 (s. Anm. 1), 89. 16 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus, in: AA 1,9,1 (s. Anm. 1), 23–229. – Der Aufsatz von 1801 (s. Anm. 14) nimmt immer wieder Bezug auf das System von 1800. 17 Schelling: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie (s. Anm. 14), 89–90, vgl. auch 101. 18 Dies wird in dem angeführten Aufsatz noch nicht in dieser Deutlichkeit ausgesprochen. Vgl. jedoch Schelling: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie (s. Anm. 14), 106. Zu der auf dem Aspekt der Indifferenz aufbauenden Methodik vgl. 117: »Das Objektive in seinem ersten Entstehen zu sehen, ist nur möglich dadurch, daß man das Objekt alles Philosophierens, das in der höchsten Potenz = Ich ist, depotenzirt, und mit diesem auf die erste Potenz reducirten Objekt von vorne an construirt.« – Vgl. hierzu Thomas Buchheim: Das »objektive Denken« in Schellings Naturphilosophie, in: KantSt 81 (1990), 321–338. 19 Wie an anderer Stelle zu zeigen ist, holt Schelling in dieser Weise das im Umkreis der alttestamentlichen Exegese formulierte Modell der Urgeschichte bzw. das Ursprungsparadigma philosophisch ein. Vgl. hierzu Christoph Bultmann: Die biblische Urgeschichte in der

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transzendentalphilosophischen Theorie des Selbstbewusstseins, die sich dann in der Identitätsphilosophie in prinzipieller Weise fortsetzt, ist die Konsequenz verbunden, dass die Natur aus sich selbst verstanden wird,20 wenn in deren Konstruktion externe interesse- oder zweckgeleitete Vorgriffe neutralisiert sind und sie als ein indifferentes Medium aufgewiesen wird. Die Identitätsphilosophie stellt dann im Anschluss an diese Überlegungen eine auf sich selbst aufbauende Bildungsgeschichte der Natur dar, in der diese sich selbst organisch für sich selbst ausbildet. Die Naturphilosophie seit 1797 arbeitete zunächst mit dem Modell einer Zweiheit von Kräften im Horizont von Identität. Die Fokussierung auf den medialen Mittelaspekt von Indifferenz in dieser Struktur seit 1801 führt zur Neuakzentuierung älterer naturphilosophischer Strukturen, zunächst innerhalb der Materietheorie.21 Die schon früher auf dem Feld der Naturphilosophie gedachte absolute Synchronie von Idee, Affekt und Ausdruck kann so medien- und indifferenztheoretisch vertieft werden. Die Natur erscheint auf ihren jeweiligen Stufen dann im Identitätssystem als ausdifferenziert in eine Vielzahl von Medien, Sprachen und Kommunikationsformen. Die Identitätsphilosophie entfaltet entsprechend auf der Ebene der Naturphilosophie eigene Konzepte von Mitteilung und Kommunikation. Was sich so durch Ausdifferenzierung allmählich zeigt, ist Vernunft, Logos, Sprache.22 Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes (BHTh 110), Tübingen 1999. 20 Darin wirkt wiederum die frühere Kritik der allegoretisch-rationalistischen Mythen- oder Bibelexegese fort. 21 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, in: Zeitschrift für spekulative Physik 2 (1801), III–XIV, 1–127 = AA 1,10 (s. Anm. 1), (109–211) 143–211; ders.: Ideen zu einer Philosophie der Natur. Als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft. Erster Theil, Landshut 1803 = AA 1,13 (s. Anm. 1), 274–275. – Vgl. hierzu Ulrich Barth: Annäherungen an das Böse. Naturphilosophische Aspekte von Schellings Freiheitsschrift, in: Christian Danz/Jörg Jantzen (Hg.): Gott, Natur, Kunst und Geschichte. Schelling zwischen Identitätsphilosophie und Freiheitsschrift (Wiener Forum für Theologie und Religion 2), Göttingen 2011, 169–184. 22 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (aus dem handschriftlichen Nachlaß) [1804], in: SW 4 (s. Anm. 1), (131–576) 455. – Vgl. zum Verhältnis von Vernunft und Sprache auch § 259, wo Schelling betont, die Sprache habe zur Vernunft »dasselbe Verhältniß […], welches der Umlauf des Weltkörpers zu der in ihm wohnenden Identität« (491). Die Sprache beschreibt oder vollzieht die potenzlose Vernunft bzw. ist deren Symbol schlechthin. – Die Naturphilosophie des Würzburger »Systems der gesammten Philosophie« orientiert sich in wichtigen Grundgedanken wie denjenigen zum Verhältnis von Vernunft bzw. Logos und Sprache an Johann Gottfried Herder (1744–1803). Bereits der Titel von Schellings erster naturphilosophischer Schrift »Ideen zu einer Philosophie der Natur« von 1797 (s. Anm. 13) könnte eine Anspielung auf Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 1–4, Leipzig 1784– 1791) sein. Herders »Ideen« sind dann auch für Schellings Geschichtsphilosophie der Methodologie von 1802 bzw. 1803 (s. Anm. 13) von größerer Bedeutung.

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Damit eröffnen sich Möglichkeiten, Individualität und Persönlichkeit neu zu denken, wie im Folgenden anhand von Dante und Kant zu sehen ist. Insgesamt verschiebt sich mit der Identitätsphilosophie der Akzent von der Produktionssituation einer abstrakten subjekthaften Autoreninstanz auf die Unbedingtheit und Individualität des Darstellungsmediums und seiner geschichtlichen Autogenese. Hinsichtlich der Frage des Autors und der Autorität ist zu sagen, dass die Darstellung von Autorschaft hier eine Darstellung einer autogenetischen Bildungsgeschichte von Ideen ist. Der Autor und sein Werk sind – gleich der Natur – aus sich in ihrer jeweiligen Epoche zu verstehen.

2 Mit Blick auf die Rekonstruktionen und Interpretationen zum Dante-Aufsatz wie zum Kant-Nachruf ist zunächst ein Strukturgefüge zu beleuchten, das im Zusammenhang von Mythologietheorie, Geschichtsphilosophie, Religionsphilosophie und Ästhetik von Schelling seit 1802 wiederholt dargelegt wird. Es unterscheidet eine ältere und neuere Zeit der Geschichte. Der Ort, an dem Schelling diese Unterscheidung umfassend reflektiert, ist die Religionsphilosophie23 und die Ästhetik.24 Sie wird zum Teil hintergründiger, wie im Nachruf auf Kant, zum Teil expliziter, wie gleich zu Beginn des Dante-Aufsatzes, vorausgesetzt. Die ältere Zeit wird im Allgemeinen als die Zeit der Mythologie bzw. als mythologisches Zeitalter beschrieben,25 das als das »Naturzeitalter« der Geschichte immer schon abgeschlossen ist, jedoch steter Bezugspunkt der neueren Zeit bleibt. Die neuere Zeit charakterisiert sich durch ein Übergehen aus bzw. ein Entfernen von der älteren Form der Mythologie. Die Erscheinung des Christentums wird als dieses Übergehen angesetzt.26 Die Christologie sagt dieses Übergehen aus.27 Zu betonen

23 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt, in: Kritisches Journal der Philosophie 1 (1802), 1–25 = SW 5 (s. Anm. 1), (106–124) 117–120; ders.: Methode des academischen Studium (s. Anm. 13), 287– 296. 24 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen zur Philosophie der Kunst [1802–1805] = AA 2,6 (s. Anm. 1). 25 Vgl. Schelling: Methode des academischen Studium (s. Anm. 13), 287–296. 26 Vgl. hierzu die Darstellung des Christentums als Übergang bzw. die Darstellung Christi als »Gränze der beyden Welten« in: Schelling: Methode des academischen Studium (s. Anm. 13), 292; ders.: Philosophie der Kunst (s. Anm. 24), 166, 179. Christus mache »den Schluß der alten Zeit« und »ist bloß da, um die Grenze zu machen«. Er verheiße statt seiner »den Geist, […], das Licht der neuen Welt« (Schelling: Methode des academischen Studium [s. Anm. 13], 292). Diese Struktur wäre wiederum in der Naturphilosophie zu verfolgen, da sie nicht aus Nichts entsteht, sondern sich allmählich herausbildet. 27 Vgl. hierzu auch Patrick Leistner: Gott, die Natur der Welt und die Versöhnung. Ein Entwurf

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ist, dass es sich hier nicht um eine vorkritisch-objektive Geschichtsmetaphysik handelt, sondern um ein Strukturgefüge von Differenzierung, das unter den darstellungstheoretischen Voraussetzungen der Identitätsphilosophie als eine geschichtliche Abfolge konstruiert wird.28 Die Struktur zielt auf ein zweideutiges Geschehen einer geschichtlichen Herausbildung durch Differenzierung, die Entfernung, bleibende Bezogenheit wie Eröffnung zugleich anzeigt. Was sich ausbildet, jedoch nicht im Sinne eines fertigen Resultats, ist Individualität, d. h. geschichtliche Individualisierung als ein fortgehendes Bildungs- oder Herausbildungsgeschehen. Dieses geschichtsphilosophische Strukturgefüge wird von Schelling bis 1804 umfassend in der »Philosophie der Kunst« herangezogen, wenn die Entfernung von der gattungsmäßig-allgemeinen antiken Mythologie im Ganzen als ein ästhetischer Verlust beklagt wird.29 Im religionsphilosophischen Zusammenhang, in dem sie zuerst ausgesprochen wird, ist die Strukturtheorie von geschichtlicher Differenzierung ebenso prägend. Religion – und zwar jegliche Religion – muss entsprechend als eine Einheit von Heidentum und Christentum konstruiert werden.30 Religion ist demzufolge geschichtlich zu konstruieren als eine zweideutige Herausbildung von Individualisierung. Beschrieben wird diese Herausbildung als symboltheoretisches Umbruchsgeschehen.31 Die beiden skizzierten Merkmale von Individualisierung und Symboltheorie im Horizont eines geschichtsphilosophischen Strukturgefüges von Differenzierung stellen Schellings philosophisch-historische Antwort auf Friedrich Schleiermachers Religionstheorie der »Reden« dar.32 Es handelt sich bei derje-

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Schellings zum »Abfall der Welt von Gott« aus dem Berliner Nachlass, in: Schelling-Studien 2 (2014), (205–211) 208–210. Die Schrift »Philosophie und Religion« von 1804 verdeutlicht, wie beweglich diese Strukturtheorie von Differenzierung ist, wenn sie genauso im Anfang der Menschheitsgeschichte abgebildet werden kann. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie und Religion, Tübingen 1804 = SW 6 (s. Anm. 1), (13–64) 58–59. Vgl. zur Bedeutung der antiken Mythologie: Schelling: Philosophie der Kunst (s. Anm. 24), 132–145. Vgl. Schelling: Verhältniß der Naturphilosophie (s. Anm. 23), 120: »Dieser Gegensatz ist der einzig mögliche in der Religion, darum gibt es nur Heidenthum und Christenthum, außer diesen beiden ist nichts als die beiden gemeinschaftliche Absolutheit.« Die religionsphilosophische Symboltheorie ist gewissermaßen die Nachfolgerin der transzendentalen Vermögenstheorie der Religion. Schelling nimmt mitunter (exegetisch-)theologische Begriffe und Schemata wie die Typologie in seine Philosophie seit 1802 auf und reichert sie im Horizont der darstellungstheoretischen Diskussion an. Vgl. zu diesen Prozessen: Daniel Weidner: Bibel und Literatur um 1800 (Trajekte), Paderborn 2011. Vgl. Schelling: Methode des academischen Studium (s. Anm. 13), 278–279: »Preis denen, die das Wesen der Religion neu verkündet, mit Leben und Energie dargestellt und ihre Unabhängigkeit von Moral und Philosophie behauptet haben! Wenn sie wollen, daß Religion nicht durch Philosophie erlangt werde, so müssen sie mit dem gleichen Grunde wollen, daß Religion nicht die Philosophie geben, oder an ihre Stelle treten könne. Was unabhängig von allem

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nigen Schellings um eine Religionstheorie, die nicht rückgebunden ist an Strukturen des reinen Selbstbewusstseins, an ein transzendentales Vermögen oder auch eine psychologische Dimension. Zwar enthält sie in sich als eigene Grundlage eine Theorie der Mythologie. Was Mythologie oder Heidentum im religionsphilosophischen Zusammenhang im Einzelnen genau sind, bleibt bis 1804 offen.33 Als philosophische Konstruktion entwirft Schellings Religionstheorie zunächst und allein ein Strukturgefüge, zu dem die Momente des Christentums und der älteren Mythologie zählen. Sie ist so keine Beschreibung von Religiosität oder Frömmigkeit, wie der interpretativ eingeführte Begriff »Religionstheorie« bzw. »-philosophie« suggerieren könnte.34 Eine solche liefert Schelling an anderer Stelle und dort wiederum nicht mit Bezug auf Jesus, sondern auf Paulus.35 Mit der geschilderten Differenzierungsstruktur wird die Idee des Geschichtsbewusstseins oder in einer anderen Formel: der Geist der Geschichte oder Geschichtlichkeit konstruiert. Sie wird von Schelling in seinen Aufsätzen über Dante und Kant als Rahmen angesetzt. Dante wie Kant sind in diesem Sinne Autoren der neueren Zeit und in einem gehaltvollen Sinne Individuen. An ihrer Individualität oder Persönlichkeit – beide Begriffe werden hier in ähnlichem Sinne gebraucht – wird das Geschichtsbewusstsein hervorgehoben.36 Dies ist

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objectiven Vermögen erreicht werden kann, ist jene Harmonie mit sich selbst, die zur innern Schönheit wird; aber diese auch objectiv, es sey in Wissenschaft oder Kunst, darzustellen, ist eine von jener bloß subjectiven Genialität sehr verschiedene Aufgabe. Die daher ihr an sich löbliches Bestreben nach jener Harmonie, oder wohl gar nur das lebhaft gefühlte Bedürfniß derselben, für das Vermögen halten, sie auch äußerlich zu offenbaren, werden ohne die höhere Bedingung mehr nur die Sehnsucht nach Poesie und Philosophie, als sie selbst, ausdrücken, in beyden auf das Formlose wirken, in der Philosophie das System verrufen, das sie, gleicherweise, zu machen und als Symbolik zu verstehen unfähig sind.« Dies zeigt etwa auch die Variation der Formeln des Heidentums und Christentums zwischen dem Aufsatz »Verhältniß der Naturphilosophie« (s. Anm. 23) und der Methodologie (s. Anm. 26) an. Vgl. hierzu Karl Friedrich August Schelling: Vorwort, in: SW 5 (s. Anm. 1), (III– XVIII) XIII–XVI. Eschenmayers Theorie der in Nichtphilosophie übergehenden Philosophie kann vor diesem Hintergrund als Versuch angesehen werden, den christentumstheoretischen Begriff des Übergangs aus dem geschichtsphilosophischen Strukturzusammenhang bei Schelling zu lösen und ihn zur Beschreibung von Religiosität einzuführen, was bei Schelling jedoch gar nicht angedacht ist. Vgl. Carl August Eschenmayer: Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nichtphilosophie, Erlangen 1803. Zu Eschenmayers Theorie vgl. Patrick Leistner: Anmerkungen zur Debatte zwischen Schelling und Eschenmayer in den Jahren 1803–1804, in: Contrastes, Suplemento 19. El idealismo alemán y sus consecuencias actuales (2014), (95– 112) 103–106. – Schelling antwortete Eschenmayer mit der Schrift »Philosophie und Religion« (s. Anm. 28), die den Begriff des Abfalls herausstreicht. Wie es am Ende der Einleitung heißt, seien die philosophischen Lehren, die sich Eschenmayers »Nichtphilosophie des Glaubens« zugeeignet hätten, »der Vernunft und der Philosophie zu vindiciren« (20). Vgl. Schelling: System der gesammten Philosophie (s. Anm. 22), 559. Vgl. unten Abschnitt 3 und 4.

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nichts zu ihrer Individualität oder Persönlichkeit Hinzukommendes oder daraus Ableitbares, sondern identisch mit diesen. Was Individuen wie Dante oder Kant auszeichnet, ist die Kultiviertheit des Geschichtsbewusstseins. Sie bilden und realisieren dieses frei in ihrer Selbstbildung als Individuen. Der Instinkt stellt dann, wie im Falle des Kant-Nachrufs, auf individueller Ebene – als eine Art naives, unverstelltes Richtungsbewusstsein – einen grundlegenden Aspekt von Bildung dar.37 Zugleich ist der Instinkt das natürlich-allgemeine Medium, in dem sich die Idee des Zeitalters ausspricht. Bereits in den früheren Konzeptionen konnte der Instinkt der Ort sein, an dem sich die Vorsehung bzw. Notwendigkeit realisiert.38 Die Religion – hier kommen nun Aspekte von Religiosität zur Sprache – erscheint dann als eine Dimension in der Kultivierung des Instinkts in der Selbstbildung. Es sind in der Beschreibung der Religiosität durch Schelling Hinsichten wie die aufrichtige Gesinnung und die Ausführungsgewissheit präsent, mit der die Aufgabe individuell wahrgenommen und realisiert wird.39 Individualität und Zeitalter, Besonderes und Allgemeines werden von Schelling auf diese Weise engstens verschränkt.40 Prophetisch kann so der Einzelne das Ganze des Zeitalters vorwegnehmen und dieses vollständig darstellen.41 37 Vgl. [Schelling]: Immanuel Kant (s. Anm. 3), 8. 38 Vgl. Schelling: De malorum origine (s. Anm. 6), 141–142; ders.: Von der Weltseele – eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus, Hamburg 1798 = AA 1,6, (73–271) 249: »Fassen wir endlich Irritabilität und Sensibilität in einem Begriff zusammen, so entsteht der Begriff des Instinkts […]. Ebenso [wie das Tier] sieht und hört der Mensch, was er sieht und hört, nur vermittelst eines höheren Instinkts, der, wo er vorzugsweise auf das Große und Schöne gerichtet ist, Genie heißt«. Diese Verbindung von Instinktund Genielehre wird auch im Kant-Nachruf vorausgesetzt. 39 Im Nachruf auf Kant wird gewissermaßen dessen Begriff der Aufrichtigkeit der Zweitauflage der Religionsschrift (vgl. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Königsberg ²1794, 296 [Anm.]) wie der »Metaphysik der Sitten« (vgl. Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Königsberg 1797, 84) auf diesen selbst angewandt. – Parallel beschreibt Schelling auch im Würzburger System Religion u. a. als »Gewissenhaftigkeit« (Schelling: System der gesammten Philosophie [s. Anm. 22], 558). – Vgl. auch Paul Ziche: »Gefühl der unbeschreiblichen Realität jener höheren Vorstellungen«. Realismus und Religionsphilosophie um 1800, in: Friedrich Hermanni u. a. (Hg.): Religion und Religionen im Deutschen Idealismus. Schleiermacher – Hegel – Schelling (Collegium metaphysicum 13), Tübingen 2015, (275–291) 282–289. 40 Im Sinne der Leibniz’schen Monadologie sind sie nicht einzelne Perspektiven auf das externe Ganze der neueren Zeit, sondern als Individuen das Ganze dieses Zeitalters selbst. 41 Vgl. Schelling: System der gesammten Philosophie (s. Anm. 22), 563: »Das Individuum kann […] der Gattung, deren Schicksal in die endlose Zeit ausgedehnt ist, zuvoreilen und das Höchste für sich zum voraus nehmen. Der wahre Weg, auf welchem doch zuletzt allein die möglichste Vollkommenheit des Ganzen erreicht wird, ist, daß jeder für sich das Höchste in sich darzustellen suche.« – Der zunächst von Schelling innerhalb der Exegese reflektierte Prophetismus ist, in einer ähnlichen Verbindung mit dem Instinkt, dann in der Naturphilosophie, aber genauso in der Religionsphilosophie des »Systems des transzendentalen Idealismus« (Tübingen 1800 = AA 1,9 [s. Anm. 1], 300–303) hintergründiger Bezugspunkt.

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Der Aufsatz »Ueber Dante«, genauso aber auch der Nachruf auf Kant verfährt so, dass er im Horizont des skizzierten geschichtsphilosophischen Strukturgefüges die neuere Zeit als Matrix ansetzt und dabei eine bestimmte Hinsicht der neueren Zeit entwirft, für die die Autoren stehen. Sie werden als Ideen konstruiert, das heißt letztlich als individuell kultiviertes Geschichtsbewusstsein. Dieses stellt Schelling als Bildungsgeschichte dar, wobei er im Dante-Aufsatz dessen Werk herausstellt, hingegen im Kant-Nachruf den Abdruck der Persönlichkeit Kants in seinen Werken. Die Autoren werden an ihrer eigenen Idee und an keinem externen Maß bemessen. Die philosophische und die historische Interpretation werden damit in ein einheitliches Modell von Interpretation überführt. Die philosophische Konstruktion der Idee des jeweiligen Autors ist zugleich eine historisch-geschichtsphilosophische,42 wenn die Geschichte einer Bildung bzw. ein Geschichtsbewusstsein dargestellt wird. Die geschilderten allgemeinen geschichtsphilosophischen Voraussetzungen in Verbindung mit den Äußerungen zu einzelnen Autoren der neueren Zeit setzen voraus, dass »der Autor« eine geschichtliche Kategorie ist, die sich erst in der neueren Zeit bildet. Während die antike Mythologie stets ein allgemeines Phänomen der ganzen Gattung sei,43 – was Schelling auch als Beleg für Friedrich August Wolfs (1759–1824) Bestreitung des einen Homer nennen kann –,44 so bildet sich der Typus des individuellen Autors erst in der Epoche der Geschichte heraus, die unter der Bestimmung des Übergehens aus der Natur und des Individualisierens steht. Sie bleibt ästhetisch immer auf die vergangene »klassische« Epoche der Mythologie und auf deren geschichtlich gewordene mediale Symbolsprache bezogen. Im geschichtlichen Übergehen ist der Autor in seiner Individualität diejenige Instanz, die die geschichtlich gewordene mediale Symbolsprache künstlich gebraucht, sie nicht nur willkürlich zu neuen Gattungen und Medien kombiniert, sondern sie neu erfindet. Wie bereits erwähnt, meint Individualität hier nicht eine anthropologische, selbstbewusstseinstheoretische Kategorie, sondern eine geschichtsphilosophische Struktur. Ein weiterer Aspekt von Autorschaft kann aus der andernorts vorgetragenen Theorie der Schriftlichkeit ergänzt werden: Die Entstehung der Schrift, die Schelling im exegetischen Kontext bereits reflektierte,45 wird 1802 zwar innerhalb

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Am Prophetismus wie etwa auch am typologischen Denken bei Schelling lässt sich verfolgen, wie ursprünglich theologische Kategorien um 1800 in konstruktiver Weise transformiert werden. Vgl. zum Verhältnis von philosophischer und historischer Erkenntnis: Schelling: Methode des academischen Studium (s. Anm. 13), 242, 307. Vgl. Schelling: Philosophie der Kunst (s. Anm. 24), 144–182. Vgl. Schelling: Philosophie der Kunst (s. Anm. 24), 337. Vgl. Schelling: De malorum origine (s. Anm. 6), 74.

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der oral geprägten Naturepoche der Geschichte angesetzt, darin jedoch als ein durchwegs geschichtliches Element verstanden.46

3 Schelling setzt in seinem »Ueber Dante in philosophischer Beziehung« betitelten Aufsatz von 1803 mit einer Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart ein, womit sogleich die geschilderte geschichtsphilosophische Struktur aufgerufen wird. Er möchte in seinem Aufsatz Dante Alighieri als den »Schöpfer der modernen Kunst«47 darstellen.48 Im Sinne der Unterscheidung von Mythologie und neuerer Zeit gehört Dantes »Göttliche Komödie« der neueren Zeit an, in der alles an der freien Erfindung des Individuellen hänge: Denn wie die alte Welt allgemein die Welt der Gattungen, so ist die moderne die der Individuen: dort ist das Allgemeine wahrhaft das Besondere, das Geschlecht wirkt als Individuum; hier ist umgekehrt die Besonderheit der Ausgangspunkt, die zur Allgemeinheit werden soll. In jener ist eben deßwegen alles dauernd, unvergänglich […]: in dieser ist Wechsel und Wandel bleibendes Gesetz, kein beschlossener, sondern nur ein durch Individualität ins Unendliche zu erweiternder Kreis faßt ihre Bestimmungen.49

46 Vgl. Schelling: Methode des academischen Studium (s. Anm. 13), 225. Hier scheint Schelling wiederum Gedanken Herders als Bezugspunkt vorauszusetzen, jedoch ohne diesen zu nennen. Vgl. auch Herder: Ideen 2 (s. Anm. 22), 238–240: »Endlich die Tradition der Traditionen, die Schrift. Wenn Sprache das Mittel der menschlichen Bildung unsres Geschlechts ist, so ist Schrift das Mittel der gelehrten Bildung. […] Der Sterbliche, der dies Mittel, den flüchtigen Geist nicht nur in Worte, sondern in Buchstaben zu fesseln, erfand, er wirkte als ein Gott unter den Menschen. / Aber was bei der Sprache sichtbar war, ist hier noch viel mehr sichtbar, nämlich daß auch dies Mittel der Verewigung unsrer Gedanken den Geist und die Rede zwar bestimmt aber auch eingeschränkt und auf mannigfaltige Weise gefesselt habe. […] Dies alles indessen hindert nicht, die Tradition der Schrift als die dauerhafteste, stilleste, wirksamste Gottesanstalt anzusehen, dadurch Nationen auf Nationen, Jahrhunderte auf Jahrhunderte wirken und sich das ganze Menschengeschlecht vielleicht mit der Zeit an einer Kette brüderlicher Tradition zusammenfindet.« 47 Schelling: Ueber Dante (s. Anm. 2), 154. 48 Der Text über Dante betrifft nicht zuletzt auch das Projekt einer Neuen Mythologie. Dies kann im Rahmen dieses Aufsatzes jedoch nicht weiter beleuchtet werden. Neben der Idee einer Neuen Mythologie, die auch im Hinblick auf die Frage der Zukunft des Christentums interessiert, wäre in einem breiteren Rahmen auch das Nebeneinander von Mystik und Mythologie in der Religionstheorie zu thematisieren. – Vgl. zum Kontext besonders August Wilhlem Schlegel: Dritter Teil. Vorlesungen über die romantische Literatur [1803–1804], in: ders.: Vorlesungen über Ästhetik [1803–1827], hg. v. Ernst Behler (August Wilhelm Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen 2,1), Paderborn 2007, (1–194) 144–156 (»Italiänische Poesie« zu Dante). Schlegel nimmt darin Bezug auf Schellings Dante-Deutung (vgl. ebd., 155). 49 Schelling: Ueber Dante (s. Anm. 2), 154. – Eher beiläufig erwähnt Schelling auch einen weiteren relevanten Aspekt der »Göttlichen Komödie«. Insofern Dante selbst in der göttlichen Komödie als diejenige Figur in Erscheinung tritt, die kontinuierlich die Anschauung von

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Wie Schelling feststellt, füge sich Dantes Gedicht keiner bestimmten Gattung, sondern kombiniere in freier Erfindung50 willkürlich Gattungen zu einem Gedicht eigener Art, um den »Stoff der Geschichte der Gegenwart wie der Vergangenheit«51 darzustellen. Was es auszeichne, sei das Zusammentreffen von absoluter Willkür und Notwendigkeit. Er habe in einem individuellen Ganzen alle ästhetischen Gattungen und Formen in vollständiger und vollkommener Form gebildet und so Stoff und Form einander in vollkommener organischer Weise durchdringen lassen: […] weil Universalität zum Wesen der Poesie gehört, so ist die nothwendige Forderung diese, daß das Individuum durch die höchste Eigenthümlichkeit wieder allgemeingültig, durch die vollendete Besonderheit wieder absolut werde. Eben durch das schlechthin Individuelle, nichts anderem Vergleichbare seines Gedichts ist Dante der Schöpfer der modernen Kunst, die ohne diese willkürliche Nothwendigkeit und nothwendige Willkür nicht gedacht werden kann.

Dante und sein Gedicht gelten Schelling also als eine vollkommene Ausbildung von Individualität im Sinne einer individuellen Totalität. Dante wird als das Urbild52 des individuellen Autors der neueren Zeit verstanden, der in der Universalität seines Werks wiederum eine Allgemeinheit ausgebildet hat, wie sie nur die antike Mythologie kannte. Mit Blick auf die vorherigen Ausführungen kann daher festgestellt werden: Ist der individuelle Autor diejenige Instanz, die die geschichtlich gewordene mediale Symbolsprache in seiner Individualisierung neu erfindet und künstlich gebraucht, so kann Dante als dessen Urbild gelten, insofern er nicht nur die Funktion der ästhetischen Medien begriff und zu gebrauchen wusste, sondern insofern er die Bedeutung der Medialität in der Geschichte, d. h. für die Individualität überhaupt, begriff.53 Und dies scheint gerade auch die Hinsicht zu sein, die Schelling an Dante und seinem Gedicht »in philosophischer Beziehung«, wie es im Titel heißt, interessiert: Dantes Gedicht ist also, von allen Seiten betrachtet, kein einzelnes Werk eines besonderen Zeitalters, einer besonderen Stufe der Bildung, sondern urbildlich durch die Allgemeingültigkeit, die es mit der absolutesten Individualität vereinigt, durch die

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Hölle, Fegefeuer und Himmel beschreibt, fungiert das Individuum Dante selbst als das einheitliche Beschreibungsmedium des Gedichts (ebd., 153). Das (Nach-)Erfinden stellt in der Methodologie einen zentralen Aspekt der Lern- und Bildungstheorie dar. Auch hier lassen sich hinsichtlich des Verhältnisses von Überlieferung, Genie und (Nach-)Erfinden Vorbilder bei Herder ausmachen. Vgl. Herder: Ideen 2 (s. Anm. 22), 289–294. Schelling: Ueber Dante (s. Anm. 2), 155. Der Begriff des Urbilds, wie ihn Schelling seit 1802 gebraucht, ist ein darstellungstheoretischer Begriff, der typologisch konnotiert wird. Er unterscheidet sich nicht nur von dem Begriff des Urbilds in Kants Religionsschrift (Kant: Die Religion [s. Anm. 39], 57–61, 136–137, 194), sondern auch von einem populär-platonistischen Verständnis. Vgl. Schelling: Ueber Dante (s. Anm. 2), 157.

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Universalität, vermöge der es keine Seite des Lebens und der Bildung ausschließt, durch die Form endlich, welche nicht besonderer Typus, sondern Typus der Betrachtung des Universums überhaupt ist.54

4 »Immanuel Kant« ist ein anonym erschienener Nachruf auf den am 12. Februar 1804 in Königsberg verstorbenen Kant. Seine Absicht ist nicht, »das wissenschaftliche Verdienst Kant’s genau zu würdigen«, sondern »den Abdruck seiner Persönlichkeit« in den Blick zu nehmen, »den er in seinen Werken zurückgelassen hat«.55 Während andere Nachrufe in recht allgemeiner Weise Aspekte des Werks und Lebens Kants verbinden,56 schließt Schelling an Überlegungen zu diesem Thema an, die er bereits in der »Notiz von Herrn Villers Versuchen, die Kantische Philosophie in Frankreich einzuführen« von 1802 in Bezug auf Kant und die Frage, inwiefern dessen Philosophie universalisierbar sei, geäußert hatte.57 Zwischen der Villers-Notiz und dem Nachruf auf Kant steht zeitlich der Aufsatz »Ueber Dante« von 1803. Er bildet einen wichtigen Hintergrund für die Darstellung Kants, der im Nachruf eingangs, zumindest indirekt, als ein »große[r] Schriftsteller[…]« bezeichnet wird.58 Auch der Nachruf auf Kant setzt im Sinne des skizzierten geschichtsphilosophischen Strukturgefüges die Geschichte als Matrix an und konstruiert Individualität als individuell kultiviertes Geschichtsbewusstsein. Gegenüber Dante, dem Propheten oder Verkünder der modernen Poesie und Kunst der neueren Welt überhaupt, erscheint Kant als Prophet oder Verkünder seines Zeitalters, womit jedoch nicht die »neuere Zeit« überhaupt gemeint ist. Dieses Zeitalter – Schelling spezifiziert dies nicht weiter –, mit dem Kant »in der vollkommenen Harmonie«59 gewesen sei, habe er zugleich revolutioniert. Kant fungiert hier als der Übergang. Die Beschreibung dieses Übergangs durch Kant ähnelt strukturell 54 Schelling: Ueber Dante (s. Anm. 2), 158. – An dieser Stelle entsteht der Eindruck, dass auch Schellings Dante-Aufsatz Teil seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher ist. 55 Vgl. [Schelling:] Immanuel Kant (s. Anm. 3), 5. 56 Vgl. etwa [anonym:] Nekrolog. Immanuel Kant, in: Gothaische gelehrte Zeitungen auf das neunzehnte Jahrhundert, Stück 19 (07. 03. 1804), 169–171; Samuel Gottlieb Wald: Gedächtnißrede auf Kant (23. 04. 1804 an der Universität Königsberg), in: Joachim Kopper/Rudolf Malter (Hg.): Immanuel Kant zu ehren (Stw 61), Frankfurt a.M. 1974, 50–75. 57 In: Kritisches Journal der Philosophie 1 (1802), 69–93 (Kursivierung im Original gesperrt). Die Überlegungen der Villers-Notiz zur Individualität und Universalität der Kantischen Philosophie führen ihrerseits die ältere Unterscheidung von Buchstaben und Geist der Kantischen Philosophie fort. Vgl. etwa Schelling an G.W.F. Hegel, 6. 1. 1795, in: AA 3,1 (s. Anm. 1), 16. 58 [Schelling:] Immanuel Kant (s. Anm. 3), 3. 59 [Schelling:] Immanuel Kant (s. Anm. 3), 4.

Rekonstruktionen und Überlegungen zur Theorie des Autors bei Schelling

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Schellings christentumstheoretischer bzw. christologischer Theorie, die wesentlich durch die Aspekte des Übergangs und der Verheißung geprägt ist.60 Kants Philosophie wird von Schelling zudem als die ideelle Erscheinung derjenigen Revolution gefasst, die die Französische Revolution im Reellen sei. Damit wird ein Motiv aufgegriffen, das bereits früh in der deutschen, besonders Jenaer Rezeption mit der kritischen Philosophie Kants verbunden war.61 Kant wird als »eines der wenigen intellectuell- und moralisch-großen Individuen«62 gepriesen. Der Nachruf ist eine Darstellung seiner Bildungsgeschichte. Ein zentraler Aspekt in der Darstellung Kants ist seine Genialität, die auf den genialen Instinkt oder auch seine geniale Naivität hin pointiert wird.63 Was Schelling an Kant, d. h. an dem »Abdruck seiner Persönlichkeit« in dessen Werk hervorhebt, ist die Weise, wie er diesen Instinkt gebildet habe. Hier kommt der oben als Kultivierung und in gewisser Hinsicht auch als Religiosität bezeichnete Aspekt ins Spiel. An Kant wird seine unerschütterliche philosophische Aufrichtigkeit64 und Absichtslosigkeit hervorgehoben, mit der er geradezu zum Philosophen wider Willen wurde.65 Vergleicht man die Würdigung Kants in seinen Werken, die Schelling in dem Nachruf von 1804 vornimmt, mit der Darstellung Kants in der Vorlesungsnachschrift zur Propädeutik, die allein die philosophiegeschichtliche Bedeutung Kants aufzeigen, so zeigt sich die große Stringenz von Schellings Kant-Bild, die einmal mehr historisch auf seine Persönlichkeit, einmal mehr auf sein Werk

60 Vgl. [Schelling:] Immanuel Kant (s. Anm. 3), 9: »Er [= Kant] macht gerade die Gränze zweyer Epochen in der Philosophie, der einen, die er auf immer geendigt, der andern, die er mit weiser Beschränkung auf seinen, blos kritischen, Zweck negativ vorbereitet hat.« (Kursivierung im Original gesperrt). Vgl. auch Anm. 26. 61 Kant selbst hat bereits vor der Französischen Revolution in der Vorrede zur Zweitauflage der »Critik der reinen Vernunft« von 1787 bekanntlich das Motiv der Revolution, gewissermaßen aus der Rezeptionsgeschichte der Erstauflage, zur Charakterisierung seiner Philosophie aufgegriffen. Vgl. Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft, Riga 21787, VII–XLIV, bes. XVI–XVIII. Das Motiv wurde zuvor in der von Christian Gottfried Schütz (1747–1832) verfassten Rezension der »Metaphysik der Sitten« in der »Allgemeinen Literatur-Zeitung« von 1785 auf Kant angewandt und prägte noch vor 1789 die Wahrnehmung der kritischen Philosophie Kants. Vgl. [Christian Gottfried Schütz:] Rezension zu Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Allgemeine Literatur-Zeitung 80 (07. 04. 1785), 21: »Mit Hn. Kant’s Critik der reinen Vernunft, welche vor einigen Jahren erschien, ist eine neue Epoche der Philosophie angegangen. […] Noch wird dieses tiefsinnige Werk von den besten Köpfen der Nation studirt; noch ist es als neu zu betrachten; die Revolution, die es stiften wird, und stiften muß, ist nur erst im Anfangen begriffen.« (Kursivierung im Original gesperrt). 62 [Schelling:] Immanuel Kant (s. Anm. 3), 10. 63 Vgl. hierzu auch: Friedrich Schiller: Ueber das Naive, in: Die Horen 4, Stück 11 (1795), (43–76) 59: »Naiv muß jedes wahre Genie seyn, oder es ist keines.« 64 Vgl. Anm. 39. 65 Vgl. [Schelling:] Immanuel Kant (s. Anm. 3), 6.

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bezogen werden kann. Persönlichkeit und Werk fallen nicht auseinander und werden auch nicht in unreflektierter Weise zusammengestellt. Schelling hat sich bis 1804 ein Konzept erarbeitet, das es vermag, einen Autor in seiner historischen Persönlichkeit wie in seiner ideengeschichtlichen Bedeutung zu würdigen, und dies auf überprüfbare und methodisch reflektierte Weise. Bezieht man abschließend noch einmal die Ausgangskonstellation der Bibelexegese mit ein, wie sie Schelling im Studium seit 1790 kennen lernte, so ist zu sagen, dass sich das Grundproblem der theologischen Exegese in Konzept von 1804 widerspiegelt und hier durch eine philosophische Konzeption gelöst werden soll. Steht die Theologie vor der Aufgabe, einerseits den biblischen Autor umfassend zu historisieren und andererseits in kontrollierter Weise, d. h. zunächst ohne die supranaturalen Voraussetzungen der altprotestantischen Inspirationstheorien, die Wahrheit der Texte zu beschreiben, so müssen diese beiden Aspekte in grundlegender Weise aufeinander abgestimmt werden. Dieser Aufgabe widmeten sich Überlegungen in seinem Tübinger Studium und die Naturphilosophie seit 1797. Mit der Identitätsphilosophie ist dann eine auch geschichtsmethodologisch tragfähige Einheitskonzeption erreicht.

Christian Danz

Autor und Autorität der Schrift. Anmerkungen zur Schriftlehre der Dogmatik

Autor und Autorität der Schrift sind in der gegenwärtigen protestantischen Theologie umstritten.1 Galt Martin Luther und dem Altprotestantismus noch Gott als Autor der Schrift, der damit auch ihre grundlegende Autorität verbürgte,2 so änderte sich das im 18. Jahrhundert. Die historische und erkenntnistheoretische Kritik der Aufklärung löste das überkommene Schriftprinzip der altlutherischen Theologie vollständig auf. Ebenso transformierte sich das Bild des Autors. Neben starke Autorkonzepte, die nun entstehen und in denen theologische Motive weitergeschrieben werden, tritt um 1800 die Vorstellung eines schwachen Autors als Sammlers von Texten.3 Die Auflösung der Schrift als Grundlage der protestantischen Theologie machte in der Sattelzeit der Moderne eine Neubestimmung ihrer methodischen Grundlagen als Wissenschaft notwendig. An die Funktionsstelle der Bibel als Heiliger Schrift trat – auch infolge der kritischen Destruktion der theologia naturalis – der Religionsbegriff als Begründungsinstanz der Theologie als Wissenschaft. Die Schrift fungierte nun 1 Vgl. hierzu die Beiträge in Michael Meyer-Blanck (Hg.): Säkularität und Autorität der Schrift (VWGTh 45), Leipzig 2015. 2 Vgl. Martin Luther: Auf das überchristlich, übergeistlich und überkünstlich Buch Bocks Emsers zu Leipzig Antwort [1521] (WA 7), Weimar 1897, (621–688) 650,1–24; hier zitiert nach Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin 1937, 86: »Der heilig Geist ist der allereinfältigst Schreiber und Reder, der im Himmel und Erden ist, drum auch seine Wort nit mehr denn einen einfältigsten Sinn haben kunnten, welchen wir den schriftlichen oder buchstabischen, Zungen-Sinn nennen«. 3 Vgl. nur Jean Pauls Bezugnahme auf die Urkundenhypothese Johann Gottfried Eichhorns in den »Flegeljahren«. »Wie Zwillinge in ein Dintenfaß tunken? Beaumont und Fletcher, sich hundsfremd, nähten an einem gemeinschaftlichen Schneider-Tische Schauspiele, nach deren Naht und Suturen noch bis heute die Kritiker fühlen und tasten. Bei den spanischen Dichtern hatte oft ein Kind an neun Väter, nämlich eine Komödie, nämlich Autoren. Und im 1sten Buch Mosis kannst Du es am allerersten lesen, wenn du den Professor Eichhorn dazu liesest, der allein in der Sündflut drei Autoren annimmt, außer dem vierten im Himmel.« Jean Paul: Flegeljahre [1804–1805], in: ders.: Sämtliche Werke 1,2, hg. v. Nobert Miller, München 31971, (567–1088) 668. Zum Nebeneinander von strakten und schwachen Autorkonzepten um 1800 vgl. Daniel Weidner: Bibel und Literatur um 1800 (Trajekte), München 2011, 169–200.

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nicht mehr als erkenntnistheoretische Grundlage, aus der die Geltung der christlichen Religion hergeleitet werden konnte, sondern die Bibel wurde vor dem Hintergrund von diversen religionsphilosophischen Grundlegungen als Bestandteil der Religion behandelt. Nicht die Schrift und ihr diviner Autor begründen den Glauben an Jesus Christus, sondern dieser den an jene, wie es in Friedrich Schleiermachers »Glaubenslehre« heißt.4 Im Horizont dieser Einordnung der Schrift in die christliche Religion als deren Bestandteil stehen auch noch die theologischen Neuaufbrüche nach dem Ersten Weltkrieg, in denen der Religionsbegriff durch den der Offenbarung Gottes ersetzt wurde. So geht Karl Barth in seiner Erörterung der Schriftlehre in der »Christlichen Dogmatik« ähnlich wie Schleiermacher oder auch Ernst Troeltsch5 von einem Zirkel von Wort Gottes und Glauben aus. »Daran wird die Bibel als Gottes Wort erkannt, daß sie Gottes Wort ist. […] Es handelt sich um einen Kreis [!], in dem man sich von außen nicht hinein und von innen nicht herausdenken kann.«6 Die von der protestantischen Theologie seit der Aufklärung vorgenommenen Neubestimmungen der Schriftlehre als Bestandteil der christlichen Religion wurden nach dem Zweiten Weltkrieg problematisiert. Jetzt erst fasste man die Transformation der methodischen Grundlagen der Theologie seit der Aufklärung in der Formel einer Krise des Schriftprinzips zusammen. Eine solche »Grundlagenkrise der modernen evangelischen Theologie« diagnostizierte Wolfhart Pannenberg in seinem 1962 publizierten Beitrag »Die Krise des Schriftprinzips«.7 In der Folgezeit wurde seine Diagnose vielfach aufgenommen 4 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt [1830/31] 2, hg. v. Martin Redeker (De Gruyter Studienbuch), Berlin 1999 (ND der Aufl. 71960), 284 (§ 128): »Das Ansehen der Heiligen Schrift kann nicht den Glauben an Christum begründen, vielmehr muß dieser schon vorausgesetzt werden, um der Heiligen Schrift ein besonderes Ansehen einzuräumen.« 5 Vgl. Ernst Troeltsch: Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912, hg. v. Gertrud le Fort, Aalen 1981 (ND der Ausg. München 1925), 19–24. 6 Karl Barth: Die christliche Dogmatik im Entwurf 1. Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik, München 1927, 356 (Kursivierung im Original gesperrt). Vgl. auch Paul Althaus: Grundriß der christlichen Lehre 1. Grundriß der Dogmatik, Erlangen 41933, 31: »Alles was über die Merkmale göttlicher Autorität gesagt werden kann, setzt die Anerkennung der Schrift schon voraus und bedeutet also ein Gehen auf der inneren Linie des Glaubens. […] Die Autorität der Schrift als Wort Gottes wird dadurch erwiesen, daß der Geist für das Wort zeugt. Aber das Zeugnis des heiligen Geistes wird seinerseits nur daran erkennbar, daß es uns die Bibel als das Wort Gottes erkennen lehrt. Das ist der Zirkel [!], der dem Wesen der geschichtlichen Offenbarung Gottes entspricht.« 7 Wolfhart Pannenberg: Die Krise des Schriftprinzips, in: ders.: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, (11–21) 13. Den Hintergrund der Formel dürfte die von Emanuel Hirsch in seiner Theologiegeschichte diagnostizierte Umformungskrise des Christentums in der Moderne bilden. Vgl. Emanuel Hirsch: Geschichte der neueren evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens 1–5, Gütersloh 1949–1954.

Autor und Autorität der Schrift

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und fungierte als Hintergrund einer Neubestimmung der dogmatischen Schriftlehre.8 Was aber ist mit der Krise des Schriftprinzips überhaupt gemeint, die man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts feststellen zu müssen meinte? Und warum wurde jene Krise erst jetzt als eine solche bemerkt und diskutiert, aber nicht schon von der Theologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts? Das wirft nicht nur die Frage nach der systematischen Funktion der diagnostizierten Krise des Schriftprinzips auf, sondern auch die nach der Bedeutung der Schriftlehre für eine sich als Wissenschaft verstehende theologische Dogmatik. Kommt der Bibel eine Begründungsfunktion oder Geltungsautorität für die Theologie zu und wenn ja, in welcher Weise? Und was bedeutet das für das Verständnis der Theologie als Wissenschaft? Damit sind das Thema sowie der problemgeschichtliche Horizont der nachfolgenden Überlegungen zu Autor und Autorität der Schrift benannt. Einzusetzen ist mit Pannenbergs Diagnose einer Krise des Schriftprinzips und ihrer Bearbeitung durch eine universale Offenbarungsgeschichte. Die Probleme, die mit der von dem Münchener Theologen vorgenommenen Neubegründung der Theologie verbundenen sind, werden im zweiten Abschnitt in einer Neubestimmung der Theologie als Wissenschaft von der christlichen Religion genommen. Vor diesem Hintergrund kann dann abschließend die Funktion und Bedeutung der Schrift für die christliche Religion benannt werden. Sie besteht in dem Hinweis, dass es eine religiöse Lektüre der Schrift allein in der christlichen Religion gibt.

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Wolfhart Pannenberg und die Krise des Schriftprinzips

In seinem 1962 publizierten Beitrag »Die Krise des Schriftprinzips« hatte Pannenberg eine Grundlagenkrise der protestantischen Theologie benannt, die auf dem Auseinandertreten von dogmatischer Deutung und historischer Forschung in der Moderne fußt. Den Hintergrund seiner Ausführungen bildet jedoch der Status der Bibel in der protestantischen Theologie. Er will nämlich zeigen, dass ihre Fokussierung auf die Schrift eine Engführung darstellt, durch die die Theologie ihres Gegenstands verlustig ging. Gegenstand der Theologie ist näm8 Vgl. Falk Wagner: Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, in: ders.: Zur Lage des gegenwärtigen Protestantismus, Gütersloh 1995, 68–88; Rochus Leonhardt: Skeptizismus und Protestantismus. Der philosophische Ansatz Odo Marquards als Herausforderung an die evangelische Theologie (HUTh 44), Tübingen 2003, 233–275; Jörg Lauster: Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (HUTh 46), Tübingen 2004; Elisabeth GräbSchmidt: Autorität und Einsicht. Hermeneutik in der Moderne, in: Meyer-Blanck: Säkularität und Autorität (s. Anm. 1), 200–215.

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lich Gott, und die Theologie ist aufgrund ihres Gegenstands als eine universale Wissenschaft auszuarbeiten.9 Die neuzeitliche Krise des Schriftprinzips fungiert als Hinweis auf eine Sackgasse, in die sich die protestantische Theologie durch ihre Konzentration auf die Bibel selbst manövriert hat. »In der Auflösung des Schriftprinzips wirkte sich aus, was durch die Konzentration auf die Schrift in Abkehr von den Weltwissenschaften schon angelegt war.«10 Pannenberg deutet die von ihm apostrophierte Krise des Schriftprinzips als eine Konsequenz, die aus Luthers Fokussierung auf die Klarheit des Wortsinns der Bibel gleichsam mit innerer Notwendigkeit resultiert. Der Wittenberger Reformator habe mit seinem Schriftverständnis eine Grundanschauung der spätmittelalterlichen Theologie aufgegriffen und aus ihr die Konsequenzen gezogen. Eben jene von Luther gerufenen Geister ist der Protestantismus nicht mehr losgeworden, da die »Lehre von der Klarheit der Schrift […] notwendig zu der Forderung« führte, »daß jeder theologische Satz durch die historisch-kritische Schriftauslegung zu begründen sei«.11 Pannenberg konstruiert die Geschichte der protestantischen Theologie seit der Reformation als eine Engführung, die sich in der von ihm so genannten Krise des Schriftprinzips manifestiert. Denn die sich am Ende des 18. Jahrhunderts in der Theologie des Protestantismus durchsetzende historische Kritik löste das Schriftprinzip als wissenschaftstheoretische Grundlage auf. Die res scriptura, Jesus Christus, ist nicht mehr »in« der Schrift, als die mit den klaren Zeichen verbundene res signata zu finden, sondern nur noch »hinter« dem biblischen Kanon.12 Damit ist der grundsätzliche Hiat von Geschichte und Religion markiert, an dessen konstruktiver Bearbeitung die protestantische Theologie seit der Aufklärung bislang gescheitert ist. Denn mit der Durchsetzung der historischen Kritik ergibt sich die Möglichkeit, die Theologie entweder durch die Geschichte oder durch den Glauben zu begründen, sich also auf die Historie unter Absehung von dem Glauben zu fokussieren oder auf die Texte unter Zurückstellung der historischen Forschung. Pannenbergs Formel von der Krise des Schriftprinzips

9 Vgl. Pannenberg: Krise (s. Anm. 7), 11: »Systematische Theologie vollzieht sich in einer Spannung zwischen zwei Tendenzen: Einerseits geht es ihr um die Treue der Theologie selbst (und darüber hinaus der christlichen Kirche) zu ihrem Ursprung, zur Offenbarung Gottes in Jesus Christus, wie sie in der Schrift bezeugt ist. Anderseits aber schließt die Aufgabe der Theologie über jenes besondere Thema hinaus alle Wahrheit überhaupt in sich [!]. Solche Universalität [!] der Theologie hängt unausweichlich damit zusammen, daß sie von Gott redet.« 10 Pannenberg: Krise (s. Anm. 7), 13. 11 Pannenberg: Krise (s. Anm. 7), 14–15. 12 Vgl. Pannenberg: Krise (s. Anm. 7), 15: »Die ›Sache‹ der Schrift, die Luther im Sinne hatte, nämlich Person und Geschichte Jesu, ist für unser historisches Bewußtsein nicht mehr in den Texten selbst zu finden, sondern muß hinter ihnen erschloßen werden.«

Autor und Autorität der Schrift

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steht für die beiden möglichen begründungslogischen Konzeptionen, die »in der evangelischen Theologie bekanntlich heute noch und wieder umstritten« sind.13 Pannenberg liest vor dem Hintergrund der Wort-Gottes-Theologie des 20. Jahrhunderts und in Absetzung von ihrem vermeintlichen Antihistorismus und Offenbarungspositivismus die Geschichte der protestantischen Theologie seit der Aufklärung als den gescheiterten Versuch, die christliche Religion und ihre Geltung zu begründen. In der Krise des Schriftprinzips zeige sich die Unzulänglichkeit der bislang unternommenen Begründungsanstrengungen, die auf dem Auseinanderbrechen von historischer Forschung und dogmatischer Deutung beruhen. Zugleich ist jene Krise Symptom einer theologischen Engführung, durch die die Theologie ihres eigentlichen Gegenstands verlustig ging. Begründen lasse sich die Geltung der christlichen Religion nur durch eine Theologie, der es gelingt, Glaube und Geschichte wieder zu verbinden. Dafür steht das Programm der Überlieferungsgeschichte, die »als der tiefere Begriff von Geschichte überhaupt anzusehen« ist.14 Erst in ihrem Rahmen lässt sich die Schrift einordnen und begründen, nicht aber umgekehrt, die Geltung der christlichen Religion durch die Schrift. Pannenberg weist der Theologie als Wissenschaft die Aufgabe einer Begründung der Geltung der christlichen Religion angesichts der atheistischen Kritik in der Moderne zu.15 Vor dem Hintergrund der historischen Kritik kann das jedoch durch einen Rekurs auf die biblischen Schriften nicht mehr geleistet werden. Dazu ist nur der Gottesgedanke in der Lage, der als Grundlage einer universalen Überlieferungsgeschichte fungiert. Pannenbergs komplexes Modell einer Universalgeschichte braucht hier nicht in allen ihren Aufbauelementen diskutiert zu werden.16 Grundlegend für die begründungslogische Argumentation ist die Behauptung, die Auferstehung Jesu von den Toten sei ein empirisch-geschichtliches Ereignis, durch das in der Geschichte ihr Ende vorweggenommen ist.17 Dieses Ereignis, in dem Faktum und Deutung zusammenfallen, dem also eine Bedeutung innewohnt, die allen ihren Deutungen vorgängig ist, begründet den christlichen Glauben an Gott als der

13 Pannenberg: Krise (s. Anm. 7), 16. 14 Wolfhart Pannenberg: Kerygma und Geschichte, in: ders.: Grundfragen (s. Anm. 7), (79–90) 88. 15 Vgl. Wolfhart Pannenberg: Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung, in: ders.: Grundfragen (s. Anm. 7), 347–360. 16 Vgl. hierzu Christian Danz: Grundprobleme der Christologie (UTB 3911. Theologie, Religion), Tübingen 2013, 167–172. 17 Vgl. Pannenberg: Krise (s. Anm. 7), 16: »Nur von der Auferstehung Jesu her wird, im Rahmen der geistigen Situation des Urchristentums, die Anfangsgeschichte des Christusglaubens bis hin zur Entstehung des Bekenntnisses zur Gottheit Jesu verständlich.« Vgl. auch ders.: Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: ders. u. a. (Hg.): Offenbarung als Geschichte (KuD.B 1), Göttingen 1961, 91–114.

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alles bestimmenden Wirklichkeit.18 Es fundiert auch erst die Schrift, die als Explikation des Bedeutungsgehalts verstanden werden muss, der implizit in Geschichte und Geschick Jesu bereits angelegt ist. Die postulierte Krise des Schriftprinzips verweist auf ihre wirkliche Begründung in der Universalgeschichte Gottes, deren Einheit in der Auferstehung Jesu in der Geschichte proleptisch erscheint.19 Pannenbergs Konzeption einer Theologie als universaler Wissenschaft, der die Aufgabe einer Begründung der christlichen Religion obliegt, hat ihr begründungslogisches Fundament also in dem geschichtlichen Ereignis der Auferstehung Jesu von den Toten. Erst in diesem Rahmen kann die Schrift als Explikation dieses Ereignisses legitimiert werden. Allerdings bleibt Pannenbergs Begründung der Geltung der christlichen Religion, auch wenn ihr Status ein hypothetischer ist, zirkulär. Die Auferstehung Jesu von den Toten stellt einen Bestandteil der christlichen Religion dar, der als ihre Voraussetzung postuliert wird, um ihre Geltung abzuleiten. Pannenbergs Versuch einer universalgeschichtlichen Begründung der Schrift führt über den Zirkel nicht hinaus, in dem seit Schleiermacher die Schriftlehre in der Dogmatik behandelt wird. Das gilt bereits für das testimonium spiritus sancti internum, das in der altprotestantischen Dogmatik als grundlegendes Argument für die auctoritas der Heiligen Schrift behauptet wurde.20 Es bezeichnet eine Zirkelstruktur. Allein in dem sich auf die Bibel zurückführenden und diese als Autorität anerkennenden Glauben gibt es eine Autorität der Bibel. David Friedrich Strauß hat das als die »Achillesferse« der protestantischen Schriftlehre bezeichnet. Wenn das innerlich empfundene Zeugniss des Geistes mich von der Göttlichkeit der heil. Schrift gewiss macht, so bedarf es nur geringer Reflexion, um die weitere Frage aufsteigen zu machen: Wer versichert mich denn nun, dass diese Empfindung in mir von der Einwirkung des heil. Geistes herrührt? – So bleibt die Kluft zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen; es hilft zu nichts, zwischen die Schrift und den menschlichen Geist den in diesem von jener zeugenden göttlichen einzuschieben; denn wer zeugt nur von der Göttlichkeit dieses Zeugnisses? Entweder nur wieder es selbst, d. h. Niemand;

18 Vgl. Pannenberg: Krise (s. Anm. 7), 16: »Wenn die Auferstehung Jesu aber nicht als geschichtliches Ereignis gelten kann, dann fallen der historische Aspekt und die verschiedenen Formen urchristlicher Botschaft, die sich im NT niedergeschlagen haben, hoffnungslos auseinander.« 19 Vgl. Pannenberg: Krise (s. Anm. 7), 20: »Die Problematik der Schrifttheologie als positiver Offenbarungswissenschaft drängt also von selbst auf die Erneuerung der Universalität im Sinne einer umfassenden Theologie der Geschichte hin.« 20 Vgl. hierzu die Belege in Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 71893, 27–36, und Hirsch: Hilfsbuch (s. Anm. 2), 317.

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oder irgend etwas, sei es Gefühl oder Denken, im menschlichen Geiste –: hier ist die Achillesferse des protestantischen Systems.21

In begründungslogischer Absicht ist der Zirkel, wie die Überlegungen zu Pannenberg deutlich gemacht haben, in der Tat nicht aufzulösen.22 Jede Konstruktion, die Bestandteile der christlichen Religion als ihre fundierende bzw. übergeordnete Grundlage behauptet, aus der der Glaube hergeleitet und begründet werden könne, bleibt diesem Zirkel verhaftet. Deutlich wird das auch an erfahrungstheologischen Reformulierungen der Bedeutung der Bibel für die christliche Religion23 und an trinitätstheologischen Konzeptionen, in denen das testimonium spiritus sancti internum für die passive Erschlossenheit der Konstitutionsbedingungen der Gewissheit des Glaubens steht, die zugleich seinen Inhalt bilden.24 Was bedeutet das für die Dogmatik als Wissenschaft von der christlichen Religion und die Autorität der Schrift?

21 David Friedrich Strauß: Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft 1, Darmstadt 2009 (ND der Ausg. Tübingen 1841), 136. 22 Auf diesen Zirkel macht auch Wagner: Autoritätsanspruch (s. Anm. 8), 87, aufmerksam. Der Beitrag endet mit der Forderung, den in der Schriftlehre bereits in Anspruch genommenen Zirkel zu explizieren. »Daraus ist die Konsequenz zu ziehen, daß die Sache des Christentums in ihrer Eigenbedeutung nur erfaßt werden kann durch einen Begriff der Sache selbst, nämlich durch die zunächst logisch-kategorialen Strukturen, von denen jeder Begriff der Sache immer schon implizit oder explizit Gebrauch macht.« (ebd., 88) Ob mit den logischkategorialen Strukturen hier das ältere Programm einer spekulativen Begründung der christlichen Religion gemeint ist, lässt der Beitrag offen. Vgl. auch Falk Wagner: Die religiöse Lage der Gegenwart zwischen zweideutiger Moderne und pluralen Religionskulturen, in: ders.: Zur Lage (s. Anm. 8), 11–46, bes. 46. 23 So Jörg Lausters Versuch, die »Bibel als Ausdrucksgestalt von religiöser Erfahrung im Dienst der Erinnerung« zu reformulieren. Vgl. Jörg Lauster: Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005, 39–45; ders.: Prinzip und Methode (s. Anm. 8). Vgl. auch Gräb-Schmidt: Autorität und Einsicht (s. Anm. 8). Der Transzendenzeinbruch, der in der religiösen Erfahrung evident vorliegen soll, und »die religiösen Wirklichkeitsdeutungen ›empirisch‹ […] an konkreten Erfahrungen der Wirklichkeit absichert« (Lauster: Religion als Lebensdeutung, 26), stellt eine Voraussetzungskonstruktion dar, die sich aus der Erfahrung selbst nicht ergibt. 24 So Wilfried Härle: Dogmatik (GLB), Berlin 22000, 124: »Erst sie [sc. die Inspirationslehre] bringt zum Ausdruck, daß es das testimonium spiritus Sancti internum ist, das den Inhalt der Heiligen Schrift so beglaubigt, daß ihr dadurch die auctoritas causativa zuteil wird, aus der ihre auctoritas normativa resultiert«.

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Systematische Theologie als Wissenschaft von der christlichen Religion

Die Aufgabe der systematischen Theologie ist es, die Bibel als einen Bestandteil der christlichen Religion zu explizieren, nicht aber, diese durch eine Schriftlehre oder – wie von Pannenberg – eine universale Offenbarungsgeschichte zu begründen. In jenem Sinne, nämlich als Hinweis auf die Zirkelstruktur des Religionsbegriffs, ist das testimonium spiritus sancti internum aufzunehmen. Die von der altlutherischen Theologie im Anschluss an den Reformator zum Schriftprinzip ausgebaute Lehre von der Heiligen Schrift als begründungslogisches Fundament der theologischen Aussagen stellte einen fatalen Irrweg dar, der sich in keiner Weise mehr revitalisieren lässt. Demgegenüber ist die Funktion der Schriftlehre für das Selbstverständnis der christlichen Religion von der systematischen Theologie auszuarbeiten. Autor und Autorität der Schrift resultieren aus ihrem Gebrauch in der Religion, fungieren jedoch nicht als Voraussetzungen außerhalb ihrer, aus der sie, die christliche Religion, hergeleitet werden könnte. Das setzt eine Klärung des Religionsbegriffs voraus, der den Gegenstand der systematischen Theologie bildet. Erst vor diesem Hintergrund ist es möglich, Funktion und Bedeutung der Schriftlehre zu bestimmen. Was aber ist Religion? In die Konstruktion des Religionsbegriffs, der um 1800 sowohl die Bibel als auch den Gottesgedanken als Grundlage der wissenschaftlichen Theologie ersetzte, ist die Auflösung von vermögenstheoretischen und anthropologischen Grundlegungen durch die theologische Religionskritik des frühen 20. Jahrhunderts aufzunehmen. Ebenso ist in der Theologie auf die Ausarbeitung eines universalen Religionsbegriffs zu verzichten. Die systematische Theologie konstruiert die christliche Religion als eine geschichtlich gewordene Weise sprachlich hergestellter menschlicher Selbst- und Weltdeutung. Religion, auch die christliche, bildet keine gleichsam natürliche Ausstattung, die zur conditio humana gehört. In dem Religionsbegriff der Theologie, der sich auf die christliche Religion beschränkt, ist nicht nur auf das Postulat einer den Menschen selbst unbewussten Religion zu verzichten, sondern grundsätzlich auch die Möglichkeit einer religionsfreien Lebensführung aufzunehmen und anzuerkennen. Der Gegenstand der systematischen Theologie ist die christliche Religion. Diese wird von jener entfaltet, aber nicht begründet. Auf diese Weise trägt die wissenschaftliche Theologie der Zirkularität der Begründungen der Religion Rechnung. Als Wissenschaft der christlichen Religion unterscheidet die Theologie sich selbst von ihr. Die systematische Theologie konstruiert die christliche Religion, ist aber selbst nicht Religion. Jene kann weder eine Verlängerung der christlichen Religion in die Wissenschaft hinein sein noch der Ort, an dem die

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Religion zu ihrer Wahrheit kommt. Das ist die Pointe der von der Theologie vorgenommenen Unterscheidung zwischen ihr und der christlichen Religion. Jede Wissenschaft vermag ihren Gegenstand nur mit ihren eigenen Methoden zu konstruieren, nicht aber an dessen Stelle treten. Wissenschaftliche Gegenstände gibt es lediglich als methodische Konstruktionen.25 Das kann in der Theologie, sofern sie Wissenschaft ist, nicht anders sein. Aber die systematische Theologie erschließt die christliche Religion aus der Sicht ihrer Teilnehmer. Das allein unterscheidet die Theologie von anderen mit Religion befassten Wissenschaften wie der Ethnologie, der Religionswissenschaft, der Religionssoziologie etc. Auch diese Disziplinen, die von der Perspektive der Teilnehmenden abstrahieren, können Religion nur methodisch in ihnen selbst konstruieren, sie aber nicht abbilden oder einen eigentlichen Zugang zu ihr für sich reklamieren. Für eine methodische Konstruktion der christlichen Religion in deren Selbstsicht durch die systematische Theologie ist es somit auch nicht notwendig, irgendwelche Glaubensvoraussetzungen in Anspruch zu nehmen oder auf eine Funktion der Theologie für eine Kirche zu rekurrieren. In der systematischen Theologie als Wissenschaft kann die christliche Religion nur als Konstrukt vorkommen, gleichwohl behauptet jene, in ihrer Darstellung deren Selbstsicht durchsichtig zu machen. Auch der Gottesgedanke oder die Auferstehung Jesu, wie bei Pannenberg, sind Beschreibungen des Theologen, um die christliche Religion und ihr Funktionieren zu verdeutlichen. Was bedeutet das nun für die Thematisierung der christlichen Religion in der systematischen Theologie? Die systematische Theologie stellt den Glauben als Vollzug der christlichen Religion dar. Auch der Glaube ist ein Konstrukt, mit dem die Theologie in ihr selbst den Vollzug der Religion als ein um sich wissendes selbstbezügliches Geschehen erklärt. Die Gehalte der christlichen Religion, Gott, Jesus Christus und der Heilige Geist, strukturieren den Glaubensakt als christlich-religiöse Kommunikation, in und durch die die christliche Religion sich erst herstellt und in der Geschichte weiterführt. In die theologische Konstruktion der christlichen Religion ist sowohl die Erkenntniskritik des 19. Jahrhunderts aufzunehmen, die den supramundanen Gottesgedanken als Grundlage der Theologie destruierte, als auch die theologische Religionskritik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die vermögenstheoretische und anthropologische Religionsbegriffe auflöste.26 25 Konzeptionen, die sich an Leitbegriffen wie »Religion zeigen« oder »Religion verstehen« orientieren, wie sie in den letzten Jahren in der praktischen Theologie sowie der Religionspädagogik vorgeschlagen wurden, sind methodisch naiv. Vgl. Bernhard Dressler/Michael Meyer-Blanck (Hg.): Religion zeigen. Religionspädagogik und Semiotik (Grundlegungen 4), Münster 2003; Michael Meyer-Blanck: Zeigen und Verstehen. Skizzen zu Glauben und Lernen, Leipzig 2018; Eva-Maria Kenngott/Lothar Kuld (Hg.): Religion verstehen lernen. Neuorientierungen religiöser Bildung (Ökumenische Religionspädagogik 6), Münster 2012. 26 Vgl. hierzu Folkart Wittekind: Zwischen Religion und Gott. Überlegungen zum Selbstver-

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Der theologischen Beschreibung der Religion ist weder ein religiöses Subjekt noch ein religiöser Gegenstand vorauszusetzen, sondern beides gibt es nur in der christlichen Religion als einem sprachlich hergestellten Selbst- und Weltverständnis, die sich mit und durch ihre inhaltlichen Bestimmungen selbst bezeichnet. Die nur wenig weiterführende begründungslogische Alternative der Theologie des 20. Jahrhunderts, ob Gott und seine Offenbarung oder die Religion der Gegenstand der Theologie sei, wird damit in eine selbstbezügliche Konzeption religiöser Kommunikation überführt. Sowohl ein religiöser Gehalt als auch ein religiöses Subjekt sind Elemente der christlichen Religion, die als ein in die Geschichte eingebundenes triadisches Kommunikationsgeschehen zu rekonstruieren ist: Gott kommt von Gott durch Gott als Gott.27 Die christliche Religion als ein selbstbezügliches Geschehen religiöser Kommunikation, in dem jene sich herstellt und in der Geschichte fortsetzt, durchsichtig zu machen, ist die Aufgabe der systematischen Theologie. Die christliche Religion besteht in der religiösen Erinnerung an Jesus Christus und ihrer Weitergabe in der Geschichte. Mit ihren dogmatischen Symbolen strukturiert die Theologie die christliche Religion als ein sich selbst durchsichtiges Wechselverhältnis von drei Elementen. Glaube als Vollzug der christlichen Religion ist der religiöse Gebrauch der Erinnerung an Jesus Christus. Damit Glaube als religiöser Vollzug zustande kommen kann, muss es bereits die christliche Religion als eine in der Kultur ausdifferenzierte Form der Kommunikation geben. Aber aus den inhaltlichen Bestimmungen und ihrer Verwendung resultiert noch nicht die christliche Religion. Das bloße Vorkommen von religiösen Worten, Zeichen oder Formen besagt nicht schon, dass auch Religion vorliegt.28 Erst wenn die symbolischen Formen von Einzelnen als religiöse geständnis und zur Begründung einer protestantischen dogmatischen Theologie, in: Herta Nagl-Docekal/Friedrich Wolfram (Hg.): Jenseits der Säkularisierung. Religionsphilosophische Studien (Schriften der österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie 9), Berlin 2008, 351–384. 27 Ingolf U. Dalferths Übertragung von Eberhard Jüngels spekulativer Konstruktion eines trinitarischen Sprachereignisses, das als Voraussetzung des Glaubens fungiert, auf den als Standpunktwechsel gedeuteten Glaubensvollzug wird hier aufgenommen und auf die Religion als ein selbstbezügliches Geschehen übertragen. Damit entfällt auch die von Dalferth noch beibehaltene Abgrenzung des Glaubens von der Religion. Vgl. Ingolf U. Dalferth: Radikale Theologie (ThLZ.F 23), Leipzig 32013, 235–282. Zu Jüngels cum grano salis spekulativer Barth-Deutung vgl. Eberhard Jüngel: Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, Tübingen 41986. 28 So bietet Jean-Luc Nancy in seiner Schrift »Noli me tangere« eine dichte Beschreibung der Begegnung des auferstandenen Christus mit Maria Magdalena im Anschluss an die Perikope Joh 20,17, ohne dass man sagen könnte, die Deutung des Phänomenologen sei bei aller Textnähe religiös gemeint. Vgl. Jean-Luc Nancy: Noli me tangere, Zürich 2008. Auch das Bild des historischen Jesus, das von der Geschichtswissenschaft rekonstruiert wird, unterscheidet sich inhaltlich nicht von einem religiösen Bild Jesu, aber jenes ist nicht religiös gemeint.

Autor und Autorität der Schrift

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braucht und zur Darstellung des eigenen Selbstverständnisses verwendet werden, handelt es sich um Religion. Das Wissen der christlichen Religion um sich selbst als Religion muss einen Bestandteil der Religion selbst darstellen.29 Eine Theorie der Religion, die das Wissen um Religion am Orte ihres Vollzugs nicht verständlich machen kann oder es ausklammert, ist nur wenig überzeugend. So setzt die christliche Religion sich zwar voraus, aber ihr eigenes Entstehen ist aus der religiösen Kommunikation nicht ableitbar. Das symbolisiert der Gottesgedanke. Er repräsentiert das an seinen unableitbaren Vollzug gebundene und um sich als religiöses wissende aneignende Verstehen von religiösen Formen als solchen. Erst in der christlichen Religion gibt es eine religiöse Anrede als Voraussetzung von ihr als Religion. Hinzu kommt als zweites Strukturelement die religiöse Darstellung des aneignenden Verstehens der religiösen Erinnerung an Jesus Christus. Ohne eine symbolische Selbstbeschreibung ist kein Verstehen möglich. Das markiert das Christusbild der systematischen Theologie. Christus ist Bild des Glaubens von sich selbst als einem personalen Vollzug, der sich in einem Bild seiner selbst darstellt und über sich verständigt. Und schließlich gehört drittens zur christlichen Religion ihr Wissen um ihre eigene Abhängigkeit von einer konkreten, inhaltlich bestimmten religiösen Tradition. In der christlichen Religion symbolisiert das der Heilige Geist, die Memoria an Jesus Christus. Die christliche Religion ist aneignende Transformation der Erinnerung an Jesus Christus, ohne die sie gar nicht möglich ist. Erst aus dem Zusammenspiel aller drei Strukturmomente entspringt die Erinnerung an Jesus Christus als christliche Religion. Diese lässt sich nicht in begründungslogischer Hinsicht auf eines ihrer Elemente zurückführen. Weder ein religiöses Subjekt noch ein religiöser Gehalt oder die religiöse Rede als solche begründen den Glauben als Vollzug der christlichen Religion.30 Die drei Strukturelemente bilden ihre Bestandteile, mit der sie, die christliche Religion, in ihr selbst ihr eigenes Funktionieren darstellt: von Gott durch Gott als Gott. Aber die gegenständlichen Gehalte – Gott, Jesus Christus und der Heilige Geist – verweisen nicht auf Gegenstände, sie symbolisieren vielmehr in der Religion selbst ihre Struktur als ein kommunikatives Geschehen, in dem die christliche Religion als solche entsteht und weitergegeben wird. Für die Frage nach der Bedeutung der Schriftlehre für die systematische Theologie ergibt sich aus den vorgestellten 29 Andernfalls handelt man sich das nicht überzeugende Konstrukt einer unbewussten Religion ein, die dem Einzelnen selbst verborgen ist und nur vom Religionstheoretiker identifiziert werden kann. Klassisch formuliert wurde ein solcher funktionaler Religionsbegriff von Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion [1967] (Stw 947), Frankfurt a.M. 1991. 30 Auch der Vollzug der Religion bzw. des Glaubens fungiert nicht, wie in den theologischen Konzeptionen des frühen 20. Jahrhunderts, als Begründung. Damit wird die dogmatische Beschreibung der christlichen Religion von Eigentlichkeits- und Authentizitätspostulaten entlastet, die dem selbst nicht fassbaren Vollzug der Religion zugesprochen wurden.

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Überlegungen die Konsequenz, dass der Ort der Frage nach Autor und Autorität der Schrift die Pneumatologie ist. Denn in ihr geht es um das Wissen des Glaubensaktes um seine Abhängigkeit von einer bestimmten Geschichte und die Notwendigkeit ihrer transformierenden Aneignung durch den Einzelnen. Dem ist nun abschließend noch nachzugehen.

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Systematische Theologie und Schriftlehre

Die Bibel stellt einen Bestandteil der christlichen Religion dar, die es als Heilige Schrift oder als Wort Gottes nur in ihr gibt. Schon aus diesem Grund ist es nicht möglich, die Schrift gleichsam außerhalb ihres religiösen Gebrauchs als erkenntnistheoretische Grundlage der Dogmatik zu postulieren wie in dem altprotestantischen Lehrbegriff. Begründungen einer Autorität der Bibel für die christliche Religion oder die systematische Theologie bleiben nicht nur zirkulär, der mit dem testimonium spiritus sancti internum namhaft gemachte Zirkel lässt sich, wie die Überlegungen zum Religionsbegriff deutlich gemacht haben, auch nicht nach einer Seite hin auflösen. Die Funktion einer dogmatischen Schriftlehre bzw. des Schriftbezugs der systematischen Theologie besteht somit auch nicht darin, die christliche Religion zu begründen.31 Von einer Krise des Schriftprinzips kann folglich nur unter der Voraussetzung gesprochen werden, wenn man die theologische Aufgabe als Begründung der christlichen Religion (miss-)versteht. Es sind weder eine besondere Ursprungsnähe noch bestimmte religiöse Erfahrungen oder die Qualität der Texte, welche eine Autorität der Bibel begründen.32 Welche Funktion haben dann aber die biblischen Schriften für die christliche Religion und die systematische Theologie? Warum bezieht sich der christliche Glaube auf bestimmte Texte? Der Kanon der biblischen Schriften, kontingent in einem geschichtlichen Prozess entstanden, bildet ein notwendiges Element der christlichen Religion. Diese ist eine geschichtliche Religion, und sie setzt sich in der Geschichte durch den religiösen Gebrauch der Erinnerung an Jesus Christus fort. Das Wissen des Glaubensaktes um seine eigene Einbindung in eine Geschichte sowie seine Ab31 Vgl. auch Michael Moxter: Schrift als Grund und Grenze der Interpretation. Hans-Günter Heimbrock und Ingolf U. Dalferth zum 60. Geburtstag, in: ZThK 105 (2008), 146–169. 32 So tendenziell die Vorschläge von Pannenberg und Lauster. Vgl. auch Gräb-Schmidt: Autorität und Einsicht (s. Anm. 8), 207: »Das Festhalten am Buchstaben ist mithin keineswegs als antiemanzipatorisches Überbleibsel der Heteronomie zu verstehen, sondern es charakterisiert vielmehr die Art und Weise der Emanzipation und Freiheit. […] Dies ist eine Erfahrung, die Freiheit gewährt, Raum eröffnet, eine Erfahrung, die wir nicht einfach selbst machen können, sondern die aus der Kommunikation mit der Schrift erwächst und uns im Geistwirken erschlossen wird.«

Autor und Autorität der Schrift

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hängigkeit von einer inhaltlich bestimmten Überlieferung stellt die christliche Religion in ihr selbst mit dem Schriftbezug dar.33 Die Bibel ist in der und für die christliche Religion ein Hinweis auf die Geschichtlichkeit der religiösen Erinnerung an Jesus Christus. Aber als Religion fungiert das christlich-religiöse Gedächtnis allein in seinem religiösen Gebrauch durch die Einzelnen. Die religiöse Aneignung und Benutzung der Überlieferung ist jedoch nicht nur ein Bestandteil der christlichen Religion, jene ist immer auch schon eine produktive Neuschaffung des religiösen Gedächtnisses. Das zeigt sich bereits an den neutestamentlichen Schriften, die vor dem Hintergrund alttestamentlicher Texte erst eine Memoria an Jesus Christus schaffen, indem die von den Autoren konstruierten Narrative auf ihn zurückgeführt werden.34 Im Neu- und Anders-Erzählen der Geschichte Jesu bleibt sie mit sich identisch. Auch die biblischen Schriften sind stets beides: religiöse Aneignung von symbolischen Formen und ihre schöpferische Neuschaffung.35 Ohne Schrift, also die Herstellung eines christlich-religiösen Gedächtnisses, könnte sich das Christentum in der Geschichte weder erhalten noch fortsetzen.36 Die christliche Religion ist eine inhaltlich bestimmte und geschichtlich gewordene, die in der religiösen Erinnerung an Jesus Christus und ihrer religiösen Weitergabe besteht. Eben das repräsentiert die Schrift in der christlichen Religion: ihre inhaltliche Erkennbarkeit als Religion in der Geschichte.37 Die biblischen Schriften sind zunächst ein Hinweis auf die christliche Religion als eine eigene und inhaltlich bestimmte geschichtliche Wirklichkeit in der Kultur. In diesem Sinne ist die Bibel eine Voraussetzung, selbst jedoch nicht Religion. Dazu wird die Schrift allein in ihrem religiösen Gebrauch. Das setzt die 33 Vgl. hierzu auch Wittekind: Zwischen Religion und Gott (s. Anm. 26), 379–381; ders.: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 95–114. 34 Vgl. hierzu Eve-Marie Becker: The Birth of Christian History. Memory and Time from Mark to Luke-Acts (AYBRL), New Haven 2017. 35 Vgl. Reinhard G. Kratz: Art. Schrift, Heilige. I. Altes und Neues Testament, in: TRE 30, Berlin 1999, (402–407) 406: »Schriftwerdung und Schriftauslegung sind eins.« Rezeption von Texten ist ebenso ein Bestandteil der christlichen Religion wie deren Produktion. Vgl. Paul Tillich: Systematische Theologie 1–2, hg. v. Christian Danz, Berlin 92017, 395–396. 36 Das notiert – wenn auch unter ganz anderen Voraussetzungen – bereits Luther. Vgl. Martin Luther: Kirchenpostille [1522] (WA 10,1,1), Weimar 1910, 627. 37 Schon Albrecht Ritschl hat darauf hingewiesen, dass die in den biblischen Schriften überlieferte Verkündigung Jesu die Funktion hat, den Glauben als Vollzug der christlichen Religion von philosophischen Systemen und anderen Schulweisheiten zu unterscheiden. Vgl. Albrecht Ritschl: Rechtfertigung und Versöhnung 3. Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn 41895, 13: »Weiterhin kommt in Betracht, daß Christus diese sittliche Aufgabe des Menschengeschlechts nicht als eine philosophische Lehre im Allgemeinen ausgesprochen, noch sie in einer Schule verbreitet, sondern seinen Jüngern anvertraut hat, welche zugleich von ihm durch andere Anleitung als Religionsgemeinde constituiert worden sind. Indem nämlich das sittliche Handeln auf die Mitmenschen hin unter den Gedanken des Reiches Gottes gefaßt ist, wird dieses Gebiet selbst unter die Norm der Religion gestellt.«

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biblischen Schriften als Erinnerung an Jesus Christus voraus, aber in einem religiösen Sinne kann diese nicht aus der Inhaltlichkeit der Schrift abgeleitet oder begründet werden.38 Religion entsteht vielmehr unableitbar in der religiösen Verwendung von symbolischen Formen und Zeichen und ist an ihren Vollzug gebunden. Nur im und für den Glauben ist die Bibel religiöse Anrede.39 Dass es sich bei einer Kommunikation um eine christlich-religiöse handelt, fußt ausschließlich darauf, dass von den Kommunikanten die von ihnen verwendete Sprache religiös gemeint ist. Die biblischen Narrative können immer auch nichtreligiös verwendet werden, nämlich historisch, ästhetisch, politisch etc. Aus dem bloßen Vorkommen von biblischen Wendungen etc. resultiert deshalb noch nicht, dass diese auch in einem religiösen Sinne gebraucht werden. Die christliche Religion, so sehr sie nur als eine konkrete und inhaltlich bestimmte möglich ist, kann an ihren Inhalten allein nicht erkannt werden. Ihr Bestehen als Religion ist abhängig von der religiösen Aneignung der biblischen Narrative und ihrem Gebrauch für die eigene religiöse Selbstdarstellung, in der sie als Religion verstanden und gemeint ist. Wort Gottes ist der biblische Kanon ausschließlich in seinem religiösen Gebrauch, in und durch den der Glaube als Vollzug der christlichen Religion zugleich mit der religiösen Verwendung der Schrift entsteht.40 Aus dem inhaltlichen Bestand der Erinnerung an Jesus Christus ist ihre religiöse Verwendung nicht herleitbar, obwohl diese an die biblischen Texte gebunden ist und sich nur als eine inhaltlich bestimmte darstellen kann. Wort Gottes und Bibel sind somit nicht identisch, da jenes den religiösen Gebrauch von dieser markiert. Es ist aber auch nicht die Bibel als solche, ihre Ursprungsnähe, ihre Inhalte oder besondere Erfahrungen, die von ihr überliefert werden, der eine Autorität für die christliche Religion zukommt, sondern allein ihrer Verwendung in der religiösen Kom38 Schon Luther macht darauf aufmerksam, dass die religiöse Funktion der Schrift, also ihr soteriologischer Gehalt, zwar an den äußeren Buchstaben gebunden, aber nicht schon mit diesem für den Einzelnen gegeben ist. Dazu bedarf es der individuellen Aneignung der Schrift, deren Unableitbarkeit der Heilige Geist beschreibt. Vgl. nur Martin Luther: De servo arbitrio [1522] (WA 18), Weimar 1908, (600–787) 609. 39 So die Konstruktion Rudolf Bultmanns. Vgl. Rudolf Bultmann: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: Hans-Werner Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos 1. Ein theologisches Gespräch, Hamburg 3 1954, (15–48) 47: »Wie das Wort, wie der predigende Apostel, so gehört deshalb auch die Kirche, in der das Wort weiter verkündigt wird, und innerhalb deren [sic!] sich die Glaubenden als die ›Heiligen‹, d. h. als die in die eschatologische Existenz Versetzten, sammeln, zum eschatologischen Geschehen.« 40 Das ist die Pointe von Barths Neudeutung der Schriftlehre durch das Wort Gottes. Es markiert die unableitbare religiöse Verwendung der Bibel in der christlichen Religion, um die von den religiösen Akteuren gewusst werden muss. Vgl. Barth: Christliche Dogmatik 1 (s. Anm. 6), 345: »Erkenntnis der Bibel als des Wortes Gottes ist selber ein Geschehen, ein immer neu sich ereignender Durchbruch des Glaubens und Gehorsams.«

Autor und Autorität der Schrift

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munikation. Diese konstituiert sich aus dem Zusammenhang von religiöser Kommunikation, verstehender Aneignung und religiöser Darstellung. Allein das, die religiöse Verwendung der Bibel, symbolisiert die christliche Religion mit dem Wort Gottes und Gott als Autor der Schrift. Die Normativität der Bibel bezieht sich auf ihre religiöse Verwendung als Wort Gottes. Aber das ist nicht an die Inhalte der biblischen Schriften gebunden, so sehr sich die christliche Religion nur als eine inhaltlich bestimmte darstellen und von anderen Religionen unterscheiden kann. Gemeint sind in der religiösen Kommunikation keine inhaltlichen Bestimmungen, sondern die Religion als Religion. Das ist der systematische Gehalt der Inspirationsvorstellung.41 Sie bezieht sich auf die religiöse Verwendung der Bibel und beschreibt die Zirkelstruktur des Geistzeugnisses. Es ist also weder die Inhaltlichkeit der Bibel noch ihre Ursprungsnähe oder bestimmte religiöse Erfahrungen, die ihre religiöse Autorität begründen. Eine solche gibt es ebenso wie Gott als Autor der Schrift lediglich in dem religiösen Gebrauch und der religiösen Verwendung der Bibel in der religiösen Kommunikation. Der Ursprung der christlichen Religion, die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, stellt einen Bestandteil von ihr dar, der zugleich mit ihr erst entsteht. Die Schriftlehre verknüpft den christlichen Glauben mit der Geschichte, indem sie diesen auf ein bestimmtes, selbst kontingent gewordenes Textkorpus bezieht, in dem die religiöse Erinnerung an Jesus Christus eine vielfältige produktive Gestaltung erfahren hat. Für die Funktion der Schriftlehre in der christlichen Religion und ihrer Konstruktion in der systematischen Theologie bedeutet dies, dass die Schrift aus dem Grund ein notwendiges Element der christlichen Religion ist, weil der Glaube seine Bindung an eine inhaltlich bestimmte Überlieferung darstellt, die er als produktiver Akt in seiner Aneignung schöpferisch weiterführt. In der Lehre von der Schrift expliziert die Theologie die Zirkelstruktur des testimonium spiritus sancti internum: Eine religiöse Bedeutung hat die Schrift nur in der christlichen Religion und für diese. Der Glaube als Vollzug der christlichen Religion ist von einer inhaltlich bestimmten Überlieferung – der Erinnerung an Jesus Christus – abhängig, aber aus ihr nicht ableitbar. In der Schriftlehre beschreibt die Religion sich selbst als ein sich selbst durchsichtiges Funktionieren von Religion.

