Kant als Lehrer der Aufklärung. Historische und systematische Verbindungslinien zum Pädagogischen [1. ed.] 9783957432698, 9783969752692

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Kant als Lehrer der Aufklärung. Historische und systematische Verbindungslinien zum Pädagogischen [1. ed.]
 9783957432698, 9783969752692

Table of contents :
Frontmatter
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Kant als Lehrer der Aufklärung
Imprint
Inhalt
Danksagung
Einleitung: Kant als Lehrer der Aufklärung
Die Aufklärung als pädagogisches Projekt und Kants Rolle als ihr Lehrer
Kant und die Pädagogik: Ein interdisziplinäres Forschungsfeld mit Schwierigkeiten
Die Formen der Erziehung von Kant als Lehrer der Aufklärung
1. Die Formen von Kants Erziehung in Familie, Schule und Universität
1.1 Biographische Rekonstruktion der Erziehung Kants in Familie, Schule und Studium
1.2 Diskussion der Rekonstruktion: Theorie, Praxis und Person als Dimensionen von Erziehung
Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Der Königsberger Pietismus als historische Verbindungslinie Kants zum Pädagogischen
2. Die Formen von Erziehung in Kants Unterrichtspraxis als Privatdozent, Professor und öffentlicher Gelehrter
2.1 Selbstdenken als Ziel philosophischen Unterrichts: Die ersten Jahre als Privatdozent (Winter 1755/56 – Winter 1769/70)
Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Kants frühes Interesse an Erziehung und sein Unterricht als demonstratives Beispiel des Selbstdenkens
2.2 Weltkenntnis als Idee eines nützlichen philosophischen Unterrichts: Die erste Dekade als ordentlicher Professor und Dekan (Sommer 1770 – Winter 1779/80)
Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Pädagogische und didaktische Einflüsse neben Rousseau und Kants Idee eines nützlichen Unterrichts
2.3 Philosophische Schriften als Erweiterung des Unterrichts: Vom Einrücken in den Senat bis zum Vorlesungsende (Sommer 1780 – Sommer 1796)
Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Nützlichkeit durch eine forschende, kritische und moralische Haltung in der Welt
3. Die Formen von Erziehung in Kants philosophischen Schriften: Werkimmanente Exegese der Begriffe Bildung und Erziehung
3.1 Der Bildungsbegriff und seine Bedeutungsfelder: Die Bildung des Menschen als Sonderfall der mechanischen und organischen Bildungsprozesse der Natur
Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Die selbstverantwortliche Bildungsfähigkeit des Menschen als Sonderfall in der Natur
3.2 Der Erziehungsbegriff im Spannungsfeld von Natur, Vernunft und Kultur: Der moralische Charakter des Einzelnen und die Moralisierung der Gattung
Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Der ‚Zweck an sich selbst‘ als Erziehungsnorm für Mensch und Menschheit
Fazit: Der Lehrer Kant als Beispiel und Kant über das Beispiel eines Lehrers
Appendix zur Lehre von Philosophie-Professoren im 18. Jahrhundert
Ein Panorama der Kompendien Kants und der didaktischen Annahmen ihrer Autoren
Ergebnisse des Panoramas: Eine historische Vergleichsfolie für die Untersuchung von Kant als Lehrer der Aufklärung
Backmatter
Literaturverzeichnis
Siglen- und Abbildungsverzeichnis

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Kant als Lehrer der Aufklärung

Sandra Eleonore Johst

Kant als Lehrer der Aufklärung Historische und systematische Verbindungslinien zum Pädagogischen

Umschlagabbildung: Ausschnitt einer Illustration v. Kants Denkmal in Königsberg in: „Die Gartenlaube“, S. 197 (1858)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2022 Brill mentis, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. www.mentis.de Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-95743-269-8 (hardback) ISBN 978-3-96975-269-2 (e-book)

Für meinen Mann, in großer Dankbarkeit.

Inhalt Danksagung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix Einleitung: Kant als Lehrer der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Die Aufklärung als pädagogisches Projekt und Kants Rolle als ihr Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Kant und die Pädagogik: Ein interdisziplinäres Forschungsfeld mit Schwierigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Die Formen der Erziehung von Kant als Lehrer der Aufklärung  . . 39 1. Die Formen von Kants Erziehung in Familie, Schule und Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.1 Biographische Rekonstruktion der Erziehung Kants in Familie, Schule und Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1.2 Diskussion der Rekonstruktion: Theorie, Praxis und Person als Dimensionen von Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Der Königsberger Pietismus als historische Verbindungslinie Kants zum Pädagogischen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Die Formen von Erziehung in Kants Unterrichtspraxis als Privatdozent, Professor und öffentlicher Gelehrter . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2.1 Selbstdenken als Ziel philosophischen Unterrichts: Die ersten Jahre als Privatdozent (Winter 1755/56 – Winter 1769/70) . . . . . . . 109 Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Kants frühes Interesse an Erziehung und sein Unterricht als demonstratives Beispiel des Selbstdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 2.2 Weltkenntnis als Idee eines nützlichen philosophischen Unterrichts: Die erste Dekade als ordentlicher Professor und Dekan (Sommer 1770 – Winter 1779/80) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Pädagogische und didaktische Einflüsse neben Rousseau und Kants Idee eines nützlichen Unterrichts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2.3 Philosophische Schriften als Erweiterung des Unterrichts: Vom Einrücken in den Senat bis zum Vorlesungsende (Sommer 1780 – Sommer 1796) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Nützlichkeit durch eine forschende, kritische und moralische Haltung in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

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Inhalt

3. Die Formen von Erziehung in Kants philosophischen Schriften: Werkimmanente Exegese der Begriffe Bildung und Erziehung . . . . . 189 3.1 Der Bildungsbegriff und seine Bedeutungsfelder: Die Bildung des Menschen als Sonderfall der mechanischen und organischen Bildungsprozesse der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Die selbstverantwortliche Bildungsfähigkeit des Menschen als Sonderfall in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 3.2 Der Erziehungsbegriff im Spannungsfeld von Natur, Vernunft und Kultur: Der moralische Charakter des Einzelnen und die Moralisierung der Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Der ‚Zweck an sich selbst‘ als Erziehungsnorm für Mensch und Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Fazit: Der Lehrer Kant als Beispiel und Kant über das Beispiel eines Lehrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Appendix zur Lehre von Philosophie-Professoren im 18. Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Ein Panorama der Kompendien Kants und der didaktischen Annahmen ihrer Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Ergebnisse des Panoramas: Eine historische Vergleichsfolie für die Untersuchung von Kant als Lehrer der Aufklärung . . . . . . 332 Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Siglen- und Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

Danksagung Das vorliegende Buch ist eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die 2021 an der Hochschule für Philosophie München ange­ nom­men wurde. Ermöglicht wurde das umfängliche Vorhaben einer KantGesamtinterpretation durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Ohne die Möglichkeit drei Jahre intensiv und in Vollzeit mich der historischen Quellen und den Kantischen Schriften zu widmen, wäre eine Umsetzung nicht möglich gewesen. Danken möchte ich zudem meinem Betreuer der Master-Arbeit, Prof. Dr. Günter Zöller, durch dessen Forschungskolloquium ich in die Kant-Forschung eingestiegen bin. Der Kreis um Zöller hat mein Dissertationsprojekt bis zum Sommersemester 2020 begleitet und durch kritische Rückfragen und Impulse stets bereichert. Bei meinem Doktorvater, Prof. Dr. Andreas Trampota, bedanke ich mich für das große Interesse an meiner Suche nach Kants Erziehungsdenken, die stets signalisierte Zuversicht und die vielen, teilweise stundenlangen Diskussionen über Kants Philosophie. Auch an der Hochschule für Philosophie fand sich die Gelegenheit regelmäßig in einem kleinen Kolloquium meine Kapitel und Einzelergebnisse zur Diskussion zu stellen. Bedanken möchte ich mich auch bei PD Dr. Michael Weiß für die Übernahme des Zweitgutachtens und allen Prüfungsmitgliedern, die einer Verteidigung in Präsenz zugestimmt haben. Mein Dank geht auch an die Forscher-Gemeinschaft, die mir Gelegenheiten gab, mein Projekt auf Konferenzen in Graz, Braga, Venedig, Halle und Lissabon vorstellen zu dürfen. Von ganzem Herzen danke ich allen, die mich über diesen langen Zeitraum hinweg von der Themenfindung bis zum Korrekturlesen unterstützt und ermuntert haben: meinem Mann, meiner Familie, meinen Freunden und meinen Kollegen. (Gräfelfing, im Mai 2022, S. J.)