41 Zur Transformation der Inspirationsvorstellung als Bestandteil der christlichen Religion in der Theologie des 19. Jahrhunderts vgl. Friedrich August B. Nitzsch: Lehrbuch der evangelischen Dogmatik, hg. v. Horst Stephan, Tübingen 31911, 246–269. Zur Rekonstruktion der Bestimmung der klassischen Bestimmungen der Schriftlehre vgl. Wittekind: Theologie religiöser Rede (s. Anm. 33), 95–114, der diese jedoch in die Gotteslehre verschiebt.

Wilfried Engemann

Worin besteht die Autorität der »Heiligen Schrift«? Anmerkungen zum Umgang mit der Bibel im Gottesdienst1

Vorbemerkungen Ein handwerklich gekonnter Umgang mit biblischen Texten, der der Autorität ihrer Überlieferung sowie der Freiheit und »Glaubenskultur«2 der Zeitgenossen gleichermaßen gerecht wird, gehört zu den größten Herausforderungen theologischer Hermeneutik. »Handwerklich gekonnt« bedeutet im Kontext von Liturgie und Predigt unter anderem: Aufmerksamkeit weckend, gedanklich nachvollziehbar, im Gegenwartsbezug relevant, also zeitgenössisch, ansprechend, aber im Anspruch menschlich, Freiheit wahrend und fördernd, die Würde des Menschen nicht verletzend, unzweifelhaft lebensdienlich – also im besten Wortsinn »erbaulich« und »bildend«. Ob solch eine menschengerechte, d. h. Menschen gerecht werdende Art des Umgangs mit den Texten der jüdisch-christlichen Tradition im Gottesdienst gelingt oder nicht, ist nicht nur ein entscheidender Indikator für die Qualität theologischen Urteilens und religiösen Wirkens. Sie ist von konstitutiver Bedeutung auch für die den biblischen Texten je und je zuerkannte Autorität selbst, denn Autorität ist etwas, was sich im Rahmen konkreter Kommunikationssituationen anbahnt und erweist – oder eben nicht einstellt. Das gilt für alle Formen bibelbezogener Kommunikation im Gottesdienst, also – im Duktus von Alexander Deeg formuliert – für das gelesene, gepredigte, gesungene, gebetete oder ritualstiftende Wort.3 Wo sich Autorität nicht im Kommunikationsgeschehen bildet (auch der Überlieferungsprozess ist als Kommunikationsprozess beschreibbar), wird Autorität umso mehr proklamiert, gefordert oder versuchsweise erzwungen – wobei freilich nicht Autorität erzwungen wird, sondern 1 Bearbeitete Fassung der Erstveröffentlichung in: ZThK 111 (2014), 103–126. 2 Wilfried Engemann: Lebensgefühl und Glaubenskultur. Menschsein als Vorgabe und Zweck der religiösen Praxis des Christentums, in: WzM 65 (2013), 218–237. 3 Vgl. die von Alexander Deeg skizzierte Systematik zum Verständnis des Gottesdienstes als »WortKult« in: Alexander Deeg: Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt. Überlegungen zu einer evangelischen Fundamentalliturgik (APTLH 68), Göttingen 2012, 496–532.

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Wilfried Engemann

nur eine Geste scheinbaren Gehorsams. Außerdem verliert Autorität unter Zwang oder Druck ihren eigentlichen Charakter: das allgemein anerkannte Ergebnis ihrer Wirkung zu sein. Der innere Zusammenhang zwischen der Art des Umgangs mit biblischen Texten im Rahmen von Gottesdienst und Predigt einerseits und der faktischen, kommunikativ wirksamen Autorität dieser Texte andererseits ist sehr sensibel und für Störungen entsprechend anfällig. Darunter leidet übrigens nicht nur die Autorität der Schrift, sondern dadurch verblasst auch ihre »Heiligkeit«. Wir kommen darauf zurück. Aus diesen Vorbemerkungen ergibt sich, dass wir uns (1) mit spezifischen Problemen einschlägiger, in Praxis und Theorie anzutreffender Verständnisweisen von Schriftautorität befassen müssen. Das erfordert (2) eine Erörterung der »Autorität der Schrift« als Kommunikationsbegriff und hermeneutische Kategorie. Vor diesem Hintergrund kommt es (3) zu einer Auseinandersetzung mit verschiedenen Autoritätsmodellen und ihrer Bedeutung für die Beurteilung der Autorität biblischer Texte.

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Wechselbeziehung zwischen dem Umgang mit der Schrift und der ihr zugeschriebenen Autorität. Beobachtungen und Problemanzeigen

Ich beginne mit Beobachtungen aus meiner Arbeit mit Theologie-Studierenden. Viele von ihnen sind sich zumindest grundsätzlich darüber im Klaren, dass sie es mit Literatur zu tun haben, wenn sie sich im homiletischen Seminar mit biblischen Texten befassen. Das heißt, sie wissen im Grunde, dass biblische Texte im Prinzip unter denselben Bedingungen entstanden sind, wie Texte heute entstehen, wenn Menschen schreiben und damit zu erkennen geben wollen, was sie unter einem Leben aus Glauben verstehen. Biblische Texte als Literatur verstehen zu können, bedeutet ferner, gelten zu lassen, dass sie weder als Predigttext gedacht noch überhaupt für uns heute geschrieben worden sind. Deshalb werden die meisten biblischen Texte – wie andere antike Texte auch – in der Regel falsch verstanden, wenn man sie nicht interpretiert, wenn man sie wörtlich nimmt, ohne sich als Leser einem – auf verstehende Lektüre zielenden – exegetisch-hermeneutischen Verfremdungs- und Aneignungsprozess auszusetzen. Weil derartige Prämissen so wichtig sind, werden in exegetischen Seminaren gleich mehrere methodische Verfahren und ein entsprechend umfangreiches Spezialwissen vermittelt, das man sich angeeignet haben muss, bevor man – meist im letzten Drittel des Studiums – mit der praktisch-theologischen Fortsetzung des Umgangs mit Texten konfrontiert wird. Fortsetzung hieße aber, an erworbenes Wissen anzuschließen, es zu vertiefen und sich

Worin besteht die Autorität der »Heiligen Schrift«?

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dadurch die Arbeit an einem eigenen Text – in diesem Fall der Predigt – gleichzeitig zu erschweren und zu erleichtern. Einfach zu sagen, was dasteht, ist leicht; zu sagen, inwiefern sich eine Predigt darauf beziehen sollte – und was dann bedeutet, was da steht –, ist schwierig. Andererseits weisen die Texte in ihrer Widerständigkeit, Impulssetzung und je eigenen Wahrheit Wege des Verstehens, die die Predigtarbeit erleichtern.

In den hermeneutischen Debatten homiletischer Seminare, in den späteren Ausarbeitungen, in den Predigten selbst sowie – in einer eigentümlichen Parallelität – teilweise auch im gottesdiensttheoretischen Diskurs der Gegenwart zeigt sich jedoch immer wieder, dass die erworbenen exegetischen Grundlagen der Interpretation kaum hermeneutische Konsequenzen haben.4 Einer scheinbaren Aufgeklärtheit über die Entstehungsgeschichte eines Briefes, Liedes, Gleichnisses oder einer Jesuserzählung steht später in der Predigt oftmals eine unvermittelte, hermeneutisch ungebrochene, direkte »Verkündigung« von Einzelsätzen des Textes als »Wort Gottes« gegenüber, denen man sich zu beugen müssen glaubt. Ein solcher Kontinuitätsbruch zwischen theologischer und religiöser Praxis wird nun aber interessanterweise nicht als Verletzung der Autorität der Schrift empfunden – was man ja durchaus erwarten könnte. Vielmehr beherrscht das Bewusstsein, im Gehorsam gegenüber der Schrift »ungeschminkt weitersagen« zu müssen, »was dasteht«, die Arbeit mit dem Text. Diese Gefolgschaft wird häufig mit psychologischen und kommunikationstheoretischen Gründen gerechtfertigt bzw. mit menschlichen Defekten begründet: »Ich darf doch nicht nur die Dinge sagen, die mir persönlich gefallen.« »Es ist doch falsch, sich aus Gottes Wort das Angenehme herauszupicken und das Unangenehme zu verschweigen.« »Der Glaube ist nicht zum Wohlfühlen da.« »Wo, wenn nicht im Gottesdienst, muss man mit dem Menschen auch mal Tacheles reden!« In der hier angedeuteten Auslegungspraxis richtet sich die Autorität der Schrift fast durchgängig gegen das Menschsein des Menschen, insbesondere gegen eine ihm unterstellte, antiautoritäre Natur. Dank der Autorität der Schrift – so eine der typischen Konstruktionen – kann er Gott nicht mehr ausweichen. Vor ihr steht der Einzelne unversehens mit dem Rücken zur Wand. (Der Gedanke, dass 4 Vgl. exemplarisch für viele andere Texte Egbert Ballhorn: Die Bibel – das performative Buch. Das fruchtbare Spannungsfeld vom Bibel und Liturgie, in: BiLi 80 (2007), 243–250. So werden zum Beispiel in einem Essay über performative Aspekte des Umgangs mit biblischen Texten historisch-kritische Einsichten mit unmittelbar religiösen Aussagen vermischt. Wie selbstverständlich wird von der Bibel als Subjekt gesprochen: »Die Bibel in allen ihren Texten […] will die Menschen ergreifen« (244). Die »Bibel in gerechter Sprache« wird deswegen gerühmt, weil sie, »ohne Wortlaut und Bedeutung des griechischen Textes zu verlassen«, deutlich mache, »dass jeder heutige Mensch, jede Frau, jeder Mann, vom Text her gemeint« sei (245) – was weder historisch noch literaturwissenschaftlich noch hermeneutisch zutrifft. Außerdem wird die »Bibel« mit »Gottes Wort« gleichgesetzt (248), wird im Lesen eines biblischen Textes die Herausforderung gesehen, dem Wort Gottes durch die eigene Stimme die Möglichkeit zu geben, seine Wirkung zu entfalten usw. (249).

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eine verkürzte Weitergabe des Textes darauf hinauslaufen könnte, den Anwesenden etwas vorzuenthalten, worüber sie sich unmittelbar freuten, oder dass die Autorität der Schrift dazu führen könnte, Gutes an sich heranzulassen, gar den Freiraum eines Menschen zu vergrößern, statt ihn zu beschränken, findet sich kaum.) Die Kommentierungen der Textautorität haben durchweg eine den Menschen in die Schranken weisende Note, sie haben primär mit Infragestellung, Vorwurf und Gehorsamsforderung zu tun – kurz, mit Situationen, in denen ein Machtwort gesprochen werden muss.5 Sind aber Machtworte, für die die Bedingungen der Evidenz und Relevanz erklärtermaßen nicht gelten und die keiner Begründung bedürfen, überhaupt geeignet, um das Glauben-Können von Menschen zu fördern? Die Spannungen und Widersprüchlichkeiten bei der expliziten und impliziten Berufung auf Textautorität sind durch ein im engeren Sinne methodisch-hermeneutisches Missverständnis mitbedingt: Verschiedene dogmatische Aussagen über die Autorität und Bedeutung der Heiligen Schrift werden – keineswegs nur von Studierenden, sondern im Diskurs über biblische Texte allgemein – dahingehend missverstanden, dass die eigentliche Herausforderung im Umgang mit biblischen Texten in deren Aktualisierung liege, als müssten historische Aussagen historischer Texte gleichsam in aktuelle verwandelt werden, um deren Autorität entfalten zu können. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist das keineswegs zwingend: Wer unter Bezugnahme auf Texte der Vergangenheit, gleich welcher geistes- oder kirchengeschichtlichen Epoche, einen neuen Text erstellt, muss sich vielmehr darauf verstehen, Texte historisch werden zu lassen,6 die – gerade dann, wenn man sie respektiert – teilweise gar nicht aktualisiert werden können. Das hat nichts mit Historisierung zu tun, sondern bedeutet im Gegenteil, die Herausforderung anzunehmen, einem historischen Text – nachdem man ihn ausreden lassen und verstanden hat – bei Bedarf einen neuen, zeitgenössischen Text (z. B. eine Predigt) folgen zu lassen, der ganz in die Gegenwart gehört. Diese Aufgabe anzunehmen, ist eine ebenso anspruchsvolle wie respektvolle Reaktion auf die Autorität des Textes. Ihn nur oberflächlich zu paraphrasieren und dessen Aktualität zu beteuern, wäre hingegen eine Form der Autoritätsverletzung.

5 Wie die Geschichte des Autoritätsbegriffs zeigt, sind Autorität beanspruchende Machtworte immer dann fällig, wenn Einsicht und Argumente nicht mehr tragen; Autorität wird in diesen Fällen gerade aus einem Mangel an Evidenz, also gewissermaßen als Ersatzbeweis für die Legitimität des jeweils erhobenen Anspruchs, einer Behauptung etc. geltend gemacht. Aussagen, die jedermann einleuchten, die also mehr als »nur wahrscheinlich« sind, bedürfen in der Regel keiner zusätzlichen Autorität, um auf Zustimmung zu stoßen. Vgl. die Artikel von Walter Veit, Hannah Rabe und Kurt Röttgers: Art. Autorität I–III, in: HWPh 1 (1971), 724–733. 6 Vgl. zu dieser Frage Wilfried Engemann: Einführung in die Homiletik (UTB 2128. Theologie), Tübingen 22011, 123–137.

Worin besteht die Autorität der »Heiligen Schrift«?

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Warum sollte man zum Beispiel eine Bitte in einem Brief an einen Freund vor 200 Jahren »aktualisieren«? Warum sollte man es mit der Aktualisierung eines etwa 3000 Jahre alten Hymnus – gedichtet und komponiert nach dem erfolgreichen Sieg über die Feinde (vgl. das Deborahlied Ri 5,1–31) – so weit bringen, dass man am Ende der Predigt den Eindruck hat, als sei dieser Text wie für heute geschrieben und verdiene deshalb Respekt? Warum sollte man die Geschichte von der gerade noch abgewendeten Opferung Isaaks (Gen 22,1–19) oder die Erzählung über die erste Leidensankündigung (Lk 9,18–22) als immer noch aktuell erscheinen lassen? Entscheidender ist es, von der Gestalt und der Pointe sowie von der Intention und Wirkung eines Textes ein so deutliches Bild zu gewinnen, dass analoge Themen, Kontexte und Herausforderungen in den Blick kommen, die sich in einer neuen, unmittelbar verständlichen Erzählung konstituieren können.

Die Relevanz eines Textes liegt nicht darin, dass sein früherer Sinn wiederum aktuell werden müsste. Hermeneutische Verfahren – wie etwa die Analogiebildung – sind viel komplexer. Die Pointe einer biblischen Erzählung verstanden zu haben, heißt demnach auch nicht, sie zu bejahen oder es nun einfach auch »so« zu machen, auch »so« zu denken oder sich mit dem Helden bzw. der Heldin der Geschichte – gar mit Gott – zu identifizieren. Ausschlaggebend ist, dass ein Prediger seinem Text so weit auf den Grund gekommen ist, dass er ihn mit einer veränderten Sicht der Dinge gleichsam wieder »verlassen«, über ihn hinausgehen kann, und mit dem Wissen, das er der Auseinandersetzung mit dem Text verdankt, auf gegenwärtige Fragen eines Lebens aus Glauben zu sprechen kommen kann. Das ist etwas grundsätzlich anderes als die »Aktualisierung eines Textes«. Die Auffassung Peter Cornehls, die Aufgabe des Gottesdienstes bestehe darin, Menschen in den Lebensraum der Bibel einzuführen und ihnen zu helfen, darin zu wohnen,7 hat nur die Anfangssequenz des Umgangs mit biblischen Texten im Blick. Entscheidend ist letztlich nicht, ob Menschen von ihrem Leben her endlich die Bibel verstehen, sondern ob sie sich mit der gewonnenen biblischen Kompetenz auf ihr Leben verstehen, ob sie also mit den Heiligen Texten etwas in dem Lebensraum anfangen können, der nicht die Bibel ist. Einen biblischen Text zu verstehen heißt, etwas genereller formuliert, ihn als Zeugnis eines bestimmten Lebens- und Glaubenskonzepts in den Blick zu bekommen – und in diesem Sinne natürlich auch als eigensinnige Autorität. Ob eine solche Annäherung an den Text auf eine heilsame Verunsicherung und Infragestellung, auf eine notwendige Distanzierung, überraschende Bestätigung oder worauf auch immer hinausläuft, muss sich je und je herausstellen. Ein Text verliert jedenfalls nicht an Autorität, wenn wir in einen Dissens zu ihm geraten

7 »Der Gottesdienst dient den Menschen dadurch, dass er sie einführt in den Lebensraum der Bibel und hilft, darin zu wohnen.« Peter Cornehl: Der Evangelische Gottesdienst. Biblische Kontur und neuzeitliche Wirklichkeit 1. Theologischer Rahmen und biblische Grundlagen, Stuttgart 2006, 298.

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bzw. wenn er uns eine Art der Daseinsbewältigung vor Augen stellt, die wir uns heute nicht mehr zu eigen machen wollen.8 Grobe Applikationen von als »Wort Gottes« ausgegebenen Textzitaten auf die Gegenwart gehen meist mit ebenso groben Situationsverständnissen einher. Eine entsprechende Analyse homiletischer Vorarbeiten Studierender legt die Vermutung nahe, dass eine Ursache für dieses Vorgehen im jeweils vorherrschenden Textverständnis liegt: Wenn Bibeltexte in ihrem Wesen nicht als Glaubenszeugnisse menschlicher Daseinsbewältigung, sondern als uns von außen erreichende Gottesworte verstanden werden, ist es schwierig, ihre Autorität in der Glaubwürdigkeit ihres Zeugnisses zu sehen. Biblische Texte können aber gar keine theologische Bedeutung, geschweige denn eine religiöse Autorität gewinnen, wenn sie nicht zuvor als Menschentexte, als Zeugnis plausibel geworden sind, so dass ersichtlich ist, wofür sie geschrieben und gebraucht wurden – und welcher Erfahrungskern sie bestimmt. Der Autorität eines biblischen Textes wird keineswegs das Wasser abgegraben, wenn der Glaube eines Menschen sein Entstehen, seinen Gehalt und seine Intention bestimmt. Im Gegenteil: Die Erfahrung bzw. der Akt des Glaubens ist eine ausgesprochen intensive, markante Form der Anerkennung der Autorität Gottes, eine Kategorie, die wir beim Thema »Schriftautorität« implizit mitbearbeiten. »Autorität Gottes« wird nirgends so unbedingt – wenn auch indirekt – greifbar, wie im Glaubenszeugnis, mit dem sich ein Mensch in Freiheit aus für ihn zwingenden Gründen auf eine Haltung oder Aussage festlegt, zu einer Entscheidung kommt und sagt: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.« Anders gesagt: Die Erfahrung der »Autorität Gottes«, die sich im Akt des Glaubens manifestiert, ist gewissermaßen der äußerste Bezugspunkt für die Erörterung dieses Begriffs überhaupt. Die unkommentierte, nicht metaphorisch gemeinte, sondern tatsächlich so gedachte Gleichsetzung der Bibel mit Gottes Wort wird meist mit fragwürdigen Alternativen gerechtfertigt – die natürlich zum Verständnis des Genus der Heiligen Schrift ausscheiden. So kann man zwar z. B. immer wieder lesen, dass die Bibel eben »kein Geschichtsbuch«, »kein unterhaltsamer Groschenroman« und »kein Heilsfahrplan« sei. Aber was ist sie dann?! Obwohl in fast allen Fällen ein anspruchsvolles exegetisches Wissen dokumentiert wird, bleibt es am Ende meist bei der Feststellung, »dass die Bibel Gottes Wort an uns enthält, und nicht bloß ein religionsgeschichtliches Dokument«9 darstelle. Es gibt dagegen nur wenige Beiträge – wie etwa von Michael Meyer-Blanck –, die sich explizit mit der »Me-

8 Ich denke dabei z. B. an die Aufforderung zu einer Praxis radikaler bzw. rigoroser Nachfolge, an das Prinzip Jesu, die Wiederverheiratung Geschiedener für Ehebruch zu halten und sie daher abzulehnen u. a.m. 9 Achim Behrens: Verstehen des Glaubens Eine Einführung in die Fragestellung evangelischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 2005, 185.

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taphorizität«10 der Rede vom »Wort Gottes« auseinandersetzen und plausible Argumente für diesen Topos finden, ohne dabei die Prinzipien menschlicher Kommunikation vergessen zu machen. Die Störanfälligkeit des Zusammenwirkens von respektvollem Verstehen, beigemessener Bedeutung und empfundener Autorität zeigt sich natürlich nicht nur in homiletischen Seminaren, sondern auch in anderen Zusammenhängen, in denen Menschen im Gottesdienst bzw. in der Vorbereitung darauf mit der Bibel zu tun haben. Ich denke dabei u. a. an eine bestimmte Predigtroutine, durch die Pfarrer für alles, was sie der Gemeinde zu sagen haben, ein scheinbar unabweisbares Schriftwort zur Hand haben, um sich die nötige Autorität zu verschaffen. Dabei spielt es keine Rolle, dass der Text, aus dem sie zitieren, etwas völlig anderes bezeugt als das, wofür er plötzlich Zeuge sein soll. Wo bleibt da der Respekt? Zitate dieser Art sind nicht selten die Kehrseite einer von den Predigern selbst empfundenen mangelnden Schlüssigkeit der eigenen Rede, der man eine stärkere Wirkung verschaffen möchte, als sie sie von sich aus hat. Für einen auf Reden, Hören und Verstehen abgestellten Kommunikationsprozess ist es natürlich ein Desaster, Aussagen, die man selbst nicht versteht, durch das Zitieren von Schriftautorität plausibel erscheinen zu lassen. Ich habe ferner den einen oder anderen Lektor vor Augen, der ein so starkes Bewusstsein von der Autorität der von ihm im Gottesdienst zu verlesenden Texte hat, dass er völlig darauf verzichtet, durch Betonungen im Vortrag interpretatorische Akzente zu setzen. Dadurch könnte er den Hörenden immerhin zu verstehen geben, was er da eigentlich liest, worum es eigentlich geht. Weil er aber nicht entscheiden kann oder will, was am Text wichtig, wie er also zu lesen ist, betont er möglichst jedes Wort, was wiederum das Verstehen der Texte und ihrer Pointen behindert. Hier begegnet uns ein Verständnis von Autorität, das Unterordnung und Selbstzurücknahme impliziert. Angesichts der Autorität der Schrift sehen sich viele Lektoren vor der Aufgabe, vor allem nichts falsch zu machen, als hätten sie sich nicht darum zu kümmern, was die von ihnen verle10 Vgl. Michael Meyer-Blanck: Die Dramaturgie von Wort und Sakrament. Homiletisch-liturgische Grenzgänge im ökumenischen Horizont, in: PTh 96 (2007), 160–171. Dort finden sich v. a. zwei Aspekte, die zur Annäherung an die Rede von Gottes Wort herangezogen werden können: (1) »Das Wort [Gottes] ist das Geschehen, in dem sich der Mensch in seiner Abhängigkeit, Freiheit und Gebundenheit bewusst wird und sich gerade so als Person angesprochen weiß. […] Die gottesdienstliche Dramaturgie erschließt die Zeichen (Worte, Musik u. a.) als religiöse Zeichen, als in diesem Sinne ansprechendes Wort.« (2) Nach Meyer-Blanck steht »Wort Gottes« »nicht zuletzt für die Tatsache, dass die christliche Erfahrung weder objektiv vorgegeben ist […], noch individueller Eingebung unterliegt, sondern dass sich der Glaube jeweils neu aufgrund des Hörens einstellt. […] das Wort Gottes ist also weder mit dem Wortlaut der Bibel noch mit dem der Predigt identisch. Gemeint ist vielmehr die Erfahrung der Christuswirklichkeit insgesamt« (ebd., 168–169).

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senen Texte beinhalteten, wenn sie sie nur vernehmbar und korrekt präsentierten. Ein solches Autoritätsverständnis entspricht zwar ganz und gar dem des antiken Boten, des Herolds, des Keryx, und der Grundidee kerygmatischer Schriftauslegung, es widerspricht aber der kommunikationspraktischen Tatsache, dass Autorität an verständlichen Inhalten haften muss, um nachhaltig zu wirken. Pathos ist kein Ersatz für Pointen. Last but not least verfügt die Gemeinde ihrerseits über eine Fülle von Zeichen, im gottesdienstlichen Umgang mit der Heiligen Schrift auch ihr Verständnis von deren Autorität auszudrücken. Besonders signifikant dafür ist das Sich-Erheben der Gemeinde grundsätzlich dann, wenn sie im Verlauf des Gottesdienstes explizit der Schrift begegnet. Sie »stellt sich« gewissermaßen der Autorität der Texte.11 In dem Respekt, der sich im »Aufstehen vor der Schrift« niederschlägt, schwingt zweifellos mehr mit als in angelernten Kommunikationsmustern für den Umgang mit sonstigen Autoritäten: Die Wertschätzung der Tradition ist auch ein selbstvergewissernder Akt – soweit man an dieser Tradition partizipiert: »So haben wir es immer schon gehalten. Das war gut so und so soll es bleiben.«

Diese Überlegungen lassen zusammengenommen erkennen, in welch hohem Maße »Autorität der Schrift« als Kommunikationsbegriff mit dem Kompetenzbegriff – bezogen auf die Kompetenz derer, die mit der Bibel im Gottesdienst agieren – verknüpft ist. Sobald die biblischen Texte in den gottesdienstlichen Prozess eingebunden werden, hängt das faktische Ausmaß ihrer Autorität mit dem Maß der theologischen, hermeneutischen und kommunikativen Kompetenz von Liturg, Prediger und Gemeinde zusammen.12 Im Interesse einer Steigerung dieser Kompetenz folgen nun ein paar Überlegungen zum Verständnis von Schriftautorität.

2

Schriftautorität als Kommunikationsbegriff und hermeneutische Kategorie

Was macht die Autorität der biblischen Texte aus? Vom Ursprung des Begriffs auctoritas her gesehen haben die Texte der Bibel Autorität, weil sie von Autoren stammen, die sich als glaubwürdig, relevant und richtungsweisend erwiesen haben. Auctor und auctoritas, Autor und Autorität haben nicht nur sprachlich dieselbe Wurzel, sie sind auch in der Sache zutiefst miteinander verschränkt: Der 11 Je nach regionalen Gewohnheiten geschieht das nicht nur bei Epistel und Evangelium. Es gibt auch den Brauch, dass die Gemeinde zu Beginn der Predigt stehend das Verlesen des Predigttextes erwartet, was wiederum ein Zeichen für die Erwartung ist, dass die sich anschließende Predigt v. a. die Aufgabe hat, den eben vernommenen Text zu vergegenwärtigen. 12 Vgl. Kurt Röttgers: Art. Autorität III, in: HWPh 1 (1971), 729–733. Röttgers bezieht sich hier (733) auf die Arbeiten zum »kollektiven« bzw. »wissenschaftlichen Anarchismus« von Michail Alexandrowitsch Bakunin.

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Begriff der Autorität wird ursprünglich, d. h. in der römischen Antike, auf einen zitierbaren literarischen Autor bezogen, auf den man aus argumentativen Gründen zurückgreift, um einer schon begründeten, wahrscheinlichen Aussage – häufig der Interpretation eines anderen Textes – ein noch größeres Gewicht zu geben. Gebraucht wurden solche Autoritäten vor allem in politischen und gerichtlichen Auseinandersetzungen, in denen es in Rede und Gegenrede um Begründungen ex auctoritate13 ging. Nach Cicero kommen als solche Autoritäten vor allem angesehene Redner, Philosophen, Dichter und Geschichtsschreiber in Betracht, »aus deren Aussprüchen und Schriften man oft eine Gewähr (auctoritas) für das schöpft, was man geglaubt wissen will«14. Besondere Relevanz hat Autorität als patrum auctoritatis im juristischen bzw. im Rechtskontext, wo sie als »Macht zu authentischer Urheberschaft der Gesetze« und ihrer Interpretation verstanden wurde. Merkmale solcher Autorität sind iura, potestas, dignitas. In entsprechenden Kommunikationssituationen Autorität zu haben, heißt also, offenkundig im Recht zu sein, die Macht zu haben, entsprechend zu agieren, was zusammengenommen Würde verleiht.15

Als erwünschte Bekräftigung wirkt die Autorität des Zitierten jedoch nur, wenn sich die Stimme des jeweiligen Autors in vorausliegenden Kommunikationssituationen bereits als glaubwürdig, belangvoll und gut begründet erwiesen hat. Autorität ist also im Kern ein Kommunikationsphänomen und damit eine hermeneutische Kategorie. Sie ist ein Gut, das in Kommunikationsprozessen »gewonnen« wird. Sie basiert auf Hören oder Lesen und Verstehen – und, daraus resultierend, auf wertschätzendem Respekt. Einmal erworben, wird sie den betreffenden Personen gern auch von anderen »verliehen«. Gleichwohl muss sie sich immer wieder bewähren, sonst »verliert sich« Autorität, sie »geht verloren«, »schwindet« und wird nicht mehr als Autorität empfunden. Ins Feld geführt wird Autorität klassischerweise als zitiertes Zeugnis konkreter Personen, als erfahrungs- und weisheitsgesättigte Aussage, die – so ist zu erwarten – prüfender Nachfrage, skeptischen Einwänden und rationalen Gegenargumenten standhalten kann. So gesehen ist Autorität ein nicht erzwingbarer Widerhall von Kommunikationsprozessen. Sie bildet sich als Nachklang der Erfahrung von Respekt. Autorität ist also phänomenologisch im Grunde eine

13 Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 1960, 102, 234–235. In dieser Sprachform sind die Begriffe »Autor« und »Autorität« sinnenfällig verschmolzen: Ex auctoritate heißt sowohl »auf Basis einer Autorität« wie »von einem angesehenen Autor bezeugt«. 14 Cicero, Topica 78 (hg. v. Tobias Reinhardt: Marcus Tullius Cicero, Topica [OCM], Oxford 2003, 158,8–9; Übers. Georg Heinrich Moser: Marcus Tullius Cicero’s Werke 25. Gespräch mit seinem Sohne, über die rednerische Eintheilung. Topik […], Stuttgart 1838, 3320): ex quorum dictis et scriptis saepe auctoritas petitur ad faciendam fidem. 15 Vgl. Hannah Rabe: Art. Autorität II, in: HWPh 1 (1971), 727–729.

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Nachwirkung vorausliegender Kommunikationserfahrungen und damit Nebenprodukt gelingender Kommunikation. Diese Tatsache hat ihre Spuren auch im Sprachgebrauch hinterlassen: Bemerkenswerterweise gibt es kein positiv konnotiertes Adjektiv oder Adverb zum Begriff der Autorität. Wenn man von einem Pfarrer, Politiker oder Lehrer – von Personen also, denen Autorität zuerkannt werden sollte – sagt, sie seien »autoritär«, wird meist ein unpassendes (anmaßendes, diktatorisches, gebieterisches) und, weil die Autorität fehlt, im Grunde lächerliches Kommunikationsverhalten unterstellt. Wer – von juristischen Kommunikationszielen abgesehen – auf seine Autorität pochen muss, hat seine Wirkung als Autorität offenbar verfehlt. Wem Autorität zugestanden wird, der braucht nicht darauf zu pochen. Selbst der in der modernen Pädagogik ernsthaft diskutierte autoritative Stil16 bleibt trotz positiver Forschungsevaluationen aufgrund der mit ihm verbundenen Kommunikationsrisiken nach wie vor der Kritik ausgesetzt.17

Vor dem Hintergrund dieser kleinen Spurensicherung zum Autoritätsbegriff wäre im Blick auf die Autorität der Schrift skizzenartig festzuhalten: – Auch die Autorität der biblischen Texte ist das Ergebnis eines hermeneutischen Prozesses. Bevor ihr Zeugnis als solches nicht als glaubwürdig empfunden, verstanden und infolge dessen als bedeutsam erkannt wird, kann es niemandem zur Autorität werden. – Ihre Autorität konstituierende Überzeugungskraft und Wertschätzung gewinnen biblische Texte gerade dadurch, dass sie als existenzrelevante Lebensund Glaubenszeugnisse von Menschen nachvollziehbar sind und keine Maßstäbe oder Maximen vorgeben, die sich Menschen schlechterdings nicht zu eigen machen können. – Auch die Autorität der Überlieferung dieser Texte ist das Ergebnis eines hermeneutischen Prozesses. Schließlich sind die Texte selbst Tradition. Ihre faktische Autorität ist das nicht erzwingbare, weithin vernehmbare Echo auf vorausliegende Kommunikationserfahrungen mit den überlieferten Texten. – Glaubende rezipieren Texte der Tradition und geben sie weiter, weil sie Gründe haben, ihnen mit einem Vertrauensvorschuss zu begegnen und sie als Autorität anzuerkennen. So setzen sie die Tradition fort und sind damit potentiell selbst »Autorität«. – Es liegt auf der Hand, dass der Autorität der biblischen Texte nicht durch Bejahung, Zustimmung oder Für-wahr-Halten entsprochen wird. Sie erheben den Anspruch, als glaubwürdiges Zeugnis anerkannt zu werden und damit ein gültiges Muster für ein Leben aus Glauben zu sein. Als Glaubenszeugnissen kommt den biblischen Texten, wie oben erläutert, die höchstmögliche Auto16 Jakob R. Schmid: Antiautoritäre, autoritäre oder autoritative Erziehung? Eine grundsätzliche Abklärung, Bern 21975. 17 Vgl. Ruth K. Chao: Interpretations of Parental Control by Asian Immigrant and European American Youth, in: Journal of Family Psychology 23 (2009), 342–354.

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ritätskategorie zu. Sie ringen heutigen Lesern und Hörern noch immer eine Stellungnahme ab. Dieser Prozess schließt nicht aus, sondern ein, zu einem eigenen Urteil (in der Sprache der Tradition: zu einem »Bekenntnis«) im Blick auf das eigene Verständnis eines eigenen Lebens aus Glauben zu gelangen. Unter den protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts ist Gerhard Ebeling dieser hermeneutischen Annäherung an das Sola scriptura besonders nahe gekommen: Er hat die Autorität der Texte seinerseits auf die »Autorschaft« im Formulieren von Glaubenszeugnissen bezogen, ohne die die Tradition ersticken und die Gemeinde zugrunde gehen würde.18 Das heißt für das Verständnis des Sola-scriptura-Prinzips: Auch die in der Bibel verschrifteten Zeugnisse sind eine »Zwischenstation« in der Überlieferung des Glaubens. Sie sind Teil einer Kette von Zeugnissen, die daraus resultieren, dass Menschen sich »nach hinten« auf die Tradition beziehen und sie interpretieren, und dabei gleichzeitig – indem sie das tun – in die Glaubenskultur der Christenheit ein neues Zeugnis hineintragen. Im Hinblick auf das Verständnis des Glaubens gibt es also eine Art »hermeneutischen Sukzessivs«19, der z. B. auch bei der Vorbereitung einer jeden Predigt greift: Nachdem ein Erzähler erzählt (vorbiblische Tradition), ein Autor geschrieben (biblische Tradition) und jemand eine Interpretation (homiletische Tradition) dazu geliefert hat, sind jetzt die Hörer an der Reihe, ihren Part zu übernehmen. Weil es um sie geht, können sie die Deutung anderer nicht übernehmen, ohne sie in eigener Person zu spezifizieren. In dieser Hinsicht ist der weit ausholenden Kommentierung des Schriftprinzips durch Joseph Ratzinger zuzustimmen: Zum Begriff »Offenbarung« [gehört] immer auch das empfangende Subjekt: Wo niemand »Offenbarung« wahrnimmt, da ist eben keine Offenbarung geschehen, denn da ist nichts offen geworden. Zur Offenbarung gehört vom Begriff selbst her ein Jemand, der ihrer inne wird. [Daher] liegt Offenbarung der Schrift voraus und schlägt sich in ihr nieder, ist aber nicht einfach mit ihr identisch. Das aber heißt dann, dass Offenbarung immer größer ist als das bloß Geschriebene. Und das wieder bedeutet, dass es ein reines »sola scriptura« […] nicht geben kann, dass zur Schrift das verstehende Subjekt Kirche gehört, womit auch schon der wesentliche Sinn von Überlieferung gegeben ist.20 18 Gerhard Ebeling spricht explizit von »Autorität im Sinne von Autorschaft, Urheberschaft« [des Glaubens] im Sinne von Zeugnissen. Das heißt für ihn u. a.: »Die Bibel hat ihren eigentlichen Ort nicht da, wo über den Glauben geurteilt wird, sondern da, wo der Glaube hervorgerufen wird« (vgl. Gerhard Ebeling: Das Wesen des christlichen Glaubens, Stuttgart 1959, 33–35). 19 Vgl. Wilfried Engemann: Der Spielraum der Predigt und der Ernst der Verkündigung, zuletzt in: ders.: Personen, Zeichen und das Evangelium. Argumentationsmuster der Praktischen Theologie (APrTh 23), Leipzig 2003, 141–166, bes. 145–154. 20 Joseph Ratzinger: Aus meinem Leben. Erinnerungen (1927–1977), Stuttgart 1998, 84. Der Fixierung Ratzingers auf das Subjekt Kirche ist allerdings zu widersprechen, sofern deren

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Auf derselben Ebene ist – kommunikationswissenschaftlich und hermeneutisch gesehen – auch die Apostrophierung der Bibel als »heilige Schrift« zu vergegenwärtigen. »Heiligkeit« ist, genau wie »Autorität«, ein relationaler Begriff. Das Prädikat »heilig« ist eine Bilanz von Kommunikations- bzw. Rezeptionserfahrungen, in denen Texte, Orte und Gegenstände durch ihren Gebrauch zu heiligen Texten, heiligen Orten und heiligen Gegenständen werden. Sie verkörpern eben genau den Glauben, den man sich mit ihrer Hilfe angeeignet hat, und sind auf diese Weise Bestandteil kollektiver und persönlicher Identität geworden, was sie zu heiligen Texten, Orten und Gegenständen werden lässt. Glaubende interpretieren sich mit ihnen. Sie können mit Bezug auf das, was ihnen heilig geworden ist, sagen, wer sie sind.21 Was die Texte betrifft: Natürlich sind sie im Prinzip durch andere Texte, neue Glaubenszeugnisse ersetzbar bzw. ergänzbar.22 Was diesen jedoch (zunächst) fehlt, ist eine in Tausenden von Jahren geschwollene Bedeutungs-Schwere, das Ansehens-Gewicht, der erwiesene Gebrauchswert, der dazu führte, dass die Ekklesia sich diese Texte zu eigen machte und zu einem »Buch der Kirche«23 vereinte, wie Willi Marxsen die Autorität der Schrift treffend apostrophierte. Die noch in den neuesten Erläuterungen zum Bibelgebrauch im Gottesdienst anzutreffende Überhöhung des Buchs der Kirche zum Buch bzw. Wort Gottes hat die faktische Autorität der Bibel keineswegs nur gestärkt, sondern ihr bisweilen auch das Grundwasser abgegraben, das ihr aus glaubwürdigen menschlichen Glaubens-Zeugnissen zufließt. Es hat nichts damit zu tun, die Autorität Gottes in Frage zu stellen, wenn man die Zeugnisse, die von ihm künden, als eine literarische Spurensicherung der Glaubens- und Freiheitskultur des Christentums versteht, die die Bibel zu einem einzigartigen Vademecum für ein Leben aus Glauben macht. Aber das rechtfertigt nicht, den Gottesdienst von seinem Wesen her faktisch als Bibelkult zu verstehen. Das Christentum ist ein Glaubens- und Freiheitskult. Zu diesem Kult gehört es, sich auf Einsichten, Überzeugungen und

institutionelle Subjekthaftigkeit immer nur die Folge einer Verständigung individueller Subjekte sein kann. 21 In gewisser Hinsicht verhält es sich mit der Heiligkeit der Schrift wie mit der Würde des Menschen. Heiligkeit und Würde kommen jeweils sub communicatione zur Geltung. Für ihre faktische Wirkung hängt alles davon ab, dass sie wahrgenommen und respektiert werden, unabhängig davon, ob und wie sie in dogmatischen und anthropologischen Konzepten auch als ontologische Gegebenheiten definiert werden. 22 Es gibt eine Fülle von anerkanntermaßen gewichtigen Texten der Glaubensgeschichte der Christenheit – stellvertretend sei an die Gebete und Briefe Dietrich Bonhoeffers erinnert –, die als zutiefst menschliche Zeugnisse unzweifelhaft Autorität gewonnen haben, ohne dass jemand bedauern würde, dass sie »nicht von Gott stammten«, weil ihnen das noch mehr Autorität verschaffte. 23 Vgl. Willi Marxsen: Das Neue Testament als Buch der Kirche, Berlin ²1967.

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Probleme derer zu beziehen, die diesen Kult mitgeprägt und uns dafür entsprechende Urkunden zur Verfügung gestellt haben. Martin Nicols leidenschaftliches Plädoyer für die Wiedergewinnung der Bibel als »Kultbuch« geht von Prämissen aus, die einige seiner Hinweise in Richtung einer Stärkung der »Ritualität des Wortes«24 fragwürdig erscheinen lassen. Dazu gehört das einseitige Interesse an einer rituellen Einbettung der Wortgestalt der Überlieferung, die damit verbundene Fixierung auf »das Wort« als Element an der Oberfläche der Welten eines Textes sowie die faktische Inanspruchnahme Gottes als Subjekt dieses Wortes.25 Die offenbarungstheologische Argumentation Karl Barths wird unhinterfragt zur Basis der »liturgischen Aufgabe, die drei Gestalten [des Wortes Gottes] im Wechselspiel zu halten«26. Die Gestalten der biblischen Texte stehen aber für etwas und weisen auf etwas, was sie nicht selbst sind oder bieten. Sie sind, hermeneutisch formuliert, Vehikel. Sie konfrontieren in Form von Bildern, Symbolen und Gleichnissen mit Lebens- und Glaubensgeschichten, die samt und sonders der Übersetzung und Aneignung bedürfen. Damit sind diese Texte jedoch (hermeneutisch in Bezug auf Leser und Hörer formuliert) auch Medium für Erfahrungen, Visionen, Fragen, Gewissheiten und Gefühle jetzt und hier. Nach meiner Überzeugung funktioniert diese Praxis. Die ihr entsprechende Gottesdienstkultur ist ein Erfolgsmodell. Martin Nicol beklagt demgegenüber, dass sich bei den Protestanten durch »das Postulat der Verstehbarkeit« – also durch die Aufklärung – und eine entsprechende historisch-kritische Hermeneutik die »Ritualität des Bibelbuches« als Gottes Wort »verflüchtigt« habe,27 wofür es aus meiner Sicht keine stichhaltigen Indizien gibt. Gleichwohl kommt ihm das Verdienst zu, auf die möglichen Auswirkungen liturgischer Nachlässigkeit im Umgang mit biblischen Texten aufmerksam gemacht und daran erinnert zu haben, dass ein in ritueller Hinsicht stärker reflektierter Umgang mit der Bibel im Gottesdienst eine wirksame Form der Stärkung ihrer Autorität ist.

Fragt man nun, welcher ganz andere rituelle Umgang mit der Bibel in den protestantischen Gottesdiensten Praxis werden sollte, wenn doch – so Martin Nicol – der jetzige alles andere als ermutigend sei,28 so lautet die Antwort: »Was eine 24 Martin Nicol: Kultbuch Bibel. Für die Ritualität des Wortes, in: ders.: Weg im Geheimnis. Plädoyer für den Evangelischen Gottesdienst, Göttingen 2009, 135–163, vgl. bes. 141–144. 25 Bei der Bibel handelt es sich »um Gotteswort in Gestalt der Worte, Bilder und Geschichten der Bibel« (Nicol: Kultbuch Bibel [s. Anm. 24], 144). 26 Nicol: Kultbuch Bibel (s. Anm. 24), 140. 27 Nicol: Kultbuch Bibel (s. Anm. 24), 135 u. ö. 28 Vgl. Nicol: Kultbuch Bibel (s. Anm. 24), 148. Eine nachvollziehbare Begründung für diese, m. E. nicht ganz ohne mystische Prämissen auskommende These findet sich bei Nicol m.W. nicht. Immerhin ist die Bibel, wie von seinem Schüler Alexander Deeg (s. o. Anm. 3) völlig richtig beobachtet, in Lesungen, Liedern, Gebeten und in der Mahlfeier auch außerhalb der Predigt durchaus präsent, und zwar nicht nur als geduldeter, unverständlicher Fremdkörper, sondern als willkommene Sprachhilfe, religiöse Vertiefung usw. Zu begrüßen ist, dass Nicol durch seine Sensibilisierung für angemessene Umgangsformen mit der Textgestalt bzw. dem Bibelbuch einer nassforschen In-Beziehung-Setzung von Tradition und Situation entgegengewirkt hat.

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Ritualität des Wortes wesentlich ausmacht, [ist] das liturgische Urvertrauen, dass das Wort der Bibel in Lesungen, Liedern, Gebeten und biblisch verwurzelten Sprachakten die Gemeinde auf dem gottesdienstlichen Weg im Geheimnis auch ohne Predigt verlässlich leitet.«29 Hängt aber ein angemessener Umgang mit biblischen Texten wirklich davon ab, ob ich als Teilhaber der Glaubenskultur des Christentums zusammen mit dem Pastor und der Gemeinde den Level eines »liturgischen Urvertrauens« erreiche? Und sollte ich dieses Vertrauen jeglichen Texten der Bibel gegenüber aufbringen, nur weil sie ins Bibelbuch gekommen sind? Das faktische Ausspielen des Vertrauens in die Textgestalt gegen das Verstehen ihres Inhalts führt unter Umständen in Aporien30 – zumal die Möglichkeit besteht, dem Inhalt eines Textes gerade deshalb nicht vertrauen zu wollen, weil man ihn versteht. Damit kommen einige Probleme mit der Autorität der Schrift in den Blick, die aus verschiedenen, latent wirkenden Autoritätsmodellen resultieren und auch die Gottesdienstkultur mitbestimmen.

3

Diskussionspunkte der Autoritätsfrage und ihre Konsequenzen für das Agieren mit biblischen Texten im Gottesdienst

3.1

Zum Verhältnis von Autorität und Freiheit

Der Prozess, den wir im Fachjargon »Kommunikation des Evangeliums« nennen, hat Subjekte im Blick, die durch die Kraft des Glaubens unter anderem zu einem Leben in Freiheit befähigt werden sollen. Somit kommen für eine christliche, Bibeltext-bezogene religiöse Praxis in Liturgie, Predigt, Seelsorge, Unterricht usw. nur solche Autoritätskonzepte in Betracht, die auf jegliche Elemente der Unterwerfung, Bevormundung und sonstige, subalternem Denken geschuldete Prinzipien verzichten. In juristischer Hinsicht, für die Praxis des Rechts, ist es bis zu einem gewissen Grade legitim, bei der Definition von Autorität – Modell A – beim Machtsubjekt anzusetzen. Dessen Autorität wird gesetzlich festgestellt. Vom Machtsubjekt wird

29 Nicol: Kultbuch Bibel (s. Anm. 24), 144. 30 Diese Aporien können m. E. auch nicht mit dem wiederholten Hinweis auf einen »Weg im Geheimnis« aufgefangen werden (vgl. das Zitat zu Anm. 24), weil weder das Geheimnis Gottes noch das Geheimnis des Menschen oder die Substanz des Glaubens in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Gestalt biblischer Texte stehen. Vgl. Nicol: Weg im Geheimnis (s. Anm. 24), 19–42.

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verlangt, ordnend in die soziale Wirklichkeit einzugreifen, zu befehlen, zu verbieten und Ungehorsam zu strafen.31 Wenn man an der Kategorie einer zuerkannten, verliehenen, zwischen zwei souveränen Subjekten gewährten, also eingeräumten Autorität festhalten will, kommt man nicht umhin, das Verhältnis zwischen Autorität und Freiheit genauer zu bestimmen. So kann man es durchaus – Modell B – als Ausdruck von Freiheit betrachten, sich an bestimmte Gründe zu binden. Das kann sich in der Bildung von Autoritätsstrukturen äußern, die eine bestimmte Argumentation und ihre Gründe schützen. Persönlich formuliert: Jemand wird eine Autorität für mich, weil ich seine Art, die Welt und den Menschen zu betrachten und mich mir zu verstehen zu geben, schätzen gelernt habe und davon durch einen Zuwachs an Freiheit profitiere. Die Freiheit, sich an bestimmte Gründe zu binden und sich in seinem eigenen Urteil von einer Autorität – wie der eines biblischen Textes – bedingen zu lassen und deshalb »nicht anders zu können«, kann schließlich zur Basis eines auf kommunikative Resonanz bezogenen Autoritätsverständnisses werden.32 Von solch einem relationalen Verständnis von Autorität ausgehend33 ließe sich auch ein Modell C konturieren, nach dem Autorität als ein Ensemble von Konventionen verstanden werden kann, dessen Werte und Prinzipien den sogenannten großen Erzählungen entstammen, die – indem sie zirkulieren – gewissermaßen ihre eigene Geltung stabilisieren. Es wäre verlockend, die Autorität der Heiligen Schrift einmal in dieser Richtung zu entfalten – der These spottend, dass 31 Es war unter anderem die verräterische, synonyme Ineinssetzung von »Autoritäten« und »Machthabern«, die Max Weber zu einer umfassenden Autoritätskritik veranlasste. Er nahm Autorität, auf die gewohnheitsmäßig machtvoll gepocht wird, nicht nur als etwas Irrationales und Charismatisches, sondern auch als eine »gewaltmäßige« Überlegenheitskategorie wahr, die auch dann, wenn sie durch Gehorsam legitimiert sei, aus sich heraus Ordnung definiere und bei anderen »Unterordnungstriebe« auslöse. Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie 1–2, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 4 1956, 157–160, 692–695, 739–742, 837–841. 32 Der Versuch seitens der Theologie, Autorität im Kontext von Partnerschaft als »Vorschusskredit« (so Helmut Thielicke) oder »einsichtige Gefolgschaft« (Cornelius A. von Heyl) zu apostrophieren, zeichnet sich als Differenzierungsbemühung geraume Zeit vor der massiven Autoritätskritik der späten 60er Jahre ab. Vgl. entsprechende Anregungen bei Helmut Thielicke: Art. Autorität, in: RGG³ 1, Tübingen 1957, 792–794 sowie bei Cornelius Adalbert von Heyl, Art. Autorität, in: ESL, Stuttgart 41963, 129–133. In ähnlicher Weise erläutert Max Horkheimer das Zusammenspiel von Freiheit und Autorität in der Gesellschaft. In der befreiten Gesellschaft widerspreche die Autorität nicht der Freiheit, sondern »sie besorgt nur ihre eigenen zum Beschluss erhobenen Pläne, die freilich [anders als im SubalternitätsKonzept Gadamers] keine Resultanten divergierender Klasseninteressen sind« (Max Horkheimer: Kritische Theorie der Gesellschaft 1, Frankfurt a.M. 1968, 301). 33 Zu den Prämissen vgl. bereits Robert Morrison MacIver: The Web of Government, New York 2 1965, 63 sowie aus der jüngeren Vergangenheit: Tom Tyler/E. Allan Lind: A Relational Model of Authority in Groups, in: Advances in Experimental Social Psychology 25 (1992), 115–191.

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die großen Erzählungen an ihr Ende gekommen seien sowie jegliche Plausibilität verloren und ihre einstige Autorität verspielt hätten.34 Diesem Mythos kann man mit Peter Sloterdijk nur entgegnen, dass die großen Erzählungen – als Versuche, sich der Weltkomplexität zu bemächtigen – eben »nicht groß genug«35 waren. Das Interesse am Gesamtzusammenhang des eigenen Daseins ist durch den Missbrauch politischer und religiöser Autorität nicht verloren gegangen. Aber für diese Entfaltung ist hier nicht der Raum. Bleiben wir also aus pragmatischen Gründen bei Modell B: Autorität im Sinne eines Zeugnisses, von dem man sich bedingen lässt, weil man es verstanden und als lebensdienlich und freiheitsfördernd erkannt hat. Solche Autorität – da helfen alle Macht und alles Pochen auf Autorität nicht weiter – verliert ihre kommunikative Kraft, wenn sie nur behauptet bzw. »durchgesetzt« wird. Es gehört zwar zum Wesen von Autorität, dass Sätze mit dem Anspruch von Autorität nicht beweisbar sind. (Andernfalls bedürfte es keiner Autorität, die ja anstelle eines Beweises Zustimmung bewirken soll.) Gleichwohl darf sich von Mensch zu Mensch Gesprochenes nicht des Anspruchs der Begründbarkeit und damit der Plausibilität entziehen.36 Damit kommen wir zu einem weiteren Zusammenhang, der bedacht sein will, wenn man am Postulat der Schriftautorität festhält.

3.2

Zum Verhältnis von Autorität, Rationalität und Ideologie

Weil faktisch wirksame Autorität aus ergebnisoffenen Verständigungsprozessen hervorgeht und in der kommunikativen Praxis als Vertrauensvorschuss gewährt wird, war man sich schon früh der Gefahr ideologischen Argumentierens mit Autoritäten bewusst. Nicht erst in der Aufklärung, schon in der Antike wurde auf die Gefahr hingewiesen, beim Argumentieren ex auctoritate das Rationalitätsprinzip zu verletzen und den Autoritätsbonus zu missbrauchen.37 Folgt man Augustin, ist die Verletzung und Infragestellung des Rationalitäts- durch das 34 Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen (Edition Passagen 7), Wien ³1994. 35 »Wenn die bisher bekannt gewordenen großen Erzählungen – die christliche, die liberalprogressive, die Hegelsche, die marxistische, die faschistische – durchschaut sind als ungeeignete Versuche, sich der Weltkomplexität zu bemächtigen, so delegitimiert diese kritische Erkenntnis weder das Erzählen von gewesenen Dingen noch dispensiert es das Denken von der Bemühung um eine lichtstarke Optik für die fassbaren Einzelheiten des ausweichenden Ganzen. […] Das Elend der großen Erzählungen herkömmlicher Machart liegt keineswegs darin, dass sie zu groß waren, sondern darin, dass sie nicht groß genug waren.« (vgl. Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M. 2005, 12–14). 36 Vgl. auch Röttgers: Autorität III (s. Anm. 12), 732. 37 Vgl. Walter Veit: Art. Autorität I, in: HWPh 1 (1971), 724–727.

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Autoritätsprinzip unvermeidlich und sogar notwendig, denn anders als durch Autorität, so Augustin, habe das einfache Volk gar nicht die Chance, zur Wahrheit zu gelangen; es müsse zumindest durch eine gewisse Portion »Autoritätsgläubigkeit« zur Wahrheit geführt werden.38 Von der Neuzeit an über die Aufklärung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wird Autorität unter verschiedensten Gesichtspunkten als Problem diskutiert und gilt vielen Autoren – jenseits von Erfahrung und Vernunft – im doppelten Sinne als »das Letzte«, wovon sich die Erkenntnis des Menschen leiten lassen sollte. Die Berufung auf Autoritäten gerät überhaupt unter den Verdacht, Rationalität erübrigen zu sollen. »Autoritätsgläubigkeit« wird somit mehr und mehr zu einem Tabu, weil sie argumente ex ratione nicht gelten lässt und eine Rechtfertigung der Vernunft vor der Autorität fordert, was jedoch nach der Aufklärung nicht mehr plausibel gemacht werden kann.

Im Rahmen von Gottesdienst und Predigt dürfte freilich »Autoritätsgläubigkeit« weder ein erstrebenswerter noch überhaupt ein geeigneter Rezeptionsmodus für biblische Texte sein. Sofern nämlich die Autorität der biblischen Zeugnisse in dem Inhalt liegt, den sie bezeugen, sofern sie also – wie die ex auctoritateReferenzen der Antike – grundsätzlich aufgrund ihrer unzweifelhaften, durchaus verständlichen Bedeutung Autorität erlangen, kann diese unmöglich gegen das Erkenntnisprinzip, also gegen das Verstehen-Müssen der Texte als Voraussetzung ihrer Wirkung ausgespielt werden. Die Gefahr ihres Zerfalls erwächst der Autorität demnach nicht aus der Rationalität, sondern aus der Ideologie, deren Kennzeichen u. a. schwammige Inhalte, diffuse Begriffe, unüberprüfbare Verallgemeinerungen, pathetische Behauptungen und in der Regel latente Drohungen sind, zu denen man sich als Hörer aufgrund des Fehlens von Begründungen nicht verhalten kann. (Liturgische Gebete und Predigten liefern hierfür ein unerschöpfliches Illustrationspotential.) Hingegen gewinnen biblische Texte dadurch an Autorität, dass sie Eingang finden in die Kommunikation des Evangeliums, deren Indikator ein Geschehen klaren, unverwechselbaren Inhalts ist: Es dient der Zueignung und Aneignung von Freiheit, es fördert das Empfangen- und Gewähren-Können von Liebe, es bahnt die Erfahrung der Gelassenheit des Glaubens an. Wenn der Bezug auf die biblischen Texte nicht dazu taugt, den Prozess der Kommunikation des 38 Augustinus, De vera religione 122 (CSEL 77, 32,6–10 Green): Auctoritas fidem flagitat et rationi praeparat hominem, ratio ad intellectum cognitionemque perducit. Quamquam neque auctoritatem ratio penitus deserit, cum consideratur cui credendum sit; et certe summa est ipsius iam cognitae atque perspicuae veritatis auctoritas. / »Autorität verlangt notwendigerweise Glauben und macht den Menschen [zugleich] bereit für dessen rationale Durchdringung. Rationales Denken führt den Menschen zu Einsicht und Erkenntnis, allerdings ist es auch nicht völlig von der Autorität zu trennen, sofern man [schließlich] bedenkt, welcher Autorität [ jeweils] zu glauben ist. Höchste Autorität allerdings ist der bereits erkannten offensichtlichen Wahrheit zu eigen.« (Übersetzung WE).

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Evangeliums in diesem Sinne inhaltlich zu stärken und Verstehen zu evozieren, verlieren sie an Autorität.

3.3

Zur Legitimierung der Autorität der Schrift

Als Folge des in der Neuzeit ansetzenden Säkularisierungsprozesses wird in den Diskursen um Herrschaft und Autorität grundsätzlich die Frage nach einer entsprechenden Legitimität gestellt. Herrschaft wird nicht mehr – wie in der Antike – als etwas immer schon Vorhandenes oder gar – wie im Feudalismus – als etwas Gottgewolltes angesehen, sondern als etwas durch Menschen in Szene Gesetztes, zu Hinterfragendes, das einer Legitimierung bedarf. Entsprechendes gilt im Kontext von Autoritätserfahrungen. Für den Gebrauch der Bibel im Gottesdienst hat Klaus-Peter Hertzsch auf die Notwendigkeit eines sich im Vollzug legitimierenden Bibelbezugs hingewiesen, denn, so Hertzsch, man könne nicht mehr unterstellen, dass ein biblischer Text für die Gemeinde schon deshalb relevant sei, weil er aus der Bibel stamme. Für zeitgenössische Predigthörer »ist es keineswegs mehr eine selbstverständliche Voraussetzung, dass es gut und nützlich ist, biblische Texte ausgelegt und erklärt zu bekommen.« Sie fragen: »Warum sollte mich das interessieren? […] Da hilft keine grundsätzliche Belehrung […] über die Autorität der Bibel. Da hilft nur die gemachte Erfahrung: Das war für mich gut. Das habe ich wirklich gebraucht.«39 Wer einen biblischen Text überwiegend in seiner »autoritativen Funktion«40 bemüht, läuft Gefahr, in Beschwörungen der Autorität des Textes abzugleiten, statt diese Autorität – zusammen mit den Hörern – selbst als Vergewisserung zu erfahren. Das Postulat einer von sich aus legitimen Autorität der Schrift wird in der gottesdiensttheoretischen Debatte vor allem aus drei Gründen ins Feld geführt: um der Wahrheit, der Verbindlichkeit und der Verlässlichkeit des Wortes Gottes willen.41 Das Wahrheitsargument bezieht sich auf den Inhalt des Textes bzw. der Botschaft. Es wird für die durch den Text gewonnene Objektivität der Predigt in Anspruch genommen. Das Verbindlichkeitsargument wird aus der Bedeutung des Textes für die Adressaten abgeleitet; es wird im Blick auf die Relevanz der Predigt für das Glauben, Denken und Handeln der Hörer geltend gemacht. 39 Klaus-Peter Hertzsch: Predigtlehre. Erwartungen und Möglichkeiten, in: Karl-Heinrich Bieritz u. a. (Hg.): Handbuch der Predigt, Berlin 1990, (11–26) 16. 40 Vgl. Manfred Josuttis: Die Bibel als Basis der Predigt, in: Hans-Georg Geyer u. a. (Hg.): »Wenn nicht jetzt, wann dann?«. Aufsätze für Hans-Joachim Kraus zum 65. Geburtstag, NeukirchenVluyn 1983, (385–393) 387–389. 41 Vgl. ausführlicher die entsprechende Analyse bei Engemann: Einführung (s. Anm. 6), 104– 113.

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Schließlich wird die Schriftautorität in den Zusammenhang der Glaubwürdigkeit des Predigers gestellt. Sie soll die Botschaft der Predigt als verlässlich erscheinen lassen. Ein Problem entsprechender homiletischer und liturgischer Konzeptionen liegt darin, den Legitimierungsbedarf der biblischen Texte nicht zu sehen bzw. zu bestreiten. So mangelt es nicht an Vorschlägen dafür, was alles zu lassen ist, um die sich selbst entfaltende Autorität der Schrift nicht einzuengen. Weil die Texte dabei als menschliches Zeugnis zu kurz kommen, wird zugleich ihrer Autorität das Wasser abgegraben. So wird (1) das Postulat der Wahrheit des Textes ausgerechnet gegen die Subjektivität des Predigers ins Feld geführt.42 Die Autorität der Schrift wird – in Verkennung der Relevanz seines Zeugnisses – als Garant der Objektivität und Wahrheit des Textes und als Schutz gegen alles Subjektive und Persönliche aufgerufen. Der Prediger möge dem Text Platz machen. Aber so funktioniert Autorität nicht. Der Prediger kann sich als »ultimativer Zeuge« des Evangeliums nicht erübrigen. Ähnlich steht es (2) mit dem Postulat der Verbindlichkeit der Heiligen Schrift. Als verstehe sich die Schriftgebundenheit von Gottesdienst und Predigt von selbst, wird immer wieder betont, dass nur die unbedingte, gehorsame Beschränkung auf das »Urwort« als Gottes Wort davor bewahre, die Gemeinde mit unverbindlichen Meinungen, Wünschen und Gedanken zu konfrontieren.43 Dabei wird erstens übersehen, dass die Verbindlichkeit der Heiligen Schrift im Predigtprozess gerade dadurch zur Geltung kommt, dass sich ein Prediger dazu genötigt sieht, sich selbst im Zeugnis der Schrift zu exponieren, und dass zweitens dann auch die Hörer (durch das Zeugnis des Predigers) in eine entsprechende Auseinandersetzung über Grundfragen eines Lebens aus Glauben verwickelt werden. Der Bibeltext wird dabei in dem Maße verbindlich, wie er historisch wird und das Zeugnis des Predigers und Hörers gleichermaßen nach sich zieht.

42 Hans-Joachim Iwand sieht die eigentliche Gefahr der Verletzung der Autorität der Schrift darin, dass ein Prediger durch das, was er mitbringt, der Wahrheit des Textes im Wege steht. Vgl. Hans-Joachim Iwand: Briefe, Vorträge, Predigtmeditationen. Eine Auswahl, hg. v. PeterPaul Sänger, Berlin 1979, 489–493. 43 Weil »alles vorgegeben ist, was gesagt werden soll«, fordert Karl Barth, beim Predigen »den Gehorsam dem Text gegenüber zu wahren«. »Die Schrift soll alles von eigenen Meinungen, Wünschen und Gedanken säubern; es gilt, in strenger Disziplin am Wort zu bleiben und nur das hören zu wollen, was das Wort sagt, nicht, was die große Öffentlichkeit, die engere Gemeinde oder das eigene Herz hören möchten. […] Ich habe nicht etwas zu sagen, sondern nur etwas nachzusagen. Wenn Gott allein in der Predigt sprechen will, so darf weder Thema noch Skopus dazwischentreten. […] Wir haben die dem Text eigentümliche Gedankenbewegung einfach mitzumachen« (Karl Barth: Homiletik. Wesen und Vorbereitung der Predigt, bearb. v. Günter Seyfferth, Zürich 31986 (1. Aufl. 1966); Reihenfolge der Zitate: 74, 77, 34–35).

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Zur Verbindlichkeit als Facette der Autorität der Schrift gehört aus hermeneutischer Sicht natürlich auch, ihre Aussageform, ihre Struktur und eigenwillige Ausdrucksweise als Verstehensbedingungen gelten zu lassen. Der Respekt vor der Textgestalt ist die notwendige Entsprechung zur Übernahme der eigenen Rolle als Interpret. Wie immer ich mit einem Text verfahre, ich verlange nicht von ihm, ein anderer Text zu sein. Das heißt, so entschlossen ich von der Freiheit Gebrauch mache, einen Text zu deuten und mich auf eine Pointe festzulegen, so entschlossen akzeptiere ich dabei die vorgegebenen Bedingungen des Textes, also seine Gestalt samt ihren Ausdrucksweisen, Behauptungen und offenkundigen Prämissen. Diese Bindung ist eine entscheidende Legitimation für einen hermeneutisch offenen, zeitgenössischen Umgang mit dem Text. Vor diesem Hintergrund halte ich den Versuch, die Gestalt der biblischen Texte bis in ihre Diktion hinein abzuändern und sie dazu zu zwingen, Dinge zu sagen, von denen man wünscht, dass sie heute gesagt und geglaubt würden, für eine groteske Form der Legitimierung der Heiligen Schrift. Der Versuch, die Bibel dadurch als Autorität zu stärken, dass man ihr eine vermeintlich gerechte Sprachdiktion aufzwingt, die im Übrigen nur ganz bestimmten Diskursen gerecht zu werden sucht,44 ist alles andere als eine Stärkung ihrer Autorität. Hier wird der freche Eigensinn biblischer Texte, seit Jahrtausenden immer wieder nur dasselbe – und unter anderem Ärgerliches, Anstößiges, Falsches und Missverständliches – zu sagen, mit der Geste des Besserwissens, Bessermachens und Besserkönnens gebrochen. Ich komme auf die Argumente zur Legitimation des Gebrauchs biblischer Texte und zur Berufung auf ihre Autorität zurück. Was wir uns im Blick auf Wahrheit und Verbindlichkeit vergegenwärtigt haben, gilt schließlich (3) auch für das Argument der Verlässlichkeit der Schrift. Der Bezug auf biblische Texte trägt dem Bedürfnis nach der Vertrauenswürdigkeit der Inhalte bzw. der Lebensdienlichkeit der Ziele des Gottesdienstes Rechnung. Dieses Bedürfnis schlägt sich z. B. in der Erwartung nieder, dass die Predigt selbst durch ihren Bezug auf den Text als bewährtes Glaubenszeugnis der Christenheit Anteil an der Solidität und Validität der Heiligen Schrift erhält. Auch dieses Begründungsmuster stützt die Autorität der Schrift aber nur so lange, wie es nicht gegen die Gedanken, die Ideen und die Imaginationskraft des Predigers ausgespielt wird.45 Andernfalls würde man auf den Grundstoff religiöser Autorität – auf das personale Zeugnis als Original-Urkunde eines Lebens aus Glauben – verzichten. Es bleibt natürlich verführerisch – wie die eben angeführten Argumente zeigen –, Autorität in dem Sinne »anthropologisch« zu verstehen, dass man in ihr 44 Vgl. Ulrike Bail u. a. (Hg.): Die Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 42011. 45 Vgl. dagegen den kerygmatischen Textfetischismus bei Hans Urner: Gottes Wort und unsere Predigt, Berlin 1961, bes. 69–74.

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ein notwendiges Konstrukt des tiefen Bewusstseins von der eigenen Subalternität sieht – was Hans-Georg Gadamer vorzuschweben schien.46 Die Inanspruchnahme der Schriftautorität wäre dann die notwendige Folge der Erfahrung des generellen eigenen Ungenügens, auch im Bezeugen des Evangeliums. Abgesehen von der fragwürdigen Semantik und Rezeption des Begriffs der Subalternität47 ist wiederum zu fragen, ob ausgerechnet die menschliche Inkompetenz, Unselbständigkeit und Dummheit die Basis einer begründeten Bezugnahme auf Autorität sein kann. Eine Autorität, der ich in Fragen des Selbstverständnisses, der Lebensführung und des Glaubens folgen sollte, ohne ihre Vorgaben zu verstehen – also ohne dass sie sich bequemt, mir zum Zeugnis zu werden –, ist keine Autorität.

3.4

Zum Verhältnis zwischen der Autorität der Schrift und der Würde des Menschen

Nach dem bisher Gesagten liegt es nahe, in der Autorität der biblischen Texte grundsätzlich eine Stärkung der Würde des Menschen zu sehen: Durch die Heilige Schrift in Frage gestellt zu werden, Schritte in die Freiheit zu tun, zu lernen, aus dem Empfangen und Gewähren von Liebe zu leben und Anregungen dafür zu bekommen, sich in ein erfülltes Leben aus Glauben zu werfen, dies ist nicht nur menschlich. Dies ist de facto auch ein Ausdruck der Solidarität der biblischen Zeugen all denen gegenüber, die sich mit bzw. nach ihnen um ein Leben aus Glauben bemühen. Umso problematischer sind all jene Versuche, mit der Autorität der Heiligen Schrift die prinzipielle Unwürdigkeit des Menschen vor Gott zu proklamieren und sich obendrein beim Beten oder Predigen solidarisch auf die Seite Gottes zu stellen (der unter dem Menschen so viel zu leiden habe), um unter Berufung auf die entsprechenden Bibeltexte Forderungen zu erheben, die über ihren Anspruch weit hinausgehen und Menschen als Menschen überfordern.48 46 Gadamer nähert sich der Erfahrung von Autorität anthropologisch an, indem er sie gewissermaßen als menschliche Reaktion auf das Wissen um die eigenen Unzulänglichkeiten bewertet. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 21965 (1. Aufl. 1960), 264. 47 Vgl. zur Diskussion: Gayatri Chakravirty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, mit einer Einl. v. Hito Steyerl, Wien 2008. 48 Zitate aus Predigten: »Die Bibel will, dass wir jeden Menschen lieben.« »Gott will, dass wir unsere Überzeugungen nicht wichtiger nehmen als sein Wort.« »Der Text ermutigt uns, nicht unseren eigenen Interessen, sondern Gottes Willen zu folgen.« Zum Verständnis dieser scheinbar »richtigen« Forderungen vgl. Wilfried Engemann: Vom Umgang mit Menschen im Gottesdienst. Probleme der impliziten liturgischen Anthropologie, in: EvTh 72 (2012), 101– 117. Wie viel mehr Menschlichkeit käme in die Predigten, wenn Prediger die biblischen Texte

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Demgegenüber entspricht es der Grundfunktion jeglicher, von Menschen um ihrer selbst willen anzuerkennenden Autorität, dass sie die menschliche Würde schützt, ja dass sie als Hüterin des Menschseins des Menschen auftritt, wodurch sie sich als legitime Autorität erweist. Mensch zu sein in Freiheit und Liebe und in der Gelassenheit des Glaubens versteht sich bis heute nicht von selbst. Dass dies doch möglich und unsere Bestimmung ist, dazu bedarf es der Auseinandersetzung mit Geschichten, Visionen, Prinzipien – kurz: mit einer Lebenskunde von genau der Autorität, die uns in der Heiligen Schrift begegnet. Die ideale Form der »Anerkennung« der Autorität der Schrift ist ein Leben aus Glauben in Freiheit, Liebe und Gelassenheit. Ein solches Leben ist wiederum eine ideale Form des »Bekenntnisses«, zu dem die Überlieferung des Glaubens durch die Heilige Schrift veranlasst.

Thesen 1.

2.

3.

4.

Autorität ist im Kern ein Begriff der sozialen Kommunikation. Die Autorität der Schrift ist das Ergebnis eines religiösen Kommunikationsprozesses, in dem sich ein biblischer Text als Zeugnis eines Lebens aus Glauben anderen Menschen so erschlossen hat, dass sie ihm Gewicht beimessen und Autorität zuerkennen. Weil die Autorität der Heiligen Schrift ihre Wurzeln in einem Verstehensprozess hat und von lebendiger Rezeption und Interpretation lebt, ist sie vor allem als hermeneutische Kategorie zu verstehen. Dementsprechend müssen sich biblische Texte gegenüber Lesern und Hörern immer neu auch als verständliche Texte bewähren, sonst »schwindet« ihre Autorität bzw. wird nicht mehr als solche erfahren. Der Autorität eines biblischen Textes wird weder durch Zustimmung noch durch ein Für-wahr-Halten seiner Sätze entsprochen. Sie erweist sich auch nicht in seiner Aktualisierungsfähigkeit, sondern darin, dass er im Prozess der Rezeption neue Zeugnisse nach sich zieht, die ihn nicht mehr zitieren müssen, um an seiner Autorität zu partizipieren. Indem sich Schriftautorität im Prozess der Kommunikation des Evangeliums durch Lesen bzw. Hören und Verstehen bildet, ist sie keine immer nicht zum Anlass nähmen, sich nolens volens auf die Seite Gottes zu schlagen und der Gemeinde eine unzureichende »Erfüllung« bzw. »Entsprechung« biblischer Texte vorzuhalten, statt sie sich im Lichte dieser Texte neu zu verstehen zu geben. Das ohne plausible Bedarfsanzeige vorgenommene Wichtigmachen biblischer Texte steht in der Gefahr, dass die in ihnen aufscheinende Lebenskunde gegen die Erfahrungen und Einsichten der Hörer ausgespielt wird. Dabei werden menschliche Erfahrungen verschüttet, statt dass Erfahrungen von heute durch überlieferte Erfahrungen des Textes bereichert werden könnten.

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verfügbare, absolute, sondern eine relationale Kategorie, Ausdruck der Wertschätzung durch den Einzelnen und die Gemeinde bzw. die Kirche. 5. Dieser relationale, Verständnis implizierende Autoritätsbegriff schließt die Freiheit derer, die eine entsprechende Autorität anerkennen, nicht aus, sondern notwendigerweise ein. Weil die Autorität der Schrift nicht auf blinden Gehorsam, sondern auf Verstehen bzw. Umdenken (metánoia) zielt, kann die Autorität der Schrift zwar das eigene Urteil des Lesers oder Hörers in Frage stellen, beeinflussen, anregen, verstören – aber sie kann es nicht übergehen. 6. In der Bereitschaft, sich durch glaubwürdige Zeugnisse anderer im eigenen Urteilen und Handeln hinterfragen und bedingen zu lassen, kommt die produktive Spannung von Autorität und Freiheit mustergültig zum Vorschein. 7. Die Praxis des Zitierens von Autorität hat ihre Wurzeln in der Vergegenwärtigung erfahrungsgemäß verlässlicher, wegweisender persönlicher »Zeugnisse«. Dementsprechend kann ein Autorität postulierender Umgang mit biblischen Texten nicht darauf verzichten, sie als Dokumente menschlicher Existenzbewältigung zu plausibilisieren. Dazu gehört es, mit den biblischen Texten keine Maßstäbe zu etablieren, die nicht dem Menschsein des Menschen dienen bzw. ihn als Mensch überfordern. 8. Die Autorität der Heiligen Schrift als Tradition entsteht durch die Tradition selbst, indem Glaubende das Zeugnis anderer Glaubender überliefern und deuten, wobei sie selbst zur Autorität werden. 9. Wie die Autorität ist auch die Heiligkeit der Schrift eine relationale Kategorie. Sie bezeichnet die Tatsache, dass sich die Kirche eine Sammlung von Zeugnissen so zu eigen machen konnte, dass diese zum Bestandteil kollektiver und persönlicher Identität geworden sind. 10. Rationalität ist eine Facette von Autorität, nicht ihr natürlicher Gegenpol. Das bedeutet nicht, nur allem Vernünftigen Autorität zuzuerkennen, aber als hermeneutische Kategorie muss Autorität rationaler Argumentation zugänglich sein, um Menschen ihr gegenüber eine Haltung zu ermöglichen. 11. Im Falle scheinbarer Urteilssicherheit, trügerischer Klarheit und eines entsprechenden Pathos im Umgang mit biblischen Texten tritt die Ideologie an die Stelle der Autorität. Einer Ideologisierung der Autorität der Schrift entkommt man am besten dadurch, dass man sich auf biblische Texte grundsätzlich im Modus der Kommunikation des Evangeliums bezieht. 12. Die Werte Wahrheit, Verbindlichkeit und Verlässlichkeit taugen nur dann zur Legitimierung der Autorität der Heiligen Schrift, wenn sie den biblischen Texten als Glaubenszeugnissen zuerkannt und nicht als Arznei zur Widergutmachung menschlicher Urteilsbildung apostrophiert werden.

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13. Theologisch-hermeneutische Kompetenz, die sich – in dem oben genannten Sinn – in einem verantwortlichen homiletischen und liturgischen Umgang mit den biblischen Texten ausdrückt, ist eine entscheidende Ressource für ein adäquates Verständnis biblischer Autorität. 14. Die ideale Form der Anerkennung der Autorität der Schrift ist ein Leben aus Glauben in Freiheit, Liebe und Gelassenheit. Ein solches Leben ist wiederum eine ideale Form des »Bekenntnisses«, zu dem die Überlieferung des Glaubens durch Heilige Schrift bewegen will.

Aus der Forschungswerkstatt

Andreas Lindemann

Erwägungen zur »Theologie des Neuen Testaments«. Ein Gespräch mit Kurt Niederwimmer1

1 Der Auftrag, den am 11. Dezember 2015 verstorbenen theologischen Forscher und Lehrer Kurt Niederwimmer zu ehren, stellt mich vor keine leichte Aufgabe. Schon der Blick auf die Titel seiner Veröffentlichungen zeigt die Breite seines Arbeitsfelds: Ich nenne die 1966 erschienene Habilitationsschrift »Der Begriff der Freiheit im Neuen Testament«2, die 1975 publizierte Monographie »Askese und Mysterium«3 sowie den 1989 erschienenen großen Kommentar zur Didache, der die Kommentarreihe zu den Schriften der Apostolischen Väter eröffnete.4 Unter dem charakteristischen Titel »Quaestiones theologicae« wurde 1998 von Wilhelm Pratscher und Markus Öhler ein Band mit Aufsätzen Niederwimmers herausgegeben, der die Vielzahl der erörterten theologischen und historisch-exegetischen Themen erkennen lässt, die von ihm aufgenommenen Fragen und die eindrücklichen Antworten.5 Ein besonderer Schwerpunkt war für ihn die Frage, in welchem Sinne man von einer »Theologie des Neuen Testaments« sprechen könne. Es wird ja seit langem darüber debattiert, ob nicht anstelle einer Theologie des Neuen Testaments die Geschichte der urchristlichen Theologie oder sogar die »Religion der ersten Christen« darzustellen sei,6 womit sich auch die 1 Überarbeitete und durch Fußnoten ergänzte Fassung eines am 7. Dezember 2016 in der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien gehaltenen Vortrags. Der Vortragsstil wurde beibehalten. 2 Kurt Niederwimmer: Der Begriff der Freiheit im Neuen Testament (TBT 11), Berlin 1966. 3 Kurt Niederwimmer: Askese und Mysterium. Über Ehe, Ehescheidung und Eheverzicht in den Anfängen des christlichen Glaubens (FRLANT 113), Göttingen 1975. 4 Kurt Niederwimmer: Die Didache (KAV 1), Göttingen 1989. Vgl. dazu meine Rezension in: ThLZ 115 (1990), 690–691. 5 Kurt Niederwimmer: Quaestiones theologicae. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Wilhelm Pratscher u. Markus Öhler (BZNW 90), Berlin 1998. 6 Vgl. die Beiträge in Georg Strecker (Hg.): Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (WdF 367), Darmstadt 1975. Die Diskussion wurde neu belebt durch Heikki Räisänen: Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative (SBS 186), Stuttgart 2000; sowie Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums,

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Frage verbindet, ob eine solche Darstellung auf die theologische Auslegung allein der neutestamentlichen Schriften zu beziehen ist oder ob die Grenzen des Kanons überschritten werden müssen. Für Kurt Niederwimmer verband sich damit schon sehr früh die grundsätzliche Frage, wie »Theologie« zu verstehen sei und wann überhaupt von »Theologie« gesprochen werden könne. In einem schon 1971 erschienenen Aufsatz warnte er vor einer allzu »großzügigen Verwendung« des Begriffs »Theologie«, und zwar insbesondere auch im Blick auf die Theologie, die im Neuen Testament begegnet.7 Er nennt als »Grundbestimmungen jeder Theologie« das »Definieren, Systematisieren, Argumentieren«, sowie das – wie er formuliert – »sich dem Logos unterwerfen«.8 Betrachte man das Neue Testament unter dieser Perspektive, dann trage es einen »im ganzen vortheologischen Charakter«, und daher könne die Aufgabe einer »Theologie des Neuen Testaments« nur darin bestehen, »die Selbstauslegung, die sich der christliche Glaube im Neuen Testament gegeben hat, zusammenfassend darzustellen«. Das müsse unter zwei Fragestellungen geschehen: »Was ist der Sinn der Sätze, in denen sich der Glaube jeweils selbst darstellt? Und: welchen Vermittlungsstand haben die jeweiligen Aussagen erreicht?«9 Es könne jedenfalls nicht nur darum gehen, die im Neuen Testament wahrzunehmenden theologischen Aussagen nachzuzeichnen, vielmehr müsse auch und vor allem nach deren unmittelbarer theologischer Bedeutung gefragt werden. In seinem Beitrag zu dem 1983 von Susanne Heine und Erich Heintel herausgegebenen Band »Gott ohne Eigenschaften?« gibt Niederwimmer unter dem bezeichnenden Titel »Zur praedicatio de Deo im Neuen Testament« ein instruktives Beispiel für die von ihm für richtig gehaltene Perspektive, und zwar konkret mit Blick auf die Frage nach der neutestamentlichen Rede von Gott.10 Das christliche Bekenntnis, so betont Niederwimmer, spricht vom dreieinigen Gott, das Neue Testament aber zeige lediglich »eine implizite trinitarische Theologie«; daher habe die Kirche die Aufgabe, das im Neuen Testament implizit Angelegte »in ihrer Lehre zu explizieren und systematisch-begrifflich zu entfalten«.11 So gelte einerseits »die bleibende und unüberholbare Bedeutung der Schrift als Quelle und Norm der Kirche«, aber es bestehe andererseits auch »die

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Gütersloh 2000. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Zur »Religion« des Urchristentums, in: ThR 67 (2002), 238–261. Kurt Niederwimmer: Unmittelbarkeit und Vermittlung als hermeneutisches Problem, in: ders.: Quaestiones (s. Anm. 5), 44–59. Niederwimmer: Unmittelbarkeit (s. Anm. 7), 53–55; Zitat 53. Niederwimmer: Unmittelbarkeit (s. Anm. 7), 54. Kurt Niederwimmer: Zur praedicatio de Deo im Neuen Testament, in: Susanne Heine/Erich Heintel (Hg.), Gott ohne Eigenschaften?, Wien 1983, 107–118; wieder abgedruckt in: Niederwimmer: Quaestiones (s. Anm. 5), 142–151. Niederwimmer: Zur praedicatio (s. Anm. 10), 148.