Einleitung: Kant als Lehrer der Aufklärung Was ist Aufklärung? Diese Frage hat Immanuel Kant 1784 in einem Aufsatz aufgegriffen und zu beantworten versucht. Der historische Abstand von fast 250 Jahren mindert nicht die Aktualität und Überzeugungskraft seiner Definition als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ und dem formulierten Wahlspruch: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (WA, AA 08: 35) Kants grundlegende Antwort adressierte die zu seiner Zeit drängende Frage nach den Zuständigkeiten von Religion und Staat. Aufklärung über einen Sachverhalt wird auch in heutigen Diskussionen als Lösung zur Verbesserung von Problemen und Herausforderungen unserer Zeit angeführt. Doch zeigen die Erfahrungen, dass Aufklärung als öffentlicher Austausch von Verstandesleistungen oftmals nicht zur erhofften Verbesserung führt. Es stellt sich die Frage, ob sich an Kants Mündigkeitskonzept und der damit verbundenen Möglichkeit eines intendierten, aktiven Beitrags zur Verbesserung von Mensch und Menschheit überhaupt noch begründet festhalten lässt. Die These der Arbeit ist, dass Kants Aufklärungskonzeption auf erzieherischen Voraussetzungen basiert, ohne deren Erfüllung der öffentliche Austausch von Verstandesleistungen nicht zu der erhofften Verbesserung führen kann. Ziel ist es, auf diese aufmerksam zu machen und dazu Kants Formen der Erziehung zu vergegenwärtigen. Da Aufklärung als Aufgabe wie Erziehung einen Anspruch auf die intendierte Formung des Menschen erhebt, rücken These und Ziel der Arbeit die in der Forschung gestellte Frage nach einer ‚Kantischen Pädagogik‘ ins Zentrum. Ob und inwiefern Kant als Pädagoge zu gelten habe, wird kontrovers diskutiert. Es gibt neben der in ihrer Authentizität umstrittenen Schrift von Kants Schüler Theodor Rink, Immanuel Kant über Pädagogik (1803), kein Werk von ihm, welches sich systematisch und ausschließlich der Pädagogik widmet. Dennoch wurden seit Kants Lebzeiten sein Wirken und seine Schriften für pädagogische Fragestellungen herangezogen. Wird die Aufklärung als pädagogisches Projekt vergegenwärtigt, zeigt sich dafür eine plausible Erklärung: Kant kommt sowohl historisch als auch systematisch die Rolle als Lehrer der Aufklärung zu. Die methodische Fokussierung von Kants Lehrerrolle entdeckt vielleicht keine ‚Kantische Pädagogik‘ im Sinne eines ausgereiften, wissenschaftlich begründeten Regelwerks, aber sie vermag die historischen und systemati­ schen Verbindungslinien Kants zum Pädagogischen, seine praktischen und theoretischen Bezüge zur Erziehung und Bildung des Menschen, aufzudecken. Dazu wird Kants Unterrichtspraxis historisch und seine Begriffsverwendung von Bildung und Erziehung in den authentisch-philosophischen Schriften

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752692_002

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Einleitung

systematisch rekonstruiert. Die Doppelperspektive auf Kant als Lehrer der Aufklärung leistet somit einen Beitrag zur Fundierung und Differenzie­ rung des interdisziplinären Forschungsfelds ‚Kant und die Pädagogik‘ und schafft ein Bewusstsein für die erzieherischen Voraussetzungen von Aufklärungsbemühungen. Das erste Kapitel dient zur Präzisierung des Themas sowie zur Begründung der gewählten Methode. Zum Auftakt wird die Aufklärung als pädagogisches Projekt dargestellt und nachgewiesen, inwiefern Kant die Rolle als ihr Lehrer zukommt. Um den Forschungsstand abzubilden, an den die vorliegende Arbeit anknüpft, erfolgt eine thematische Disposition des interdisziplinären Forschungsfelds ‚Kant und die Pädagogik‘. Sie belegt das kontinuierliche Interesse der Forschung, die wachsende philosophische Aufmerksamkeit für dieses Thema sowie die damit verbundenen Probleme. In Anschluss an die bisherige Forschungsleistung wird dafür argumentiert, Konsequenzen für den Untersuchungsgegenstand (Verbindungslinien zum Pädagogischen statt Pädagogik) und die Methode (Kombination von historisch-biographischer und systematischer Rekonstruktion) zu ziehen, um unabhängig von der in ihrer Authentizität umstrittenen aber dennoch das Forschungsfeld dominierenden Schrift Immanuel Kant über Pädagogik durch die Darstellung von Kant als Lehrer der Aufklärung seinen Beitrag zum Pädagogischen zu exponieren. Das zweite Kapitel beginnt mit den Formen von Erziehung, die Kant als Sohn, Schüler und Student kennengelernt hat. Historisch differenziert die Rekonstruktion der biographischen Darstellungen die pietistische Erziehung in Kants Familie, Schule und Universität und weist den Einfluss des Königsberger Pietismus rund um Franz Albert Schultz als frühe Verbindungslinie Kants zum Pädagogischen aus. Systematisch lässt sich mittels der Formulierungen von Kants frühen Biographen deren pädagogisches Problembewusstsein diskutieren, das auf die Spannung zwischen der für die Aufklärung zentralen Selbsttätigkeit der Person und dem ebenfalls stets deutlichen sozialen Zusammenhang mit den Handlungen anderer Personen hinweist. Die Diskussion der biographischen Beschreibungen macht auf Charakteristika der Erziehung (Ziele, Methoden und Wirkungen) sowie Dimensionen der Erziehung (Theorie, Praxis und Person) aufmerksam und weist auf das paradoxe Ineinander von Formung und Geformt-Werden als zentrales Problem des aufklärerischen Erziehungsverständnisses hin. Das aufklärerische Problembewusstsein und die systematisch adressierten Probleme von Erziehung (Legitimation, Effektivität und Aporie) kreisen um die Konstitution des Subjekts, um die Frage, wie sich Selbstbildung in der Gesellschaft vollzieht. In diesem pädagogischen Problemhorizont stehen auch Kants Ziele und Methoden als Lehrer der Aufklärung.

Kant als Lehrer der Aufklärung

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Das dritte Kapitel erarbeitet die Formen der Erziehung, die Kant in seinem Unterricht als Privatdozent, Professor und öffentlicher Gelehrter praktizierte. Dazu wird die Konzeption seiner Lehre anhand der Vorlesungsprogramme und des Briefwechsels sowie der Beobachtungen und Beschreibungen von Kants Studenten in drei Phasen analysiert. Um ihn dabei unter anderen Lehrern der Aufklärung verorten zu können und gleichsam die Themenpalette seines philosophischen Unterrichts zu veranschaulichen, wird im Appendix ein Panorama seiner benutzten Kompendien und der didaktischen Annahmen ihrer Autoren bereitgestellt, dessen Ergebnisse vergleichend in die Untersuchung miteinbezogen werden. In der historisch-biographischen Perspektive weisen die Ziele von Kant als Lehrer (Selbstdenken, Weltkenntnis und Weisheit) stets Bezug zur konkreten Praxis auf. Verschiedene Praxisfelder (Hörsaal, Ämter und Schriften) zeigen, wie diese Ziele seine Lehre praktisch formen und er mit einer Kombination betrachtenden und tätigen Bezugs auf die Welt versucht, ein anschauliches Exempel für die mögliche Orientierung menschlichen Tuns und Lassens zu geben. Das vierte Kapitel versucht mittels einer werkimmanenten Exegese des Bildungs- und Erziehungsbegriffes, die Formen von Erziehung in Kants Schriften zu rekonstruieren. Dadurch werden die Kontexte und Probleme aufgedeckt, die er mit diesen Begriffen adressiert und die systematischen Verbindungslinien Kants zum Pädagogischen aufgewiesen. Für den Bildungsbegriff zeigen sich drei Bedeutungsfelder: Die mechanische Bildung im Kontext der Naturgeschichte (1755), die organische Bildung im Kontext kritischer Naturerforschung (1793) und die spezifische ‚Bildung des Menschen‘ im pädagogischen (1765/66; 1776/77), rechtlichen (1797) und kulturellen (1798) Kontext menschlicher Weltkenntnis. Die Exegese weist die selbstverantwortliche Bildungsfähigkeit des Menschen als Individuum und Gattung als systematische Verbindungslinie von Kants Philosophie zum Pädagogischen aus. Kontinuierlich wird dem Menschen eine Ambivalenz hinsichtlich seines moralischen Status und eine Sonderrolle in der Natur zugeschrieben. Den Grund dafür verortet Kant in seiner kritischen Philosophie in dem vernünftigen Vermögen des Menschen, sich selbst Zwecke setzen zu können, das in seiner Konkretisierung von der Vorstellung und Umsetzung des jeweiligen Subjekts abhängt. Die Exegese des Erziehungsbegriffs zeigt, dass sich Kant zwar fragmentarisch, aber kontinuierlich diesem Thema in seinem Werk widmet. Neben der Ausdifferenzierung des frühen Problembewusstseins über Erziehung als ambivalenter Einfluss auf Wissenschaft, Künste und Gemüt (1754-1777) in die zwei Problemfelder der Moralerziehung von Mensch und Menschheit (ab 1781) lässt sich die Verschränkung von apriorisch-absoluter Allgemeinheit und empirisch-gradueller Annäherung