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Berechtigung und Notwendigkeit der systematischen Theologie«, die in der Bindung an die Schrift »die Positivität des in der Schrift Ausgesagten dem jeweiligen Bewußtseinsstand des Verstehenden entsprechend voll zu explizieren« habe.12 In hoher hermeneutischer Reflexion begegnet hier die oft auch kontroverstheologisch diskutierte Frage nach »Schrift« und »Tradition«, die zwar zu unterscheiden, nicht aber scharf voneinander zu trennen sind. Gott, so schreibt Niederwimmer, »begegnet mir in der Kirche, in der sich Christus verleiblicht. Der Gottesglaube des Neuen Testaments ist (in einem wohl zu verstehenden Sinn) ein kirchlicher Glaube (so sehr er jeweils auch ein kirchenkritischer Glaube sein kann).«13

2 Im Jahre 1993 veröffentlichte Kurt Niederwimmer in der Festschrift für Erich Heintel seine grundsätzlichen »Erwägungen zur Disziplin ›Theologie des Neuen Testaments‹«14, die zehn Jahre später als »Prolegomena« Eingang in sein großes Werk »Theologie des Neuen Testaments« fanden.15 Er fragt hier, was es bedeutet, wenn man »eine systematisch geordnete Gesamtdarstellung der Lehraussagen des Neuen Testaments« bieten will, wenn doch das Neue Testament selber einen solchen Zusammenhang allenfalls in Ansätzen erkennen lässt.16 Er verweist auf Immanuel Kant, der schrieb, die menschliche Vernunft sei »ihrer Natur nach architektonisch«, und sie betrachte »alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System«.17 Nun biete aber das Neue Testament »keine explizite systematische Lehreinheit«, sondern lediglich »eine Vielfalt von theologischen Lehrentwürfen, die im Text selbst noch nicht zu einem geschlossenen Ganzen vereinigt sind«. An dieser »schlichten Tatsache« müsse jeder »Biblizismus« scheitern,18 und folglich könne Theologie nicht oder jedenfalls nicht nur darin bestehen, die neutestamentlichen Aussagen nachzusprechen. 12 Niederwimmer: Zur praedicatio (s. Anm. 10), 148. 13 Niederwimmer: Zur praedicatio (s. Anm. 10), 151 (Klammersetzung im Original). 14 Kurt Niederwimmer: Erwägungen zur Disziplin »Theologie des Neuen Testaments«, in: HansDieter Klein (Hg.): Philosophia perennis. Erich Heintel zum 80. Geburtstag 2, Wien 1993, 308– 315, wieder abgedruckt in: Niederwimmer: Quaestiones (s. Anm. 5), 226–233. 15 Kurt Niederwimmer: Theologie des Neuen Testaments. Ein Grundriß, Wien 32004, 8–16. 16 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 8. 17 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 8, unter Verweis auf Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt (PhB 37a), Hamburg 1956 (ND der Ausg. ²1930), 479. 18 Auch in der »Summe« betont Niederwimmer »das Ende jeder biblizistischen Position«, die meint, man könne »das Neue Testament, ohne jede theologische Vermittlung unmittelbar zur Grundlage des Glaubens und der Praxis heranziehen«. Eine solche Position übersehe auch, dass das Neue Testament »ein durch die Kirche vermitteltes und in der theologischen Re-

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Die Vielfalt der im Neuen Testament vorhandenen Lehrauffassungen ergebe sich »allein schon aus der Differenz der Voraussetzungen«, von denen die Autoren jeweils ausgehen: Paulus kam vom pharisäischen Judentum her, Johannes war vielleicht ein Schüler Johannes des Täufers und hatte »mit dem geistigen Milieu des Apostels Paulus wenig gemeinsam«, der Verfasser des Hebräerbriefes kam »aus dem popularphilosophischen Bildungsmilieu des hellenistischen Judentums«. Sie stimmen aber ungeachtet dieser Differenzen »intentionaliter« darin überein, »daß sie ein und denselben Christus, ein und dieselbe Offenbarung intendieren und aussprechen«, und daher dürfe man »bei verschiedener sprachlicher Vermittlung auf eine dahinter liegende gemeinsame Intention zurückschließen«. Die zu vermutende Einheit in der Vielfalt sei nun aber »erst von uns aufzuweisen«, mit anderen Worten: Diese Einheit »zu erkennen, ist ein Produkt der Anstrengung der interpretierenden Vernunft«.19 Drei Aspekte werden hier genannt:20 (1) Zum einen sei zu beachten, dass manche theologischen Themen im Neuen Testament nur »implizit ausgesagt, aber nicht explizit vermittelt« sind. Beispielsweise werde in der neutestamentlichen Rede von Gott an der Einheit Gottes festgehalten, doch es werde mehrfach auch von der vollen Gottheit Jesu gesprochen, und an vielen Stellen sei der Heilige Geist personhaft aufgefasst; »der unitarische Monotheismus« sei also »durch einen trinitarischen Monotheismus« überwunden, aber im Neuen Testament selbst sei das »noch nicht thematisiert«. Auch die Sakramente Taufe und Abendmahl, Niederwimmer nennt sie die »sacramenta maiora«, seien im Neuen Testament zu erkennen, aber es werde nicht definiert, was ein Sakrament überhaupt ist, wie viele es gibt und wie sie wirken. Antworten auf diese Fragen seien nur »per interpretationem« zu finden und jedenfalls »nicht einfach durch Zitat neutestamentlicher Stellen selbst«. (2) Zum zweiten sei zu beachten, dass es »Differenzen im Reflexionsstand der verschiedenen neutestamentlichen Texte« gibt;21 man könne deshalb die Texte nicht einfach nebeneinander stellen, sondern es komme darauf an, sie »sachlich durch Interpretation miteinander zu vermitteln«. Als Beispiel nennt Niederwimmer die Differenzen im Gesetzesverständnis des Matthäus und des Paulus; vielleicht gehen sie darauf zurück, dass die paulinische Gesetzeslehre »ein höheres Maß an Differenziertheit« aufweist, während sich flexion stets wieder neu zu vermittelndes Buch« ist (Niederwimmer: Theologie [s. Anm. 15], 12). 19 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 10. 20 Die folgenden Zitate Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 10–11. 21 Dazu verweist er auf die dogmatische Konstitution des Vaticanum II über die göttliche Offenbarung, wo zwischen der intentio textus und dem modus dicendi unterschieden werde. Die folgenden Zitate Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 11–12.

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bei Matthäus »Andeutungen lediglich motivlicher Art« finden, doch auch bei Paulus gebe es unterschiedliche Reflexionsstufen, ohne dass man deshalb »eine Änderung in der Gesetzesauffassung« des Paulus annehmen müsse. Dem wird man kaum widersprechen können.22 (3) Schließlich unterscheidet Niederwimmer betont zwischen »theologischen Sätzen im weiteren und im engeren Sinn«. Von einer »Theologie im engeren und eigentlichen Sinn« sei nur dort zu sprechen, »wo klare und distinkte Begriffe gebildet werden«, wo »die Aussagen des Glaubens in einen explizit gedanklichen Zusammenhang gebracht werden« und wo also »ein Systemansatz vorliegt«.23 Eine »Theologie« in diesem Sinne gebe es zuerst bei Paulus, dann bei Johannes und schließlich auch im Hebräerbrief. Das seien zwar noch keine »Gesamtsysteme«, sondern nur Ansätze dazu; aber es sei gleichwohl höchst erstaunlich, »daß die neue Religion schon in ihren Anfängen […] dazu überging, das Geoffenbarte in seinem gedanklichen Sinn systematisch zu entfalten« und »den Sinn des Geglaubten als einen denkbaren und aussagbaren Zusammenhang zu fassen«.24 Niederwimmer verweist darauf, dass Rudolf Bultmann25 in seiner »Theologie des Neuen Testaments« den Begriff »Theologie« nur im Blick auf Paulus und Johannes anwendet.26 An dieser Stelle sei eine persönliche Reminiszenz erlaubt. Auf Vorschlag von Kurt Niederwimmer durfte ich am 21. November 1985 hier in Wien eine Gastvorlesung halten. Mich beschäftigte seit längerer Zeit die Frage, ob man im Unterschied zu Bultmann nicht auch von einer »Theologie der synoptischen Evangelien« sprechen kann, ob es also möglich ist, Theologie auch anders als nur über die reflektierte Verwendung theologischer Begrifflichkeit zu erfassen.27 Kurt Niederwimmer reagierte sehr positiv auf das von mir vorgeschlagene Thema; es kam zu einer guten, gleichwohl kontroversen Diskussion, denn er selbst nahm dazu ja eine dezidiert andere Position ein.28

22 Anders Udo Schnelle: Theologie des Neuen Testaments (UTB 2917. Theologie, Religion), Göttingen 32016, 280–293, der eine »diachrone« und eine »synchrone« Analyse der paulinischen Aussagen zum Gesetz vornimmt; die »Lösung« findet Schnelle in der »Konzentration auf den Liebesgedanken« (292). 23 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 13. 24 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 14. 25 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 14 (Anm. 7). 26 Vgl. Rudolf Bultmann: Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 41961 (ND der Ausg. ³1958), 187–353, 354–445 (Zweiter Teil. Die Theologie des Paulus und des Johannes). 27 Vgl. Andreas Lindemann: Erwägungen zum Problem einer »Theologie der synoptischen Evangelien«, in: ZNW 77 (1986), 1–33; wieder abgedruckt in: Andreas Lindemann: Die Evangelien und die Apostelgeschichte (WUNT 241), Tübingen 2009, 316–345. 28 Dazu Paul-Gerhard Klumbies: Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015, 131–138 (»Narrativität und Theologie«).

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Am Ende der »Prolegomena« stellt Niederwimmer die »vielgequälte Frage nach der Einheit der neutestamentlichen Theologie«. Es sei nicht richtig, wenn man »lediglich einen Pluralismus von Lehranschauungen« konstatiere und dann womöglich zugleich »eine bestimmte Position zum ›Kanon im Kanon‹« mache, denn damit würde ja »die Entscheidung der Kirche für die tota scriptura aufgehoben«. Die Frage nach der »Mitte der Schrift« sei »nicht eine Frage nach einem Teil der Schrift (von dem aus andere Teile distanziert werden können), sondern die Frage nach den treibenden Motiven des Ganzen, sozusagen nach dem Herz des Organismus«.29 Das Neue Testament, so lautet Niederwimmers Resumée, kreist um »drei Geheimnisse des christlichen Glaubens«, nämlich »das Mysterium der Incarnation, das Mysterium der Trinität und das Geheimnis der Präsenz des Heiligen Geistes, also das Mysterium der Kirche«.30

3 Diesem Programm folgt Kurt Niederwimmer in seiner 2003 erschienenen »Theologie des Neuen Testaments«. Dieses Werk, das im folgenden Jahr bereits in dritter Auflage erschien, ist ungeachtet seines zurückhaltend formulierten Untertitels »Ein Grundriss«31 ein umfassender theologischer Entwurf, der eine klare Position einnimmt und zur eingehenden Auseinandersetzung einlädt und auch provoziert. Offenbar in Anlehnung an Werke der antiken Literatur gliedert sich diese »Theologie des Neuen Testaments« in drei »Bücher«: Im ersten Buch werden unter dem Titel »Konstitution« jene Elemente dargestellt, »die den Glauben allererst begründet haben«, und dazu gehört für Niederwimmer auch die Verkündigung Jesu. Im zweiten Buch »Explikation« geht es dann um die »ersten Versuche« einer systematischen Entfaltung des Glaubens, die bei Paulus, bei Johannes und im Hebräerbrief zu finden sind. Das dritte Buch »Stabilisation« beschreibt die Ausbildung hin zur Großkirche, also jene »gesellschaftliche Stabilisierung, ohne welche Glaube und Kirche nicht wären, was sie sind«.32 In seiner umfangreichen Rezension schreibt Stefan Alkier, dieses Buch weise »katholisierende« Tendenzen auf; Niederwimmer habe mit seiner »Konstruktion 29 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 15. 30 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 15–16 (Hervorhebungen im Original). In dem Aufsatz von 1993 sind diese Aussagen etwas anders formuliert: Es gehe um »das Mysterium der Inkarnation, des Todes und der Auferstehung, der Sendung des Heiligen Geistes, das Mysterium der Trinität und das Mysterium der Kirche« (Erwägungen [s. Anm. 14], 233). 31 Er soll laut Vorwort (s.p.) anzeigen, dass hier eine »Institutio in Novi Testamenti doctrinas« vorgelegt wird; die Debatte mit der Sekundärliteratur sei daher »auf eine exemplarische Auswahl beschränkt«. 32 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 14–15.

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der ›neutestamentlichen Dogmengeschichte‹« diejenigen Lügen gestraft, »die behaupten, Bibelwissenschaftler der Gegenwart seien nicht mehr konfessionalistisch gebunden«.33 Diese Feststellung ist insofern erstaunlich, als Kurt Niederwimmer ja evangelischer Neutestamentler war, dessen Buch vom Evangelischen Presseverband veröffentlicht wurde; von einer »konfessionalistischen« Bindung wird man also gerade dann kaum sprechen können, wenn man »katholisierende« Tendenzen wahrnimmt. Im Folgenden sollen einige der nach meinem Eindruck besonders wichtigen Aspekte des ganzen Werkes näher beleuchtet werden; gelegentlich werde ich auch andeuten, wo sich mir kritische Fragen stellen.

4 Das erste Buch »Konstitution« beginnt im ersten Kapitel mit der Erörterung der mit der historischen Frage nach Jesus verbundenen Probleme. Ebenso wie Bultmann und im Unterschied zu jenen Autoren, die die Verkündigung Jesu ausdrücklich zur »Theologie des Neuen Testaments« rechnen,34 stellt Niederwimmer fest, von einer Theologie Jesu sei nicht zu sprechen; Jesu Lehre gehe »aller späteren Theologie voraus« und sei »unmittelbarer und ursprünglicher als alle nachfolgende theologische Reflexion«.35 Jesus verkündigte die nahe Gottesherrschaft, und damit meinte er, wie Niederwimmer betont, wirklich die βασιλεία τοῦ θεοῦ, die Königsherrschaft Gottes, nicht eine δημοκρατία τοῦ θεοῦ. »Alles Demokratische«, so heißt es in einer Fußnote, »gehört (wenn es recht ist) zum Naturrecht. Das eschatologische Recht geht allein von Gott aus.«36 Dem wird man kaum widersprechen; man könnte aber immerhin fragen, ob diese »Königsherrschaft« nicht doch einen besonderen Charakter besitzt, insofern Gott selber der »König« in dieser Herrschaft ist. Jesu Autorität ist nicht »abgeleitet«, Jesus ist vielmehr »in sich selbst Autorität«, d. h. »aus ihm, durch ihn, in ihm redet Gott«; Niederwimmer spricht hier von einer »impliziten Christologie« bei Jesus.37 Mit seinem »absoluten Autori-

33 Stefan Alkier, in: ThLZ 130 (2005), (276–280) 280. 34 Zu nennen wären hier etwa die Darstellungen der Theologie des Neuen Testament von Werner Georg Kümmel und von Joachim Jeremias (vgl. dazu meinen Aufsatz: Jesus in der Theologie des Neuen Testaments, in: Georg Strecker [Hg.]: Jesus Christus in Historie und Theologie. Neutestamentliche Festschrift für Hans Conzelmann zum 60. Geburtstag, Tübingen 1975, 27– 57). 35 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 20. 36 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 31 (Anm. 8). 37 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 54. Vgl. Bultmann: Theologie (s. Anm. 26), 46: »Jesu Entscheidungsruf impliziert eine Christologie«, freilich nicht »als Konstruktion eines Mes-

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tätsbewußtsein« habe Jesus seine Auslegung des Gottesgebots in den Zusammenhang des überlieferten Rechts gestellt; die damit verbundene »Proklamation des eschatologischen Rechts« brachte ihn jedoch in Konflikt »mit den Hütern einer sich selbst mißverstehenden Tradition«, und hier liege die Ursache für Jesu Passion. Diese die historischen Vorgänge betreffenden Beobachtungen sind in der Forschung umstritten, sie scheinen mir aber nicht falsch zu sein.38 Das zweite Kapitel unter der Überschrift »Ostererfahrung und Christuskult« beginnt mit einer programmatischen Vorbemerkung zum »Gang der urchristlichen Dogmengeschichte«: Die Urkirche habe einen »Prozeß der Selbstfindung und Selbstwerdung« durchlaufen, sie »mußte erst langsam werden, was sie ihrem Wesen nach von Anfang an war«. So habe die Kirche in der Zeit zwischen den Jahren 30 und etwa 13039 »langsam und sukzessive ihre Identität« gewonnen, und zwar »in Auseinandersetzung mit Irrlehren und irrenden Praktiken, also mit Distanzierung dessen, was nicht zu ihr gehört«. Mit dem Kanon habe die Kirche dann »diese ihre verbindliche Erstgestalt (in einer Differenzierung dessen, was authentisch ist und was nicht) festgelegt«, und daran müsse sich jede Generation ausrichten, denn »andernfalls würde die Kirche ihre Identität verlieren«.40 Niederwimmer stellt ausdrücklich fest, dass es in der Kirche von Anfang an unterschiedliche Gruppen gab: In Jerusalem lebte zum einen die um die »Zwölf« versammelte »Jesus-Gemeinde«, die sich als Gemeinde der Endzeit verstand; dort gab es zum andern die Griechisch sprechende Gemeinde um Stephanus; es gab überdies die »Reste der Jesusbewegung in Galiläa«; und es gab schließlich die johanneische Kommunität. Von Anfang an bestanden aber auch »Tendenzen zur ἑνότης der Kirche«, von denen »nur einiges« genannt wird: das Amt der Zwölf, das Petrusamt gemäß Mt 16,18–19, das in Gal 2,9 erwähnte Triumvirat der »Säulen« Petrus, Jakobus und Johannes. Diese Ämter seien »gewiß als gesamtkirchliche siasbewußtseins, sondern als Explikation der Antwort auf die Entscheidungsfrage, des Gehorsams, der in ihm Gottes Offenbarung anerkennt«. 38 Nach Alkier hat »die neuere Jesusforschung« Jesus »gerade unhintergehbar aus seiner jüdischen Tradition heraus zu verstehen gelehrt«, während Niederwimmer sich nicht davor scheue, »das Judentum zur Zeit Jesu zu diffamieren; die jüdischen Autoritäten würden von ihm ›verunglimpft‹ und ›für den Tod Jesu verantwortlich‹ gemacht« (Alkier: Rezension [s. Anm. 33], 278). Davon kann natürlich keine Rede sein. Die historische Frage nach dem Ablauf des Prozesses gegen Jesus bietet wahrlich keinen Vorwand für eine christliche Judenfeindschaft, aber sie ist auch nicht der Ort, wo ahistorische Apologetik angezeigt ist. Niederwimmer hält es nicht zu Unrecht für eine »merkwürdige Tatsache, daß die historische Forschung gerade an diesem Punkt so wenig Tragfähiges zutage gebracht hat« (Niederwimmer: Theologie [s. Anm. 15], 55). Die von ihm gegebene Skizze des mutmaßlichen historischen Ablaufs (ebd.) scheint mir im Ganzen zutreffend zu sein. Vgl. Sven-Olav Back: Die Prozesse gegen Jesus, in: Jens Schröter/Christine Jacobi (Hg.): Jesus Handbuch (Theologen-Handbücher), Tübingen 2017, 473–481, zum Urteil des Hohen Rates 478. 39 Dieses Datum entspricht der vermuteten Abfassungszeit des 2. Petrusbriefes. 40 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 57.

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Ämter gedacht« gewesen, und zwar »unbeschadet der Frage, wie weit der jeweilige Anspruch auch seine Anerkennung fand oder nicht«.41 Andere Gruppen seien »an der organisatorischen und lehrmäßigen Einheit desinteressiert« gewesen; aber, so betont Niederwimmer, »die Tendenz zur Einheit war von Anfang an da«, und sie gehört »jedenfalls zu den authentischen Motiven, in denen sich hernach die katholische Kirche wiedererkennen wird«.42 Die Entwicklung hin zur umfassenden, »katholischen« Kirche ist für Niederwimmer folglich nicht nur ein historisch zu beobachtender, nicht zuletzt auch durch geschichtliche Zufälle bestimmter Prozess, sondern eine sachlich notwendige Entwicklung. Der Glaube an Jesu Auferstehung geht nach Niederwimmer auf die Ostererfahrungen der ersten Jünger zurück, diese Erfahrungen bilden »das fundamentum fidei christianae«.43 Dabei ist die Rede von der Auferstehung ein »Glaubenssatz, der sich in Form der Metapher ausspricht« – sogar in zwei Metaphern, nämlich »auf-er-stehen« und »auf-er-wecken«.44 Die Zeugen behaupteten nicht, sie hätten Jesu Auferweckung gesehen; aber sie hatten »bestimmte Erfahrungen« gemacht, »aus denen sie schließen mußten, daß Jesus auferweckt worden ist«.45 An dieser Stelle gibt Niederwimmer einen instruktiven Überblick über die unterschiedlichen Überlieferungen.46 Für mich etwas überraschend sind die sich dann anschließenden Überlegungen zum leeren Grab. Die, wie Niederwimmer formuliert, »rationalistische Exegese« etwa Bultmanns akzeptiere zwar die Osterepiphanien, zeige aber »eine seltsame Inkonsequenz«, wenn sie die Vorstellung des leeren Grabes ablehne. Nach jüdischem Verständnis bedeutete die Auferweckung eines eben erst Begrabenen, dass der ehemals Tote aus dem Grab herauskommt, und daher müsse gelten: »Entweder ist Christus auferstanden, dann liegt er nicht mehr im Grab; oder er liegt noch im Grab, dann ist er auch nicht auferstanden. Eine andere Alternative lassen die anthropologischen Voraussetzungen der ersten Zeugen nicht zu.«47 Aber steckt nicht gerade in dieser Argumentation so etwas wie eine »rationalistische Exegese«? Die von Niederwimmer erwähnten »anthropologischen Voraussetzungen« gelten sicherlich für die Vorstellungen, die sich etwa mit den biblischen Erzählungen von der Auferweckung Verstorbener verbinden – besonders deutlich bei der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,43.44); aber für den Glauben an die Auferweckung Jesu gelten offensichtlich andere Kategorien, denn Jesu Auferweckung wurde ja nicht als »Wiederbele41 42 43 44 45 46 47

Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 59. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 59–60. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 61. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 62. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 65. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 65–68. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 68.

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bung« des eben erst Verstorbenen verstanden, sondern als seine Erhöhung zu Gott. Niederwimmer schreibt mit Recht, man könne nicht sagen: »Er lebt wieder auf Erden«, sondern man müsse sagen: Er ist »in die Sphäre Gottes versetzt, aus der er für die Seinen sichtbar wird«.48 Niederwimmer sieht auch, dass das leere Grab keinen »zureichenden Grund« für den Osterglauben bietet, sondern es sei »lediglich ein (freilich notwendiges) Zeichen für den Osterglauben«.49 Nun zeigen aber die Grabeserzählungen, dass das leere Grab auf eine Deutung angewiesen ist – ohne die gesprochenen Worte bleibt das Grab buchstäblich »nichtssagend«. Die Evangelisten und vor allem auch der Petrus der lukanischen Pfingstpredigt sprechen nicht davon, dass womöglich Fremde oder die nach der Predigt in Jerusalem gewonnenen Gläubigen das nahe gelegene leere Grab Jesu aufgesucht und als ein die gehörte Auferweckungsbotschaft bestätigendes »Zeichen« angesehen hätten. Es gibt für ein leeres Grab viele Erklärungsmöglichkeiten, wie vor allem in Joh 20,1–16 deutlich wird.50 In § 7 (»Die Entwicklung des Christuskults«) geht Niederwimmer auf die christologischen Hoheitstitel ein. Er schreibt mit Blick auf den Titel »Sohn Gottes«, wenn sich die urchristliche Kirche damit begnügt hätte, »Jesu Gottessohnschaft im Sinne der alttestamentlichen Messianologie auszusagen, dann hätte sie sich nicht aus dem Kultverband Israels lösen müssen«. Die Christen aber bekannten »Jesu wesentliche Gottessohnschaft«, und so »gerieten sie in Konflikt mit dem unitarischen Glauben des orthodoxen Judentums«.51 Zum Titel »Menschensohn« notiert Niederwimmer mit Recht, dass die historische Theologie hier »immer noch wie vor einem Rätsel« steht.52 Zu der Vorstellung von Jesus als dem Erlöser, an dessen Schicksal die Erlösten teilhaben, verweist Niederwimmer auf den von ihm als möglich angesehenen religionsgeschichtlichen Hintergrund des mythischen Modells des Megalanthropos, des »göttlichen Urmenschen«.53 Paulus habe dieses Modell ekklesiologisch verstanden, wie die Metapher vom »Leib Christi« zeige, und dementsprechend sei die Kirche für Paulus »nicht eine bloße Summation von einzelnen«, sondern »eine organische Einheit«; im Epheserbrief 48 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 69. 49 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 68. 50 Vgl. meinen Aufsatz: The Resurrection of Jesus. Reflections on Historical and Theological Questions, in: EThL 93 (2017), 557–579; zur sachlichen und chronologischen Einheit von Auferweckung und Erhöhung auch im lukanischen Doppelwerk vgl. Henk Jan de Jonge: The Chronology of the Ascension Stories in Luke and Acts, in: NTS 59 (2013), 151–171. 51 Hier liege ein »wesentliches Element des urchristlichen Glaubens« (Niederwimmer: Theologie [s. Anm. 15], 99). 52 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 107. Vgl. David du Toit: Christologische Hoheitstitel, in: Schröter/Jacobi: Jesus Handbuch (s. Anm. 38), 515–526, zu »Menschensohn« 521–525. Es handelt sich »um eine der – wenn nicht die – kompliziertesten Fragestellungen der Jesusforschung überhaupt« (523). 53 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 133–142.

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habe sie sogar eine kosmische Funktion erhalten.54 Die »nötige Konsequenz« sei schließlich der Gedanke der »Teilhabe an der göttlichen Natur« gewesen, doch diese Konsequenz finde sich erst in dem späten 2. Petrusbrief. Über die Aussage in 2 Petr 1,4: »Ihr werdet Anteil erhalten an der göttlichen Natur« könne aber »nur derjenige erschrecken, der den radikal eschatologischen Anspruch der christlichen Heilsbotschaft nicht oder noch nicht verstanden hat«; tatsächlich sei es eine »Spitzenaussage«, in der »die urchristliche Soteriologie zu ihrem sachgemäßen Abschluß« kam.55 Im abschließenden Kapitel des ersten Buches beschreibt Niederwimmer unter der Überschrift »Die Erfahrung des Geistes« zuerst das Selbstverständnis der Kirche.56 Der neutestamentliche Kirchenbegriff gehe »nicht von der Einzelkirche aus, sondern von der Gesamtkirche, vom ›Volk Gottes‹ insgesamt«; folglich sei die Kirche im Neuen Testament »primär die ecclesia universalis und erst sekundär die einzelne Gemeinde«.57 Bultmann habe richtig gesehen, dass die Kirche eine gleichermaßen historische wie eschatologische Größe ist;58 er sei dann aber »in einen ›quasidoketischen Kirchenbegriff‹« abgeglitten, insofern er meinte, dass »das Recht der Kirche nur regulativen, nicht konstitutiven Charakter trägt«.59 Bultmann erörtert an der von Niederwimmer kritisch referierten Stelle die umstrittene These des Kirchenrechtlers Rudolph Sohm, die durch das Walten des Geistes bestimmte Kirche brauche gar kein Recht. Bultmann erklärt dazu, eine Rechtsordnung der Kirche stehe sogar »im Gegensatz zu ihrem Wesen«, aber er fährt fort: »falls nämlich das Recht aus einem regulierenden zu einem konstituierenden wird«.60 Sohm verkenne, »daß eine regulierende Rechtsordnung nicht nur nicht im Gegensatz zum Walten des Geistes steht, sondern durch dieses auch gerade geschaffen werden kann«. Das Neue Testament, so betont Bultmann, 54 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 134, 135. 55 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 141–142. Niederwimmer verweist dazu auf Hans Hübner: Biblische Theologie des Neuen Testaments 2. Die Theologie des Paulus und ihre neutestamentliche Wirkungsgeschichte, Göttingen 1993, 405–406. Hübner betont, dass die Aussage in 2 Petr 1,4 (γένησθε θείας κοινωνοὶ φύσεως) zwar pantheistisch oder im Sinne einer Vergottung »mißverstanden werden kann«, dass sie aber nicht so gemeint ist. Überdies hat der Satz ja noch eine Fortsetzung, denn es heißt: »[…] wenn ihr entflohen seid dem Verderben, das durch die Begierde in der Welt (wirksam) ist« (ἀποφυγόντες τῆς ἐν τῷ κόσμῳ ἐν ἐπιθυμίᾳ φθορᾶς). Wie im Kontext dieser eschatologisch-apokalyptischen Perspektive der Begriff θεία φύσις aufzufassen ist, lässt sich schwer sagen; vgl. Henning Paulsen: Der Zweite Petrusbrief und der Judasbrief (KEK 12,2), Göttingen 1992, 108–110. 56 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 147–160. 57 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 151. Hier wäre freilich anzumerken, dass »Volk Gottes« (λαὸς τοῦ θεοῦ) als Bezeichnung für die Kirche im Neuen Testament noch nicht belegt ist. 58 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 158 (mit Anm. 45) mit Bezug auf Bultmann: Theologie (s. Anm. 26), 447ff. 59 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 373. 60 Bultmann, Theologie (s. Anm. 26), 449–450 (Kursive im Original gesperrt).

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»wäre nie geschrieben, weiter überliefert und als autoritativ kanonisiert worden, stünden charismatisches Wort und Ordnung schaffende Tradition in Widerspruch zueinander«.61 Mir scheint, dass Niederwimmer und Bultmann hier gar nicht allzu weit voneinander entfernt sind. Zu der »Erfahrung des Geistes« gehören für Niederwimmer auch »die konstitutiven Riten« der Kirche, die Taufe und die Eucharistie, sowie die »sacramenta minora«.62 Über die Zahl der Sakramente sage das Neue Testament gar nichts, über deren Wirkung sage es nur implizit etwas; auf die damit verbundenen Fragen habe erst die spätere Kirche geantwortet, und darin sieht Niederwimmer »ein gutes Beispiel für die Unmöglichkeit, christliche Lehre ausschließlich aus den expliziten Lehraussagen der Heiligen Schrift abzuleiten«.63 Dieser Hinweis ist natürlich grundsätzlich richtig. Aber die urchristliche Gemeinde hat getauft und vermutlich in den meisten Gemeinden das Herrenmahl gefeiert, und so sind jedenfalls diese beiden »Sakramente« historisch gut belegt.64 Taufe und Herrenmahl konnten gefeiert werden, ohne dass die damit vielleicht verbundenen dogmatischen Probleme in den Gemeinden gesehen und womöglich einheitlich gelöst wurden; angesichts dessen könnte man durchaus fragen, ob hier wirklich ein fundamentaler theologischer Bedarf für »die richtige« Auslegung bestand und besteht. Ganz sicher kann sich die christliche Lehre weder auf das einfache Nachsprechen der biblischen Aussagen beschränken noch wird sie dort zu schweigen haben, wo neutestamentliche Schriften wenig oder gar nichts sagen; aber der Maßstab für die später gestellten Fragen und die dazu gefundenen Antworten müssen doch die biblischen Aussagen sein. Gerade wenn ein »Kanon im Kanon« mit guten Gründen abgelehnt wird, wird man umgekehrt eine quasi unbegrenzte »Ausdehnung« des Kanons zu vermeiden haben.65

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Bultmann, Theologie des NT (s. Anm. 26), 450. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 161–174. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 161. Niederwimmer notiert, im Unterschied zu Taufe und Herrenmahl seien die sacramenta minora »in neutestamentlicher Zeit naturgemäß weniger deutlich ausgebildet« (Niederwimmer: Theologie [s. Anm. 15], 169); aber sind Firmung, Buße, Amts-Ordination oder Ehe überhaupt als der Taufe und dem Herrenmahl vergleichbare »Sakramente« im Neuen Testament zu entdecken? 65 Niederwimmer meint, die Kirche habe »gerade auch auf diesem Gebiet […] nicht auf dem Vermittlungsstand der Anfänge stehen bleiben« können, und sie werde »auch in Zukunft über jeden erreichten Stand der Sakramentenlehre hinaus müssen, um mehr und mehr zu verstehen, was uns Christus in seinen Geheimnissen geschenkt hat« (Niederwimmer: Theologie [s. Anm. 15], 171).

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5 In dem zweiten Buch »Explikation« beschreibt Niederwimmer die Phase der theologischen Entwicklung, in der man sich nicht mehr »mit der motivlichen Vermittlung allein« begnügte, sondern dazu überging, »den neuen Glauben in systematischen Ansätzen reflex zu erfassen und ihn damit auf eine ganz neue Stufe der Vermittlung zu heben«. Diese »im strengen Sinn ›theologischen‹ Entwürfe des christlichen Glaubens« seien bei Paulus, im Johannesevangelium und im Hebräerbrief zu finden. Niederwimmer stellt sie unter den Begriff ratio fidei,66 betont aber zugleich, dass es »keine theologische Begrifflichkeit« gibt, die »das Mysterium angemessen, vollständig und definitiv aussagen« könnte, denn Gott bleibt immer »der je Größere«. Von Gott könne »nur κατ’ ἀναλογίαν geredet werden«, insofern ja »die Unähnlichkeit zwischen Gesagtem und Gemeintem immer größer ist als die Ähnlichkeit«;67 jede theologische Reflexion erweise sich daher »als vorläufig und partiell«.68 Da das Wissen immer »analoges Wissen« bleibe, könne das zu Erkennende nie in den Begriff aufgehen: »Offenbarung bleibt die unendliche Vorgabe der begrifflichen Theologie.«69 Ausführlich stellt Niederwimmer die Theologie des Paulus dar,70 betont aber, dass sie »kein Gesamtsystem« biete und auch nicht als eine summa theologica apostolica anzusehen sei. Daher könne man sich »nicht an ihr allein ausrichten und andere neutestamentliche Texte ignorieren«, und dazu heißt es in einer ergänzenden Fußnote: »Die traditionelle protestantische Parole ›solus Paulus‹ ist historisch und sachlich durch nichts gerechtfertigt.«71 Dem ist natürlich nicht zu widersprechen; es wäre allerdings zu fragen, wann und wo es denn eine solche »protestantische Parole solus Paulus« tatsächlich jemals gegeben hat. Niederwimmer betont, »wesentliche theologische Fragen« seien von Paulus »nicht thematisiert« worden. So habe er in der Gotteslehre die durch das Bekenntnis zu Jesus eingetretenen Veränderungen des Gottesverständnisses des hellenistischen Judentums nicht bedacht, die Christologie erörtere er nur »in minimalen Ansätzen«, Ekklesiologie, Sakramentenlehre und Eschatologie würden von Paulus nur »en passant gestreift«. Das eigentliche und zentrale Thema des Paulus war die »Frage des Gesetzes und was mit ihr zusammenhängt, also die 66 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 172. 67 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 173 unter Verweis auf das 4. Laterankonzil und auf Augustin. 68 In Anknüpfung an Erich Przywara meint Niederwimmer (Theologie [s. Anm. 15], 173): »Der immer größere Gott und die immer größere Unähnlichkeit innerhalb der analogen Rede zwingen (wenn auch in der Übereinstimmung mit der analogia fidei) zu immer neuem Übersteigen des jeweils Erreichten – in das Undenkbare des Geheimnisses hinein«. 69 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 174. 70 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 175–256. 71 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 184 (mit Anm. 24).

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Frage der eschatologischen Erneuerung der sittlichen Existenz«.72 Hier ist freilich anzumerken, dass Niederwimmers eigene Ausführungen zu »Gotteserkenntnis und Gesetz« bei Paulus73 deutlich machen, dass bei Paulus das Gesetzesverständnis und die Rede von Gott gar nicht voneinander zu trennen sind.74 Mit der These, die paulinische Rede von der Gerechtigkeit Gottes stehe »deutlich im Dienst der Polemik«75 und sei von Paulus »vermutlich erst gegen Ende seines Wirkens« entwickelt worden,76 folgt Niederwimmer der alten und als the new perspective wieder neu belebten These von der Rechtfertigungstheologie als einer Kampfeslehre;77 eine eingehende Diskussion wäre lohnend, aber die kann hier leider nicht geführt werden.78 Zur Christologie des Paulus79 schreibt Niederwimmer, der Apostel sei der erste gewesen, der die soteriologischen Konsequenzen des Kreuzestodes Jesu »systematisch durchdacht« hat. Paulus habe »die negative Einstellung der Umwelt zur praedicatio crucis« nicht verheimlicht oder verharmlost, sondern im Gegenteil besonders hervorgehoben, und durch dieses Paradox sei die paulinische Theologie bestimmt: »Der Crucifixus ist doch der göttliche Gesandte! Der Beweis dafür ist die Auferweckung.«80 Der auf diese Weise von Paulus herausgestellte Anstoß des Kreuzes habe »den Aufbruch in eine unerhörte und zunächst geradezu erschreckende Freiheit« ermöglicht: Der Kreuzestod hat den Gottessohn »mit der Unzahl der Gefolterten, Angeprangerten und Vernichteten solidarisch gemacht«, und das gibt dem »Mysterium incarnationis seine letzte Tiefe und läßt die menschliche Existenz fortan in einem neuen Licht erscheinen«, schreibt Niederwimmer eindrücklich.81 Offenbar findet Niederwimmer in der paulinischen Christologie doch mehr als nur »minimale Ansätze«. Zum paulinischen Verständnis des neuen Seins in Christus weist Niederwimmer unter der Überschrift »Das neue Sein als Freiheit« die Vorstellung zurück, dass die Rechtfertigung keine Veränderung der sittlichen Qualität mit sich bringe, da sie, wie oft gesagt werde, »kein empirisch feststellbarer Akt sei, son72 73 74 75 76 77 78

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Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 184. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 187–193. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 194–210. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 229. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 230. Vgl. Hans Weder: Die Normativität des Glaubens, in: Paul-Gerhard Klumbies/David du Toit (Hg.): Paulus – Werk und Wirkung. Festschrift für Andreas Lindemann zum 70. Geburtstag, Tübingen 2013, 311–324. Vgl. meinen Aufsatz: Christusglaube und »Werke des Gesetzes« bei Paulus. Exegetische Perspektiven, in: Tobias Nicklas u. a. (Hg.): Ancient Perspectives on Paul (NTOA/StUNT 102), Göttingen 2013, 234–262. Zur »Entstehung« der paulinischen Rechtfertigungslehre vgl. Michael Wolter: Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 345–348. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 211–225. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 221. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 222.

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dern als unanschauliches göttliches Urteil alle Empirie« übersteige. Dabei sei das Gegenteil der Fall: Mit dem Imperativ in der Paränese fordert Paulus den Getauften dazu auf, »sein in der Taufe gewonnenes neues Sein im Handeln zu bewahren«.82 Wolle man, so heißt es abschließend, für die Theologie des Paulus »einen umfassenden Grundsatz abstrahieren«, dann sei es »offenbar die Maxime, sich (einerseits) die eschatologische Situation in aller Schärfe zu vergegenwärtigen, ohne sie (andererseits) an die Historie zu verraten, – sei es so, daß man die historischen Bedingungen negiert, sei es so, daß man die eschatologische Motivation zu einer bloß historisch-empirischen herabsetzt«. Das so gewonnene Bild zeige dann einen Paulus, »der in den eschatologischen Anfängen ebenso zu Hause ist wie in der frühkatholischen Vermittlung mit den irdischen Bedingungen«, und darauf folgt die Feststellung: »Das – und kein anderer ist der Paulus des Neuen Testaments.«83 Man wird Niederwimmer auf jeden Fall zugestehen, dass Einseitigkeiten bei der Erfassung der Theologie des Paulus vermieden werden müssen; das aus späterer kirchlicher Sicht oft schwierige, bisweilen vielleicht sogar anstößige Profil dieser Theologie darf aber nicht aus dem Blick geraten. Zu Johannes bzw. zum Corpus Johanneum84 geht Niederwimmer eingangs auf das schwierige Problem der Geschichte der johanneischen Gemeinde ein, die sich in der Entstehungsgeschichte des Johannesevangeliums und dann in den Johannesbriefen spiegele.85 Die johanneische Theologie wird dann von drei Themen her erörtert: »Schöpfung und Selbstentfremdung«86, »das Heilsgeschehen«87, »das Schicksal der Glaubenden«88. Niederwimmer meint, es sei nicht vom johanneischen »Dualismus« zu sprechen, sondern von »Alternativbegriffen«, die im Johannesevangelium den Gegensatz von Heil und Unheil veranschaulichen.89 Jesus als der Gesandte Gottes ist im Johannesevangelium der Deus praesens,90 sein 82 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 247–248. Es sei ein philosophischer Fehler Bultmanns, wenn für ihn der Mensch nur das ist, »was er in actu seiner Entscheidung ist«; ein theologischer Fehler sei es, wenn die Rechtfertigung »zu einem bloßen Urteil Gottes herabgesetzt« wird, »das keine die Existenz des Menschen empirisch verwandelnde Kraft hat«. In Bultmanns Anthropologie sei der Mensch ein »Entscheidungs-Gespenst«, insofern das Sein in den Akt aufgehoben wird und auf diese Weise »Akt und Entscheidung bodenlos« werden. 83 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 256. 84 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 257–329. 85 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 259–263. Er betont einleitend, er lege ein »hypothetisches Konstrukt« vor, eine opinio communis werde es »vielleicht unter endlichen Bedingungen nie geben« (259). 86 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 265–279. 87 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 280–311. 88 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 312–329. 89 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 270–279. 90 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 286.

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Werk ist die Erlösung. Den Wundern, nicht zufällig sind es sieben, komme wesentliche Bedeutung zu, denn im Wunder tritt »Jesu göttliche Majestät, der Lichtglanz seines himmlischen Wesens« in Erscheinung – man könne auch sagen: »seine göttliche Natur, die δόξα, die gloria, die ihm zu eigen ist«.91 Das gelte auch und vielleicht sogar noch mehr für die »Wortoffenbarung«, wie die Ich-bin-Worte zeigen.92 In impliziter Abgrenzung gegen Bultmann notiert Niederwimmer, für das Johannesevangelium sei die Entscheidung für oder gegen Jesus nicht ein »einmaliger isolierter Akt«, sondern hier werde »das Wesen des Menschen und in seinem Wesen seine Abkunft sichtbar«.93 Abschließend beschreibt Niederwimmer das johanneische Verständnis des Liebesgebots und den »Sieg des Glaubens über die Welt«.94 Dieser Darstellung der johannischen Theologie kann ich im Wesentlichen zustimmen. Aber es stellt sich nochmals die Frage, ob denn hinsichtlich der »Theologie im engeren Sinne« wirklich eine grundlegende Differenz besteht zwischen dem vierten Evangelium und den drei synoptischen Evangelien. Auch die Jesuserzählungen des Markus, des Matthäus und des Lukas sind doch jede für sich theologisch reflektierte Entwürfe, die sich mit vorgegebener Tradition auseinandersetzen und sie neu ausarbeiten.95 Und wenn die neuerdings diskutierte These zutreffen sollte, dass das Johannesevangelium die synoptischen Evangelien literarisch voraussetzt und mit ihnen geradezu »spielt«,96 dann wäre sogar umso nachdrücklicher zu fragen, ob die Arbeit des Autors des Johannesevangeliums wirklich auf einer theologisch grundsätzlich anderen, womöglich »höheren« Ebene liegt als die Werke der Autoren der synoptischen Evangelien. Der Hebräerbrief, der in einer »Theologie des Neuen Testaments« meist etwas stiefmütterlich behandelt wird, erfährt nun in besonderer Weise, wenn auch recht knapp, die Zuwendung Niederwimmers.97 Eingangs zitiert er Erich Gräßers Aussage, um den Hebräerbrief zu verstehen, müsse man nicht wissen, wer ihn geschrieben hat.98 Das treffe zu, »wenn man einschränkend fortsetzt: aber die 91 92 93 94 95

Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 291–292. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 293–301. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 305. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 312–329. Alkier: Rezension (s. Anm. 33), 277 meint, es sei konsequent, dass man bei Niederwimmer »eine Theologie der Synoptiker« nicht findet – Niederwimmer teile »die Bultmannsche Ignoranz [sic!] von Theologien in Erzählform – allerdings mit dem forschungsgeschichtlichen Unterschied, dass in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche Arbeit in die Narratologie biblischer Literatur investiert wurde, wovon N.s Konzept und auch dessen Literaturliste beredt schweigt«. Die Möglichkeit, dass Niederwimmer durchaus nicht unbegründet ein anderes Konzept (!) vertritt, als Alkier es für richtig hält, scheint ihm nicht in den Blick zu kommen. 96 So Hartwig Thyen: Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 22015. 97 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 330–365. 98 Erich Gräßer: An die Hebräer 1. Hebr 1–6 (EKK 17,1) Zürich 1990, 19: »Die unlösbare und bis

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geistige Heimat des Verf[assers] zu erkennen, ist für das Verständnis der Schrift allerdings notwendig«.99 Der Verfasser des Hebräerbriefes beziehe sich zum einen auf ein fest formuliertes Bekenntnis, zum andern auf die Septuaginta, die »griechische Bibel Alexandriens«; er vermittele den Adressaten auf diese Weise seine Lehre mit Denkvoraussetzungen, »die völlig anderer Art sind als etwa die der Verkündigung Jesu oder die der paulinischen oder johanneischen Theologie«. In dieser »Begegnung des christlichen Glaubens mit den Denkvoraussetzungen des hellenistischen Judentums alexandrinischer Prägung« sieht Niederwimmer einen »Augenblick von größter Tragweite für die Zukunft«;100 so sei der Hebräerbrief zwar »noch nicht der Anfang der ›christlichen Philosophie‹, wohl aber ein Vorspiel dazu«.101 Die Theologie des Hebräerbriefs wird unter drei Themen vorgestellt: Mit seiner Ontologie102 wolle der Autor zum Ausdruck bringen, »daß alles endlich Seiende seinen Seinsgrund und seine Seinsmächtigkeit nicht in sich selbst hat, sondern außerhalb seiner selbst, in der Wirklichkeit Gottes, die sich in Jesus Christus geoffenbart hat und daß daher alles endlich Seiende in der Bewegung a Deo ad Deum steht«.103 In der Christologie des Hebräerbriefes zeigten sich, in Verbindung mit der Vorstellung vom »himmlischen Gottesdienst« und von Jesus als dem himmlischen Priester,104 erstmals »Ansätze zu einer ontologischen Christologie«: »Der Sohn« ist der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und das Abbild des Wesens Gottes, er ist gemäß Hebr 1,3 »das ἀπαύγασμα τῆς δόξης (splendor gloriae scil. Dei) und der χαρακτὴρ τῆς ὑποστάσεως αὐτοῦ (figura substantiae eius)«, wobei Niederwimmer die Stelle bewusst nicht nur nach dem griechischen Text, sondern auch in der Vulgata-Fassung zitiert, die das philosophische Potential der Aussage vielleicht noch stärker hervorhebt als das griechische Original.105 Bei der Frage nach der Eschatologie106 folgt Niederwimmer weitgehend der traditionellen Deutung: Christsein heiße für den Hebräerbrief Weggehen, Aufbrechen, die Welt hinter sich lassen, und deshalb könne gesagt werden: »Kirche ist der eschatologische Aufbruch in die ›obere‹, unsichtbare, kommende Welt.«107 In

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heute ungelöste Autorfrage hat zu keiner Zeit ein hermeneutisches Problem dargestellt. Niemand muß wissen, wer den Hebr geschrieben hat, um ihn zu verstehen. Die Autorfrage hat aber von frühester Zeit an ein kirchenpolitisches Problem dargestellt.« Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 333. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 334. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 337. Die allegorische und typologische Bibelauslegung im Hebr unterscheide sich von der Allegorese Philos, auch wenn sich über die Herkunft Genaues nicht sagen lasse (338). Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 341–348. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 347. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 349–359. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 351. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 360–365. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 361.

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diesem Sinne ist die Exodus-Gemeinde auf dem Weg zu der ihr von Gott verheißenen Ruhe.108 Man kann den Hebräerbrief sicherlich als ein Dokument des sich entwickelnden »Frühkatholizismus« ansehen; aber er ist ein Text des Urchristentums und einer sorgfältigen theologischen Auslegung würdig. Eine solche hat Niederwimmer im Rahmen seiner Gesamtdarstellung vorgelegt.

6 Das dritte Buch »Stabilisation« trägt den Untertitel »Die Ausbildung der Großkirche«.109 Die meisten neueren Darstellungen der neutestamentlichen Theologie konzentrieren sich auf die theologische Analyse der Schriften des neutestamentlichen Kanons – aus Niederwimmers Sicht wäre wohl zu sagen: sie beschränken sich darauf.110 Bei Rudolf Bultmann steht am Ende der Abschnitt »Die Entwicklung zur Alten Kirche«; dort werden die Grenzen des neutestamentlichen Kanons überschritten, es wird freilich ein deutliches Unbehagen gegenüber der dargestellten theologischen Entwicklung erkennbar.111 Von beiden Ansätzen unterscheidet sich Niederwimmers Vorgehen in grundlegender Weise. In einer längeren »Vorbemerkung« wird zunächst der Begriff »Frühkatholizismus« diskutiert, als dessen Charakteristika die zunehmende Institutionalisierung der Kirche, die Vorstellung des Amtes als göttliche Setzung, die Ansätze zu einem heiligen Recht sowie das realistische Sakramentsverständnis gelten.112 Stefan Alkier erklärt, der Begriff »Frühkatholizismus« sei »von der Forschung längst zu Recht als konfessionalistisch ausrangiert« worden,113 aber damit ist die Frage, wann die von Niederwimmer und vielen anderen beobachteten Veränderungen im Selbstverständnis und in der Praxis der Kirche eine neue Qualität erhalten haben, noch nicht beantwortet.114 Niederwimmer meint, selbst wenn 108 Vgl. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 364–365. 109 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 366–441. 110 Vgl. etwa Hans Conzelmann: Grundriß der Theologie des Neuen Testaments (Einführung in die evangelische Theologie 2), München 31976, bearb. v. Andreas Lindemann (UTB 1446. Theologie), Tübingen 61997; Joachim Gnilka: Theologie des Neuen Testaments (HThKNT.S 5), Freiburg i.Br. 1994; Schnelle: Theologie (s. Anm. 22). Anders Ferdinand Hahn: Theologie des Neuen Testaments 1. Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 2002, der in Teil VIII (»Übergang zur Theologiegeschichte des 2. Jahrhunderts«, 734–762) nach Hinweisen zu Jud und 2 Petr (743–749) auch auf die Schriften der Apostolischen Väter eingeht (750–761). 111 Bultmann: Theologie (s. Anm. 26), 446–584. 112 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 366–374. 113 Alkier: Rezension (s. Anm. 33), 279. 114 Vgl. dazu Karl Kertelge: »Frühkatholizismus« im Neuen Testament als Herausforderung für die Ökumene, in: Dietrich-Alex Koch u. a. (Hg.): Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte

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man auf den Begriff verzichte, könne man »immer noch diese Motive distanzieren, aber sicher nicht historisch, sondern nur von einem dogmatischen Standpunkt aus, der sich aber gerade auch an der Historie nicht ausweisen läßt«.115 Der Begriff könne »nützlich sein, wenn er (unter völliger Absehung von jeder negativen Wertung) eine bestimmte Entwicklungs-Tendenz bezeichnet […], die sich auf dem historischen Weg zur ›alten Kirche‹ sukzessive und in Abgrenzung aktuierte«.116 Der »Frühkatholizismus« wurde in der zeitweise intensiv geführten Debatte oft nach eigenem konfessionellen Standpunkt entweder durchaus positiv oder aber negativ eingeschätzt. Niederwimmer beobachtet, dass der Beginn des »Frühkatholizismus« im Laufe der Diskussion zeitlich immer mehr nach vorn verlegt wurde,117 so dass man geradezu sagen könne, der »Frühkatholizismus« habe schon mit Ostern begonnen,118 der Begriff beschreibe ja eine tatsächlich vorhandene Entwicklungstendenz, die im Laufe des 2. Jahrhunderts ihren Abschluss fand.119 Die »Schlußphase der Entwicklung der urchristlichen Dogmengeschichte« sei nicht etwa ein »Abfall«, sondern »in gewisser Weise« sogar der »Zielpunkt der Entwicklung«, insofern der christliche Glaube »in der Phase des Frühkatholizismus zum ersten Mal definitiv« wird.120 Ohne diese Stabilisierung hätte »die Kirche dasselbe Schicksal genommen wie etwa die Gruppe der Johannes-Jünger«: Es wären »gerade die eschatologische Motivation«, es wären »gerade Charismen und Prophetie«, und es wäre »gerade auch die Rechtfertigung aus Glauben […] pervertiert, wenn die Kirche nicht zu einer sinnvollen Stabilisierung gefunden hätte«.121 In diesem Zusammenhang verweist Niederwimmer nochmals auf den doppelten Charakter der Kirche, die einerseits »eine eschatologische Größe« ist, weil in ihr »das Eschaton bereits zeichenhaft und partiell gegenwärtig« ist, die zugleich aber »eine historische Größe« ist, da sie »partizipiert an der Endlichkeit der Geschichte«.122 »Die Kirche«, so schließt Niederwimmer diesen Gedankengang, »ist das Paradox einer ›eschatologischen

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im frühen Christentum. Beiträge zur Verkündigung Jesu und zum Kerygma der Kirche. Festschrift für Willi Marxen zum 70. Geburtstag, Gütersloh 1989, 344–360. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 369. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 369. In den »Prolegomena« hatte Niederwimmer geschrieben, diese »Schlußepoche der urchristlichen Entwicklung« sei »bei aller Kritik im wesentlichen positiv zu werten«; sie stelle nicht etwa »einen Verfall, sondern in gewisser Weise das Ziel der Entwicklung dar« (Niederwimmer: Theologie [s. Anm. 15], 15). Ernst Käsemann: Paulus und der Frühkatholizismus [1963], in: ders.: Exegetische Versuche und Besinnungen 2, Göttingen 1964, (239–252) 240–241 stellt die »These auf, daß Paulus, rein historisch betrachtet, direkt und indirekt, mit und gegen seinen Willen, zum mindesten seiner Wirkung nach selber ein Wegbereiter des Frühkatholizismus gewesen ist«. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 369. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 369. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 370. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 371. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 373.

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Institution‹.«123 Das ist sicher richtig; es wäre nun aber darüber zu diskutieren, wie stark der Aspekt der »Institution« und wie stark deren Charakterisierung als »eschatologisch« jeweils zu betonen ist. Als das »Grund-Amt« der Kirche,124 »auf das alle späteren christlichen Ämter zurückgehen«, sieht Niederwimmer das Apostelamt; es sei zwar »auf die Gründungszeit der Kirche beschränkt« gewesen, aber indem sich die Kirche »als apostolische Kirche bekennt, beansprucht sie, auf dem Ursprungs-Amt des Apostolats aufzuruhen«.125 Dabei war der Kreis der Apostel offen und jedenfalls nicht auf »die Zwölf« beschränkt, aber dennoch gehe die Berufung zum Apostel »auf einen sakralen Rechtsakt zurück, den der erhöhte Kyrios selbst gesetzt hat«, denn der Apostel werde ja nicht von der Gemeinde eingesetzt.126 Nach kurzen Hinweisen auf den Zwölferkreis127 wendet sich Niederwimmer ausführlich dem »Petrusamt« zu.128 Petrus habe schon zu Lebzeiten Jesu »eine führende Rolle« eingenommen, und so wäre es »wunderlich, wenn dieser Mann ohne primatiale Autorität geblieben wäre«.129 Ob das »Felsenwort« in Mt 16,18– 19 auf den irdischen Jesus zurückgeht, sei zwar nicht sicher zu entscheiden, aber jedenfalls spreche hier der erhöhte Jesus »im Munde seiner Kirche«, und daher sei der Text »so oder so verbindlich«.130 Und selbst wenn sich die Deutung des Namens Πέτρος als »Fels« als nicht ursprünglich erweisen sollte, hätte das »nur historische, nicht doktrinäre Bedeutung«; denn dass dieses Primatslogion »den Felsen meint, auf dem die Gesamtkirche ruht, steht außer Zweifel«, und dabei sei zweifellos »die Person des Simon (und nicht etwa sein Glaube) gemeint«.131 In dieselbe Richtung weise das »aus einem ganz anderen Traditionsbereich stammende« Wort des Auferstandenen an Petrus: »Weide meine Schafe« (Joh 21,15– 17). Dieser Befund »zwingt uns, von einem eigenen Petrusamt mit weitreichender Gewalt über die Gesamtkirche zu sprechen«, auch wenn das in der Zeit der Anfänge der Kirche »nur in ersten Ansätzen und nur in partieller Weise« realisiert worden sei.132

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Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 374. So die Überschrift zu § 26 (Niederwimmer: Theologie [s. Anm. 15], 375). Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 375. Es habe mindestens zwei Typen des Apostolats gegeben: Im palästinisch-syrischen Milieu musste der Apostel »heimatlos und bettelarm« sein, wie aus Didache 11,3–6 hervorgeht, dem gegenüber stehe der auf Gemeinden bezogene »Apostolat ›antiochenischen‹ Typs«, der bei Paulus seine besondere Ausprägung erfuhr (Niederwimmer: Theologie [s. Anm. 15], 377– 378). Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 380–381. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 381–389. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 383. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 384. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 384. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 386.

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Niederwimmer stellt ausdrücklich fest, dass viele Bereiche der urchristlichen Tradition ein »Petrusamt« nicht kennen oder zumindest nicht erwähnen, und dass auch die Frage einer Sukzession in der Frühzeit nicht erörtert worden sei. Gleichwohl trete »auch außerhalb der beiden Primatslogien da und dort das spezifische Amt des Petrus deutlicher hervor«: In der Apostelgeschichte sei Petrus der princeps apostolorum, der Besuch des Paulus bei Petrus (Gal 1,18) habe »nur Sinn«, wenn das videre Cepham »in irgendeiner Weise einen Vorrang des Petrus manifestiert«,133 und aus Joh 21 ergebe sich, dass auch die johanneische Gemeinde »den Primat des Petrus über die Gesamtkirche und daher auch die Rechte des Petrus gegenüber der eigenen, der johanneischen Gruppe« anerkannt hat.134 Zu Gal 1,18 und zu Joh 21 sind auch andere Auslegungen möglich, die einen betonten Vorrang des Petrus nicht erkennen lassen.135 Die zunächst tatsächlich herausragende Stellung des Petrus in der Apostelgeschichte erfährt in 12,17 unvermittelt eine Unterbrechung mit der knappen Notiz, dass Petrus nach einer kurzen Begegnung mit (dem Herrenbruder) Jakobus »an einen anderen Ort« gegangen sei. Zwar ist er dann beim »Apostelkonzil« wieder in Jerusalem und hält die erste Rede (15,6–11); aber ausschlaggebend für die weiteren Entscheidungen sind die Worte des Jakobus, während Petrus in der ganzen Apostelgeschichte mit keinem Wort mehr erwähnt wird. »Ein Thema für sich« sei »der Rechtsanspruch der ecclesia Romana«, die offenbar »schon vor 70 n. Chr. Konkurrent der jerusalemer Urgemeinde gewesen zu sein« scheine; nur so erkläre sich der Römerbrief des Paulus.136 Die »Idee der Sukzession des Petrusamtes« sei in neutestamentlicher Zeit »noch nicht reflex« gewesen, und zwar »weder in dem positiven Sinn«, dass von einem »Rechtsnachfolger« gesprochen würde, »noch freilich auch in dem negativen Sinn, als sei jede Sukzession a limine ausgeschlossen«. Die Annahme, die dem Petrus verliehene potestas sei »auf Simon allein beschränkt« gewesen, müsse jedenfalls als ein »unerlaubtes argumentum e silentio« gelten; in der Frühzeit sei die ganze Frage noch gar kein Problem gewesen, »das so oder so thematisch entschieden worden wäre«.137 Die kirchliche Tradition hatte dann aber Ant133 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 387. 134 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 387; nur deshalb habe das johanneische Schrifttum »Gemeingut der Groß-Kirche« werden können. 135 Paulus schreibt in Gal 1,18 lediglich, er sei nach Jerusalem gegangen, um Petrus »kennenzulernen« (ἱστορῆσαι Κηφᾶν). Und aus Joh 21,15–17 lässt sich weder ein »Primat« des Petrus noch gar »die Installation eines besonderen ›Petrusamtes‹« ableiten (Thyen: Johannesevangelium [s. Anm. 96], 786). 136 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 387. Mit diesem Brief werbe Paulus »um die Unterstützung der einflußreichen römischen Kirche«, lege zugleich »der ecclesia Romana ›sein‹ Evangelium vor« und stelle Missverständnisse richtig (ebd.). Im Römerbrief des Paulus ist allerdings von einer römischen ἐκκλησία nicht die Rede. 137 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 388–389 (Zitat 389).

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worten zu geben, die »zwar in der ›Perspektive‹ der neutestamentlichen Texte liegen« mussten, die aber dort »noch nicht explizit formuliert« waren; daher könne darüber »vom Neuen Testament her allein weder positiv noch negativ entschieden werden«, und so sei auch dies »ein lehrrreiches Beispiel für die Unhaltbarkeit des traditionellen Sola-scriptura-Prinzips«.138 Wieder sind Rückfragen zu stellen: Kann man wirklich sagen, dass ein »Petrusamt«, das nicht an die Person, sondern an ein ja noch gar nicht existierendes »Amt« gebunden ist, »in der Perspektive der neutestamentlichen Texte« liegt? Ist der Hinweis auf das völlige Fehlen von Aussagen über ein solches Amt wirklich ein unzulässiges argumentum e silentio? Der gegen Ende des 1. Jahrhunderts verfasste, später als (Erster) Clemensbrief bezeichnete Brief der Kirche von Rom an die Kirche in Korinth und auch die später geschriebenen Briefe des Bischofs Ignatius erwähnen Petrus, aber sie tun es ganz ohne die Perspektive eines besonderen »Amtes«.139 Ist die historische Entwicklung wirklich als die von Anfang an theologisch »richtige« anzusehen? Eher könnten doch die theologischen und ekklesiologischen Positionen des Urchristentums einen kritischen Maßstab setzen gegenüber Entwicklungen in späterer Zeit. Das sich der Reformation verdankende Prinzip sola scriptura besagt nicht, dass nur das gesagt werden darf, was ausdrücklich in der Schrift steht; aber die Kirche misst ihre Arbeit grundsätzlich an der Schrift, und dann muss es möglich sein, auch Fehlentwicklungen zu erkennen und zu korrigieren. Die »ersten, rudimentären Verfassungsformen der Ortsgemeinden«, so schreibt Niederwimmer, seien nicht als »demokratisch« anzusehen. Das zeige schon das Apostelamt, denn der Apostel ist kein Funktionär der Gemeinden, sondern tritt »mit einem unverhüllten Autoritätsanspruch« auf;140 und dabei verhält er sich nicht demokratisch, »sondern wie ein Hierarch, der seine Position aus göttlichem Recht ableitet«.141 Ob diese Interpretation dem Vorgehen gerecht wird, das Paulus in seinen Gemeindebriefen bei der Argumentation zu kontroversen Problemen anwendet, mag man zumindest fragen. In der Didache, zu der Kurt Niederwimmer den maßgeblichen deutschsprachigen Kommentar verfasst hat, zeigen sich jedenfalls unterschiedliche Tendenzen: Es gibt die offensichtlich aus eigenem Recht handelnden Wandercharismatiker, Propheten und Lehrer, denen aber die ἐπίσκοποι und die διάκονοι als von den Gemeinden gewählte örtliche Amtsträger gegenüber stehen (Didache 15,1–2).142 Zwar wird über das

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Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 389. In 1 Clemens 5,4 klingt ein solcher Aspekt nicht einmal an. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 391. Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 392. Vgl. dazu Niederwimmer: Didache (s. Anm. 4), 241.

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Wahlverfahren nichts gesagt, aber es dürfte fraglich sein, hier wirklich von einem »göttlichen Recht« zu sprechen.143 Das »Ziel der Entwicklung« sieht Niederwimmer im ordo triplex, dem dreifach gestuften Amt, wie es bei Ignatius begegnet: Ein Bischof, darunter die Presbyter, darunter die Diakonen. Die »Würde der Kleriker« werde zwar nicht durch die Sukzession gesichert, wohl aber »durch die Typologie: die irdische Hierarchie vertritt eine überirdische.« Der Bischof repräsentiert die Ortskirche, so wie Christus die Gesamtkirche repräsentiert.144 Wolle man sich in der Amtsfrage am Neuen Testament orientieren, könne man sich »vernünftigerweise nicht an den rudimentären Vorformen orientieren, sondern nur am Ziel der Entwicklung«.145 Schon im Neuen Testament habe man die Frage der Gemeindeordnung nicht »als ein weltlich Ding angesehen, das iure humano geregelt werden kann«, sondern man sah »in, mit und unter den menschlichen Entscheidungen, die hier zu treffen sind, das göttliche Handeln am Werk«. Niederwimmer folgert daraus, dass die Ordnung der Kirche »eine Wirkung des göttlichen Geistes« ist.146 In der Feststellung, urchristliche Gemeindeformen seien nicht direkt in die kirchliche und gesellschaftliche Gegenwart zu übertragen, wird man Niederwimmer kaum widersprechen. Aber bedeutet das zugleich, dass die späteren historischen Entwicklungen unmittelbar als Wirkung des göttlichen Geistes anzusehen sind? »Maßstab der Lehre« waren im ältesten Christentum, wie Niederwimmer feststellt, zuerst die Heilige Schrift Israels und dazu die sich herausbildende christliche Tradition; das später so genannte Alte Testament, auch wenn dessen Abgrenzung noch umstritten war, ist die »von Anfang an entscheidende Autorität der Kirche«.147 Es wurde ausgelegt zum einen nach dem hermeneutischen Prinzip der Typologie und zum andern in der Beziehung von Verheißung und Erfüllung – der dieser Denkfigur folgende Schriftbeweis gehöre »konstitutiv zu der literarischen Gattung ›Evangelien‹«.148 Die neutestamentlichen Autoren wollten »nicht eine Alternative zur Schrift« aufrichten, sondern sie vertraten »eine dialektische Position, derzufolge die Schrift grundsätzlich in Geltung bleibt, wenn sie auch in bestimmten Teilen und in bestimmter Hinsicht durch das Eschaton überholt worden ist«.149 Christus ist »Herr auch der Schrift«, schreibt 143 Überdies nennt die Didache erstaunlich klare Kriterien für die Grenzen, die den Charismatikern in den Gemeinden gesetzt werden sollen (Didache 11–13). 144 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 400–401. Diese Hierarchie garantiere die Einheit der Kirche, und »ohne diese Ordnung gibt es keine Kirche« (401). 145 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 400–401. 146 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 402. 147 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 407–408. 148 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 410–411. 149 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 413.

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Niederwimmer, und er ergänzt in einer Fußnote: »Sofern das Neue Testament von ihm zeugt, bildet es den Interpretationsrahmen des Alten Testaments. Das Neue Testament ist – sozusagen – der ›Kanon‹ des Alten.«150 Das ist eine gewiss bestreitbare und oft auch bestrittene, aber – wie ich meine – historisch wie theologisch gleichermaßen zutreffende Feststellung.151 Die andere Autorität war die Tradition,152 nach Niederwimmer die Herrenworte sowie die Bekenntnisformeln. »Das Phänomen der Bekenntnisbildung als solches und ganzes« sei dabei wichtiger gewesen »als die einzelnen, oft umstrittenen Konkretionen«;153 auf diese Weise werde nämlich deutlich, »daß der Glaube nicht in der bloßen Affektivität verbleiben will«, sondern zu verbindlichen Aussagen drängt. Der Glaube vergewissert sich »seiner Sache«, indem er »die fides qua creditur zur fides quae erhebt, um zu wissen, was er glaubt und um in diesem Wissen mit sich selbst identisch bleiben zu können«.154 Zum Verhältnis von Kirche und Staatsmacht in der Zeit des frühen Christentums155 stellt Niederwimmer fest, die »Paroikia-Existenz der Christen« entspreche dem paulinischen ὡς μή, dem »Als-ob-nicht« (vgl. 1 Kor 7,29–31), durch das die Christen »in eine merkwürdige innere Distanz zu den Poleis und zum Imperium« gebracht worden seien.156 Erst wenn man diese »eschatologische Motivation« sehe, könne auch von der pragmatischen und begrenzten »Loyalität gegenüber den irdischen Machthabern« gesprochen werden.157 Als einen Beleg dafür verweist Niederwimmer auf das, wie er schreibt, »glänzende Apophthegma« in Mk 12,17: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.«158 Wenn es aber dazu kommt, dass die Staatsmacht »religiöse Huldigung verlangt«, wenn sie also »in Antithese zur alleinigen und ausschließlichen Huldigung des Kyrios Jesus tritt«, dann »entsteht die Situation des Martyriums«.159

150 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 413 (mit Anm. 24). 151 Vgl. dazu die Debatte in den Beiträgen im Marburger Jahrbuch Theologie 25: Elisabeth GräbSchmidt/Reiner Preul (Hg.): Das Alte Testament in der Theologie (MThSt 119), Leipzig 2013. 152 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 415–421. 153 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 418. 154 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 420. 155 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 422–441. 156 Vgl. dazu Michael Wolter: Die Inkulturation der »Christen« im 1. Jahrhundert, in: Andreas Lindemann/Christian Ammer (Hg.): Kultur und Identität. Konstruktionen der Identität im europäischen Kontext (EuG 47), Leipzig 2016, 71–90. 157 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 427–428. 158 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 430. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte dieses Logions meinen Aufsatz: Die »Zinsgroschenperikope« Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum, in: Uta Heil/Jörg Ulrich (Hg.): Kirche und Kaiser in Antike und Spätantike. Festschrift für Hanns Christof Brennecke (AKG 136), Berlin 2017, 1–43. 159 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 432.

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Dementsprechend schließt Niederwimmers große Darstellung der Theologie des Neuen Testaments mit dem Abschnitt »Die Kirche der Märtyrer«.160 Die Martyrien seien »kein tragisches Mißverständnis«, sondern »in letzter Instanz ein eschatologisches Ereignis, das sich nach dem Gesetz der Endzeit vollzieht«.161 Aus der Märtyrerverehrung, wie sie etwa im Martyrium des Polykarp sichtbar wird,162 lasse sich auch die Legitimität der Heiligenverehrung ableiten. »Die Heiligen sind es, die das Feuer der Anfänge lebendig erhalten«, sie sind, so lautet der Schlusssatz, »der beste Kommentar zum Neuen Testament, weil sie – inmitten der historischen Dimension – das Eschaton verwirklichen. Anfang und Ende leuchten in ihnen auf.«163 Man kann fragen, ob dieses dritte Buch »Stabilisation« wirklich in eine Darstellung der neutestamentlichen Theologie gehört. Tatsächlich haben wir es mit einer Gratwanderung zu tun: Die meisten Schriften im Neuen Testament repräsentieren das Urchristentum auch im rein historischen Sinne; aber die Kanongrenzen sind damit eben nicht identisch, und so lässt sich theologiegeschichtlich und kirchengeschichtlich gar kein bestimmter Zeitpunkt nennen, an dem aus dem »Urchristentum« die »Alte Kirche« wurde.164 Insofern ist es sachgemäß und sogar unvermeidlich, dass eine Darstellung der »Theologie des Neuen Testaments« nicht strikt auf eine Darstellung der Theologie der im Neuen Testament enthaltenen 27 Schriften bzw. deren Autoren beschränkt wird. Das bedeutet aber zugleich, dass kritische Beobachtungen nicht erst mit Blick auf das 2. Jahrhundert am Platz sind, sondern dass die Möglichkeit zur Kritik auch an den neutestamentlichen Schriften immer vorausgesetzt sein muss.

7 Vielleicht erwartet man in einem so stark systematisch angelegten Werk, wie es in Kurt Niederwimmers »Theologie des Neuen Testaments« vorliegt, ein »Schlusswort«. Bultmann hatte seiner »Theologie des Neuen Testaments« seit der zweiten Auflage »Epilegomena« angefügt, in denen er Aufgabe und Problematik neutestamentlicher Theologie, auch unter dem Aspekt des Verhältnisses von 160 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 433–441. Fundament der christlichen Martyrologie sei »die Nachfolge Jesu bzw. die Imitation der Passion des Herrn. Das Kreuz Christi wird in der Lebenshingabe des Zeugen in einer fast sakramentalen Weise präsent« (437). 161 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 438. 162 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 438–440. 163 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 441. 164 Zur Begrifflichkeit vgl. Dietrich-Alex Koch: Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 22014, 22–24.

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Theologie und Verkündigung, sowie die Geschichte der Fragestellung darlegt.165 Niederwimmer geht den umgekehrten Weg: Die ausführliche systematische Reflexion, die theologische Rechenschaft über die eigene Arbeit steht schon in den »Prolegomena«, die daher bei der Lektüre auf gar keinen Fall übergangen werden dürfen. Kehren wir am Ende des nicht immer ganz einfachen Gesprächs mit der neutestamentlichen Theologie Kurt Niederwimmers zum Anfang zurück. Eine »Theologie des Neuen Testaments«, so heißt es in den »Prolegomena«, kann sich nicht darauf beschränken, »jedem Text seinen Platz in der konstruierten Entwicklungsgeschichte« zuzuweisen; das sei zwar »unverzichtbar«, doch letztlich müsse es »darum gehen, das Ganze als einen historisch bedingten VerstehensProzeß zu erkennen«. Eine Darstellung der Theologie des Neuen Testaments habe deshalb »nicht lediglich deskriptiv, sondern konstruktiv vorzugehen«.166 Diese Position wird mit großer Konsequenz durchgehalten. Der Entwurf ist in sich kohärent und plausibel, ungeachtet mancher ja auch grundsätzlicher Einwände, die ich angedeutet habe. Es ist deshalb, wenn ich das an dieser Stelle so sagen darf, überaus bedauerlich und traurig, dass wir nicht mehr die Möglichkeit haben, das Gespräch mit Kurt Niederwimmer wirklich in Rede und Gegenrede zu führen.

165 Bultmann: Theologie (s. Anm. 26), 585–599. Es handelt sich um die leicht veränderte Fassung eines Beitrags (Das Problem des Verhältnisses von Theologie und Verkündigung im Neuen Testament) zu der 1950 erschienenen Festschrift für Maurice Goguel: Aux sources de la tradition chrétienne. Mélanges offerts à Maurice Goguel à l’occasion de son soixantedixième anniversaire (Bibliothèque théologique), Neuchâtel 1950, 32–42. 166 Niederwimmer: Theologie (s. Anm. 15), 12–13.

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»[E]minently qualified for a theological professorship«. Der Absolvent der Wiener Fakultät Alexander Venetianer und seine fehlgeschlagenen akademischen Ambitionen

1 Der hier in den Mittelpunkt einer fakultätsgeschichtlichen Skizze gerückte Alexander Venetianer (1853–1902) gehörte zum Schülerkreis des reformierten Systematikers Eduard Böhl (1836–1903),1 der ihn auch bei der Nachbesetzung seines Lehrstuhls mit jenen Worten der Überschrift als »eminently qualified for a theological professorship« empfahl. Böhl war 1864 aus Basel berufen worden und entfaltete bis zu seiner vorzeitigen Emeritierung 1899 eine fruchtbare Tätigkeit im Sinne eines reformierten Konfessionalismus, wobei er diesen mit erweckungstheologischen Elementen verknüpfte.2 Lutherische Studenten wurden ebenso erfasst, sodass mehrere in die Kirche H.B. konvertierten, einer von diesen war der aus Ungarn stammende Venetianer, der Sohn eines Rabbiners und älterer Bruder des über die Grenzen Ungarns hinaus bekannten Oberrabbiners von Újpest Lajos Venetianer (1867– 1922).3 Im Folgenden setze ich meine Eduard Böhl gewidmete Studie fort,4 in der ich mich dem konfessionellen Profil (»Confessio Helvetica Posterior als Bekennt1 Wim Balke: Eduard Böhl. Hoogleraar te Wenen en schoonzoon van dr. H.F. Kohlbrugge [E.B. Hochschullehrer in Wien und Schwiegersohn H.F. Kohlbrügges], Zoetermeer 2001. 2 Ho-Duck Kwon: E. Böhls Aufnahme der reformatorischen Theologie, besonders Calvins. Die Bedeutung dieser »Reformatoren-Renaissance« für die Lösung theologischer Probleme der Gegenwart, Diss. theol., Heidelberg 1991; Thomas Schirrmacher: »Festwerden im Glauben an Christum«: Leben und Werk Eduard Böhls, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel (Fundamentum 3 [1995]); Thomas R.V. Forster: »Festwerden im Glauben an Christum«. Eduard Böhl’s […] Proposal for a Reemergence of Reformation Thought (AmUSt 7, Theology and Religion 278), New York 2009 (= Diss. Phil., Aberdeen 2006). 3 Marianna Varga: Erinnerung an Ludwig Venetianer. Studie, Duisburg 2003. 4 Karl W. Schwarz: Zur »entschiedene[n] Wahrung des reformierten Criteriums«. Eine fakultätsgeschichtliche Annäherung an den Systematiker Eduard Böhl, in: Uta Heil/Annette Schellenberg (Hg.): Frömmigkeit. Historische, systematische und praktische Perspektiven (WJTh 11), Göttingen 2016, 233–255.

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nisschrift der Evangelischen Kirche H.B.« [Antrittsvorlesung 11. 4. 1864; Edition Wien 1866]) widmete und sein Bestreben untersuchte, eine konservative Einstellung zu bibelwissenschaftlichen und hermeneutischen Fragen (Verbalinspiration der Heiligen Schrift) mit Pietismus, Erweckung und der entschiedenen Gegnerschaft gegen Unionsbestrebungen (gegen die »Synodenunion« von 1864), gegen die historisch-kritische Methode der Religionswissenschaftlichen Schule (die sogenannte »Moderne« empfand er als Gräuel5) unter einen Hut zu bringen.6 Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869) in Berlin, August Tholuck (1799–1877) und Johannes Wichelhaus (1819–1858) in Halle sowie Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875) in Elberfeld7 waren seine Mentoren, auf deren Wegweisung er vertraute und deren theologische Lehre er rezipierte und mit Nachdruck tradierte.8 Sie waren allesamt theologische Außenseiter und galten in einer von der »Moderne« bestimmten Epoche als antiquiert. Es waren kirchenpolitische Absichten des Kultusministeriums, die in Wien das konfessionelle Moment zu stärken trachteten und die Berufung der beiden Konfessionalisten Böhl (1864) und Johann Michael Seberiny (1825–1915), letzteren mit Wirkung vom 23. 11. 1863 auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie und Kirchenrecht, durchsetzten.9 Der Zeitgeist der »Moderne« lief auf eine »Trennung« von Staat und Kirche hinaus, forderte Synoden als Konsequenz des Gemeindeprinzips und die Überwindung der überkommenen konsistorialen und konfessionellen Kirchenstrukturen (Forderung nach einer Union). Böhl befürchtete, dass damit die »Massenherrschaft« in der Kirche Platz greife, dass Christus und das überlieferte Christentum durch »Bildung«, den »Geist der Zivilisation«, und durch Wissenschaft ersetzt werde.10 Böhl wurde nicht nur der Lehrstuhl für Reformierte Theologie, sondern auch ein über die Systematische Theologie hinausreichender Lehrauftrag für Biblische 5 Ho-Duck Kwon: E. Böhl als Reformatorischer Theologe im Kampf gegen die liberale Theologie im 19. Jahrhundert, Magisterarbeit, Münster 1988; Forster: Eduard Böhl (s. Anm. 2), 70. 6 Frank Hinkelmann: Die Evangelikale Bewegung in Österreich. Grundzüge ihrer historischen und theologischen Entwicklung 1945–1998 (Studien zur Geschichte christlicher Bewegungen reformatorischer Tradition in Österreich 8), Bonn 2014, 107. 7 Wolfgang E. Heinrichs: Freikirchen – eine moderne Kirchenform. Entstehung und Entwicklung von fünf Freikirchen im Wuppertal (Monographie und Studienbücher), Gießen 1989 (= Diss., Wuppertal 1988), 102–103. 8 Ulrich H.J. Körtner: Calvinismus und Moderne. Der Neocalvinismus und seine Vertreter auf dem Lehrstuhl für Reformierte Theologie in Wien, in: Karl W. Schwarz/Falk Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien 1821–1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 10), Wien 1997, 427–451. 9 Karl W. Schwarz: Ein Sieg des »Neuluthertums«. Die Berufung des Theologieprofessors Johann Michael Seberiny, in: WJTh 7 (2008), 197–208. 10 Zitiert in: Rückblicke auf die erste evangelische Generalsynode Österreichs im Jahre 1864, in: Evangelischer Sonntagsbote für Kirche, Schule und Haus 4 (1864), (471–472) 472.

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Theologie, Apologie des Christentums, Religionsphilosophie und Pädagogik übertragen, damit seine Lehrtätigkeit auch dem größeren Teil der Studentenschaft, nämlich jenen lutherischen Bekenntnisstandes, zugute kommen konnte. Trotz seiner weit gespannten theologischen Kompetenz wirkte er wie ein erratischer Block,11 die Professoren Richard Adelbert Lipsius (1830–1892) und Carl Albrecht Vogel (1822–1890) hatten sogar seine Berufung zu verhindern versucht.12 Sein Fakultätskollege Seberiny schilderte Böhl die Atmosphäre an der Fakultät, in der, wie er sich ausdrückte, der »platteste unseligste Rationalismus« vorherrsche:13 […] Sie treten in eine Atmosphäre des plattesten unseligsten Rationalismus! Sie werden hier Anschauungen und Richtungen finden, für die das Christenthum keinen Raum in der Welt hat, für die die Kirche und Glaube nur – Fictionen sind. […] Dafür aber sage ich Ihnen zum Schluss etwas, was Sie […] vollkommen beruhigen wird: Die Jugend, die Commilitonen gehören uns, auf die können Sie rechnen! Zumal auf die der slavischen Zunge […] und auf die Magyaren. Ist dies nicht die Hauptsache? Mögen dann immerhin die Encyclopädisten Sie als »Hyperhengstenbergianer« bei der Jugend denunciren: schadet gar nichts! […]

Jener apostrophierte Professor, der aus seiner Ablehnung des neu berufenen Böhl kein Hehl machte, der Enzyklopädist Lipsius, stieß bei den Studenten auf Unverständnis und kehrte schon nach wenigen Semestern 1864 an eine deutsche Universität zurück.14 Böhl aber blieb und erreichte insbesondere bei seinen reformierten Studenten aus Böhmen, Mähren und Ungarn großen Zuspruch.15 Im Studienjahr 1870/71 wurden 14 Studenten reformierten Bekenntnisses gezählt, zu denen 35 lutherische Studenten hinzutraten. Mit dieser Frequenz lag die Wiener Fakultät vor Basel und Greifswald, fast ebenbürtig mit Heidelberg, wo 54 Studenten eingeschrieben waren. Die Wiener Studentenschaft stammte in ihrer großen Mehrheit (60 %) aus Ungarn (inklusive Slowakei und Slawonien), ein kleinerer Prozentsatz aus Siebenbürgen (12 %) aus Böhmen und Mähren ( je

11 Eduard Böhl: Recent Dogmatic Thought Among the Protestants in Austria-Hungary, in: PRR 2/5 (1891), 1–29, 3–17. 12 Amsterdam, Vrije Universiteit. Historisch Documentatiecentrum voor het Nederlands Protestantisme: Collectie Nr. 108 = Archiv Böhl, Nr. 26 (Briefe von Professoren, v. a. von Kollegen an der Wiener Theologischen Fakultät, 1860–1900): Brief Vogel an Böhl, Wien 2. 11. 1865. Zum Archiv Böhl vgl. Kerstin Geppert: Inventar des Archivs von Prof. Dr. Eduard Böhl (1836– 1903), Amsterdam 2008, verfügbar unter: https://www.hdc.vu.nl/nl/Images/108_Eduard_ Boehl_tcm215-773569.pdf [20. 07. 2018]. 13 Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 26 (s. Anm. 12): Brief Szeberiny an Böhl, Wien 20. 2. 1864 [Hervorhebung im Original]. 14 Max Josef Suda: Richard A. Lipsius’ theologische Auseinandersetzung mit Hegel, in: JGPrÖ 96 (1980), (117–137) 118. 15 Pavel Filipi: Die Schüler Eduard Böhls in Böhmen und Mähren, in: Schwarz/Wagner: Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 8), 453–466.

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10 %), aus Galizien und Österreichisch-Schlesien ( je 4 %), aus dem Gebiet des heutigen Österreichs stammte keiner der Studenten.16 Für seine reformierten Studenten aus der tschechischen Nation, die eigentlich um die liberale und in einer deutschnationalen Imprägnierung verhaftete Fakultät einen weiten Bogen machten, galt Böhl als ein Garant für die »entschiedene Wahrung des reformierten Criteriums«17. Übte er so eine besondere Anziehungskraft auf seine reformierten Studenten aus, so begleitete er diese auch nach deren Studienabschluss, fasste sie in einer Arbeitsgemeinschaft zusammen und lud sie regelmäßig zu Arbeitstreffen ein, blieb mit ihnen auch durch Rundbriefe in Verbindung.18 Diese Arbeitsgemeinschaft zeichnete sich durch eine enge Gefolgschaft der Lehren von Kohlbrügge in Elberfeld aus, Böhls Schwiegervater, der ihn in seiner konservativen dogmatischen Position bekräftigt hatte.19 An einem bestimmten Punkt war sie besonders festzumachen: an der Kirchenzucht, die er mit tiefem Ernst einforderte – völlig kontrovers zum Zeitgeist – aber im Einklang mit der Frage 83 des Heidelberger Katechismus.20 Böhl besuchte mit seinem Schwiegervater die tschechischen Gemeinden in Böhmen und Mähren und nahm die reformierte Erweckungsbewegung in Augenschein, die sich im Windschatten einer nationalen Erweckung (»tschechischer Frühling«) entfaltete und durch Böhl weiter angefacht wurde. Der so durch ihn vermittelte Kontakt in das Rheinland war folgenreich. Denn so kam es, dass die theologischen Erkenntnisse Kohlbrügges von den tschechischen Theologen rezipiert wurden.21 Insbesondere dessen Vorbehalte gegen eine staatlich verordnete 16 Zahlen bei Karl W. Schwarz: »… ein vollständiges protestantisch-theologisches Studium – getrennt von der Universität«. Zur Geschichte der Wiener Lehranstalt/Fakultät und ihrer Bedeutung für den Donau- und Karpatenraum im 19. Jahrhundert, in: Zsolt K. Lengyel u. a. (Hg.): Österreichisch-ungarische Beziehungen auf dem Gebiet des Hochschulwesens/Osztrák-magyar felso˝oktatási kapcsolatok, Székesfehárvár 2010, (141–162) 159. 17 Zur Erinnerung an den von Herrn Hermann von Tardy […] im Namen seiner und etlicher anderer böhmischen reformirten Gemeinen zum Heiligen Osterfeste 1865 unserer Gemeine erstatteten Besuch, Elberfeld 1865, 24–25. 18 Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 72 (Zirkularbriefe Böhls an »Freunde«, »Brüder« und »Väter«, 1876–1902). 19 Helmut Büchsenschütz/Ulrich Stötzel (Hg.): … und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Hermann Friedrich Kohlbrügge und die Niederländisch-Reformierte Gemeinde, Wuppertal 2004, 33. 20 Dazu [Eduard Böhl]: Skizze von der Verfassung der niederländisch-reformirten Gemeinde in Elberfeld, in: Evangelischer Sonntagsbote für Kirche, Schule und Haus 4 (1864), (413–415, 432–434) 413; ders.: Handhabung der Kirchenzucht im katholischen Österreich, in: Evangelisch-reformirte Kirchenzeitung 26 (1876), 70–75. 21 Pavel Filipi: Reformierte Gemeinden in Böhmen und Mähren und deren besondere Beziehung zur Niederländisch-reformierten Gemeinde Elberfeld, in: Klaus van Bürck/Heinrich Lüchtenborg (Hg.): 150 Jahre Niederländisch-reformierte Gemeinde zu Elberfeld, Wuppertal 2000, 227–242; Jan Pokorný: Die Tschechische reformierte Kirche und die Niederländischreformierte Gemeinde zu Elberfeld, in: van Bürck/Lüchtenborg: 150 Jahre, 243–249.

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Union und gegen staatskirchliche Strukturen stießen bei diesen teilweise auf begeisterte Zustimmung.

2 Zu diesem Schülerkreis gehörte auch Alexander Venetianer.22 Auch in Ungarn hatte sich über Initiative des späteren Theologieprofessors in Debrecen Josef von Erdo˝s (1856–1946)23 ein theologischer Arbeitskreis gebildet, in dem Böhls und Kohlbrügges Ansatz rezipiert und weiter ausgebreitet wurde,24 um den vorherrschenden theologischen Liberalismus in die Schranken zu weisen.25 Alle im Folgenden aufgezählten Theologen haben bei Böhl studiert und sind von diesem nach Elberfeld und nach Holland rekommandiert worden, wo sie ihre Studien vertieften und ein Lehrvikariat absolvierten: Pfarrer Sigmund Keck (1861–1944)26 in Cservenka/Slavonien27; Pfarrer Károly Rácz (1842–1925)28 in Bánfalva, der ein Kirchenblatt herausgab und der Pressereferent des Arbeitskreises war; auch Erdo˝s hatte ein Vikariat in Elberfeld (1882) absolviert und als Pfarrer in Pancsova (Pantschowa/Pancˇevo, Südungarn, heute Serbien) und Új-Sóvé (Neu-Schowe, Batschka, heute Ravno Selo, Serbien) gewirkt, ehe er höhere akademische Ehren in Wien erwarb29 und durch Übersetzungen des Heidelberger Katechismus 22 Böhl: Recent Dogmatic Thought (s. Anm. 11), 15, 22; Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 1), 98. 23 Jeno˝ Zoványi/Sándor Ladányi: Magyarországi Protestáns Egyháztörténeti Lexikon, Budapest ³1977, 179–180 Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 1), 90. 24 Mihály Bucsay: Der Protestantismus in Ungarn 1521–1978. Ungarns Reformationskirchen in Geschichte und Gegenwart 2. Vom Absolutismus bis zur Gegenwart (STKG, Reihe 1, 3,2), Wien 1979, 124. 25 Ábrahám Kovács: Die Antwort der Debrecener neuen Orthodoxie auf den theologischen Liberalismus in Ungarn, in: ZNThG 21 (2014), 47–68. 26 Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 1), 93. 27 Sigmund Keck: Die Entstehung und weitere Entwickelung der reformirten Kirchengemeinde zu Cservenka 1784–1904, Cservenka 1904, 61. – Briefwechsel mit Böhl 1884–1901: Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 61 (Briefe von Pfarrer S. Keck, 1884–1901). 28 Zoványi/Ladányi: Magyarországi Protestáns Egyháztörténeti Lexikon (s. Anm. 23), 495; Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 1), 96; János Csohány: Rácz Károly (1842–1925) lelkipásztor élete és munkássága [Leben und Tätigkeit des Pastors Karl Rácz] [1987], Nachdruck in: ders.: Tanulmányok Debrecen és a reformátusság múltjáról [Studien über die Vergangenheit Debrecens und des Reformiertentums], Debrecen 2004, 162–174; László Kósa: Studentenaustausch zwischen Elberfeld und Debrecen, in: KZG 17 (2004), (459–499) 461–464. – Briefwechsel im Archiv Böhl, Nr. 29 (Briefe von ungarischen Pfarrern und Freunden, 1865–1901). 29 Universitätsarchiv Wien, Doktorenbuch: Promotionsverfahren AZ 33/1888 (Lic. theol.): Josef von Erdös: Populäre Erklärung der Briefe Petri und andere Schriften; Promotionsverfahren AZ 34/1891 (Dr. theol.): Josef von Erdös: Biblisch-theologische Analyse des Römerbriefs. Vgl. dazu auch Karl W. Schwarz: Debrecen – Wien. Von István Szoboszlay-Pap bis Zsigmond Varga, in: Studia Debreceni Teológiai Tanulmányok (2015,2), 27–37 – Briefwechsel im Archiv Böhl, Nr. 29 (s. Anm. 28).

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(1884) und der Confessio Helvetica Posterior (1907),30 die beide von der vorherrschenden liberalen Theologie in Ungarn zurückgedrängt wurden, sich sehr verdient machte. Er und sein Sohn Karl von Erdo˝s (1887–1971)31 gelten als wichtige Exponenten des Kohlbrügge-Kreises in Ungarn.32 Eine Sonderstellung innerhalb des Schülerkreises von Böhl nahm Alexander Carl Theodor Venetianer ein. Über seinen Lebenslauf sind wir in Umrissen gut informiert.33 Er war von seiner Herkunft her Jude, Sohn des Rabbiners Albert Venetianer (1831–1897) und dessen Ehefrau Regina geb. Stern (1829–1892) in Fadd, Komitat Tolna, wo er am 17. Juni 1853 geboren wurde. Nach der Matura am Gymnasium in Kecskemét hielt er sich, wie er in einem Curriculum Vitae schrieb, mehrere Monate in Pest auf und empfing dort »im Umgange mit gläubigen Christen mannigfache Anregung zur Erforschung der Wahrheit des Christenthums«34. Der Bruch mit der jüdischen Tradition des Elternhauses war schon vorher eingetreten und endete mit einem völligen Zerwürfnis mit dem Vater. Im Herbst 1871 nahm er in Wien ein Studium der Philosophie, namentlich der »naturwissenschaftlichen Disciplinen« auf, »fand jedoch keine Befriedigung«. Er 30 Barnabas Nagy: Geschichte und Bedeutung des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses in den osteuropäischen Ländern, in: Joachim Staedtke (Hg.): Glauben und Bekennen. Vierhundert Jahre Confessio Helvetica Posterior, Zürich 1966, (109–202) 138–140; zuletzt: Tamás Juhász: Mirabilis est cursus verbi Dei! Die Entwicklung des Helvetischen Bekenntnisses in Ungarn und Siebenbürgen, in: Márta Fata/Anton Schindling (Hg.): Calvin und Reformiertentum in Ungarn und Siebenbürgen. Helvetisches Bekenntnis, Ethnie und Politik vom 16. Jahrhundert bis 1918 (RStT 155), Münster 2010, (63–78) 76. 31 Zoványi/Ladányi: Magyarországi Protestáns Egyháztörténeti Lexikon (s. Anm. 23), 180. 32 János Csohány: Magyar protestáns egyháztörténet 1849–1918 [Ungarische protestantische Kirchengeschichte], Debrecen 1973; Kósa: Studentenaustausch (s. Anm. 28), 463; Juhász: Mirabilis est (s. Anm. 30), 76; József Erdo˝s: Nekrolog Dr. Böhl Eduárd, in: Debreceni Protestáns Lap 5 (1903), 76–77, 94–95, 108–110, 122–124, 140–141, 157–158; ders.: Böhl Eduárd emlékezete, in: Magyar Kálvinizmus 4 (1937), 44–47: Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 104 (Von Böhl gesammelte Zeitungsausschnitte […], 1855–1903 und o. D.). 33 Zoványi/Ladányi: Magyarországi Protestáns Egyháztörténeti Lexikon (s. Anm. 23), 683–684; András Kövér: A Venetianer fivérek. »Förabbi, református lelkész és katolikus pap«, 2015, verfügbar unter: www.izrael-immanuel.net/?p=3557 [23. 07. 2018], hier Hinweise auf magyarische Literatur: András Kövér: »A Venetianer fivérek ›Fo˝rabbi, református lelkész és katolikus pap‹ Egy Morvaországból származó, Magyarországon élo˝ zsidó család története a 19. sz. második felében« in: Kornélia Koltai (Hg.): »A szívnek van két rekesze«. Tanulmánykötet Prof. Dr. Schweitzer József tiszteletére, 90. születésnapja alkalmából (Studia Hebraica ˝ 19), Budapest 2012, 465–486; ders.: Hungarica 2/MTA Judaisztikai Kutatócsoport ÉRTESÍTO Die Venetianer-Brüder, 2017, verfügbar unter: www.izrael-immanuel.net/?p=4081 [23. 07. 2018] sowie die Langfassung http://izraelim.net/MP3/Venetianer%20fiv%C3%A9rek%20(n %C3%A9met%C3%BCl).pdf [23. 07. 2018]. 34 Archiv des Ev. Oberkirchenrates A. u. H.B. Wien, Neuere Allgemeine Reihe, Fasz. 299, hier Zl. 889/884: Lebenslauf Neu Schóvé 1. April 1884 – freundlicher Hinweis von Frau Dr. Waltraud Stangl. Ein Curriculum Vitae in lateinischer Sprache (für das Examen pro candidatura in Debrecen) samt deutscher Übersetzung ist unter der in Anm. 33 genannten Internetanschrift zu finden (Appendix).

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wechselte im Frühjahr 1873 nach Prag, wo er einem seiner Pester Freunde, dem Judenmissionar Karl Andreas Schönberger (1841–1924)35 »den Unfrieden« klagte, der ihn quälte. Der Verkehr mit dem väterlichen Freunde und mehreren anderen Zeugen lebendigen Christenthumes, vorzüglich aber das Lesen und Forschen in den heiligen Schriften […] in mir die Überzeugung schuf, dass ich der Wahrheit durch öffentliches Bekenntnis die Ehre geben müsse. So bekannte ich am 10. August 1873 in der deutschen ev. Kirche Prags, dass Jesus […] der Sohn Gottes der ins Fleisch gekommen ist, und wurde auf diesen Glauben hier durch Herrn Pfarrer [Karl Gustav] Färber [1841–1888] getauft. Dieser Schritt führte auch eine Entscheidung bezüglich meiner ferneren Studien herbei. Ich kehrte nach Wien zurück und ward Student an der ev. theologischen Fakultät.

Am 03. 10. 1873 wurde er immatrikuliert,36 ging aber 1874 nach Basel, wo er aufgrund seiner außerordentlichen philologischen Fähigkeiten auffiel, insbesondere im Rahmen seiner alttestamentlichen Studien. Zum Leidwesen seines Basler Lehrers Hans Conrad von Orelli (1846–1912) brach er diese ab, um im Frühjahr (die Immatrikulation erfolgte am 05. 04. 187537) in Wien das Studium fortzusetzen. Orelli schrieb daraufhin Böhl und machte ihn auf die besondere Begabung Venetianers aufmerksam, ja er bat ihn ausdrücklich, dass er sich seiner besonders annehme.38 Das ist dann auch geschehen, denn er fand zum engeren Schülerkreis Böhls, dessen segensreichen Einfluss er im Curriculum Vitae ausdrücklich würdigte, ohne allerdings den Konfessionswechsels von A.B. zu H.B. zu erwähnen, den er im Einfluss seines Wiener Lehrers vollzog. Als in der Folge noch weitere Studenten aus der Kirche A.B. austraten, um zur Kirche H.B. zu wechseln, verursachte dies einen großen Skandal, der Böhl den Vorwurf des Proselytismus eintrug und ihn in eine ausgesprochene Randstellung im Lehrkörper manövrierte.39 Sein Kollege Vogel, ein aus Jena berufener Neutestamentler, entzog ihm daraufhin sogar sein Vertrauen:40 Er habe vernommen,

35 Über den Judenmissionar Schönberger rückt die Taufe Venetianers in den Kontext der Judenmission in Ungarn: Anna Maria Kool: God Moves in a Mysterious Way. The Hungarian Protestant Foreign Mission Movement (1756–1951) (Missiological Research in the Netherlands 4), Utrecht 1993, 98; Ábrahám Kovács: The History of the Free Church of Scotland’s Mission to the Jews in Budapest and its Impact on the Reformed Church of Hungary 1841– 1914 (SIGC 140), Frankfurt a.M. 2006, 173; Jutta Hausmann: Mária Dorottya nádorné kora és a zsidómisszió, in: András Korányi (Hg.): Megújulás és megmaradás. Fabiny Tibor-emlékkönyv, Budapest 2009, 231–240; Kövér: A Venetianer fivérek (s. Anm. 33), 470. 36 Michael Taufrath: Kurze Nachrichten über die k.k. evangelisch-theologische Fakultät in Wien […], Wien ²1871, Nachtrag aus den Studienjahren 1871/2–1873/4, 4. 37 Taufrath: Kurze Nachrichten (s. Anm. 36), II. Nachtrag aus den Studienjahren 1874 bis 1877, 3. 38 Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 25 (Briefe von und an Schweizer Freunde und Pfarrer, 1860– 1899): Brief Orelli an Böhl, Basel 10. 11. 1875. 39 Böhl: Recent Dogmatic Thought (s. Anm. 11), 13. 40 Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 26 (Briefe von Professoren, v. a. von Kollegen an der Wiener

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dass X. konvertiert sei. »Sie hätten ihn abhalten können, diesen Schritt während seiner Studienzeit zu thun. Daß Sie ihn davon hätten abhalten sollen, ist meine Überzeugung […] Nun ist es geschehen und ich sehe mich durch dieses Ereigniß Ihnen ganz entfremdet.« Er fasste eine Punktation ab, die mit Kritik an Böhl nicht sparte. 1877 legte Venetianer in Debrecen, dem orthodoxen Zentrum im Kampf gegen den Liberalismus,41 das Examen pro candidatura ab. Dem in jenen Jahren entworfenen Debrecener Bekenntnis (Debreceni Hitvallás [1875]) mochte er wohl begeistert zugestimmt haben, bewegte sich dieses auf der Höhe der ihm durch Böhl vermittelten theologischen Erkenntnis. Von seinem reformierten Bischof wurde er zunächst in das Komitat Jazygien-Großkumanien-Szolnok, später in das Komitat Bihar zum pastoralen Einsatz geschickt und wirkte als »Kaplan« in den Pfarrgemeinden in Túrkeve – nicht ohne Konflikte mit dem dortigen Pfarrer42 – bzw. Großwardein/Nagyvárad/Oradea, blieb aber mit Böhl im Briefwechsel. Nach dem Examen pro ministerio in Pantschowa/Pancsova/Pancˇevo im Komitat Torontál wurde er am 11. Mai 1878 von Superintendent Valentin Révész (1816–1891)43 ordiniert. Hier heiratete er die Donauschwäbin Maria Barth (†1889), die schon sehr früh 1889 verstarb und ihm drei minderjährige Kinder hinterließ. Seine zweite Frau Jolantha geb. Hartmann verstarb fünf Jahre später (†1894), daraufhin heiratete er deren ältere Schwester. Das Ehepaar Venetianer war 1880 in die Batschka gewechselt, in die 1786 gegründete reformierte Gemeinde in Neu-Schowe/Újsóvé,44 auf halbem Weg zwischen Werbaß und Neusatz, ehe schließlich am 6. März 1884 die Wahl zum Pfarrer der reformierten Gemeinde in Triest erfolgte.45 In dem Curriculum Vitae fügte er eine Nachschrift an, in der er auf seine publizistische Tätigkeit auf eine sehr charakteristische Weise hinwies: »Die Wahrheit, deren Erkenntnis mich frei gemacht, machte ich nach der mir gegebenen geringen Kraft nicht allein durch’s Wort sondern auch durch Schrift zu verbreiten in folgenden ungarischen der positiv gläubigen Richtung ange-

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Theologischen Fakultät, 1860–1900): Brief Vogel an Böhl, Wien 27. 04. 1883 – dazu Schwarz: Zur »entschiedenen Wahrung« (s. Anm. 4), 236–237. Ábraham Kovács: Die Antwort (s. Anm. 25), 61. Teofil Kovács: Die Alliierten. Der österreichische reformierte Pietismus begegnet der ungarischen Neoorthodoxie, in: Jan B. Lásˇek/Peter Kónya (Hg.): Reformation in Mitteleuropa. Beiträge zur Reformationsgeschichte in den Ländern der Donaumonarchie, Prag 2017, (151– 169) 164–168. Zoványi/Ladányi: Magyarországi Protestáns Egyháztörténeti Lexikon (s. Anm. 23), 506. Karl Sterlemann: Studien zur Kirchengeschichte der Reformierten Christlichen Kirche in Jugoslawien, Kroatien und Südungarn, Bad Nauheim 1988, 155. Herbert Patzelt: Evangelisches Leben am Golf von Triest. Geschichte der evangelischen Gemeinde in Triest mit Abbazia, Görz, Fiume und Pola, München 1999, 100. – Hier verfasste er eine Gemeindegeschichte: Die Evangelisch-Reformierte Kirche Cristo Salvatore (vormals S. Silvestro) zu Triest. Beitrag zur Geschichte des Evangeliums in Triest, Triest 1887 – dazu die Rezension von Gustav Frank, in: JGPrÖ 9 (1888), 54–55.

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hörenden kirchlichen Zeitschriften«, nämlich die von Prof. Ferenc Balogh (1836– 1913) in Debrecen redigierte Zeitschrift »Evangyéliomi Protestáns Lap« [Evangelisches Protestantisches Blatt],46 die von Prof. Sámuel Tóth (1838–1899) ebenfalls in Debrecen redigierte »Debreceni Protestáns Lap« [Debrecener Protestantisches Blatt], das von Imre Révész (1826–1881) redigierte »Magyar Protestáns Egyházi és Iskolai Figyelmezo˝« [Ungarischer Protestantischer Kirchlicher und Schulischer Mahner] und die beiden von Pfarrer Márton Czelder (1833– 1889) in Felso˝bánya redigierten Blätter »Magyar Protestáns Egyházi és Iskolai Figyelo˝« [Ungarischer Protestantischer Kirchlicher und Schulischer Beobachter] und »Vasárnap« [Sonntag].47 Der Kirchenhistoriker Ferenc Balogh spielte in der ungarischen Theologiegeschichte eine bedeutende Rolle,48 er gilt als »Leiter der Debrecener Neoorthodoxie«49 und war als solcher der »bekannteste Debrecener Professor seiner Zeit«50. Er stand mit Böhl und Venetianer im Briefwechsel. Aus Triest berichtete er mit Schreiben vom 14. April 1887 seinem Wiener Mentor, dass das Professorenkollegium in Debrecen seinem Interesse für den AT-Lehrstuhl gewogen wäre. Der oben schon erwähnte Debrecener Professor Balogh habe ihm Mut zu einer Bewerbung gemacht. Auf dem vorgezeichneten Weg einer akademischen Karriere war die 1887 erfolgte Promotion in Wien mit einer Arbeit über das Alte Testament, nämlich »Die Auslegung des Buches Jesaja«51 ein wichtiger Schritt (Promotion am 29. Juni 1887), wobei er mit den ihm dadurch auferlegten Gebühren in finanzielle Schwierigkeiten geriet.52 Zudem schlug die Bewerbung in Debrecen fehl. Balogh deutete ihm jedoch noch größere 46 Alexander Venetianer: A cseh és morva evangéliumi hívek mint lettek nagyobbára helvét hitu˝ekké [Wie wurden die böhmischen und mährischen Protestanten größtenteils Anhänger des helvetischen Glaubens?], in: Evangyéliomi Protestáns Lap (04. 01. 1878), 7–8. 47 Zur theologischen Beurteilung der Erweckungsbewegung in Debrecen vgl. János Csohány: A XIX. századi magyar református ébredés debreceni ága [Die Debrecener Richtung der reformierten Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert] [1974], Nachdruck in: ders.: Tanulmányok Debrecen és a reformátusság múltjáról, Debrecen 2004, 236–249; Ábrahám Kovács: Die Antwort (s. Anm. 25), 47–68; Teofil Kovács: Die Alliierten (s. Anm. 42), 151–169. 48 László Ötvös: Balogh Ferenc életmu˝ve, Debrecen 1997; Teofil Kovács: Die Alliierten (s. Anm. 42), 156–158. 49 Ábrahám Kovács: Hitvédelem és egyháziasság. A debreceni új ortodoxia vitája a liberális teológiával, Budapest 2010, 41; Teofil Kovács: Die Alliierten (s. Anm. 42), 156. 50 Teofil Kovács: Die Alliierten (s. Anm. 42), 158. 51 Universitätsarchiv Wien, Doktorenbuch: Promotionsverfahren AZ 31/1887: Alexander Venetianer: Die Auslegung des Buches Jesaja und andere Schriften; Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 1), 98. – Die Dissertation wurde bei einem Bombentreffer im Jänner 1945 zerstört. Einen Kommentar zu Teilen des Buches Jesaja: »Èzsaiás próféta könyve« (1–10 bzw. 11–17) veröffentlichte Venetianer in: Gyakorlati bibliamagyarázatok 4 (1884), 21–80, 161–198 bzw. in: Gyakorlati bibliamagyarázatok 9 (1889), 275–320. 52 Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 50 (Briefe von dem ungarischen Pfarrer A. Venetianer sowie Benachrichtigung über dessen Tod durch S. Keck und Todesanzeige A. Venetianers mit Anzeichnungen Böhls, 1874–1902): Brief Venetianer an Böhl 26. 04. 1887.

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Chancen im folgenden Jahr 1888 beim Lehrstuhl für Neues Testament an. Auf die Rückfrage Böhls, ob er sich nicht in Wien habilitieren möchte, antwortete er aber entschieden negativ:53 Er denke »nicht im Entferntesten daran«, eine nicht misszuverstehende Aussage, die er aber schon kurze Zeit später revidierte. Als er in einer reformierten Kolonie schwäbischer Bauern in Rohrbach bei Odessa (heute Novosvitlivka, Ukraine), einem Zentrum des pietistischen Stundismus,54 als Pfarrer zwischen 1887 und 1889 wirkte,55 meldete er Böhl eine Sinnesänderung: Er sehe nun, dass er an einer Schule wie in Debrecen »eine viel nachdrücklichere Wirksamkeit entfalten könnte«. Nun wäre er froh, dort lehren zu dürfen, denn er wüsste, woran es fehle. Den Kampf würde er nicht scheuen, aber aufdrängen wolle er sich nicht.56 Schließlich bat er Böhl und Vogel um eine Unterstützung seiner Bewerbung.57 Doch auch dieser Bewerbung blieb der Erfolg versagt. Er wurde als zweiter gereiht, die Stelle erhielt sein Freund Josef Erdo˝s. Sein Besuch bei Joseph/Osip Rabbinowitz (1837–1899) in Kischenew 1887 wurde als große Sensation empfunden.58 Dieser hatte anlässlich einer Israelreise 1882 auf dem Ölberg ein Bekehrungserlebnis und gründete, nach Osteuropa zurückgekehrt, eine judenchristliche Gemeinde ohne kirchliche Bindung (»Die Israeliten des Neuen Bundes«), ja löste geradezu eine Übertrittsbewegung zu dieser Gemeinde des messianischen Judentums aus.59 Er stand mit dem Leipziger Institutum Judaicum und dessen Leiter Franz Delitzsch (1813–1890), einem Lehrer Böhls,60 in Verbindung. Venetianer berichtete Böhl über seine Begegnung mit Rabbinowitz:61 Er verdiene die Bewunderung aller, denn er sei ein Felsenmann, an dem russische wie lutherische Wellen sich brechen, dazu ein lebendiger und tatkräftiger Protest gegen die Judenmission. Diese müsse gegen ihn wühlen, weil er schonungslos ihre corrumpierende Tätigkeit aufdecke. Von ihm be53 Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 50 (s. Anm. 52): Schreiben Rohrbach bei Odessa 22./10. 06. 1887. 54 Heinrich Roemmich: Stundisten – Evangeliumschristen – Baptisten. Ihr Ursprung und ihr Weg zu einer protestantischen Kirche in der UdSSR, in: Joseph Schnurr (Hg.): Heimatbuch der Deutschen aus Russland, Stuttgart 1978, 64–85. 55 Erik Amburger: Die Pastoren der evangelischen Kirchen Rußlands, vom Ende des 16. Jahrhunderts bis 1937. Ein biographisches Lexikon, Erlangen 1998, 501. 56 Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 50 (s. Anm. 52): Schreiben 18. 02. 1888. 57 Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 50 (s. Anm. 52): Schreiben 15. 03. 1888. 58 Alexander Venetianer: In Kischinew. Bei Rabinówitsch, Wien 1888; dazu die ungarische Übersetzung von András Kövér: Kisinyovban Rabinovicsnál, Budapest, 2018 – als E-book verfügbar unter: http://izraelim.net/PDF/In%20Kischinew%20I-II.%20ebook%20honlapra. pdf [28. 5. 2018] – Jewish Herald (1. Jänner 1887), 11; Böhl: Recent Dogmatic Thought (s. Anm. 11), 15. 59 Ulrich H.J. Körtner: A Lost Fragment. Jewish Christianity, in: Concilium 33 (1997), (47–54) 52; Arnulf H. Baumann: Josef Rabinowitsch messianisches Judentum, in: Folker Siegert (Hg.): Grenzgänge. Menschen und Schicksale zwischen jüdischer, christlicher und deutscher Identität. Festschrift für Diethard Aschoff (MJSt 11), Münster 2002, 195–211. 60 Briefwechsel im Archiv Böhl, Nr. 49 (Briefe von dem Leipziger F. Delitzsch, 1874–1884). 61 Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 50 (s. Anm. 52): Brief Venetianer an Böhl 16. 02. 1889.

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hauptete er, dass er ein Zeuge der Gnade Gottes sei, die auch ohne Missionare ihren Weg zum Guten finde. Ohne Missionare kam er zum Glauben allein durch die Schrift. Sein »größtes Verbrechen« sei es, dass er sich zur Lehre der reformierten Kirche bekenne, d. h. zur Theologie des Paulus, denn der gute Mann hatte keine Idee davon, dass es eine reformierte Kirche gebe, bis er mit Venetianer bekannt wurde. Seine Bedeutung für die Juden könne gar nicht überschätzt werden, denn überall im Süden des Reiches, wo Juden gedrängt wohnen, würden seine Predigten und das Neue Testament gelesen und darüber disputiert. Er habe auch viel zu leiden. Dadurch lerne er aber Gehorsam und ein tieferes Eindringen in die Schrift. Mit ähnlicher Begeisterung hatte Venetianer 1886 den Rabbiner Ignac Lichtenstein (1824–1908) begrüßt, als er dessen Bekenntnis zu Jesus von Nazareth las und dies als Schritt in eine judenchristliche Gemeinde interpretierte.62 Die Aussicht auf eine Karriere in Debrecen motivierte Venetianer 1895 zu einer theologischen Untersuchung über die Auferstehung Jesu, mit der er in den Streit zwischen dem rationalistischen Professor Mór Ballagi (1815–1891) in Budapest und dem orthodox-calvinistischen Pfarrer Lajos Filó (1828–1905) in Debrecen einzutreten beabsichtigte, der seit den 1860er Jahren tobte,63 und zugleich den Doktorgrad zu erwerben. Doch über die Materialsammlung gelangte er nicht hinaus, weil sich die Promotionspläne als unrealistisch erwiesen. Deshalb kehrte er wieder in die Batschka zurück, auf seine frühere Pfarrstelle in NeuSchowe/Újsóvé, mit der er durch Kollektensendungen in Kontakt geblieben war.64 Dort beteiligte er sich auch an der Neuerarbeitung eines reformierten Gesangbuches.65 Als ihm freilich nachgesagt wurde, dass er die Magyarisierung seiner deutschen Gemeinde betrieb, um ihre reformierte Konfession zu bewahren und deren Wechsel zur lutherischen Kirche zu verhindern, weckte er antisemitische Ressentiments.66 Als er erfuhr, dass Böhl an seinem »hochsinnigen Plan« festgehalten habe, ihn für den Wiener Lehrstuhl zu präsentieren, wehrte er ab: Es könne bei ihm selbst nicht von »literarischer Thätigkeit« gesprochen werden, schrieb er Böhl. Er habe 62 Alexander Venetianer: Zum Zeugniss – Offener Brief an den Ehrwürdigen Herrn I. Lichtenstein, Bezirksrabbiner zu Tápió-Szele in Ungarn, als Widerhall zu seinem »Mein Zeugniss«, Wien 1886. 63 Ábrahám Kovács: The History of the Free Church (s. Anm. 35), 182–183. 64 Sterlemann: Studien (s. Anm. 44), 114. 65 Sterlemann: Studien (s. Anm. 44), 85. 66 Anonym: Ein Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus in Ungarn, in: Evangelisch Reformirte Blätter 5 (1895), 100–101. Zum schwierigen Verhältnis zwischen den beiden protestantischen Richtungen gerade auch in dieser Gemeinde in der Batschka zuletzt Márta Fata: Zwischen habsburgischer Konfessionalisierungs- und Siedlungspolitik. Reformierte deutsche Kolonisten im Königreich Ungarn im 18. Jahrhundert, in: Fata Schindling: Calvin und Reformiertentum (s. Anm. 30), (173–198) 193.

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nichts produziert, was in gelehrten Kreisen nennenswert wäre.67 Und am 11. Juli 189968 bekannte er, dass er, wenn es ein »Ruf vom Herrn« wäre, Folge leisten und sich dieser Arbeit aussetzen würde, auch wenn er dazu freilich noch lernen müsste: Aber dieser Glaube fehle ihm, weil er wisse, dass er »unwürdig« sei, »Ihren [sc. Böhls] Platz einzunehmen«. Es fehle ihm am nötigen Wissen. Er dürfe sich nicht täuschen, er brächte nichts mit als Eifer und guten Willen. »Wirklich sonst nichts!« – Eine bemerkenswerte Selbsteinschätzung, die im akademischen Milieu selten so deutlich artikuliert wird, aber vorkommen mag. Der Ausschluss von Hausberufungen leitet sich davon ab, weshalb die Fakultät im Falle der BöhlNachfolge zuletzt auch streng darauf achtete. Dass Venetianer von der Britischen Bibelgesellschaft beauftragt wurde, an der Revision von Károlyis Bibelübersetzung ins Ungarische mitzuwirken,69 hat ihm in den letzten Jahren seines Wirkens signalisiert, dass seine bibelwissenschaftlichen Kenntnisse wertgeschätzt würden. Offenbar hatte seine Kritik70 an der bisherigen Revision die Bibelgesellschaft motiviert, ihn daran zu beteiligen, damit er dieser Arbeit die richtige Richtung wies. In seinem Brief an Böhl gibt er einen Einblick in die Revisionsarbeit, nannte er nicht nur die beteiligten Bibelwissenschaftler György Radácsi (1846–1928) 71 aus Sárospatak und József Dicso˝fi (1859–1920) 72 aus Debrecen, sondern auch drei weitere Mitarbeiter aus Pest und Klausenburg, die aber »nicht ernst genommen werden [können], so schwach und spärlich ist ihre Rüstung«. Vom erstgenannten Herrn schreibt er, dass er in der neueren Literatur bewandert ist und ihr auch sehr ergeben sei, »aber so gutmüthig, dass ich es nicht schwer hatte, ihn zu überzeugen«. Den zweiten Bibelwissenschaftler aus Debrecen hingegen zeichnet er als »hochmüthig im Bewusstsein viel gelernt zu haben und mehr zu wissen als die übrigen«. Er wisse in der Tat sehr viel, wäre aber zu einseitig und schwöre auf den jüngsten Kommentar, und meine, die Revisoren müssen zeigen, dass sie mit der Wissenschaft fortschreiten. Er forderte geradezu, dass die Septuaginta über den Masoretischen 67 Sein wissenschaftliches Œuvre war in der Tat äußerst schmal und umfasste abgesehen von seiner Licentiatenarbeit (1887) und seiner Triester Gemeindegeschichte (1887) ein Lehrbuch zum Unterricht in Religion und Kirchengeschichte für Schul- und Katechumenen der deutschen reformierten Gemeinden in Ungarn (1897) und sonst lediglich Predigten und unselbständige Aufsätze zu biblischen Themen: Unser Fronleichnamsfest (Gustav-AdolfPredigt Laibach 24. 06. 1886), Triest 1886; Apostolische Gesinnung (Predigt Bregenz 26. 09. 1886 zur Eröffnung der Superintendentialversammlung), Bregenz 1886. 68 Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 50 (s. Anm. 52): Schreiben Venetianer 11. 07. 1899. 69 Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 50 (s. Anm. 52): Schreiben Venetianer 20. 02. 1901. Venetianer schreibt, dass die Revision in die durch seine Schrift (Az új Ószövetség [1900]) »gewiesenen Bahn beschreiten soll«. 70 Alexander Venetianer: Az új Ószövetség. Összehasonlító bibliai tanulmány [Das neue Alte Testament. Vergleichende biblische Studie], Szeged 1900. 71 Zoványi/Ladányi: Magyarországi Protestáns Egyháztörténeti Lexikon (s. Anm. 23), 496. 72 Zoványi/Ladányi: Magyarországi Protestáns Egyháztörténeti Lexikon (s. Anm. 23), 150–151.

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Text zu stellen sei, wogegen Venetianer jedoch mit Erfolg protestierte, sodass überall die Hebraica veritas restituiert wurde. Da sie mit der Arbeit nicht fertig geworden seien, müssten sie eine neue Arbeitsteilung vornehmen, um zu einem glücklichen Ende der Revisionsarbeit im Juni 1901 zu gelangen. Venetianer deutete an, dass Professor Böhl sich »Mühe gegeben habe«, dass die Bibelgesellschaft den Entschluss zur Bibelrevision gefasst habe und gab der Hoffnung Ausdruck, dass die neue Übersetzung den berechtigten Anforderungen der Kirche entsprechen würde. Die Revision wurde 1908 abgeschlossen. Es war Venetianers letzter wissenschaftlicher Beitrag, die endgültige Publikation hat er freilich nicht mehr erlebt, denn er wurde schon 1902 heimgerufen – gerade erst 49jährig. Er hinterließ eine Witwe mit sieben Kindern.73 In der Fakultätsgeschichte galt Venetianer als ausgesprochener Favorit Böhls, als dieser 1899 sein Lehramt aus gesundheitlichen Gründen nach siebzig Semestern vorzeitig niederlegte.74 Er sei »eminently qualified for a theological professorship«75. In seinem groß angelegten Referat76 legte er ihn seinen Kollegen besonders an Herz, weil dieser seiner Meinung nach über besondere sprachliche Vorzüge verfügte und sowohl deutsch als auch tschechisch und ungarisch vorzutragen und die Literatur in diesen Sprachen zu rezipieren vermochte. Außerdem traute er ihm zu, die intellektuellen und theologischen Fähigkeiten für diesen Lehrstuhl aufzubringen. Nach solchen Ausführungen wurde Böhl aber signalisiert, dass er mit seinem Vorschlag auf keinen Konsens im Kollegium rechnen dürfe. Ob sich diese Ablehnung am Höhepunkt der Los-von-Rom-Bewegung und eines überschießenden Deutschnationalismus in der Evangelischen Kirche auf dessen Abkunft aus dem Judentum richtete, wie dies das Resümee seines Urenkels András Kövér nahe legt, der Venetianers lebenslanges Scheitern auf dessen jüdische Herkunft zurückführte, kann hier nicht schlüssig bewiesen werden. Sie mag auch durch dessen theologische Profilierung im Sinne Böhls und Kohlbrügges verursacht sein, die das Professorenkollegium dazu veranlasste, jene von Böhl inaugurierte reformierte Konfessionalisierung abzubrechen. Die Aussage Kövérs, jenes Urenkels von Venetianer, dieser habe den Ruf abgelehnt,77 trifft jedenfalls nicht zu. Meine Vermutung geht dahin, dass das Professorenkollegium die langjährige theologische Prägung der Evangelischen Kirche H.B. durch Eduard Böhl nicht noch durch einen Böhlschüler verlängern wollte. Deshalb setzten sie als Nachfolgekandidaten akkurat jenen tschechischen Pfarrer an die erste Stelle, den Böhl 73 74 75 76

Brief S. Keck an Böhl mit Parte von A. Venetianer – Amsterdam, Archiv Böhl, Nr. 50 (s. Anm. 52). Böhl: Recent Dogmatic Thought (s. Anm. 11), 15, 22; Balke: Eduard Böhl (s. Anm. 1), 98. Böhl: Recent Dogmatic Thought (s. Anm. 11), 22. Amsterdam, Archiv Böhl Nr. 85 (Notizen und Briefe Böhls zur Frage seines Nachfolgers nach seiner Pensionierung, 1899). 77 Kövér: A Venetianer fivérek (s. Anm. 33), 479.

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selbst ausgeschlossen hatte: Bohumil Maresˇ (1851–1901),78 den Pfarrer in Prˇeloucˇ ˇ aslauer Seniorates, der gerade davor stand, seine Darstelund Konsenior des C lung der reformierten Gnadenwahllehre als Promotionsarbeit an der Fakultät einzureichen.79 Auch wenn eine Berufung nicht zustande kam, weil der Kandidat noch während des Berufungsverfahrens verstarb, so war doch deutlich zu ersehen, wie das Professorenkollegium gegenüber Böhl auf Distanz gegangen war. Dass dessen Schüler Venetianer überhaupt nicht in Erwägung gezogen wurde, führe ich darauf zurück. 1902 erlag Venetianer, enttäuscht über die fehlgeschlagene akademische Laufbahn, einem Gehirnschlag, im Jahr darauf dessen Lehrer und Mentor Eduard Böhl, dessen Lehrstuhl in der Folge bis 1913 vakant blieb und durch den Wiener Pfarrer und Oberkirchenrat Carl Alphons WitzOberlin (1845–1918) suppliert wurde.80

78 Jan Toul (Hg.): Jubilejní kniha cˇeskobratrské evangelické rodiny [Jubiläumsbuch der tscheˇ eské Budeˇjovice 1931, 118; Rudolf R ˇ icˇan: Art. chisch-brüderischen evangelischen Familie], C Maresˇ Bohumil, in: ÖBL 6, Wien 1973, 79; Schwarz: Zur »entschiedenen Wahrung« (s. Anm. 4), 251–252. 79 Universitätsarchiv Wien, Doktorenbuch, Promotionsverfahren AZ 51/1900: Theophil Maresch: Darstellung der reformierten Gnadenwahllehre, 1. Hälfte, Wien 1900. 80 Ulrich H.J. Körtner: Reformiert und ökumenisch. Brennpunkte reformierter Theologie in Geschichte und Gegenwart (STSud 7), Innsbruck 1998, (36–60) 51–53 zu Witz-Oberlin; Karl W. Schwarz: Carl Alphons Witz-Oberlin […]. Ein Vertreter des »westlichen Reformiertentums« und seine Bedeutung für den österreichischen Protestantismus, in: Thomas Hennefeld (Hg.): Charles Alphonse Witz-Oberlin. Si vis pacem, para mentem. Ausgewählte Aufsätze zur Friedensethik, Neukirchen-Vluyn 2019 (im Erscheinen).

Karl-Reinhart Trauner

Gottesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis: Georg Molin (1908–2003)

Zu seinem 75. Geburtstag wurde Georg Molin eine beeindruckende Festschrift gewidmet.1 Ihr Titel lautet »‫מקור חיים‬. Meqor Hajjim [Lebensquell]«. Die Her˙ kunftsländer der verschiedenen Autoren spannen einen breiten Bogen: von Österreich über Italien, die Schweiz, Deutschland, die Niederlande, Großbritannien und Kanada bis nach Jerusalem. Ein Beitrag ist auf Iwrit geschrieben. Die Autoren repräsentieren auch eine beachtliche Breite an religiös-weltanschaulichen Verankerungen.2 Die Festschrift erschien in Graz, weil Georg Molin dort Professor für Altorientalistik war. Er zählt zu den interessantesten Persönlichkeiten des österreichischen Protestantismus der Nachkriegszeit. Als einer der ersten übersetzte er Qumran-Texte, daneben war er als einer der wenigen evangelischen Mitarbeiter an der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift tätig.

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Erste Schritte

Am 23. Oktober 1908 wurde Georg Karl Gottfried Molin in Meran (Merano) geboren. Eine evangelisch-kirchliche Tradition prägte ihn von Kindheit an. Sein Vater Johann Molin3 war Pfarrer und versorgte ab dem Jahr 1902 die evangelische Pfarrgemeinde Meran mir ihrer weitverzweigten Diaspora, die bis an den Gardasee reichte. Seine Mutter Margarete, geb. Kaßler, deren Eltern aus Leipzig stammten, hatte ein »warmes Interesse für alle Fragen der evangelischen Kir1 Irmtraud Seybold (Hg.): ‫מקור חיים‬. Meqor Hajjim [Lebensquell]. Festschrift für Georg Molin zu ˙ seinem 75. Geburtstag, Graz 1983. 2 Der in Iwrit verfasste Titel stammt vom österreichischen Kirchenhistorikers und Orientalisten Suitbert Siedl (1923–2006), einem Karmeliterpater, und trägt den Titel »‫דברי ימי עולם באור‬ ‫[ האמונה‬Erklärung zum Weltgeschehen im Licht des Glaubens]«, in: Seybold: Meqor Hajjim (s. ˙ Anm. 1), 351–357. 3 Zu Johann Molin vgl. Bernhard H. Zimmermann, Art. Molin, Johann, in: ÖBL 6 (1975), 351; sowie seine autobiographischen Notizen: Johann Molin: Lebensbeschreibung des Hofrates Dr. theol. h.c. Johann Molin, evangelischer Oberkirchenrat i.R. [Febr. 1941], in: Akademische Verbindung Wartburg: Mitteilungsblatt [manuskr.], WS 2005/06, 12–36.

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che«.4 Der Kurator der Pfarrgemeinde Meran, Staatsrat Carl Beckmann, und die Vorsteherin des Evangelischen Frauenvereins, Mary Schönemann, waren Georg Molins Taufpaten.5 1894 heirateten Georg Molins Eltern in Gablonz (Jablonec), wo Johann Molin zwischen 1894 und 1902 Pfarrer war.6 1909 wurde er als Geistlicher Rat A.B. in den Oberkirchenrat nach Wien berufen. Er trat damit die Nachfolge von Ferdinand Schur an. Neben Johann Molin als Geistlichem Rat wirkte Regierungsrat Wolfgang Haase, mit dem Johann Molin seit der Gymnasialzeit befreundet war, als Weltlicher Rat.7 Mit dem Wechsel nach Wien wurde auch die Kaiserstadt der alten Monarchie zur Heimat seines Sohnes Georg. In Wien besuchte er die Evangelische Volksschule in Wien-Währing (Lutherschule) und danach das Gymnasium in Wien XVIII., Klostergasse 25, wo Josef Beck, der Pfarrer von Wien-Währing, sein Religionslehrer war. Georg Molin schlug zunächst keine geistliche Laufbahn ein, sondern studierte nach seiner Matura 1927 Anglistik und Germanistik. Das Studium schloss er 1931 mit der Erlangung des philosophischen Doktorats ab.8 Er unternahm damit den ersten größeren Versuch, die Schelmenromane »Jan Perus« und den »English Rogue« miteinander zu vergleichen.9 Im Jahr darauf legte er die Lehramtsprüfung ab und absolvierte das Probejahr im Schuljahr 1932/33 am Realgymnasium Wien III., Hagenmüllergasse 30, hatte jedoch zunächst in der schwierigen Situation der 1930er Jahre Probleme, eine Anstellung zu finden. Erst sein Vater veranlasste ihn, auch das Studium der Theologie in Angriff zu nehmen. Ab 1935 war Molin als Vikar in der Pfarrgemeinde Wien-Gumpendorf und danach als Pfarrer in Wien-Floridsdorf. Außerdem war er als Lehrer an Gymnasien tätig.10 Sein Studium hatte Georg Molin 1933/34 auch für zwei Semester nach Leipzig geführt. Besonderes Interesse erweckte bei ihm das Alte Testament, wobei die Vorlesungen von Albrecht Alt (1883–1956) für ihn besonders prägend waren. Alt war seit 1923 in Leipzig, davor (1921–1923) war er Vorsteher des Deutschen 4 5 6 7 8

Molin: Lebensbeschreibung (s. Anm. 3), 19. Vgl. Molin: Lebensbeschreibung (s. Anm. 3), 29. Vgl. Molin: Lebensbeschreibung (s. Anm. 3), 24. Vgl. Molin: Lebensbeschreibung (s. Anm. 3), 29–30. Georg Molin: Jan Perus und Jan Rebhu. Ein Beitrag zur Geschichte des volkstümlichen Romans im 17. Jahrhundert, Diss. phil., Wien 1931. 9 Vgl. Hans Gerd Rötzer: Der europäische Schelmenroman (Reclams Universal-Bibliothek 17675), Stuttgart 2009, 106 (Anm. 2). 10 Vgl. Hubert Partisch: Österreicher aus sudetendeutschem Stamme 5. Verdiente Schulmänner, kirchliche Würdenträger (Forschungs- und Kulturstelle d. Österreicher aus dem Donau-, Sudeten- und Karpatenraum, Wissenschaftliche Reihe 10), Wien 1968, 88; Art. Molin, Georg. Biogramm, in: Bibelpedia, 2017, verfügbar unter: http://www.bibelpedia.com/index.php? title=Molin,_Georg [26. 12. 2017].

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Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes zu Jerusalem, seit 1925 Vorsitzender des Deutschen Vereins zur Erforschung Palästinas. 1929 vollendete er gemeinsam mit Paul Kahle und Otto Eißfeldt die dritte Auflage der Biblia Hebraica von Rudolf Kittel. Als Historiker war er an den Stätten des Orients tätig.11 Die Anregungen, die Georg Molin von Alt erhielt, wurden für seinen weiteren Lebensweg entscheidend. In seiner Dissertation über »Die Philister« zur Erlangung des theologischen Doktorgrades,12 die Georg Molin in Wien im Jahr 1938 einbrachte und die im darauffolgenden Jahr angenommen wurde, widmete er sich einem Kernproblem der Hebräischen Bibel, die zum Spezialgebiet seiner künftigen wissenschaftlichen Tätigkeit werden sollte. Sein Doktorvater in Wien war Fritz Wilke (1879–1957), der seit 1910 an der Wiener Fakultät der Lehrstuhlinhaber für Altes Testament war. Als Wilke nach Wien kam, hatte er bereits mit mehreren Publikationen auf sich aufmerksam gemacht. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde er jedoch »von der Stimmung und Weltanschauung seiner Zeit erfaßt«.13 In der Zwischenkriegszeit trat er kaum noch wissenschaftlich in Erscheinung. »Nach einer Reihe von Veröffentlichungen zu den Problemen der Tagespolitik, wurde es um den Wissenschaftler F. Wilke still […].«14 1929 veröffentliche Fritz Wilke jedoch seinen Aufsatz »Die israelitisch-jüdische Religion«, in dem er das Alte Testament als ein Zeugnis der Entstehung und Entwicklung der israelitisch-jüdischen Religion in Wechselwirkung mit dem politischen Umfeld darstellte.15

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Brüche

Georg Molin gehörte einer Generation an, deren Welt 1918 zerbrochen war. Über sein Elternhaus hatte er die große Weite der Monarchie miterlebt. Sein Vater Johann Molin (1866–1948) war in Ober-Bladnitz (Bładnice Górne) im politischen 11 Vgl. Friedrich Wilhelm Bautz (Hg.): BBKL 1, Hamm 1975, 125, s.v. Alt, Albrecht. 12 Georg Molin: Die Philister, Diss. theol., Wien 1939. Vgl. Harald Baumgartner: Verzeichnis der Promotionen und Habilitationen an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, in: Karl W. Schwarz/Falk Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien 1821–1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, Universität Wien 10), Wien 1997, (515–530) 523. 13 Hans-Volker Kieweler: Fritz Wilke und seine theologische Entwicklung, in: Schwarz/Wagner: Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 12), (295–324) 323; vgl. auch ebd., 309–310. So verteidigte Wilke den Ersten Weltkrieg auch mit theologischen Argumenten; vgl. KarlReinhart Trauner: »Is The War Morally Justified?« (Fritz Wilke). Twentieth-Century Arguments for the Twenty-First Century?, in: Michael Bünker u. a. (Hg.): Donauwellen. Zum Protestantismus in der Mitte Europas. Festschrift für Karl W. Schwarz, Wien 2012, 237–252. 14 Kieweler: Fritz Wilke (s. Anm. 13), 224. 15 Vgl. Kieweler: Fritz Wilke (s. Anm. 13), 308.

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Bezirk Bielitz (Bielsko) in Österreichisch Schlesien16 geboren und stammte aus einer ursprünglich schlonsakischen (»wasserpolnischen«) Bauernfamilie, deren Ursprung jedoch auf Schweden hinweist.17 Im Elternhaus Johann Molins wurde polnisch gesprochen, auch wenn die Familie sich nicht zur polnischen Nationalität bekannte; das wurde auch als Gegensatz zum evangelischen Bekenntnis empfunden. Während der Gymnasialzeit in Teschen (Cieszyn, Teˇsˇín) reagierte Johann Molin auf Versuche, ihn für das Polentum zu gewinnen, mit einem Bekenntnis zum Deutschtum.18 Mit seinen Wurzeln in Schlesien, wo die verschiedenen Nationalitäten nicht konfliktfrei, aber seit Jahrhunderten miteinander lebten, war Georg Molin wie sein Vater deutschnational im großen Kontext der alten Monarchie. Er verstand sich zeitlebens als Angehöriger des deutschen Kulturkreises. 1929 trat Georg Molin der Akademischen Verbindung Wartburg bei. 1932 war er Gründungsmitglied des »Kreises«, eine Gemeinschaft für Kultur und Literatur.19 Gründer war u. a. der praktizierende Protestant Heinz Wittmann.20 Bei der Wartburg war auch schon sein Vater Mitglied. Gleich bei seinem Studienanfang war Johann Molin beigetreten (1887), aber schon bald (1888) wieder ausgetreten. Im Zuge des Ersten Weltkrieges trat Johann Molin der Wartburg aber wieder bei. Die Gründe für seinen Austritt waren finanzieller Natur, aber auch seine gegenüber dem schlesischen Polentum offene und dem radikalen Nationalitätenkonflikt gegenüber negative Haltung.21 Diese Haltung führte auch dazu, dass der gegen jede nationalistische Haltung eingestellte Wiener Pfarrer Erich Johanny (1861–1912) sich darum 1892 erfolgreich bemühte, Johann Molin als Pfarrer in dem damals zu Wien gehörigen Sankt Pölten zu gewinnen.22 1894 wechselte er jedoch weiter nach Gablonz. In seine Zeit dort fällt 16 Zur Lage der Kirche in Österreichisch Schlesien vgl. Oskar Wagner: Mutterkirche vieler Länder. Geschichte der Evangelischen Kirche im Herzogtum Teschen 1545–1918/20 (STKG 1,4), Wien 1978; Herbert Patzelt: Geschichte der evangelischen Kirche in ÖsterreichischSchlesien (Schriften der Stiftung Haus Oberschlesien 5), Dülmen 1989; Christian-Erdmann Schott: Die Rolle der evangelischen Kirche in den ethnisch-nationalen Auseinandersetzungen in Schlesien 1850–1945, in: Dietrich Meyer u. a. (Hg.): Über Schlesien hinaus. Zur Kirchengeschichte in Mitteleuropa. Festgabe für Herbert Patzelt zum 80. Geburtstag (JSKG.B 10), Würzburg 2006, 221–240. 17 Vgl. Zimmermann: Molin (s. Anm. 3); Molin: Lebensbeschreibung (s. Anm. 3), 14. 18 Vgl. Molin: Lebensbeschreibung (s. Anm. 3), 17. 19 Vgl. Heinz Wittmann (Hg.): Kulturgemeinschaft Der Kreis, Wien o. J. [1973], 10. Gründer waren Robert Lenk, Gustav Maschke und Heinz Wittmann; vgl. ebd., 10; Hans F. Prokop (Hg.): Österreichisches Literaturhandbuch, Wien 1974, 92. 1948 wurde die Namensänderung auf »Kulturgemeinschaft ›Der Kreis‹« beschlossen; vgl. Kulturgemeinschaft Der Kreis, 2. 20 Zu Heinz Wittmann vgl. Karl J. Trauner, »Kultur braucht man nicht zu retten, sondern nur zu pflegen«. Erinnerungen an den evangelischen Schriftsteller Heinz Wittmann (1907–1986), in: SAAT 54,7 (2007), 7. 21 Vgl. Molin: Lebensbeschreibung (s. Anm. 3), 20. 22 Vgl. Molin: Lebensbeschreibung (s. Anm. 3), 22–23.

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die beginnende Los-von-Rom-Bewegung,23 bei der er sich jedoch gegen jegliche politische Vereinnahmung und populistische Agitation wehrte. 1902 wurde Molin schließlich Pfarrer in Meran; die Pfarrgemeinde umfasste das ganze Südtirol. Molin löste hier Friedrich Selle (1860–1931) ab, der unter dem schlechten ökumenischen Klima litt. Molin kam jedoch mit der römisch-katholischen Kirche gut aus. Er weigerte sich auch hier, die Übertrittsbewegung agitatorisch voranzutreiben.24 Johann Molin blieb auch in den komplexen Jahren der Zwischenkriegszeit in der Kirchenleitung. 1925 bot man ihm sogar das Amt des Präsidenten des Oberkirchenrates an, was er jedoch ablehnte. Das Amt übernahm daraufhin Viktor Capesius.25 Besonders schwierig war die Situation für die Kirchenleitung in der Zeit des Ständestaates. Molin war mit seiner vermittelnden Position der Vaterländischen Front beigetreten.26 Er erwarb sich durch seine Tätigkeit beim Oberkirchenrat »große Verdienste um die evang[elische] Kirche in Österr[eich]«.27 Johann Molin hat seinen Sohn Georg mit seinem zwar deutschbewussten, aber nicht nationalistisch verengten und letztlich ausgleichenden Selbstverständnis zweifellos geprägt. Noch 1941 bekannte er: »Ich habe mich überall zum Deutschtum bekannt. […] Aber politisch habe ich mich niemals betätigt […].«28 Wie viele Deutschgesinnte seiner Generation geriet aber auch Georg Molin schließlich in den Sog der nationalsozialistischen Ideologie und wurde schließlich sogar Mitglied der NSDAP.29 Eine nationalsozialistische Grundstimmung ist auch bei Georg Molins theologischen Doktorvater, Fritz Wilke, kaum zu verkennen. Schon vor 1938 betätigte er sich für die NSDAP, weshalb er dann im Mai 1938 auch offiziell in die Partei 23 Vgl. Paul Braeunlich: Das Fortschreiten der Los von Rom-Bewegung in Österreich 1. Böhmen (Berichte über den Fortgang der »Los von Rom-Bewegung« 5), München 1900, 61–64, wo Braeunlich Johann Molin ausführlich zitiert (62–63). 24 Vgl. Molin: Lebensbeschreibung (s. Anm. 3), 28. 25 Zu Capesius vgl. Karl W. Schwarz, Dr. jur. Viktor Capesius. Ein protestantischer »Laie« und Präsident des Evangelischen Oberkirchenrates, in: Michaela Sohn-Kronthaler/Rudolf K. Höfer (Hg.): Laien gestalten Kirche. Diskurse – Entwicklungen – Profile. Festgabe für Maximilian Liebmann zum 75. Geburtstag (TKD 18), Innsbruck 2009, 391–409. 26 Vgl. Molin: Lebensbeschreibung (s. Anm. 3), 32–33. Zur Lage der Kirche im Ständestaat vgl. Karl W. Schwarz: Die »Trutzprotestanten« im »christlichen« Ständestaat. Eine zeitgenössische Situationsanalyse von Johannes Heinzelmann, in: Hans Paarhammer/Alfred Rinnerthaler (Hg.): Scientia canonum. Festgabe für Franz Pototschnig zum 65. Geburtstag, München 1991, 101–124. 27 Zimmermann: Molin (s. Anm. 3). Diese Verdienste wurden auch gewürdigt: 1919 erhielt er den Titel eines wirklichen Hofrats, 1922 die Würde eines Ehrendoktors der Theologie der Universität Wien. 28 Molin: Lebensbeschreibung (s. Anm. 3), 31. 29 Vgl. Molin, Georg. Biogramm (s. Anm. 10).

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aufgenommen wurde.30 Trotz seiner parteipolitischen Präferenzen und seiner theologischen Ausrichtung an der historisch-kritischen Forschung hielt Fritz Wilke aber stets am Offenbarungscharakter des Alten Testaments fest.31 Als Georg Molin am 24. Mai 1939 promoviert wurde, war das wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, der am 1. September 1939 mit dem Überfall des Deutschen Reiches auf Polen begann. Während des Krieges war Georg Molin bei verschiedenen Einheiten als Wehrmachtspfarrer eingezogen. Schon 1938 wird eine gewisse Ernüchterung eingesetzt haben, als sein Vater sofort beim Anschluss Österreichs als Angehöriger des Oberkirchenrates auf unschöne Art und Weise aus der Kirchenleitung hinausgedrängt wurde. 1941, also noch während des Dritten Reiches, erinnerte sich Johann Molin mit klaren Worten: In Zusammenhang mit dem Anschluß »wurden Präsident Dr. Capesius und ich von einigen Vertretern der evangelischen Kirche […] mit dem Hinweis darauf, daß die nationalsozialistische Partei es wünsche, aufgefordert, sofort unsere Ämter niederzulegen. […] Unsere Behandlung seitens der Vertreter der Kirche mußte als eine unverdiente Kränkung empfunden werden, aber ich konnte mich nicht allzusehr über sie wundern.«32 Bald erfolgten nationalsozialistische Maßnahmen gegen die Kirchen. Molin spricht in seinen im Februar 1941 verfassten Erinnerungen von »schädlichen Einwirkungen auf das evangelische Glaubensgut«33 und berichtet von einer nationalsozialistischen Austrittspropaganda, von der Auflösung des evangelischen Schulwesens sowie des evangelischen Vereinswesens. Nota bene: Auch die Akademische Verbindung Wartburg wurde im Juni 1938 aufgelöst. Auch bei Georg Molin scheint sich der Dreischritt, der sich bei vielen Evangelischen nachzeichnen lässt, zu finden: Bejahung – Ernüchterung – Verweigerung.34 Maßgeblich scheint dabei auch die theologische Ausrichtung gewesen zu sein, wobei vielleicht auch hier Georg Molins Vater prägend gewesen sein mag. Johann Molin war ursprünglich vom theologischen Liberalismus beeinflusst gewesen, jedoch »brach in ihm später eine biblizistische Frömmigkeit durch, 30 Vgl. u. a. Roman Pfefferle/Hans Pfefferle: Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren (Schriften des Archivs der Universität Wien 18), Wien 2014, 256–258. 31 Vgl. Kieweler: Fritz Wilke (s. Anm. 13), 295. 32 Molin: Lebensbeschreibung (s. Anm. 3), 34. Vgl. Karl W. Schwarz, »… Wie verzerrt ist nun alles!« Die Evangelische Kirche und der Anschluß Österreichs an Hitlerdeutschland im März 1938, in: Gerhard Besier (Hg.): Zwischen »nationaler Revolution« und militärischer Aggression. Transformationen in Kirche und Gesellschaft 1934–1939 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 48), München 2001, 167–191; außerdem Karl-Reinhart Trauner: Eine »Pressure-Group in der Kirche«. Die Evangelische Akademikergemeinschaft des Evangelischen Bundes in Österreich, in: KZG 16 (2003), 346–367. 33 Molin: Lebensbeschreibung (s. Anm. 3), 35. 34 Vgl. Karl W. Schwarz: Bejahung – Ernüchterung – Verweigerung: Die Evangelische Kirche in Österreich und der Nationalsozialismus, in: JGPrÖ 124/125 (2008/2009), 18–38.

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welche seiner geistlichen Tätigkeit, die er noch als 80jähriger ausübte, die Prägung gab«.35 Georg Molin wurde im Jahr 1941 in die Evangelische Michaelsbruderschaft – eine Gemeinschaft, deren Mitglieder nach einer gestalteten Spiritualität suchen – aufgenommen.36 Nach kriegsbedingter Unterbrechung und amerikanischer Kriegsgefangenschaft in den Jahren 1945 bis 1947 übernahm Georg Molin wieder seine Aufgabe im Pfarramt in Wiener Gemeinden, jetzt in Groß-Enzersdorf. Besonders wirkte er in der Betreuung der Diaspora – und damit der Heimatvertriebenen; das hatte wohl mit seinem schlesischen Herkommen zu tun. Auch mit seiner Lehrtätigkeit in Gymnasien begann er wieder.37 Neben seiner pfarramtlichen Tätigkeit wirkte Georg Molin auch als Lehrbeauftragter für Altes Testament und Hebräisch an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Wiener Alma Mater Rudolfina. Außerdem widmete er sich am Orientalischen Institut (Institut für Orientalistik) dem Studium altorientalischer Sprachen. Offenbar machte er sich Hoffnungen auf die Professur für Altes Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien, die durch die nationalsozialistische Verstrickung Fritz Wilkes seit 1946 offiziell vakant war. Auch wenn Wilke nach wie vor seine Lehrveranstaltungen abhielt, war er 1946 seines Amts als Universitätsprofessor enthoben, knapp danach in den Ruhestand versetzt worden. 1948 wurde Wilke schließlich offiziell Lektor, von 1949 bis 1954 lehrte er als Honorarprofessor.38 In dieser Zeit lernte Georg Molin auch Kurt Schubert (1923–2007) kennen.39 Krankheitshalber war Schubert nicht zur Wehrmacht eingezogen worden, die Judenverfolgung im Dritten Reich bewog ihn zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Judentum. Schon während des Krieges begann der engagierte Katholik, Hebräisch zu lernen. Außerdem studierte er am Institut für Orientalistik, das seit 1938 auf zwar hohem intellektuellem Niveau, aber in antisemitischem Sinn von Viktor Christian geleitet wurde. Schubert verstand hingegen sein Studium als einen Akt des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Als Student rettete er die Bibliothek des Wiener Rabbinerseminars vor der Vernichtung und veranlasste nach 1945 deren Verbringung nach Israel. An der Universität Wien wirkte Schubert zunächst als Dozent für Judaistik im

35 Zimmermann: Molin (s. Anm. 3). 36 Herzlichen Dank für die entsprechende freundliche Mitteilung von Univ.-Prof. Dr. Ernst Hofhansl, Pressbaum (Niederösterreich). 37 Vgl. Molin, Georg. Biogramm (s. Anm. 10). 38 Vgl. Pfefferle/Pfefferle: Glimpflich entnazifiziert (s. Anm. 30), 257–258. 39 Zu Schubert vgl. u.v.a. Universität Wien, 650 plus – Geschichte der Universität Wien, Kurt Schubert, o. Univ.-Prof. Dr. Dr.h.c., 2017, verfügbar unter: http://geschichte.univie.ac.at/de/ personen/kurt-schubert-o-univ-prof-dr-drhc [21. 05. 2018].

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Rahmen des Instituts für Orientalistik, ab 1948 widmete er sich dem Aufbau der Judaistik in Wien. Wohl angeregt durch Schubert setzte sich auch Georg Molin mit der Frage der jüngsten Geschichte des Judentums auseinander. So schrieb er über »Judentum und Judenmission in Wien«, wobei er neben dem katholischen »Pauluswerk« auch die schwedisch-lutherische »Israelmission« in der Seegasse in Wien sowie die Baptisten ansprach.40 Im Frühjahr 1947 fand ein Beduine, angeblich beim Ziegenhüten, knapp mehr als einen Kilometer nördlich von Qumran eine Höhle mit Schriftrollen; mehrere fanden sich in den kommenden Jahren im Antikenhandel. Erst seit 1949 wurden systematische Grabungen durchgeführt. Im Zuge dessen wurden auch an anderen Orten der Region immer wieder wertvolle Funde verzeichnet, die bekanntesten davon nahe der Ruinenstätte Khirbet Qumran im Westjordanland. Die Schriften stammen aus dem antiken Judentum, darunter sind aber auch Texte des späteren Tanach, die bislang ältesten bekannten Bibelhandschriften. Schubert konnte durch seine Kontakte nach Israel schon sehr früh Texte vom Toten Meer einsehen. Schubert begann sich zusammen mit Georg Molin mit den Texten zu beschäftigen; eine lebenslange Freundschaft entstand aus der gemeinsamen Arbeit.41 Georg Molin trat bereits 1951 mit einer Untersuchung über diese aufsehenerregenden Funde an die wissenschaftliche Öffentlichkeit.42 Weitere Studie v. a. zu Qumran und alttestamentlich-judaistischen Themen folgten: Schon 1949 beschäftigte sich Georg Molin mit dem Menschenbild, ab 1951 bereits mit den Funden am Toten Meer.43 »Molin war nun der Erste, der die 40 Georg Molin: Judentum und Judenmission in Wien, in: Jud. 8 (1952), (207–223) 217–219. Siehe u. a. Franz Graf-Stuhlhofer: Juden und Freikirchen in Österreich. Die Haltung der Freikirchen in Österreich zur Zeit des Nationalsozialismus, dargestellt vor allem am Beispiel der Prediger Arnold Köster (Baptist) und Hinrich Bargmann (Methodist), in: Daniel Heinz (Hg.): Freikirchen und Juden im »Dritten Reich«. Instrumentalisierte Heilsgeschichte, antisemitische Vorurteile und verdrängte Schuld (KKR 54), Göttingen 2011, (311–330) 328. 41 Schubert verfasste auch einen Beitrag zur Festschrift für Georg Molin zu dessen 75. Geburtstag: Kurt Schubert: Midrasch-Exegese in der Bilderbibel des Jüdischen Instituts in Warschau No. 1164 aus dem 16. Jahrhundert, in: Seybold: Meqor Hajjim (s. Anm. 1), 323–350. 42 Georg Molin: Die Rollen von ‛En Fesˇha und ihre Stellung in ˙der jüdischen Religionsge˘ Schubert veröffentlichte schon 1950 zum Thema: schichte, in: Jud. 7 (1951), 161–213. Kurt Kurt Schubert: Die Texte aus der Sektiererhöhle bei Jericho, in: Hubert Junker/Johannes Botterweck (Hg.): Alttestamentliche Studien. Friedrich Nötscher zum 60. Geburtstag gewidmet (BBB 1), Bonn 1950, 224–245. In den Jahren darauf veröffentliche Schubert ebenfalls mehrere Beiträge über En Fesha; siehe u. a. die Bibliographie in Johann Maier: Die QumranEssener. Die Texte vom Toten Meer 3. Einführung, Zeitrechnung, Register und Bibliographie (UTB 1916), München 1996, 453–454. 43 Georg Molin: Der Mensch als Ebenbild Gottes im Alten Testament, in: Amt und Gemeinde 3 (1949), 1–3; ders.: Der Habakukkommentar von ‛En Fesˇha in der alttestamentlichen Wis˘ senschaft, in: ThZ 7 (1952), 340–357; ders.: Elijahu, der Prophet und sein Weiterleben in den Hoffnungen des Judentums und der Christenheit, in: Jud. 8 (1952), 65–94.

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gefundenen Texte in das Deutsche übersetzte und dadurch einen großen Leserkreis mit dem Inhalt, aber auch mit der theologischen Problematik dieser Schriften vertraut machte.«44 Eine wissenschaftliche Karriere schien Georg Molin in Wien offenzustehen. Aber 1953 zerbrach Georg Molins private und berufliche Welt. Die Scheidung seiner Ehe machte es notwendig, dass er das Pfarramt niederlegen musste. An die Übernahme der alttestamentlichen Professur in Wien war damit auch nicht mehr zu denken. Die Erfahrungen im Krieg und 1945 sowie seine privaten und beruflichen Erfahrungen machten eine grundlegende Neuorientierung zwingend notwendig. Hierbei konnte er auf seine alte Leidenschaft, das Alte Testament, zurückgreifen. Das Exlibris von Georg Molin zeigt eine antike weibliche Gestalt – vielleicht die personifizierte Weisheit – mit einem Spruchband. Die Schrift ist ein Zitat aus den Sprüchen Salomos und lautet ‫( יראת יחוה ראשׁית דעת‬Spr 1,7). Im modernen Hebräisch bedeutet ‫ דעת‬das Wissen, der ‫( עץ הדעת‬Gen 2,9) ist aber der »Baum der Erkenntnis«. Der Wahlspruch Georg Molins kann also so übersetzt werden: »Gottesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis«.

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Aufbruch

Seine zweite berufliche Laufbahn eröffnete ihm jedoch die Möglichkeit seiner wissenschaftlichen Entfaltung.45 Kurt Schubert stellte Georg Molin den Kontakt mit Ernst Weidner (1891–1976) her, der seit 1943 Ordinarius des Lehrstuhls für Orientforschung der Karl-Franzens-Universität Graz war.46 Mit Weidners Hilfe habilitierte sich Georg Molin noch 1953 mit einer Arbeit über den HababukKommentar aus Qumran47 an der Philosophischen Fakultät für das Fach der westsemitischen Sprachen, Religionen und Kulturen. Offenbar hatte er bereits in seiner Wiener Zeit am Thema zu arbeiten begonnen. 1954 heiratete Georg Molin 44 Claus Schedl: Meqôr Hajjîm, ein Lebensquell, in: Seybold: Meqor Hajjim (s. Anm. 1), (18–19) ˙ ˙ 18. 45 Die nachfolgenden Fakten basieren im Wesentlichen auf Hannes D. Galter/Irmtraut Seybold: Georg Molin (23. 10. 1908–7. 9. 2003), in: AfO 50 (2003/2004), 509–511; Molin, Georg. Biogramm (s. Anm. 10). 46 Zu Weidner vgl. Hannes D. Galter: Die Inschriften der assyrischen Könige im Spiegel der österreichischen Altorientalistik am Beispiel Graz, in: Friedrich Schipper (Hg.): Zwischen Euphrat und Tigris. Österreichische Forschungen zum Alten Orient (Wiener Offene Orientalistik 3), Wien 2004, (143–163) 146–149; Gary D. Thompson: Ancient Zodiacs, Star Names, and Constellations. Essays and Critiques. Biographies of Modern Historians of Ancient Occidental Astral Sciences, 2017, verfügbar unter: http://members.westnet.com.au/gary-da vid-thompson/page9i.html [21. 05. 2018], der Abschnitt über Ernst Weidner (s.p.). 47 Georg Molin: Der Habakuk-Kommentar von ‛En Fesˇcha, Habil. phil., Graz 1953. ˘

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wieder. Weidner gewann Molin auch für die Mitarbeit am »Archiv für Orientforschung« (AfO). Von 1953 an lehrte Georg Molin am Institut für Orientkunde bzw. dessen Nachfolgeinstitution, der Abteilung für Geschichte der altorientalischen Kulturen des Instituts für Alte Geschichte und Altertumskunde der Grazer Universität. Daneben unterrichtete Georg Molin von 1954 bis 1974 noch an Allgemeinbildenden Höheren Schulen die Fächer Religion und Englisch. Zwischen 1955 und 1958 übernahm er überdies eine Halbtagsstelle als wissenschaftliche Hilfskraft, ab 1956 als halbtätig beschäftigter Assistent am Alttestamentlichen Institut der Katholisch-Theologischen Fakultät. Neben der Aufgabenerfüllung im Lehr- und Forschungsbereich der Universität widmete sich Georg Molin auch einer beachtlichen Vortragstätigkeit, die ihn immer wieder als besonderen Kenner des Alten Testaments und seiner Umweltbezüge auswies. 1979 wurde Georg Molin 70-jährig emeritiert, bis 1981 lehrte er noch am Institut für Alte Geschichte. Aber auch danach war er weiterhin wissenschaftlich tätig. Neben wissenschaftlichen Erfolgen konnten auch Auszeichnungen nicht ausbleiben. 1966 wurde er zum tit. ao. Universitätsprofessor ernannt. 1988 erhielt er die pro meritis-Medaille der Karl-Franzens-Universität, 1990 das Große Ehrenzeichen des Landes Steiermark und 1992 das Ehrenzeichen für Verdienste um die Karl-Franzens-Universität Graz in Gold verliehen.48 In seiner fast dreißigjährigen wissenschaftlichen Lehrtätigkeit im Bereich der Orientkunde konnte Georg Molin sein großes Können entfalten. Er wurde einer der führenden Kenner der jüdischen Geschichte. Georg Molin ging es in seinen Forschungen um eine »Gesamtschau. Neben Hebräisch und Aramäisch bot er daher auch Phönizisch, Ugaritisch und […] ›vergleichende Semitik‹ an, und seine Vorlesungen zur Geschichte der Königreiche Israel und Juda wurden immer von Ausblicken auf die historische Umwelt dieser Staaten sowie auf die Geschichte des späteren Judentums begleitet«, erinnern sich seine Schüler Hannes D. Galter und Irmtraut Seybold.49 Er gehörte letztlich noch zu den letzten Ausläufern der Forschung des 19. Jahrhunderts. Als alter Herr sprach dies Georg Molin selber mit einem gewissen süffisanten Unterton an: »Bis in unser Jahrhundert hinein überblickten sie [die OrientalistikForscher] noch das ganze Feld dieser Wissenschaft. Heute ist es wegen der Fülle

48 Vgl. Galter/Seybold: Molin (s. Anm. 45), 511; Karl-Franzens-Universität Graz, Ehrungen, 2018, verfügbar unter: https://www.uni-graz.at/de/die-universitaet/die-universitaet-graz/dieuniversitaet-im-portraet/ehrungen/ [20. 05. 2018]. 49 Galter/Seybold: Molin (s. Anm. 45), 510. Irmtraut Seybold war die »letzte Schülerin von Prof. DDr. Georg Molin« (Irmtraut Seybold: Vorwort, in: dies.: Meqor Hajjim [s. Anm. 1], 7). ˙

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des Materials und der Verfeinerung der Studien in viele Teilbereiche aufgegliedert.«50 Zu dieser alten Schule gehörte nicht nur eine ausgesprochen gediegene Vorbereitung jeder Vorlesung und Lehrveranstaltung, sondern auch eine anregende Aufbereitung des Stoffes. Als akademischer Lehrer sah Georg Molin sich einer breiten und offenen Zugangsweise verpflichtet, die ihn auch bei trockenen Themen den Humor behielten ließ. Er verstand es, wie sich wieder Galter und Seybold erinnern, »sein Wissen auf eine ganz eigene Art zu vermitteln, indem er Wissenschaft mit unzähligen Anekdoten aus seinem ›akademischen Leben‹ verknüpfte, und uns Studierende sogar die ›Vergleichende Grammatik der Semitischen Sprachen‹ humorvoll erlernen ließ.«51 Und an anderer Stelle, in seinem Nachruf: »Diejenigen, die ihn persönlich gekannt haben, werden seine Anwesenheit, seine prägnanten Beiträge in Lehrveranstaltungen und Diskussionen sowie seine grenzenlose Begeisterung für die orientalischen Fächer – besonders für die Judaistik – vermissen.«52

4

Forschungsschwerpunkte

Den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses Georg Molins bildeten die Handschriften vom Toten Meer. Schon in seinen Wiener Jahren hatte sich Georg Molin zu einem bedeutenden Kenner der jüdischen Zeitgeschichte entwickelt. Spätestens in Graz gehörte er zu den international führenden Fachleuten auf dem Gebiet der Qumran-Forschung. Er übersetzte als einer der ersten die heute als Qumran-Schriften bekannten Texte der Essener und erschloss sie damit einem größeren Leserkreis. Noch in den 1950er Jahren veröffentlichte Molin zwei Bände mit Übersetzungen von Schlüsseltexten der Handschriften vom Toten Meer bzw. Qumran: Die Söhne des Lichtes (1954) und Lob Gottes aus der Wüste (1957).53 Noch Jahrzehnte später bescheinigen die Neutestamentler Otto Betz und Rainer Riesner Georg Molin, dass er »nicht nur philologisch an den Qumran-Schriften ausgezeichnete Arbeit geleistet hat, sondern sich auch historisch und theologisch schon früh ein fundiertes und bis heute in den wesentlichen Zügen gültiges Urteil 50 Georg Molin: Archäologie, Orientalistik, Altes Testament [1985], in: Wartburg-Argumente 1 (1989), (5–15) 9. 51 Galter/Seybold: Molin (s. Anm. 45), 510. 52 Hannes D. Galter/Irmtraut Seybold: Nachruf auf Georg Molin, in: Mitteilungen der Grazer Morgenländischen Gesellschaft 11 (2002), (2–3) 3. 53 Georg Molin: Die Söhne des Lichts. Zeit und Stellung der Handschriften vom Toten Meer, Wien 1954; ders. (Übers.): Lob Gottes aus der Wüste. Lieder und Gebete aus den Handschriften vom Toten Meer, Freiburg i.Br. 1957.

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über die Entstehungszeit und Verfasserschaft der Schriften gebildet hat.«54 In verschiedenen Beiträgen stellte er auch einer breiteren Öffentlichkeit die neuen Erkenntnisse vor.55 1994 – Georg Molin war zu diesem Zeitpunkt 85-jährig – erschien vom zweitgenannten Werk eine erweiterte Neuausgabe unter dem Titel »Das Geheimnis von Qumran«.56 Es enthält eine Auswahl aus den 1954 unter dem Titel »Hodajot« (Loblieder, Hymnen) in hebräischer Ursprache veröffentlichten Texten aus Qumran sowie »Messias-Lieder aus der Wüste« mit messianischen Texten. Mit dem »Archiv für Orientforschung« (AfO) hatte ein namhaftes Fachorgan seinen Sitz in Graz. Das AfO war von Georg Molins Förderer in Graz, Ernst Weidner, 1923 als Archiv für Keilschriftforschung in Berlin begründet worden. 1926 erhielt die Zeitschrift schließlich ihren endgültigen Namen. Als Weidner als Professor nach Graz wechselte, nahm er die Zeitschrift mit und blieb deren Herausgeber bis zu seinem Tod 1976. Weidner war ein Fachmann für altorientalische Astronomie und vertrat ein panbabylonisches Konzept, das jedoch kaum auf wissenschaftlichen Konsens traf. Aber »Weidner did not make Archiv für Orientforschung a platform for Panbabylonist views. The journal published scholarly papers encompassing a wide outlook«.57 Das in der Mitte der 1950er Jahre rasant ansteigende Interesse an den Qumran-Schriften führte zu einem rasanten Anstieg der wissenschaftlichen Literatur. Das AfO bot hier wertvolle Orientierungshilfen, denn Weidner etablierte damit einen »völlig neuen Typ von wissenschaftlicher Zeitschrift: neben Originalaufsätzen bot sie einen Überblick über den Forschungsstand – auch und vor allem über die Ergebnisse archäologischer Grabungstätigkeit im Vorderen Orient […].«58 Georg Molin stellte sich ganz in den Dienst der Aufgabe. Es war sein großes Verdienst, in den Jahren 1956 bis 1963 akribisch und mit großer Umsicht erarbeitete »Forschungsberichte« mit einer aktuellen Übersicht über den wissenschaftlichen Forschungsstand unter dem Titel »Chirbet Qumrân und die Handschriften [bzw. Texte] vom Toten Meer« vorzulegen.59 »Gerade durch diese 54 Otto Betz/Rainer Riesner: Vorwort zur Neuausgabe, in: Georg Molin: Das Geheimnis von Qumran. Wiederentdeckte Lieder und Gebete, hg. v. Otto Betz u. Rainer Riesner, Freiburg i.Br. 1994, (7–12) 11. 55 Z. B. Georg Molin: Rufer in der Wüste. Ein Überblick über die Funde am Toten Meer, in: RefSchw (1957) 2, 98–104; 3, 66–72; 4, 147–151; 5, 204–209. 56 Molin: Das Geheimnis von Qumran (s. Anm. 54). 57 Thompson: Ancient Zodiacs (s. Anm. 46), im Abschnitt über Ernst Weidner. 58 Galter: Die Inschriften der assyrischen Könige (s. Anm. 46), 147. 59 Georg Molin: Chirbet Qumrân und die Handschriften vom Toten Meer (Forschungsbericht), in: AfO 17 (1956), 450–454; 18,1 (1957/58), 204–207; 475–479; ders.: Chirbet Qumrân und die Texte vom Toten Meer (Forschungsberichte), in: AfO 19 (1962), 248–249; 20 (1963), 269–272.

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emsige Kleinarbeit hat sich Molin den Ruf eines zuverlässigen Führers durch die Wüste Juda zum lebenden Quell in Qumrân erworben.«60 Darüber hinaus erschienen ab 1954 mehrere »Archäologische Kurzberichte« über aktuelle Ausgrabungsstätten.61 Mit einer Reihe namhafter Autoren berichtete Georg Molin überdies über »Ausgrabungen und Forschungsreisen«.62 Rezensionen u. a. in der renommierten, in Paris erscheinenden Zeitschrift »Revue de Qumrân« verweisen auf den großen Wirkungskreis Georg Molins. Neben diesen systematisierenden Überblicken verfaßte Georg Molin weiter eigene Studien. In zahlreichen Aufsätzen zu Einzelfragen führte Molin in rascher Folge seine Forschungen zu Qumran und zu anderen altorientalischen Themen fort.63 In den 1960er Jahren kehrte Georg Molin mit seinen Forschungen wieder mehr zu seinen Ursprüngen, der alttestamentlichen Wissenschaften, zurück. In zahlreichen wissenschaftlichen Aufsätzen widmete sich Georg Molin auch verschiedenen biblischen Themen.64 Er verstand dabei die Bibel historisch als Teil der Geschichte des Alten Orients. Das Verständnis des »Liedes der Lieder« war ihm [Georg Molin] nur vor dem Hintergrund der altägyptischen Liebeslieder bedeutsam; das Buch Hiob nur im Vergleich mit der mesopotamischen Weisheitsdichtung. Zum Verständnis alttestamentlicher Bibelstellen wurden in gleicher Weise altägyptische, ugaritische und mesopotamische Parallelen herangezogen […]. Molin begriff den Alten Orient als ein kulturelles Konti-

60 Schedl: Meqôr Hajjîm (s. Anm. 44), 19. ˙ (1954) beschrieb Georg Molin in mehreren Beiträgen verschiedene Aus61 V. a. im AfO 17,1 grabungsstätten. 62 In den Jahrgängen 17,1 (1954) bis 20 (1963) des AfO, gemeinsam u. a. mit Ernst Weidner und André Parrot. 63 Z.B Georg Molin: Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften. Hat die Sekte von Khirbet Qumrân Beziehungen zu Ägypten?, in: ThLZ 78 (1953), 653–656; ders.: Qumrân – Apokalyptik – Essenismus. Eine Unterströmung im sogenannten Spätjudentum, in: saec. 6 (1955), 244–282; ders.: Die Hymnen von Chirbet Qumran (1 QT), in: Kurt Schubert u. a. (Hg.): Vorderasiatische Studien. Festschrift für Prof. Dr. Viktor Christian, gewidmet von Kollegen und Schülern zum 70. Geburtstag, Wien 1956, 74–82; ders.: What is a Kidon?, in: JSSt 1 (1956), 334–337. 64 Z. B. Georg Molin: Die Stellung der Gebira im Staate Juda, in: ThZ 10 (1954), 161–175; ders.: Matthäus 5,43 und das Schrifttum von Qumran, in: Siegfried Wagner (Hg.): Bibel und Qumran. Beiträge zur Erforschung der Beziehungen zwischen Bibel- und Qumranwissenschaft. Hans Bardtke zum 22. 09. 1966, Berlin 1968, 150–152; ders.: Das Motiv vom Chaoskampf im Alten Orient und in den Traditionen Jerusalems und Israels, in: Johannes Baptist Bauer/Johannes Marböck (Hg.): Memoria Jerusalem. Freundesgabe Franz Sauer zum 70. Geburtstag, Graz 1977, 13–28; ders.: Das Menschenbild des Alten Testaments, in: BiLi 52 (1979), 104–111; ders.: ‛Ebed-Melek, der Kuschit. Bemerkungen zu Jer. 38,7–13 und 39,15–18, in: Roswitha G. Stiegner (Hg.): Al-Hudhud. Festschrift Maria Höfner zum 80. Geburtstag, Graz 1981, 219–223.

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nuum, von dem der Wissenschaftler lediglich das Schlaglicht des jeweiligen zu interpretierenden Textes wahrnahm.65

Das Alte Testament nahm aber eine Schlüsselposition ein. Auf die Frage nach den Beziehungen der Funde von Qumran zu Ägypten konnte er deshalb feststellen: Ich selber vertrete […] die Ansicht, daß das Gedankengut der Sekte [von Qumran] vor allem aus alttestamentlichen Begebenheiten abzuleiten ist, doch ist hie und da das alttestamentliche Gut ein wenig umgefärbt worden, so daß man wohl auch an fremde Einflüsse [Molin denkt an ägyptische] denken kann […].66

Georg Molin sagte es 1985 selber folgendermaßen: Die Verankerung des Alten Testaments im Alten Orient wird [durch die Forschung] fester und klarer. In dessen Bild müssen wir Israel und seinen literarischen Nachlaß einordnen. Wellhausensche Methoden der Literarkritik drängen wieder vor. Sie können nur von Bedeutung sein, wenn sie durch moderne Hilfsmittel objektiviert werden, wie es in Oxford schon geschieht. Auf festen Boden aber kommen wir nur, wenn wir die Ergebnisse dieser Bemühungen mit den Funden der Archäologie und Orientalistik in Beziehung setzen können. Ein Widerspruch ist auf die Dauer nicht zu dulden. Dazu hilft auch ganz primitiv die Verfeinerung in der Kenntnis der Sprachen, in der der Alte Orient uns sein Erbe hinterlassen hat.67

Für Georg Molin war das Alte Testament aber nicht nur ein rein akademisches Betätigungsfeld. Der Vorstand des Instituts für Religionswissenschaft der KarlFranzens-Universität Graz, Claus Schedl, drückte das anlässlich des 75. Geburtstages von Georg Molin folgendermaßen aus: Beim Rückblick auf die Lebensarbeit dieses Bibelgelehrten – und ein solcher war Molin in tiefster Seele – darf man wohl sagen, daß sich hier die Sprüche der Alten Weisen bewahrheitet haben. […] »Die Lehre des Weisen ist ein Lebensquell« [Spr 13,14] und »Tiefe Wasser sind die Worte aus dem Mund eines Menschen, ein sprudelnder Bach, eine Quelle der Weisheit« [Spr 18,4], also ein Lebensquell – meqor hajjîm.68 ˙

Der Offenheit seines Denkens wie auch seines wissenschaftlichen Ansatzes entsprach es, dass Georg Molin über den Tellerrand seines engeren Forschungsgebietes hinausblickte. Für ihn war der Orient die »Wiege der Weltreligionen«.69 Ähnlich wie bei seinem Freund Kurt Schubert beschränkte sich Georg

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Galter/Seybold: Molin (s. Anm. 45), 510. Molin: Der gegenwärtige Stand der Erforschung (s. Anm. 63), 653. Molin: Archäologie (s. Anm. 50), 14–15. Schedl: Meqôr Hajjîm (s. Anm. 44), 19. ˙ Orient als Wiege der Weltreligionen. Judentum, Christentum, Islam, in: Georg Molin: Der Franz Sauer (Hg.): Orient und Okzident in Vergangenheit und Gegenwart (Kärntner Hochschulwochen 6), Graz 1960, 47–57; vgl. ders.: Elijahu, der Prophet und sein Weiterleben in den Hoffnungen des Judentums und der Christenheit, in: Jud. 8 (1952), 65–94; ders.: In der Wüste

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Molins Interesse aber nicht auf das historische Judentum, sondern er beschäftigte sich auch mit Zeitfragen.70 Gerade seine Offenheit für spirituelle Ansprüche brachte es aber auch mit sich, dass er Sachverhalte nicht einebnete. So sprach er trotz aller Sympathie sehr deutlich bspw. Defizite bei den Qibbuzim an: »Eines aber sucht man in den meisten Qibbuzim vergeblich, irgendwelche Einrichtungen zur Pflege des geistlichen Lebens. […] Im Qibbuz selbst findet sich kaum geistliche Gemeinschaft und Förderung.«71 Ein besonderes Thema war für ihn der Antisemitismus. Viele der akademischen Lehrer von Kurt Schubert oder Georg Molin waren in der Zeit des Dritten Reiches auf ihre Professorenstellen gekommen und hatten antisemitisches Gedankengut vertreten. Das gilt v. a. für Viktor Christian in Wien,72 während Ernst Weidner in Graz den Nationalsozialismus ablehnte.73 Für Georg Molin war aber, wie für Kurt Schubert, klar, dass ein Christ kein Antisemit sein kann.74 Das Christentum ist aber mit dem Antisemitismus nicht nur unvereinbar, sondern der christliche Glaube führt auch zu einem jüdisch-christlichen Dialog.75 Auf der Gründungssitzung des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Wien am 17. Mai 196276 referierte Georg Molin an dem zu diesem Anlass abgehaltenen Studientag »Das Mysterium Israels«; neben Molin sprachen u. a. noch Kurt Schubert und Oberrabbiner Akiba Eisenberg.77 Auch auf dem Gebiet der christlichen, d. h. vornehmlich katholisch-evangelischen Ökumene setzte Georg Molin Akzente. Es war die Zeit des Zweiten Va-

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bahnet den Weg des Herrn, in: Jud. 13 (1957), 171–186; ders.: Der Staat Israel und die biblischen Verheißungen, in: Amt und Gemeinde 9 (1958), 30–32. Z. B. Georg Molin: Probleme des Staates Israel, in: Der Freund Israels 119 (1956), 37–41; ders.: Probleme des Staates Israel, in: Amt und Gemeinde 7 (1956), 47–50. Georg Molin: Die Qibbuzim-Genossenschaften der Arbeit, in: Quat. 21 (1957), (169–171) 170, verfügbar unter: http://www.quatember.de/J1957/q57169.htm [03. 04. 2018]. Vgl. die entsprechenden Stellen bei Pfefferle/Pfefferle: Glimpflich entnazifiziert (s. Anm. 30). Zum schwierigen Verhältnis Kurt Schuberts zu seinem Lehrer Viktor Christian vgl. Dirk Rupnow: Brüche und Kontinuitäten. Von der NS-Judenforschung zur Nachkriegsjudaistik, in: Mitchell G. Ash u. a. (Hg.): Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, (79–110) 100–102. Vgl. u. a. Hans Hirsch: Gilgamesch-Epos und Erra-Lied. Zu einem Aspekt des Verbalsystems (AfO.B 29), Wien 2002, 1–2. Georg Molin: Warum kann ein Christ kein Antisemit sein?, in: Jud. 19 (1963), 98–113. Georg Molin: Der sogenannte christliche Antisemitismus und die praktische christliche Katechese, in: Clemens Thoma (Hg.): Judentum und christlicher Glaube. Zum Dialog zwischen Christen und Juden, Wien 1965, 193–218. Die offizielle (formelle) Konstituierung erfolgte dann einige Jahre später, am 12. Februar 1965. Zum ersten Präsidenten des Koordinierungsausschusses wurde Kurt Schubert gewählt. Vgl. Markus Himmelbauer: Im Bewusstsein der bleibenden Erwählung Israels, 2006, Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit [Wien], verfügbar unter: http://christenundjuden.org/index_files/cb1142605ce50e5c43ea12 ffc879eaa6-133. html [18. 09. 2018].