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Einleitung

als zentrale systematische Verbindungslinie von Kants Philosophie zum Pädagogischen festhalten. Die Konzentration auf den Lehrer Kant zeigt deutlich, dass Aufklärung als Aufgabe für Mensch und Menschheit auf erzieherischen Voraussetzungen fußt. Einerseits muss die Vernunft sich in ihrem Gebrauch selbst disziplinieren, um eine Vorstellung des ‚Guten‘ als Ziel und Maßstab zu entdecken und andererseits müssen daraus die Konsequenzen für konkrete Handlungen in der Welt gezogen werden. Beides erfordert eine erzieherische Tätigkeit des in der Welt denkenden und handelnden Subjekts an sich selbst, an seiner Denkungs- und Sinnesart. Ohne diese stets innerlich stattfindende Selbsterziehung kann es keine Aufklärung im Sinne Kants geben. Auch wenn diese Selbsterziehung niemals direkt äußerlich veranlasst werden kann, macht die Darstellung von Kant als Lehrer darauf aufmerksam, dass es förderliche Versuche gibt, äußerlich zu dieser Selbsterziehung einzuladen. Kants Unterrichtspraxis und seine philosophischen Schriften sind als Formen der Erziehung solche Versuche und zeigen Möglichkeiten auf, wie Lehrer und Lehrerinnen1 der Aufklärung versuchen können, erzieherisch diese notwendige Selbsterziehung zu initiieren. Es gilt, nicht vor der paradoxen Beschaffenheit des Menschen ohnmächtig stehen zu bleiben, sondern die Frage zu stellen, wie wir aktiv dazu beitragen können, als Mensch und Menschheit besser zu werden. In Kants Antwort auf diese Frage zeigt sich die Person als Verbindungsmöglichkeit von Theorie und Praxis. Personen können theoretisch die allgemeine vernünftige Natur als Bedingung der Möglichkeit eines absolut reinen Guten als Ziel und Maßstab innerlich entdecken und äußerlich empirische Möglichkeiten zum Kultivieren dieser Anlage im konkreten Lebenszusammenhang aufzeigen und zur graduellen Annäherung nutzen. Sie werden durch die Anregung zu der Pflichtbeobachtung und ihrer Demonstration, das ‚gute Beispiel an dem Lehrer selbst (von exemplarischer Führung zu sein)‘ und die Reform der Sinnesart zum Beispiel für andere Personen. Diese exemplarische Orientierung an Annäherungsversuchen Anderer ist als Indiz für die Möglichkeit praktisch-konkreter Konsequenzen des theoretisch Denkbaren eine weitere erzieherische Voraussetzung der Aufklärung.

1 Da diese Untersuchung überwiegend historische Texte aus dem 18. Jahrhundert behandelt sowie Forschungstexte, die noch keine gendergerechte Sprache im Sinne jüngerer Konventionen (Geschlechtsneutraler Plural, Binnen-I, Unterstrich oder Sternchen) verwenden, wird die männliche Form aus Gründen der Einheitlichkeit und besseren Lesbarkeit beibehalten und es erfolgt an dieser Stelle der Hinweis: Das gewählte generische Maskulinum bezieht sich, soweit die Aussagen es erfordern, zugleich auf männliche, weibliche und andere Geschlechtsidentitäten.

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Die Aufklärung als pädagogisches Projekt und Kants Rolle als ihr Lehrer

Die Aufklärung als pädagogisches Projekt – damals und heute Der heute geläufige Epochenbegriff der Aufklärung avancierte nicht ohne Grund unter den europäischen Gelehrten des späten 18. Jahrhunderts zum Modewort (vgl. Stollberg-Rilinger 2017: 9). In vielen europäischen Sprachen bediente man sich mit ‚lumières‘, ‚to enlighten‘, ‚illuminismo‘ oder ‚ilustración‘ ähnlich wie mit ‚aufklären‘ einer Lichtmetaphorik, die auf die wissenschaftlichen Bemühungen übertragen wurde. Der Einsatz der Gelehrten verstand sich im Zeichen des Lichts der Vernunft, als Bekämpfung des dunklen Aberglaubens. Der bekannte Kupferstich von Daniel Chodowiecki aus einer Reihe für den Göttinger Taschen Calender im Jahr 1792 illustriert unter dem Titel Aufklärung die damit verbundene Aufbruchsstimmung: Der eingeschlagene Weg führt stetig der Sonne entgegen. Zwar kommentiert Chodowiecki hier Aufklärung als Ereignis eines vergangenen Jahrzehnts, aber die Kurze Erklärung der Monatskupfer weist es als Symbol für einen andauernden Prozess aus, der mit Schwierigkeiten verbunden ist und bleibt: „Die Aufklärung. Dieses höchste Werk der Vernunft, dessen Name sogar neuerlich einige seichte aber eben deßwegen beliebte Phraseskünstler haben lächerlich machen wollen, die zu eingeschränkt waren bey ihren Frömmeleyen, zu bedenken, zu was für Missbräuchen nicht selbst Religion und Liebe, diese Grundfesten der moralischen und physischen Welt geführt haben, hat bis jetzt noch kein allgemeiner verständliches allegorisches Zeichen, (vielleicht weil die Sache selbst noch neu ist) als die aufgehende Sonne. Es wird auch wohl lange das schicklichste bleiben, wegen der Nebel, die immer aus Sümpfen, Rauchfässern, und von Brandopfern auf Götzenaltären aufsteigen werden, die sie so leicht verdecken können. Indessen wenn die Sonne nur aufgeht, so schaden Nebel nicht.“ (Lichtenberg 1792: 212f.)

Das Zeichen der Aufklärung, die aufgehende Sonne, symbolisiert keinen naiven Fortschrittsoptimismus. Als Werk der Vernunft weiß es sich angewiesen auf tätige und kontinuierliche Auseinandersetzung mit naturbedingten sowie durch den Menschen hervorgebrachten Verdunkelungen. Die Reflexion über die Ereignisse, Sitten, Werke und Unterhaltungen seiner Zeit lässt Jean le Rond d’Alembert (1763: 3) feststellen: „Notre siecle s’est donc appellé par excellence le siecle de la Philosophie.“ Zwei wesentliche Erfahrungen lagen historisch dieser Selbstwahrnehmung als ‚Jahrhundert der Philosophie‘ zugrunde. Erstens war durch das Zeitalter der konfessionellen Spaltung und der Bürgerkriege jeglicher Absolutheitsanspruch der Kirche verloren und zweitens erlebten die Menschen seit der Renaissance eine beeindruckende Expansion

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Einleitung

ihres Wissenshorizonts sowie die damit einhergehenden Irritationen bisheriger Selbstverständlichkeiten (vgl. Stollberg-Rilinger 2017: 170). Technische Errungenschaften, wie etwa die Erfindung der Dampfmaschine von Thomas Newcomen 1710 oder das Quecksilberthermometer von Daniel Gabriel Fahrenheit 1715, und Expeditionen, wie die Entdeckung Alaskas durch Vitos Bering und die berühmten drei Weltreisen von James Cook, begründeten ein neues Selbstvertrauen in das Erkenntnisvermögen des Menschen. Jedoch ging damit eine Reihe philosophischer Rechtfertigungsprobleme einher, denn was könnte in dem stetigen Fortschritt noch eine sichere Basis für menschliches Wissen sein (vgl. ebd.: 171)? Der Wahrnehmung als ‚Jahrhundert der Vernunft‘ oder ‚philosophisches Jahrhundert‘ liegt eine Umorientierung des Faches zugrunde. Statt an den philosophischen Deduktionen und Systemen der Vergangenheit bildet sich die Denkart des Zeitalters der Aufklärung nach dem Muster der ihr gegenwärtigen Naturwissenschaft. Die Vernunft kennzeichnete nun weniger einen Besitz als eine bestimmte Form des Erwerbs: „Sie ist nicht das Ärar, nicht die Schatzkammer des Geistes, in der die Wahrheit, gleich einer geprägten Münze, wohlverwahrt liegt; sie ist vielmehr die geistige Grund- und Urkraft, die zur Entdeckung der Wahrheit zu ihrer Bestimmung und Sicherung hinführt. Dieser Akt der Sicherung ist der Keim und die unentbehrliche Voraussetzung für alle wahrhafte Sicherheit. […] Was sie ist und was sie vermag, das lässt sich niemals vollständig an ihren Resultaten, sondern nur an ihren Funktionen ermessen.“ (Cassirer 2007: 12f.)

Die Bezeichnung der Epoche als Aufklärung lässt sich somit nicht von der Tätigkeit des Aufklärens trennen, sondern wurzelt in einer bewussten Konzentration der Zeitgenossen auf die Funktionen der menschlichen Vernunft. Die sich selbst in ihrer Leistung und Wirkkraft bewusst werdende vernünftige Tätigkeit erstreckte sich damals thematisch auf die Natur und die Naturerkenntnis, auf die Psychologie und Erkenntnislehre, die Idee der Religion und entdeckte die geschichtliche Welt, Recht, Staat und Gesellschaft sowie die Grundprobleme der Ästhetik (vgl. Cassirer 2007). Durch die philosophische Konzentration auf eine tätige Vernunft eröffnete sich dem menschlichen Handeln ein bisher ungeahnter Gestaltungsspielraum. Mit der Ausrichtung auf die Zukunft und das Diesseits bezeichnet Aufklärung somit als Epoche eine kulturelle und soziale Bewegung, die alle Lebensbereiche umfasste und „in deren Verlauf diese Methoden und Themen von einer stetig wachsenden Gruppe von Gebildeten diskutiert, systematisch verbreitet und in die Praxis umzusetzen versucht wurden“ (Stollberg-Rilinger 2017: 10).