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tikanischen Konzils (1962–1965); im November 1964 wurde das Dekret über den Ökumenismus »Unitatis redintegratio« verabschiedet. Georg Molin hatte schon früh ein liturgisches Interesse gezeigt,78 das auch in seiner Mitgliedschaft bei der Michaelsbruderschaft zum Ausdruck kam. Sein liturgisches wie auch sein ökumenisches Interesse findet sich in etlichen seiner Aufsätze, von denen viele in römisch-katholischen Organen veröffentlicht wurden, direkt oder indirekt wieder.79 Zu einem Höhepunkt des Wirkens Georg Molins’ wurde jedoch die Mitarbeit an der Einheitsübersetzung der Bibel, der in der Römisch-Katholischen Kirche üblichen Bibelübersetzung. Sie ist eine Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils und entstand in den Jahren 1962 bis 1980. Die Bibelübersetzung, die vom Katholischen Bibelwerk herausgegeben wird, wurde von katholischen Theologen unter Beteiligung evangelischer Theologen erarbeitet. Geistliche der Michaelsbruderschaft arbeiteten von Anfang an bei der Übersetzung mit.80 Auf Einladung der Deutschen Bischofskonferenz wirkten später auch Exegeten mit, die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) benannt waren. Georg Molin war einer der wenigen Protestanten, die an der Übersetzung des Alten Testaments mitarbeiten konnten.81 Zahlreiche Artikel in Lexika runden das Werk nicht nur ab, sondern dokumentieren auch Molins internationale und ökumenische Anerkennung: Sie erschienen nicht nur in deutscher, sondern auch in italienischer, spanischer und englischer Sprache.82

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Nachbemerkung

Der österreichische lutherische Bischof Dieter Knall würdigte in besonderer Weise die seelsorgerische Wirksamkeit Georg Molins anlässlich dessen 75. Geburtstages und betonte seine »bleibende Liebe zur Kirche und ihrem konkreten 78 Georg Molin: Die Taufe in Ritus und Lehre der römisch-katholischen und prawoslawen Kirchen, in: Amt und Gemeinde 2 (1948), 124. 79 Z. B. Georg Molin: Die Frage Marias an den Verkündigungsengel, in: BiLi 24 (1956), 76–81; ders.: Bemerkungen zu den Richtlinien [über die Liturgiereform], in: HID 19 (1965), 19–21; ders.: Bemerkungen zu den neuen eucharistischen Hochgebeten, in: HID 22 (1968), 148–151. 80 Siehe u. a. Norbert Lohfink: Kohelet übersetzen. Berichte aus einer Übersetzerwerkstatt, in: Jozˇe Krasˇovec (Hg.): The Interpretation of the Bible. The International Symposium in Slovenia (JSOTS 289), Sheffield 1998, 1359–1360. 81 Vgl. Georg Molin: Die katholische deutsche Einheitsübersetzung, in: Quat. 35 (1970), 31–32. 82 Artikel von Georg Molin finden sich in folgenden Lexika: BThW 1 Bd., Graz 1959, bzw. 2 Bde., Graz ²1965; BHH, 4 Bde., Göttingen 1964; Dizionario di Teologia Biblica, 1 Bd., Brescia 1965; Diccionario de Teología Bíblica, 1 Bd. (Biblioteca Herder, Secc. de sagrada escritura 74), Barcelona 1967; Encyclopedia of Biblical Theology, 1 Bd., London 1970.

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Gemeindeleben«.83 In der Pfarrgemeinde Graz-Eggenberg hielt er von 1963 bis 1982, also bis ins hohe Alter, regelmäßig Gottesdienste. Dieter Knall verweist auch darauf, dass Georg Molin durch seine Verbundenheit mit dem Glauben mehr als nur ein Lehrer war. »Er war neben allem immer auch Seelsorger«.84 Für viele seiner Schüler in den Allgemeinbildenden Höheren Schulen, an denen er unterrichtete, aber auch für seine Lehrerkollegen dort,85 wie auch für Studenten und Kollegen an der Universität war Georg Molin Ansprechpartner in religiösen und seelsorgerischen Fragen. Auch nach seiner Emeritierung war Georg Molin nach wie vor wissenschaftlich äußerst rege, auch wenn seine Publikationstätigkeit mit zunehmendem Alter – Georg Molin wurde immerhin 95 Jahre alt – nachließ.86 In den letzten Jahren seiner wissenschaftlichen Tätigkeit widmete sich Georg Molin verstärkt Übersetzungen. Mitte der 1980er Jahre gab er eine mit großem Sprachgefühl erstellte Übersetzung der Psalmen heraus.87 Ihre Entstehung steht in Zusammenhang mit den Bestrebungen der Michaelsbruderschaft für eine Neufassung des Stundenbuches.88 Es folgten im Jahr 1988 – Georg Molin war 80 Jahre alt – Übersetzungen des Buches Hiob und des Lieds der Lieder.89 Gerade das Buch Hiob stellt eine besondere Herausforderung für ihn dar. Johann B. Bauer verweist in einem Nachwort auf die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten, die das Buch Hiob dem Übersetzer bereitet. In den letzten Jahren ist es krankheitsbedingt still um Georg Molin geworden. Er verstarb am 7. September 2003. Sein Grab befindet sich auf dem evangelischen Friedhof Neuhart in Graz-Wetzdorf.

83 Dieter Knall: Georg Molin in Dankbarkeit, in: Seybold: Meqor Hajjim (s. Anm. 1), (13–14) 14. ˙ 84 Knall: Georg Molin (s. Anm. 83), 14. 85 Vgl. u. a. Oktavian Proske: Geleitwort, in: Seybold: Meqor Hajjim (s. Anm. 1), 15. Proske war ˙ ein Lehrerkollege Georg Molins. 86 Z. B. Georg Molin: Martin Luther und wir, in: Neues aus Graz-Schutzengel 20 (1983), 2; ders.: Archäologie (s. Anm. 50); ders.: Der Leviathan. Von Sumer bis zur Offenbarung Johannes [Festvorlesung anlässlich des goldenen Theologiedoktorats, Wien], in: Amt und Gemeinde 40 (1989), 142–146. 87 Georg Molin (Übers.): Die Psalmen (GrTS 11), Graz 1986. 88 Man entschied sich seitens der Michaelsbruderschaft dann doch zunächst für die Lutherübersetzung. Bei der Arbeit am Psalter der 4. Auflage zum Tagzeitenbuch kam sie wieder in die engere Auswahl, es setzte sich dann aber die Übersetzung des Hamburger Kantor Günter Hinz durch. Herzlichen Dank für die freundliche Mitteilung von Univ.-Prof. Dr. Ernst Hofhansl, Preßbaum (Niederösterreich). 89 Georg Molin (Übers.): ‫ איוב‬Ijjob (GrTS.B 2), Graz 1988; ders. (Übers.): Das Lied der Lieder, unveröffentlichtes Manuskript, Graz 1988.

Michael Hackl

»Kommet her zur Physik, und erkennet das Wahre!« Mitwissenschaft bei Schelling und Bohr If you make a theory, for example, and advertise it, or put it out, then you must also put down all the facts that disagree with it, as well as those that agree with it.1 Richard Philipps Feynman

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Wissen von der Natur

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling hat sich bereits in seinen frühen philosophischen Arbeiten auf die Naturphilosophie konzentriert, die Naturwissenschaften scheinen ihm der Schlüssel, um das Absolute begreifen zu können. Am Anfang seiner Naturphilosophie steht sogar die Forderung: »Kommet her zur Physik, und erkennet das Wahre!«.2 Die Physik liefert uns Einsicht in das Wesen der Natur, sohin der Welt. Das Wissen über die Natur ist für ihn nichts, was sich uns aufdrängt, stattdessen gilt es die Wirkweise der Natur zu begreifen, nur so ist ihrem Wesen Ausdruck zu verleihen. Dieses Wissen ist aber nichts rein Objektives, das der Natur auferlegte Ordnungssystem ist im Wesentlichen eine Konstruktion des Subjekts entlang des empirisch Wahrnehmbaren. Damit ist das Subjekt maßgeblich für die Beschreibung der Natur, das erkennende Subjekt ist vom Objekt nicht zu trennen. Sie müssen aufeinander bezogen sein, ansonsten wäre keine Seite auf die andere zu beziehen. Das Verbindende beider Seiten macht ihr wahrhaft vernünftiges Wesen aus, dies ist »das innere und göttliche Band der Dinge«.3 1 Richard Philipps Feynman: Cargo Cult Science, in: Engineering and Science 37 (1974), (10–13) 11. 2 Im Folgenden wird die Ausgabe Karl Friedrich August Schelling (Hg.): Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Sämmtliche Werke, 1. Abtheilung 1–10, Stuttgart 1856–1861, zitiert als SW mit der jeweiligen Bandnummer. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Allgemeine Deduktion des dynamischen Processes oder der Kategorien der Physik, in: SW 4, (1–78) 76; ders.: Von der Weltseele. Eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus, in: SW 2, (357–584) 377–378. 3 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Aphorismen über die Naturphilosophie, in: SW 7 (s. Anm. 2), (198–244) 201; ders.: Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre, in: SW 7 (s. Anm. 2), (1–126) 64; ders.: Vorrede zu den

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Michael Hackl

Die Frage nach dem göttlichen Band ist niemals abgeschlossen, sie muss stets aufs Neue gestellt werden, wandelt sich nämlich unser Begriff von der Natur bzw. der Welt, wandelt sich gegebenenfalls auch der Begriff vom Absoluten. Inwiefern Schellings Philosophie an die zeitgenössischen Naturwissenschaften anschließen kann, gilt es im Folgenden anhand der neueren Fragen der Physik zu beleuchten.4 Ist Schellings vorgelegte metaphysische Konstruktion nicht mit dem zeitgenössischen Wissen von der Natur zu vereinbaren, kann sie schlechthin nicht überzeugen, unabhängig davon, ob sie in ihrer Zeit Geltung beanspruchen konnte. Das Absolute ist uns, was uns durch die Welt zugänglich ist, was wir von ihr wissen. Naturwissenschaftliche, sohin empirische Erkenntnis ist in ihrer Gesetzmäßigkeit nur auf Grundlage der »Bedingung der objectiven Gültigkeit unserer empirischen Urtheile in Ansehung der Reihe der Wahrnehmungen« einzusehen. Beispielhaft macht dies Immanuel Kant – an den Schelling anknüpft – am Kausalitätsparadigma fest, so ist der »Grundsatz des Causalverhältnisses« nicht auf die Erfahrbarkeit zurückzuführen, er ist vielmehr »der Grund der Möglichkeit einer solchen«.5 Damit zeigt sich, dass das scheinbar allgegenwärtige Prinzip der Kausalität, das Prinzip von Ursache und Wirkung, nicht an sich erfahrbar ist. Um etwas prinzipiell begreifen zu können, bedarf es eines Satzes a priori,6 ohne diesen können wir die Natur nur beobachten und vermögen das Erfahrbare nicht in ihrer allgemeinen Struktur auszuweisen. Wir können auf keine Nothwendigkeit a posteriori schließen, wenn wir nicht schon a priori eine Regel haben. […] Wenn viel Fälle auf einerlei Art sich zutragen, so muß etwas seyn, dadurch diese Einstimmung nothwendig ist, setzt den Satz a priori, daß alles Zufällige eine Ursache, deren Begriff a priori bestimmt, habe, voraus.7

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Jahrbüchern der Medicin als Wissenschaft, in: SW 7 (s. Anm. 2), (131–139) 133; ders.: Stuttgarter Privatvorlesungen, in: SW 7 (s. Anm. 2), (421–484) 426, 440; ders.: Von der Weltseele (s. Anm. 2), 360–378; ders.: Darstellung des philosophischen Empirismus, in: SW 10 (s. Anm. 2), (227–286) 246; ders.: Philosophie der Offenbarung, hg. v. Karl Friedrich August Schelling (Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Sämmtliche Werke, 2. Abtheilung 3), Stuttgart 1858, 56–57. Es ist unsinnig, sich auf eine Naturphilosophie zu stützen, die veraltete Vorstellungen in das Zentrum ihres Denkens stellt. Dennoch gilt es nicht bestreiten, dass selbst ein »eingebildete[s] Princip[…]« (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, in: SW 2 (s. Anm. 2), (75–343) 80, wie das Phlogiston, zum wissenschaftlichen Fortschritt beigetragen kann. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann (PhB 505), Hamburg 1998, 299 (B 247); ders.: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: ders.: Gesammelte Schriften 4, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903, (467– 565) 469. Vgl. Carl Friedrich von Weizsäcker: Die Einheit der Natur. Studien, München 1971, 136–146, 184–200. Kant: Kritik der reinen Vernunft (Anm. 5), 45 (B 3). Immanuel Kant: Selbständige Reflexionen im Handexemplar der Kritik der reinen Vernunft

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Ohne apriorische Sätze ist Empirisches zwar zu beschreiben, nicht aber – und darauf kommt es beim Wissen an – gesetzmäßig zu bestimmen, wird doch die Wirkweise nicht auf ein geltendes Prinzip zurückgeführt. Für sich genommen sind Naturgesetze keine objektiven Gesetze: Kenntnis von ihnen haben wir nur auf Basis der geleisteten Konstruktion, die wiederum von eingeführten »leitenden Ideen«,8 sohin subjektiven Bestimmungen abhängt. Die Gesetze der Natur sind, wie sie sind, zugänglich sind sie uns aber nur gemäß unseren Erkenntnisidealen, den leitenden Ideen unserer Erkenntnis.9 Die Erkenntnisideale sind entscheidend dafür, wie und auf welche Weise wir an die Welt herantreten. Was wir begreifen, ist nämlich von der »Ausrichtung des Erkenntniswillens an einem Ideal des Wissenswerten« geprägt.10 Es wird also nach Klaus Michael MeyerAbich nur darnach und in der Weise geforscht, was gewusst werden will. Daher sind Naturgesetze als eine konstruierte Ordnung dessen zu verstehen, was wir phänomenal wahrnehmen und was sich auf ein methodisches Prinzip zurückführen lässt. Dass die Naturgesetze entlang subjektiver Bestimmungen zu formulieren sind, ist am Beispiel der Kausalität zunächst schwer nachvollziehbar, immerhin scheint sie in jedem Moment unseres Daseins praktisch präsent zu sein. Dieser Nähe zum Trotz folgt hieraus nicht, dass die apriorischen Bestimmungen per se mit unseren alltäglichen Begriffen übereinstimmen. So wurde anhand der speziellen Relativitätstheorie deutlich, dass das Verständnis von Raum und Zeit vom Beobachter abhängt. Raum und Zeit können demnach nicht mehr, wie es noch Kant darstellt, als absolute Anschauungsformen verstanden werden. Da die relative Bezogenheit des Beobachters zu Raum und Zeit mit unseren alltäglichen Begriffen nicht mehr vereinbar ist, bedurfte es im Zuge der Relativitätstheorie einer Neubestimmung der Begriffe von Raum und Zeit.11 Weil eine Neubestimmung von Raum und Zeit nötig und diese auch zu leisten war, können die ursprünglichen Anschauungsformen der Erfahrung, anderes als Kant meint, nicht vorgelagert sein,12 sie gehen vielmehr, »und seien sie noch so allgemein, […] zu einem wesentlichen Teil auf die Erfahrung zurück.«13 Diese Kritik Werner

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(A), in: ders.: Gesammelte Schriften 23, hg. v. der Deutschen Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1955, (20–43) 21. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Über die Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, in: SW 3 (s. Anm. 2), (635–668) 644; ders.: Ideen zu einer Philosophie der Natur (s. Anm. 4), 80. Zu den Erkenntnisidealen vgl. Klaus Michael Meyer-Abich: Wissenschaft für die Zukunft. Holistisches Denken in ökologischer und gesellschaftlicher Verantwortung (Beck’sche Reihe 365), München 1988, 58–64. Meyer-Abich: Wissenschaft für die Zukunft (s. Anm. 9), 58. Vgl. Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, in: ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe 10, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2001, 69–92. Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft (s. Anm. 5), 97–100 (B 37–40), 106–107 (B 46–48). Werner Heisenberg: Erkenntnistheoretische Probleme in der modernen Physik, in: ders.:

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Heisenbergs macht deutlich, dass die apriorischen Anschauungsformen nie von der Erfahrung losgelöst sind. Das heißt, der Begriff muss mit der Erfahrung übereinstimmen, womit der Satz a priori am Wirklichen seinen »Probirstein der Erfahrung« haben muss.14 Weil beide Sphären einander gleich gültig sind, kann keine der anderen übergelagert sein. Stünden sie nämlich mit ihrem jeweiligen Wahrheitsanspruch unvermittelt gegenüber, wäre nur »relativ-Wahre[s]«.15 Wahrheit ist aber nicht relativ, sie ist absolut: Wahrheit impliziert schlechthin eine zu sein, es gibt nur »Ein wirkliches und untheilbares Wissen«,16 daher müssen die Sphären einander mittelbar sein. Dass Schelling der Natur hinsichtlich der Bestimmung der absoluten Strukturen eine so hohe Bedeutung zuspricht, hängt damit zusammen, dass seiner Ansicht nach jeder »Theil der Materie für sich Abdruck des ganzen Universum[s]« ist.17 Die Natur drückt die Kraft der Schöpfung, die unendliche Wesenheit auf unverfälschte Weise aus. Sie ist nichts von uns Hervorgebrachtes, sie hat durch sich selbst Bestand. Der Irrtum ist daher nicht Sache der Natur, dieser findet sich erst in unserer Beschreibung von ihr. Da die Natur das Absolute auf unverfälschte Weise repräsentiert, gelten uns die in ihr »durch empirische Analysis gefundenen Principien« als die »Potenzen in Gott […]. Allerdings haben wir aber noch immer keinen Begriff von Gott selbst«.18 Einen Begriff haben wir nämlich erst dann, wenn wir die empirischen Einsichten auch vernünftig zu konstruieren wissen. Von der Natur zu wissen, heißt Teil von ihr zu sein. Um sich einen Begriff von der Welt zu machen, ist es also wenig gewinnbringend, wie Johann Gottlieb Fichte, darauf zu beharren, dass lediglich »aus dem Ich Realität« auf die Welt »übertragen« werde.19 Denn das hieße, dass die Natur genau das ist, was das Subjekt ist. Dem ist nicht so, verlangen doch teils sogar empirische Erkenntnisse der Wirklichkeit nach einer neuen Konstruktion von der Natur. Das Ich ist nicht konstitutiv für das Sein der Natur, sondern lediglich für die

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Gesammelte Werke, Abteilung C. Allgemeinverständliche Schriften 1, hg. v. Walter Blum, München 1984, (22–28) 28. Kant: Kritik der reinen Vernunft (s. Anm. 5), 762 (B 738–739). Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Rezension zu: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer Zeit dargestellt von Friedrich Immanuel Niethammer, in: SW 7 (s. Anm. 2), (511–534) 514. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, in: SW 7 (s. Anm. 2), (140–189) 179. Schelling: Von der Weltseele (s. Anm. 2), 359. Schelling: Darstellung des philosophischen Empirismus (s. Anm. 3), 280; ders.: Philosophie der Offenbarung (s. Anm. 3), 62, 379; ders.: Philosophie der Offenbarung. Zweiter Teil, hg. v. Karl Friedrich August Schelling (Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Sämmtliche Werke, 2. Abtheilung 4), Stuttgart 1858, (1–334) 359. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794), in: J. G. FichteGesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1,1, hg. v. Reinhard Lauth u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, (83–328) 262.

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Formulierung der Naturgesetze.20 Durch die Beschäftigung mit der Natur (-wissenschaft) ist es möglich, die Natur nicht nur zu »lesen«, sondern sie in ihrem Wesen zu begreifen und sie »auszulegen«.21 Die Naturphilosophie beschränkt sich nicht darauf, die Natur zu beobachten und zu beschreiben, das Beobachtete gilt es auf den Begriff zu bringen und deren Strukturmomente frei- bzw. offenzulegen. Entsprechend sind die in der Natur arbeitenden Prozesse zu prinzipiieren, so ist über das Ursprüngliche Auskunft zu geben. Dieses Anliegen verfolgt Schelling schon in seiner ersten naturphilosophischen Schrift. Bereits mit dieser hat er es sich zur Aufgabe gemacht, die Grundkräfte in der Natur aufzuzeigen und deren Wirken als Ausdruck der ursprünglichen Einheit des Realen und Idealen zu fassen. Während für Fichte das Wissen von der Natur bloß »Sache des Subjekts« ist22, hält Schelling die losgelöste Differenzierung von Subjekt und Objekt für hinfällig, beide sind »mir Eines« – eben darum sind seiner Ansicht nach »Wissen und […] Gewußtwerden« nie strikt zu trennen.23 Dass die Natur gewusst werden kann, impliziert, dass Natur und Geist in gewisser Weise identisch sein müssen, kann doch »Gleiches nur von Gleichem erkannt werde[n]. Das Erkennende muß seyn wie das Erkannte und das Erkannte wie das Erkennende«.24 Natur und Geist sind dem Menschen nicht fremd. Zwar scheint es zunächst, als haben die Attribute Körper und Geist im Menschen »nichts miteinander gemein«, allerdings sind sie in ihm gleichermaßen manifest. Im Menschen finden sich beide Sphären (Körper und Geist) vereint, nur so lässt sich erklären, wie sie »so vieles gemeinschaftlich thun und gemeinschaftlich leiden« können.25 Die Teilhabe an beiden Sphären bezeugt des Menschen »Mitwissenschaft, conscientia« an diesen.26

20 Daher erklärt Schelling, dass Fichtes »Idealismus in subjektiver Bedeutung behaupte[t], das Ich sey Alles«, hingegen sein eigener »in der objektiven Bedeutung […]: Alles sey = Ich« (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, in: SW 4 [s. Anm. 2], [105–212] 109). 21 Schelling: Einleitung zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur, in: SW 2 (s. Anm. 2), (1–73) 6; ders.: Philosophie der Offenbarung (s. Anm. 3), 346. 22 Schelling: Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie (s. Anm. 3), 44, 42–45. 23 Schelling: Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (s. Anm. 16), 148. 24 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Erlanger Vorträge (Ueber die Natur der Philosophie als Wissenschaft), in: SW 9 (s. Anm. 2), (209–246) 221 (Hervorhebung MH), 226; ders.: Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, in: SW 4 (s. Anm. 2), (333–510) 366; ders.: System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (Würzburger Vorlesungen), in: SW 6 (s. Anm. 2), (131–576), 143. 25 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, in: SW 10 (s. Anm. 2), (1–200) 26. Zur Einheit von Körper und Geist vgl. die Ausführungen von Klaus Michael Meyer-Abich in: Was es bedeutet, gesund zu sein. Philosophie der Medizin, München 2010, 135–136, 25–32, 157–171. 26 Schelling: Philosophie der Offenbarung (s. Anm. 3), 303.

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Naturbeschreibung

Dem Menschen ist die Natur nur gemäß seiner eigenen Beschaffenheit begreifbar, schließlich kann er nur begreifen, was ihm zugänglich ist. Unsere Mitwissenschaft am Realen wie am Idealen des Seins findet sich daher auch in der Art und Weise der Naturbeschreibung wieder. Beispielhaft werden die im Magnetismus und in der Elektrizität wirkenden Kräfte als Ausdruck jener Sphären verstanden, wobei der Magnetismus »die Identität in die Differenz« aufnimmt und die Elektrizität in umgekehrter Weise ein »Identitäts-Bestreben zweier differenter« Körper impliziert.27 Folglich wirken im Realen dieselben Kräfte, allerdings auf entgegengesetzte Weise.28 Der Magnet baut auf zwei scheinbar differenten Polen auf, während sich aus der Differenz von Ladungen das Wirken der elektrischen Kraft als Einheit ergibt. Bekanntlich konnten die Zusammenhänge von Magnetismus und Elektrizität erst mit den Maxwell-Gleichungen konkret beschrieben werden,29 jedoch wusste Schelling schon um 1800, im Rückgriff auf das Coulomb-Gesetz, die Tragweite der Elektrostatik auszuweisen.30 Elektrizität und Magnetismus sind nicht als grundverschiedene, sie sind als zusammenhängende Momente zu fassen, die im dynamischen Prozess ihre Einheit finden.31 Ob des dynamischen Austausches und der unterschiedlichen Gewichtung werden die Kräfte »weder vermehrt noch vermindert«.32 Dies belegt, dass das Seiende zwar wandelbar ist, dessen Form aber Ausdruck des unveränderlichen Wesens des Seins ist. Das im Magnetismus und in der Elektrizität beschriebene Identitäts- und Differenzdenken ist von grundsätzlicher Bedeutung, so findet sich »nach jeder Richtung dasselbe Identische, aber nach entgegengesetzten Richtungen mit überwiegende[r]« Gewichtung.33 Damit steht der von Schelling formulierte 27 Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (s. Anm. 4), 151, 240. 28 Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (s. Anm. 4), 197, 253–254; ders.: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, in: SW 3 (s. Anm. 2), (1–268) 250–251. 29 Vgl. Richard Philipps Feynman u. a.: The Feynman Lectures on Physics 1–3, Reading, MA 4 1966, bes. Bd. 1, Kap. 12 u. 28, Bd. 2, Kap. 1, 18 u. 34; Daniel M. Siegel: Innovation in Maxwell’s Electromagnetic Theory. Molecular Vortices, Displacement Current, and Light, Cambridge 2002, Kap. 2; John David Jackson: Klassische Elektrodynamik (De Gruyter Studium), Berlin 5 2014, Kap. 6. 30 Vgl. Schelling: Allgemeine Deduktion des dynamischen Processes (s. Anm. 2), 17–21; ders.: Ideen zu einer Philosophie der Natur (s. Anm. 4), 165–166. Vgl. Jackson: Klassische Elektrodynamik (s. Anm. 30), bes. 29. 31 Vgl. Schelling: Allgemeine Deduktion des dynamischen Processes (s. Anm. 2), 43–44, 72–73; ders.: Darstellung meines Systems (s. Anm. 20), 161; ders.: Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie od. über den Begriff der spekulativen Physik, in: SW 3 (s. Anm. 2), (269–326) 321. 32 Schelling: Allgemeine Deduktion des dynamischen Processes (s. Anm. 2), 43. 33 Schelling: Darstellung meines Systems (s. Anm. 20), 137, 145.

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Identitätsansatz im Einklang mit dem dritten newtonschen Gesetz, nämlich dass eine Kraft eine betragsmäßig identische Gegenkraft impliziert. Die hier forcierte Identität in der Differenz findet sich auch in der psycho-physischen Beschaffenheit des Menschen wieder – dies ist insofern bedeutsam, als dass die andiskutierten Wirkweisen im Organismus aufgehen, an dessen vorläufigem Ende nun der Mensch steht. Der Mensch findet sich damit in der Natur wieder. Dieser Zusammenhang ist aber nicht unbegründet, immerhin geschieht die Informationsweiterleitung in den biologischen Zellen tatsächlich durch Elektrizität.34 Die verortende Differenzierung der Kräfte wird zwar am Natürlichen festgemacht, ist aber letztlich Ausdruck der Wirkweise des göttlichen Bandes in der Welt. Die Natur zu begreifen, heißt demnach, sich selbst in der Natur wiederzufinden. Im kantischen Sinn geht es darum, sich einen Begriff von ihr zu machen. Auf die Naturwissenschaft umgelegt lässt sich mit Heisenberg davon sprechen, dass die Theorie darüber »entscheidet«, was »beobachtet werden kann.«35 Wie sich unser Begriff von uns selbst und der Natur wandelt, so analog dazu der Inhalt der Theorie. Einerseits hängt dieser von der erkenntnistheoretischen Fundierung ab, andererseits müssen die verwendeten Begriffe zur Beschreibung der Phänomene geeignet sein. Diese Konzeption ist nicht nur prägend für die Naturphilosophie Schellings, sie ist von grundlegender Bedeutung – Phänomene, die sich begrifflich nicht fassen lassen, haben für uns wissentlich keine Bedeutung. Während der Anwendungsbereich der klassischen Mechanik vormals »unbegrenzt« erschien,36 hat die Problematik bei der exakten Bestimmung der kleinsten Teilchen gezeigt, dass das verwendete Kausalitätsparadigma sehr wohl seine Grenze hat.37 Young’s interference experiment bzw. das Doppelspaltexperiment weist ein Auftreff- bzw. Interferenzmuster der kleinsten Teilchen aus, welches belegt, dass die kleinsten Teilchen sowohl die Eigenheiten von Wellen als auch von Teilchen haben.38 Das führt dazu, dass die Atome nicht mehr kausal beschrieben werden können, da ihre Flugbahn einerseits wellenförmig und andererseits wie die eines Teilchens zu fassen ist, was zu einer unterschiedlichen 34 Vgl. Eric R. Kandel u. a. (Hg.): Principles of Neural Science, New York 42000, bes. Kap. 8 u. 9. 35 Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze, in: ders.: Gesammelte Werke, Abteilung C. Allgemeinverständliche Schriften 3, hg. v. Walter Blum, München 1985, (3–334) 92; Carl Friedrich von Weizsäcker: Aufbau der Physik, München 1985, 501–502, 626. 36 Werner Heisenberg: Der Begriff »Abgeschlossene Theorie« in der modernen Naturwissenschaft, in: ders.: Gesammelte Werke C 1 (s. Anm. 13), (335–340) 336; Niels Bohr: The Unity of Human Knowledge, in: ders.: Collected Works 10. Complementarity Beyond Physics (1928– 1962), hg. v. David Favrholdt u. a., Amsterdam 1999 (155–160) 158. 37 Vgl. Niels Bohr: Die Atomtheorie und die Prinzipien der Naturbeschreibung, in: ders.: Atomtheorie und Naturbeschreibung. Vier Aufsätze mit einer einleitenden Übersicht, Berlin 1931, (67–77) 74–75; Werner Heisenberg: Die Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes, in: ders.: Gesammelte Werke C 1 (s. Anm. 13), (161–192) 177; Erwin Schrödinger: Geist und Materie, Wien 1986, 57. 38 Weizsäcker: Aufbau der Physik (s. Anm. 36), 526–531.

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Beschreibung der Atome führt. Aufgrund dieses Bestimmungsproblems gelangt nicht nur die Theorie an ihre Grenzen, es ist zudem so, dass sich die Teilchen empirisch nicht mehr exakt bestimmen lassen. Anders als bei den schweren Teilchen ist der Einfluss der Messung auf die kleinsten Teilchen nämlich so groß, dass diese in ihrem Lauf gestört werden, wodurch sie nicht mehr eindeutig zu bestimmen sind. Die Schwierigkeit liegt nach Heisenbergs Unbestimmtheitsrelationen39 darin, dass, so Paul Dirac, »die Unbestimmtheit bei der Angabe des Impulses eines Teilchens um so größer ist, je genauer die Lage des Teilchens bekannt ist und umgekehrt.«40 Ort und Impuls der Atome sind zum gleichen Zeitpunkt – gemäß den Unbestimmtheitsrelationen – nicht exakt zu bestimmen, macht es doch der Messeingriff unumgänglich, »das System zu einer genauen Ortsmessung [zu] zerstören«, womit Beobachten und Zerstören dasselbe ist.41 Aufgrund der Messproblematik lassen sich die kleinsten Teilchen nur noch unter Zuhilfenahme »statistischer Gesetze« beschreiben, wodurch der Verzicht des »deterministischen Ideals« in der Naturwissenschaft notwendig wurde,42 es bedurfte daher eines weiterführen Ansatzes. Erkenntnistheoretisch stellt uns das vor das Problem, dass die Messung vom erkennenden Subjekt beeinflusst wird, wodurch keine objektive Messung mehr möglich ist. Damit deutet sich in der Quantenphysik an, was Schelling erkenntnistheoretisch ausgewiesen hat, ohne darauf naturwissenschaftlich Bezug nehmen zu können, nämlich, dass Wissen stets eine Form des Mitwissens ist. Während es im Reich der schweren Teilchen noch nicht nötig war, das subjektive Moment einzubinden, wurde es in der Quantenphysik unausweichlich, den Beobachter miteinzubeziehen. Zwar können selbst turbulente Strömungen aufgrund ihrer chaotischen, nichtlinearen Dynamik bloß grob in Turbulenzzellen

39 Vgl. Werner Heisenberg: Die Rolle der Unbestimmtheitsrelationen in der modernen Physik, in: ders.: Gesammelte Werke C 1 (s. Anm. 13), 40–47. 40 Paul Adrian Maurice Dirac: Die Prinzipien der Quantenmechanik, Leipzig 1930, 129. 41 Heisenberg: Erkenntnistheoretische Probleme in der modernen Physik (s. Anm. 13), 26–27; Niels Bohr: Einheit des Wissens, in: ders.: Atomphysik und menschliche Erkenntnis 1, Braunschweig 1964, (68–83) 74, 75; ders.: Rutherford-Gedenkvorlesung 1958. Erinnerungen an den Begründer der Kernphysik und an die von seinem Werk ausgehende Entwicklung, in: ders.: Atomphysik und menschliche Erkenntnis 2, Braunschweig 1966, (30–74) 62; ders.: Die Solvay-Konferenzen und die Entwicklung der Atomphysik, in: ders.: Atomphysik und menschliche Erkenntnis 2, Braunschweig 1966, (80–102) 92. 42 Niels Bohr: Atomphysik und Philosophie – Kausalität und Komplementarität, in: ders.: Atomphysik und menschliche Erkenntnis 2 (s. Anm. 42), (1–7) 4–5; ders.: Die Solvay-Konferenzen (s. Anm. 42), 90; vgl. ders.: Die Atomtheorie und die Prinzipien der Naturbeschreibung (s. Anm. 38), 69; Heisenberg: Erkenntnistheoretische Probleme in der modernen Physik (s. Anm. 13), 26; Wolfgang Pauli: Die philosophische Deutung der Idee der Komplementarität, in: ders.: Physik und Erkenntnistheorie (Facetten der Physik 15), Braunschweig 1961, (10–17) 13, 15.

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beschrieben werden – daher ist nach Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow43 selbst in der klassischen Mechanik nicht immer eine vollständige Beschreibung der Molekularbewegungen zu geben –, doch anders als die statistische Beschreibung der Turbulenzen ist diese im Rahmen der Quantenphysik von grundsätzlich anderer Art. Hier geht es nicht darum, ob die Welt in allen Bestimmungsstücken zu erfassen ist, es ist vielmehr so, dass das Bestimmungsproblem erkenntnistheoretischer Natur ist, schließlich sind die Atome aufgrund des Einflusses durch den Beobachter prinzipiell nicht zu fassen.44 Im Unterschied zu den klassisch beschriebenen Turbulenzen ist bei der quantenphysikalischen Bestimmung der Atome nicht die Komplexität der Informationen das Problem, sondern der störende Einfluss des Beobachters. Die durch die Quantenphysik aufgedeckten erkenntnistheoretischen Probleme sind prinzipieller Natur, schließlich nimmt der Beobachter nicht bloß Einfluss auf die Messung im Quantenbereich, er nimmt auch bei den schweren Teilchen Einfluss, nur ist der Einfluss hier so gering, dass er bei der Bestimmung des Objekts vernachlässigt werden kann. Nur weil eine Größe vernachlässigt werden kann, folgt daraus nicht, dass es sie nicht gibt. Angesichts der Deutungsprobleme lässt sich nicht mehr, wie von Max Planck gefordert, von einer objektiven Einsicht in das Wesen der Natur im Sinne einer »göttliche[n] Einsicht« sprechen.45 Es ist dagegen anzuerkennen, dass das Subjekt erkenntnistheoretisch miteinbezogen werden muss. Entsprechend ist nicht mehr von der »objektiven Existenz der Erscheinungen unabhängig von unseren Beobachtungen« zu sprechen.46 Niels Bohr ist sich der erkenntnistheoretischen Problematik bewusst, 43 Vgl. Andrei Nikolajewitsch Kolmogorov: The Local Structure of Turbulence in Incompressible Viscous Fluid for Very Large Reynolds Numbers, in: Proceedings of the Royal Society of London, Series A. Mathematical and Physical Sciences 434 (1991), 9–13; Uriel Frisch: Turbulence. The Legacy of A. N. Kolmogorov, Cambridge 1995, Kap. 3. 44 Vgl. Niels Bohr: Erkenntnistheoretische Fragen in der Physik und die menschlichen Kulturen, in: ders.: Atomphysik und menschliche Erkenntnis 1 (s. Anm. 41), (23–31), 25–26; ders.: Diskussion mit Einstein über erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik, in: ders.: Atomphysik und menschliche Erkenntnis 1 (s. Anm. 41), (32–67), 50; ders.: Atomphysik und Philosophie (s. Anm. 43), 7; ders.: Die Entstehung der Quantenmechanik, in: ders.: Atomphysik und menschliche Erkenntnis 2 (s. Anm. 42), (75–79) 78–79; ders.: Die Atomtheorie und die Prinzipien der Naturbeschreibung (s. Anm. 38), 76–77; Heisenberg: Die Rolle der Unbestimmtheitsrelationen (s. Anm. 40), 46. 45 Max Planck: Das Wunder der Naturgesetzlichkeit, in: Eberhard Dennert (Hg.): Die Natur – das Wunder Gottes, Berlin 41943, (13–17) 13, vgl. 17. 46 Bohr: Die Atomtheorie und die Prinzipien der Naturbeschreibung (s. Anm. 38), 75; ders.: Einleitende Übersicht, in: ders.: Atomtheorie und Naturbeschreibung (s. Anm. 38), (1–15) 10; ders.: Wirkungsquantum und Naturbeschreibung, in: ders.: Atomtheorie und Naturbeschreibung (s. Anm. 38), (60–66) 62. Die Bedeutung der Objektivität war Anlass für die Spannung zwischen Bohr und Albert Einstein. Vgl. Bohr: Die Atomtheorie und die Prinzipien der Naturbeschreibung (s. Anm. 38), 76; Albert Einstein: Quanten-Mechanik und Wirklichkeit, in: Dialectica 2 (1948), 320–324; Werner Heisenberg: The Development of the Inter-

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daher befasst er sich nicht mehr mit der objektiven Beschreibung, sein Interesse richtet sich fortan auf die Frage nach der Erkenntnis »bestimmter Personen über bestimmte Gegenstände.«47 Das Subjekt ist wie das Objekt Moment des Wissens. Plancks Sehnsucht nach der göttlichen Einsicht ist nicht mehr aufrechtzuerhalten, vermag doch auch die Naturwissenschaft keine Wahrheit auszusprechen, an der, wie es Meyer-Abich pointiert formuliert, »letztlich nichts zu wollen ist.«48 Alles Wissen hängt vom Subjekt ab. Trotz aller Schwierigkeiten macht die Quantenmechanik die klassische Mechanik keineswegs obsolet, es ist lediglich anzuerkennen, dass sie keine Auskunft über die kleinsten Teilchen geben kann.49 Daher ist es notwendig, dass die klassische Physik den »Ausbau der Quantentheorie in sinngemäßer Umdeutung […] verwerten« muss.50 Das heißt zum einen, dass quantenphysikalische Bestimmungen den klassischen nicht widersprechen dürfen, und umgekehrt. Würden sie einander methodisch widersprechen, wäre nämlich nicht einzusehen, wie beide Seiten überhaupt zusammengehören, sie tun es aber, schließlich sind die großen Teilchen mit den kleinsten untrennbar verbunden. Klassische Physik und Quantenphysik sind aufeinander zu beziehen, wie es die leichten und die schweren Teilchen sind. Zum anderen ergibt sich hieraus, dass die klassische Beschreibungsweise auch auf die Atomphysik anzuwenden ist, was notwendig ist, weil die klassische Beschreibungsweise jene ist, derer wir uns tatsächlich bedienen. Dies gilt sowohl für den Bereich der Physik als auch für die Erkenntnistheorie seit Kant.51 Die Sphären greifen wesentlich ineinander, existiert doch »nur Eine Welt«.52 Dementsprechend gelten nach Schelling die Bestimmungen, die in der Außenwelt auszumachen sind, ebenso für die Innenwelt.

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pretation of the Quantum Theory, in: Wolfgang Pauli (Hg.): Niels Bohr and the Development of Physics. Essays Dedicated to Niels Bohr on the Occasion of his Seventieth Birthday, London 1955, 12–29. Klaus Michael Meyer-Abich: Korrespondenz, Individualität und Komplementarität. Eine Studie zur Geistesgeschichte der Quantentheorie in den Beiträgen Niels Bohrs (Boethius 5), Wiesbaden 1965, 134, 102. Meyer-Abich: Wissenschaft für die Zukunft (s. Anm. 9), 70. Dies betont Bohr bereits in einem Manuskript von 1927. Vgl. Niels Bohr: Fundamental Problems of the Quantum Theory. Unpublished Manuscript, in: ders.: Collected Works 6. Foundations of Quantum Physics 1, 1926–1932, hg. v. Joergen Kalckar, Amsterdam 1985, (73– 88) 76. Niels Bohr: Atomtheorie und Mechanik, in: ders.: Atomtheorie und Naturbeschreibung (s. Anm. 38), (16–33) 24, 13; ders.: Die Atomtheorie und die Prinzipien der Naturbeschreibung (s. Anm. 38), 72; Wolfgang Pauli: Wahrscheinlichkeit und Physik, in: ders.: Physik und Erkenntnistheorie (s. Anm. 43), (18–23) 22. Zum quantenphysikalischen Subjekt-Verständnis vgl. Weizsäcker: Aufbau der Physik (s. Anm. 36), 535–538. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen über die Methode des academischen Studiums, in: SW 5 (s. Anm. 2), (207–352) 276; ders.: Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge. Ein Gespräch, in: SW 4 (s. Anm. 2), (213–332) 314; ders.: Darlegung

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Komplementarität und Mitwissenschaft

Thematisch hat sich durch die Quantenphysik der erkenntnistheoretische Zugang in den Naturwissenschaften verschoben, die Welt ist nicht mehr unabhängig vom Beobachter zu beschreiben, er muss als Moment der Messung miteinbezogen werden. Damit findet sich in der Quantenphysik naturwissenschaftlich fundiert, dass Wissen und Gewusstwerden im schellingschen Sinn nicht strikt zu trennen sind. Dementsprechend beschreibt das erkennende Subjekt (Beobachter) nicht nur das Objekt (Beobachtetes), es ist mit diesem gleichsam verwoben. Dies ist der Punkt, den Bohr mit Bezug auf William James und Harald Høffding in seiner Interpretation der Quantenphysik, der Kopenhagener Deutung,53 präzisiert. Entscheidend ist ihm Høffdings Gedanke, dass wir kein »reines Objekt haben, sondern stets (obgleich nicht immer mit vollem Bewußtsein) einen möglichen Beobachter und Denker voraussetzen.«54 Da die Quantenphysik nahelegt, dass das Objekt subjektseitig von »verschiedenen Ergebniswarten« aus zu bestimmen ist,55 bedarf es einer Interpretation, die es erlaubt, die verschiedenen Zugangsweisen gleichermaßen miteinzubeziehen. Eine Antwort auf dieses Problem findet Bohr in William James’ Komplementaritätsbegriff. Diese Art der Beschreibung erlaubt es nämlich, verschiedene Sichtweisen zu vereinen. Bei James heißt es dazu: It must be admitted, therefore, that in certain persons, at least, the total possible consciousness may be split into parts which coexist but mutually ignore each other, and share the object of knowledge between them. More remarkable still, they are complementary. Give an object to one of the consciousnesses, and by that fact you remove it from the other or others.56

Durch die komplementäre Beschreibung sind die verschiedenen subjektiven Erkenntnisweisen aufeinander zu beziehen, ohne die eine Beschreibung gegen

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des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie (s. Anm. 3), 100; ders.: Stuttgarter Privatvorlesungen (s. Anm. 3), 480. Heisenberg betont, dass Bohr den »stärksten Anteil« an der Kopenhagener Interpretation hatte (Werner Heisenberg: Niels Bohr, in: ders.: Gesammelte Werke, Abteilung C. Allgemeinverständliche Schriften 4, hg. v. Walter Blum, München 1986, [144–147] 145). Der philosophischen Problematik war sich Bohr schon früh bewusst. Vgl. Niels Bohr: Philosophical Foundations of The Quantum Theory. Unpublished Manuscript, in: ders.: Collected Works 6 (s. Anm. 50), (67–71) 69–71. Harald Høffding: Der Relationsbegriff. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung, Leipzig 1922, 55. Dass das Subjekt vom Objekt nicht abzukoppeln ist, betont auch William James, auf den sich Bohr ebenfalls bezieht, mit Verweis auf Høffding. Vgl. William James: Preface, in: Harald Høffding: The Problems of Philosophy, London 1905, (III–XIV) X. Meyer-Abich: Komplementarität (s. Anm. 48), 102. William James: Principles of Psychology 1, New York 1890, 206, 275.

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Michael Hackl

die andere ausspielen zu müssen. Die jeweiligen Erkenntnisse werden so in ihrer Bestimmtheit anerkannt. Einerseits offeriert die komplementäre Beschreibung eine Möglichkeit, wie die zunächst unvereinbaren Bestimmungsweisen der Atome als Welle und als Teilchen zu vereinbaren sind, andererseits wird aufgezeigt, wie Zugängliches und zum gleichen Zeitpunkt nicht Zugängliches miteinander zu verweben sind. Bohrs Komplementaritätsdeutung untermauert die Rolle der Mitwissenschaft für das Wissen im Allgemeinen, wie das der Natur im Besonderen. Die Naturwissenschaft ist demnach keine rein objektive Wissenschaft: Von Wissen ist nur dann zu sprechen, wenn die Konstruktion mit der Erfahrung im Einklang steht. Damit steht die physikalische Weltbeschreibung nicht fern der Metaphysik, beide stehen vielmehr auf demselben Grund. Schon dies zeigt, dass die komplementäre Beschreibung, anders als dies beispielhaft Philipp Frank intendiert, nicht generell fern der Metaphysik steht. Franks Gedanke, dass »man nie in die Gefahr einer metaphysischen Auffassung der physikalischen Komplementarität geraten« wird, da hier »über eine ›reale Welt‹ nichts ausgesagt wird«,57 ist zwar insofern berechtigt, als dass es nicht darum gehen kann, die Welt als »zwiespältig« zu begreifen.58 Allerdings hat die Komplementarität dahingehend metaphysische Bedeutung, als dass durch sie die Mitwissenschaft bei der konkreten Bestimmung des Objekts methodisch reflektiert wird. Mit der Quantenphysik und ihren Bestimmungsproblemen ist nicht bloß die Naturbeschreibung, es ist ebenso die metaphysische Beschreibung des göttlichen Bandes um eine Facette reicher. Die Bohr’sche Interpretation bestätigt die von Schelling eröffnete mitwissenschaftliche Erkenntnis, wodurch die Prinzipiierung nichts als eine Konstruktion entlang des Wirklichen ist. Erkenntnis heißt nämlich, dass »Erkennende und das Erkannte […] dasselbe in der Vernunft [ist], und das, was diese Einheit erkennt, ist wiederum nur dasselbe«.59 Dies gilt für die Sphäre der Außenwelt wie die der Innenwelt in gleichem Maße – damit ist die Mitwissenschaft, wie Meyer-Abich mit Bezug auf unseren Zugang zur Natur ausweist, das »Erkenntnisideal einer Wissenschaft für die Zukunft«:60 Das meint nichts anderes, als dass es auf die »komplementäre Wahrnehmung von Ganzheit« ankommt.61 Die Wendung wurde notwendig, um die Wirklichkeit beschreiben zu 57 Philipp Frank: Philosophische Deutungen und Mißdeutungen der Quantentheorie, in: Erkenntnis 6 (1936), (303–317) 309. 58 Frank: Philosophische Deutungen (s. Anm. 57), 312. 59 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Kritische Fragmente, in: SW 7 (s. Anm. 2), (245–259) 247; ders.: Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (s. Anm. 16), 150. 60 Klaus Michael Meyer-Abich: Mit-Wissenschaft. Erkenntnisideal einer Wissenschaft für die Zukunft, in: ders. u. a. (Hg.): Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens. Ganzheitliches Denken der Natur in Wissenschaft und Wirtschaft (Kulturgeschichte der Natur in Einzeldarstellungen), München 1997, (19–161) 19. 61 Meyer-Abich: Mit-Wissenschaft (s. Anm. 60), 151.

»Kommet her zur Physik, und erkennet das Wahre!«

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können – auffallend ist, dass die leitende Idee nicht erst erfunden werden musste, sie musste nur ihre Umdeutung im Reich der Naturwissenschaften erfahren. Die neue Beschreibung fußt auf einer alten Lehre. Neben der Kopenhagener Deutung gibt es zwar noch viele andere, gleich gültige Interpretationen der neuen Phänomene, beispielsweise die Viele-WeltenInterpretation, die De-Broglie-Bohm-Theorie oder die bohmsche Mechanik. Die Kopenhagener Deutung zeichnet sich aber in besonderer Weise aus, so weiß sie die physikalischen Phänomene zu beschreiben und ist darüber hinaus anschlussfähig an den bereits seit der Antike vertretenen Gedanken,62 dass Gleiches nur auf Gleiches Bezug nehmen kann und das Erkennende selbst Moment des Erkannten ist. Demnach irrt Wolfgang Pauli, wenn er davon spricht, dass »die erkenntnistheoretische Situation, vor welche die moderne Physik gestellt ist, von keinem philosophischen System vorhergesehen wurde.«63 Schließlich hat Bohr den in Schellings absolutem Idealismus der Mitwissenschaft präzisierten erkenntnistheoretischen Zugang empirisch fundiert und in die moderne Naturwissenschaft eingeführt,64 wodurch das leitende Prinzip der Mitwissenschaft nun an der Atomphysik seinen »Probirstein der Erfahrung« hat. Das Ineinandergreifen der Naturbeschreibung in der Quantenphysik untermauert die Bedeutung des schellingschen Leitspruchs »Kommet her zur Physik, und erkennet das Wahre!« für die Metaphysik, fehlt ihr doch ohne die Physik die Möglichkeit der Probe an der Wirklichkeit. Ohne die Bezugnahme auf die Physik wäre die Metaphysik Schellings wie die fichtesche Philosophie bloß eine subjektive, beliebige Konstruktion. Schellings Philosophie geht darüber hinaus, versteht sie sich doch als absoluter Idealismus, der seine Konkretion gemäß der Beschaffenheit des Menschen in geistiger wie natürlicher Hinsicht auszuweisen sucht. Trotz der enormen Bedeutung der Quantenphysik lässt sich mit Schelling nicht von »the Lord’s quantum mechanics« sprechen.65 Im Unterschied zu Erwin Schrödinger ergründet die Physik nach Schelling nicht das »göttliche Band der Dinge«, in ihr drückt sich lediglich auf unverfälschte Weise aus, wie das Absolute wirkt. Das »göttliche Band« muss sich erst in der Konstruktion der (Natur-) Wissenschaft erweisen, dementsprechend sollte von »the Lord’s Mitwissenschaft« gesprochen werden, sie ist die leitende Idee auf der alles Wissen vom Absoluten gründet.

62 Vgl. Kurt von Fritz: Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, Berlin 1971, 600–612. 63 Pauli: Die philosophische Deutung (s. Anm. 42), 10. 64 Die erkenntnistheoretische Situation betreffs der Quantenphysik diskutiert von Weizäcker in Bezug auf die kantische Philosophie (Carl Friedrich von Weizäcker: Zum Weltbild der Physik, Stuttgart 81960, 99–117). 65 Erwin Schrödinger: What is Life? The Physical Aspect of the Living Cell, Cambridge 1967, 85.

Thomas Scheiwiller

Religion – Macht – Verblendung. Zum Sinnbegriff in der Religionssoziologie Pierre Bourdieus

Sowohl die Theologie als Wissenschaft einer spezifischen religiösen Tradition als auch die Religion stehen in enger Verbindung mit dem Sinnbegriff – und zwar seitdem dieser Begriff aufgekommen ist. In der Aufklärungszeit wird unter Sinn im Zuge der Individualisierungsprozesse einerseits ein subjektiver Lebenssinn verstanden; andererseits mussten auch brüchig gewordene theologische Antworten zu Fragen nach Herkunft (Schöpfung) und Ziel (Eschatologie) im Rahmen moderner Parameter von Kultur und Zeit neu thematisiert werden. Ob es in der Geschichte Sinn, Ziel oder Ordnung gibt, ist unter verschiedenen Vorzeichen eine stets umstrittene Frage. Heute hingegen ist die Idee von einer die Kultur vereinenden Autorität in der Form von einer Instanz, eines Geistes oder eines Gottes erodiert. Damit ist die Vorstellung von dem einen Sinn zum Trugbild geworden. Ohne die eine Autorität, welche die von Kulturen und Gesellschaften produzierten Zeichen (Signifikant) und deren Bedeutungen (Signifikat) zuordnen kann, wird dieses Verhältnis undeutlich und stetig transformiert. Der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch stellt die These auf, dass sich die auf den Sinn ausgelegte Kultur von Stimme und Schrift in einem Wandlungsprozess befindet: Die neuen Medien definieren sich mehr über Sinne denn über den Sinn. Damit wird ein Medienverständnis überwunden, das rein auf Bedeutung und Konzentrizität ausgelegt ist, zugunsten eines Medienverständnisses, das die Wahrnehmung ins Zentrum rückt.1 Darauf haben die Theologie bzw. die Religionstheorie reagiert, die schon seit der Aufklärungszeit mit anthropologischen und bewusstseinstheoretischen Erklärungsmodellen agieren. Den religiösen Vollzug – den Glauben – weder als Veranlagung noch als Vermögen, sondern im Anschluss an Max Weber als Handeln und Erfahrung – als kulturelle Sinnformen – zu beschreiben, hat Traditionslinien, die bis in die Ro1 Jochen Hörisch: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien (Die andere Bibliothek 195), Frankfurt a.M. 2001, 16: »Der Übergang von den Sinn- zu den Sinn-Sinne-Medien bedeutet und bedingt eben auch den Untergang zentrisch-hierarchischer Kommunikationsverhältnisse.«

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mantik und Aufklärung zurückreichen.2 Die Theologie arbeitete und arbeitet noch immer mit unterschiedlichen Sinnbegriffen, Sinnfeldern oder -formen. Auch in einer medien- und kommunikationsaffinen Theologie3 wird der Sinn in seinem Spektrum als Bestandteil religiösen Glaubensvollzugs reflektiert: von sinnlicher Naturerfahrung (vgl. 10), über die soteriologische Vermittlungsfunktion zwischen Christus und glaubendem Individuum (vgl. 52) bis hin zu rezeptionsästhetischen Ansätzen, die ihre Sinnprozesse nicht in Textwirkung und -überlieferung, sondern in der Medienrezeption verorten (vgl. 183–186).4 Die religiöse Aneignung des »erinnerten Jesus« wird bei Christian Danz als »Sinngabe« (194) bezeichnet. Der Heilige Geist als Geber, Gabe und Aneignung beschreibt in Funktionen u. a. die religiöse Aneignung von Traditionsbeständen (Glauben) und ist somit für die Sinnkonstitution verantwortlich. Andere Perspektiven postulieren, Theologie als »Phänomenologie der Sinnlichkeit« (Michael Moxter) zu betreiben und dem Sinn grundsätzlich weniger Gewicht einzuräumen.5 Oder aber religiöser Sinn konstituiert und dekodiert sich erst in religiöser Kommunikation und nicht (schon) im individuellen Glauben. In einer »Theologie religiöser Rede«, wie sie Folkart Wittekind vorstellt, wird nicht von einer subjektphilosophischen oder harmatologischen Grundlage des sich zum Glauben verhaltenden Subjekts ausgegangen. Vielmehr wird das Kommunikationsgeschehen und der hermeneutische Vollzug einer eigenen religiösen Sprachund Wirklichkeitswelt als Ausgangspunkt bestimmt.6 Sinn ist arbiträr.7 Eine Verständigung zwischen einem logischen, einem alltäglichen und einem lebensumfassenden Sinnbegriff, der sowohl gesellschaftlich 2 Vgl. Martin Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007, 20–22. 3 Vgl. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019 (im Folgenden Nachweise im Text in Klammern). Vgl. in Bezug auf das Kap. »Universale Geisterfahrungen in der Schöpfung« (9–18) auch das Kap. »Medien der Weitergabe« (259–268): Sakramente werden dort als sinnliche Zeichen beschrieben bzw. es handelt sich mit Ernst Cassirers Symboltheorie beim Symbol um »Synthesen von Sinnlichkeit und Sinn, von Zeichen und Bedeutung« (263); beim Kap. »Heiliger Geist – die Erinnerung an Jesus Christus« (171–194) ist auch der Verweis auf das Kap. »Weitergabe der Gabe – die Funktion der Kirche« (226–241) wichtig. 4 Vgl. dazu exemplarisch Ulrich H.J. Körtner: Rezeption und Inspiration. Über die Schriftwerdung des Wortes und die Wortwerdung der Schrift im Akt des Lesens, in: NZSTh 51 (2009), 27– 49. 5 Michael Moxter: Medien – Medienreligion – Theologie, in: ZThK 101 (2004), (465–488) 486; vgl. dazu eingehender Danz: Gottes Geist (s. Anm. 3), 300–315. 6 Vgl. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, § 3. 7 In soziologischen Lexika und Wörterbüchern wird der Sinnbegriff sehr unterschiedlich akzentuiert: Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 41994, 781–784, s.v. Sinn; Walter M. Sprondel: Art. Sinn, in: Grundbegriffe der Soziologie, hg. v. Bernhard Schäfers (UTB 1416. Soziologie), Opladen 72001, 304–306; Rainer Schützeichel: Art. Sinn, in: Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2008, 250–252; Richard Grathoff/

Religion – Macht – Verblendung

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wie individuell gefasst werden kann, ist kaum möglich. Wenn dem Sinn seine individuelle Erfahrungsdimension genommen wird und er zu einem unnegierbaren Medium der Komplexitätsreduktion (Niklas Luhmann) bzw. zu einem auf nicht-intentionalen Praktiken beruhenden praktischen Sinn (Pierre Bourdieu) transformiert wird, stellen sich die Fragen: Wo ist der Sinn zu verorten? Wer bestimmt über Sinn? Oder wurde Sinn zu einem theoretisch notwendig gewordenen Terminus erklärt? Auch wenn diese Fragen in diesem Text nicht abschließend geklärt werden können, so sollen dennoch einige Anfragen v. a. an die theoretische Positionierung und Methodik des Sinnbegriffs in Bezug auf die Bourdieu’sche Sinn- und Religionstheorie gestellt werden. Von besonderem Interesse ist, wie Bourdieu als teilnehmender Beobachter im Sinne einer Praxeologie den Sinnbegriff für seinen Theorieanspruch setzt und definiert. Damit stellt sich die Frage, ob der Sinnbegriff von einem individuell interpretierenden Autor zur theoretischen Autorität umfunktioniert wird. Der Autoritätsbegriff hat allen voran in der soziologischen Tradition von Max Weber Schule gemacht, zu der sich Bourdieu bekennt. Eine besondere Rolle spielt dabei seine Interpretation des Charismas, die in »Wirtschaft und Gesellschaft« aus dem Jahr 1921/22 dezidiert mit dem Machtbegriff in Verbindung gebracht wurde.8 Die charismatische Herrschaft beschreibt die besondere Beziehung zwischen denjenigen, die Träger des Charismas sind und jenen, die an sie glauben. Analog zu Webers Interpretation von Johannes Calvins Lehre der doppelten Prädestination und innerweltlichen Askese hat der Politikwissenschaftler Franz Neumann seine Theorie zum Nationalsozialismus entworfen. In Neumanns »Behemoth« aus dem Jahr 1942 wird das Charisma, das von Gottes Gnade geschenkt ist, mit der Prädestinationslehre von Calvin begründet, indem er die politische Stellung bzw. den Erfolg und den geforderten Gehorsam als Erfüllungsmerkmale der Erwählung darstellt.9 Bourdieu hat Autorität eine weitere Perspektive gegeben, indem er sich auf die Machtverteilung innerhalb der Niklas Luhmann: Art. Sinn, in: Lexikon zur Soziologie, Wiesbaden 52011, 613–614; Gregor Bongaerts: Art. Sinn, in: Grundbegriffe der Soziologie, hg. v. Johannes Kopp u. Anja Steinbach, Wiesbaden 112016, 300–302; hingegen nicht enthalten in: Günter Endruweit u. a. (Hg.): Wörterbuch der Soziologie, Konstanz 32014. 8 Vgl. Kapitel III. Die Typen der Herrschaft. § 10 Charismatische Herrschaft bei Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 1. Halbband, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 51976, 140: »Ueber die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung – ursprünglich stets: durch Wunder – gesicherte freie, aus Hingabe in Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene, Anerkennung durch die Beherrschten. Aber diese ist (bei genuinem Charisma) nicht der Legitimitätsgrund, sondern sie ist Pflicht der kraft Berufung und Bewährung zur Anerkennung dieser Qualität Aufgerufenen. Diese ›Anerkennung‹ ist psychologisch eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige, ganz persönliche Hingabe.« (Kursivierung im Original gesperrt). 9 Vgl. Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944 (Studien zur Gesellschaftstheorie), Frankfurt a. M. 1977, 122.

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gesellschaftlichen Verhältnisse konzentriert. Im Gegensatz zu Neumann sucht Bourdieu nicht nach der Bedingung für eine Macht als offensichtliche Gewalt, sondern deren verdeckte Ausformungen. Es bedarf ständiger »Arbeit« durch die Autoritäten, um in Form einer »sanfte[n] Gewalt« die bereitwillige gesellschaftliche Akzeptanz ihres symbolischen Kapitals aufrechtzuerhalten.10 Weil sich eine Autorität ihrer zeitlichen Übertragung in der Gesellschaft (Generationen) nie gewiss sein kann, muss sie ihre Herrschaft stets durch wertekonforme Handlungen »produzieren und […] reproduzieren«.11 Autorität kann nur aufrecht erhalten werden, wenn sie anerkannt wird, indem sie Anerkennung erhält. Anerkannt wird Autorität wiederum nur, wenn die Beherrschten in der Arbeit der Herrschenden eine monetäre, temporale oder energetische Leistung im Sinne einer »Rückverteilung« sehen (237). Der Sinn ist in diesem Zusammenhang deshalb so wichtig, weil er als praktischer Sinn die Schnittstelle von Habitus und sozialem Feld darstellt. Die inkorporierten – in den Leib eingeschriebenen – Verhaltensmuster sind in Bourdieus Handlungstheorie nur auf der Grundlage von stets präfigurierten Strukturen zu denken, welche vielfach unbewusst über Lebensstil, Geschmack und Sprache entscheiden. Der Gewinn eines solchen Zuschnitts von Soziologie ist die Einsicht, dass wir im Erkenntnisobjekt lediglich ein »Charisma« erkennen – das »Produkt unzähliger Kreditübertragungen« (257). D. h. die unzähligen Zuschreibungen eines Objekts verweisen auf Verhältnisbestimmungen und Beurteilungen, die zu einer unbewussten – und oft bloß hingenommenen – Handlungspraxis führen. Eine Einheitskultur scheint in der Moderne für immer verloren. Dennoch wurde mit Konzepten wie Gefühl, Heiligkeit oder Sinn immer wieder versucht, ontologische Modelle zu konstruieren. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist seit dem 19. Jahrhundert fester Bestandteil von Subjektivitätsprozessen.12 Dass die Soziologie ihren Erkenntnisgewinn auf beobachtbare und empirisch fassbare Daten stützt ist nicht nur ihrer Disziplin, sondern auch einem Selbstverständnis von Individuen geschuldet, die Fragen nach Sinn oder Glauben als kommunikativ erfahren. Als »Sinn-Konstrukteur« oder »Sinnbastler« kann der moderne Mensch auf vielerlei Erfahrungen und Angebote zurückgreifen bzw. sieht sich 10 Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (Stw 1066), Frankfurt a.M. 8 2014, 234. 11 Bourdieu: Sozialer Sinn (s. Anm. 10), 236 (im Folgenden Nachweise im Text in Klammern). Eine Kritik zum Wertbegriff vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Art. Totalitarismus. III. Ethisch, in: RGG4 8, Tübingen 2005, 488–489; Andreas Urs Sommer: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt (Fachbuch Metzler), Stuttgart 2016. 12 Vgl. Marcel Sarot: Art. Sinn. III. Fundamentaltheologisch, in: RGG4 7, Tübingen 2004, 1337– 1338; Gerhard Sauter: Was heißt: nach Sinn fragen? Eine theologisch-philosophische Orientierung (KT 53), München 1986; Wilhelm Gräb: Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur, Gütersloh 2006; Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 42017.

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gezwungen, aus einem Überangebot auszuwählen.13 Religion ist zu einer Messe für »Heilsprodukte, Seelendienstleistungen und Lebenssinngüter« geworden.14 Moderne Ich-Bricoleur*innen sehen sich der Schwierigkeit ausgesetzt, mit den im 19. und 20. Jahrhundert auftretenden Komposita »Sinndeutung«, »Sinnsuche«, »Lebenssinn«, »Sinnstiftung« und »Sinnbildung« eine erodierte Einheit zu rekonstruieren.15 Wer und warum sich einige dabei als unabhängige Handlungssubjekte, andere wiederum als reagierende Objekte in der Gesellschaft erfahren, kann mit Bourdieus Feld- und Habitustheorie kritisch hinterfragt werden. In seiner Religionssoziologie stellt sich Bourdieu die Frage, inwiefern Religion und die von ihr ausgebildeten Institutionen als Verblendung und Täuschungsfaktor von sozio-politischen Asymmetrien in der Gesellschaft (Macht) fungieren. Dabei fällt auf, dass viele Termini seiner Theorie religiös konnotiert sind: Die Begriffe Orthodoxie, Glauben, Charisma und doxa sind zentrale Bestandteile seiner Feld- und Habitustheorie.16

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Sozialer Sinn als sens pratique?

Das Verhältnis von Akteur*innen zu ihren Möglichkeiten wird von Bourdieu in der Habitustheorie thematisiert.17 Die Frage nach dem Sinn und der Zukunft des Handelnden wird dort als Machtverhältnis beschrieben, das darüber bestimmt, 13 Vgl. Ronald Hitzler: Sinnbasteln. Zur subjektiven Aneignung von Lebensstilen, in: Ingo Mörth/Gerhard Fröhlich (Hg.): Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu, Frankfurt a.M. 1994, 75–92. 14 Friedrich Wilhelm Graf: Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird (Beck’sche Reihe 6126), München 2014, 38. 15 Graf: Götter global (s. Anm. 14), 55. 16 Vgl. Hanns Wienold/Franka Schäfer: Glauben-Machen. Elemente und Perspektiven einer soziologischen Analyse religiöser Praxis nach Pierre Bourdieu, in: Anna Daniel u. a. (Hg.): Doing Modernity – Doing Religion, Wiesbaden 2012, (61–112) 62; vgl. dazu Bradford Verter: Spiritual Capital. Theorizing Religion with Bourdieu against Bourdieu, in: Sociological Theory 21 (2003), 150–174. Auch der Begriff des Habitus klingt an das christliche Motiv der Inhabitatio, die Einwohnung Gottes im Menschen, an. 17 Eine umfangreiche Definition des Habitus findet sich bereits 1972 in Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (Stw 291), Frankfurt a. M. 22009 (Originalausgabe 1972), 164–165: »Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden materiellen Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten gefaßt werden können, erzeugen Habitusformen, d. h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungsund Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv ›geregelt‹ und ›regelmäßig‹ sein können, ohne im Geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein; die objektiv ihrem Zweck angepasst sein können, ohne das bewußte Anvisieren der Ziele und Zwecke und die explizite Beherrschung der zu ihrem Erreichen

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was für die Akteur*innen in einer prädisponierten Welt möglich ist – und was nicht. Mit Gruppenhabitus oder individuellem Habitus beschreibt Bourdieu jedoch nicht bloß eine Reaktionsweise auf die in der Welt gegebenen Strukturen. Vielmehr interessieren ihn durch Sozialisation und Erfahrung inkorporierte Strukturen, die vorwiegend durch ein Milieu geprägt werden und dieses Milieu reproduzieren. Paradox und dennoch einleuchtend erscheint die Vorstellung von Akteur*innen, die Entscheidungen treffen und Informationen beziehen, über die sie nicht verfügen und deren Richtungsweise sie nur bedingt mitbestimmen. Gegen bewusstseins- und kommunikationstheoretische Theorien wendet Bourdieu ein, dass auch ein »›[b]ewußtes Kommunizieren‹« immer schon eine unbewusste Komponente – wie Sprache oder Kultur – aufweist, um Verständigung zu ermöglichen.18 Dieses »›Unbewußte‹« bezeichnet der Pariser Soziologe als das »Vergessen der Geschichte«: »Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat.«19 Ein zentrales Anliegen in »Sozialer Sinn«, einem frühen Entwurf einer Theorie der Praxis Bourdieus, liegt darin, eine Vermittlung zwischen Objektivismus und Subjektivismus zu finden.20 Bourdieu kritisiert an dieser Stelle den Strukturalismus (aber auch den Idealismus) dafür, dass aus empirischen und phänomenologischen Erfahrungen Sinn und Struktur der menschlichen Geschichte abgeleitet und so ein »›Prozeß ohne Subjekt‹« zur Wahrheit erklärt wird (78). Für Bourdieu kann ein adäquates Verständnis von Sinn nur aus einem reflektierten Verhältnis von subjektiven und objektiven wissenschaftlichen Zugängen hervorgehen: dem »Sinn des sozialen Spiels« (52). Bourdieu kritisiert den Objektivismus für dessen Vernachlässigung oder gar Ablehnung von sog. »Primärerfahrung[en]«, die einen zentralen Bestandteil im Objektivierungsprozess anzeigen. Denn nur über das subjektive Erfahren der Welt erinnert sich der Mensch an den »Schein der Unmittelbarkeit«, (52) mit dem Bourdieu das Erschließen des Welt-Sinns verbindet. Nach Georg Friedrich Wilhelm Hegel ist diese Unmittelbarkeit deshalb scheinhaft, weil die Unmittelbarkeit, bspw. durch die Religion, notwendigen Operationen vorauszusetzen, und die, dies alles gesetzt, kollektiv abgestimmt sein können, ohne das Werk der planenden Tätigkeit eines ›Dirigenten‹ zu sein.« Zu den Akteur*innen vgl. Gregor Bongaerts: Vom Sichtbaren und Unsichtbaren sozialer Akteure. Überlegungen zum Akteursbegriff im Rahmen Bourdieus Theorie der Praxis, in: Nico Lüdtke/Hironori Matsuzaki (Hg.): Akteur – Individuum – Subjekt. Fragen zu »Personalität« und »Sozialität«, Wiesbaden 2011, 149–169. 18 Bourdieu: Sozialer Sinn (s. Anm. 10), 109. 19 Bourdieu: Sozialer Sinn (s. Anm. 10), 105. 20 Vgl. Bourdieu: Sozialer Sinn (s. Anm. 10), 49 (im Folgenden Nachweise im Text in Klammern). Die Übersetzung von Bourdieus frühem Entwurf einer Theorie der Praxis ist irreführend, denn das Original Pierre Bourdieu: Le Sens pratique, Paris 1980, wird mit »Sozialer Sinn« ins Deutsche übersetzt.

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schon vermittelt ist. Die Unmittelbarkeit ist daher kein fundamentum inconcussum, sondern eine Vermittlung, die es aufzudecken und zu hinterfragen gilt.21 Diese subjektive Grunderfahrung wird vom Objektivismus gekappt. Dadurch unterschlägt der Objektivismus den für Bourdieu zentralen Vermittlungsprozess aus einem »erlebten Sinn« und einem »objektiven Sinn«, der nicht nur eine wissenschaftstheoretische, sondern auch eine soziale Bruchlinie thematisiert (52). Nicht nur in den frühen religionssoziologischen Texten Bourdieus, sondern auch in späteren sozialtheoretischen Werken spielt der Glaubensbegriff (franz. la croyance) eine zentrale Rolle. Glauben hat bei Bourdieu jedoch keine religiöskirchliche Dimension, sondern bezeichnet das Vertrauen an die Sinnhaftigkeit eines sozialen Feldes und dessen Spielregeln. Anhand des Glaubensbegriffs zeigt Bourdieu, wie Glaube in Auseinandersetzung mit Vernunft als habitueller Vorgang wirkt. Die Schwierigkeit bzw. der Widerspruch besteht darin, dass weder die Vernunft noch eine »rationale Entscheidung«22 allein den Glauben »dauerhaft« begründen können (91). Denn über die Vernunft, den Voluntarismus und das Bewusstsein den Glauben zu begründen hieße, diese im Glauben hinterfragen zu müssen. Diese »Antinomie des Glaubens kraft Entscheidung«23 ist nur möglich, wenn sich das Subjekt einerseits zum Glauben entscheidet und sich andererseits dazu entscheidet, diese Entscheidung zu vergessen (vgl. 92). Dieser Form von Voluntarismus entgegnet Bourdieu, dass die Bedingungen der Entscheidungsfindung nur unzureichend reflektiert werden. Die freie Entscheidung ist in dieser extremen Form insofern eine Illusion, weil Vorurteile, Entscheidungen und ihre Kontexte nicht in die Analyse der Entscheidungsprozesse einfließen. Den Glaubenserwerb beschreibt Bourdieu deshalb als eine Praxis, welche das Vergessen, die »Amnesie der Entstehung«, zum Ausgangspunkt hat: »die Logik des Glaubenserwerbs, die Logik der unmerklichen, d. h. ständigen und unbewußten Konditionierung, die ebenso über Existenzbedingungen wie über explizite Maßregelungen erfolgt, setzt voraus, daß dieser Erwerb vergessen wird und die Illusion entsteht, das Erworbene sei angeboren« (93). Der Versuch, den Glauben durch das rationale Subjekt zu ergründen, ist für Bourdieu eine Selbsttäuschung. Denn rational Handelnde versuchen die mehr oder weniger an Effizienz und Nützlichkeit orientierten Handlungen an die Bewusstseinsleistung zu knüpfen. 21 Vgl. Andreas Arndt: Unmittelbarkeit (Bibliothek dialektischer Grundbegriff 14), Bielefeld 2004, 22–29; Daniel Althof: System und Systemkritik. Hegels Metaphysik absoluter Negativität und Jacobis Sprung (Hegel-Jahrbuch Sonderband 11), Berlin 2017, 73. 22 Bourdieu: Sozialer Sinn (s. Anm. 10), 90. An dieser Stelle lehnt sich Bourdieu an die Argumentation von Blaise Pascal an. 23 Bourdieu: Sozialer Sinn (s. Anm. 10), 92; vgl. dazu: Bernard Williams, »Kann man sich dazu entscheiden, etwas zu glauben?«, in: ders.: Probleme des Selbst. Philosophische Aufsätze 1956–1972 (Reclams Universal-Bibliothek 9891), Stuttgart 1978, 217–241.

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Gleichzeitig werden Praktiken an einem Ökonomismus gemessen, d. h. an einer Betonung des Ökonomischen, was dazu führt, dass Prinzipien wie »Kostenminimierung« und »Profitmaximierung« zu rationalen Maximen erklärt werden (94). Der Grund, warum Bourdieu vorwiegend mit dem Ökonomie-Begriff arbeitet, liegt darin, dass er an einer »Ökonomie der Praktiken« (95) interessiert ist. Diese Ökonomie der Praktiken funktioniert weder nach dem Paradigma der zweckgerichteten rationalen Entscheidung noch nach ursachenorientierten gesellschaftlichen Setzungen. Vielmehr bricht sie erkenntnistheoretisch aus dieser Dualität aus, um aufzuzeigen, wie sich Habitus und Praktiken in einer »ganzen Welt von Ökonomien« unter dem Einsatz von verschiedenen Kapitalarten in »Kampffeldern« (96) zueinander ins Verhältnis setzen. Der Glaubensbegriff ist außerdem wichtig für Bourdieu, weil er als »praktische[r] Glaube« das »Eintrittsgeld« (124) für die Teilnahme am Spiel und damit den Zugang zum sozialen Feld reguliert. Ganz unabhängig, ob es sich um einen naiv-angeborenen oder einen pragmatisch-handlungsbefähigenden Glauben (Immanuel Kant) handelt, diese Formen des Glaubens entscheiden über Teilnahme und über Anerkennung in einem sozialen Feld. Des Weiteren geht Bourdieu davon aus, dass der Glauben ein Selektionsverfahren veranlasst, das von neuen Akteur*innen abverlangt, den durch die »doxa« bestimmten »Urglauben« als unhinterfragbare und inkorporierte Voraussetzungen des Feldes anzunehmen (125). Die doxa ist ein fixer Bestandteil der Habitustheorie – ihr wird als Gegenbegriff zu den episteme eine alltägliche oder gar scheinhafte Form von Wissen zugeschrieben (68–69). Indem der Theorie bzw. den Theoretiker*innen das gesellschaftliche »›Denk‹monopol« zugeschrieben wird oder indem sich Theoretiker*innen dieses selbst zuschreiben, wird deutlich, dass die Akademie die Hoheit über das richtige Denken für sich reklamiert. Handeln ist demnach nur »sinnvoll«, »wenn es verstanden, interpretiert [und] ausgedrückt« wird (69). Diese Form der Hermeneutik droht die Sprache dahingehend misszuverstehen, als dass die unausgesprochene Praxis des Handels als unvernünftig herabgesetzt wird. In diesen Themenkomplex gehört auch die Bildung von symbolischem Kapital – von Status, Anerkennung und Autorität. Der Kampf um Anerkennung und Prestige in einem Feld ist nur dann möglich, wenn diese Anerkennungsakte das Feld reproduzieren bzw. die Funktionsweise des Feldes unerkannt bleibt. Um in diesen Machtstrukturen zu reüssieren, müssen Teilnehmende entweder hineingeboren werden oder ein soziales Aufnahmeverfahren bestehen. Weil der praktische Glaube keine autonome Entscheidung für einen bestimmten Normenkatalog darstellt, kann er als »Zustand des Leibes« beschrieben werden, welcher als praktischer Sinn das Verhältnis von Habitus und Feld ist (126). Dieses Verhältnis wird deshalb als ein dem Körper einwohnendes (franz. habiter) beschrieben, weil sich der praktische Sinn natürlich und gesellschaftlich in Bewegung und Ver-

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halten eingeprägt hat. In dieser »Welt des Alltagsverstands« – in der Übereinstimmung von Sinn und Praktiken – erscheinen deswegen auch unbewusste Handlungsmotive als sinnvoll (108): »Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen.«24 Bourdieu bezeichnet den sog. praktischen Sinn in »Sozialer Sinn« als »Erzeugungsgrundlage«, welche von »regelhaften Improvisationen« überlagert wird (107). In dieser Funktion ist der praktische Sinn als Habitus dafür zuständig, dass der objektive Sinn der Institutionen aktiviert wird. Der dem Menschen und dem Kollektiv einverleibte Habitus bzw. die regelhaften Anpassungen im Feld – der praktische Sinn – sind für die Ausbildung von Institutionen und deren Konstituierung eminent wichtig. Gleichzeitig kommt den durch Habitus vorgebildeten Handelnden die Funktion zu, Institutionen und Geschichte durch Praxis zu reaktivieren. Bourdieu geht sogar davon aus, dass erst durch den performativen Aneignungsakt, durch den Habitus, die Institution zu dem wird, was sie ist. Religion bildet demnach Strukturen heraus und fordert Praktiken ein, die der Logik ihrer Institutionalisierung entsprechen (Ekklesiologie) (vgl. 107). Der praktische Sinn agiert jedoch weder zweck- noch zielgerichtet – demnach nichtintentional. An dieser Stelle weicht Bourdieu von Max Weber ab, der den sozialen Sinn noch als individuelle Vollzüge von gelingender Interaktion verstand: »›Soziales Handeln‹ […] soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.«25 Bei Bourdieu ist der Handelnde nicht mehr der Sinnproduzent. Der praktische Sinn ist dem Handelnden dahingehend vorgelagert, als dass der praktische Sinn unbewusst Praktiken produziert, welche mit den Produktions- und Reproduktionsbedürfnissen des Feldes übereinstimmen. Im Feld entsteht der praktische Sinn vorwiegend zwischen einzelnen Akteur*innen. In der Matrix von Habitus und Feld, »von einverleibter und objektivierter Geschichte«, verweist Bourdieu den »subjektiven Sinn, d. h. Bedeutung und Daseinsgrund, aber auch Richtung, Orientierung [und] Zukunft« auf seine Spieltheorie (122). Der »Sinn für das Spiel« (122) ermöglicht dem Habitus, der auf inkorporierte Erfahrung zurückgreifen kann, subjektive Sinnfragen innerhalb des Feldes zu antizipieren. Das Feld ist wiederum der objektive – auf Erfahrung zurückgreifende – Raum, in welchem subjektiver Sinn ermöglicht wird. Um in diesem Spiel, das bewusst an eine Sportmetapher angelehnt ist, mitwirken zu können, muss ein »Spieleinsatz« geleistet werden, den Bourdieu als »illusio« 24 Bourdieu: Sozialer Sinn (s. Anm. 10), 127. Die dauerhafte Inkorporierung von Dispositionen bezeichnet Bourdieu auch als Hexis, vgl. dazu auch 129. 25 Max Weber: Soziologische Grundbegriffe [1921], in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann (UTB 1492. Soziologie), Tübingen 71988 (ND der Ausg. 61985), (541–581) 542.

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bezeichnet (122). Der Vollzug von nichtreflektierten, weil unbewusst getätigten Handlungen wird in der Habitustheorie als doxa bezeichnet. In der Feldtheorie ist die illusio als »Wirklichkeitsillusion«26 dafür verantwortlich, dass Teilnehmer*innen das Spiel glaubhaft annehmen.27 Der objektive Sinn ist bereits die Ableitungsleistung, welche Praktiken in Verbindung setzt, indem »Regelmäßigkeiten« ausgemacht werden, welche die »Ökonomie eines Feldes« beschreiben und das Selbstverhältnis zur Zukunft als »sinnvoll« erscheinen lässt (122). Der Unterschied zwischen einem Spiel, das innerhalb eines Rahmens einer bestimmten Topographie und Norm geführt wird, und einem sozialen Feld besteht darin, dass nur ein Spiel offenkundig als »Artefakt« erkannt wird (123). In das soziale Feld wird man hingegen hineingeboren und dadurch wird es umso schwieriger, dieses als bloßes Spiel zu entlarven. Sollte eine reflektierte oder kritische Distanz gegenüber dem sozialen Feld ausbleiben, kann der Glaube bzw. die illusio an das Spiel dementsprechend höher ausfallen oder gar einen »totale[n]« bzw. »bedingungslose[n]« Charakter annehmen (123). Aber auch akademische Beobachtungen sind aufgrund ihrer theoretischen Analyse für Verallgemeinerungsprozesse verantwortlich, indem spontane Antizipationsprozesse unterschlagen werden. Indem sich Beobachtende aus dem Spiel zurückziehen, sind ihnen dessen Zeitlichkeit und Ernsthaftigkeit äußerlich. Als Reaktion dieses antagonistischen Zeitverhältnisses von Theorie und Praxis nimmt die Theorie eine Überwindung des Zeitfaktors vor (vgl. 149–150). Die Praxis wiederum reflektiert in der Regel weder ihre Bestimmungen noch ihre Möglichkeiten, sondern agiert diese in der Zeit aus (vgl. 167). Denn an dem Zeitpunkt, an dem die Praxis über ihr Verhältnis zur Theorie nachzudenken beginnt, verlässt sie den Boden der »Grundwahrheit der Primärerfahrung«, des »Verschwiegene[n]« und den »elliptische[n] Beweisen« (165). Der praktische Sinn ist eben keine wissenschaftliche Bewusstseinsanalyse, die sich über Symbole kategorisieren und verstehen lässt, sondern ein aktives Ausleben präreflexiver Praxis (vgl. 187). In Bourdieus Theorie der Praxis oder Praxeologie stellen daher v. a. Regeln ein Hindernis dar. Indem sich handelnde Akteur*innen vorschnell auf Regulative wie Grammatik, Moral oder Recht berufen, normieren sie dadurch ihren Handlungserweis. In seinem Hybrid aus Akteurs- und Strukturtheorie kann der Sinn nur im Handeln erschlossen werden, aber nur einem auf der Grundlage von inkorporierten Erfahrungsmustern agierenden Handeln.

26 Eva Barlösius: Pierre Bourdieu (Campus Studium), Frankfurt a.M. 22011, 100. 27 Vgl. Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns (Edition Suhrkamp 1985), Frankfurt a.M. 1998, 140–141.

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Theodizee = Soziodizee

Der Habitus und die soziale Feld-Theorie sind die zentralsten und die allgemein bekanntesten Theoreme, mit denen der französische Soziologe operiert. Dabei handelt es sich im ersten Fall um die Konstituierung des menschlichen Handelns, das auf einer unbewussten Grundlage bewusst zu agieren glaubt. In »Leçon sur la leçon« beschreibt Bourdieu diese interdependente Independenz-Paradoxie mit der Formulierung: »der Leib ist Teil der Sozialwelt – wie die Sozialwelt Teil des Leibes« ist.28 Armin Nassehi und Gerd Nollmann haben den Habitus als Dopplung aus »sozialem Apriori« und dem Ergebnis der Praxis bezeichnet.29 Weil Bourdieu sich für die Praxis der Struktur (und nicht umgekehrt) interessiert, verortet er die Struktur in den Akteur*innen – nicht im Subjekt – und deren Aktionen.30 Habituell agierende und reagierende Akteur*innen positionieren sich aufgrund von Meinungsbildungen und Kapitalvolumen in einem sozialen Feld. Dabei ist das ökonomische Kapital ein ausschlaggebender Faktor. Für eine Positionsbestimmung im sozialen Feld differenziert Bourdieu aber weiter in kulturelle, soziale und symbolische Aspekte von Kapitalbildung.31 Als zentrales Regulativ für die Dynamik im Feld – auch im religiösen Feld – steht das Interesse an der Sache, was sich v. a. an der daraus ergebenden Konkurrenz um knappe Güter ablesen lässt. Trotz Bourdieus breit abgestützten empirischen Studien kommen seine Analysen nicht ohne den das handelnde Leben durchdringenden Machtbegriff aus. »Die sozialen Felder bilden Kraftfelder, aber auch Kampffelder, auf denen um Wahrung oder Veränderung der Kräfteverhältnisse gerungen wird.«32 Ergebnis des Kampfes um Macht ist aber keine klassische Verteilung nach dem Prinzip top-down oder bottom-up, sondern ein diffuses Seilziehen zwischen mehr als zwei Akteur*innen.33 Das Verhältnis von Handlung zu Habitus und Feld ist demnach weder nach rein zweckbestimmten Zielen noch nach strukturalistischen Erfordernissen zu bestimmen, sondern nach »der Verbindung von Habitus und Feld, so daß der Habitus selber das mitbestimmt, was ihn bestimmt.«34 28 Pierre Bourdieu: Leçon sur la leçon, in: ders.: Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen (Stw 500), Frankfurt a.M. 1985, (47–80) 69. 29 Armin Nassehi/Gerd Nollmann: Einleitung. Wozu ein Theorievergleich?, in: dies. (Hg.): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorievergleich (Stw 1696), Frankfurt a.M. 2004, (7–22) 12. 30 Vgl. Nassehi/Nollmann: Einleitung (s. Anm. 29), 17. 31 Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und »Klassen«, in: ders.: Sozialer Raum und »Klassen« (s. Anm. 28), (7–46) 10; vgl. dazu Boike Rehbein/Gernot Saalmann: Art. Feld, in: Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2009, 99–103. 32 Bourdieu: Leçon sur la leçon (s. Anm. 28), 74. 33 Vgl. Bourdieu: Leçon sur la leçon (s. Anm. 28), 67. 34 Bourdieu: Leçon sur la leçon (s. Anm. 28), 75.

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Ein sozialer Raum bietet Raum für verschiedene Felder, die sich durch unterschiedliche Parameter definieren. Das religiöse Feld bildet ihre Matrix inmitten der Akteur*innen Propheten, Priester und Zauberer aus, deren »religiöse Arbeit« sich als Reaktion auf das »religiöse[…] Interesse« bzw. dem Heil(ung)sversprechen der Laien versteht.35 Diese handelnden Akteur*innen stehen aufgrund ihrer unterschiedlichsten Ansprüche auf Gott und Gesellschaft in einem konkurrierenden Verhältnis zueinander. Propheten erheben wie Priester Anspruch auf die religiöse Legitimität, haben jedoch im Unterschied zu diesen keine reproduzierbaren Ämter inne, die in Form von kultischen Handlungen prägend auf den religiösen Habitus der Laien einwirkt. Im religiösen Feld werden »Autoritätsbeziehungen« in Form von Machtkämpfen zwischen den verschiedenen religiösen Akteur*innen verhandelt. Institutionen oder Akteur*innen konkurrieren um das Monopol »[r]eligiöse[r] Legitimität«, wobei der Prophet im Gegensatz zum Priester ein »auctor [ist], dessen auctoritas ständig zu erringen oder wiederzuerringen ist«.36 Zauberei steht für Magie, Hexerei und zusehends auch für eine Marginalisierung durch das Dogma der Priesterschaft sowie für ein einseitiges Verständnis von mystischer Körper- und Seelenheilung. Die sozio-politische These Bourdieus will zeigen, dass die Religion als Tradentin von Kultur, Sprache und Sozialsystemen Institutionen bzw. Praktiken hervorbringt, die eine politische Differenzierung der Gesellschaft als metaphysische Setzung kaschiert.37 Trotz der enormen Emanzipationsbewegung durch das sich etablierende Bürgertum waren »›Ethisierung‹ und ›Systematisierung‹ der religiösen Glaubensinhalte und Praktiken« (39) ein ständiger habitueller Begleiter der Menschen geblieben. Damit Religionen solche gesellschaftlichen Veränderungen überstehen können, suchten sie schon früh in ihrer religiösen Genese die Verbindung mit Machtbereichen wie Politik und Recht. Bourdieu nennt diesen Prozess »Konsekrationswirkung« (54). Konsekration bedeutet in diesem Fall, dass Religion mit einem Schema von Belohnung und Bestrafung – mit »heiligenden Sanktionen« – menschliches Handeln beurteilt (54). Ökonomische und machtpolitische Sozialgrenzen werden aufgrund dieser Konsekrationswirkung 35 Vgl. Pierre Bourdieu: Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, in: ders.: Schriften zur Kultursoziologie 5. Religion, hg. v. Franz Schultheis u. Stephan Egger (Pierre Bourdieu Schriften 13; Stw 1975), Berlin 2011, (7–29) 7, 11; vgl. im selben Band: Die Auflösung des Religiösen, (243–249) 245; Genese und Struktur des religiösen Feldes, (30–90) 68–69, 83–90; Astrid Reuter: Religion in der verrechtlichten Gesellschaft. Rechtskonflikte und öffentliche Kontroversen um Religion als Grenzarbeiten am religiösen Feld (CSRRW 5), Göttingen 2014, 43–58; grundlegend zu Max Webers Religionssoziologie vgl. Georg Neugebauer: Die Religionshermeneutik Max Webers (TBT 178), Berlin 2017. 36 Bourdieu: Interpretation der Religion (s. Anm. 35), 19. 37 Vgl. Bourdieu: Genese und Struktur (s. Anm. 35), 38 (im Folgenden Nachweise im Text in Klammern).

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in rechtliche Unterscheidungen überführt. Dazu ist sie deshalb in der Lage, weil sie über die soziale Unterscheidung von Perspektiven mitbestimmt, um diese anschließend als Hoffnung an den realen Möglichkeitsrahmen anzupassen. Bourdieu beschreibt mit der »symbolischen Ordnung« eine aktive aber unbewusste Mitwirkung an einem (ungerechten) Status quo von Herrschaft, die das Fundament für die politische Ordnung liefert (79). Dadurch werden Laien Denkmuster auferlegt, welche im Modus des »Erkennens-Verkennens« eine symbolische Bestätigung finden (54). Schon Max Weber und Karl Marx vertraten die These, dass der Religion die Funktion der Sicherung von sozialer Ordnung zukommt, was diese im Allgemeinen mit herrschaftlicher »›Legitimierung‹« bezeichneten. Bourdieu sieht bei seinen soziologischen Referenzen folgendes Defizit: Es fehlt die von religiösen Produzenten verrichtete »religiöse Arbeit«, die in Form einer bestimmten Praxis oder eines bestimmten Diskurses auf Anliegen einer Gesellschaftsgruppe reagiert (37). Unabhängig davon, ob es sich um institutionalisierte Arbeit durch den Priester oder um antiinstitutionalisiertes Charisma oder Magie von Propheten oder Zauberern handelt, sie alle befriedigen mittels Machtausübung die Nachfrage von religiösen Laien. Neben einer klassischen Funktionsbestimmung von Religion – als Garant für Sicherheit und Bewältigung von Kontingenz – setzt Bourdieu seine zentrale These: »Theodizeen sind immer auch Soziodizeen« (57). Religiöse Teilnehmer*innen sind nicht nur auf der Suche nach existentiellen und gnadentheologischen Antworten, sondern suchen auch nach Antworten auf die Fragen sozialer Determinierung. Die soziale Eingliederung in die Gesellschaft wird mit dem aufkommenden Bürgertum weniger schicksalhaft und zunehmend anhand des eigenen moralischen Vermögens beurteilt. Religion wird an persönlicher Erfahrung ausgerichtet und ermessen. Sowohl bei der Selbstbeschreibung im religiösen Feld als auch in der Geschichte – beides sind Selbstbeschreibungen eigener Sinnhaftigkeit – handelt es sich um soziale Ordnungs- und Einordnungsprozesse. Religiöse Erfahrung, so Bourdieu, ist auf eine spezifische Milieuzugehörigkeit rückgebunden, wobei die Entscheidung darüber, wie religiöse Erfahrungen bzw. Theologumena er- und gelebt werden, in erster Linie von bildungsbürgerlichen und wohlhabenden Bevölkerungsteilen reflektiert und systematisiert wird. Es ist das Vorrecht der gesellschaftlich Privilegierten, nach dem Weltsinn zu fragen bzw. die Dogmen, die Liturgie und die diese hervorbringende Institution zu hinterfragen (vgl. 69–70). Das menschliche Heil, das Böse, die Angst und die Frage nach Sinn und Leiden, diese Fragestellungen an das Leben haben eine »Entwicklung eines Interesses für Probleme des Bewusstseins und eine wachsende Sensibilität für das Elend der menschlichen Lage zur gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingung« gemacht (58). Mit einer Referenz auf den New Yorker Theologen Reinhold Niebuhr erstaunt es Bourdieu daher nicht, dass das religiöse Bildungsbürgertum seine Hoffnung auf

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einen evolutionistischen Chiliasmus setzt, in dem sich die eigene gesellschaftliche Situation als teleologisches Ideal von Geschichte widerspiegelt.38 Auch den religiösen Glauben interpretiert Bourdieu als Machtdiskurs und macht dabei deutlich, dass sich Glaube nur im »gesamten Netz von Produktionsund Austauschbeziehungen« entfaltet (66). Nicht das glaubende Individuum als Bewusstsein, sondern die Vorprägung durch den »religiösen Habitus« als eine »verallgemeinerte und übertragbare Disposition« ist für das Denken und Handeln ausschlaggebend.39 Religiöse Akteur*innen oder Arbeiter*innen dringen nur dann mit Charisma bei den Glaubenden durch, wenn diese bereits durch ein System des Vertrauensvorschusses (»Kredite«) geprägt sind. So lautet dann die negative Glaubensdefinition Bourdieus: »Die Lüge sich selbst gegenüber, die jeder Glaube mit sich bringt, hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die individuelle Unehrlichkeit durch die kollektive Unehrlichkeit unterhalten und gestützt wird.« (66–67) Bourdieu geht von einem »Kapital an Charisma« (66) aus, das als symbolisches Kapital – als Macht und Anerkennung – von den religiösen Akteur*innen eingesetzt wird. Ihnen wird ein Kredit an Anerkennung und Macht eingeräumt, um im Kampf um das symbolische Kapital zu bestehen. Dem Glauben kommt daher die gesellschaftliche Funktion zu, die Welt als soziopolitische Gegebenheit unhinterfragt zu akzeptieren. Bourdieu weist auf eine geschickte Verschleierung oder Illusion hin, die dem individuellen Glauben suggerieren soll, dass eine objektive Trennung zur Orthodoxie bestünde, »der Gläubigkeit als anerkanntem Glauben« (67). Tatsächlich wird mit der Orthodoxie nur die doxa beschrieben, d. h. der Glaube, die Akzeptanz und die Reproduktion sozialer Konstrukte.

38 Vgl. Reinhold Niebuhr: Moral Man and Immoral Society. A Study in Ethics and Politics, New York 1955 (Originalausgabe 1932), 62: »Evolutionary millennialism is always the hope of comfortable and privileged classes, who imagine themselves too rational to accept the idea of the sudden emergence of the absolute in history. For them the ideal is in history, working its way to ultimate triumph.« Max Weber spricht an einer Stelle von einer »Theodizee des Glückes«, das Glück und Unglück der Akteur*innen als Reflexion bzw. Anrecht des Bemühenden ausweist und somit die Frage nach glückendem und leidendem Leben in der Religion als dringlich erweist. Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Vergleichende Religionssoziologische Versuche, Einleitung, in: ders.: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915–1920, hg. v. Helwig Schmidt-Glintzer (Max Weber Gesamtausgabe 1,19), Tübingen 1989, (83–127) 90. 39 Vgl. Bourdieu: Interpretation der Religion (s. Anm. 35), 17.

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Sinn als theoretische Figur praktischer Überforderung40

Der wohl bedeutendste sozialtheoretische Gegenentwurf zu Pierre Bourdieus Habitustheorie im 20. Jahrhundert stammt vom Systemtheoretiker Niklas Luhmann. Die gegenseitige Rezeption ist dabei äußerst dürftig ausgefallen, obwohl mit der Beobachterperspektive (Verhältnis Beobachter*in zu Beobachtungsgegenstand), mit den autonomen Sozialbereichen (Felder bzw. System) und der Theoretisierung von empirischen Daten (Handeln bzw. Kommunikation) elementare Gemeinsamkeiten bestehen. Doch zugleich gibt es fundamentale Unterschiede.41 In »Religion der Gesellschaft« geht Luhmann in Bezug auf den Sinnbegriff namentlich auf Pierre Bourdieus Theorie ein. Sinn sei für Bourdieu an sozialer Differenz orientiert, an »Statussignale[n]«.42 Über den Zugriff auf Statussymbole (kulturelles, soziales, ökonomisches bzw. symbolisches Kapital) wird eine gesellschaftliche Hierarchisierung wiederhergestellt, welche von Geburt wegen in der Moderne aufgehoben wurde. Diese Scheinreproduktion der Gesellschaft hat, so Luhmann, als Theorie und Praxis nur dann Erfolg, wenn die »Distinktionen verstanden und ihre Signale übereinstimmend […] gegen den Oberflächensinn interpretiert werden«.43 Soziologische Theorien hingegen, welche sich befähigen, den wahren Wert von Objekten, Bildungschancen oder Handlungsmöglichkeiten anderer Subjekte zu dekonstruieren, stuft Luhmann als »Supplement« ein. Das Supplement ist ein Theoriebegriff, den Luhmann Derridas »Grammatologie« entlehnt: es gibt kein Text-Äußeres – »il n’y a pas de hors-texte« – ist dort eine markante These. Mit der Beschreibung des Supplements will Jacques Derridas zeigen, dass dem Begriff, dem Text bzw. der Schrift der Reiz inhärent ist, Bedeutung und Bedeutungslinien hineinzulegen, welche aufgrund ihrer internen Referenzen und Differenzen eine beständige Vorstellung von Bedeutung und Wirklichkeit verunmöglichen.44 Luhmann stuft die Bourdieu’sche Soziologie deshalb als Supplement ein, weil eine »Gesellschaftskritik« und damit ein Gerechtigkeitsideal als Bestimmungsgröße hinter der Theorie agiert. Auffällig ist die von Luhmann durchaus pejorative Bestimmung der Theorie Bourdieus als 40 Teile des Schlusskapitels lehnen sich an meine Diplomarbeit an: Thomas Scheiwiller: Der Sinnbegriff zwischen Systemtheorie und Subjektphilosophie. Die »theo-logische« Auseinandersetzung Falk Wagners mit Niklas Luhmann, Diplomarbeit, Universität Wien, Wien 2014. 41 Vgl. Irmhild Saake: Art. Pierre Bourdieu, in: Oliver Jahraus u. a. (Hg.): Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2012, 305–308. 42 Niklas Luhmann: Die Religion in der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Frankfurt a.M. 2000, 130. 43 Luhmann: Die Religion in der Gesellschaft (s. Anm. 42), 131. 44 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie (Stw 417), Frankfurt a.M. 1983, 274–275. Französisch Jacques Derrida: De la grammatologie (Collection »critique«), Paris 1967, 227.

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theoretischen »Erlösungsweg«.45 D. h. wenn moderne Theorien vor dem Problem stehen, die Differenzierung in sinnvolle und sinnlose Weltbeschreibungen weder subjektiv noch objektiv lösen zu können, orientieren sie sich oft am Sozialen. Diese Theorien setzen weder in der Subjektivität noch in einem die Gesellschaft begründeten Transzendentale an, sondern erklären »das Gemeinsame« an sich bzw. die Dynamik der Interaktion zum »sinnvollen Sinn[…]«.46 Für Luhmann ist eine Soziologie, die eine Theorie sinnvollen sozialen Handelns mit einer Gesellschaftskritik ohne Konzeption eines gesellschaftlichen Gegenentwurfes verbindet, ein performativer Widerspruch.47 Indem Bourdieu die Konkurrenz um soziale, ökonomische und kulturelle Dinge als soziologischen Sinn sozialer Klassifizierung und Distinktion beschreibt und diese im Rahmen von gesellschaftskritischen Parametern interpretiert, dekonstruiert Bourdieu, so Luhmann, die Trennung in sinnvoll und sinnlos.48 Diese Kritik erstaunt deswegen nicht, weil in Luhmanns Systemtheorie das Medium Sinn einen zentralen Stellenwert einnimmt: »Das allgemeinste, nicht transzendierbare Medium für jede Formbildung, das psychische und soziale Systeme verwenden können, nennen wir Sinn.«49 Sinn verarbeitet in der Kommunikation bzw. in Gedanken Aktuelles und Potentielles bzw. Reales und Mögliches und erlaubt dem Kommunikationsgeschehen – bzw. dem Denken – anschließende (Selbst-)Bezüge bereitzustellen (Selbstreferenz).50 Der Sinn zeigt als »unnegierbare« bzw. »differenzlose Kategorie«, dass Luhmann in diesem ein Medium sieht, das nicht losgelöst vom Unsinn beobachtet werden kann.51 Eine getroffene Unterscheidung bedeutet daher nicht, dass das in der Kommunikation Verworfene gelöscht wird, sondern die Unterscheidung läuft als Möglichkeit implizit mit, indem die Unterscheidung 45 Luhmann: Die Religion in der Gesellschaft (s. Anm. 42), 131. 46 Luhmann: Die Religion in der Gesellschaft (s. Anm. 42), 130. Dass dies von Bourdieu durchaus selbstkritisch reflektiert wurde, zeigt u. a. die Einleitung von Bourdieu: Sozialer Sinn (s. Anm. 10), 8, wo er über seine früheren Arbeiten (»Entwurf einer Theorie der Praxis« aus dem Jahr 1972 und »Die feinen Unterschiede« von 1979) urteilte, dass sie u. a. aus einem »emotionalen Entstehungszusammenhang« hervorgegangen sind. 47 Vgl. Luhmann: Die Religion in der Gesellschaft (s. Anm. 42), 131; zum performativen Widerspruch vgl. Geert Keil: Art. Karl-Otto Apel, in: Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen, Stuttgart 32003, 25–28. 48 Vgl. Luhmann: Die Religion in der Gesellschaft (s. Anm. 42), 131. 49 Luhmann: Die Religion der Gesellschaft (s. Anm. 42), 15. Ausführlicher zum Thema Religion als Medium vgl. ders.: Das Medium der Religion. Eine soziologische Betrachtung über Gott und die Seelen, in: SozSys 6 (2000), 39–53. 50 Vgl. Helmut Willke: Systemtheorie 1.: Grundlagen. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme (UTB 1161), Stuttgart 72006, 51: »Die Beziehung zwischen Sinn und System ist demnach eine doppelte: Systeme sind sinnkonstituierende und sinnkonstituierte Gebilde. Sie erzeugen kontinuierlich systemspezifischen Sinn und werden doch selbst erst durch die Ausbildung bestimmter abgrenzbarer Sinnstrukturen in Existenz gebracht.« 51 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Stw 666), Frankfurt a.M. 1987, 96.

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auf ihr Anderes in der Wirklichkeit verweist. Dass in dieser Komplexität von kontingenten Möglichkeiten sowohl Sinnvolles als sinnlos gedeutet, als auch Sinnloses als sinnvoll erachtet werden kann, bezeichnet Luhmann als re-entry, als ein Wiedereinführen der tatsächlichen Unterscheidung in die zu beobachtende Unterscheidung.52 Bourdieu unterschlägt in seiner politischen Soziologie die paradoxe Struktur von Sinn, indem unbeachtet bleibt, dass auch Unsinn aus einer Formbildung (Unterscheidung) von Möglichkeiten im Medium Sinn getroffen wird und nicht bloß eine Negierung von Sinn ist.53 Dass Soziologie nicht nur ein Ort von »Sinnverhältnissen« ist, streicht jedoch Bourdieu in einem Interview mit Loïc J.D. Wacquant aus dem Jahr 1987 heraus.54 In Feldern geht es dementsprechend um Machtverhältnisse, deren Beobachtung starken Wandlungsprozessen unterliegen und einen dezidiert emanzipatorischen Charakter haben. Der Zuschnitt einer von Macht und Asymmetrie getragenen Soziologie, die Akteur*innen um die gesellschaftliche Anerkennung in Form eines symbolischen Kapitals wetteifern sieht, hat Luhmann in »Die Politik der Gesellschaft« in Verweis auf Bourdieu abgelehnt.55 Im Gegensatz zu kommunikations- oder bewusstseinstheoretischen Ansätzen wird in Bourdieus Akteurstheorie die vorreflexive bzw. habituelle Reaktion in den Körper hineinversetzt. Der Körper ist als ontologische Größe weit weniger Paradoxien ausgesetzt als bei einer Kommunikationstheorie, die auf wiederkehrenden Negationsprozessen aufbaut.56 Bourdieu beschreibt die Religion kurz als illusio, die glaubt, dass sich ihre Akteur*innen im Feld tatsächlich um den Glauben streiten.57 Falk Wagners Formel des religiösen Bewusstseins: »der Glaube glaubt glaubend, dass er glaubt«58 zeigt, dass auch theologische Theoriebildung um ihrer tautologischen Begründung weiß. Der Vorwurf, dass bei Bourdieu die »theologische Komplexität […] auf den Mechanismus der Produktion«59 reduziert wird, kann auch von 52 Vgl. dazu Niklas Luhmann: Vom Sinn religiöser Kommunikation, in: Karl Gabriel u. a. (Hg.): Modernität und Solidarität. Konsequenzen gesellschaftlicher Modernisierung. Für FranzXaver Kaufmann, Freiburg i.Br. 1997, 163–174, bes. 165–166. 53 Vgl. Luhmann: Soziale Systeme (s. Anm. 51), 96–97. 54 Pierre Bourdieu/Loïc J. D. Wacquant: Die Ziele der reflexiven Soziologie. Chicago-Seminar, Winter 1987, in: dies. (Hg.): Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 1996, (95–249) 134. 55 Vgl. Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Frankfurt a.M. 2000, 13–14. 56 Vgl. Armin Nassehi: Sozialer Sinn, in: ders./Nollmann: Bourdieu und Luhmann (s. Anm. 29), (155–188) 169. 57 Vgl. Bourdieu: Sozialer Sinn (s. Anm. 10), 122–123. 58 Falk Wagner: Kann die Religion der Moderne die Moderne der Religion ertragen? Religionssoziologische und theologisch-philosophische Erwägungen im Anschluß an Niklas Luhmann, in: Christian Danz u. a. (Hg.): Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik. Perspektiven philosophischer Theologie (BRTh 15), Frankfurt a.M. 2005, (173–201) 184. 59 Graham Ward: Kulturkritik im Dienste der Theologie. Ein Vergleich zwischen Michel

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jenen formuliert werden, die in einer soziologischen Beobachterperspektive ihre hermeneutische Autorität gefährdet sehen. Vielmehr sollten Religionen und Denominationen ihre Teilnahme im Kampf um knappe Heilsgüter reflektieren, als eine Form von Ökonomisierung, der sich Religionen gleichzeitig entziehen als auch notgedrungen partizipieren müssen. Diesen »Imperativ der Ökonomie des Charisma[s]« beschreibt Bourdieu als Wechselwirkung aus »internen Zwängen« und »externen Kräften«.60 Einerseits herrscht intern auf die Religion (oder Denomination) ein starker Druck auf Vereinheitlichung und Reproduzierbarkeit von Form und Inhalt, der von dogmatischem Konsens über theologische Ausbildung und bürokratische Nachvollziehbarkeit bis hin zu einem Kirchenimage reicht. Das sich ändernde Nachfrageverhalten von Laien bedeutet andererseits einen externen Druck für Religion und Kirchenstrukturen. Die Kirche bzw. religiöse Organisationen reflektieren laufend, ob und wie sie sich zum gesellschaftlichen Wandel verhalten.61 Fragen zum Verhältnis von Religion zur jeweiligen Kultur und Gesellschaft können sowohl mit Kompromiss als auch mit Abschottung beantwortet werden. In Bourdieus Konzept eines Religionsmarktes geht es v. a. darum, wie sich dabei das Verhältnis der religiösen Akteur*innen zueinander verändert.62 Für eine selbstreflexive Kirche bedeutete dies, das Verhältnis von Amtsautorität und Machtstrukturen stärker in den Blick zu nehmen. Spannungen zwischen Kirche, Gesellschaft und Politik (Macht) sind in diesem Fall weniger mittels einer hermeneutischen Hoheit oder Autorität zu lösen, weil diese als Übersetzung eines bürgerlichen Habitus entlarvt werden. Dass die Ausdifferenzierung religiöser Gruppierungen nicht nur theologisch, sondern v. a. auch sozial erklärt wird, ist ein weiterer Aspekt Bourdieus Religionssoziologie. Die wachsende Konkurrenz um Anerkennung und Legitimität auf dem Markt evangelischer Religionsgemeinschaften hat mit der Aufnahme der Freikirchen 2013 als gesetzlich anerkannte Kirche zu ihrer juristischen Konsequenz geführt.63 Die Freikirchen beteiligen sich ebenfalls im Wettbewerb um Nachfrage und Angebot protestantischer Profile, Images und Corporate Identities wie Tradition, Werte, Solidarität, Spiritualismus, Freiheit, allgemeines

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Foucault und Pierre Bourdieu, in: Christian Bauer/Michael Hölzl (Hg.): Gottes und des Menschen Tod? Die Theologie vor der Herausforderung Michel Foucaults, Mainz 2003, (129–141) 133. Bourdieu: Genese und Struktur (s. Anm. 35), 74. Es sind auch Versuche unternommen worden, aus der Religionssoziologie Bourdieus theologische Überlegungen anzustellen; vgl. dazu Heinrich Schäfer: Praxis – Theologie – Religion. Grundlinien einer Theologie- und Religionstheorie im Anschluss an Pierre Bourdieu, Frankfurt a.M. 2004. Vgl. Bourdieu: Genese und Struktur (s. Anm. 35), 75. Zu den 2013 unter dem Dachverband »Freikirchen in Österreich« aufgenommenen Bünde gehören die Baptisten, die Elaia Christengemeinden, der Bund evangelikaler Gemeinden, die Freien Christengemeinden (Pfingstgemeinden) und die Mennoniten.

Religion – Macht – Verblendung

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Priestertum, Liturgie etc. und um begrenzte Güter wie Mitglieder, Gelder oder staatliche Rechte und Pflichten.64 Inwiefern Zusammenarbeit oder Abgrenzung mit Denominationen ähnlicher Interessen Vorteile oder Nachteile bringt, ist wiederum abhängig davon, wie sich die Kirche als Institution positionieren bzw. welche (individuellen) Ziele ihre Funktionsträger*innen verfolgen. Mit Bourdieu ist kritisch zu fragen, wie Entscheidungen im Namen einer Kirchengemeinschaft getroffen werden, die den Bedingungen aus religiösem Habitus als praktischem Sinn und machtstrategischen Kalkülen entspringen. Denn im Gegensatz zu klassischen Handlungstheorien wird nicht mehr von einem Handlungssubjekt ausgegangen, dass aus Sinnansprüchen Sinnvollzüge generiert. Der praktische Sinn erzeugt als ein sozialer Sinn nicht-intentionale Praktiken, die auf das religiöse Feld als Erzeuger und Bestimmungsort angepasst sind.65 Die etablierten christlichen Kirchen stehen in einem apologetischen Zweifrontenkrieg: Auf der einen Seite verlieren sie Mitglieder an die Freikirchen, die ihre Glaubensvollzüge weniger von systematisch-theologischen Reflexionstraditionen abhängig machen (es sind dies eher statements of faith), sondern sich vielmehr eine Moralund Wertegemeinschaft versprechen und dadurch als Prophetien (oder Häresien) eine Neuordnung der Regeln im religiösen Feld anstreben. Auf der anderen Seite fordert der »Laienintellektualismus«66 die Kirchen dazu auf, die Vereinbarkeit von Vernunft und Glauben zu verteidigen. Die Kirchen sehen sich veranlasst, »religiöse[…] Profile«67 zu evaluieren, welche die eigene Denomination theologisch (praktisch sowie theoretisch), raum-zeitlich, aber auch sozial als Identifikationsgröße ausweist. Die übereinanderliegenden Felder von Macht und Religion zeigen, so Bourdieu, dass v. a. die Kirche als Institutionalisierung von Religion maßgeblich zur symbolischen Ordnung des Politischen beiträgt. Bourdieu verweist auf sich hierarchisch beziehende soziale Felder und macht auf eine Welt aufmerksam, die als Ressourcenproblem und Deutungshoheitsanspruch zu verstehen ist.68 Die Macht wirkt innerhalb oder oberhalb der diversen Felder als Metastruktur.69 Indem das Alleinstellungsmerkmal des jeweils allmächtigen 64 Vgl. Graf: Götter global (s. Anm. 14), 36–43. 65 Vgl. dazu Robert Schmidt: Art. Praktischer Sinn, in: Fröhlich/Rehbein: Bourdieu-Handbuch (s. Anm. 31), (193–196) 194. 66 Bourdieu: Genese und Struktur (s. Anm. 35), 77. 67 Bourdieu: Genese und Struktur (s. Anm. 35), 76. 68 Georg Kneer: Differenzierung bei Luhmann und Bourdieu. Ein Theorievergleich, in: Nassehi/ Nollmann: Bourdieu und Luhmann (s. Anm. 29), (25–56) 39–40. 69 Vgl. Bourdieu: Praktische Vernunft (s. Anm. 27), 51: »Es ist der Raum der Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Kapitalsorten oder, genauer gesagt, zwischen Akteuren, die in ausreichendem Maße mit einer der verschiedenen Kapitalsorten versehen sind, um gegebenenfalls das entsprechende Feld beherrschen zu können, und deren Kämpfe immer dann an Intensität zunehmen, wenn der relative Wert der verschiedenen Kapitalsorten (zum Beispiel der ›Wechselkurs‹ zwischen kulturellem und ökonomischen Kapital) ins Wanken gerät; vor

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Thomas Scheiwiller

Gottes verschiedener Religionsgemeinschaften hervorgehoben wird, konkurrieren diverse Vorstellungen von sozialer Ordnung. Diese meist sozio-politischen Machtasymmetrien werden nicht selten mittels religiös begründeter Machtansprüche zu regeln versucht.70 Bourdieu beschreibt die (christliche) Kirche funktional als Überwindung der symbolischen Ordnung, indem sie die sozioökonomischen Differenzen theologisch und nicht gesellschaftspolitisch erklärt. Wenn religiöse Institutionen oft ein verblendetes Bild sozio-politischer Täuschung und Selbsttäuschung (an)bieten, dann tragen sie dadurch zur »Aufrechterhaltung der politischen Ordnung« (79) bei. Obschon sozio-politische Ungleichverteilung in der Kirche moralisch kritisiert wird, bleiben diejenigen gesellschaftlichen Asymmetrien unangetastet, die auf der Ebene einer auch die Kirche stützende Staatsautorität angesiedelt sind. Bourdieus These wäre missverstanden, wenn sie als Aufruf zur Politisierung von Kirchen gedeutet wird. Vielmehr macht sie auf ein Autoritätssystem aufmerksam, in dem Akteur*innen ihre soziale Stellung in einem religiösen Feld behaupten und sichern wollen. Die Kirche und ihre Leitungsfunktion begründen ökonomische oder kulturelle Asymmetrien bei ihren eigenen Mitgliedern als unhinterfragte Ungerechtigkeit und nicht mit der Offenlegung sozio-kultureller Undurchdringlichkeit, die als Gesetz machtpolitischen Erfolgs bereits in die Körper sozialer Klassen eingeschrieben ist (Habitus). Dass sie damit als »religiöse Autorität«71 an der »symbolischen Gewalt«72 politischer Konformität auf Kosten sozialer Ungleichheit teilhat, beantwortet die Kirche theologisch darin, dass alle Menschen vor Gott gleich viel wert und vor dem Staat gleich frei sind. Wie jede andere Sozialstruktur, welche von diversen Interessen und Vorstellungen getragen ist, ist auch das religiöse Feld milieuabhängig. Um sich vor ständig neuen und kritischen Informationen zu schützen, bildet der Habitus Milieus heraus, die mittels Verdrängung und Intuition Cluster ähnlicher Erfahrung bilden (»Homogamie«).73 Vor diesem Hintergrund besteht für religiöse Institutionen und dessen Akteur*innen die Frage, ob ihr Handeln von spezifischen theologischen Überzeugungen abhängt oder nicht vielmehr sozialer Selbstschutz und damit eine (unbewusste) Stützung des sozio-ökonomischen Status einzelner Akteur*innen ausschlaggebend ist.

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allem also dann, wenn das im Feld bestehende Gleichgewicht zwischen jenen Instanzen bedroht ist, deren spezifische Aufgabe die Reproduktion des Feldes der Macht ist […].« Vgl. Graf: Götter global (s. Anm. 14), 251–253. Bourdieu: Genese und Struktur (s. Anm. 35), 79. Bourdieu: Sozialer Sinn (s. Anm. 10), 231. Bourdieu: Sozialer Sinn (s. Anm. 10), 114.

Friedrich Schumann

Die Phänomenologie Jean-Luc Marions im Horizont einer theologia resurrectionis

Seit geraumer Zeit erlebt die Phänomenologie eine kleine Renaissance, die sie unter anderem der aus dem französischen Sprachraum stammenden sogenannten »Neuen Phänomenologie« zu verdanken hat.1 Gemeinsames Merkmal jener Bewegung stellt der Versuch dar, die (von ihr angenommene) menschliche Grundpassivität im Ereignis der Sinnbildung sowie ihre Konsequenzen für den dann wie auch immer aufgefassten Subjektbegriff angemessen darzustellen. Ein prominenter Vertreter der Neuen Phänomenologie ist dabei Jean-Luc Marion, dessen Theorie saturierter Phänomene breite Rezeption gefunden hat. Bemerkenswert ist dabei sein besonderes Interesse (das er mit vielen weiteren Zentralgestalten jener Neuen Phänomenologie teilt) an religionsphilosophischen und theologischen Fragestellungen. Seine prominente Stellung in der jüngeren Philosophiegeschichte wie auch eben jenes Interesse Marions an religiösen Phänomenen – er selbst ist Katholik – bieten Grund genug, seine Theorie saturierter Phänomene theologisch zu reflektieren. Insbesondere der Topos der Auferstehung Christi bietet sich hierfür an. Da nämlich die Phänomenologie als solche letztlich eine Form von Sinntheorie darstellt, kann sie – in der konkreten Fassung von Marions Ansatz – in einer Zusammensicht mit Theologie womöglich die Verschränkung von Sinnereignis und dem Glaubensgeschehen erhellen, für das das Symbol der Auferstehung gemeinhin gilt. Damit wird sie zum Werkzeug im Baukasten einer Grammatik des Glaubens. Wenn der Satz in Kol 2,12 – »mit ihm seid ihr auch auferstanden durch den Glauben aus der Kraft Gottes, der ihn auferweckt hat« – nicht nur einen historisch-kritisch erarbeiteten tauftheologischen Sitz im Leben antiker Christinnen und Christen besaß, sondern auch Gegenwartsrelevanz hat, fragt eine phänomenologisch inspirierte theologia resurrectionis also nach der Logik jenes Verhältnisses »Auferstehung Christi – Auferstehung im Glauben«, eines Verhältnisses, das in seiner Voll-

1 Zur Einführung in das Denken ihrer Zentralgestalten vgl. Hans-Dieter Gondek/László Tengelyi: Neue Phänomenologie in Frankreich (Stw 1974), Frankfurt a.M. 2011.

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Friedrich Schumann

zugsgebundenheit oftmals schlicht als unverfügbares ineffabile abgetan und damit in einen Mantel des Schweigens gehüllt wird.2

1

Saturierte Phänomenalität

Ein Grundsatz der husserlschen Phänomenologie besagt, dass Phänomene in der bloßen Tatsache ihrer Gegebenheit ernstzunehmen sind, also unabhängig von ihren etwaigen Erscheinungsgründen.3 Vor diesem Hintergrund, der bereits die phänomenologische Zentralstellung der »vorgängigen Alltagserfahrung« gegenüber begründenden wissenschaftlichen Weltzugängen anzeigt,4 kann der junge Martin Heidegger das Phänomen als das »Sich-an-ihm-selbst-Zeigende«5 definieren. Dabei bleibt ein Phänomen aber immer unter zwei Schranken gegeben: Es schreibt sich einerseits in einen Horizont ein, vor dem es erscheint und gesichtet wird. Andererseits erscheint ein Phänomen immer jemandem, also einem Ich, das die Phänomene im intentionalen Bewusstseinsakt ausrichtet. Ausgehend von diesen Grundsätzen sowie unter Anerkennung von Immanuel Kant, demzufolge Gegenstandserkenntnis ermöglicht wird durch die Korrelation von Anschauung und Begriff,6 kennt die husserlsche Phänomenologie zwei Klassen von Phänomenen: Ideale Phänomene einerseits sowie gängige bzw. reguläre Phänomene andererseits.7 Diese Einteilung verweist wiederum auf die Frage nach Evidenz. Diese tritt nach Edmund Husserl dann auf, wenn sich das in der Anschauung Gegebene völlig mit der Intention des Bewusstseins deckt, 2 Der Aufsatz stellt dabei einen stark verkürzten sowie abgewandelten Auszug aus der Masterarbeit des Verfassers dar, vgl. Friedrich L. Schumann: »Offenbarung« als gemeinsamer Ort von Theologie und Phänomenologie? Versuch, Jean-Luc Marions Theorie saturierter Phänomenalität unter Thematisierung des »Auferstandenen« als Offenbarungsphänomen auf die Probe zu stellen, Universität Wien, Wien 2017. 3 So das 1913 von Husserl formulierte »Prinzip aller Prinzipien«, vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Einführung v. Elisabeth Ströker (PhB 602), Hamburg 2009, 51 [43–44]. 4 Vgl. z. B. im Anschluss an Husserl auch Aron Gurwitsch: Die mitmenschlichen Begegnungen in der Milieuwelt, hg. v. Alexandre Métraux (Phänomenologisch-psychologische Forschungen 16), Berlin 1977, XVIII. 5 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 192006, §7, 31. Die Formulierung findet sich so bzw. so ähnlich bereits in den frühen Vorlesungen Heideggers. 6 »Es sind aber zwei Bedingungen, unter denen allein die Erkenntnis eines Gegenstandes möglich ist, erstlich Anschauung, dadurch derselbe, aber nur als Erscheinung, gegeben wird: zweitens Begriff, dadurch ein Gegenstand gedacht wird, der dieser Anschauung entspricht.« (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann [PhB 505], Hamburg 1998, 171 (B125) [Kursivierungen im Original gesperrt]). 7 Vgl. z. B. Jean-Luc Marion: Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit (Eichstätter philosophische Studien 2), Freiburg i.Br. 2015, 324–340.

Die Phänomenologie Jean-Luc Marions im Horizont einer theologia resurrectionis

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gemäß der klassisch-metaphysischen Korrespondenztheorie, adaequatio rei et intellectus.8 Jene völlige Adäquation ist nach Husserl aber nie bei Phänomenen der Fall, denen sinnliche Anschauung entspricht, sondern lediglich in der Mathematik und formalen Logik; ihre Phänomene nennt Husserl ideale Phänomene. Demgegenüber stehen die gängigen Phänomene sinnlich gegebener Anschauung. Hier kommt es zu keiner Adäquation von Anschauung und Intention, da das menschliche Bewusstsein mit einem Sinn- bzw. Bedeutungsüberschuss an gängige Phänomene herantritt und diese so überbordet werden. Jean-Luc Marion kritisiert an Husserl sowie an Kant, dass beider Phänomenbegriffe mit spekulativen metaphysischen Vorannahmen arbeiten, durch die sie nur zu einer ebenso von vornherein beschränkten Phänomenalität Zugang finden. Gegen jene Tradition bringt Marion die Möglichkeit einer dritten Klasse von Phänomenen ins Spiel, die jenseits von Idealität einerseits und Anschauungsmangel andererseits stehen: Die Möglichkeit anschauungsgesättigter, d. h. saturierter Phänomene. Ein saturiertes Phänomen wäre demnach dadurch gegeben, dass die Anschauung unermesslich viel mehr gibt als das intentionale Bewusstsein anvisieren bzw. vorhersehen kann.9 Nachdem jeder Begriff von der gegebenen Anschauung in diesem Falle übermannt würde, wäre freilich kein phänomenales Verstehen im Kantischen Sinne möglich – das Phänomen bliebe mangels eines adäquaten Begriffs also unbegreiflich. Dennoch würde es unleugbar erfahren werden, und zwar gerade durch den Anschauungsüberschuss auf eine Art, der sich die erfahrende Person nicht entziehen kann. Über dieses Verhältnis »Überborden der Verstehens – unleugbares Erfahren« bestimmt Marion die saturierten Phänomene näher, indem er sie in Auseinandersetzung mit Kants Kategorienlehre, der Tafel der reinen Verstandesbegriffe, also den Grundlagen des Verstehens, erörtert.10 Die Anschauungssättigung eines saturierten Phänomens wird demnach dadurch erfahren, dass in ihm zumindest eine, womöglich aber auch alle, dieser Kategorien des Verstehens übermannt wird. Jeder Form kategorialer Anschauungssättigung weist Marion dabei einen konkreten Typ, gewissermaßen ein Beispiel par excellence, zu. Dass jene im Folgenden dargestellten Typen saturierter Phänomene (Ereignis, Idol, Leib, Ikone) allerdings von Marion selbst sowie in der bislang stattgefundenen Rezeption seiner Arbeit letztlich verabsolutiert worden sind, in der Form einer Identifikation der Beispiele mit dem von ihnen beispielhaft Repräsentierten, ist 8 Vgl. auch Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 325. 9 Vgl. Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 336. 10 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft (s. Anm. 6), 156 (B106). Die Verstandesbegriffe sind bei Kant eingeteilt in die Kategorien der Quantität (Einheit, Vielheit, Allheit), Qualität (Realität, Negation, Limitation), Relation (Inhärenz und Subsistenz, Kausalität und Dependenz, Gemeinschaft bzw. Wechselwirkung) sowie Modalität (Möglichkeit-Unmöglichkeit, DaseinNichtsein, Notwendigkeit-Zufälligkeit).

250

Friedrich Schumann

ein grober methodischer Fehler der bisherigen Forschung, der im zweiten Teil dieses Aufsatzes kritisch-produktive Umwendung finden wird.

1.1

Marions Typologie saturierter Phänomene

Hinsichtlich der Kategorien der Quantität11 – erstens – ist ein saturiertes Phänomen nach der Beschreibung Marions unanvisierbar, das heißt unvorhersehbar, da es schlechthin inkommensurabel ist. Das liegt daran, dass in ihm die kantische sukzessive Synthesis, durch die Quanta zu einem Quantum addiert werden und so Vorhersagbarkeit generiert wird,12 nicht greift, sondern vielmehr, so Marion, von einer »prompten Synthesis« gesprochen werden muss.13 Konkret bedeutet dies, dass solch ein saturiertes Phänomen Erstaunen hervorruft, gerade weil es so »groß« ist, dass es nur partiell erkannt werden kann. Es gibt sich als Ereignis.14 Ereignisse im philosophischen Sinne zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie jeden individuellen bzw. Einheitshorizont übersteigen. Um beispielsweise ein Geschichtsereignis zu rekonstruieren, müssen unzählige Horizonte zusammentragen werden, um sich ein Bild von ihm machen zu können, und selbst dann wird nie alles darüber ausgesagt werden können. Das Ereignis führt so in eine unendliche Hermeneutik, die gemeinschaftsstiftend wirkt, indem nämlich der Diskurs über Ereignisse selbst Geschichte wird und durch seine prinzipielle Unabschließbarkeit immer neu Kommunikation und damit kommunizierende Gemeinschaft hervorbringt. Neben der extensiven Größe der Quantität kennt Kant zweitens die intensive Größe der Qualität.15 Hinsichtlich dieser wird ein saturiertes Phänomen als unerträglich wahrgenommen, also als derart intensiv, dass es das beobachtende Bewusstsein blendet. Diese Blendung ist somit keine Blindheit durch Anschauungsmangel, sondern ein Zu-viel-Sehen durch Anschauungsüberschuss. Marion nennt diese offensichtlich von apophatischen Traditionen der Theologie beeinflusste Form des saturierten Phänomens das Idol.16 Das Idol tritt beispielsweise im Kunstwerk auf. Vor einem Gemälde muss die betrachtende Person zunächst innehalten, womit ihre eigene Intentionalität zum Stillstand kommt. In einem Gemälde kann sodann nie alles gesichtet werden, dafür gibt es zu viel Stoff her. Es 11 12 13 14

Vgl. zu Folgendem Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 341–345. Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft (s. Anm. 6), 262 (B204). Vgl. Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 342–343. Vgl. zu Folgendem Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 383–385. Im Hintergrund stehen hier Paul Ricoeurs Arbeiten über das Geschichtsereignis. 15 Vgl. zu Folgendem Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 345–351. 16 Vgl. hierzu Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 385–387; Marion zeigt sich hier kritisch beeinflusst von Jacques Derrida.

Die Phänomenologie Jean-Luc Marions im Horizont einer theologia resurrectionis

251

veranlasst dazu, wieder und wieder betrachtet zu werden, immer neue Erfahrungen an das Gemälde heranzutragen, das Idol evoziert so Jemeinigkeit.17 Zwar kann sich die betrachtende Person über das Gegebene informieren, d. h. über die Hintergründe des Gemäldes, sein Entstehen, Maler bzw. Malerin, Interpretationen etc., doch würde sie das hinsichtlich der bloßen Gegebenheit des Gemäldes nicht nur nicht weiterbringen, es könnte sogar ihren Blick versperren. Die Gefahr der Idolatrie ist dabei insofern gegeben, als das Idol dazu verlockt, seine Unendlichkeit in endliche Begriffe zu fassen, d. h., definitive Aussagen über das saturierte Phänomen zu treffen und so, um auf Paul Tillich zu rekurrieren, die bedingte Form zum Unbedingten zu erheben.18 Hinsichtlich der Relation19 kann ein saturiertes Phänomen sich drittens als absolut geben, insofern es sich jeder Analogie der Erfahrung entzieht und somit jeden Horizont ausfüllt oder übersteigt. Das in der Phänomenologie bereits klassische Beispiel hierfür wäre der fleischlich gegebene Leib.20 Bereits Husserl und dann insbesondere Maurice Merleau-Ponty und Michel Henry haben über den Leib bzw. das Fleisch geschrieben.21 Der Leib zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er jeder Relationalität vorausgeht, seine Absolutheit meint die in ihm gegebene unhintergehbare Identität von Berührendem und Berührtem bzw. die autoaffektive Einheit von Affizierendem und Affiziertem, die wiederum nur jemeinig erfasst werden kann. Die Kategorien der Modalität22 schließlich und viertens thematisieren den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken, während die oben genannten drei 17 Vgl. Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 385; sowie Heidegger: Sein und Zeit (s. Anm. 5), §9, 41– 42 u. ö. 18 Interessant ist hierbei freilich die Nähe Marions zu Paul Tillichs symboltheoretischem Idolatriebegriff, vgl. Paul Tillich: Wesen und Wandel des Glaubens, in: ders.: Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie 2 (Paul Tillich: Gesammelte Werke 8), Stuttgart 1970, (111– 196) 147. 19 Vgl. zu Folgendem Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 351–358. 20 Vgl. hierzu Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 387–389. Marion schreibt la chair, im Hintergrund steht hier vor allem Michel Henry, der, auch in Abgrenzung zu Merleau-Ponty, dezidiert vom Fleisch, nicht vom Leib spricht. Auf die übersetzerische Schwierigkeit, dass es nämlich kein französisches Äquivalent zum deutschen »Leib« (neben Fleisch, franz. chair, und Körper, franz. corps) gibt, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden; hier hat der Hinweis zu genügen, dass der Leib nach Marion und im Anschluss an Henry immer eine »fleischleibliche« Gegebenheit ist. Vgl. zu der Problematik ausführlich Didier Franck: Chair et corps. Sur la phénoménologie de Husserl (Collection »arguments«), Paris 1981. 21 Vgl. z. B. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, in: ders.: Gesammelte Schriften 8, hg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg 2012, 3–161, hier die Vorlesung über die fünfte Meditation auf S. 89–150; Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (Phänomenologisch-psychologische Forschungen 7), Berlin 1974 (ND der Ausgabe 1966); Michel Henry: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg 32011. 22 Vgl. zu Folgendem Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 359–367.

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Friedrich Schumann

Kategorientafeln die Gegenstände und ihre Relationen thematisieren. Das heißt also: Während die Kategorientafeln der Quantität, Qualität und Relationalität das saturierte Phänomen in Beziehung zum Horizont thematisieren, wird nun gefragt, wie das Ich in Beziehung zum Anschauungsüberschuss steht. Diesem gibt sich das saturierte Phänomen in seiner modalen Sättigung als unanschaubar. Das bedeutet, dass solche Phänomene nicht mehr, wie in der klassischen Phänomenologie, vom intentionalen Bewusstsein her ausgerichtet und erfahren werden, sondern dass sie sich jeder Vergegenständlichung entziehen und so Gegenerfahrung erzeugen. Anders formuliert, richtet in der Klasse der saturierten Phänomene nicht mehr das Ich die Phänomene aus, sondern umgekehrt, das Phänomen richtet das Ich aus, indem sich das Subjekt als Gerufenes vorfindet. Marion nennt dies die Ikone.23 Im Hintergrund steht dabei Emmanuel Levinas’ Begriff des Antlitzes des Anderen, in dessen Konfrontation sich jeder Mensch allererst selbst erfasst. Verantwortung im Sinne Levinas’ bedeutet den immer schon aufgegebenen aber letztlich individuierenden Zwang des Menschen, sich zum Anderen verhalten zu müssen, also zur Antwort gerufen zu sein. Er verwendet dafür auch den Begriff der Heimsuchung, die in der Epiphanie des Antlitzes liegt.24 Paradoxerweise bleibt dabei jedoch der Andere selbst, sowie seine Intentionen, seine Person, sein Wille, letztlich immer grundlegend entzogen, so wie er sich auch jeder Vergegenständlichung verweigert. Für das Ich folgen daraus zwei Konsequenzen: Zum einen hat es hier keine »transzendentale Funktion des Konstituierens«25 des Phänomens mehr inne, zum anderen erfasst es sich demgegenüber in seiner Funktion als Zeuge bzw. Zeugin, denn der Blick des Anderen gilt nicht einem Ich, sondern einem Mir. Zeuge und Zeugin aber erschließen sich selbst per definitionem immer aus dem von ihnen Bezeugten.

1.2

Saturiertheit zweiten Grades: Das Offenbarungsphänomen

Bereits Husserl hatte, interessiert an der Frage nach Evidenz und Wahrheit, nach einem möglichen Maximum von Phänomenalität gefragt. Marion tut das Gleiche unter veränderten Vorannahmen:26 Saturierte Phänomene werden, kurz gesagt, als paradoxe Situationen wahrgenommen. Gibt es aber die Möglichkeit eines Phänomens, das hinsichtlich aller vier Kategorientafeln saturiert ist? Solch ein Phänomen maximaler Anschauungssättigung wäre demnach das Paradox der 23 Vgl. hierzu Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 389–391. 24 Vgl. z. B. Emmanuel Levinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, hg. v. Wolfgang Nikolaus Krewani (Alber-Studienausgabe), Freiburg i.Br. 62012, 221 u. ö. 25 Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 390. 26 Vgl. zu Folgendem Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 392–402, insb. 392–395.

Die Phänomenologie Jean-Luc Marions im Horizont einer theologia resurrectionis

253

Paradoxe, oder, um das griechische Wort zu verwenden, das unter anderem auch in der altkirchlichen Theologie Verwendung fand (sowie auch beispielsweise bei Johannes Calvin,27 was Marion jedoch unverwunderlicherweise nicht wahrgenommen hat): das παραδοξότατον.28 Hier führt Marion nun seinen Offenbarungsbegriff ein. Ein Offenbarungsphänomen zeichnet sich Marion zufolge durch jenes Maximum an Anschauungsüberschuss aus, durch eine »Saturiertheit zweiten Grades«. Es übersteigt jeweils die Kategorien der Quantität, Qualität, Relation sowie Modalität, wodurch es in der Folge zu einer »Sättigung der Sättigung« kommt. Während saturierte Phänomene per se Marion zufolge nichts Außergewöhnliches, sondern lediglich etwas philosophiegeschichtlich zu Unrecht Missachtetes darstellen, wäre dieser fünfte Typ – das Offenbarungsphänomen – nun doch ein Grenzfall der phänomenalen Ordnung. Marion selbst versteht seinen Ansatz dabei als genuin phänomenologisch, also philosophisch.29 Um nicht in die Gefilde der Theologie vorzudringen, legt er stets großen Wert darauf, dass er lediglich die Frage nach der Möglichkeit von Offenbarung (franz. révélation) stellt. Demgegenüber steht die laut Marion von der Theologie gestellte Frage nach der Wirklichkeit von Offenbarung (franz. Révélation).30 Im Bereich des Offenbarungsphänomens treffen Phänomenologie und Theologie also aufeinander, überschneiden sich sogar, ohne jedoch miteinander identifiziert werden zu können. Ist die Theorie saturierter Phänomene ernstzunehmen, müsste es demnach möglich sein, die Auferstehung Christi als Offenbarungsgeschehen hinsichtlich ihrer vierfachen Sättigung zu interpretieren. Damit wäre dann auch der Forderung Marions an die Theologie entsprochen, einen diesbezüglichen kritischen Prüfstein bereitzustellen.31

27 Johannes Calvin: Institutio Christianae Religionis, London 1576, 270–271 (Institutio 3,2,33), verfügbar unter: https://archive.org/details/institutiochristlond00calv [10. 07. 2018]. 28 Marion dürfte hier zunächst jedoch Einfluss vonseiten Jean-Louis Chrétiens erfahren haben, der über das παραδοξότατον bzw. den Begriff des Paradoxen bei Philon von Alexandrien geschrieben hat (vgl. Jean-Louis Chrétien: The Call and the Response [Perspectives in Continental Philosophy 33], New York 2004, 40). 29 Die Frage über die Zulässigkeit der Aufnahme theologischer Bezugspunkte innerhalb der Phänomenologie ist dabei Gegenstand einer Debatte geworden, vgl. Dominique Janicaud: Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, hg. v. Marco Gutjahr (Re.visionen 3), Wien 2014. 30 Vgl. Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 395–396. 31 Vgl. z. B. Jean-Luc Marion: Eine andere »Erste Philosophie« und die Frage der Gegebenheit, in: Michael Gabel/Hans Joas (Hg.): Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion (Scientia & Religio 4), Freiburg i.Br. 2007, (56–77) 74–77.

254 1.3

Friedrich Schumann

Einige kritische Bemerkungen

Zunächst muss an dieser Stelle jedoch auf einige Kritikpunkte an Marions Phänomenologie hingewiesen werden, wenn sie auch nicht erschöpfend behandelt werden können. Denn freilich sind seine Arbeiten in der Forschung nicht ohne Widerspruch geblieben. Eine Fundamentalkritik von philosophischer Seite hat Lorenz B. Puntel vorgelegt,32 während theologischerseits beispielsweise Ingolf U. Dalferth zentrale Kritikpunkte aufgeworfen hat.33 Doch auch das hier bisher Gebrachte wirft einige kritische Bemerkungen auf, die im Folgenden zumindest angerissen werden sollen. So ist hinsichtlich Marions Husserlrezeption einerseits zu bemerken, dass der Horizontbegriff des Franzosen statischer wirkt als jener seines Urhebers. Wenn das saturierte Phänomen nach Marion einen oder sogar mehrere als scheinbare Fixsterne bestehende Horizonte schlichtweg übersteigt, bleibt nach den Konsequenzen einer rejustierten Theorie saturierter Phänomene zu fragen, die mit einem (bereits bei Husserl angelegten) wesentlich dynamischeren und flexibleren Horizontmodell agiert. Andererseits fällt im Zusammenhang damit Marions völlige Auslassung der husserlschen späten Lebensweltphänomenologie bzw. des Lebensweltbegriffes als solchem auf. Kann aber irgendein Phänomen – und sei es noch so widerfahrend, offenbarend und damit v. a. »neu ausrichtend« – unabhängig von der vorgängigen Lebenswelt seines Zeugen gedacht werden? Neben Husserl rekurriert Marion offensichtlich auf Kants Epistemologie. Auch in diesem Falle können zumindest zwei Anfragen an Marion geäußert werden, von denen die erste den Verdacht eines Zirkelschlusses beinhaltet. Die Theorie saturierter Phänomene läuft in ihrer von Marions intendierten Konsequenz auf die Zerschlagung eines transzendentalen Subjektbegriffes hinaus. Gleichzeitig präsupponiert sie, wie oben eingehend ausgeführt, die Kantischen Verstandeskategorien. Diese aber haben wiederum den Gedanken eines transzendentalen Ich zur notwendigen Voraussetzung. Marion versucht also seine eigenen Grundlagen zur widerlegen. Er tut dies zu guter Letzt unter anderem, indem er in Abgrenzung zu Kants »sukzessiver Synthesis« den für ihn zentralen Gedanken einer »prompten Synthesis« (s. o. 1.1) einführt, mit dem er aber letztlich – und das gilt folglich auch für seinen Offenbarungsbegriff – einer supranaturalistischen Position phänomenologischen Anstrich verpasst und der 32 Puntel zufolge nimmt Marion in seiner Theoriebildung unzulässigerweise den Reflexionsstandpunkt Gottes ein, vgl. Jean-Luc Marion: Eine fundamentale und umfassende Kritik der Denkrichtung Jean-Luc Marions, in: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hg.): Jean-Luc Marion. Studien zum Werk, Dresden 2013, (47–101) 93. 33 Nach Dalferth formuliert Marion mit dem saturierten Phänomen einen negativen Grenzbegriff, gibt ihn jedoch als positiven Bestimmungsbegriff aus, vgl. Ingolf U. Dalferth: Radikale Theologie (ThLZ.F 23), Leipzig 32013, 211 (Anm. 277).

Die Phänomenologie Jean-Luc Marions im Horizont einer theologia resurrectionis

255

eine contradictio in adiecto darstellt, insofern sich nämlich die prompte Synthesis ihrem Begriff nach ihren eigenen zureichenden Grund entzieht (darauf will er hinaus). Dadurch untergräbt sie jedoch das eigentliche Wesen des Synthesisgedankens (a + b = c). Demgegenüber ist anzumerken, dass Kant selbst in der ersten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« den Gedanken einer »augenblicklichen Synthesis« andeutet,34 die dort jedoch – gerade da der Augenblick den Zeitfluss und also die Sukzession einklammert – die »Intensität eines Quale konstituiert«35 (also z. B. die Erfahrung der Wärme eines Gegenstandes) und von daher nicht die Kategorien der Quantität sondern der Qualität betrifft. Unter Hinweis dieser hier nicht weiter zu ausdiskutierenden Kritikpunkte soll im Folgenden die Anwendung der Theorie saturierter Phänomene auf den theologischen Topos der Auferstehung angepeilt werden.

2

Der Auferstandene als Offenbarungsphänomen

»Die Auferstehung Christi« ist eine in gewisser Weise äußerst vage Bezeichnung, in deren Bereich so diverse Narrative wie die Erscheinungsberichte oder aber auch jene des leeren Grabes fallen. Insofern handelt sie sowohl von der (zumindest zunächst augenscheinlichen) Abwesenheit des Gekreuzigten wie auch von der Präsenz des Auferweckten. So muss also, entsprechend der Unterscheidung von »Gestalt und Gestaltung«36, zunächst zwischen dem auferstandenen bzw. auferweckten Christus einerseits und jenem absolut-metaphorischen Komplex der Auferstehung bzw. Auferweckung Christi andererseits differenziert werden. Am Anfang der Ostererfahrung stand, wie Dalferth konstatiert, nicht die »Auferstehung« oder »Auferweckung« als solche, schon gar nicht das leere Grab, sondern die paradoxen Erscheinungen des auferweckten Gekreuzigten. Erst »retroaktiv« wurde der Topos der Auferweckung vermittels Abduktion zur umfassenden Metapher, die die Erfahrung der Erscheinungen des Lebendigen mit der Erfahrung des Kreuzestodes verknüpft und zur Sprache bringt.37 Dementsprechend werden die ersten Zeugen auch »Erscheinungszeugen, nicht […] 34 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft (s. Anm. 6), 209 (A99); ob sich Marion dessen bewusst ist, ist fraglich. 35 Alberto Rosales: Sein und Subjektivität bei Kant. Zum subjektiven Ursprung der Kategorien (KantSt.E 135), Berlin 2000, 234. 36 So (unter Bezugnahme auf Gerhard Koch) Hans Urs von Balthasar: Theologie der drei Tage, Freiburg 22011, 238. 37 Vgl. z. B. Ingolf U. Dalferth, Volles Grab, leerer Glaube? Zum Streit um die Auferweckung des Gekreuzigten, in: Hans-Joachim Eckstein/Michael Welker (Hg.): Die Wirklichkeit der Auferstehung, Neukirchen-Vluyn 2002, (277–331) 287–289.

256

Friedrich Schumann

Auferweckungszeugen genannt.«38 Auch hier kommt also der Manifestation des auferweckten Gekreuzigten ein Primat zu. Dementsprechend kann es im Folgenden auch nicht um »die Auferstehung«, sondern nur um »den Auferstandenen« gehen39 – er ist die phänomenale Manifestation, die erste Gegebenheit und insofern gewissermaßen die Urimpression des hier Thematisierten.

2.1

Das manifeste Ereignis

Die biblisch festgehaltenen Auferstehungserscheinungen können mit einigem Recht im Leben und Erleben der Erscheinungszeugen als Ereignis, d. h., als saturiertes Phänomen hinsichtlich der Kategorien der Quantität, interpretiert werden. Die Manifestation Christi – der Auferstandene als der in »voller Phänomenalität sich Manifestierende« (ἐφανερώθη)40 – gibt sich eben nicht vom bemessenden Blick her, sondern völlig aus sich selbst heraus (auf neutestamentlicher Textebene beispielsweise angezeigt durch den passiven Aorist ὤφθη41) und entgegen aller Erwartung, das heißt: entgegen aller Erfahrung und Möglichkeit, unanvisierbar. Dabei ist jedoch zu warnen vor einer vorschnellen Klassifizierung jenes Ereignisses als »Geschichtsereignis«,42 wie dies unter Hinsicht auf die Auferstehung u. a. bei Wolfhart Pannenberg (affirmativ) oder Gerd Lüdemann (aversiv) geschieht. »[E]s ist ein Fehler zu meinen, der Glaube beruhe nur auf Geschichte […] Nur nach dem Kreuz, nicht aber nach der Auferweckung 38 Dalferth: Volles Grab (s. Anm. 37), 286. 39 Dalferth argumentiert zwar, dass der Begriff der Auferweckung von theologisch bzw. hermeneutisch größerer Relevanz ist als jener der Auferstehung, insofern die Rede von der Auferweckung das Handeln Gottes stärker betont als jene von der Auferstehung (vgl. Dalferth: Volles Grab [s. Anm. 37], 284). Auch unter Beachtung der neutestamentlichen Texte muss strenggenommen freilich die Unterscheidung von ἐγείρω und ἀνίστημι offengehalten werden. Dennoch wird im Folgenden vom »Auferstandenen« gesprochen werden. Das liegt zum einen daran, dass hier dafür plädiert wird, den Auferstehungsbegriff durch die starke Betonung der Auferweckung nicht zu sehr abzuwerten (vgl. unten Anm. 70). Zum anderen sahen die Betroffenen der Erscheinungen »die Initiative dieser Wahrnehmung […] bei dem wahrgenommenen Jesus […] selbst, der sich gerade ihnen zeigte.« (Dalferth: Volles Grab [s. Anm. 37], 288) Als Sich-an-ihm-selbst-Zeigender kann von dem lebendigen Christus hier und in der Folge mit einigem Recht als dem Auferstandenen geredet werden. 40 Vgl. z. B. Mk 16,12.14; Joh 21,14; sowie Jean-Luc Marion: Givenness & Revelation, Oxford 2016, 48. 41 Vgl. z. B. in Bezug auf die Erscheinungen des Auferstandenen 1 Kor 15,5–8; Lk 24,34 u. ö.; sowie Marion: Givenness (s. Anm. 40), 48–49. Marion zitiert an dieser Stelle den ihn stark beeinflussenden Hans Urs von Balthasar nicht, sie ist jedoch sicher nicht zufällig beinahe ident mit Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 211. Auch hier wird jener passive Aorist als Zeichen für den lebendigen Christus gedeutet, der sich »von sich her« zeigt. 42 Gegen Marion, der nicht zwischen Ereignis und Geschichtsereignis unterscheidet, vgl. Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 383–385.

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kann […] historisch gefragt werden. Für den Glauben ist das Kreuz allerdings nur aufgrund der Auferweckung interessant.«43 Das, was unter Verwendung der Methode der Abduktion in absolut-metaphorischer Weise dann »Auferstehung Christi« genannt wurde, ist uns als historisches Ereignis nicht zugänglich.44 Was hingegen sehr wohl vorliegt, sind Erscheinungsberichte, im Falle des Paulus sogar aus erster Hand (1 Kor 15,8; Gal 1,11–17), die – in welcher konkreten Form auch immer – als empirisches Widerfahrnis gedeutet werden müssen.45 Ferner, wissen wir »von Paulus […], daß er wider Erwarten und wider seinen Willen ›von Christus ergriffen‹ wurde (Phil 3,12) und daß er selbst die Begegnung mit dem Auferweckten von anderen ekstatischen Erlebnissen und Offenbarungen unterschied (2 Kor 12,2–4).«46 Während also der Auferstehung ein völlig anderer Status beigemessen werden muss als Geschichtsereignissen, kann der Auferstandene, dessen Erscheinungen in Bekenntnisformeln sowie biblischen Narrativen bezeugt sind, als manifestes Ereignis interpretiert werden. Dass die Rede von der Auferstehung Christi als Deutung der Erscheinungen (sowie des Kreuzestodes) auf ein Ereignis hinweist, zeigt sich schon daran, dass auch bei jenen das »Sprechen als Sprechen […] immer nach dem Ereignis«47 kommt. Der menschliche Deutungsversuch über den Weg der Rekonstruktion, sprachlich mittelbar gemacht z. B. durch die Grabeserzählungen, fußt gerade auf der Erfahrung eines »unzureichenden Grundes« einer gleichzeitig überreichen anschaulichen Gegebenheit. Die Erscheinungen des Auferstandenen stellen ein manifestes Ereignis dar, insofern sie Anlass dazu geben, zwischen Kreuzestod und Erscheinungserfahrung eine zumindest einigermaßen nachvollziehbare Kette herzustellen. Den hermeneutischen Schlüssel bildet dabei die Metapher vom Handeln Gottes. Insofern aber vom Handeln Gottes gesprochen wird, entzieht sich das Ereignis der Auferstehung jeder Kausalität – denn die scheinbare Kausalverknüpfung »Gott handelt → Christus ist auferstanden« ist eben genau keine Kausalität, insofern der Kausalitätsbegriff nicht auf die Metapher vom Handeln Gottes anzuwenden ist. Es gilt eher im Gegenteil, dass ein mögliches 43 Dalferth: Volles Grab (s. Anm. 37), 283. 44 Balthasar spricht – im Gegensatz zu Dalferth – in abgeschwächter Form von der Auferstehung als metahistorischem Geschehen. Er rechnet ihr gewissermaßen Teilhistorizität bei, insofern er von einem »›historischen Rand‹ der Auferstehung« spricht und sich gegen die Alternative von historisch und unhistorisch wendet (Balthasar: Theologie der drei Tage [s. Anm. 36], 185– 186, Zitat: 185). 45 Die Verwendung von ὤφθη lässt dabei auf eine sinnlich gegebene Anschauung schließen. Hierauf, sowie auf die klassischen Einwände (es handelte sich um bloße Halluzinationen etc.), kann an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen werden. Vgl. die zusammenfassende Diskussion der Sachlage bei Dalferth: Volles Grab (s. Anm. 37), 290–293, sowie ders.: Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 68. 46 Dalferth: Volles Grab (s. Anm. 37), 290–291. 47 Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen (Internationaler Merve Diskurs 254), Berlin 2003, 21.

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Bedeutungsfeld dieser Trope doch gerade das ereignishafte Phänomen umschließen dürfte, dessen Gegebenheit als jenseits eines zureichenden Grundes wahrgenommen wird. Die Manifestation des Auferstandenen geschieht und widerfährt auf analogielose Art und Weise.48 Mehr noch, sie ist auch insofern ereignishaft – und damit nach Marion unvorhersehbar –, als »[d]as Phänomen Christi […] in der Anschauung […] radikal anders ist als alles, was es gleichwohl zur Erfüllung gebracht hat«49, also beispielsweise alttestamentliche Prophezeiungen oder Jesu eigene Ankündigungen. Diese Analogielosigkeit, Unvorhersehbarkeit sowie Inkommensurabilität führt in ihrer Konsequenz zu jener völligen Überraschung, zu der Furcht und der Freude – bzw. einem paradoxen Zusammenkommen der beiden Letztgenannten –, die in den Erscheinungsberichten (sowie den Grabeserzählungen) allgegenwärtig ist.50 Die weitere Folge davon ist nun aber ganz logischerweise, dass zur Aussagbarkeit dieses Ereignisses unzählig viele Horizonte und Perspektiven zusammengetragen werden müssen, die jenes unklare Feld der Auferstehung bilden und die die Debatte über sie bis heute so lebendig halten. Gerade auch in dieser »Vergeschichtung« ist das manifeste Ereignis des Auferstandenen in der Folge Grundlage für Gemeinschaftsfindung und -bildung. Dabei ist jedoch abschließend zu bemerken, dass, wenn hier von Gemeinschaftsstiftung durch den Auferstandenen als »manifestem Ereignis« die Rede ist, dieser Gemeinschaft nicht vorschnell ekklesiale Züge beigemessen werden dürfen: Der hier vorliegende Begriff von Gemeinschaft ist als Diskursgemeinschaft insofern weiter zu fassen, als ihr – um im Feld biblischer Narrative zu bleiben – beispielsweise der Hohe Rat um den Hohepriester Hannas ebenso zuzurechnen ist wie Petrus und Johannes, insofern sie miteinander in Kommunikation über die Auferstehung Christi von den Toten treten (Apg 4,1–22; 5,17–42). Die Teilhabe an dieser Gemeinschaft setzt also zwar die Auferstehung (oder zumindest ihre Behauptung) voraus, doch nicht das Bekenntnis zu ihr. Erst das Bekenntnis jedoch, so Hans Urs von Balthasar, »ist kirchenbegründend.«51

2.2

Die Blendung seiner Erscheinung

Während also Einsicht in »die Auferstehung« letztlich verwehrt bleibt, ist neben dem Gekreuzigten das schlichte »Auftreten eines von den Anhängern Jesu […] verbreiteten Gerüchts, dieser sei ihnen nach seinem Tod als Lebender erschie48 Zur Analogielosigkeit der Auferstehung vgl. Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 184–185. 49 Marion: Gegeben sei (s. Anm. 7), 396. 50 Vgl. z. B. Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 193. 51 Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 181.

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nen«52, historisch unbestreitbar. Die entsprechenden Stellen bei Paulus sind dabei zwar die einzigen, aber dafür genuinen Zeugnisse, die uns aus erster Hand erhalten sind. Später sind die bezeugten Erscheinungen in vielfältiger narrativer Form ausgestaltet worden. Ihnen kommt an dieser Stelle insofern ein großer Wert zu, als sie sich interessanterweise alle in einem Merkmal treffen, so unabhängig sie in ihren Traditionen sein mögen:53 Ihnen gemeinsam ist der Aspekt der »Blendung« des Offenbarungsphänomens. Der von Marion als »Idol« bezeichnete Typus saturierter Phänomene zeichnet sich, wie im vergangenen Kapitel ausgeführt, zunächst dadurch aus, dass in ihm die Aktivität des intentionalen Bewusstseins zunächst zum Stillstand kommt: Paulus tritt als scharfer Gegner und Verfolger einer neuen Sekte auf und wähnt sich darin unerschütterlich (Gal 1,13–14). Doch muss er angesichts der Offenbarung des Sohnes (Gal 1,15) zunächst innehalten und seine Grundpassivität erfahren: Er wird gegen seinen Willen »ergriffen« (Phil 3,12). Seine Überzeugungen, seine alten, in das Widerfahrnis mitgebrachten »Begriffe«, werden »überbordet«54, geblendet. Im lukanischen Narrativ wird diese Blendung im Anschluss an die alttestamentliche Tradition ganz wörtlich genommen, Paulus erblindet angesichts der sich ihm gebenden δόξα für drei Tage (Apg 9,8–9). Die Dialektik des Idols: »Jesus wird erkannt und ist doch nicht zu erkennen«55. Paulus selbst beschreibt sein Erlebnis in Analogie zu den Erscheinungsberichten seiner Vorgänger wiederum mit dem Begriff ὤφθη (1 Kor 15,8). Hans Urs von Balthasar weist unter Bezug auf Karl Heinrich Rengstorf darauf hin, dass dieser Begriff in der Septuaginta »vor allem dazu [dient], das Erscheinen Gottes oder himmlischer Wesen zu bezeichnen, die ›normalerweise den Augen entzogen sind‹, und zwar deshalb, weil menschliche Sinne sie nicht ertragen würden«56. Bereits für Balthasar wäre es also verkürzt, diesbezüglich von »Visionen« zu sprechen, da hier nicht mehr das Subjekt die Brücke zum Objekt schlägt, sondern umgekehrt das Objekt sich dem Subjekt von sich aus zu zeigen gibt,57 d. h. entsprechend einer gegenintentionalen Bewegung Signifikation übermittelt.58 52 Dalferth: Der auferweckte Gekreuzigte (s. Anm. 45), 64. 53 Der oben ausgeführte gemeinschaftsstiftende und ereignishafte Aspekt trägt eine weitere Konsequenz: Die Grenzen zwischen Story und History verschwimmen in der vergeschichteten Rezeption des Ereignisses (vgl. Marion: Gegeben sei [s. Anm. 7], 384), d. h. sind für den unter dem Auferstehungsbekenntnis stehenden Glauben gleichwertig. Dementsprechend können auch im Folgenden alle biblischen Zeugnisse synchron genommen werden – etwaige historisch-kritische Fragen wie beispielsweise jene nach der Darstellung des Paulus in der Apostelgeschichte interessieren daher an dieser Stelle nicht, so relevant sie an anderer Stelle sein mögen. 54 Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 239. 55 Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 240 (mit Bezug auf Heinrich Schlier). 56 Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 211. 57 Vgl. Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 211–212; vgl. auch Dalferth: Volles Grab (s. Anm. 37), 219.

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Jean-Luc Marion selbst hat die lukanische Erzählung der Emmausjünger als beispielhaften Musterfall des »Idols« bzw. des Offenbarungsphänomens genommen.59 Er setzt in seiner Deutung insofern weitergehende Akzente, als er die Blindheit der Jünger nicht in einem Fehlen von Evidenz begründet, sondern in dem Sonderfall, dass eben jene präsente Evidenz im Sinne einer negativen Hermeneutik jedem möglichen Vorverständnis widerspricht. Die Inadäquatheit der mitgebrachten Begriffe erzwingt hier also ein Missverständnis, da ihre ihnen definitorisch innewohnende Iterierbarkeit »der Inkommensurabilität der Gabe Gottes«60, die im Auferstandenen ereignishaft manifest ist, nichts entgegensetzen bzw. nicht entsprechen kann.61 Wenn sich Christus als manifestes Ereignis konfrontativ dem Blick öffnet bzw. offenbart, erfordert dies aber ganz notwendig den »Spielraum der Interpretation in menschliches Wort und Bild hinein, den der Deuter in seiner eigenen Freiheit wie Not seines Sagenmüssens beanspruchen darf.«62 Jene Freiheit und gleichzeitige innere Not der Rekonstruktion des »ereigneten Ereignisses« muss durch den blendenden Charakter des Idols als jemeinig verstanden werden. Jede solche Versprachlichung der Erscheinungen des Auferstandenen bzw. der abduktiven Rede von der Auferstehung muss unbedingten Gehalt in bedingte, d. h. symbolische Form bringen.63 Daraus aber resultiert immer eine gewisse Inadäquatheit, was hier also entsteht, ist die »unmögliche Notwendigkeit« einer Übersetzungsarbeit. Die Dialektik der »Gestalt« – der Auferstandene ist ausgerechnet dann am offenbarsten, wenn er im Schwinden begriffen ist64 – darf in der »Gestaltung« dieses Paradoxes nicht nivelliert werden. Genau hier lauert allseits die Gefahr der Idolatrie, wodurch ein weiterer Punkt angezeigt ist: Hinsichtlich der Manifestation des Auferstandenen bzw. den daraus letztlich abgeleiteten Homologien und Glaubensformeln waren es bereits die Apostel und Evangelisten, die über die Angemessenheit von Begriffen und Ausdrücken entschieden haben.65 Gemäß dem Merkmal des Idols haben sie diese Reflexion bzw. Formulierung des Ereignisses selbst jedoch einem Erschließungsprozess zu verdanken, 58 Vgl. Lk 24,31; sowie auch Marion: Givenness (s. Anm. 40), 51–52 und ders.: »Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr« (Lk 24,31), in: ders.: Die Öffnung des Sichtbaren (Ikon Bild + Theologie), Paderborn 2005, (105–112) 111; zum Begriff der hier auftretenden stufenweisen Offenbarung vgl. Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 212. 59 Vgl. Marion: Da gingen ihnen (s. Anm. 58). 60 Marion: Da gingen ihnen (s. Anm. 58), 107. 61 Vgl. auch Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit (s. Anm. 47), 20–21. 62 Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 238. 63 Vgl. zu der Rede von Form und Gehalt z. B. auch Paul Tillich: Religionsphilosophie (Sommersemester 1920), in: ders.: Gesammelte Werke, Ergänzungs- und Nachlassbände 12. Berliner Vorlesungen 1 (1919–1920), hg. v. Erdmann Sturm, (333–575) 415–420 u. ö. 64 Vgl. Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 239. 65 Vgl. Balthasar: Theologie der drei Tage, 239.

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der vom Auferstandenen selbst initiiert wurde: Denn das Idol, so Marion, gibt den Zeuginnen und Zeugen nicht nur neue Begriffe, es zwingt sie auch dazu, sich wieder und wieder seiner Betrachtung hinzugeben, und die neugewonnenen Begriffe abermals an ihm selbst zu messen. In diesem Sinne wandert der Auferstandene unerkannt mit den Emmausjüngern und »legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war« (Lk 24,27), so dass den Jüngern das Herz brennt (vgl. Lk 24,32). Damit wird einerseits die Schrift in ein neues Licht gerückt, andererseits das Kreuzesgeschehen, indem der Auferstandene den Jüngern selbst Auslegung (bzw. Selbstauslegung) gibt: »Musste nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen?« (Lk 24,26). So wird ihnen in doppelter Weise ein bisher verborgener Sinn gegeben.66 Das Alte wird in der Folge durch das Neue interpretiert. Durch diesen vom Auferstandenen als Idol veranlassten Doppelcharakter der neuen Erfahrung geschieht also ein Eintritt in einen Zirkel gegenseitiger Affektion: Der Auferstandene ist damit nicht nur unanvisierbar (als manifestes Ereignis) bzw. dem vermessenden Blick unerträglich (als ihn blendende Erscheinung), er gibt sich seinen Zeugen auch als absolutes Phänomen hinsichtlich der Relation. Dadurch ist bereits die dritte Form saturierter Phänomenalität angesprochen.

2.3

Glaubensstiftung und Glaubensvollzug

Bereits oben wurde darauf hingewiesen, dass Marion selbst wie auch die von ihm beeinflusste Forschung daran krankt, die vier Typen saturierter Phänomene uneingeschränkt mit den vier phänomenalen Sättigungen der Kategorien des Verstehens zu identifizieren. Die Problematik wird insbesondere hinsichtlich der Relationskategorien deutlich, wenn ihre Saturiertheit mit dem Leibbegriff identifiziert wird, gerade nämlich dann, wenn das Phänomen des auferstandenen Christus in den Fokus gerät und bedacht wird, dass der Leib bei Marion im Anschluss an Michel Henry immer fleischleiblich bestimmt ist. Der fleischliche Leib ist schließlich nicht nur durch die autoaffektive Identität von Berührung und Berührtem bestimmt, sondern auch durch seine Verweslichkeit. Das darf auch von Jesus Christus als demjenigen, der als »Erstling unter denen, die entschlafen sind«, auferweckt wurde (1 Kor 15,20), angenommen werden, oder zumindest als Hinweis genommen werden insofern, als der urchristlichen Rede von der Erstlingsschaft theologisch größeres Gewicht zukommt als dem abduktiv erschlossenen Narrativ des leeren Grabes. »Alles andere wäre Doketismus.«67 66 Vgl. zu diesem Absatz Marion: Da gingen ihnen (s. Anm. 58), 108; sowie Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 248. 67 Dalferth: Volles Grab (s. Anm. 37), 296.

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Wenn nun also die Absolutheit des Auferstandenen als Offenbarungsphänomen nicht am Leibbegriff hängen kann und auch nicht muss, da eine Saturiertheit der Relationskategorien eben nicht notwendig auf eine Identifikation ihrer selbst mit dem fleischlichen Leib hinausläuft, rückt der Fokus hier auf den Glaubensbegriff, gerade auch insofern die Auferstehung Christi das maßgebliche Symbol der Stiftung bzw. Konstitution des Glaubens darstellt – Glaube und Auferstehung hängen untrennbar zusammen, ohne die für ihn konstitutive Auferstehung Christi ist der Glaube vergeblich, bzw. nichtig und leer (1 Kor 15,14.17). Im Folgenden muss daher gefragt werden, ob der Glaube hinsichtlich des Auferstandenen als Absolutheit in Bezug auf die Relationskategorie verstanden werden kann. Wenn von dem glaubenskonstituierenden Merkmal der Konfrontation der Zeugen mit dem Auferstandenen gesprochen wird, muss die Auferstehung als trinitarisches Geschehen verstanden werden. Der Glaube ist eine »Gabe des Geistes«68, umgekehrt ist der Heilige Geist schon beispielsweise für Johannes Calvin Wirkung wie auch Grund des Glaubens in einem – genau dies nennt er das oben bereits im Anschluss an Marion aufgegriffene παραδοξότατον.69 Insofern im Glauben als vollzugsgebundenem Phänomen also Wirkung und Grund bzw. Affizierendes und Affiziertes zusammenfallen, besteht hier ein klarer Hinweis auf seine Absolutheit hinsichtlich der Relation.70 Jene Zirkelstruktur des Glau68 Dalferth: Volles Grab (s. Anm. 37), 287. 69 Calvin: Institutio Christianae Religionis (s. Anm. 27), 270–271 (Institutio 3,2,33). 70 Hier drängt sich freilich der Einwand auf, dass der Glaube als Sein coram deo doch gerade durch den Begriff der Relationalität bestimmt ist (so Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens 1. Prolegomena. Der Glaube an Gott den Schöpfer der Welt 1, Berlin 1986 [ND der Auflage Tübingen ²1982], 348–355, insb. 353–354). Ist die Auferweckung nicht gerade ein Handeln Gottes an Christus einerseits bzw. ein Heilsgeschehen pro nobis andererseits (und insofern sogar doppelt relational bestimmt)? Hier muss einem Missverständnis vorgebeugt werden: Wie die Rede vom Handeln Gottes ist auch der Relationsbegriff von Gott zu Christus metaphorisch zu nehmen. Das Gleiche gilt hinsichtlich der Relation coram deo, die im Glauben hergestellt und als Gabe des Geistes bezeichnet wird. Alle Relationen coram deo liegen per definitionem jenseits der Kantischen Verstandeskategorien, da sie dem Menschen letztlich unverständlich bleiben, und zwar sowohl hinsichtlich jeder Rede von Kausalität ebenso wie für die Kantische Relationskategorie der Gemeinschaft (der Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden). Der Handelnde ist in Bezug auf den Glauben Gott als Dreieiniger, aber dies ist eine absolut-metaphorische Aussage. Hier zeigt sich sodann die Problematik einer zu starken Trennung von Auferstehung und Auferweckung, wie u. a. von Dalferth vollzogen. Sie führt in ein theologisches Dilemma: Wenn die Rede von der Auferweckung nämlich bevorzugt wird, da in ihr das Wirken Gottes an Christus betont wird, würde letztlich das (Heils-)Werk Gottes von Christus abgetrennt werden. Da die Auferstehung aber gerade hinsichtlich der Schöpfung gilt, d. h. pro nobis, ist sie ein ökonomisch-trinitarisches Geschehen. Hinsichtlich der ökonomischen Trinität gilt nun aber freilich zumindest in dogmengeschichtlicher Hinsicht der Grundsatz opera trinitatis ad extra indivisa sunt. In Bezug auf Gottes Handeln an der Schöpfung sind die Werke der Trinität nicht voneinander zu trennen. Die Alternative wäre nur die letztlich kaum haltbare Aussage – das

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bens – seine Begründung setzt schon seine Wirkung voraus – hat zur Folge, dass die Bekennenden in das, was bekannt wird, immer schon miteinbezogen sind.71 Insofern der glaubensstiftende Auferstandene auf diese Weise im Sinne Marions den Horizont, vor dem er erscheint, ausfüllt und übersteigt,72 wird er – diese letztlich hermeneutische Bewegung bleibt durch Marions auf die bloße Ereignishaftigkeit des Erscheinens abzielende antihermeneutische Tendenz unterbestimmt – selbst zum Horizont für alle künftigen Phänomene. Glaubensstiftung und Glaubensvollzug gehen ineinander wie Grund und Wirkung. Die christliche Offenbarung wird im Glauben zum Deutehorizont,73 unter dem in der Folge die Phänomene der Welt erscheinen. Hierin liegt also der genuine Vollzugscharakter des Glaubens. Insofern der Auferstandene ein auf diese Weise absolutes Phänomen ist, stellt er in der Einheit von Grund und Wirkung die von ihm Affizierten auf neue Beine: Als Zeuge und Zeugin sehen sich diese ganz vom Offenbarungsgeschehen her bestimmt, womit bereits das letzte Merkmal saturierter Phänomenalität angesprochen ist: die Irreduzibilität der »Ikone«.