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Das Symbol der aufgehenden Sonne, die Aufbruchsstimmung und die Konzentration auf die Zukunft sowie der Fokus auf Erwerb, Funktion und Wirkkraft menschlicher Vernunft deuten bereits die Konnexion von Aufklärung und Erziehung an. Das Zeitalter der Aufklärung war in der Selbstwahrnehmung ihrer Protagonisten ein großes pädagogisches Projekt (vgl. Funke 1963; Herrmann 1993 und 2005; Munzel 2012). Der Prozess des Aufklärens über die Fähigkeiten der Vernunft, die gewonnenen Einsichten und ihre praktische Anwendung lässt als Voraussetzung einer erstrebenswerten, generationsübergreifenden Entwicklung auf sozialer Ebene die Bedeutung des Einzelnen erkennen. Erziehung und Ausbildung erfuhren eine nie dagewesene Aufmerksamkeit (vgl. Stollberg-Rilinger 2017: 163). Demgemäß ist das 18. Jahrhundert auch als ‚pädagogisches‘ oder ‚sokratisches Jahrhundert‘ bekannt. Zwar repräsentiert Aufklärung als unterschiedlich datierte Epoche zwischen 1650 und 1800 eine Gesamtumwälzung der Kultur auf allen Lebensgebieten, markiert den Beginn der Moderne und geht wie bereits angedeutet als Rationalisierungsprozess von Gesellschaft, Politik, Religion und Wissenschaft weit über Fragen der Erziehung hinaus. Aber der Kern dieses Projekts liegt in der Einsicht in die Formbarkeit des Menschen, was auf die damit verbundene Relevanz von Erziehung und Bildung für den Fortschritt des Einzelnen als auch der Menschheit hinweist: „Aufklärung ist immer auch ein pädagogisches Projekt. Dies gilt insbesondere im Europa des 18. Jh., das auf Veränderungen von Lebensweisen und Mentalitäten drängt. Die dort entfalteten Diskussionen um Erziehung, Bildung und Unterricht und die damit verbundenen Praktiken wirken zugleich weit über den Zeitraum hinaus, die man die ‚Epoche der Aufklärung‘ zu nennen sich angewöhnt hat.“ (Kenklies 2015: 161)

Im  18. Jahrhundert etablierten sich dementsprechend wissenschaftliche Disziplinen, die den Menschen, sein Wesen und sein Werden in den Mittelpunkt stellen, wie etwa die Anthropologie und die Pädagogik. Die Verwendung des Begriffs ‚Pädagogik‘ für das Metier der ‚Erziehungskunst‘ und ‚Unterweisung‘ wurde dabei selbst erst im 18. Jahrhundert geläufig.2 Historiker 2 Etymologisch verweist der Begriff auf die griechische Antike, in der παιδαγωγικὴ τέχνη die Kunst der Erziehung und Leitung von Kindern und jungen Menschen beschreibt. Während in der frühgriechischen Zeit andere Leitbegriffe für erzieherisches Handeln bedeutend waren, vornehmlich die ἀρετή, findet sich bei Aischylos der erste gesicherte Nachweis von παιδεία, die im weiteren Verlauf sowohl den Weg als auch das Ergebnis des Erziehungsprozesses zum Ausdruck bringt (vgl. Bremer 1989: 36). In der Folge kommt es zu der Begriffsbildung ‚Pädagogie‘, wobei durch das gesamte lateinische Mittelalter hindurch Erziehungsfragen vor

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Einleitung

stimmen darin überein, dass das 18. Jahrhundert auch durch die Etablierung der Pädagogik als eigenständiger Disziplin von herausragender Signifikanz für das pädagogische Projekt war (vgl. Roessler 1961; Tenorth 2000; Benner/Brüggen 2011). Zwar hat man schon seit es Menschen gibt erzogen und über Erziehung nachgedacht, doch zu dieser Zeit verdichtete sich das pädagogische Bemühen aus verschiedenen Richtungen und es wurden im Rückgriff auf die Leistungen der Renaissance und Reformation neue Formen und Muster entwickelt. Das Erziehungsthema bekam Aufmerksamkeit von Philosophen wie etwa von John Locke und Jean-Jacques Rousseau, von Dichtern wie Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Schiller und von praxisbezogener Seite durch die Erziehungsreformer. Letztere entwickelten pädagogische Bewegungen wie den Pietismus um August Hermann Francke in Halle oder den Philanthropismus um Johann Bernhard Basedow in Dessau. Es entstanden pietistische Erziehungseinrichtungen, Philanthropine und Industrieschulen sowie höhere Fachschulen und Akademien, um den wissenschaftlichen Standard zu kontrollieren und zu erhöhen. Zudem entwickelte der Staat eine eigene Zuständigkeit für Schule und Unterricht, die allmählich die kirchliche Schulaufsicht ablöste. In Preußen, dem Land in dem Kant lebte, wurde bereits 1717 die allgemeine Schulpflicht dekretiert und 1763 das General-Landschulreglement erlassen. Beides waren bedeutende Bemühungen in der Entwicklung des preußischen Volksschulwesens und der allgemeinen Schulpflicht. Die aufklärerischen Bemühungen um die Theorie und Praxis der Erziehung des Menschen legten die ideellen Wurzeln für Positionen und Probleme des modernen Erziehungsdenkens und pädagogischen Handelns. Der Blick auf Kants Jahrhundert zeigt somit keine abgeschlossene Erziehungsepoche der Vergangenheit, sondern das Entstehen der bis heute nachwirkenden erzieherischen Grundstrukturen (vgl. Roessler 1961: 7). Themen, Widersprüche und unvereinbare Bewertungen wurden von den Aufklärungsdenkern und Erziehungstheoretikern des 18. Jahrhunderts präsentiert und diskutiert, für die Moderne festgesetzt und bleiben weiterhin kontrovers, wie der „Konflikt zwischen Freiheit und Zwang, zwischen Individuum und Gesellschaft, allem unter dem Blickwinkel der Unterweisung und des Unterrichts behandelt werden (vgl. Hügli 1989: 2). Allgemein wird unter Pädagogik heute die „Wissenschaft von der Erziehung“ verstanden (Burkard 2008a: 436). Ursprünglich stammt ‚Erziehung‘ von ‚herausziehen‘, ‚aufziehen‘ oder ‚großziehen‘ und wurde zunächst gleichermaßen für Tiere und Menschen verwendet. Erst in der Neuzeit kam die heute vorherrschende Bedeutung als eines „Handelns am werdenden Menschen zugunsten dessen späterer Mündigkeit“ auf (Groothoff 1972: 733). Wie Kants Zeitgenosse Moses Mendelssohn (1784: 193) angibt, waren zudem die Begriffe „Aufklärung, Kultur, Bildung“ „neue Ankömmlinge“ in der Sprache und gehörten bisher „bloß zur Büchersprache“.

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zwischen Anpassung und Mündigkeit, zwischen dem Utilitarismus, also der Aufopferung des Subjekts für den ökonomisch-gesellschaftlichen Zweck, und der Bildung der Individuen zur Humanität“ (Tenorth 2000: 81). Das Vokabular heutiger Erziehungsreflexionen greift folglich oft auf Leitbegriffe zurück, die hier entwickelt wurden: „Kritik, Aufklärung, Mündigkeit, Emanzipation, Toleranz, Fortschritt.“ (ebd.) Eine zentrale pädagogische Wirkung des 18. Jahrhunderts auf unser modernes Erziehungsverständnis ist nicht zu leugnen. Sich die Aufklärung als pädagogisches Projekt zu vergegenwärtigen, weist über die sich in ihr als Epoche entwickelnden und seither fortdauernden Diskurse um Bildung, Erziehung und die Pädagogik als Disziplin hinaus. Die Aufklärung ist als aktives Bemühen um die Funktionen der Vernunft und dem damit verbundenen Streben nach Verbesserung in der Praxis selbst ein erzieherisches Projekt, eine Aufgabe für den Menschen: „Aufklärung als Substantivum actionis, als Forderung, als Imperativ“ (Funke 1963: 4). Anders als die Sozialisation beschreibt Aufklärung nicht deskriptiv das Werden des Menschen, sondern ist gekennzeichnet durch eine auf das Ziel des nützlichen Vernunftgebrauchs ausgerichtete Intentionalität. Wie Erziehung versteht sie sich als Aufgabe und teilt mit ihr den Rechtfertigungsbedarf ihres normativen Anspruchs auf die Formung des Menschen. Wohingegen der Begriff ‚erziehen‘ bereits durch seinen metaphorischen Ursprung darauf aufmerksam macht, dass etwas Vorhandenes mittels eines Eingriffs in eine bestimmte Richtung gebracht werden soll, verhält sich der Begriff ‚aufklären‘ augenscheinlich zurückhaltender. Ursprünglich bezeichneten Seefahrer damit eine positive Änderung der Wetterlage, die dann auf die Vermittlung von Kenntnissen und Einsichten sowie das Erkunden und Klären von Sachverhalten übertragen wurde. Sobald die Zunahme des Lichts als Ergebnis bewusster, menschlicher Tätigkeit verstanden wird, ist Aufklärung kein Geschehen, sondern eine Handlung. Wie das Licht fällt, wohin es gerichtet wird, folgt dann einem bestimmten Ziel: Die Funktionen der Vernunft durch ihren Gebrauch für die und in der Praxis zum Vorteil des Menschen zu nutzen. Aufklärung beschreibt somit wie Erziehung eine intendierte, teleologisch ausgerichtete Tätigkeit des Menschen. ‚Aufklären‘ bezeichnet wie ‚bilden‘3 und ‚erziehen‘ eine menschliche Praxis und das damit verbundene Nachdenken über diese Praxis, deren konstitutives 3 Auch der Bildungsbegriff kann die zu rechtfertigende Bedeutung einer intendierten Formgebung aufweisen: „Vom Wort her meint Bildung, einem Material eine gewollte Form zu geben, so dass Bildung vereinfacht als Formung übersetzt werden kann. Diese Formung kann man als Formwerdung ansehen, wenn es mehr um einen selbstgestalteten, von innen heraus kommenden Prozess geht. Wird die Form als Formgebung aufgefasst, kann damit mehr ein von außen an den zu bildenden Menschen herangetragener Prozess gesehen werden.“ (Schelten 2004: 27).