2.4

Das εἰκών des unsichtbaren Gottes

Im von Marion als Ikone bezeichneten Typus saturierter Phänomenalität erfährt sich die beobachtende Person als beobachtet. In ihm wird die menschliche Grundpassivität unleugbar bewusst. Umgekehrt scheint sie, wie oben ausgearbeitet, selbst mehr zu verbergen als preiszugeben. In der Beobachtungsquelle der ist die zweite Seite des Dilemmas –, dass es sich hier um eine immanent-trinitarische Aussage handele. Ob jedoch solche immanenten Aussagen überhaupt möglich sind, darf gut und gerne angezweifelt werden. 71 Vgl. auch Dalferth: Volles Grab (s. Anm. 37), 302. 72 Hier sieht sich Marion mit der ernsten und ihm auch wohlbewussten (vgl. Marion: Gegeben sei [s. Anm. 7], 358) Gefahr konfrontiert, das saturierte Phänomen zu einer Totalität zu machen, die alles ihm andere, jede Differenz, verschlingt. Hinsichtlich des hier vorliegenden Themas würde dies bedeuten, den »positiven Glauben« zu verabsolutieren und also jedem Zweifel Möglichkeit und Recht abzusprechen, was freilich auf einen lebensfeindlichen blinden Glaubensgehorsam hinausliefe. Marion versucht, diesen Vorwurf zu kontern, indem er die Gefahr nicht in das saturierte Phänomen, sondern in seine Verkennung legt. Erst nämlich wenn es als solches anerkannt wird, »könnte die von ihm hervorgebrachte Blendung phänomenologischer akzeptiert […] werden, und der Übergang von einem Horizont in den anderen könnte für die Hermeneutik zu einer vernünftigen Aufgabe werden.« (ebd.). Hinsichtlich des Glaubenszweifels würde dies die Aufgabe bedeuten, die Frage von Sinnlosigkeit bzw. Nicht-Sinn hermeneutisch zu reflektieren (vgl. hierzu z. B. Emil Angehrn: Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen [Philosophische Untersuchungen 25], Tübingen 2010). 73 Dalferth spricht hingegen vom »Verständnishorizont«, vgl. ders.: Volles Grab (s. Anm. 37), 301.

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Ikone verweist Endliches auf eine Unendlichkeit,74 oder zumindest auf eine nie zu vergegenständlichende Unbestimmbarkeit. Diese Verweisfunktion kann beispielsweise auch aus dem Kolosserbrief interpretiert werden, wenn Christus als ει᾿κὼν τοῦ θεοῦ τοῦ ἀοράτου – Ebenbild (wörtl. »Ikone«) des unsichtbaren Gottes – bezeichnet wird (Kol 1,15).75 Der Kontext ist hier zwar zunächst ein schöpfungstheologischer, jedoch nicht ohne in V. 18 das Ostergeschehen zu nennen und in den kosmologischen Ansatz des Verfassers miteinzubeziehen. Während der Auferstandene also sogar personal (weil in seiner Identität wiedererkennbar) wahrgenommen bezeugt wird, birgt seine Offenbarung das ihr Wesentliche als Verborgenes und stets Entzogenes. »Wer mich sieht, der sieht den Vater« (Joh 14,9) – doch dieses (blendende) Gesehene gibt sich den Zeugen immer nur andeutend. Wird es offenbar, ist es schon wieder im Schwinden: »Da wurden ihre Augen geöffnet und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen« (Lk 24,31). Diese »Spannung von Offenbarkeit und Verborgenheit«76, das Eingehen Christi in die Verborgenheit, ist ein Wesenszug des Auferstandenen, selbst seiner Manifestation bzw. seinem Erscheinen, da er als Ikone das ihm Wesentliche gleichzeitig gibt (als Gabe) wie auch zurückhält, indem er es unbeobachtbar bleiben lässt. Luther beschreibt diesen Sachverhalt in Bezug auf Gott, dessen »Verborgenheit nicht im Gegensatz zu seiner Offenbarung steht, sondern deren paradoxe Erscheinungsform ist. Die ursprüngliche These Luthers lautet: ›Deus abscondit sua ut revelat – Gott verbirgt sich, um sich zu offenbaren.‹«77 Durch den Blick und das Antlitz konstituiert sich der Andere wie auch letztlich sein Zeuge, seine Zeugin. Durch die Manifestation des Auferstandenen, seine bezeugten Erscheinungen, kommt es zur Rede von der Auferstehung: Der Auferstandene ist letztlich das Angesichtige der Auferstehung. Er gibt sich den Seinen unabhängig von ihnen, d. h. entgegen all ihrer Intentionen, als Gegenerfahrung – der Auferstandene wählt seine Zeugen aus, wie bereits der irdische Jesus seine Jünger durch Aufforderung zur Nachfolge selbst auserwählt hat (worin sich die Jesusbewegung von anderen Schul-Bewegungen, allen voran auch der Täuferbewegung, grundlegend unterschied78). Was für die Nachfolge als 74 Vgl. hierzu freilich die orthodoxe Ikonentheologie, klassisch z. B. Pavel Florenskij: Die Ikonostase, in: ders.: Christentum und Kultur, hg. v. Christian Hufen u. Sieglinde Mierau (Werke 2,2), Berlin 2004, (101–265) 101 u. ö. 75 Vgl. auch Marions Aufnahme in Marion: Givenness (s. Anm. 40), 86 u. ö. 76 Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 246. 77 Ulrich H. J. Körtner: Offenbarung und Verborgenheit Gottes angesichts der Religionen. Vortrag im Rahmen der Tagung »Christliches Zeugnis in der Begegnung mit Muslimen« der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel und des Amtes für Gemeindeentwicklung und missionarische Dienste (GMD) am 21. 06. 2016, in: epd 30 (2016), (15–27) 21. 78 Vgl. z. B. Ferdinand Hahn: Theologie des Neuen Testaments 1. Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 32011, 75–77; vgl. auch Marion, Gegeben sei (s. Anm. 7), 401–402.

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Existenzbestimmung der Jüngerinnen und Jünger zu Lebzeiten Jesu gilt, gilt nach Ostern für den Glauben als Existenzweise der Christinnen und Christen. Dem an sie gehenden unverfügbaren Ruf stehen die Bezeugenden als Hörende grundpassiv gegenüber. Die so Berufenen können sich aber gar nicht mehr ohne das sie Berufende begreifen – in ihnen kommt ihr Selbst am Ort außerhalb ihrer selbst zu sich, sie werden von jenseits ihrer selbst gesetzt.79 Hinsichtlich des Glaubens aus der Auferstehung bzw. dem Auferstandenen gilt dadurch abschließend Zweifaches: Dass der Auferstandene seine Zeuginnen und Zeugen zu sich ruft, lässt diese im Glauben als Personen coram deo einerseits am göttlichen Leben partizipieren. Der Auferstandene als manifestes Ereignis führt in die Gemeinschaft der Teilhabe. Die Gläubigen sind lebendig als Glieder im Leib Christi80 – das ist ihre Existenzweise. Im Angesicht Gottes ist dieses Aufgehen der Einzelnen in der Gemeinschaft aber nun gerade nicht mit einer Aufhebung der Inkommensurabilität, d. h. der Einzigkeit der Einzelnen, verbunden. Das ist das Zweite: Die Saturiertheit der Ikone begründet nach Marion ja gerade Individuation. Mit von Balthasar ist an dieser Stelle also zwischen Teilhabe und Sendung zu unterscheiden.81 Der Glaube führt nicht nur in die gemeinschaftliche Teilhabe, sondern, indem die Gläubigen in ihrem Glauben zu ganz neuer Freiheit finden, sehen sie sich zur Selbstverwirklichung befähigt, die in Form eines hermeneutischen Auftrages an sie geht. Mit der Zeugenschaft geht die »unmögliche Notwendigkeit« der sprachlichen Interpretation des Bezeugten einher, die ja aber wiederum gerade das Selbst konstituiert – die Interpretation des Glaubens ist insofern immer auch selbstinterpretativ, von Gott kann bekanntlich nur gesprochen werden, wenn vom Menschen gesprochen wird. Diese Selbstverwirklichung ist eingebettet in die Sendung, dem Übersteigen der »Form der Gemeinschaft in die Einsamkeit des je-einzelnen Auftrags hinein.«82 Umgekehrt gilt aber dabei wiederum, dass diese Sendungen als »Hauptziel der Erscheinungen […] keineswegs in sich selbst ruhen, sondern kirchenstiftend sind.«83 Im Modus des eschatologischen Wechsels84 begreifen sich Zeuge und Zeugin nicht mehr nur leiblich, auch nicht nur geschöpflich. Der Glaube an den Auf79 Vgl. Oliver Pilnei: Wie entsteht christlicher Glaube? Untersuchungen zur Glaubenskonstitution in der hermeneutischen Theologie bei Rudolf Bultmann, Ernst Fuchs und Gerhard Ebeling (HUTh 52), Tübingen 2005, 368. 80 1Kor 10,17; 12,13; Kol 1,18; 3,15; Eph 4,12–16; 5,30. 81 Vgl. z. B. Hans Urs von Balthasar: Leben aus dem Tod. Betrachtungen zum Ostermysterium (Krit. 97), Freiburg i.Br. 31997, 72 u. ö. 82 Von Balthasar: Leben aus dem Tod (s. Anm. 81), 72. 83 Balthasar: Theologie der drei Tage (s. Anm. 36), 218, vgl. auch 247, 256. 84 Vgl. Dalferth: Volles Grab (s. Anm. 37), 303; vgl. auch Gerhard Ebelings Rede von der »Fundamentalwende«, Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens 3. Der Glaube an Gott den Vollender der Welt, Berlin 1986, 150–156.

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erstandenen und die Auferstehung führt die Vorstellung des Geschöpflichen in ihr Extremstes, indem sich der gläubige Mensch als neues Geschöpf erkennt. Obwohl die Auferstehung von den Toten letztlich noch Hoffnungsrede bleibt, ist sie immer auch ein schon präsentisches Geschehen. Bereits Paulus umschreibt seine späte Bekehrung mit Geburtsmetaphorik (1 Kor 15,8), die im Schon-Jetzt Geltung besitzt. Programmatisch wurde dieser Ansatz der neuen Existenz aus der präsentisch gefassten Auferstehung dann von den Paulusschülern um Epheserbrief und Kolosserbrief als »Mitauferwecktsein« formuliert: καὶ συνήγειρεν (Eph 2,6).85

85 Vgl. Kol 2,12; 3,1; sowie beispielsweise auch die Antwort auf die 45. Frage des Heidelberger Katechismus (»Was nützt uns die Auferstehung Christi?«): »Durch seine Kraft werden auch wir schon jetzt erweckt zu einem neuen Leben.« (Revidierte Ausgabe 1997, hg. v. der Evangelisch-reformierten Kirche [Synode ev.-ref. Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland] u. a., Neukirchen-Vluyn 32006).

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Vielfalt und Verbindlichkeit. Christsein in einem pluralistischen Kontext1

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Abschied vom Prinzipiellen

Pluralismus und fortgesetzte Pluralisierungsschübe in allen Lebensbereichen sind die Signatur der Gegenwart. Die radikale oder prinzipielle Pluralisierung der Neuzeit lässt sich in allen Bereichen der modernen Gesellschaft beobachten. Soziologisch kann man die Pluralisierung der Gesellschaft als deren funktionale Ausdifferenzierung in Ökonomie, Politik, Wissenschaft, Religion, Recht und Kunst beschreiben.2 Die hochgradig arbeitsteilige Wirtschaftsform der geldbestimmten Marktwirtschaft fördert und erfordert auf der personalen Ebene ein bis dahin unbekanntes Maß an Individualisierung. Ideengeschichtlich wird die Individualisierung begründet mit dem neuzeitlichen Autonomiebegriff. Das Individuum wird als autonom handelndes Subjekt gedacht. Gegenwärtig erlebt die moderne Gesellschaft einen weiteren Individualisierungsschub, der auch noch die letzten Restbestände traditionaler Lebensformen erfasst. Das moderne Wirtschaftssystem erzwingt einen hohen Grad an Mobilität und Flexibilität. Flexibilisierung und Globalisierung unter dem Primat des inzwischen frei flottierenden und von der Produktion zunehmend abgekoppelten Geldmarktes üben einen bis dahin ungekannten Zwang zur Autonomie bzw. zur individuellen Lebensführung aus. Vornehmlich aufgrund der Entwicklung des Arbeitsmarktes, seiner raschen Veränderungen und Krisen, sind Individualität und eine unverwechselbare Biographie zunehmend das Ergebnis von erzwungenen individuellen Entscheidungen.3 Unter anderem ist die Folge, dass die in soziale Schichten ausdifferenzierte Gesellschaft sich zur Ge-

1 Vortrag auf dem XII. Internationalen Bonhoeffer-Kongress, 6.–10. 07. 2016, Basel. 2 Siehe vor allem Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Stw 666), Frankfurt a.M. 1987. 3 Vgl. Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim: Das ganz normale Chaos der Liebe (Suhrkamp Taschenbuch 1725), Frankfurt a.M. 1990.

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sellschaft unterschiedlicher, einander vielfältig überschneidender Milieus wandelt.4 Der individuelle Lebenslauf mutiert zur Patchwork-Biographie. Gleichzeitig lässt sich in der Moderne ein Wandel der Rationalität, eine Veränderung des Denkstils beobachten. Panajotis Kondylis hat diesen Wandel einleuchtend beschrieben als Übergang von einem synthetisch-harmonisierenden zu einem analytisch-kombinatorischen Denkstil.5 Ökonomie, Wissenschaft, individuelle Lebensführung, aber auch Religion werden nach den Gesetzen des Marktes organisiert, welcher Waren und Werte wie Geld frei konvertibel und beliebig kombinierbar macht. Was von der ökonomischen Wertschöpfung gilt, trifft nun auch auf kulturelle Güter und religiöse Anschauungen zu.6 Die Individuen stehen in allen Bereichen des Lebens unter dem Zwang zur Wahl.7 Zur Wahl und Auswahl gezwungen, genötigt zur individualistischen Lebensführung, verhalten sich die Individuen nach den Gesetzen des Warenkonsums, eben den Gesetzen der beliebigen Konvertierbarkeit und Kombinierbarkeit von Konsumgütern, Wissensbeständen, weltanschaulichen und religiösen Ideen. Radikal ist der skizzierte Pluralismus der modernen Gesellschaft in zweifacher Hinsicht: Zum einen, weil er irreversibel ist. Zum anderen aber ist diese Entwicklung nicht auf die europäischen und nordamerikanischen bzw. westlichen Gesellschaften beschränkt. Die sogenannte Globalisierung, welche intensiv diskutiert und analysiert wird, bedeutet ja nichts anderes, als dass sich über die Ökonomie die Gesetzmäßigkeiten der westlichen Gesellschaftsform über den ganzen Erdball ausbreiten. Auch wenn außereuropäische Gesellschaften auf diesen Vorgang anders reagieren mögen, als es in Europa und Nordamerika im Gefolge der Aufklärungstradition geschieht, so müssen doch auch sie und ihre Individuen sich zur Dominanz der westlich geprägten globalen Marktwirtschaft und zu ihren kulturellen Auswirkungen verhalten. Die Anerkennung der unaufhebbaren Pluralität gehört zu den grundlegenden Voraussetzungen der modernen Welt. Pluralismus erscheint in der Moderne nicht als Verhängnis, das es zu überwinden oder doch in eine höhere Einheit aufzuheben gilt, sondern als irreduzibel und als positiver Wert. Paradox formuliert begreift der »Abschied vom Prinzipiellen« (Odo Marquard)8 den Plu4 Vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart (Campus Bibliothek), Frankfurt a.M. 22005. 5 Vgl. Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991. 6 Vgl. Falk Wagner: Möglichkeiten und Grenzen des Synkretismusbegriffs für die Religionsforschung, in: Volker Drehsen/Walter Sparn (Hg.): Im Schmelztiegel der Religionen. Konturen des modernen Synkretismus, Gütersloh 1996, 72–117. 7 Vgl. Peter L. Berger: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1980. 8 Vgl. Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien (Reclams UniversalBibliothek 7724), Stuttgart 1981.

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ralismus als neues Prinzip. In der Moderne ist der Pluralismus selbst prinzipiell geworden. Auch das Christentum, die Kirchen und die Theologie sind von der Pluralisierungsdynamik der Moderne erfasst. Bereits Ernst Troeltsch sprach von der »Vielspältigkeit«9 des Christentums, und Trutz Rendtorff hat diese Wendung programmatisch aufgegriffen.10 Heute werden die Begriffe Christentum und Theologie im Plural dekliniert, was besonders durch ein Verständnis von Theologie als Disziplin der Kulturwissenschaft begünstigt wird. Das postmoderne Ende der großen Erzählungen hat auch das Christentum erfasst, dessen Geschichte in eine Vielzahl von Geschichten zerfällt. Wie selbstverständlich ist heute von Christentümern und den unterschiedlichsten Theologien die Rede. Angesprochen ist nicht nur der Pluralismus an unterschiedlichen theologischen Positionen und Richtungen innerhalb der einen Theologie, sondern auch die Programmatik kontextueller Theologien, welche die Universalität christlicher Theologie und ihre Kohärenz als Wissenschaft in Frage stellen. Die Pluralismusthematik durchzieht heute sämtliche Teilgebiete der Theologie, Fundamentaltheologie und Hermeneutik ebenso wie Dogmatik und Ethik, Exegese und Kirchengeschichte, Ökumenische und Praktische Theologie. Es liegt im Gefälle einer pluralismusfreundlichen Theologie, den Pluralismus geradezu als Frucht des Christentums zu deuten. Pluralismusfähigkeit wird zum Kriterium guter Theologie, und wie die übrigen Religionen werden auch das Christentum bzw. die Christentümer und die Kirchen nach ihrer Pluralismusfähigkeit befragt.11 Pluralismusfähigkeit ist freilich ein mehrdeutiger Begriff. Er kann in einem pragmatischen Sinne verstanden werden, nach dem Motto »leben und leben lassen«. Die Schwester der Pluralismusfähigkeit ist dann die Toleranz. Mit Pluralismusfähigkeit können auch in einem gehaltvollen ethischen Sinn der Wille und die Fähigkeit gemeint sein, zu einem friedlichen Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft beizutragen.

9 Vgl. Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik, in: ders.: Gesammelte Schriften 2. Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie, Tübingen 21922, (552–672) 657. 10 Vgl. Trutz Rendtorff: Vielspältiges. Protestantische Beiträge zur ethischen Kultur, Stuttgart 1991; ders.: Über die Wahrheit der Vielfalt. Theologische Perspektiven des nachneuzeitlichen Christentums, in: Joachim Mehlhausen (Hg.): Pluralismus und Identität (VWGTh 8), Gütersloh 1995, 21–34. 11 Vgl. z. B. Christoph Schwöbel: Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003; Hans Kessler, Was macht Religionen pluralismusfähig (und authentisch)? Fragmente einer Theologie des religiösen Pluralismus – jenseits von »Dominus Iesus« und Pluralistischer Religionstheologie, in: Markus Witte (Hg.): Der eine Gott und die Welt der Religionen. Beiträge zu einer Theologie der Religionen und zum interreligiösen Dialog, Würzburg 2003, 277–314.

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Seine Brisanz gewinnt der Begriff der Pluralismusfähigkeit jedoch im Zusammenhang mit dem Wahrheitsbegriff. In einer relativistischen Bedeutung meint Pluralismusfähigkeit die Bereitschaft, den eigenen Wahrheitsanspruch gegenüber konkurrierenden Wahrheitsansprüchen zu relativieren, vielleicht aus der postmodernen Überzeugung heraus, dass es keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten gibt, und dass dies die einzig verbleibende Wahrheit ist. Eine pluralistische Theologie der Religionen zieht die entsprechenden Konsequenzen für den interreligiösen Dialog. Der Begriff der Pluralismusfähigkeit kann aber auch in einem anderen Sinne verstanden werden, nämlich als Problemanzeige, wie sich die eigene Wahrheitsgewissheit in einer pluralistischen Welt so zur Geltung bringen lässt, dass sie nicht totalitär wird und in Unterdrückung und Gewalt umschlägt. Längst zeigt sich, dass der gesellschaftliche Vorgang der radikalen Pluralisierung höchst ambivalent ist. Die unumgängliche Autonomie wird gleichermaßen als Freiheit wie als Zwang erfahren. Der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit wird konterkariert durch gegenläufige Tendenzen der Entindividualisierung. Die fortschreitende Ausdifferenzierung der Gesellschaft wird überlagert durch Tendenzen der Entdifferenzierung. Der Zwang zur Subjektivität korrespondiert dialektisch mit dem Verschwinden des Subjekts. Inhumanität und Naturzerstörung gehören zu den dialektischen Folgen der aufgeklärten Moderne. Die freie Kombinierbarkeit materieller und kultureller Werte geht einher mit ihrer Entwertung und die nach den Gesetzen der Konsumgesellschaft sich organisierende Multikulturalität mit der Vergleichgültigung der verschiedenen Kulturen. Auch die Vielgestaltigkeit bzw. »Vielspältigkeit« des Christentums und der Kirchen ist höchst ambivalent und prekär. Wie der religiös-weltanschauliche Pluralismus im Allgemeinen, so kann auch der inter- und intrakonfessionelle Pluralismus einerseits als Realisierung geistgewirkter Lebensvielfalt und Freiheit, andererseits aber als lebens- und geistfeindliche Diffusion begriffen werden. Vielfalt ohne ein Mindestmaß an Verbindlichkeit droht chaotisch zu werden bzw. zu einem Zustand der Entropie zu führen. Eine für viele Menschen attraktive Antwort auf die Herausforderungen des Pluralismus gibt der Fundamentalismus, der heute in allen Religionen an Stärke gewinnt. Fundamentalismen haben, religionssoziologisch betrachtet, drei Merkmale, nämlich die Forderung an die Gläubigen, sich auf die Wurzeln ihres Glaubens zu besinnen, eine buchstäbliche Interpretation der jeweiligen heiligen Schriften und der Vorrang religiöser Gesetze gegenüber dem säkularen Recht.12 Gewiss gibt es gute theologische Gründe, die fundamentalistische Option zu12 Vgl. Ruud Koopmans: Religion ist ein trennender Faktor, Interview in: Zeitzeichen 17 (2016); verfügbar unter: https://www.zeitzeichen.net/index.php?id=14360 [ 22. 02. 2018].

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rückzuweisen. Die Gegenposition kann aber nicht in der Suspendierung der Wahrheitsfrage bestehen. Vielmehr besteht die Notwendigkeit einer »Wiedergewinnung des Positionellen«13, d. h. einer Form von Verbindlichkeit, welche den Pluralismus nicht dementiert oder bekämpft, sehr wohl aber zu seiner Kritik fähig ist und zum kritischen Umgang mit ihm befähigt.14 Plausibilität, so lautet die These, kann der Wahrheitsanspruch des Christentums nur gewinnen, wenn gegenüber dem prinzipiell gewordenen Pluralismus das Paradox eines anderen »Pluralismus aus Prinzip« verständlich zu machen ist.15 Theologisch gehaltvoll ist die paradoxe Formel eines Pluralismus aus Prinzip nur dann, wenn der Begriff des Principium theologisch beim Wort genommen, und das heißt mit eben jenem Anfang identifiziert wird, mit dem der Prolog des Johannesevangeliums anfängt und alle Theologie immer wieder aufs Neue anzufangen hat. Das aber bedeutet, nach der im Pluralismus verbindlichen Wahrheit des Evangeliums zu fragen, d. h. nach jener Wahrheit, welche den Pluralismus allererst wahr macht, ihn richtet und ihm so seine lebens- und glaubensdienliche Richtung gibt. Es stellt sich nicht allein die Frage, inwiefern Pluralität und Pluralismus nicht nur zur modernen Gestalt des Christentums, sondern zu seinem Wesen gehören. Zu fragen ist vielmehr auch, worin das Verbindende bzw. das Verbindliche des christlichen Glaubens besteht. Wie die Sozial- und Politikwissenschaften nach den »Ligaturen« (Ralf Dahrendorf)16 der pluralistischen Gesellschaft fragen, so die Theologie nach dem, was in der Kirche und in der Ökumene Geltung beanspruchen kann. Was gilt in der Kirche?17 In dieser durchaus pragmatischen Form bleibt die Frage nach dem Wesen des Christentums in, mit und unter den Bedingungen seiner »Vielspältigkeit« virulent. Was ist für diesen Diskurs von Dietrich Bonhoeffer zu lernen? Trägt seine Theologie etwas zur Diskussion über die Pluralismusfähigkeit von Theologie und Kirche bei? Finden sich in seiner Theologie Einsichten, die für die Wiederge-

13 Vgl. Paul-Gerhard Klumbies: Wiedergewinnung des Positionellen, in: DtPfBl 95 (1995), 177– 179. 14 Vgl. dazu Ulrich H.J. Körtner: Vielfalt und Verbindlichkeit. Christliche Überlieferung in der pluralistischen Gesellschaft (ThLZ.F 7), Leipzig 2002. 15 Vgl. Eilert Herms: Pluralismus aus Prinzip, in: Rainer Bookhagen u. a. (Hg.): »Vor Ort« – Praktische Theologie in der Erprobung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Peter C. Bloth, Nürnberg 1991, 77–95. 16 Vgl. Ralf Dahrendorf: Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, Stuttgart 1992, 41. 17 Vgl. Was gilt in der Kirche? Die Verantwortung für Verkündigung und verbindliche Lehre in der Evangelischen Kirche. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz (Mit einem Anhang: Pluralismus in der Kirche. Chancen und Grenzen) (VAK), Neukirchen-Vluyn 1985.

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winnung des Positionellen hilfreich sind, ohne der Gefahr des Fundamentalismus zu erliegen? Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen.

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Bekennende Kirche und ökumenische Theologie bei Dietrich Bonhoeffer

Auf den ersten Blick scheint Pluralismusfähigkeit kein Thema für einen Wortführer der Bekennenden Kirche wie Bonhoeffer zu sein. Der Begriff Pluralismus findet sich an keiner Stelle in Bonhoeffers Werk, und eine pluralismusfreundliche Betrachtung der Vielspältigkeit des Christentums, von der Troeltsch gesprochen hat, steht scheinbar in diametralem Gegensatz zu einer Theologie, die sich in den status confessionis gestellt sieht, zur Unterscheidung und Scheidung der Geister auffordert und die Wahrheitsfrage in einer Schärfe stellt, die nur die Alternative von rechtem Bekennen und dem Verwerfen falscher Lehre kennt. Die christozentrische Ausrichtung seiner Theologie scheint sich schlecht mit Pluralismustheorien zu vertragen, welche die Vielfalt als Reichtum des göttlichen Geistes und seiner Schöpfung feiern.18 Tatsächlich steht der Christozentrismus, der die ökumenische Bewegung seit ihren Anfängen bestimmt hat, seit einigen Jahrzehnten in der Kritik. Als Alternative bieten sich unterschiedliche Konzeptionen einer trinitarischen oder pneumatologisch begründeten Theologie der Ökumene an, die sich von Bonhoeffers Ökumeneverständnis durchaus unterscheiden. Auch auf dem Gebiet der Ethik ist strittig, was von Bonhoeffer für den pluralistischen Kontext der Gegenwart zu lernen ist. Auf der einen Seite ist das Erbe der Bekennenden Kirche dort weiter lebendig, wo etwa in Fragen der Globalisierung der status confessionis ausgerufen wird, wie es die Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 2004 in Accra getan hat.19 Auf der anderen Seite stehen jene, welche den Pluralismus geradezu als Markenzeichen des Protestantismus verstehen.20 Als Drittes aber ist der Diskurs über Begriff und Programm einer öffentlichen Theologie zu erwähnen, die sich in der Tradition 18 Vgl. auch Christiane Tietz: Bonhoeffer’s Strong Christology in the Context of Religious Pluralism, in: Clifford J. Green/Guy C. Carter (Hg.): Interpreting Bonhoeffer. Historical Perspectives – Emerging Issues, Minneapolis 2013, 181–196. 19 Das »Bekenntnis von Accra« ist online abrufbar: Die Erklärung von Accra. Eine Glaubensverpflichtung im Jahr 2004, 2004, verfügbar unter: http://www.reformiert-info.de/124-0-56-3. html [22. 02. 2018]. 20 Vgl. Reiner Anselm u. a.: Pluralismus als Markenzeichen. Eine Stellungnahme evangelischer Ethiker zur Debatte um die Embryonenforschung, in: FAZ 19 (23. 01. 2002), 8. Der vollständige Text trägt den Titel »Starre Fronten überwinden. Eine Stellungnahme evangelischer Ethiker zur Debatte um die Embryonenforschung« und ist abgedruckt in: Reiner Anselm/ Ulrich H.J. Körtner (Hg.): Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen 2003, 197–208.

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Dietrich Bonhoeffers sieht und gleichwohl die pluralistische Gesellschaft bejaht.21 Verschiedentlich ist auch der Versuch unternommen worden, Bonhoeffers Gedanken gegen Ende seines Lebens zu einem religionslosen Christentum und zur Mündigkeit der modernen Welt im Kontext des heutigen religiösen Pluralismus neu zu lesen.22 Darauf werden wir später zurückkommen. Zunächst aber möchte ich auf Bonhoeffers Verständnis der christlichen Ökumene und seine Überlegungen zur ökumenischen Theologie eingehen, die er in den 1930er-Jahren angestellt hat, um nach ihrer möglichen Bedeutung für heutige Debatten zu fragen. Wie die Pluralität der Welt ist auch die Vielfalt und Verschiedenheit innerhalb der geglaubten einen Kirche Jesu Christi und innerhalb der verschiedenen Konfessionen und Denominationen in höchstem Maße zweideutig. Weil sie nicht nur die lebendige Vielfalt geistgewirkten Lebens, sondern auch die Zerstörung lebendiger Beziehungen durch die Macht der Sünde repräsentiert, kann sie nicht unmittelbar aus der Perichorese der immanenten Trinität hergeleitet werden. Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, in der Gott sein wird alles in allem,23 ist dem Glauben als Verheißung gewiss, aber sie steht noch aus. Wie für die einzelnen Glaubenden, so gilt auch von der Kirche, dass noch nicht offenbar ist, was wir sein werden.24 Deshalb scheint es mir erforderlich, die heute von manchen kritisierte Christozentrik ökumenischer Ekklesiologie auf neue Weise zur Geltung zu bringen und den Gedanken einer Ökumene im Zeichen des Kreuzes zu formulieren.25 Anstöße zu einer solchen Theologie der Ökumene, die zugleich einen Beitrag zum Gespräch über die Pluralismusfähigkeit des Christentums leistet, finden wir nun aber gerade bei Dietrich Bonhoeffer, so sehr sich auch seine historische Situation von unserer Gegenwart unterscheiden mag. Ich konzentriere mich im 21 Besonders augenfällig ist das schon im Namen der »Dietrich-Bonhoeffer-Forschungsstelle für Öffentliche Theologie« (DBFÖT) an der Universität Bamberg (Homepage: https://www.unibamberg.de/ev-syst/oeffentliche-theologie-public-theology/dietrich-bonhoeffer-forschungs stelle-fuer-oeffentliche-theologie-dbfoet [22. 02. 2018]). 22 Vgl. John W. de Gruchy: God’s Desire for a Community of Human Beings. Religious Pluralism from the Perspective of Bonhoeffer’s Legacy, in: Christian Gremmels/Wolfgang Huber (Hg.): Religion im Erbe. Dietrich Bonhoeffer und die Zukunftsfähigkeit des Christentums, Gütersloh 2002, 147–163; Peter Zimmerling: Was heißt evangelisch sein? Ein Versuch, Bonhoeffer angesichts des religiösen Pluralismus neu zu lesen, in: Gremmels/Huber: Religion im Erbe, 321–332; Christoph Schwöbel: »Religion« and »Religionlessness« in Letters and Papers from Prison. A Perspective for Religious Pluralism?, in: Kirsten Busch Nielsen u. a. (Hg.): Mysteries in the Theology of Dietrich Bonhoeffer. A Copenhagen Bonhoeffer Symposium (FSÖTh 119), Göttingen 2007, 159–184; Ralf K. Wüstenberg: Religionless Christianity and Religious Pluralism. Dietrich Bonhoeffer »Revisited«, in: JTSA 131 (2008), 4–15. 23 Vgl. 1 Kor 15,28. 24 Vgl. 1 Joh 3,2. 25 Vgl. Ulrich H.J. Körtner: Versöhnte Verschiedenheit. Ökumenische Theologie im Zeichen des Kreuzes, Bielefeld 1996, bes. 79–83; ders.: Wohin steuert die Ökumene? Von Konsens- zum Differenzmodell, Göttingen 2005, 35–38.

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Folgenden auf zwei Texte, nämlich auf Bonhoeffers Vortrag »Zur theologischen Begründung der Weltbundarbeit« aus dem Jahr 193226 und seinen Aufsatz »Die Bekennende Kirche und die Ökumene«, der 1935 im zweiten Jahrgang der Zeitschrift »Evangelische Theologie« erschienen ist.27 Den Vortrag »Zur theologischen Begründung der Weltbundarbeit« hat Bonhoeffer im Juli 1932 auf der Jugend-Friedenskonferenz in Ciernohorské Kúpele, Tschechoslowakei, gehalten. Er erschien noch im selben Jahr in der Zeitschrift »Die Eiche«.28 Bonhoeffer beginnt mit der Feststellung: »Es gibt noch keine Theologie der ökumenischen Bewegung.«29 Unter Theologie versteht Bonhoeffer »die Selbstverständigung der Kirche über ihr eigenes Wesen auf Grund ihres Verständnisses der Offenbarung Gottes in Christus«.30 Die ökumenische Bewegung müsse und werde eine neue, ökumenische Theologie hervorbringen, wenn sie nicht nur praktische, kirchenpolitische Absichten verfolge, sondern in einem neuen Selbstverständnis der Kirche Jesu Christi gründe. An dieser Stelle erkennt Bonhoeffer jedoch grundlegende Defizite, die er den Kirchen und allen in der Ökumene engagierten Personen als eigene Schuld zur Last legt. Der Weg zu der gesuchten ökumenischen Theologie kann nach Bonhoeffers Überzeugung nur über die kollektive Buße führen, nämlich über das öffentliche Eingeständnis der Schuld und des Nichtwissens der Kirche.31 Sodann seien die biblischen und reformatorischen Grundlagen eines ökumenischen Kirchenverständnisses gründlich und neu zu erarbeiten. Scharf kritisiert Bonhoeffer, dass sich die Kirche gern »hinter Resolutionen und frommen sogenannten christlichen Prinzipien« verstecke.32 Statt unqualifiziert zu reden, sei es der Kirche in ihrer Ratlosigkeit in den theologischen Grundfragen eher angemessen, qualifiziert zu schweigen. Es ist dies ein Gedanke, der sich bis in die Gefängnisbriefe aus Tegel durchhält. In seinen Gedanken zur Taufe seines Patenkindes Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge schreibt Bonhoeffer im Mai 1944, die Christen seien »wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen«.33 Was die überlieferte Sprache des 26 Dietrich Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung der Weltbundarbeit, in: ders.: Ökumene, Universität, Pfarramt 1931–1932, hg. v. Eberhard Amelung u. Christoph Strohm (DBW 11), Gütersloh 1994, 327–344. 27 Dietrich Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche und die Ökumene, in: EvTh 2 (1935), 245–261, jetzt in: ders., Illegale Theologenausbildung. Finkenwalde 1935–1937, hg. v. Otto Dudzus u. a. (DBW 14), Gütersloh 1996, 378–399. 28 Die Eiche 20 (1932), 334–344. Vgl. Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung (s. Anm. 26), 327, Anm. 1 (Anmerkung der Herausgeber). 29 Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung (s. Anm. 26), 327. 30 Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung (s. Anm. 26), 328. 31 Vgl. Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung (s. Anm. 26), 329–330. 32 Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung (s. Anm. 26), 330. 33 Dietrich Bonhoeffer: Gedanken zum Tauftag von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge, in: ders.:

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Glaubens, seine Worte und Handlungen bedeuten sollen, wird allenfalls nur noch erahnt. Und auch in diesem späten Text führt Bonhoeffer das Nichtwissen auf die Schuld der Kirche zurück. Sein Vortrag von 1932 konzentriert sich auf die reformatorische Unterscheidung von Gesetz bzw. Gebot und Evangelium und auf die Frage, mit welcher Vollmacht und wie konkret die Kirche beides verkündigen kann. Die Kirche dürfe keine allgemeinen und immer wahren Prinzipien verkündigen, »sondern nur Gebote, die heute wahr sind«.34 Wie das Evangelium, so sei auch Gottes Gebot so konkret wie möglich zur Sprache zu bringen. Das kann allerdings nicht ohne umfassende Sachkenntnis, z. B. in politischen Angelegenheiten, geschehen, weshalb die Kirche in ihrem Anspruch, hier und jetzt Gottes Gebot zu bezeugen, irren kann. Konkret denkt Bonhoeffer daran, ob die Kirche in Vollmacht verkündigen kann, dass die Beteiligung an einem möglicherweise bevorstehenden Krieg Sünde ist. Bonhoeffer folgt Karl Barths Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gebot, wenn er erklärt, dass beide von Christus herkommen. Die christologische Begründung des konkreten Gebotes ist freilich nicht bei Christus »als dem predigenden Prophet der Bergpredigt« zu finden, sondern bei »ihm als dem, der uns das Leben und die Vergebung gibt, als dem, der an unserer Stelle das Gebot Gottes erfüllt hat, als dem, der die neue Welt bringt und verheißt«.35 Eine biblizistische Begründung theologischer Ethik, welche die Bergpredigt oder andere biblische Gebote als absolute Handlungsnorm versteht, lehnt Bonhoeffer ebenso ab wie die lutherische Theorie der Schöpfungsordnungen. Vermeintliche Schöpfungsordnungen sind allenfalls Erhaltungsordnungen – und das auch nur, »solange sie noch offen sind für Christus«36 – ein Gedanke, der in Bonhoeffers Ausführungen zum Begriff des Natürlichen und in seiner Mandatenlehre in seiner nachgelassenen Ethik wiederkehrt. Zwischen Evangelium und Gebot besteht insofern ein Gefälle, als die irrtumsfähige konkrete Verkündigung des Gebotes nur im Vertrauen auf die durch das Evangelium bezeugte Sündenvergebung gewagt werden kann. Diese aber findet ihre »Sicherung«37 in den Sakramenten. »Was für die Verkündigung des Evangeliums das Sakrament ist, das ist für die Verkündigung des Gebotes die Kenntnis der konkreten Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist das Sakrament des Gebotes«.38

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Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Christian Gremmels u. a. (DBW 8), Gütersloh 1998, (428–436) 435. Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung (s. Anm. 26), 332. Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung (s. Anm. 26), 336–337. Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung (s. Anm. 26), 337. Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung (s. Anm. 26), 334. Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung (s. Anm. 26), 334.

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Kritisch äußert sich Bonhoeffer zu der seinerzeit in der ökumenischen Bewegung dominanten angelsächsischen Theologie, weil sie den irdischen, äußeren Frieden für eine Schöpfungs- und Reich-Gottes-Ordnung halte. Das lehnt Bonhoeffer als eine unevangelische, da schwärmerische Position ab. »Der internationale Frieden ist nicht eine Wirklichkeit des Evangeliums, nicht ein Stück des Reiches Gottes, sondern ein Gebot des zornigen Gottes, eine Ordnung der Erhaltung der Welt auf Christus hin.«39 Der irdische Frieden bleibe der Wahrheit und dem Recht untergeordnet und nicht etwa umgekehrt. Die bloße Arbeit für Verständigung durch persönliches Kennenlernen hält Bonhoeffer für unzureichend. Erst »eine große, gemeinsame Verkündigung«40, die sich an die gesamte Christenheit und zugleich an die Welt richtet und auf die Änderung bestehender Zustände abzielt, werde die Christen zu einem übernationalen Denken führen. Kraftlos und wertlos aber bleibt alle Verkündigung, solange die dem Weltbund angehörenden Kirchen unter Christus und dem Evangelium je ganz Unterschiedliches verstehen. So deutet sich am Ende des Vortrags die Vorstellung einer wartenden Theologie ab, nämlich einer bußfertigen Theologie als »Ausdruck für das Warten der ganzen Kirche auf die Erlösung«.41 Als Bonhoeffer drei Jahre später seinen Aufsatz »Die Bekennende Kirche und die Ökumene« veröffentlichte, war er bereits als Sprecher der Bekennenden Kirche in ökumenischen Angelegenheiten anerkannt. Sein Aufsatz fand jedoch seinerzeit in Deutschland wie international kaum Beachtung.42 Eine Kernthese des Aufsatzes, den Bonhoeffer auch als Unterrichtsmaterial im ersten Kurs des Predigerseminars in Zingst und Finkenwalde verwendet hat, lautet: »Kirche gibt es nur als bekennende Kirche, das heißt als Kirche, die sich zu ihrem Herrn und gegen seine Feinde bekennt.«43 Konkret sieht Bonhoeffer die Ökumene durch den Bruch zwischen der Bekennenden Kirche und den »Deutschen Christen« herausgefordert, klar Stellung zu beziehen. Es sei nun die gesamte Ökumene zum status confessionis herausgefordert, doch nehme die vorherrschende »romantisch-ästhetisch-liberale Idee der Ökumene«44 die Wahrheitsfrage nicht ernst. Hintergrund der Ausführungen Bonhoeffers ist ein Zwist um die Einladungspolitik des Fortsetzungsausschusses der Weltkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung im Sommer 1935. Für den August des Jahres war eine Konferenz in Dänemark geplant, an der Bonhoeffer nur unter der Voraussetzung teilnehmen wollte, dass keine Vertreter der Reichskirche anwesend sein würden. Der Generalsekretär des Fortsetzungsausschusses, Canon Leonard Hodgson 39 40 41 42 43 44

Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung (s. Anm. 26), 339. Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung (s. Anm. 26), 342. Bonhoeffer: Zur theologischen Begründung (s. Anm. 26), 344. Vgl. oben Anm. 28. Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 389. Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 391.

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antwortete jedoch, die ökumenische Bewegung wolle keine Kirche, die Christus als Gott und Heiland anerkennt, diskriminieren und suche daher das Gespräch sowohl mit der Reichskirche als auch mit der Bekennenden Kirche, als deren Vertreter man bewusst Bonhoeffer eingeladen habe. Bonhoeffer aber lässt diesen Standpunkt nicht gelten und fordert die ökumenischen Partner auf, sich klar zu entscheiden, ob man in der Reichskirche, zu der die Bekennende Kirche das Gespräch abgebrochen hat, noch die wahre Kirche Jesu Christi vorzufinden glaubt oder nicht. Somit werde die Ökumene durch den in Deutschland geführten Kirchenkampf »in eine letzte Krisis getrieben«.45 Bonhoeffers weiteren Ausführungen zu seinem Verständnis von Ökumene sind für unser Thema »Christsein in einem pluralistischen Kontext« deshalb bemerkenswert, weil sich die kompromisslose Frage nach der Wahrheit und der Kritik an einem Verständnis des kirchlichen Pluralismus gleichzeitig mit theologischer Weite in ökumenischen Fragen verbindet. Allerdings verwirft Bonhoeffer die verbreitete Branch-Theorie, wonach die verschiedenen Kirchen wie die Zweige aus Wurzel und Stamm eines Baumes hervorgehen – »sozusagen das Dogma der ökumenischen Bewegung«.46 Dieser zufolge hat keine einzelne Kirche »Anspruch auf Alleingeltung, jeder bringt seine besondere Gabe und tut seinen besonderen Dienst an der Ganzheit, erst in der Einheit liegt die Wahrheit«.47 Dieser Überzeugung hält Bonhoeffer jedoch entgegen: »So wahr und so biblisch der Satz sein mag, daß nur in der Einheit Wahrheit sei, so wahr und biblisch ist auch der andere Satz, daß nur in der Wahrheit Einheit möglich sei.«48 Die Wahrheitsfrage fordert zum Bekenntnis im positiven wie im negativ-abgrenzenden Sinne heraus. Allerdings unterscheidet Bonhoeffer den Konflikt zwischen Bekennender Kirche und deutscher Reichskirche von der Gesprächslage zwischen der Bekennenden Kirche und anderen Mitgliedskirchen der ökumenischen Bewegung, selbst wenn er die Theologie mancher Freikirchen als semipelagianisch beurteilt.49 Die Bekennende Kirche bekenne nicht abstrakt, sondern konkret, »sie bekennt nicht gegen die Anglikaner oder Freikirchler, sie bekennt im Augenblick nicht einmal gegen Rom, geschweige denn bekennt der Lutheraner heute gegen den Reformierten, sondern sie bekennt in concretissimo gegen die deutschchristliche Kirche und gegen die neue heidnische Kreaturvergötzung«.50 Den bekenntnisfremden Kirchen trete die Bekennende Kirche nicht als Feinden gegenüber, »sondern sie trägt in ihrer Begegnung mit an der Schuld der Zerris45 46 47 48 49 50

Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 391. Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 390. Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 390. Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 390. Vgl. Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 392. Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 392.

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senheit der Christenheit, stellt sich in diese Schuld mit hinein und erkennt in aller falschen Theologie, die ihr begegnen mag, hier zuerst eigene Schuld, mangelnde Kraft ihrer eigenen Verkündigung«.51 Dieser Gedanke ist uns bereits in dem Aufsatz aus dem Jahr 1932 begegnet, und er kehrt, wie wir schon sahen, 1944 in Bonhoeffers Brief an sein Patenkind wieder. Buße und Sündenbekenntnis stehen am Beginn des ökumenischen Gesprächs und machen aus der zunächst fragenden und fordernden Bekennenden Kirche eine ihrerseits »in Frage gestellte Kirche«52. Als solche muss sie die Frage beantworten, wo gegenüber anderen Kirchen »die Grenzen ihres Bekenntnisanspruches liegen«53. Die Grenzen des Bekenntnisanspruches sind grundsätzlich deshalb gegeben, weil die Gnade Gottes aller Lehre der Kirche übergeordnet ist, ohne dass damit der Ernst der bestehenden Kirchenspaltung verharmlost werden soll. Als hörende Kirche, die sich von den anderen zur Buße rufen lässt, existiert die Bekennende Kirche »immer schon in jedem Wort, das sie sagt, von der Ökumene her«,54 wobei Bonhoeffer am Ende seines Aufsatzes die Hoffnung auf ein ökumenisches Konzil der evangelischen Christenheit äußert, deren Erfüllung aber bei Gott allein stehe. Gegenüber heutigen Auffassungen von Ökumene fällt auf, wie stark bei Bonhoeffer eine sündentheologische Sicht der Vielfalt der Kirchen vorherrscht. Der Pluralismus der Konfessionen tritt nicht so sehr als Reichtum in Erscheinung, als Vielfalt der Geistesgaben, sondern als Folge schuldhafter Trennung. Das wechselseitige Sündenbekenntnis und der Ruf zur Buße stehen ganz im Vordergrund. Die Realität der ökumenischen Bewegung, gemeinsame Gottesdienstfeiern, das gemeinsame Hören der Predigt und sogar gemeinsam gehaltene Abendmahlsfeiern und die Verbundenheit durch das Sakrament der Taufe sind für Bonhoeffer wenn nicht Beweis, so doch ein kräftiger Hinweis auf die göttliche Verheißung, die auf der ökumenischen Arbeit liegt. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Bonhoeffer in erster Linie von der evangelischen Ökumene spricht. Die römisch-katholische Kirche erwähnt er in seinem Aufsatz von 1935 nur beiläufig, die orthodoxen Kirchen gar nicht, was sich aus dem Stand der ökumenischen Beziehungen zu dieser Zeit erklärt. Für das Thema des Pluralismus ist nun aber Bonhoeffers Verwendung des Bekenntnisbegriffs bedeutsam. Er versteht das Bekenntnis in erster Linie nicht als fixierten dogmatischen Text, sondern als lebendigen Akt der Kirche wie des einzelnen Christen. Wenn er von »bekenntnisfremden Kirchen«55 spricht, denkt er allerdings an Bekenntnistexte. Auch das aktuelle und konkrete Bekennen versteht Bonhoeffer als Aktualisierung des Bekenntnisses der Väter, das freilich 51 52 53 54 55

Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 393. Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 393. Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 396. Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 398. Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 393.

Vielfalt und Verbindlichkeit

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ebenfalls ursprünglich ein aktuelles und konkretes Bekennen war.56 Die Grenzen des eigenen Bekenntnisanspruchs aber liegen darin, dass sich eine Kirche überhaupt in die ökumenische Arbeit hineinstellt, weil sie sich dazu von Gott gerufen weiß, und es ihm anheimstellt, was er aus der ökumenischen Begegnung an Neuem schaffen will. Die Bekennende Kirche ist wartende Kirche. Sie »wartet, indem sie arbeitet«,57 und ihre Theologie ist wartende Theologie, die im Dienst der auf Erlösung wartenden Kirche steht. Das Motiv des Wartens begegnet uns neun Jahre später erneut in den schon mehrfach erwähnten Gedanken Bonhoeffers zur Taufe seines Patenkindes Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge. In einer Zeit, in der die Worte der christlichen Überlieferung durch die Schuld der Kirche kraftlos geworden sind, bleibt die Sache der Christen eine stille und verborgene. Doch vertraut Bonhoeffer darauf, dass es weiter Menschen geben wird, »die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten«.58

3

Christsein im Pluralismus – im Gespräch mit Bonhoeffer

Die zeitgeschichtlichen Umstände, unter denen Bonhoeffer seine Theologie entwickelt und sich kirchlich und politisch unter Einsatz seines Lebens engagiert hat, unterscheiden sich in vielem von unserer Gegenwart. Seine Zeitdiagnosen lassen sich nicht ohne weiteres auf die Gegenwart übertragen. Sie können aber als Vorbild für eine Theologie in kritischer Zeitgenossenschaft dienen, die auf eigenständige Weise und darin durchaus im Sinne Bonhoeffers die entscheidende Frage stellt, wer Christus für uns heute ist. Wenn dabei im Sinne des späten Bonhoeffers die Mündigkeit der modernen Welt ernst genommen und theologisch stark gemacht wird, dann ist seine Aussage, dass Christus der Herr über diese mündige Welt sein will, sinngemäß auf die globalisierte und zugleich pluralistische Welt von heute zu übertragen. Das schließt nicht nur den Pluralismus der Kulturen und Weltanschauungen, sondern auch den Pluralismus der Religionen und der christlichen Konfessionen ein. Die kategorische Feststellung, dass die wahre Kirche stets bekennende Kirche ist bzw. zu sein hat, führt bei Bonhoeffer, wie wir sahen, keineswegs zu einer konfessionellen Verengung, sondern im Gegenteil zu ökumenischer Weite. Das jeweils konkrete Bekennen richtet sich nicht gegen alles und jeden, sondern stets gegen eine ganz konkrete Lehre und ihren Wahrheitsanspruch, die als Irrlehre zu

56 Vgl. Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 394. 57 Bonhoeffer: Die Bekennende Kirche (s. Anm. 27), 397. 58 Bonhoeffer: Gedanken zum Tauftag (s. Anm. 33), 436.

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identifizieren und zu bekämpfen ist. Nicht jede theologische oder ethische Differenz nötigt aber nach Bonhoeffer dazu, den status confessionis auszurufen. Auch im Umgang mit der mündigen Welt, von der Bonhoeffer in seinen Gefängnisbriefen spricht, zeigt seine Theologie eine große Weite. In seiner Ethik zitiert Bonhoeffer Mk 9,40 und Mt 12,30.59 Einerseits gilt, wer nicht gegen Christus und seine Jünger ist, der ist für sie. Andererseits aber, dass wer nicht mit Christus ist, gegen ihn ist. Während es die Erstgenannten auch unter denen geben kann, die nicht zur Kirche gehören, finden sich die Letztgenannten möglicherweise gerade in der Kirche, wenn sie nicht Kirche für andere in der Nachfolge Christi sein wollen und Gerechtigkeit, Menschenwürde und Freiheit verachten. Christoph Schwöbel ist der Ansicht, dass eine von Bonhoeffer inspirierte Theologie heutzutage nicht eine Theologie der Religionslosigkeit, sondern im Gegenteil eine christliche Theologie der Religionen ausarbeiten müsse,60 wobei der heutige religiöse Pluralismus die Säkularisierungsthese und Bonhoeffers Diagnose des religionslosen Zeitalters keineswegs widerlege, sondern in der heutigen Form überhaupt nur unter den Bedingungen der Säkularisierung möglich sei. Überträgt man die Ausführungen Bonhoeffers zu Mk 9,40 und Mt 12,30 auf die nichtchristlichen Religionen und die unterschiedlichen Spielarten moderner Religiosität, wird man allerdings sagen müssen, dass Bonhoeffers Christologie eine inklusivistische – nicht etwa eine pluralistische – Theologie der Religionen impliziert, wenngleich Bonhoeffer sich an einer solchen ebenso wenig interessiert zeigt wie an einer ausgebauten Theorie der Religion oder einer präzisen Definition des Religionsbegriffs überhaupt.61 Auch die Werte der Aufklärung und der mündigen säkularen Welt führt Bonhoeffer auf Jesus Christus zurück. Im Kampf gegen den Nationalsozialismus ist eine neue Allianz zwischen Christen und dem Christentum distanziert oder ablehnend Gegenüberstehenden entstanden, die mehr als ein vorübergehendes Zweckbündnis sei. Bonhoeffer deutet den Vorgang vielmehr so, dass »die entlaufenen Kinder der Kirche […] in der Stunde der Gefahr zu ihrer Mutter« zurückgekehrt seien.62 »Vernunft, Recht, Bildung, Humanität, und wie die Begriffe alle heißen, suchten und fanden in ihrem Ursprung neuen Sinn und neue Kraft. Dieser Ursprung ist Jesus Christus.«63 Sachlich lässt sich von derartigen

59 Dietrich Bonhoeffer: Ethik, hg. v. Ilse Tödt u. a. (DBW 6; KT 161), Gütersloh 21998, 344–347. 60 Vgl. Schwöbel: Religion (s. Anm. 22), 182. 61 Vgl. Wüstenberg: Religionless Christianity (s. Anm. 22), 7, 13–14. Zu Bonhoeffers persönlicher Begegnung mit außereuropäischen Kulturen und anderen religiösen Traditionen, darunter dem Islam, vgl. de Gruchy: God’s Desire (s. Anm. 22), 154–155. 62 Bonhoeffer: Ethik (s. Anm. 59), 344. 63 Bonhoeffer: Ethik (s. Anm. 59), 344.

Vielfalt und Verbindlichkeit

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Aussagen eine Parallele zur Lichterlehre des späten Karl Barth ziehen,64 auch wenn sich Bonhoeffer im Verlauf seiner theologischen Entwicklung bekanntlich von Barths »Offenbarungspositivismus« distanziert hat.65 Konzeptionen einer Theologie der Religionen wie auch neokulturprotestantische Entwürfe einer Religionstheologie, die zumindest in der deutschsprachigen Theologie der Gegenwart stark an Boden gewonnen haben, versuchen das Christentum von einem allgemeinen Religionsbegriff aus verständlich zu machen. Vorausgesetzt ist Religion oder Religiosität als anthropologische Konstante oder als unaufgebbares Element der Kultur. Die entscheidende theologische Frage lautet, ob es um eine Apologie der Religion oder des Glaubens an Gott geht, mit anderen Worten: ob die Unvermeidbarkeit von Religion – wenn schon nicht für das Individuum, so zumindest für die menschliche Gemeinschaft – oder die Unabweisbarkeit Gottes behauptet werden soll. Und weiter gefragt: Soll aus der vermeintlichen Unvermeidbarkeit von Religion die Unvermeidbarkeit des menschlichen Gottesbezuges, oder soll aus der vom christlichen Glauben behaupteten Unvermeidbarkeit Gottes – jedenfalls für gebildete Menschen – die Unvermeidbarkeit von Religion behauptet werden? Ingolf U. Dalferth ist zuzustimmen, dass weder das eine noch das andere zutrifft.66 Davon abgesehen darf die vom Glauben behauptete Unvermeidbarkeit Gottes nicht mit der Unvermeidbarkeit der Frage nach Gott verwechselt werden. Gerade deshalb ist Bonhoeffers Theologie auch für die Gegenwart und das Christsein in einem pluralistischen Kontext wegweisend. Sie enthält Anstöße zu einer Interpretation christlichen Lebens, die gerade nicht von einem bestimmten Religionsbegriff abhängt. Statt neue Konstrukte von Religion zu kreieren sollten sich Theologie und Kirche, wie Wüstenberg richtig feststellt,67 durch Bonhoeffer zu einer konstruktiven Religionskritik ermutigt fühlen, und zwar gerade in Zeiten einer vermeintlichen Wiederkehr der Religion bzw. des Wiedererstarkens von Religion im öffentlichen Raum, die nicht nur zu einer Repolitisierung von Religion, sondern auch zu einer Retheologisierung von Politik führt.68

64 Vgl. Karl Barth: Die Kirchliche Dogmatik 4,3. Die Lehre von der Versöhnung, Zollikon 1959, 40–188. 65 Vgl. Dietrich Bonhoeffer: Brief an Eberhard Bethge (30.4.44), in: ders.: Widerstand und Ergebung (s. Anm. 33), (401–408) 404; ders.: Brief an Eberhard Bethge (5.5.44), in: ders.: Widerstand und Ergebung (s. Anm. 33), (413–416) 415; ders.: Brief an Eberhard Bethge (8.6.44), in: ders.: Widerstand und Ergebung (s. Anm. 33), (474–483) 481–482. 66 Vgl. dazu Ingolf U. Dalferth: Notwendig religiös? Von der Vermeidbarkeit der Religion und der Unvermeidlichkeit Gottes, in: Fritz Stolz (Hg.): Homo naturaliter religiosus. Gehört Religion notwendig zum Mensch-Sein? (StRH 3), Bern 1997, 193–218. 67 Vgl. Wüstenberg: Religionless Christianity (s. Anm. 22), 14–15. 68 Vgl. dazu Ulrich H.J. Körtner: Wiederkehr der Religion? Das Christentum zwischen neuer Spiritualität und Gottvergessenheit, Gütersloh 2006.

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Im Übrigen ist die religiöse und weltanschauliche Gemengelage ambivalent. Tendenzen eines Wiedererstarkens von Religion stehen ein massenhafter Gewohnheitsatheismus69 und unterschiedliche Spielarten von Konfessionslosigkeit und religiösem Indifferentismus gegenüber.70 Theologie und Kirche sollten sich gerade heute von Bonhoeffer daran erinnern lassen, dass Christus eben nicht nur den Religiösen, sondern auch den Religions- und Konfessionslosen, den religiös Distanzierten und Unmusikalischen zu bezeugen ist. An dieser Stelle ist nun auch auf Begriff und Programm einer öffentlichen Theologie einzugehen, soweit sie sich auf Bonhoeffer beruft, wie dies einflussreich bei Wolfgang Huber oder Heinrich Bedford-Strohm der Fall ist.71 Bonhoeffers Überlegungen zur Kirche für andere in seinen Gefängnisbriefen werden im deutschen Kontext mit dem Postulat des Öffentlichkeitsauftrags der Kirche(n) verknüpft, das in Deutschland nach 1945 formuliert worden ist. In den Kirchen herrscht die Vorstellung, die säkulare Gesellschaft bedürfe einer ethischen Orientierung, die ihnen so nur die Kirchen geben können. Der kirchliche Geltungsanspruch im öffentlichen Raum kann sich zu dem Anspruch steigern, die Kirchen wollten zwar nicht selbst Politik machen, wohl aber Politik allererst möglich machen.72 Dabei beruft man sich im deutschen Kontext gern auf das Diktum des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, wonach der demokratische, säkulare Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen und garantieren kann.73 Wenn sich die Kirchen am politischen und ethischen Diskurs der pluralistischen Gesellschaft beteiligen wollen, müssen sie, wie Bedford-Strohm meint, zweisprachig verfahren. »Öffentliche Theologie hat über ihre eigenen biblischen und theologischen Quellen Aufschluss zu geben, aber sie muss auch eine Sprache sprechen, die von der Öffentlichkeit als Ganzer verstanden werden kann«,74 d. h. sie muss zwischen biblischer Begründung und Vernunftbegründung hermeneutisch und argumentativ vermitteln können. 69 Vgl. Wolf Krötke: Der Massenatheismus als Herausforderung der Kirche in den neuen Bundesländern, in: WJTh 2 (1998), 215–228. 70 Vgl. Michael Domsgen/Dirk Evers (Hg.): Herausforderung Konfessionslosigkeit. Theologie im säkularen Kontext, Leipzig 2014. 71 Vgl. dazu Ulrich H.J. Körtner: Aufgabe und Gestalt von öffentlicher Theologie, in: Miriam Rose/Michael Wermke (Hg.): Religiöse Rede in postsäkularen Gesellschaften (StRB 7), Leipzig 2016, 183–201. 72 Vgl. Rat der EKD/Kath. Deutsche Bischofskonferenz: Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Gemeinsames Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, in: epdD 11 (1997), 3. 73 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte (stw 914), Frankfurt a.M. 1991, (92–114) 112. 74 Heinrich Bedford-Strohm: Öffentliche Theologie in der Zivilgesellschaft, in: Ingeborg Gabriel (Hg.): Politik und Theologie in Europa. Perspektiven ökumenischer Sozialethik, Ostfildern 2008, (340–366) 349.

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Wie weit sich ein solches Konzept von öffentlicher Theologie direkt auf Bonhoeffer zurückführen lässt, ist meines Erachtens kritisch zu diskutieren. Erinnern wir uns an Bonhoeffers Texte zur ökumenischen Theologie, die ich im zweiten Abschnitt meines Vortrags in Erinnerung gerufen habe, fällt doch trotz der oberflächlichen Übereinstimmung eine Diskrepanz auf. Wohl war auch Bonhoeffer davon überzeugt, dass die Kirchen den Auftrag hätten, der Welt ethische Orientierung zu geben, indem sie jeweils ganz konkret in der Öffentlichkeit das Evangelium und das Gebot Gottes zu verkündigen hätten. Für Bonhoeffer bestand das Problem aber nun nicht etwa nur in der hermeneutischen Aufgabe, eine feststehende Botschaft in die Sprache einer säkularen Welt zu übersetzen. Sondern die Botschaft selbst war ihm zutiefst fraglich geworden. Es sei eben gar nicht mehr klar, was denn die großen Worte der christlichen Überlieferung bedeuten sollen. Und das sei die Schuld einer nur auf ihren Selbsterhalt bedachten Kirche. Die Sprachnot des Glaubens, die bei Bonhoeffer aus einem zutiefst gestörten Lebensverhältnis der Kirche zu Jesus Christus und der biblisch bezeugten Botschaft von ihm resultiert, scheint für die gegenwärtige öffentliche Theologie im deutschen Sprachraum kein drängendes Problem zu sein. Die Frage, wer Jesus Christus für uns heute ist, scheint ihre Antwort schon gefunden zu haben. Von der bußfertigen letzten Redlichkeit, zu der Bonhoeffer schonungslos aufrief und selbst bereit war, oder von einem selbstkritischen Blick auf die eigene Verkündigung ist zumindest im deutschsprachigen Diskurs wenig zu lesen. Bonhoeffers ganze theologische Leidenschaft »entzündet sich«, wie Johannes Fischer zu bedenken gibt, »eben nicht daran, dass die Welt der ethischen Orientierung bedarf, sondern dass Glaube und Kirche der geistlichen Orientierung bedürfen«75. Fischer fragt weiter, wie denn die geistliche Dimension der Liebe Gottes im Leben eines Menschen gegenwärtig wird: Wie gewinnt sie sprachliche Artikulations- und gedankliche Ausdruckskraft? Welche Rolle spielen dabei gottesdienstliche Vollzüge und die Frömmigkeitspraxis? Sind es nicht solche Fragen, durch die theologisches Nachdenken auf den Plan gerufen wird? Gerade diese Fragen liegen außerhalb des Interesses Öffentlicher Theologie.76

Fischers Einwand spricht meines Erachtens nicht gegen das Programm einer Öffentlichen Theologie überhaupt. Für unzureichend halte ich aber ein Verständnis von Öffentlicher Theologie, welches diese im Wesentlichen auf Fragen 75 Johannes Fischer: Gefahr der Unduldsamkeit. Die »Öffentliche Theologie« der EKD ist problematisch, in: Zeitzeichen 17,5 (2016), (43–45) 45. 76 Fischer: Gefahr der Unduldsamkeit (s. Anm. 75), 45. Vgl. dazu die Replik von Heinrich Bedford-Strohm: Fromm und politisch. Warum die evangelische Kirche die Öffentliche Theologie braucht, in: Zeitzeichen 17,7 (2016), 8–11, die aber Fischers Kritik in Kernpunkten nicht überzeugend entkräftet.

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der Sozialethik reduziert.77 Die von Fischer gestellten Fragen sind nicht nur im Raum der Kirche, sondern auch im Raum der Öffentlichkeit zu thematisieren. Wenn von Bonhoeffer etwas für das Christsein im pluralistischen Kontext zu lernen ist, so an erster Stelle, erneut die Frage zu stellen, wer Jesus Christus für uns heute ist. Diese Frage ist keineswegs schon beantwortet, so dass nur noch über das zeitgemäße Wie christlicher Verkündigung zu diskutieren wäre. Theologie, die sich mit letzter Redlichkeit einer Situation stellt, in welcher der christliche Glaube eben nicht fraglos gegeben ist, ist wartende Theologie,78 die nicht zu allem und jedem etwas zu sagen hat, sondern zu vielen ethischen Fragen nur qualifiziert schweigen kann und auch in Glaubensfragen ihre Sprachnot nicht kaschiert. Sie ist ferner in dem Sinne wartende Theologie, dass sie das Erbe des biblischen Zeugnisses hütet, getragen von der Hoffnung, dass es neu zu sprechen beginnt.79 Wartende Theologie dient der Einübung in ein Christsein, das, wie Bonhoeffer gesagt hat, in zweierlei besteht, nämlich im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.80

77 Vgl. Ulrich H.J. Körtner: Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche, Leipzig 2017, bes. 103–114. 78 Vgl. auch Hartmut Rosenau: Vom Warten – Grundriss einer sapientialen Dogmatik. Neue Zugänge zur Gotteslehre, Christologie und Eschatologie (Lehr- und Studienbücher zur Theologie 8), Berlin 2012. 79 Vgl. dazu Ulrich H.J. Körtner: Theologie in dürftiger Zeit. Ein Essay (KT 75), München 1990; ders.: »… Auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen«. Was ich von Dietrich Bonhoeffer gelernt habe, in: Andreas Klein/Matthias Geist (Hg.): »Bonhoeffer weiterdenken …«. Zur theologischen Relevanz Dietrich Bonhoeffers (1906–1945) für die Gegenwart (Theologie: Forschung und Wissenschaft 21), Wien 2006, 1–16. 80 Vgl. Bonhoeffer: Gedanken zum Tauftag (s. Anm. 33), 435.

Gottfried Adam

Das »Biblische Haus« in Görlitz – ein Juwel der Bibelillustration der Renaissance Ja, wollt Gott, ich kund die herrn und die reychen da hyn bereden, das sie die gantze Bibel ynnwendig und auswendig an den heusern fur yedermans augen malen liessen, das were eyn Christlich werck.1

Diesen Satz hat Martin Luther auf dem Höhepunkt seiner Auseinandersetzung mit den Bilderstürmern im Jahre 1525 geschrieben. Vier Jahre später ist im Vorwort zu seiner Bilderbibel für »Kinder und Einfältige« zu lesen, dass man die biblischen Geschichten auch in Stuben und Kammern malen sollte, damit man Gottes Werk und Wort stets vor Augen habe.2 Aus dem Reformationsjahrhundert gibt es eindrückliche Beispiele, wie man die biblischen Geschichten »auswendig an den heusern« darstellen kann. Es sei hier nur an die Darstellung der biblischen Themen in der monumentalen Fassadenmalerei von Schloss Parz in Oberösterreich erinnert.3 Es gibt nicht nur gemalte Bilder biblischer Geschichten, sondern auch solche, die durch einen Bildhauer in Sandstein gemeißelt wurden. Das unübertreffliche Beispiel für diese Form der Darstellung ist ein Bürgerhaus, das in der Neißstraße 29 in Görlitz in der schlesischen Oberlausitz steht. Es ist eines der bedeutendsten deutschen Bürgerhäuser aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Es wurde in der Tradition der schlesischen Hallenhäuser erbaut. Das Gebäude wird als das »Biblische Haus« bezeichnet.4 Der Name rührt daher, dass in den Brüstungsfeldern der beiden Obergeschosse auf der Vorder1 Martin Luther: Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament [1525] (WA 8), Weimar 1908, (62–125) 83. 2 Martin Luther: Ein Betbüchlin mit eym Calender und Passional, hübsch zugericht, Wittemberg 1529, Vorwort des Passional. Der Text ist zugänglich: Martin Luther: Passional, hg. v. Gottfried Adam, Münster 2017, 2. Siehe ferner: Gottfried Adam: Martin Luthers »Passional« von 1529. Die erste evangelische Bilderbibel für »Kinder und Einfältige«, in: ders.: Biblische Geschichten kommunizieren. Studien zu Kinderbibeln, Daumen-Bibeln und Bibelfliesen, Münster 2013, 43–64. 3 Siehe dazu im Katalog der oberösterreichischen Landesausstellung 2010: Rudolf Leeb: Das Bildprogramm der Fresken von Schloss Parz, in: Karl Vocelka u. a. (Hg.): Renaissance und Reformation. OÖ. Landesaustellung 2010, Linz 2010, 39–50. 4 Informationen bietet Dietrich Donat: Das »Biblische Haus« 1570–1572 im Umkreis seiner Zeit, in: Görlitzer Magazin 9 (1995), 75–92. – Das »Biblische Haus« wurde im Zeitraum von 2000 bis

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Gottfried Adam

seite des Hauses Reliefs zu sehen sind, auf denen biblische Szenen aus dem Alten und Neuen Testament aus schlesischem Sandstein dargestellt sind. Kunsthistorisch gesehen stellen die Reliefs des »Biblischen Hauses« eines der bedeutendsten Werke der europäischen Renaissancebaukunst dar.

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Das »Biblische Haus« – zur Entstehungsgeschichte5

Görlitz ist eine alte Handelsstadt an der Via Regia. Ihr verdankt die Stadt ihren einstigen Reichtum. Die Zollfreiheit für die Görlitzer Kaufleute und der Waidhandel brachten der Stadt und der gesamten Region großen Reichtum ein. Das Blauviolett des Färberwaids war eine kostbare Handelsware und für die Herstellung von blauem Leinen notwendig. Möglicherweise war es die dominierende Farbe des Mittelalters. Nur wenige Städte hatten das Privileg, Handel von Färberwaid durch Waidhändler zuzulassen. Seit 1339 besaß Görlitz das so genannte Stapelrecht für Waid. Das bedeutete, dass das aus Thüringen, einem Zentrum der Waid-Produktion, stammende Waid mehrere Wochen in der Stadt Görlitz angeboten werden musste. Erst dann durften die nicht verkauften Mengen Waid weiter transportiert werden. Es gelang den Görlitzern, fast den gesamten südost-mitteleuropäischen WaidMarkt unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Stadt selbst kaufte einen erheblichen Teil des Waids auf und verkaufte es an die Tuchmacher weiter. Der Reichtum von Görlitz basierte nicht zuletzt auf dem Waidhandel. Dieser war eben lukrativ. So hatte einst die Stadt Erfurt/Thüringen mit ihren Steuereinnahmen aus dem Waidhandel ihre Universität finanziert. Offensichtlich hatte sich auch für den Waidhändler Hans Heinze d.J. der Waidhandel bezahlt gemacht, sodass er sich die aufwändige Ausgestaltung seiner Hausfassade, die auf Abbildung 16 zu sehen ist, leisten konnte. Hans Heinze war ursprünglich aus Weimar gekommen und hatte sich in Görlitz niedergelassen, um von den ausgedehnten Handelsbeziehungen und Absatzmöglichkeiten dieser Stadt zu profitieren. Er war als Waid- und Tuchhändler tätig. Das Görlitzer Bürgerrecht erhielt er 1557. Sein wohlhabender Vater kam später auch nach Görlitz. Dieser erhielt 1579 das Bürgerrecht. Hans Heinze 2004 restauriert. Darüber berichtet die Veröffentlichung der Wüstenrot Stiftung Ludwigsburg: Andreas Bednarek/Frank-Ernest Nitzsche: Biblisches Haus Görlitz, Ludwigsburg 2004. In den Jahren 2012 und 2018 wurden erneut Sanierungsmaßnahmen zum Erhalt dieser kostbaren Sandsteinfassade durchgeführt (siehe Ingo Kramer: Dritte Kur für das Biblische Haus, in: Sächsische Zeitung [02. 09. 2016], verfügbar unter: https://www.sz-online.de/nachrichten/drit te-kur-fuer-das-biblische-haus-3482922.html [18. 09. 2018]). 5 Zum Folgenden siehe Bednarek/Nitzsche: Biblisches Haus Görlitz (s. Anm. 4), 11 und 14. 6 Die Bilder zu diesem Artikel wurden alle vom Autor Gottfried Adam aufgenommen.

Das »Biblische Haus« in Görlitz – ein Juwel der Bibelillustration der Renaissance

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Abb. 1: Gesamtansicht des »Biblischen Hauses« in Görlitz

erwarb im Jahre 1570 das Grundstück in der Neißstraße 29. Das darauf stehende Gebäude ließ er von 1570 bis 1572 total umbauen. Dabei entstanden die Reliefs mit den biblischen Themen. In Görlitz war bereits seit 1521 evangelisch gepredigt worden. Im Jahre 1539 wurde dann eine evangelische Kirchenordnung eingeführt. Zur Zeit des Hausumbaus war die Stadt jedenfalls evangelischen Bekenntnisses. Die reiche bildhauerische Ausgestaltung der Hausfassade mit den biblischen Darstellungen ist als ein Handeln im Sinne eines Bekenntnisses und als Ausdruck von tiefer Religiosität zu interpretieren. Die Fassade als Bilderbibel ist nicht nur ein herausragendes Kunstwerk der deutschen Hochrenaissance, sondern auch ein Zeugnis der tiefen religiösen Gesinnung des Hausherren und damit der im nachmittelalterlichen Bürgertum verwurzelten Frömmigkeit.7

Es stellt sich die Frage, wem wir die reich ausgestaltete Vorderfront des »Biblischen Hauses« verdanken.

7 Bednarek/Nitzsche: Biblisches Haus Görlitz (s. Anm. 4), 17.

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Gottfried Adam

Zum Künstler der Fassadenreliefs

Die Frage nach dem Bildhauer, der die Fassaden-Reliefs geschaffen hat, führt auf ein Beziehungsnetz, das weit über Görlitz hinausreicht.8. Zu diesem Beziehungsnetz gehört die Steinmetzfamilie Kramer. Nach den Unterlagen im Görlitzer Stadtarchiv wurde der Bildhauer Hans Kramer von der Firma Hans Walthers II. (1526–1586) mit der Anfertigung der Sandsteinreliefs am »Biblischen Haus« beauftragt. Der Aufenthalt von Hans Kramer in Görlitz ist seit dem Jahre 1569 nachweisbar: In Hans Kramer den Schöpfer der Fassadenreliefs des »Biblischen Hauses« zu vermuten, liegt nahe. Dafür sprechen seine Ausbildung in der Dresdner Werkstatt von Hans Walter II. sowie die enge Bindung an den Görlitzer Stadtwerkmeister Roskopf und schließlich auch seine Bezeichnung: Nicht »Steinmetz«, sondern »Bildhauer« nennt ihn die Bürgerrechtsliste, was die Szenen am »Biblischen Haus« in einem anderen Licht erscheinen lässt.9

Der Bildhauer Hans Walther II. war ein prägender Künstler für die Bauplastik und Reliefkunst der Dresdner Renaissance. Er wird als der einflussreichste Dresdner Bildhauer der Hochrenaissance angesehen. Es ist bekannt, dass es zwischen ihm und den lutherischen Theologen in Dresden vielfältige Beziehungen gab. Vieles spricht für ein enges persönliches Verhältnis zu seinem Gemeindepfarrer Petrus Glaser. Dieser vertrat »ein streng lutherisches Bekenntnis«.10 Er wurde vom Kurfürst August in den Kreis der angesehensten sächsischen Theologen berufen. Diese erhielten 1576 den Auftrag, in Lichtenberg zu beraten, wie Friede und Einigkeit unter den Lutheranern gestiftet werden könnten. Petrus Glaser war literarisch sehr produktiv. Wie stark er mit Luthers Theologie verbunden war, zeigen Auszüge aus Luthers Werken, die oft einen wesentlichen Teil seiner Veröffentlichungen ausmachten. Es wird deutlich, dass bei dem Bildhauer Hans Walther II. Beziehungen zu lutherischen Theologen und lutherischer Theologie vorhanden waren, ohne dass man das im Einzelnen genauer belegen kann. Diese Zusammenhänge können aber verständlich machen, warum das »Biblische Haus« in seinen Reliefs eine klare reformatorische Programmatik erkennen lässt. Zur näheren Charakterisierung des Milieus, aus dem der Bildhauer Hans Kramer kam, sei noch darauf hingewiesen, dass sein Vater, der den gleichen Vornamen trug, zu den herausragenden Renaissancebaumeistern in Sachsen gehörte. 1554 erhielt er die Bestallung als kurfürstlich sächsischer Hofsteinmetz und Werkmeister. Er war beteiligt am Um- und Ausbau des Dresdner Resi8 Siehe die Ausführungen bei Donat: Das »Biblische Haus« (s. Anm. 4), 78–83. 9 Bednarek/Nitzsche: Biblisches Haus Görlitz (s. Anm. 4), 17. 10 Donat: Das »Biblische Haus« (s. Anm. 4), 78.

Das »Biblische Haus« in Görlitz – ein Juwel der Bibelillustration der Renaissance

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denzschlosses, er führte architektonische Elemente für die Dresdner Schlosskapelle aus und war auch für Umbauten an der alten Frauenkirche verantwortlich. Die letzten Jahre verbrachte er als Stadtbaumeister in Danzig (gest. 1577). Hans Kramers Verbindungen reichten damit bis in die führenden Kreise der sächsischen Renaissance-Kunst. Auch sein Bruder, Michael Kramer, war ein bekannter Bildhauer. Er hat u. a. um 1569–1572 an der evangelischen Schlosskapelle St. Hedwig in Brieg/Schlesien mitgearbeitet. Vermutlich hat er sich auch an den Arbeiten zum »Biblischen Haus« in Görlitz beteiligt.

3

Das Bild- und Textprogramm des »Biblischen Hauses«

Auf diesem Hintergrund ist das Bildprogramm der Reliefs am Biblischen Haus in der Neißstraße 29 sowohl in seiner Bibelorientierung (gemäß dem sola scriptura der Reformation) als auch in der Auswahl der dargestellten biblischen Themen deshalb nicht überraschend. Auf Abbildung 1 ist die Gesamtanordnung zu sehen. Wir haben es mit drei Serien von Reliefs zu tun. In der unteren Serie sind fünf alttestamentliche Ausarbeitungen zu sehen. Darüber befindet sich eine Serie von fünf Reliefs mit neutestamentlichen Themen. Unter der Dachtraufe gibt es einen schmaleren Fries mit ebenfalls fünf Reliefs. Darauf sind insgesamt acht Tugenden dargestellt. Dazu kommen zwei Inschriften: eine oberhalb der drei Fenster des Erdgeschosses und eine weitere am Portal des Hauses. Wenden wir uns zunächst den Tugenden zu. Es werden dargestellt: die vier klassischen Kardinaltugenden (Weisheit oder Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung), die drei christlichen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) und zusätzlich die Patientia (Geduld).11 Es stellt sich die Frage: Wie verhalten sich die klassischen und die christlichen Themen zueinander? Die Antwort scheint mir durch die Art der Anordnung gegeben zu werden. In der Mitte der Hausfassade sind die beiden Tugenden »Gerechtigkeit« und »Glaube« angeordnet. Damit wird die wichtigste der klassischen Tugenden, die Gerechtigkeit, mit der wichtigsten christlichen Tugend, dem Glauben, unmittelbar verbunden. Das kann so gedeutet werden, dass diese beiden Tugenden jeweils stellvertretend für die übrigen Tugenden stehen. Dadurch wird auf der einen Seite das weltliche Regiment Gottes und auf der anderen Seite das geistliche Regiment Gottes repräsentiert. Das ist eine lutherische Lösung der Zuordnung. Bei den zwei darunterliegenden Relief-Serien haben wir es mit zentralen Themen der Bibel zu tun, wie man sie auch in den Bildprogrammen der Glas11 Abbildungen aller acht Tugenden sind bei Donat: Das »Biblische Haus« (s. Anm. 4), 85–87 (Abb. 2 bis 6) zu finden.

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fenster und Skulpturen in den gotischen Domen des Mittelalters findet. Die Art der Darstellung zeigt die Vertrautheit mit der Tradition. Oberhalb der drei Fenster des Erdgeschosses ist im Gesimsband noch folgende Inschrift zu lesen: »gott sei mein helfer, erlosser vnd threster [=Tröster] auf den vorlasse ich mich alleine 1570«. Hier wird unmittelbar an Ps 40,18 erinnert. Dort heißt es: »Du bist mein Helfer und Erretter, mein Gott.« Es ist kein wörtliches Zitat, vielmehr ist die Inschrift im Sinne einer theologischen Summe formuliert. Das legt die Vermutung nahe, dass bei der Gestaltung des Bildprogramms ein Theologe beteiligt gewesen sein könnte. In den Unterlagen wurde kein Hinweis auf eine konkrete Person gefunden. Die Fassade mit ihren Reliefs kann man als die Entfaltung dieses biblischen Mottos verstehen.

Abb. 2: Portal des »Biblischen Hauses«

Über dem Türbogen des Hauseinganges ist eine weitere Inschrift zu finden. Dort steht zu lesen: »gott beware deinen eingang vnd ausgang zv ewigen zeiden.« Auch hier wird man unmittelbar an ein Psalmwort erinnert: »Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit« (Ps 121,8). Der Wortlaut dieser Inschrift ist deutlich näher am biblischen Wortlaut, als dies bei

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der ersten Inschrift der Fall ist. Durch diese zweite Inschrift wird die Aussage und Intention der ersten Inschrift deutlich verstärkt. Man kann den Zusammenhang von biblischen Reliefs und Inschriften so verstehen, dass die Aussagen der beiden Inschriften in den biblischen Reliefs weiter konkretisiert werden.

4

Das Profil und der Zusammenhang der biblischen Reliefs

Die beiden Reliefreihen umfassen jeweils fünf Darstellungen mit biblischen Themen. In der unteren Szenenfolge finden sich die alttestamentlichen und in der darüber liegenden die neutestamentlichen Themen. Die Anordnung wurde von links nach rechts in heilsgeschichtlicher Abfolge vorgenommen. Es ergibt sich folgende Gesamtkomposition der beiden biblischen Relief-Serien: Ankündigung der Geburt Jesu Die Erschaffung Evas

Jesu Geburt

Jesu Taufe

Der Sündenfall

Isaaks Opferung

Das letzte Abendmahl Empfang der Zehn Gebote

Die Kreuzigung Jesu Die eherne Schlange

Es ist auffällig, dass die neutestamentlichen Darstellungen in der oberen Reihe ihren Platz haben. In der Regel wird umgekehrt verfahren. Es ist kein plausibler Grund für diese Anordnung ersichtlich. Die ausgewählten Texte sind theologisch deutlich miteinander verknüpft. Das geschieht mit Hilfe der typologischen Methode.

4.1

Die alttestamentliche Reihe

Die alttestamentliche Reihe beginnt mit der Erschaffung Evas und führt über den Sündenfall, die Opferung Isaaks, den Empfang der Zehn Gebote zur Ehernen Schlange. Dies sind zentrale theologische Themen. Es fällt auf, dass von der Schöpfungsgeschichte weder die Erschaffung der sichtbaren Welt noch die Erschaffung Adams im Mittelpunkt des Reliefs stehen. In der Bildmitte ist Gottvater zu sehen, der Eva in seinen Händen hält. Die übrige Schöpfung (Himmel und Erde, die Elemente, Pflanzen und Tiere) ist der Szene beigegeben. Sie tummelt sich bereits im Paradies. Es folgt unmittelbar die Darstellung der Sündenfallgeschichte. Diese darf natürlich nicht fehlen. Sie gehört zum Kernbestand lutherischer Theologie. Sie macht deutlich, dass der Mensch auf Gottes rettendes Handeln angewiesen ist. Dass auch auf diesem Bild Tiere, Ziege, Hase und Löwe, dargestellt sind, ist eher ungewöhnlich. Im Hintergrund ist auf der rechten Seite auch die Szene der

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Abb. 3: Die Erschaffung Evas (Gen 2,21–22)

Abb. 4: Der Sündenfall (Gen 3,6)

Vertreibung aus dem Paradiese (Gen 3) als Fortsetzung der Bildgeschichte zu sehen. Dieses Bild zeigt, in welch meisterhafter Weise der Bildhauer das Umfeld der Bibelbilder gestaltet hat. Die Ornamente sind schön gestaltet und in ihren Proportionen wohlausgewogen. Das Bild der Stadt, das im Hintergrund auf der rechten Seite zu sehen ist, zeigt zugleich, wie auch Elemente der Gegenwart in die Sandsteinreliefs eingearbeitet wurden. Die Stadt ist erkennbar von einer mittelalterlichen Stadtmauer umgeben. Thematisch geht es bei diesem Relief um die Opferung Isaaks. Inhaltlich geht es um die Schlussszene der biblischen Erzählung: Der Engel greift dem Abraham in den Arm, als er gerade das Schwert anhebt, um Isaak zu töten. Theologisch

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Abb. 5: Die Opferung Isaaks (Gen 22)

Abb. 6: (linke Seite:) Der Empfang der Zehn Gebote durch Mose (Ex 20); (rechte Seite:) Die eherne Schlange (Num 21,4–9)

steht dahinter die Vorstellung, dass die Opferung Isaaks auf den Messias Christus hinweist, der sein Leben für die Menschheit geben wird. Bei Abbildung 6 sind wieder Ornamente und Pflanzenmotive zu sehen, die auf die Qualität der Arbeit des Bildhauers hinweisen. Dargestellt sind zwei zentrale theologische Themen aus dem Alten Testament. Auf der linken Seite geht es um die Übergabe der Zehn Gebote an Mose auf dem Berg Sinai. Gottvater weist Mose ausdrücklich mit seiner linken Hand auf die Gebote hin und unterstreicht damit deren Bedeutsamkeit. Im Hintergrund ist der Tanz um das Goldene Kalb (Ex 32) zu sehen. Die Gebote werden im Neuen Testament in der Bergpredigt wieder aufgenommen und von Jesus ausgelegt. Beim Relief auf der rechten Seite geht es um die eherne Schlange. In Num 21,8 und 9 ist zu lesen: »Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn

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jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.« Bemerkenswert ist, wie der Kopf der Schlange ausgeführt ist. Die Geschichte von der Schlange wird im Neuen Testament in Gespräch Jesu mit Nikodemus aufgenommen. Dabei verwendet Jesus die Geschichte als Analogie: »Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der (an ihn) glaubt, in ihm das ewige Leben hat.« (Joh 3,14–15) Der Vergleichspunkt zwischen den beiden Textaussagen liegt im Folgenden: So wie die Israeliten auf die Schlange schauten und dadurch geheilt wurden, so erfährt der glaubende Mensch das Heil, in dem er auf den Gekreuzigten blickt. Dieser typologische Zusammenhang von Altem und Neuem Testament wurde bereits in der mittelalterlichen Kunst dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Darstellung des Stabes, an dem die Schlange festgemacht ist, die Form eines Kreuzes erhielt. Die Typologie »eherne Schlage – gekreuzigter Christus« wurde in der lutherischen Theologie übernommen, um so den inneren Zusammenhang von Altem und Neuem Testament zu verdeutlichen. Das letzte Relief des alttestamentlichen und das letzte Relief des neutestamentlichen Bildzyklus sind aufeinander bezogen. So ist der typologische Zusammenhang im Bilderzyklus des »Biblischen Hauses« in sich stimmig.

4.2

Die neutestamentliche Reihe

Die Reliefs zu den neutestamentlichen Themen werden in der geschichtlichen Abfolge von links nach rechts angeordnet: Ankündigung der Geburt Jesu – Geburt Jesu – Die Taufe Jesu – Das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern – Die Kreuzigung.

Abb. 7: Die Ankündigung der Geburt Jesu (Lk 1,26–38)

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Abb. 8: Die Geburt Jesu (Lk 2)

Abb. 9: Die Taufe Jesu (Mk 1,9–11)

Abb. 10: Das letzte Abendmahl (Mt 26,17–30)

Abb. 11: Die Kreuzigung Jesu (Mt 27,31–56)

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Bei der neutestamentlichen Relief-Reihe standen Auftraggeber und Künstler vor einer ungleich schwereren Aufgabe als bei der alttestamentlichen Reihe. Es galt aus der Breite der neutestamentlichen Überlieferung fünf Themen auszuwählen, die verdeutlichen, worum es Jesus mit seiner Botschaft vom Reich Gottes gegangen ist. Mit der Konzentration auf die genannten Themen wird ein Programm erkennbar, das deutlich vom reformatorischen Verständnis des Evangeliums her strukturiert ist.12 Die Reliefs beziehen sich jeweils deutlich auf konkrete biblische Texte. Sie werden durchgängig dem sola scriptura der Reformation gerecht. Es fällt auf, dass es kein Relief zum Thema Auferstehung gibt. Das ist eigentlich überraschend. Für das reformatorische Verständnis gehört die Auferstehung als zentrales Ereignis zur Botschaft des Evangeliums. Es ist zu bedenken, dass das »Biblische Haus« sich nicht mehr in seiner ursprünglichen Gestalt befindet. Es gab noch einen steinernen Renaissance-Giebel, der im Jahre 1726 einem Brand zum Opfer fiel. Man kann nur spekulieren, was im Giebel des Hauses dargestellt wurde. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es ursprünglich in diesem Giebel eine Auferstehungs-Darstellung gegeben hat, die sozusagen alles »überwölbte«.

5

Schlussüberlegungen

Vergleicht man die biblischen Texte, die für die zehn Reliefs des »Biblischen Hauses« ausgewählt wurden mit den Themen der Holzschnitte in Luthers »Passional«, so ist eine große Parallelität erkennbar. Darin spiegelt sich nicht zuletzt der gemeinsame theologische Hintergrund Lutherscher Theologie: »Biblisches Haus« (1572) Altes Testament Nr. 1: Erschaffung Evas Nr. 2: Der Sündenfall/Vertreibung aus dem Paradies (Doppelbild) Nr. 3: Isaaks Opferung Nr. 4: Empfang der Zehn Gebote Nr. 5: Die eherne Schlage Neues Testament Nr. 6: Ankündigung der Geburt Jesu Nr. 7: Die Geburt Jesu Nr. 8: Die Taufe Jesu Nr. 9: Das letzte Abendmahl Nr. 10: Die Kreuzigung Jesu

Luthers »Passional« (1529)13 Altes Testament Nr. 2: Gott bläst Adam den Odem ein und erschafft Eva (Doppelbild) Nr. 3: Der Sündenfall und Nr. 4: Vertreibung aus dem Paradies Fehlanzeige Nr. 9: Empfang der Zehn Gebote Nr. 11: Die eherne Schlange Neues Testament Nr. 12: Ankündigung der Geburt Jesu Nr. 14: Die Geburt Jesu Nr. 21: Die Taufe Jesu Nr. 28: Das letzte Abendmahl Nr. 39: Die Kreuzigung Jesus

12 Donat: Das »Biblische Haus« (s. Anm. 4), 84–85 macht den interessanten Versuch, den einzelnen Reliefs jeweils korrespondierende Äußerungen aus Luthers Predigten zuzuordnen. 13 Luthers »Passional« enthält insgesamt 50 Holzschnitte. Den Reliefs des »Biblischen Hauses«

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Von den elf alttestamentlichen Bildthemen in Luthers »Passional« sind fünf identisch mit Themen an der Fassade des »Biblischen Hauses«. Das Thema »Isaaks Opferung« fehlt allerdings in Luthers »Passional«. Bei den neutestamentlichen Themen finden sich alle Thematiken der Reliefs auch in den Holzschnitten von Luthers »Passional«. Das »Biblische Haus« ist eine Konkretisierung jenes eingangs zitierten Vorschlages von Martin Luther, biblische Bilderzyklen an den Außenwänden der Häuser aufzumalen. Im Sinne Luthers ist es sicherlich, dass man zur künstlerischen Gestaltung solcher biblischer Szenen nicht nur an das Malen, sondern auch an in Stein gemeißelte Reliefs denken darf. Die biblischen Reliefs in Görlitz sind von einer vielfältigen, wohlausgewogenen und eindrucksvollen Ornamentik umgeben. Das theologische Bildprogramm ist eindeutig als reformatorisch zu erkennen. Es ist darüber hinausgehend als gut lutherisch einzuordnen. Es ist in dieser Form im deutschen Sprachraum und darüber hinaus einmalig. Fazit: Das »Biblische Haus« in Görlitz stellt ein einzigartiges Juwel der Illustration biblischer Texte aus der Zeit der Hochrenaissance dar.

wurden jene Nummern von Holzschnitten zugeordnet, bei denen die gleiche Thematik behandelt wird.

Susanne Heine

Radikalisierung. Zur Psychodynamik von Angst, Hass und Gewalt

1

Methodische Vorbemerkungen und Grenzmarkierungen

Dieser Beitrag1 befasst sich mit einer religions- und sozialpsychologischen Sicht auf eine Dynamik, die zu Hass und Gewalt führen kann; zu einem Terror, der in islamischer Gestalt seit geraumer Zeit Menschen und ganze Staaten in Angst und Schrecken versetzt. Jedoch lässt sich die dahinterliegende Psychodynamik nicht auf den islamischen Kontext beschränken; sie kann in allen Religionen, aber auch außerhalb eines religiösen Umfelds auftreten und unterschiedliche Formen annehmen. Daher geht es hier um eine allgemeine bzw. paradigmatische Analyse und die Frage, was Menschen dazu bringen kann, nur noch zu hassen – die Welt, die Menschen und sich selbst, und welche Taten daraus erwachsen können. Bei einer solchen Analyse müssen freilich mehrfache Grenzen bedacht werden:

1.1 Psychologische Analysen folgen nicht dem einfachen Kausalschema von einer Ursache und deren notwendiger Wirkung, sondern von möglichen Ursachen und möglichen Wirkungen. Der Hass ist ein Gefühl, das unterschiedliche Ursachen und mögliche Wirkungen haben kann, darunter die verbale Gewalt in der Hetze und die handgreifliche Gewalt. Widrige Lebensumstände, die einem Menschen nachhaltigen Hass einpflanzen, können bei einem anderen Menschen Energien freisetzen, um zu neuen Ufern aufzubrechen, einen Beruf zu erlernen und eine Familie zu gestalten. Hass kann sein, muss aber nicht sein.

1 Der Beitrag geht auf Vorträge zurück, die die Verfasserin zur Eröffnung der Konferenz »Das öffentliche Gespräch in der Demokratie« am 7. März 2017 an der Donau-Universität Krems sowie am 11. Oktober 2017 an der Akademie am Dom in Wien gehalten und für die Veröffentlichung überarbeitet hat.

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1.2 Für Hass und Gewalt gibt es daher nie nur eine Ursache, immer spielen mehrfache Faktoren zusammen. Das können soziale Benachteiligung, Demütigung oder erlebte physische Gewalt sein. Auch das Ausmaß des negativ Erlebten spielt eine Rolle und korreliert mit dem Ausmaß der psychischen Sensibilität. Für die Ausübung von Gewalt ist schließlich ein leicht erreichbares Angebot von Mitteln, Waffen oder Sprengstoff, von Bedeutung.

1.3 Psychologische Theorien wurden und werden aus langjähriger Erfahrung der Arbeit mit Patienten gewonnen. Auch empirische Erhebungen greifen auf solche Theorien zurück,2 die allerdings nicht als bewiesen gelten können, jedoch als plausibel im Sinne des Philosophen Willi Oelmüller. Er nennt plausibel, was »man aufgrund von hinreichend vielen Beispielen mit guten Gründen vor sich und anderen rechtfertigen kann, nicht etwas, das man durch Gewalt oder auch nur durch Gewohnheit und Sitte oder aufgrund empirisch-logischer Beweise anerkennen muß.«3

1.4 In einem Rechtsstaat gehören Verbrechen vor die Gerichte, das ist keine Frage. Aber die Psychologie will verstehen, was zu Hass und Gewalt führen kann. Verstehen heißt jedoch nicht, damit einverstanden zu sein oder gewalttätige Handlungen zu rechtfertigen. Die erste Reaktion auf Hass und Gewalt besteht in der Regel in moralischer Verurteilung. Dies ist einerseits berechtigt, führt aber andererseits nicht dazu zu begreifen, was in Menschen vorgeht, und wie damit umgegangen werden könnte, ohne mit Hass und Gewalt zu antworten.

2 Vgl. Susanne Heine: Grundlagen der Religionspsychologie. Modelle und Methoden (UTB 2528. Theologie, Religion), Göttingen 2005, 67–106 (Kap. 3). 3 Willi Oelmüller: Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel (Stw 263), Frankfurt a.M. 1979, Einleitung zur Neuausgabe, VIII–IX.

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1.5 Psychologische Analysen laufen Gefahr, dass daraus eine Art Populärpsychologie mit pauschalierenden Zuschreibungen wird, die Menschen und Gruppen stigmatisiert. Das sollte jedenfalls vermieden werden. Solche Analysen sind noch keine Lösung, aber dazu imstande, tiefere Einblicke zur Verfügung zu stellen, die sich der bloßen äußeren Beobachtung entziehen. Darum soll es nun gehen.

2

Wut, Hass und Liebe – ein Grundkonflikt

Ein Mensch ist vom Beginn seines Lebens an unterschiedlichen Formen von Aggression ausgesetzt: dem Ärger über andere, etwa eines Kindes über die Eltern, die ihm nicht geben, was es jetzt und sofort will; oder umgekehrt: Nervenaufreibende Kinder, die partout nicht ins Bett gehen wollen. Aber auch der Ärger über sich selbst, bei Kindern und Erwachsenen, wenn etwas trotz vieler Versuche nicht gelingt; oder der Zorn auf andere, die den eigenen Idealvorstellungen nicht entsprechen, was sich zur Selbstgerechtigkeit steigern kann. Der Hass ist freilich die stärkste und nachhaltigste Emotion und unterscheidet sich von der Wut, die plötzlich aufflammen kann, wenn andere die eigenen Wünsche massiv durchkreuzen. Wut kann zwar sogar zu Totschlag führen, ist aber ein Ausnahmezustand und nicht von Dauer wie der Hass, der ein ganzes Leben zu vergiften vermag. Die Wut kann sich freilich auch zum Hass verfestigen. Die Quelle solcher Aggressionen ist immer ein Verlust, ein mehr oder weniger großes Maß der Versagung von Wünschen, Strebungen oder Idealen.4 In vielen Lexika lässt sich lesen, der Gegenpol zu Hass sei die Liebe. Aber so einfach ist das nicht, vielmehr steht hinter den beiden Polen ein psychischer Grundkonflikt zwischen dem Streben nach Autonomie und Selbstbestimmung und dem Wunsch nach stabiler Zugehörigkeit und persönlicher Anerkennung. Sigmund Freud hat neben seiner Triebtheorie auch eine Beziehungstheorie entwickelt, ausgehend davon, dass Menschen nicht in der Vereinzelung leben können, daher aufeinander Rücksicht nehmen und »Triebverzicht« üben müssen.5 Somit bedarf es der Einschränkung von Begierden und Leidenschaften 4 Vgl. Donald W. Winnicott: Delinquenz als Zeichen der Hoffnung, in: ders.: Der Anfang ist unsere Heimat. Essays zur gesellschaftlichen Entwicklung des Individuums, Stuttgart 22009 (Originalausgabe 1986), (100–110) 100–102. Für Winnicott steht hinter antisozialen Tendenzen bei Kindern und Jugendlichen ein Hilferuf, dessen Gründe es zu erkennen gelte. 5 Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion [1927], in: ders.: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. (Studienausgabe 9), Frankfurt a.M. 1982, (139–189) 140 u. ö.

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durch Besonnenheit und vernünftige Selbstbeherrschung.6 Freud spricht von der »sozialen Angst«, die sich schon beim Kind bemerkbar macht, wenn Eltern oder Bezugspersonen seinem Begehren Grenzen setzen und seinen Zorn auslösen. Dadurch entstehe im Kind die Angst, die Zugehörigkeit zu verlieren. Eine solche Dynamik stellt sich nach Freud auch dann ein, wenn »an die Stelle des Vaters oder beider Eltern die größere menschliche Gemeinschaft tritt«.7 Damit kommen zwei ungleiche Strebungen zusammen: einerseits nach individueller Glücksbefriedigung, andererseits nach Anschluss an eine »unter sich libidinös verbundene Gemeinschaft«, ohne die auch keine Glücksbefriedigung möglich sei.8 Für Freud entsteht daraus eine Ambivalenz der Gefühle: In allen Beziehungen stecke immer auch ein Anteil von Aggression selbst geliebten Personen gegenüber, da niemand einem anderen alle Wünsche erfüllen kann. Die Aggression werde zwar nicht immer ausgelebt, so dass es bei Todeswünschen und Mordgelüsten bleibt, aber auch diese sind imstande, das soziale Zusammenleben zu stören, an dem Freud im Rahmen seiner Kulturtheorie entscheidend liegt.9 Der Mensch als Beziehungswesen rückte dann in den Mittelpunkt des Konzeptes der Objektbeziehungstheorie, u. a. durch den Kinderpsychiater Donald Winnicott vertreten.10 Das Streben nach Autonomie und Selbstbestimmung lasse sich z. B. schon daran erkennen, dass ein Kind selbst essen will, obwohl es das noch gar nicht kann, oder wenn es beim Überqueren der Straße nicht die Hand geben will. Zugleich sei ein Kind darauf angewiesen, gepflegt, beschützt und beachtet zu werden. Schon kleine Kinder kennen die Wut, wenn ihnen etwas versagt wird, und bekommen den Ärger zu spüren, den sie bei den Bezugspersonen auslösen, der sie jedoch nicht die Zugehörigkeit kosten darf.11 Für Winnicott erlegt die Zugehörigkeit Versagungen auf, die aber nicht so weit gehen 6 Sigmund Freud: Das Ich und das Es [1923], in: ders.: Psychologie des Unbewußten, hg. v. Alexander Mitscherlich u. a. (Studienausgabe 3), Frankfurt a.M. 1982, (282–330) 293. 7 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur [1930 (1929)], in: ders.: Fragen der Gesellschaft (s. Anm. 5), (197–270) 251. 8 Freud: Das Unbehagen in der Kultur (s. Anm. 7), 265, 238. 9 Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod [1915], in: ders.: Fragen der Gesellschaft (s. Anm. 5), (35–60) 52–57. 10 Bei Freud laufen Triebtheorie und Beziehungstheorie oft nebeneinander her, und erst gegen Ende seines Lebens begann er, der Beziehungstheorie den Vorzug zu geben; vgl. dazu: Ilse Grubrich-Simitis: Freuds Moses-Studie als Tagtraum. Ein biographischer Essay (Die Sigmund-Freud-Vorlesungen 3), Weinheim 1991, 16; vgl. auch Marcia Cavell, die bei Freud ein »Schwanken zwischen der Sprache des Geistes und der Sprache des Körpers« diagnostiziert: Freud und die analytische Philosophie des Geistes. Überlegungen zu einer psychoanalytischen Semantik, Stuttgart 1997, 15. 11 Dies thematisiert Donald W. Winnicott in allen seinen Schriften, z. B. in: Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Aus den »Collected Papers« (Fischer-Taschenbücher 42249. Geist und Psyche), Frankfurt a.M. 1997 (Originalausgabe 1958); oder in: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, Gießen 22006 (Originalausgabe 1965).

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dürfen, dass die »libidinösen« Bindungen zerbrechen. Denn unbeachtet zu bleiben oder gar verlassen zu werden, kann auch bei Erwachsenen tiefe seelische Wunden hinterlassen. Konzepte, die vom Menschen als Beziehungswesen ausgehen, diagnostizieren also einen psychischen Grundkonflikt zwischen dem Streben nach Autonomie und zugleich nach sozialer Bindung, Verlässlichkeit und Anerkennung. Versagung und Aggression, Begehren und Selbstbeschränkung um der Zugehörigkeit willen sind auch für die Dynamik von Hass und Gewalt von Bedeutung. Die widersprüchlichen Strebungen und die damit verbundene Gefühlsambivalenz müssen austariert werden, sollen Menschen Autoren ihres eigenen Lebens werden, die dazu imstande sind, sich auch von leidvollen Erfahrungen den Weg in eine bessere Zukunft nicht verstellen zu lassen.12 Das muss nicht immer gelingen.13

3

Der Wurzelboden des Hasses

Der Hass und das damit verbundene a-soziale Verhalten wurzeln in Versagungen, die als so bedrohlich erlebt werden können, dass es unmöglich wird, eine besonnene Selbstbeschränkung zu entwickeln. Und die daraus meist folgende moralische Verurteilung stellt die Zugehörigkeit in Frage, eine doppelte Leiderfahrung oftmals von traumatischem Ausmaß, die Menschen in Hilflosigkeit und Ohnmacht versetzt. Solche Erfahrungen können vielfältiger Art sein: verachtet, zurückgesetzt, grob benachteiligt oder verlassen zu werden. Eine große Rolle spielt die Verletzung des Gerechtigkeitsgefühls, sei es als individuelle oder gesellschaftliche Erfahrung. Je früher ein Mensch solche Erfahrungen ohne Alternativen machen muss, desto nachhaltiger können sie das Leben bestimmen. Der 2013 verstorbene Psychiater Gaetano Benedetti weiß das einfühlsam zu schildern, wenn er durch Zuhören an den Punkt kommt, […] wo sie [die Patienten] sagen, wie sie zur Welt und zum Menschen stehen, wie sie diese Mitwelt erleben, dann trifft uns die Anklage des leidenden Menschen gegen alles, was glücklicher, stärker ist als er. Er sagt uns, wie es in seiner Kindheit, im späteren Leben war; […] wie dieser Mensch in wesentlichen Situationen des Lebens missver12 Damit befassen sich z. B. Gudula Ritz-Schulte/Alfons Huckebrink: Autor des eigenen Lebens werden. Anleitung zur Selbstentwicklung, Stuttgart 2012. 13 Für die gesamte folgende Analyse lassen sich viele authentische Beispiele aus dem islamischen Kontext finden in: Ramazan Demir: Unter Extremisten. Ein Gefängnisseelsorger blickt in die Seelen radikaler Muslime, Wien 2017. Aufgrund seiner Erfahrungen mit von ihm betreuten jugendlichen Gefangenen zeichnet der Autor eindrücklich deren Wege in die Radikalisierung nach und schildert seine Versuche, deren verzerrtes Verständnis der Religion des Islams theologisch zurechtzurücken.

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standen wurde. Es fallen zum Beispiel die vielen Unaufmerksamkeiten, harten Urteile, widerspruchsvollen oder [auf ihn] übertragenen Erwartungen der nächsten Mitmenschen auf, die am Patienten »schuldig« wurden, ohne es zu wollen oder zu merken, […] sich täuschend [oder] in eigener Rechtfertigung sich beruhigend.

Dies kann für Benedetti eine Quelle der Aggressionen und der a-sozialen Impulse sein.14

3.1

Die Pubertät

Eine empfindliche Phase stellt die Pubertät dar, eine Zeit, in der einem jungen Menschen bewusst wird, dass die Welt voller Unrecht und zum Erschrecken ist. Die gelernten und teils auch erlebten Ideale, wie gerecht teilen, niemanden verletzen, Rücksicht nehmen, zerbrechen, und neue sind noch nicht in Sicht. Winnicott nennt diese Phase des Verlustes von Idealen eine Flaute, eine Windstille, in der das Lebensschiff stecken bleibt.15 Der in Paris lebende tunesische Psychotherapeut Fethi Benslama, der mit radikalisierten Jugendlichen arbeitet, spricht von »Entidealisierung«: Der Mensch ist am Boden zerstört, »empfindet Leere, Überdruss, Depression, Sinnlosigkeit seines Lebens und Herabsetzung seines Selbst«,16 ist hoffnungslos und fühlt sich wie tot.17 Dies lässt sich auch eine Identitätsdiffusion nennen, die Fragen stellt: Wer bin ich? Wozu bin ich auf der Welt? Warum haben mich meine Eltern überhaupt in die Welt gesetzt? Eine »Neuidealisierung« kann nun mit leidenschaftlichen extremen Ideen einhergehen, die auf eine unrealistische vollkommene Welt ausgreifen, in welcher der an sich und der Welt Verzweifelte der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen will. Dies ist oftmals verbunden mit riskantem Verhalten und gefährlichen Grenzüberschreitungen, deren Ausgang über Wert und Unwert der Person entscheiden solle. Trifft die Zeit der pubertären Verwirrung mit erlebten groben Versagungen zusammen, dann kann daraus eine tief sitzende negative Energie entstehen, die sich in einem unbändigen Hass Luft macht: »Ich liebe es zu hassen, denn das gibt mir so viel Kraft«, so ein Jugendlicher zu seinem Therapeuten Benslama.18 Auf 14 Gaetano Benedetti: Psychotherapie und Seelsorge [1968], in: Volker Laepple/Joachim Scharfenberg (Hg.): Psychotherapie und Seelsorge (WdF 454), Darmstadt 1977, (327–340) 327–328. 15 Donald W. Winnicott: Der mühsame Weg durch die Flaute, in: ders.: Aggression. Versagen der Umwelt und antisoziale Tendenz, Stuttgart 42003 (Originalausgabe 1984), (189–200) 198, 200; auch in: Donald W. Winnicott: Die Vorstellung eines gesunden Individuums, in: ders.: Der Anfang (s. Anm. 4), (23–42) 26. 16 Fethi Benslama: Der Übermuslim. Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt, Berlin 2017, 42. 17 Benslama: Der Übermuslim (s. Anm. 16), 55. 18 Benslama: Der Übermuslim (s. Anm. 16), 11.

Radikalisierung

305

diesen Zustand kann dann das entsprechende Angebot treffen, auch aus dem Internet. Nicht zufällig waren es vor allem Jugendliche, auch junge Frauen, die nach Syrien in den Kampf gezogen sind.

3.2

Die Demütigung

Eine besondere Bedeutung kommt Erfahrungen von Demütigung zu, weil sie einen Angriff auf Würdegefühl und Selbstachtung führen, so Vamik Volkan, ein anderer Psychiater, der sich Zeit seines Lebens mit Radikalisierung und Konfliktlösung befasst hat.19 Demütigung – das können physische Misshandlungen etwa durch tyrannische Väter sein oder psychischer Missbrauch durch Familienangehörige oder autoritäre Lehrer und Lehrerinnen. Als demütigende Missachtung kann auch erlebt werden, wenn z. B. Bezugspersonen in ihre eigenen Probleme so verstrickt sind, dass sie ihr Kind überhaupt nicht wahrnehmen; oder wenn geschiedene Eltern ihr Kind als Schlachtfeld ihres Rosenkrieges benutzen. Ebenso demütigend können Herabsetzungen aufgrund äußerer Merkmale wirken, die zu Mobbing führen und innerhalb einer peer-group die Betroffenen zu Außenseitern stempeln. Wenn gedemütigte Bezugspersonen nicht imstande sind, sich zu wehren, kann ein Kind dies aufgrund seiner emotionalen Bindung als eigene demütigende Beschämung empfinden. Ein Beispiel dafür bringt Sigmund Freud: Als er etwa 12 Jahre alt war, erzählte ihm sein Vater, was er in Lemberg erlebt hatte. Er sei mit einer neuen Pelzmütze ausgegangen, als ein Christ daherkam, ihm die Mütze vom Kopf schlug, sie in den Dreck warf und rief: »Jud, herunter vom Trottoir!« Auf die Frage des Sohnes, was er daraufhin getan habe, kam die Antwort: »Ich bin auf den Fahrweg gegangen und habe die Mütze aufgehoben.« Der junge Sigmund fühlte sich beschämt, denn er hätte sich eine heldenhaftere Reaktion gewünscht.20 Das Gefühl der Demütigung kann in allen Lebensphasen durch anhaltende, auch öffentliche Schmähungen von Menschen entstehen, die einer anderen Ethnie oder Religion zugehören als die Mehrheitsgesellschaft; oder die herabgesetzt und ausgeschlossen werden, weil sie sich dem selbstgemachten Ehrenkodex eine Gruppe nicht unterwerfen, sei es in der Familie, im Berufsfeld oder in religiösen Gemeinschaften. Der Mensch aber ist »kein willenloses Tröpfchen 19 Vgl. Vamik D. Volkan: Killing in the Name of Identity. A Study of Bloody Conflicts, Charlottesville 2006; vgl. James W. Jones: Blood that Cries Out From the Earth. The Psychology of Religious Terrorism, Oxford 2008, 36–40 u. ö. 20 Sigmund Freud: Traumdeutung [1900], hg. v. Alexander Mitscherlich (Studienausgabe 2), Frankfurt a.M. 1982, 208.

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Susanne Heine

Protoplasma, sondern ein Wesen mit einem Namen«, dessen bedürftig, in dieser Welt etwas zu zählen, so der Sozialpsychologe Ernest Becker.21

3.3

Die Schubumkehr

Sofern ein Mensch beginnt, sich im Spiegel erlittener Herabwürdigungen zu sehen, kann es dazu kommen, dass er sich selbst verachtet.22 Dies ist freilich schwer zu ertragen, weshalb es nahe liegt, einfach wegzuschauen, das alles nicht wahrzuhaben und innerlich zu verleugnen (Verdrängung). Aber verleugnen macht nichts ungeschehen, und das Geschehene meldet sich sprachlos zu Wort durch eine Art »Schubumkehr« von innen nach außen, von sich selbst auf alle anderen (Externalisierung): Dann verwandelt sich das erlittene Leid in Ressentiments und einen nachtragenden Groll; die Ohnmacht in Hass; die lauernde Selbstverachtung in die Verachtung anderer; die Demütigung in das Gefühl von Grandiosität mit der Berechtigung, andere zu demütigen; die Hilflosigkeit in die Wunschfantasie, Herr über Leben und Tod zu sein, und dies eventuell auch in die Tat umzusetzen. Eine Spirale beginnt sich zu drehen. Für die Psychologin und Konfliktforscherin Evelin Gerda Lindner ist Demütigung, über die individuelle Dynamik hinaus, die Kardinalursache auch aller globalen Konflikte. Sie geht davon aus, dass sich alle Menschen nach Anerkennung und Respekt sehnen, und dass diese die Basis für Zusammenleben und Kooperation bilden. Umgekehrt sieht sie Demütigung als die stärkste Kraft, die Menschen entzweit und gegeneinander kämpfen lässt: »[…] in einer globalisierten Welt zunehmender wechselseitiger Abhängigkeit stellen Gefühle und Handlungen der Demütigung das signifikanteste Phänomen dar, mit dem man rechnen muss.«23

21 Ernest Becker: Dynamik des Todes, Olten 1976, 22; vgl. ders.: Escape from Evil, New York 1975, 1–5. 22 Aus psychologischer Sicht kann dem Phänomen der Selbstmordattentate die unbewusste Selbstverachtung bzw. deren Schubumkehr in das Gefühl der Grandiosität zugrunde liegen, da religiöse Versprechen eines glückseligen Jenseits allein kaum dazu motivieren können, das eigene Leben preiszugeben; psychische Manipulation lässt sich freilich nicht ausschließen. 23 Evelin Gerda Lindner: Humiliation in a Globalizing World: Does Humiliation Become the Most Disruptive Force?, New York 2004, verfügbar unter: http://www.humiliationstudies.org/ documents/evelin/HumiliationFearGlobalizingWorld.pdf, 16 [07. 05. 2018] (Übersetzung SH). Der zitierte Satz ist dort als Frage formuliert, die der gesamte Artikel jedoch mit einem Ja beantwortet: »Could it be the case that in a globalizing world, feelings and acts of humiliation increasingly represent the most significant phenomena to be reckoned with? In this paper, a framing of current and past events is put forward that defends this conceptualization.«

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4

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Mögliche Reaktionen in Krisenzeiten

Leiderfahrungen können als massive Bedrohung erlebt werden, die existentielle Angst vor einem Identitätsverlust auszulösen vermag. Identität ist keine starre Angelegenheit, sondern bedeutet, dass sich eine Person während ihres Lebens trotz innerer und äußerer Veränderungen als ein- und dieselbe erlebt, und dass sie auch von anderen so erlebt wird. Menschen leben in einer Gesellschaft mit verschiedenen individuellen Identitäten zugleich: als Mitglieder einer bestimmten Familie, als christliche Lehrer oder muslimische Schulleiterinnen, als männliche oder weibliche Politiker, als Staatsbürger und Staatsbürgerinnen eines bestimmten Landes und einer bestimmten Region. Zur Aufgabe einer Regierung gehört, dies alles wie ein durchsichtiges luftiges Zelt zu umfangen, in dem sich die Menschen mit allen ihren Unterschieden vertrauensvoll, sicher und frei bewegen können. Dieses Gefüge kann jedoch durch gesellschaftliche krisenhafte Ereignisse ins Wanken geraten und Unsicherheit und Angst auslösen, wie es seit geraumer Zeit der Fall ist, z. B. durch: Globalisierung, Finanzkrisen, Digitalisierung, Arbeitslosigkeit, das Aufgehen der Schere zwischen Arm und Reich, Migration, Kriege fast vor der Tür, Flüchtlinge, unklare politische Verhältnisse. Das Zelt, das alle umfängt, bekommt Risse, Unterschiede verwandeln sich in Gegensätze, Neid und Misstrauen machen sich breit, und Zugehörigkeiten werden in Frage gestellt.

4.1

Großgruppenidentität und Zeltmentalität

Die Reaktion darauf kann sein, dass Menschen ihre eigenen imaginären Zelte aufbauen, in die sie sich zum Schutz voreinander flüchten. Vamik Volkan nennt dies die Regression in eine »Großgruppenidentität« mit der Folge, dass Angst und Abwehr alle in der Gruppe zusammenschweißen, oft auf Kosten der individuellen Identität.24 Zu solchen Großgruppen können sich aufgrund des Gefühls des »Gleichseins« auch Menschen zählen, die einander nicht kennen und niemals begegnet sind,25 oder sie können virtuell zusammenfinden in den sogenannten sozialen Netzwerken, in denen sich die individuelle Identität verflüchtigt. Besonders fatal wirkt sich aus, wenn auch Politiker, Parteien und Regierungsmit24 Vamik D. Volkan/Mehmet Sagman Kayatekin: Extreme Religious Fundamentalism and Violence. Some Psychoanalytic and Psychopolitical Thoughts, in: Nilay Çabuk Kaya/Aykan Erdemir (Hg.): Social Dynamics of Global Terrorism and Prevention Policies, Amsterdam 2008, (27–51) 44, 46. 25 Vamik D. Volkan: Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychologie nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte (Bibliothek der Psychoanalyse), Gießen 32003, 48; hier expliziert Volkan die Merkmale von Großgruppenidentitäten unter »Sieben Fäden«.

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glieder in ihre je eigene Zelte flüchten und dadurch die Drehgeschwindigkeit der Spirale von Hass und Gewalt beschleunigen. Großgruppenidentitäten bieten das Vermisste und Gesuchte: die Zugehörigkeit, freilich um den Preis des Verlustes von individueller Identität und Selbstbestimmung. Die Zugehörigkeit kann sich über Sprache, Ethnizität oder Religion, aber auch über das Gefühl der Benachteiligung definieren. Solche Großgruppen, die sich in einem imaginären Zelt verschanzen, pflegen eine entsprechende Mentalität: Diejenigen im Zelt wehren alle ab, die sich außerhalb des Zeltes befinden, die ebenfalls als Großgruppe gesehen werden, freilich als eine feindliche: eigene Welt und verhasste Gegenwelt. Denn die Abwehr verbindet sich immer mit einer pauschalierenden Wertung in Schwarz-Weiß-Kategorien: Die Zeltinsassen sind die reinen und perfekten Guten, stehen auf der richtigen Seite des Lichts, sind – aus religiöser Sicht – die Erwählten und Geretteten. Die außerhalb des Zeltes sind die unreinen und verdorbenen Bösen, stehen auf der falschen Seite der Finsternis, sind – aus religiöser Sicht – Sünder und Verworfene. Zu den Feinden und Sündern werden auch solche gezählt, die innerhalb des Zeltes ihre individuelle Identität nicht ganz aufgeben und nicht alles mitmachen wollen; sie gelten als Abtrünnige, werden mit Gewalt zum Bleiben gezwungen oder ausgeschlossen, im Extremfall ermordet. Innerhalb von Großgruppen herrscht ein starker Konformitätsdruck, der die um der Zugehörigkeit willen gebotene Selbstbeschränkung zur Forderung völliger Selbstpreisgabe und Unterwerfung unter die Anführer erheben kann. Zur Charakterisierung der Beziehung zwischen je eigener Welt und Gegenwelt bedient sich Volkan der Metapher einer Laterne mit einer Milchglasscheibe (opaque side), die gegen die Außenwelt gerichtet ist und diese in ein diffuses Licht taucht, das keine klaren Konturen mehr erkennen lässt. Denn alles außerhalb des eigenen Zeltes wird unterschiedslos und pauschal als bedrohlich empfunden und abgewehrt.26 Das kann sich mit einer entsprechenden hetzerischen Rhetorik verbinden, die die Bedrohung noch zu steigern vermag. Manchmal sind Schutz und Rückzug wichtiger, manchmal wird daraus das Recht abgleitet, alle, die sich außerhalb des eigenen Zeltes befinden, zu bekämpfen. Die Zeltinsassen verstehen das als berechtigte Verteidigung, denn sie fühlen sich als Opfer einer feindlichen Macht, die es verdient, zerstört zu werden. Schuld- und Mitgefühl, Entsetzen über verstümmelte Leichen, schlechtes Gewissen oder Reue kommen erst gar nicht auf, denn die jeweiligen Zeltinsassen fühlen sich moralisch überlegen und immer im Recht.27 26 Volkan/Kayatekin: Extreme (s. Anm. 24), 34 u. ö. 27 Volkan nennt dies eine politische »ideology of entitlement«, in: Volkan: Killing (s. Anm. 19), Part 2, Chapter 10, 173–187; zum fehlenden Schuldgefühl vgl. auch Donald W. Winnicott: Fehlendes Schuldgefühl, in: ders.: Aggression (s. Anm. 15), 140–147.

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4.2

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Trauma-Narrative und gewalttätige Handlungen

Großgruppen können auch ihre je eigenen Trauma-Narrative pflegen: Erzählungen vom nicht hintergehbaren Ursprung von Bedrohung, Demütigung und Ohnmacht. Erfahrungen dieser Art können sehr lange zurückliegen und müssen auch nicht unmittelbar selbst gemacht worden sein, lassen sich aber durch Identifikation in den eigenen Gefühlshaushalt integrieren.28 Menschen können sich z. B. mit gedemütigten muslimischen Gefangenen in Guantánamo identifizieren oder mit sexuell belästigten Frauen in der Kölner Silvesternacht 2015/16, je nach Profil des Zeltes. Zu den Trauma-Narrativen können auch Verschwörungstheorien aller Art zählen. In die Trauma-Erzählungen einer Großgruppe lassen sich vielfältige individuelle Lebensgeschichten einpassen im Falle von drohendem Identitätsverlust durch herabsetzende Behandlung. Dazu der Psychoanalytiker August Ruhs: »Der IS und andere Terror-Organisationen bieten eine stabile Identität«: »Du bist jetzt einer von uns [Zugehörigkeit]. Das kann verlockend sein, wenn man vorher ein Außenseiter war, keine akzeptable Identität, kein Prestige, keine Achtung gehabt hat.«29 Dem Schritt zu gewalttätigen Handlungen geht die Definition der Situation als bedrohlich voraus, ob sie dies nun faktisch ist oder nicht. In den Worten des Sozialpsychologen William Thomas: Wenn Menschen etwas als real definieren, dann werden auch reale Konsequenzen daraus gezogen.30 Eine Definition ergibt sich nicht automatisch aus der Situation, sondern die Situation wird von den Menschen entsprechend ihrer Wahrnehmung definiert. Definieren sie die Situation als bedrohlich, dann können sie daraus die Konsequenz ziehen und die Bedrohung durch gewalttätiges Handeln abwehren. Zugleich wird damit die Gewalt legitimiert. Zur Definition der eigenen Lage und zur Legitimierung von Handlungen lassen sich auch religiöse Traditionen und Schriften heranziehen, indem eine anachronistische Lesart vergangene Situationen ohne Beachtung der Zeitdifferenz auf heutige überträgt. Dabei bleibt die spirituelle Dimension auf der Strecke. Religiöse Traditionen führen nur dann zu einer Radikalisierung, wenn die eigene Lage als Szenarium existentieller Bedrohung definiert wird.31 Im Vordergrund steht immer die Psychodynamik, die sich an unterschiedliche Vorstellungen

28 Volkan: Killing (s. Anm. 19), 17, 49–53 u. ö. 29 August Ruhs im Interview, in: Die Furche 32 (11. August 2016), 15. 30 »If men define things as real, they are real in their consequences«, in: William I. Thomas/ Dorothy Swaine Thomas: The Child in America. Behavior Problems and Programs, New York 1970 (ND der Ausg. 1928), 571. 31 Vgl. Hans G. Kippenberg: Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, München 2008, 24.

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heften kann wie die reine Rasse, das ursprüngliche Volk ohne Überfremdung oder die einzig wahre Religion. 4.3

Die Versuchung der Religion

Mehr als in allen gewalt- und kriegsbezogenen Aussagen im geschichtlichen Kontext religiöser Schriften steckt die Versuchung zur Gewalt in den religiösen Verheißungen einer zukünftigen gerechten Welt ohne Leiderfahrungen. Zwischen solchen Verheißungen und der Wirklichkeit besteht freilich immer eine mehr oder weniger große Spannung, wenn nicht sogar ein Graben. Diese Spannung kann real sein, aber auch auf eine Wahrnehmung der Wirklichkeit zurückgehen, die diese Spannung noch steigert. Die Versuchung liegt nun darin, diese Spannung zwischen den religiösen Verheißungen und der Realität schon hier und jetzt aufzuheben, den Graben zu überspringen, die Welt »heil« machen und von allem Bösen reinigen zu wollen – manchmal um jeden Preis.32 Hinzukommen können apokalyptische Vorstellungen vom endzeitlichen Kampf gegen den Satan und vom Sieg Gottes, der durch seine charismatischen Führer als Retter die Standhaften ins Gottesreich oder Paradies führt, während die anderen untergehen.33 Erst muss alles ausgelöscht werden, damit Neues und Vollkommenes entstehen kann. Aus der Vorstellung, auf der richtigen Seite und mit Gott Schulter an Schulter zu stehen, kann die Selbsteinschätzung erwachsen, an der Allmacht Gottes teilzuhaben und dadurch selbst allmächtig zu sein. Benslama nennt dies treffend den »Mensch-Gott-Inzest«.34 Dabei kann sich das Opferverständnis jederzeit umkehren. Die sich allmächtig wähnen, können sich einerseits als Opfer einer hoffnungslos verdorbenen Welt fühlen, die es auf sie abgesehen hat; andererseits können sie dazu bereit sein, ihr Leben zu opfern, um sich selbst von aller Verderbnis zu reinigen und die Reinheit der Großgruppe zu gewährleisten.35 Der reale Tod wird nicht nur in Bezug auf die Gräueltaten an anderen heruntergespielt, sondern auch in Bezug auf sich selbst:

32 Vgl. Susanne Heine: Liebe oder Krieg? Das Doppelgesicht der Religion (Wiener Vorlesungen im Rathaus 111), Wien 2005; vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 1. Halbband, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 51976 (Originalausgabe 1922), 348, allerdings mit einem anderen Fokus: »Die Erlösungsreligiosität bedeutet, je systematischer und ›gesinnungsethisch‹ verinnerlichter sie geartet ist, eine desto tiefere Spannung gegenüber den Realitäten der Welt.« 33 Vamik D. Volkan: Blind Trust. Large Group Leaders in Times of Crisis and Terror, Charlottesville 2004, 167: »When ›Gods‹ are involved in human conflict, tragedies follow. Because ›Gods‹ do not negotiate«. Deutsch: Blindes Vertrauen. Großgruppen und ihre Führer in Krisenzeiten (Bibliothek der Psychoanalyse), Gießen 2005. 34 Benslama: Übermuslin (s. Anm. 16), 85. 35 Vgl. Kippenberg: Gewalt (s. Anm. 31), 41–42.

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»Der Tod, das ist nichts, das ist wie ein kleiner Stich«, so ein Jugendlicher zu seinem Therapeuten Benslama.36 Die Zerstörung kann mit einem Genuss verbunden sein,37 der darin besteht, keinen menschlichen Gesetzen mehr zu unterliegen und die schöpferische göttliche Macht zu besitzen, das Entbehrte und Heile herbeizuzwingen. Genossen wird auch die Angst, die willkürliche Massaker, manchmal als sakrales Opferritual verstanden, bei Menschen auslösen, die Augenzeugen sind oder via Medien in das grausige Schauspiel hineingezogen werden.38 Schließlich bezieht sich der Genuss auch auf sexuelle Freizügigkeit, im »Islamischen Staat« gegenüber gefangenen und versklavten Frauen.39 Radikalisierung lässt sich psychologisch als ein Kippen beschreiben von menschlichen Hoffnungen in destruktiven Realitätsverlust: von der Sehnsucht nach einer »heilen Welt« in die Sucht, alles vermeintlich Böse auszurotten; von der Vision einer besseren Welt in die Illusion, paradiesische Zustände herstellen und genießen zu können; vom Vertrauen in starke Persönlichkeiten in die Vertrauensseligkeit gegenüber selbsternannten Heilbringern, die zu Taten verleitet, die unter anderen Umständen nie begangen würden.40 Die Wurzel von Hass und Gewalt liegt nicht in der Religion, sondern in Menschen, wenn sie in eine Psychodynamik geraten, die sie nicht zu durchschauen, und der sie nicht zu entkommen vermögen. Im »Islamischen Staat«, seinen Strukturen und seiner Art der Theologie zeigt sich ein solcher Kippprozess deutlich. Freilich ist keine Religion vor Radikalisierung gefeit, die in der Regel mit gesellschaftlichen Spannungen und krisenhaften Ereignissen einhergeht. Ein extremes christliches Beispiel, und auch ein Beispiel für Großgruppenbildung mit allem, was dazugehören kann, ist die Gemeinschaft der Peoples Temple in den USA, von dem Prediger Jim Jones (1931–1978) gegründet. Mörderische Aktivitäten des rassistischen Ku Klux Klan und der Vietnamkrieg veranlassten die Gruppe, mit großer Schärfe öffentlich dagegen zu polemisieren, aber auch eine ideale Gegenwelt aufzubauen ohne Rassentrennung und mit einem karitativen Netzwerk. Allerdings auch mit einem autoritären und sexuell übergriffigen Anführer, der sich zunehmend radikalisierte, und mit einem entsprechend hohen Konformitätsdruck auf die Mitglieder, dem manche zu entkommen 36 37 38 39

Benslama: Übermuslin (s. Anm. 16), 55. Diesen Aspekt betont besonders Benslama. Benslama: Übermuslin (s. Anm. 16), 53. Rüdiger Lohlker: Theologie der Gewalt. Das Beispiel IS (UTB 4648. Islamwissenschaften, Politikwissenschaft), Wien 2016, 65–71. 40 Winnicott führt dies darauf zurück, dass Kinder, denen keine Grenzen gesetzt worden waren, die solche deshalb nicht internalisieren konnten, in Angst leben und außerhalb der Herkunftsfamilie nach »den vier Wänden« suchen, nach starken Personen, die Sicherheit zu geben versprechen, in: Winnicott: Einige psychologische Aspekte jugendlicher Delinquenz, in: ders.: Agression (s. Anm. 15), (148–156) 151, 156.

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suchten. Die Gemeinschaft geriet mehr und mehr in Konflikt mit der politischen Ordnung und deren Vertreten in Polizei und Justiz. Dies hatte zuerst die Flucht der Gruppe ins südamerikanische Guyana und die Gründung der Dschungelkolonie Jonestown zur Folge und schließlich auf Befehl des Anführers ein Massaker, Mord und Selbsttötung, innerhalb der Gruppe.41

5

Das Beispiel Islam

Der Religionswissenschaftler Hans Kippenberg weist darauf hin, dass Gewaltakte nicht in den Religionen per se wurzeln, aber am Ende lange schwelender und ungelöster Konflikte ausbrechen können.42 Dies gilt auch für die Geschichte islamisch geprägter Länder, die mit der westlichen Expansions- und Kolonialpolitik eng verknüpft ist, und das Hereinbrechen fremder Mächte bedeutete, die ihre eigenen Interessen verfolgten: die Bereicherung der Mutterländer. Aufgrund einer solchen Ausbeutungspolitik sind viele islamisch geprägte Länder Entwicklungsländer und nach wie vor vom Westen abhängig. Missionsstationen dienten der Verbreitung des christlichen Glaubens und der europäischen Kultur, die gegenüber dem Islam und den »wilden Völkern« als überlegen angesehen wurden. Am 1. Juli 1798 überfiel Napoleon Bonaparte Ägypten, vernichtete das ägyptische Heer der Mameluken, das zur Verteidigung angetreten war, und marschierte in Kairo ein. Dort fand am 22. Dezember gleichen Jahres ein Abendessen Napoleons mit den Scheichen statt, wovon eine ägyptische Zeitung folgendermaßen berichtete: 41 Ein ähnlicher Fall ereignete sich 1993, als das FBI die Gegenwelt der autonomen Siedlung einer adventistischen Gruppe in Waco (Texas) wochenlang belagern und dann mit Panzern und Tränengas stürmen ließ, so dass ein Feuer ausbrach, in dem über hundert Menschen umkamen. Für Kippenberg liegt die Schärfe solcher Konflikte u. a. in einer Gesellschaft begründet, die Religion als private Angelegenheit betrachtet und daher mit autonomen religiösen Gemeinschaftsbildungen nicht umgehen kann. Während in den USA religiöse Gemeinschaften quantitativ und qualitativ zugenommen hätten, sei in Europa Religion als Privatsache dominant »mit Ausnahme der Migranten«. Ob hierzulande deshalb vor allem muslimische Migranten als Bedrohung gesehen werden, zumal die Religion des Islams keine den Kirchen vergleichbare Institutionsbildung kennt? Inzwischen aber stehe, so Kippenberg u. a. (z. B. José Casanova), auch in Europa einer Ent-Institutionalisierung von Religion deren zunehmende Ent-Privatisierung gegenüber. Denn die Privatisierungsforderung übersehe, dass alle Religionen auf Gemeinschaft und gemeinschaftliche Praxis hin ausgerichtet sind. Letzterem kann jedenfalls zugestimmt werden: Kippenberg: Gewalt (s. Anm. 31), 60, 149, 36, 40. Daraus ließe sich evtl. der Schluss ziehen: Je weniger religiöse Gemeinschaften angefeindet werden, die sich neben den religiösen Institutionen bilden, desto geringer die Gefahr von Abschottung, Konformitätsdruck und Radikalisierung. 42 Kippenberg: Gewalt (s. Anm. 31), 203.

Radikalisierung

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General Bonaparte sagte den Scheichs, die Araber hätten zur Zeit der Kalifen die Künste und die Wissenschaften gepflegt, lebten aber heute in einer tiefen Unwissenheit und es sei ihnen nichts vom Wissensschatz ihrer Vorfahren geblieben. Scheich Sadat antwortete, es sei ihnen der Koran geblieben und der umfasse alles Wissen. Der General wollte wissen, ob der Koran lehre, wie man Kanonen herstellt. Alle anwesenden Scheichs antworteten beherzt mit ja.43

Dass der Koran bereits alles Wissen der Menschheit enthalte, ist eine weit verbreitete Überzeugung und, wie der militärische Kontext zeigt, eine verteidigende Reaktion auf die Demütigung aus dem Munde der Sieger. Damit sind bis heute Selbstvorwürfe verbunden. Denn wenn der Koran alles Wissen enthält, warum haben die Muslime das nicht erkannt? Die Antwort, die für viele bestimmend ist, lautet: Weil unser Glaube zu schwach war, sind wir Opfer westlicher Übermacht geworden.44 Daraus konnte der Ansporn erwachsen, Identität, Selbstachtung und Überlegenheit durch die Religion des Islams zu erlangen gegenüber einer westlichen Welt, die sich spätestens seit der Französischen Revolution dem Säkularismus verschrieben hat. Mit einem solchen kompromisslosen Muslimisch-Sein kann auch das Verlangen einhergehen, die Schuld der Glaubensschwäche durch Opferbereitschaft und Martyrium zu sühnen. Die Geschichte der Sieger ging weiter. Noch während des Ersten Weltkriegs teilten die Westmächte den Mittleren Osten durch willkürlich gezogene Grenzen auf, um ihre kolonialen Interessen zu sichern. Nach dem Sieg über das Osmanische Reich und dem Ende des Kalifats fand der Säkularismus einen für viele befremdlichen Eingang in eine Türkei laizistischen Zuschnitts. Nach dem Zweiten Weltkrieg bahnten die Vereinten Nationen mit der Charta zum Selbstbestimmungsrecht der Völker zwar den Weg zur Unabhängigkeit, aber damit waren die Kämpfe nicht zu Ende. Als Europa das Ende des Zweiten Weltkriegs feierte, richtete das französische Militär im Mai 1945 in Algerien ein Massaker an zehntausenden Muslimen an. Dem folgte das Massaker von Paris 1961 während des 8-jährigen Kriegs (1954–1962), in dem Algerien um seine Unabhängigkeit von Frankreich kämpfte. Dies setzte sich fort, als 1979 sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschierten, womit das Land zum Spielball des Kalten Krieges wurde. Zu Ende des Bosnienkriegs 1995 fielen 8.000 Muslime bei Srebrenica einem Massaker zum Opfer. 2003 marschierten US-Truppen im Irak ein, was zur Auflösung eines ganzen Staates führte. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich auch die Globalisierung als Fortsetzung einer Unterdrückungsgeschichte sehen.45 43 Zitiert nach Benslama: Übermuslim (s. Anm. 16), 77. 44 Eine Parallele stellt die prophetische Überlieferung der hebräischen Bibel dar, die den erfolgreichen und zerstörerischen Ansturm der Fremdvölker wie der Assyrer und Babylonier im 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. als Strafe für den Abfall vom Ein-Gott-Glauben interpretiert. 45 Vgl. Lohlker: Theologie (s. Anm. 39), 13.

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Diese Geschichte gab in muslimisch geprägten Ländern den Anstoß zur Suche nach einer eigenen Identität und einem einigenden gesellschaftlichen Band. Religionen sind besonders geeignet, Identität und starke soziale Bindungen zu schaffen, da sie ein ganzheitliches System darstellen, das mit kognitiven, moralisch-praktischen und symbolisch-expressiven Bezügen zur Welt alle Dimensionen des Menschseins umfasst.46 In diesem Fall fanden viele Identität und Zusammenhalt in der Religion des Islams, die ihnen geblieben war, und die es zu verteidigen galt und gilt. Gewalt und Terror sind der Religion des Islams nicht wesenhaft eigen, auch keiner anderen Religion.47 Sie sind das Ergebnis einer neuzeitlichen fatalen Gewaltgeschichte, an die individuelle psychische Schieflagen jederzeit andocken können. Hinter dem, was heute Islamismus oder politischer Islam genannt wird, steht eine bestimmte Form von Theologie, die eine selektive anachronistische Auslegung religiöser Texte betreibt und daraus die Berechtigung ableitet, einer untergangswürdigen Welt den Todesstoß zu versetzen.48

6

Wie sich die Bilder gleichen

Mit diesem kurzen Rückblick auf die Geschichte soll kein Schulddiskurs eröffnet, sondern eine traurige Realität ins Auge gefasst werden, die weitgehend vergessen ist oder nicht wahrgenommen werden kann oder will. Denn die damit verbundenen Erfahrungen haben sich als Verletzung der Würde im kollektiven Gedächtnis von muslimischen Familien und Gruppen niedergeschlagen. Aber müsste nicht auch »der Westen« seine Taten als Verletzung seiner eigenen Würde empfinden? Beide Seiten neigen dazu, diese Geschichte von sich fernzuhalten und können sie daher auch nicht angemessen betrauern, denn hinter einer solchen Trauer lauert wieder die Beschämung, die mit Hass auf die anderen abgewehrt wird.49 Schon Max Weber hatte diagnostiziert, dass »negativ Privilegierte« nach Würde hungern. Als Möglichkeit, diese zu gewinnen, sieht er eine »verbürgte Verheißung«, welche die Benachteiligten durch eine besondere Sendung privi46 Vgl. Klaus Hartmann: »Es könnte auch Religion sein …«. Religiöse Orientierungen in biographischen Konstruktionen von Managern, in: Monika Wohlrab-Sahr (Hg.): Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt a.M. 1995, 243–264. 47 Vgl. Susanne Heine u. a. (Hg.): Christen und Muslime im Gespräch. Eine Verständigung über Kernthemen der Theologie, Gütersloh 22016. 48 Das Profil dieser Theologie mit vielen Beispielen in: Lohlker: Theologie (s. Anm. 39). 49 Für Volkan kann Trauer dadurch verhindert werden, dass sich Großgruppen zu gedemütigt und hilflos fühlen oder zu schuldig, in: Vamik D. Volkan: The Need to Have Enemies and Allies. From Clinical Practice to International Relationships, Northvale, NJ 1988, XXVII.

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legiert, das Vermisste zu verwirklichen – in dieser Welt und für danach.50 In diesem Zusammenhang können auch Trauma-Narrative einer Schubumkehr unterliegen. Das erlitte Trauma verwandelt sich dann in den Traum von Ruhm, Ehre und Heldentum bis hin zu einer imaginierten Schöpferkraft, die eine neue Welt zu kreieren vermag.51 Das Resultat können antagonistische Szenarien sein. Idealtypisch zugespitzt,52 findet dann auf der einen Seite eine Regression in eine machtvolle und expansive vergangene »Heilszeit« statt, nämlich in das Medina des 7. Jahrhunderts, wo die Religion des Islams noch ein alle einigendes Band gebildet habe. Was einmal war, soll durch heldenhaften Einsatz wieder geschaffen werden, wenn es sein muss auch mit innerem Zwang und äußerer Gewalt. Aus der Illusion einer solchen rückwärtsgewandten Utopie folgt der Verlust des Bezugs zur Wirklichkeit; sie wird abgewertet und dämonisiert als Voraussetzung dafür, sie verachten und bekämpfen zu können. Solche Utopien lassen die Suche nach konkreten Lösungen mit zivilen Mitteln nicht mehr in den Blick kommen. Auf der anderen Seite findet eine Regression in die vergangene »Heilszeit« eines christlichen Abendlandes statt, wo das Christentum noch für Homogenität gesorgt habe.53 Was einmal war, soll wieder geschaffen werden. Aus dieser rückwärtsgewandten Utopie folgen ebenfalls der Verlust des Bezugs zu einer religionspluralistischen Wirklichkeit und die Dämonisierung derer, die angeblich die Homogenität stören, um sie verachten und bekämpfen zu können durch verbale Hetze, aber auch durch Gewalt; ein Beispiel ist Anders Behring Breivik, der 2011 in Norwegen ein Massaker angerichtet hatte. Auch in einem solchen Fall bleibt die Suche nach konkreten Lösungen mit zivilen Mitteln außer Sichtweite. Wenn sich Trauma-Narrative in Heldenepen verwandeln, wird die Spirale von Hass und Gewalt noch einmal angetrieben. In dem einen Zelt versammeln sich dann die Großen und Machtvollen, die guten und gläubigen Muslime, die gegen die Insassen des anderen Zeltes einen heldenhaften Kampf führen, verbal oder handgreiflich – gegen den materialistischen und degenerierten Westen, gegen 50 Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (s. Anm. 32), 297–299. 51 Vamik Volkan spricht von »chosen traumas« und »chosen glories«, in: September 11 and Societal Regression, in: Mind and Human Interaction 12 (2001), (1–20) 3, verfügbar unter: https://www.researchgate.net/publication/323812178/download [12. 09. 2018]. 52 Der vor allem auf Max Weber zurückgehende Begriff »idealtypisch« bedeutet, aus einem realen sozialen Feld auffällige Merkmale in Bezug z. B. auf Vorstellungen und Handlungsformen und -abläufe zu extrahieren und durch Steigerung zu profilieren. Dies dient dazu, Schneisen in die phänomenologische Fülle der Realität zu schlagen, um Arbeitshypothesen für die weitere Forschung zu gewinnen. Idealtypen können die Wahrnehmung schärfen, sind aber kein Abbild der Realität, in der die Merkmale immer in unterschiedlicher Ausprägung und in Mischformen vorkommen. 53 Eine solche Regression findet sich nicht nur in populistischer Rhetorik, sondern kann auch auf christliche Gruppen zutreffen, z. B. auf die Pius-Brüder, die der rückwärtsgewandten Utopie eines römisch-katholischen Abendlands anhängen.

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Christen, Juden und Agnostiker; auch gegen abtrünnige Muslime, die sich angeblich dem verhassten Westen anbiedern. In dem anderen Zelt versammeln sich die Großen und Machtvollen, die guten, aufgeklärten, kulturell hochstehenden und christlichen Europäer, die gegen die muslimischen Zelte einen heldenhaften Kampf führen – gegen fremde Eindringlinge, pauschal gegen alle Muslime, die angeblich nichts anderes vorhaben, als die gesamte Gesellschaft zu islamisieren und der Scharia zu unterwerfen;54 auch gegen sogenannte Gutmenschen, die ihre Augen angeblich vor der Bedrohung verschließen. Ein unterschiedliches Ausmaß von Gewaltakten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in beiden Fällen dieselbe Dynamik des Hasses am Werk ist.

7

Wie damit umgegangen werden könnte – Thesen

Diesbezügliche Überlegungen haben ihre Grenze darin, dass Menschen, die in eine Psychodynamik des Hasses verstrickt sind, alle Sichtweisen und Argumente abwehren, die ihrer eigenen Wahrnehmung widersprechen. Die folgenden Thesen können daher nur kleine Hinweise sein, die die Offenheit voraussetzen, auch einmal eine andere Perspektive einzunehmen.

7.1

Aus psychologischer Perspektive

– Das Trauma der Erfahrung von Ohnmacht und Hilflosigkeit angesichts eines grassierenden Antisemitismus ließ Sigmund Freud am Ende seines Lebens zu dem Schluss kommen: Auch der Mensch »unserer Zeit […] bleibt infantil und schutzbedürftig selbst als Erwachsener«.55 Die heutige Zeit ist nicht weniger besorgniserregend, und vielleicht wäre es ein erster Schritt, sich die Hilflosigkeit einzugestehen, um nicht in die Spirale des Hasses hineingezogen zu werden.

54 Dass Muslime zunehmend als Bedrohung gesehen werden, zeigt bereits das Integrationsbarometer von 2016, z. B. in Kap. A.2: Abwertung von Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit, 70; Kap. A.3: Darstellung des Islam in den Medien, 72, in: Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration: Viele Götter, ein Staat. Religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland. Jahresgutachten 2016 mit Integrationsbarometer, 2016, verfügbar unter: https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2016/04/SVR_JG_2016mit-Integrationsbarometer_WEB.pdf [07. 05. 2018]. 55 Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen [1939 (1934–38)], in: ders.: Fragen der Gesellschaft (s. Anm. 5), (459–581) 573.

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– Sich bewusst zu machen, dass Selbstbestimmung nicht alles ist, sondern dass alle Menschen der Zugehörigkeit und Anerkennung bedürfen, könnte es möglich machen, niemanden zu demütigen und auszugrenzen. – Die Psychologie hat eine unangenehme Eigenschaft, die aber zur Lösung von Konflikten hilfreich, wenn nicht notwendig ist, nämlich die rückbezügliche Frage: Welchen Anteil könnte ich, könnten wir, könnten Gesellschaft und Politik an Konflikten haben? – Es wäre viel gewonnen, die Geschichte und die Erzählungen von Unrecht und Demütigung auf beiden Seiten wahrzunehmen, individuell wie global. Eine Unheilsgeschichte im Gedächtnis zu halten, bedeutet nicht, sich auf sie zu fixieren und damit den Weg zu neuen Ufern zu versäumen. Eine solche Geschichte einander aufzurechnen, schürt jedenfalls nur den Hass. – Eine Warnung: Auf Menschen zu hören, die als Retter und Erlöser von allen Übeln auftreten, die sie noch dazu in übertriebener Form an die Wand malen, endet immer im Totalitären.

7.2

Aus politischer Perspektive

– Bürger und Bürgerinnen eines Staates sind darauf angewiesen, dass Regierungen sie wie ein luftiges Zelt umfangen, in dem sich alle Menschen vertrauensvoll, sicher und frei bewegen können. Dafür haben Träger öffentlicher Verantwortung in Politik, Diplomatie, Medien oder Glaubensgemeinschaften zu sorgen, nicht zuletzt im eigenen Interesse. Die Flucht in Großgruppen und die Verstrickung in Trauma-Narrative machen blind für die Realität und steigern die Ängste ins Diffuse. Politische Verantwortung verlangt realistische Einschätzungen und den Willen, die Gesellschaft als Solidargemeinschaft zusammenzuhalten. – Es wäre nicht verfehlt, wenn sich Menschen in öffentlicher Verantwortung in Bezug auf die Psychodynamik des Hasses kundig machen. Dann könnten sie sich dessen bewusst werden, wo und wie sie gegebenenfalls selbst den Dreh der Spirale von Hass und Gewalt beschleunigen. – Plattformen für interkulturelle und interreligiöse Begegnung können zu einem solchen Bewusstsein beitragen, weshalb es nicht genug davon geben kann. Diese wären zu fördern und in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs einzubeziehen.

318 7.3

Susanne Heine

Aus der Bildungsperspektive

– Niemandem ist ein Vorwurf daraus zu machen, wenn er oder sie etwas nicht weiß, wohl aber, wenn er oder sie meint, mit mangelnden Kenntnissen auszukommen und sich nicht darum bemüht, neues Wissen zu erwerben. Halbwissen ist gefährlicher als eingestandene Unwissenheit. – Dies gilt besonders für eine religiöse Bildung, die nicht auf den Binnenbereich der Religionsgemeinschaften beschränkt werden kann und darf. In religionsneutralen Staaten gilt Religionsfreiheit, auch eine »negative«, denn niemand wird zu einem Glauben verpflichtet, wohl aber dazu, den Religionsfrieden zu wahren. Wird Religion aus dem öffentlichen Verständigungsdiskurs entlassen, dann folgt daraus ein religiöser Analphabetismus, der Verständigung von vornherein ausschließt, Vorurteile perpetuiert und religiöse Gemeinschaften ins Abseits drängt, wo sie ungehindert seltsame Blüten treiben, sich auch radikalisieren können. In einer pluralistischen Gesellschaft, die sich nicht rückgängig machen lässt, müssen alle viel voneinander wissen, um zu wissen, wer sie selbst sind. – Werte lassen sich nicht als Wissen weitergeben, sondern müssen den Menschen aufgrund positiver Erfahrungen als wertvoll einleuchten. Deshalb erübrigen sich alle abstrakten Wertediskussionen.56 Werte bedürfen einer glaubwürdigen Bezeugung durch entsprechende Haltungen und ein entsprechendes Handeln, besonders von Menschen in öffentlichen Leitungspositionen in Politik, Bildung und Religionsgemeinschaften. Dadurch kann Vertrauen in die Realität trotz aller ihrer Widersprüche und Spannungen entstehen. Werte eigenen sich nicht zur moralischen Keule. – Anstatt auf Verdacht hin pauschal gegen eine mögliche Radikalisierung zu kämpfen, wäre es vorzuziehen, besonders den Jugendlichen noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als es geschieht. Es empfiehlt sich, auf ihre Fragen: »Wer bin ich? Wozu bin ich auf der Welt?« einzugehen und sie nach den Wunden zu fragen, die grobe Versagungen ihnen geschlagen haben, anstatt sie mit moralischer Verurteilung noch weiter in die Krise zu treiben. Positive Potentiale, die in jedem Menschen stecken, können sich nur entfalten, wenn

56 Martin Buber schildert sehr treffend, dass es nichts bewirkt, Werte, die der Kategorie der inneren Einstellung zugehören, lehren zu wollen: »Ich versuche zu erklären, daß Lüge das Leben zerstört, und etwas Furchtbares geschieht: der schlimmste Gewohnheitslügner in meiner Klasse schreibt einen glänzenden Aufsatz über die zerstörerische Macht der Lüge. Ich habe den fatalen Fehler begangen, Ethos zu unterrichten, und was ich sagte, wird als gangbare Kenntnismünze aufgenommen«, ohne den geringsten Einfluss auf den Charakter, in: Über Charaktererziehung [1939], in: ders.: Reden über Erziehung (Serie S), Heidelberg 81995, (65– 90) 67.

Radikalisierung

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eine Gesellschaft und deren Bildungsverantwortliche den jungen Menschen Achtung und Zutrauen entgegenbringen.57

8

Über den Steg gehen

Ich halte es mit Martin Buber, wenn er sagt: Vom Schicksal, von der Natur, von den Menschen gezwungen werden: der Gegenpol ist nicht, vom Schicksal, von der Natur, von den Menschen frei, sondern mit ihm, mit ihr, mit ihnen verbunden und verbündet sein; um dies zu werden, muß man freilich erst unabhängig geworden sein, aber die Unabhängigkeit ist ein Steg und kein Wohnraum.58

Man muss unabhängig geworden sein von der Dynamik des Hasses, um sich den Menschen auch in ihrer Ohnmacht und Angst, ihrer Verzweiflung und ihrem Hass zuwenden zu können und die Frage nach der Wunde zu stellen, die nicht heilen will. Eine solche Frage hatte Parzival im Artus-Roman von Wolfram von Eschenbach gegenüber dem Gralskönig Anfortas zunächst versäumt, dann aber nachgeholt. Etwas nachholen ist immer möglich. Dann ließe sich über den Steg gehen in einen Wohnraum des Vertrauens und der Verbundenheit zwischen Menschen und in einer Gesellschaft.

57 Auch Buber (Über Charaktererziehung [s. Anm. 56], 70) betont, dass nur Achtung und Zutrauen die Grundlage für Vertrauen bilden können: »Vertrauen bedeutet für den Jugendlichen, den die unzuverlässige Welt erschreckt und enttäuscht, befreiende Einsicht, dass es eine menschliche Wahrheit, die Wahrheit menschlicher Existenz gibt. […] Und so lernt er fragen.« 58 Martin Buber: Über das Erzieherische [1925], in: ders.: Reden über Erziehung (s. Anm. 56), (11–49) 26.

Predigt

Michael Bünker

»Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.« (Mt 5,6). Predigt im Gottesdienst zum Gedenken an den ersten Österreicher-Transport nach Dachau Evangelische Versöhnungskirche – KZ Gedenkstätte Dachau, 8. April 2018

Am 1. April 1938 meldete die Kriminalpolizeileitstelle Wien den ersten Transport von sogenannten »Schutzhäftlingen« nach dem Konzentrationslager Dachau. Fast hört man ein wenig Selbstmitleid aus dem Bericht des Polizeimajors, der die Aktion zu leiten hatte, wenn er von einigem »Kopfzerbrechen«, von »Arbeit« und »Schwierigkeiten« schreibt, weil ja »noch keine Erfahrungen diesbezüglich vorhanden« waren. Nun, wir wissen, dass sich das bald ändern sollte. Aber dann heißt es im Bericht: »Der Abtransport erfolgte mit 9 Zellenwagen im Abstande von 5–6 Minuten zwischen 19 und 21 Uhr. Der Abtransport hinterließ bei allen Sicherheitswachebeamten einen gewissen psychischen Eindruck, hervorgerufen durch das Dabeisein der eigenen ehemaligen hohen und höchsten Vorgesetzten.«1 In der Tat befanden sich unter den Häftlingen die führenden Männer der ehemaligen Regierung, Polizeidirektoren, hohe Funktionäre der Gewerkschaft und der politischen Parteien, darunter die späteren Bundeskanzler Leopold Figl und Alfons Gorbach, sowie zahlreiche prominente jüdische Bürger aus Wien. Bei manchen gab es Überschneidungen, wie etwa beim Sozialdemokraten Robert Danneberg, der den Nazis als Inbegriff des »jüdisch-marxistischen Arbeiterverhetzers« galt.2 Die Fahrt der neun vollgepferchten Wagen ging von der Roßauer Lände über die Ringstraße (damals noch keine Einbahn) vorbei an Universität, Rathaus, Burgtheater und Parlament. Viele der Häftlinge hofften noch, dass am Ende der Fahrt ihre Freilassung stehen würde. Doch als die Kolonne vom Ring abfuhr und in die Mariahilfer Straße einbog, schrie plötzlich jemand voller Schrecken: »Nach Dachau! Ins Konzentrationslager!«3 Am Westbahnhof wurden die Häftlinge von der Dachauer SS-Wach1 Bericht der Kriminalpolizeileitstelle Wien, 01. 04. 1938, zitiert nach: Wolfgang Neugebauer/ Peter Schwarz: Stacheldraht, mit Tod geladen … Der erste Österreichertransport in das KZ Dachau 1938, Wien 2008, 17. 2 Neugebauer/Schwarz: Stacheldraht (s. Anm. 1), 32. 3 Zitiert nach: Neugebauer/Schwarz: Stacheldraht (s. Anm. 1), 21.

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Michael Bünker

mannschaft übernommen und sofort schwer misshandelt. Unter ständigen Schlägen prügelte man sie in die bereitstehenden Waggons. Einer der Betroffenen, Rudolf Kalmar, schrieb später. »Als wir damals auf dem Westbahnhof von der Wiener Polizei der Dachauer SS übergeben wurden, hörten wir auf, Menschen zu sein.«4 Quälereien und Demütigungen setzten sich während der ganzen zehnstündigen Fahrt hindurch fort und erreichten nach dem Eintreffen hier in Dachau am 2. April bei der Aufnahme ihren Höhepunkt. Quälender als der physische Schmerz, als Hunger und Durst, war das Gefühl der ausweglosen, unentrinnbaren Einsamkeit, schrieb Kalmar, die Hilflosigkeit und Ohnmacht, das »völlige[…] Ausgestoßensein[…] aus allen Bezirken des Menschlichen.«5 Noch einmal schlimmer traf es die Repräsentanten der jüdischen Gemeinde in Wien, Desider Friedmann, Jakob Ehrlich und Robert Stricker und die zahlreichen Angehörigen der jüdischen Kaufmannsfamilien Burstyn und Schiffman. Die meisten überlebten die NS-Zeit nicht. Aus ihren Reihen kam auch das erste österreichische Opfer in Dachau, der Gewürzhändler Johann Kotanyi, der drei Wochen nach seiner Einlieferung in den Selbstmord getrieben wurde. Gerade heute, am achten Tag des Pessach, an dem das Jiskor, das Totengedenken gesprochen wird, denken wir an sie und erschrecken auch über den Mord an der Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll in Paris vor wenigen Tagen (23. März 2018) und den mitten unter uns wieder zunehmenden Antisemitismus heute. Beinahe wöchentlich wird in Deutschland eine Synagoge angegriffen oder ein jüdischer Friedhof geschändet. Im Jiskor für die Märtyrer aller Generationen heißt es: »Für alle, die getötet wurden, nur weil sie Juden waren, verspreche ich Zedaka, Gerechtigkeit zu geben.« Jesus Christus spricht (Mt 5,6): »Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.« Ein anderer Österreicher, der wenig später nach Dachau kam, war Jura Soyfer. Von ihm stammt der Text des Dachau-Liedes »Stacheldraht mit Tod geladen«, in dem es trotzig, ja beschwörend im Refrain wieder und wieder heißt: »Bleib ein Mensch, Kamerad!«6 Aber wie geht das, wie macht man das, ein Mensch zu bleiben, wenn einem alles Menschliche genommen wird, bis hin zum Namen, und jede menschliche Regung, wie gegenseitige Hilfe, verboten ist? Wie kann es Menschlichkeit geben, wenn einem jedes Recht genommen ist, wenn völlige Willkür herrschen, reiner Terror und pure Gewalt? Ecce homo! Sehet, welch ein Mensch! Mit diesen Worten präsentiert Pontius Pilatus den geschundenen, gequälten und dem Tod verfallenen Menschen Jesus 4 Rudolf Kalmar: Zeit ohne Gnade, hg. v. Stefan Maurer u. Martin Wedl, Wien 2009 (Originalausgabe 1946), 45. 5 Kalmar: Zeit ohne Gnade (s. Anm. 4), 46. 6 Zitiert nach: Neugebauer/Schwarz: Stacheldraht (s. Anm. 1), Umschlagsseite.

»Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit.«

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(Joh 19,5), ohne zu wissen – wie sollte es ein Pilatus auch wissen! – dass er ihnen den menschgewordenen Gott präsentiert. Die Liebe Gottes setzt sich der Unmenschlichkeit aus. Er lässt sich selbst aus allen Bezirken des Menschlichen hinausstoßen. »Am Leibe Jesu Christi«, so schreibt Dietrich Bonhoeffer, »tobt sich die Welt aus«,7 wie sich die SS-Schergen an den Leibern der Häftlinge hier ausgetobt haben. Bleib ein Mensch, Kamerad, stell dich auf die Seite der Menschlichkeit, der Humanität, der Menschenwürde und der Menschenrechte. Gott hat sich auf diese Seite gestellt. Er hörte das Schreien seines Volkes, das unter der Knechtschaft in Ägypten litt und sich nach Freiheit sehnte. Er nimmt das bittere Los des Menschen, das erlittene Unrecht, die erlittene Gewalt, auf sich und trägt sie durch den Kreuzestod hindurch in ein neues Leben. So kann es dann auch Umkehr geben für die, die Unrecht und Gewalt verübten. Gerechtigkeit wächst aber nur von denen her, denen sie versagt bleibt, die nach ihr hungern und dürsten. Sie sollen satt werden. Sie sollen aufgehoben werden aus dem Staub, in den sie die Stiefel der Unterdrückung stoßen. Sie sind »selig«, weil sie darauf vertrauen dürfen, dass Gott an ihrer Seite steht und sie nicht verlässt. In der letzten Zeit wird wieder diskutiert, ob mit der Bergpredigt Politik gemacht werden kann oder nicht. Ich bin davon überzeugt, dass sie zumindest eine Grundrichtung angibt, an der sich auch diejenigen orientieren können, die Tag für Tag politische Sachentscheidungen zu treffen haben. Bleib ein Mensch, Kamerad. Selig, die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit. Hier haben Menschen massives Unrecht erlitten und grausame Unmenschlichkeit erfahren. Ihr Blut schreit zum Himmel wie das Blut Abels. Und doch ist nach der Befreiung aus Blut und Tränen Neues entstanden. Für Österreich nach 1945 die Einsicht, dass sich nie wieder politische Parteien in unversöhnlichen, gewaltbereiten Lagern gegenüberstehen dürfen. Demokratie braucht den Respekt, die Achtung und Toleranz der Andersdenkenden, sie darf dem Extremismus, der Intoleranz, der Herabwürdigung und dem Hass keinen Platz geben. Aus Blut und Tränen kamen auch wichtige Impulse für die Ökumene. Kardinal Koch nennt Dachau einen der Orte, an dem die moderne Ökumene entstanden ist und erinnert daran, dass hier Tausende von Geistlichen der verschiedenen Konfessionen inhaftiert waren.8 Ihr Erbe ist ein Erbe aller Kirchen und spricht lauter und deutlicher als alles Trennende. Aus Blut und Tränen kam auch die Umkehr der Kirchen in ihrem Verhältnis zum Judentum. Die Mitverantwortung der Kirchen 7 Dietrich Bonhoeffer: Ethik, hg. v. Ilse Tödt u. a. (DBW 6), München 1992, 69. 8 Vgl. Pro Oriente: Zwei Jahre nach Havanna. Internationale Beachtung für Syrien-Symposion unter Vorsitz von Kardinal Schönborn, 2018, verfügbar unter: https://www.pro-oriente.at/? site=ne20180214172915 [26. 09. 2018]. Die Website der KZ Gedenkstätte Dachau, 2015, nennt 2.720 Namen von Geistlichen verschiedener Konfessionen, verfügbar unter: https://www.kzgedenkstaette-dachau.de/veranstaltungen-2015/articles/themenrundgang-geistliche-im-kzdachau.html [21. 09. 2018].

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Michael Bünker

am nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen der Shoa durch ihren jahrhundertealten Antijudaismus und ihre antisemitische Vergiftung führten zur Einsicht der Schuld. 1998 formuliert es die Synode der Evangelischen Kirche in Österreich so: »Mit Scham stellen wir fest, dass sich unsere Kirche für das Schicksal der Juden und ungezählter anderer Verfolgter unempfindlich zeigte. Die Kirchen haben gegen sichtbares Unrecht nicht protestiert, sie haben geschwiegen und weggeschaut, sie sind ›dem Rad nicht in die Speichen gefallen‹ (Bonhoeffer)«.9 Aus diesem Blut und diesen Tränen wurde Europa geboren, das sich der Einheit in Vielfalt verschrieben hat. Aus Blut und Tränen sind 1948 die Menschenrechte erwachsen, die uns heute ein friedliches Zusammenleben für alle ermöglichen. Hier hat es begonnen, in Dachau, in Auschwitz, in Mauthausen. Deshalb kann es auch keinen Schlussstrich geben, weil wir wachsam sein müssen, wenn heute die Menschenwürde bedroht wird, wenn Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus wieder gehäuft auftreten, wenn Hass und Verachtung geschürt werden. Es braucht unseren mutigen Einsatz, wenn die Gesellschaften wieder auseinanderdividiert werden in die, die dazugehören und die, die gefälligst draußen bleiben sollen, wenn neuerlich Sündenböcke gesucht werden, die an allem Unglück schuld sein sollen. Diese Kräfte zerstören unser Miteinander, sie vergiften die Herzen. An ihre Stelle setzen wir den Frieden, der die Frucht der Gerechtigkeit ist. Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

9 Zeit zur Umkehr. Die Evangelischen Kirchen in Österreich und die Juden. Erklärung der Generalsynode, November 1998, verfügbar unter: https://evang.at/wp-content/uploads/2015/ 07/umkehr_011.pdf [30. 07. 2018].

Die Autorinnen und Autoren

Dr. Dr.h.c. mult. Gottfried Adam, Jahrgang 1939, Professor em. für Religionspädadgogik am Institut für Religionspädagogik der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien MMag. Clarissa Breu, Jahrgang 1986, Assistentin am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Michael Bünker, Jahrgang 1954, Honorarprofessor und Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich und Vorsitzender des Evangelischen Oberkirchenrates A. u. H.B. in Österreich Dr. Christian Danz, Jahrgang 1962, Professor für Systematische Theologie A.B. am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Wilfried Engemann, Jahrgang 1959, Professor für Praktische Theologie am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Marianne Grohmann, 1969, Professorin für Altes Testament am Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien Michael Hackl, Jahrgang 1983, Universitätsassistent am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Uta Heil, Jahrgang 1966, Professorin für Kirchengeschichte am Institut für Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Susanne Heine, Jahrgang 1942, Professorin em. für Praktische Theologie und Religionspsychologie am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. DDr. h.c. Ulrich H. J. Körtner, Jahrgang 1957, Professor für Systematische Theologie am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien sowie Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien Mag. Patrick Leistner, Jahrgang 1984, Assistent am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Andreas Lindemann, Jahrgang 1943, Professor em. für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel Dr. Hermut Löhr, Jahrgang 1963, Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn Mag. lic. phil. Thomas Scheiwiller, Jahrgang 1983, Assistent am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Friedrich Schumann MTh, Jahrgang 1990, Assistent am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Dr. phil. h.c. Karl W. Schwarz, Jahrgang 1952, Titularprofessor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Militärsuperintendent PD DDr. Karl-Reinhart Trauner, Jahrgang 1966, Leiter der Evangelischen Militärseelsorge in Österreich

Bibelstellenregister

Altes Testament Gen 2,9 203 Gen 2,21–22 292 Gen 3 292 Gen 3,6 292 Gen 22 293 Gen 22,1–19 133 Ex 12,1–23,19 32 Ex 20 293 Ex 20,1 24 Ex 23,1–9 27 Ex 23,2 25–29 Ex 23,3 30 Ex 24,2.12 35 Ex 31,12–17 32 Ex 32 293 Ex 32,32 35 Ex 34,27 24 Ex 35,1–3 32 Lev 18,5 29 Lev 19,10 27 Num 21,4–9 293 Num 21,8 293 Num 21,9 293 Dtn 1–3.4.31–34 16 Dtn 1–4 27 Dtn 1–4.27–32 15 Dtn 1–11 15 Dtn 4,2 16, 18f. Dtn 4,13 35 Dtn 4,40 16 Dtn 5,22 35 Dtn 6,6 16 Dtn 7,11 16

Dtn 8,1.11 16 Dtn 9,10 35 Dtn 10,13 16 Dtn 11,8 16 Dtn 12–26 15 Dtn 13,1 16, 18f. Dtn 19,15 53 Dtn 19,19–20 23 Dtn 27–30 15 Dtn 29–30 27 Dtn 29–32 27 Dtn 30,11–14 27f. Dtn 30,12 25–28 Dtn 31,9.24 35 Dtn 31,19 48 Dtn 31,22 48 Ri 5,1–31 133 2 Kön 22 15, 21 2 Kön 22–23 20f. 2 Kön 22,1–23,3 21 2 Kön 22,3 20 2 Kön 22,8–11 21 2 Kön 22,11–20 22 2 Kön 22,13 22 2 Kön 22,14 22 2 Kön 23,1–3 22 2 Kön 23,3 23 2 Kön 23,3b 22 Ps 40,18 290 Ps 121,8 290 Spr 1,7 203 Spr 13,14 208 Spr 18,4 208

330 Koh 3,14 17 Sach 4,14 52 Neues Testament Mt 5,6 323f. Mt 9,9 68 Mt 10,23 94 Mt 12,30 280 Mt 16,18–19 162, 174 Mt 18,16 53 Mt 26,17–30 295 Mt 27,31–56 295 Mk 1,9–11 295 Mk 2,14 par. Lk 5,27 68 Mk 9,40 280 Mk 12,17 178 Mk 14,52 68 Mk 16,12.14 256 Lk 1,26–38 294 Lk 2 295 Lk 9,18–22 133 Lk 24,26 261 Lk 24,27 261 Lk 24,31 260, 264 Lk 24,32 261 Lk 24,34 256 Joh 3,14–15 294 Joh 8,17 53 Joh 11,43.44 163 Joh 14,9 264 Joh 19,5 325 Joh 20 62 Joh 20–21 68 Joh 20,1–16 164 Joh 20,17 122 Joh 20,30–31 60 Joh 21 62, 66, 175 Joh 21,14 256 Joh 21,15–17 174f. Joh 21,20–25 61 Joh 21,24 68 Apg 4,1–22 258 Apg 5,17–42 258 Apg 9,8–9 259 Apg 12,17 175 Apg 15,6–11 175

Bibelstellenregister

Apg 16,10–17 69 Apg 17,34 80 Apg 20,5–15 69 Apg 21,1–18 69 Apg 27,1–28,16 69 1 Kor 7,29–31 178 1 Kor 10,17 265 1 Kor 12,13 265 1 Kor 15,5–8 256 1 Kor 15,8 257, 259, 266 1 Kor 15,14.17 262 1 Kor 15,20 261 1 Kor 15,28 273 2 Kor 1,1 62 2 Kor 12,2–4 257 2 Kor 13,1 53 Gal 1,11–17 257 Gal 1,13–14 259 Gal 1,15 259 Gal 1,18 175 Gal 2,9 162 Gal 6,11 70 Eph 2,6 266 Eph 4,12–16 265 Eph 5,30 265 Phil 3,12 257, 259 Kol 1,15 264 Kol 1,18 264f. Kol 2,12 247, 266 Kol 3,1 266 Kol 3,15 265 Kol 4,16 58, 62f. Hebr 1,3 171 2 Petr 1,4 165 2 Petr 3,16 63 1 Joh 3,2 273 Offb 1,1 44 Offb 1,1–2 48 Offb 1,1–3 43 Offb 1,1–3,22 43 Offb 1,2 44, 46, 49 Offb 1,2.9 50, 52 Offb 1,3 45, 49 Offb 1,4–6 44 Offb 1,4.8 54 Offb 1,5 50

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Bibelstellenregister

Offb 1,9 48 Offb 2,13 46 Offb 3,14 50 Offb 4,1–22,9 43 Offb 5,1 49 Offb 5,10 47 Offb 6,9 46 Offb 10,2 49 Offb 11 46, 52 Offb 11,1–14 52 Offb 11,5 52 Offb 11,6 52 Offb 11,7 54 Offb 11,8 53 Offb 11,9 53 Offb 11,11 53 Offb 12,11.17 46

Offb 12,17 50 Offb 13,8 49 Offb 17,6 46 Offb 17,8 49 Offb 19,10 46, 50 Offb 20,4 46, 50, 52 Offb 20,12.15 49 Offb 21,27 49 Offb 22,3 52 Offb 22,5 47 Offb 22,8 49 Offb 22,10 49 Offb 22,10–21 43 Offb 22,17.20 54 Offb 22,18–19 43 Offb 22,19 45 Offb 22,21 44