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Moment eine mit ihrem Ziel verbundene Normativität ist, welche damals wie heute nach einer philosophischen Rechtfertigung verlangt. Um eine Vorstellung von Erziehung als Aufgabe zu vermitteln, wurde bereits früh zu Sinnbildern und Metaphern gegriffen. Die vielfältigen sprachlichen Bilder lassen dabei zwei Grundverständnisse von Erziehung als Formung erkennen (vgl. Raithel u.a. 2009: 24). Die Vorstellung eines technisch verfahrenden Bildhauers oder Handwerkers präsentiert den Erzieher als herstellenden Akteur, der durch Mittel und Methoden den angestrebten Zweck zu verwirklichen sucht. Das Bild vom Bauern oder Gärtner macht auf einen begleitenden Erzieher aufmerksam, der den natürlichen Entwicklungsprozess pflegend unterstützt. Beide Bilder veranschaulichen die erzieherische Grundtätigkeit, deren begrifflicher Minimalkonsens sich als intentionales, interpersonales Handeln beschreiben lässt, das Wirkungen erzielen soll (vgl. Ruberg 2002: 15). Gerade die normative Ausrichtung der Aufklärung in Hinsicht auf ihr Ziel, die Funktionen der Vernunft und deren Nutzen, führte in der Folge dazu, dass ihr häufig ein negativer Einfluss auf die intellektuellen Grundlagen der Moderne zugeschrieben wurde (vgl. Tenorth 2000: 118ff.; Zöller 2009: 83; Kenklies 2015: 169f.). Postmoderne Ansätze zeichnen den abstrakten Universalismus und den Anspruch die Menschheit perfektionieren zu wollen verantwortlich für die historisch folgenden Gräueltaten der Französischen Revolution, des Imperialismus, Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Es wird argumentiert, dass die Annahme, der Mensch und die Menschheit seien unendlich formbar, eine intellektuelle Inspiration für totalitäre Staatssysteme war, jede Spur von Individualität ihrer Mitglieder zu entfernen (vgl. Schmidt 1996: 1). In dem Primat der Vernunft, dem moralischen und politischen Universalismus, wird eine Form von Machtausübung vermutet, zu der die Postmoderne einen Gegenentwurf bilden möchte, der auf Multikulturalismus, moralischen Relativismus und der Unbestimmbarkeit von Wahrheit basiert (vgl. Israel 2013: 2). Aufklärung ist durch ihren intendierten Formungscharakter, ihren Vernunftglauben und moralischen Universalismus umstritten. Trotzdem hält sich beständig die Hoffnung in sie als Projekt, welches philosophische Ideen in Interaktion mit der sozialen Realität bringt, um zu einer wissenschaftlichen und sozialen Verbesserung der Welt zu führen: „Would it not become possible one day to teach the common man to think in terms of uprightness, reason, and justice?“ (Israel 2013: 35) Wie Datenbanken belegen, kennt der Begriff ‚Aufklärung‘ zwei Hochphasen im deutschsprachigen Raum, die erste Phase fällt in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und die zweite beginnt in der Mitte des 20. Jahrhunderts und dauert bis heute an (vgl. Hafner 2018). In Reaktion

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auf die oftmals ausgerufene Krise der Demokratie beschreibt Michael Hampe in Die Dritte Aufklärung (2018), dass nach der sokratischen Aufklärung der Antike und der wissenschaftlichen Aufklärung zwischen 1500 und 1800 die seither dritte Aufklärung im Gange sei, in der es darum gehe, das kollektive Bewusstsein der Menschheit zu steigern, um sie zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte zu machen. Steven Pinker, der sich selbst als Possibilisten einordnet, schreibt mit Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt (2018) ein Plädoyer für ein wissenschaftlich fundiertes Vertrauen auf die menschlichen Möglichkeiten in der Moderne gegen die Negativitätsverzerrungen der öffentlichen Stimmen. In der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelösten Pandemie und den an sie anschließenden öffentlichen Debatten über ein adäquates politisches und gesellschaftliches Vorgehen fordert Markus Gabriel (2020): „Wir brauchen eine neue Aufklärung.“ Einen Eröffnungszug zu eben dieser ‚neuen Aufklärung‘ unternimmt Gabriels daraufhin veröffentliches Buch Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten (2021). Es möchte den Hauptgedanken der Aufklärung wieder ins Spiel bringen, „dass man durch Einsatz von Vernunft gemeinsam daran arbeiten kann, herauszufinden, was wir tun und was wir unterlassen sollen.“ (Gabriel 2021: 29) Ohne die Änderungen in Bedeutung und Diskursformen durch den historischen Abstand übergehen zu wollen, lässt sich vorsichtig eine Parallele zwischen damals und heute ausmachen: Der Bedarf an Aufklärung wird angesichts gesellschaftlicher Schwierigkeiten oder Herausforderungen öffentlich als Lösung artikuliert und problematisiert. Die Darstellung von Aufklärung als pädagogisches Projekt verdeutlicht die Notwendigkeit, dass sie sich durch ihre erzieherische Konnexion als Aufgabe, als ein bewusstes Formen und Machen auch gegenwärtig in Ausrichtung und Normativität selbst rechtfertigen muss. Der Glaube an die Vernunft und die mit ihm verbundene Hoffnung auf einen zukünftig besseren Zustand verlangen ein argumentatives Fundament. Ein generelles Misstrauen in die Kapazität eines allgemeinen menschlichen Vernunftvermögens kann das Zustandekommen aufklärerischer Bemühungen bereits im Vorfeld verhindern. Gerade in diesem Punkt lässt sich aus den Aufklärungsdebatten des 18. Jahrhunderts lernen. Richard Velkley (2012: 70) bemerkt, dass sich die Philosophie aktuell eher mikroskopisch kultureller und historischer Forschung zuwende, weil sie der großen Fragen nach Sinn und Zweck müde geworden sei. Jedoch sei für Misologie und Ablehnung der Wissenschaft die grundliegende Vermeidung der großen und wichtigsten Fragen ausschlaggebender als die Positionierung innerhalb polarisierender politischer Einstellungen und gerade in diesem Punkt sei die vergangene Aufklärung lehrreich:

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Um angesichts der Aufklärung zwischen Ermächtigung und Hoffnung nicht bei einer fundamentalen Perplexität stehen zu bleiben, soll die Frage nach der Rechtfertigung und Umsetzung dieser erzieherischen Aufgabe gestellt und reflektiert werden. Warum Kant für die Aufklärung und der für sie zentralen Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten der Vernunft eine zentrale Rolle als Lehrer zukommt und diese für den Rechtfertigungsbedarf ihrer Ausrichtung und Normativität von Bedeutung ist, soll im Folgenden dargelegt werden. Kants historische und systematische Rolle als Lehrer der Aufklärung Kant war selbst in die geschilderten Erziehungsversuche des 18. Jahrhunderts praktisch involviert. Nachdem er einige Jahre als Hauslehrer gearbeitet hatte, begann er zunächst als Privatdozent und später als Professor an der Universität Königsberg Vorlesungen zu halten, praktische Übungen für seine Studenten anzubieten und Prüfungen abzunehmen. Bevor der preußische Minister Karl Abraham Freiherr von Zedlitz 1778 Ernst Christian Trapp als ersten Lehrstuhlinhaber für Pädagogik an die Universität Halle berief, wurden die Professoren der philosophischen Fakultät in Königsberg durch die preußische Regierung bereits dazu angehalten, pädagogische Vorlesungen anzubieten. Von dieser Maßnahme zur Förderung und Verbesserung des Schulwesens war auch Kant betroffen. Als ordentlicher Professor trug er, veranlasst durch das Regierungsreskript von 1774, zu dem Collegium Scholastico Practicum bei (vgl. Stark 2000: 95). Im Wechsel mit seinen Kollegen hielt er diese Vorlesungen in den folgenden Jahren und las im Winter 1776/77, Sommer 1780, Winter 1783/84 und Winter 1786/87 insgesamt viermal einstündig über Pädagogik. Durch seine Berufswahl als akademischer Philosoph und der damit verbundenen, jahrzehntelangen Lehrtätigkeit wirkte Kant als Lehrer im pädagogischen Jahrhundert der Aufklärung. An den gründlichen und kontroversen Debatten seiner Zeitgenossen betei­ ligte er sich als öffentlicher Gelehrter. Zur Diskussion stand dabei auch die bereits herausgestellte, notwendigerweise zu klärende Frage nach der Rechtfertigung von Aufklärung sowie die Frage nach ihren praktischen Bedingungen wie Gedanken- oder Pressefreiheit. Um treffende Antworten auf beide Fra­ gen zu entwickeln, bedarf es der grundsätzlichen Klärung, was Aufklärung

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eigentlich genau bedeutet. Zwar stellte die Aufklärung im 18. Jahrhundert ein europäisches Phänomen dar, aber der Diskurs rund um die Frage, was Aufklärung eigentlich sei, war zunächst ein Spezifikum des deutschen Raumes (vgl. Schmidt 1996: IXf.). Berlin war eines der wichtigen intellektuellen Zentren Europas im 18. Jahrhundert, wo Gelehrte wie die Mitglieder der Berliner Mittwochsgesellschaft die bisherigen Errungenschaften der Aufklärung, ihr Wesen und ihre Zukunftsaussichten diskutierten. In der Vorrede zum ersten Band der Berlinischen Monatsschrift 1783 stellten Johann Erich Biester und Friedrich Gedike ihre neue Zeitschrift vor und setzten sich „höchste Mannichfaltigkeit, in so weit diese mit angenehmer Belehrung und nützlicher Unterhaltung bestehen kann“ zum Ziel (Biester/Gedike 1783: Vorrede). Mit drei Eigenschaften wollten sie versuchen, ihrer Schrift einen Wert zu geben: „Eifer für die Wahrheit, Liebe zur Verbreitung nützlicher Aufklärung und zur Verbannung verderblicher Irthümer, und Überzeugung einer nicht verdienstlosen Unternehmung“ (ebd.). Wahrheit, Aufklärung und Überzeugung waren die verbindenden Werte der Gelehrten verschiedener Disziplinen, hier ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse zu teilen, unterhaltsame Reflexionen anzustellen und kritische Fragen aufzuwerfen und zu diskutieren. Dem philosophischen Zeitgeist entsprechend standen bereits im Gründungsjahr diese Werte und ihre Verbindlichkeit zur Diskussion. In seinem Artikel Ist es rathsam, das Ehebündnis nicht ferner durch die Religion zu sanciren? wirft der Berliner Pfarrer Johann Friedrich Zöllner, wie Biester und Gedike ebenfalls ein Mitglied der Berliner Mittwochsgesellschaft, folgende Frage auf: „Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!“ (Zöllner 1783: 516 FN)

In seiner Antwort auf diese Frage ließ Kant keinen Zweifel daran, dass es für die Aufklärung einer gewissen ‚Überzeugung‘ bedarf, eines Glaubens an die eigene Vernunft. Vielmehr versuchte er, mit seinem Aufsatz Andere zur Selbsttätigkeit, zu Mut und Entschließung zu ermuntern. Während es dem Ruf nach Mündigkeit, Selbstdenken und öffentlicher Meinungsfreiheit gelungen ist, den Weg von diesem Aufsatz in die Welt zu nehmen, erfreut sich die Restriktion, welche Kant ihnen an die Seite gestellt hat, oftmals nicht derselben Prominenz. Denn statt sich für eine grenzenlose, individuelle Freiheit auszusprechen, formulierte Kant präzise eine Freiheitseinschränkung, die der Aufklärung sogar förderlich sei. Zwar mute es paradox an, doch sei ein Grad weniger bürgerliche Freiheit für die Ausbreitung der Freiheit des Geistes vorteilhaft (vgl. WA, AA 08: 41). Die Freiheit des Vernunftgebrauchs wird auf den öffentlichen Gebrauch in der

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Funktion eines Gelehrten beschränkt, der als „Glied eines ganzen gemeinen Wesens“, „der Weltbürgergesellschaft“, vor einem Publikum frei sein müsse und hier von seiner Vernunft ohne Leitung eines Anderen Gebrauch machen solle (ebd.: 37). In der Rolle des Gelehrten richte man sich laut Kant nicht wie in einer konkreten, privaten Situation einem bloß kleinen Kreis zu, sondern spreche „durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt“ (ebd.: 38). Es scheint leichter möglich, die Rolle des Gelehrten einzunehmen, wenn die Freiheit als Bürger in den privaten Situationen eingeschränkt wird. Nur diese mit Restriktion versehene Freiheit verspreche Aufklärung und die mit ihr verbundenen, positiven Konsequenzen. So gibt Kant im letzten Satz den Ausblick, dass „Hang und Beruf zum freien Denken“ sich allmählich zurück auf die Sinnesart des Volkes auswirke, wodurch dieses der „Freiheit zu handeln nach und nach fähiger“ werde, so dass sogar die „Grundsätze der Regierung“ sich dementsprechend ändern können (ebd.: 41). Die öffentliche Prüfung der Urteile und Einsichten von Gelehrten durch die Welt sowie der Einfluss dieses freien Denkens auf das Volk und die Grundsätze der Regierung deuten einen wechselseitigen, korrigierenden Einfluss zwischen innerlicher Einstellung und äußerlichen Bedingungen an. Der „Geist der Freiheit“, der darin besteht, in Gewissensangelegenheiten unbeschadet der Amtspflicht „Urtheile und Einsichten in der Qualität der Gelehrten frei und öffentlich der Welt zur Prüfung“ darlegen zu dürfen, breite „sich auch außerhalb aus, selbst da, wo er mit äußeren Hindernissen einer sich selbst mißverstehenden Regierung zu ringen“ habe (WA, AA  08: 40f.). Somit wird die Aufklärung hier als ein Ausbreitungsprozess innerer Freiheit beschrieben, die darin besteht, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen, ihr gemäß zu denken und zu urteilen. Und diese innere Einstellung interagiert mit äußeren Hindernissen, was langfristig für das äußerlich wahrnehmbare menschliche Zusammenleben eine moralische Chance verspricht, namentlich, dass Menschen fähiger werden, sich gemäß ihrer Würde zu behandeln (vgl. ebd.: 42). Vice versa gibt es eine äußere Einschränkung der Freiheit als Bürger, die der inneren Freiheit und somit der wahren Reform der Denkungsart förderlich sein kann, denn ein Grad weniger „bürgerlicher Freiheit“ verschaffe „der Freiheit des Geistes des Volks“ Raum, „sich nach allem seinem Vermögen auszubreiten“ (ebd.: 41). Aufklärung konstituiert sich aus einem wechselseitigen Einfluss äußerlich wahrnehm- und regulierbarer menschlicher Handlungen und der innerlichen Einstellung gegenüber diesen Handlungen, der sich über Generationen hinweg entwickelt und sowohl für den Einzelnen als auch die Gemeinschaft eine Besserung verspricht. Die Mündigkeit des Einzelnen, das Selbstdenken, sei der Beruf jedes Menschen und erlaube eine vernünftige Schätzung des eigenen Werts (vgl. ebd.: 36). Selbstdenken und Mündigkeit

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sind verortet in einer Gemeinschaft, dem Publikum, dem gemeinen Wesen oder der Weltbürgergesellschaft und bilden sich aus dieser und für diese. Aufklärung als gemeinschaftliche und individuelle Bemühung auf ein moralisches Ziel hin, welches über die Zeit, Schritt für Schritt durch das Ineinandergreifen von innerlicher Denkart und äußerlichen Handlungen erreicht werden soll, stellt eine Art Lernprozess dar. Kants Metaphorik in diesem Aufsatz verdeutlicht den Aufgabencharakter des menschlichen Lernens. Der eigene ‚Ausgang‘ aus der Unmündigkeit steht in Zusammenhang mit dem ‚Fortgange‘ der Menschheit zu einer Verbesserung. Sowohl der Ausgang des Einzelnen als auch der Fortgang der Menschheit werden sprachlich mit einer physischen Fortbewegungsart analog gesetzt. Denn Kant vergleicht den ‚Ausgang‘ aus der Unmündigkeit, das Selbstdenken, mit dem ‚Gehenlernen‘ und das Verhalten der Vormünder mit dem ‚Gängelwagen‘, einer zeitgenössischen Lauflernhilfe (vgl. WA, AA 08: 35). Analog wie Kinder durch ein solches Gestell nicht eigentlich gehen lernen, sondern lernen, sich führen zu lassen, lassen Vormünder das selbstständige Denken als Gefahr erscheinen, ohne Halt schmerzhaft fallen zu können. Aufklärung zeichnet sich somit zumindest implizit auch in Kants Aufsatz als pädagogisches Projekt ab: Der Ausgang des Einzelnen und der Fortgang der Menschheit werden als eine Art Lernprozess geschildert, der auf Versuch, Übung und öffentlicher Prüfung basiert.4 Niemand wird als Gelehrter geboren, der sich vor einem Publikum bereits seines eigenen Verstandes bedienen kann sowie das Zeitalter der Aufklärung noch nicht aufgeklärt ist. Einerseits scheint dieser Lernprozess der menschlichen Natur zu entsprechen und automatisch abzulaufen, was mehr an ein Werden als ein Machen erinnert. Denn solange man die Menschen lässt und „nicht absichtlich künstelt“, so würden sie sich selbst schrittweise aus der Rohigkeit hinaus 4 Die hier implizit abgelesene Auslegung der Aufklärung als Lernprozess in Bezug auf Individuum und Gattung lässt sich philosophisch durch den Hinweis auf Kants teleologische Geschichtsauffassung stützen. Cassirer (1977: 238) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Erziehung zur Freiheit“ und stellt fest: „Die geistig-geschichtliche Entwicklung der Menschheit fällt mit dem Fortgang, mit der immer schärferen Erfassung und mit der fortschreitenden Vertiefung des Freiheitsgedankens zusammen.“ (ebd.: S.  242) Die detaillierte Darstellung der Geschichtsphilosophie Kants von Pauline Kleingeld (1995) macht auf die Bedeutung des Einzelnen in diesem Prozess aufmerksam: „Ist die Entwicklung der rationalen Fähigkeiten der Menschheit ein generationenübergreifender Prozeß, vererben sich die Resultate aber nicht, so stellt Kant diese Entwicklung als einen Lernprozeß vor. Die Entwicklung wird den nächsten Generationen nicht biologisch, sondern pädagogisch und kulturell-institutionell vermittelt. Die Entwicklung des Individuums (Ontogenese) und die der Gattung (Phylogenese) haben die gleiche Struktur und sind miteinander verschränkt.“ (ebd.: 171f.)

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entwickeln (WA, AA 08: 41). Andererseits bedarf dieser Lernprozess bewusster und aktiver Arbeit, „der Entschließung und des Muthes“ (ebd.: 35). Da das Denken durch vorgegebene und durch Angst, Faulheit und Bequemlichkeit beibehaltene Muster, die eigentliche Unmündigkeit des Einzelnen, wesentlich einfacher sei, als sich durch eigene Bearbeitung des Geistes aus dieser Unmündigkeit ‚herauszuwickeln‘, schaffen es nur wenige, im eigenen Denken einen „sicheren Gang zu thun“ (ebd.: 36). In Hinblick auf die Voraussetzungen der Aufklärung zeigt sich eine Spannung zwischen der „menschlichen Natur“, die im schrittweisen Fortschreiten besteht (ebd.: 39) und der praktizierten, durch Vormünder geschürten Unmündigkeit, die den Menschen „beinahe zur Natur“ geworden ist (ebd.: 36). Grundlegend für die Aufklärung als Entsprechung der menschlichen Natur und das Schaffen einer ‚anderen Natur‘, die die Aufklärung erschwert, sind in beiden Fällen menschliche Handlungen. Daraus ergibt sich die Frage, welches Machen für das Werden der Aufklärung nötig ist und welches schadet. Was muss der Mensch tun, um selbst denken zu lernen und was muss er lassen, um Unmündigkeit nicht natürlich erscheinen zu lassen? Kant scheint uns Menschen Einflussmöglichkeiten auf das Selbstdenken einzuräumen. Neben der Einschränkung der bürgerlichen Freiheit beschreibt er noch zwei weitere Möglichkeiten, von außen auf den Prozess des Selbstdenkenlernens einzuwirken. Das Verhalten der Vormünder, welche das Gehen außerhalb des Gängelwagens als schmerzhafte Gefahr erscheinen lassen, bezeichnet Kant als „ein Beispiel von der Art“, welches schüchtern mache und von ferneren Versuchen abschrecke (ebd.: 35f.). Ein Fürst jedoch, der es jedem frei ließe, in Gewissensangelegenheiten sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen, erlaube es dem Geist der Freiheit, sich auszubreiten und sorge für ein leuchtendes „Beispiel“, dass diese Freiheit keine Gefahr für öffentliche Ruhe und die Einigkeit des gemeinen Wesens darstelle (ebd.: 41). Neben der hinderlichen Wirkung der Vormünder gibt es ein förderliches Verhalten von Personen, eine Art ermunterndes Beispiel. Wenn es möglich ist, durch äußerlich wahrnehmbares Verhalten auf den inneren Prozess, die Reform der Denkungsart, Einfluss nehmen zu können, stellt sich die Frage: Braucht das Projekt der Aufklärung vielleicht Lehrer und Lehrerinnen, die auf das notwendige selbstständige Lernen der Menschen Einfluss nehmen? Die sie dabei unterstützen, einen sicheren Gang in der Bearbeitung des Geistes zu tun. Die dabei in Anlehnung an Kants Analogie auf Gängelwägen verzichten und stattdessen Raum und Möglichkeit bieten, dazu ermuntern, sich selbst nach und nach aufzurichten, um dadurch optimal zu lernen, die eigenen Schritte zu machen. Jemanden, der nicht die Angst vor dem mühseligen Selbstdenken

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schürt, sondern dazu ermutigt, den eigenen Verstand zu benutzen. Immerhin tritt Kant mit seiner Aufklärung über Aufklärung als eben solch ein Lehrer auf. Er war nicht der einzige, der sich in der Debatte um Zöllners Frage als Lehrer der Aufklärung positionierte. Die beiden berühmtesten Antworten auf die Frage nach Aufklärung kamen damals von Kant und Moses Mendelssohn, aber die Diskussion um die Frage expandierte in den folgenden Jahren regelrecht. Wie James Schmidt (1992: 77) bemerkt, haben nur wenige Fußnoten in der Geschichte der Philosophie solche Spuren hinterlassen, wie die von Zöllner: „For the next decade a discussion of the nature and limits of enlightenment filled the pages of German literary and scholary journals.“ Zieht man zudem in Betracht, dass Michel Foucault 200 Jahre nach und in Anschluss an Kant ebenfalls einen Aufsatz über diese Frage verfasste, wirkten Zöllners Frage und Kants Aufklärung über Aufklärung weit über den historischen Kontext des 18. Jahrhunderts hinaus: „Ein Text zweiten Ranges, vielleicht. Doch, wie mir scheint, tritt mit ihm eine Frage diskret in die Geschichte des Denkens ein, die zu beantworten die moderne Philosophie nicht imstande war, von der sie sich aber auch nie frei zu machen vermochte. Und unter unterschiedlichen Formen wiederholt sie sie jetzt bereits seit zwei Jahrhunderten. Von Hegel bis Horkheimer oder Habermas, über Nietzsche oder Max Weber, gibt es kaum eine Philosophie, die direkt oder indirekt, nicht mit ebendieser Frage konfrontiert gewesen wäre: Was ist das also für ein Ereignis, das man die Aufklärung nennt und das zum Teil zumindest bestimmend ist für das, was wir heute sind, was wir heute denken und was wir heute tun?“ (Foucault 1984: 171)

Foucault versteht moderne Philosophie als eben jene, die versucht zu beant­ worten, was Aufklärung sei. In diesem Sinne hob Aufklärung als philosophisch begründetes Projekt zwar im 18. Jahrhundert an, ist aber bisher noch zu keinem Ende gekommen (vgl. Schmidt 1996). Die kritische Philosophie Kants, die im Hintergrund seines Aufklärungs-Aufsatzes steht und die dargelegte Argumentation fundiert, ihr Einfluss auf die moderne Philosophie und Pädagogik, weisen ihn in Teilen als Lehrer dessen aus, was wir heute sind, was wir denken und was wir tun. Seine gegenwarts- und zukunftsfähige Wirkung auf die Aufklärung verdankt sich der kritischen Philosophie, deren Aspekte für die fortwährende und andauernde Aufgabe der Aufklärung in programmatisch-systematischer Hinsicht wahrgenommen und diskutiert werden (vgl. Schneiders 2005; Broese u.a. 2006; Klemme 2009). Mit Fokus auf die Frage nach der Zukunft der europäischen Aufklärung weist Günter Zöller (2009: 82) Kants Aufklärungskonzeption als selbstständigen, öffentlichen und gemeinschaftlichen Gebrauch der Vernunft aus, bei dem die

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Selbstbefreiung der Vernunft als emanzipatorische Dimension um die Selbstbegrenzung der Vernunft als disziplinatorische Dimension ergänzt wird. Die Selbstgesetzlichkeit der Vernunft bringt eine Einschränkung: „Wer Aufklärung mit grenzenloser oder wilder Freiheit gleichsetzt, begibt sich nur in eine neue Abhängigkeit, etwa von zufälliger Eingebung. Einzig wer sich im Denken unter solche Gesetzlichkeiten begibt, denen jedermanns Vernunft zustimmen könnte, bringt es zum Selbstdenken und damit zur Aufklärung.“ (Zöller 2009: 90f.)

Das vermag Kants Umgang mit der bereits ausgewiesenen erzieherischen Dimension des Aufklärungsprojekts zu präzisieren. Als Erziehungsinstanz für den Aufklärungsprozess wird die sich allgemein denkende Vernunft artikuliert. Sie kann sich von Autoritäten und äußeren Zwängen befreien und sich stattdessen unter Gesetze begeben, die sie sich selbst gibt, unter die Richtlinien vorurteilsfrei, erweitert und konsequent zu denken (vgl. ebd.: 95). Da diese Art intellektuelle Selbstständigkeit nicht nur Ziel, sondern auch Bedingung der Aufklärung ist, deutet sich ein Paradox in Kants Konzeption an, „dass nur der Aufgeklärte der Aufklärung fähig ist, aber genau dann ihrer nicht mehr bedarf“ (ebd.: 87). Wenn nur Aufgeklärte die Aufklärung weiterführen können, die es für den Fortgang der Menschheit braucht, ist die Bedingung dafür der Ausgang aus der Unmündigkeit des Einzelnen. Das Erlernen einer intellektuellen Selbstständigkeit erscheint somit als grundlegend für die in seinem Aufsatz beschriebene kollektive, wechselseitige Aufklärung von Gelehrten, welche eine moralische Chance für den Fortgang der Menschheit verspricht. Die Voraussetzung für die Aufklärung primär als prozessualer Ausgang aus der eigenen Unmündigkeit und sekundär als sukzessiver Fortgang der Menschheit besteht in dem emanzipatorischen und disziplinatorischen Gebrauch der Vernunft. Da dieser Vernunftgebrauch zumindest nicht allein auf einem notwendigen Automatismus basiert, sondern des Mutes, der Entschließung und der Übung bedarf, erscheint eine Erziehung zur intellektuellen Selbstständigkeit als conditio sine qua non der Aufklärung. Um die Frage nach den Formen dieser Erziehung zu klären, soll Kant als Lehrer der Aufklärung untersucht werden. Denn wird Kant in seiner praktischen Tätigkeit als Lehrer und Philosoph im 18. Jahrhundert verortet, dessen philosophische Argumente von Bedeutung für die Zukunft der europäischen Aufklärung sind, fällt auf, dass er eine schrittweise Verbesserung der Menschen und der Menschheit nicht nur auf einer innerlichen, intrapersonalen Ebene verortete, sondern auch auf einer äußerlichen, interpersonalen Ebene. Indem er eine Antwort für die Aufklärungsdebatte erarbeitete, positionierte er sich als Lehrer der Aufklärung, der sich mit seinem Aufruf zu Selbstdenken und

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Mündigkeit eine Wirkung auf den Fortgang der Menschheit erhoffte und, wie Foucault feststellt, zumindest in Teilen eine Wirkung erzielte. In seinem Aufsatz deutete er dementsprechend Möglichkeiten an, wie dieser Prozess von außen, etwa durch Beispiele, zu befördern sei. Der Blick auf Kant als Lehrer der Aufklärung eröffnet somit eine Perspektive, die sich von seiner Moraltheorie beginnend bereits als paradox darstellen würde: Die Möglichkeit von außen auf die innere Denkform einzuwirken. Stellt man die systematische Frage nach der Möglichkeit von Erziehung in Kants kritischen Schriften des theoretischen und praktischen Vernunftgebrauchs, zeigt sie sich in Spannung mit der Konzeption seiner Moralphilosophie. Während das Kant-Lexikon moralische Bildung als positiven Einfluss schildert, „der auf Menschen ausgeübt werden kann, so dass die menschlichen ‚Handlungen nicht nur pflichtmäßig […], sondern aus Pflicht‘“ geschehen (Fonnesu 2015: 295), stellt der Artikel zur moralischen Besserung klar, eine solche sei als mögliche Charakterentwicklung des Menschen „nicht durch äußere Mittel“ zu erreichen, sondern ginge mit einer innerlichen Umwandlung der Denkungsart einher (Höffe 2015: 264). Vor dem Hintergrund des kantischen Pflichtbegriffs und dem Konzept autonomer Gesetzgebung läuft die Frage nach einer äußerlichen Wirkung zur moralischen Besserung eines Menschen oder der Menschheit Gefahr, beinahe obsolet zu werden. Wird Kant als Lehrer der Aufklärung betrachtet, gewinnt sie hingegen Bedeutung und erlaubt die Suche nach Antworten. Da Kant im historischen und gegenwärtigen Kontext die Rolle als Lehrer für das fortwährende philosophisch begründete Bildungsunternehmen der Aufklärung einnimmt, soll seine Konzeption und Umsetzung von Erziehung als Voraussetzung des emanzipierenden und disziplinatorischen Vernunftgebrauchs untersucht werden, um eine Antwort auf die übergeordnete Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten einer aktiven Einflussnahme des Menschen hin zum Besseren zu erarbeiten. Kant ist ein Lehrer der Aufklärung im zweifachen Sinne: Als Philosoph kommt ihm sowohl historisch eine Rolle als Lehrer in der Aufklärungsepoche des 18. Jahrhunderts zu als auch systematisch in dem seither fortgeführten Aufklärungsprojekt zur Verbesserung von Mensch und Menschheit. Es ist somit von zweifachem Interesse, die Formen der Erziehung von ihm als Lehrer der Aufklärung herauszuarbeiten, einerseits für ein historisches Verständnis von Aufklärung im 18. Jahrhundert und andererseits für eine systematische Orientierung über die Voraussetzungen von Aufklärungsbemühungen als immerwährende Aufgabe. Mit ihrer historisch und exegetisch detaillierten Studie zu Kants Pädagogik als Erziehung zur Freiheit hat Felicitas Munzel (2012) die Wahrnehmung Kants in seiner Doppelrolle als Lehrer und Philosoph ermöglicht. Wenn Freiheit eine Voraussetzung von Selbstdenken, Aufklärung und Erziehung ist, dann ist Kant

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in seiner Rolle als Lehrer nicht nur für Debatten seiner Zeit eine fruchtbare Quelle, um mehr über die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu lernen: „The motifs of freedom, world of ideas, and discipline and cultivation of the mind further point us to their entry into modern thought through Kant’s philosophy. Historically situated at the center of the modern pedagogical problematic, when the issues were explicitly recognized and vigorously debated, Kant’s engagement of them can be a valuable resource for addressing them today.“ (Munzel 2012: 384)

Unter der Prämisse, dass Aufklärung als pädagogisches Projekt sich damals wie heute durch eine erzieherische Dimension kennzeichnet und Kant seit dem 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle als Lehrer der Aufklärung zukommt, konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf die Untersuchung dieser Rolle, um mehr über Erziehung als Voraussetzung der Aufklärung zu lernen. Wie es aus dem dargestellten Aufklärungskonzept von Kant hervorgeht, betrifft Aufklärung und der dafür notwendige emanzipierende und disziplinatorische Gebrauch der Vernunft eine Aufgabe für Individuum und Gattung. Als zweckgerichteter Prozess verfügt Aufklärung sowohl über ein selbstreferentielles Moment als Selbsterziehung des Subjektes als auch über ein interpersonales Moment als Erziehung von Subjekten untereinander, wie es der Hinweis auf die Beispiele und der wechselseitig korrigierende Einfluss von Gelehrten und Regierung andeuten. Wie geht Kant mit diesen Formen von Erziehung um und wie schätzt er sie als Bedingung und Möglichkeit ein, aktiv dazu beizutragen, als Mensch und Menschheit besser werden zu können? Diese Fragen betreffen das normative Ziel und die Umsetzung von Erziehung als Praxis und Theorie sowie deren philosophische Begründung und Legitimation. Sie sind grundsätzliche Fragen, für die Kant seither in der Forschung herangezogen wird. Um die Untersuchung von Kants Formen der Erziehung als Lehrer der Aufklärung in der Forschung zu situieren und eine angemessene Methode zu erarbeiten, soll ein Überblick des sich bisher entwickelten Forschungsfelds ‚Kant und die Pädagogik‘ Orientierung ermöglichen.

Kant und die Pädagogik: Ein interdisziplinäres Forschungsfeld mit Schwierigkeiten

Kants Erziehungstheorie oder seine Pädagogik zu erforschen, steht vor einem grundsätzlichen Problem. Neben der aufgezeigten historischen und sachlichen Nähe zum pädagogischen Projekt der Aufklärung fehlt eine systematische und als solche deklarierte Ausarbeitung über Erziehung seitens Kant. In

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seinen Schriften kommen Bildung und Erziehung zwar an verschiedenen Stellen Bedeutung zu, doch gibt es kein systematisches Gesamtbild dieser Reflexionen, denn die oftmals dafür herangezogene Schrift Immanuel Kant über Pädagogik ist in ihrer Authentizität umstritten. Innerhalb der philosophischen Kant-Forschung stellt die Frage nach Erziehung in seinem überwiegend metaphysische Grundfragen der Epistemologie und Methodik betreffenden Werk eine übergreifende Interpretationsfrage dar, die zwar in moralphilosophischen und anthropologischen Zusammenhängen tangiert wird, aber keinesfalls gestellt werden muss. Kant gilt deswegen nicht allgemein als Klassiker der Pädagogik. Inwiefern und ob er als Pädagoge gelten kann oder gar als pädagogischer Klassiker gelten sollte, ist selbst in der Erziehungswissenschaft eine offene Frage (vgl. Mikhail 2017: 14-21). Faktisch werden seit Kants Lebzeiten sein Wirken und seine Schriften in der geisteswissenschaftlichen Forschung für pädagogische Fragestellungen herangezogen. Aus der Vorstellung Kants als Lehrer der Aufklärung lassen sich die Gründe dafür zum einen in der historischen Verbindung zu den Erziehungsdebatten und Reformen des 18. Jahrhunderts und der Entstehung der Pädagogik als Disziplin verorten sowie der Bedeutung seiner kritischen Philosophie für grundlegende Fragen nach normativer Rechtfertigung. Trotz dieser Kontinuität des Interesses lässt sich nicht von einem klaren Forschungsgegenstand mit stetiger Entwicklungslinie sprechen. Verschiedene pädagogische Fragen werden aus historischer, philologischer sowie erziehungswissenschaftlicher Perspektive untersucht und verlangen durch ihre normative Ausrichtung eine philosophische Begründung. Da die Grenzen der Disziplinen in wissenschaftstheoretischen und normativen Argumentationen oft fließend verlaufen, wird die folgende Darstellung über den Forschungsstand nicht nach Rezeption in den jeweiligen Wissenschaften gegliedert.5 Der Überblick soll Orientierung für die Arbeit auf diesem Feld ermöglichen und die Fragestellung sowie Methode in Anschluss an und Abgrenzung von bisheriger Forschungsleistung verorten. Der Einblick in dieses Feld strebt nicht nach einer Aufzählung aller Forschungsbeiträge,6 sondern bietet eine thematische Disposition der Grundprobleme, mit denen die Frage nach einer Kantischen Pädagogik verbunden ist. 5 Ausgehend von Weisskopf (1970) bietet Robinson dos Santos (2007: 24-62) einen solchen Überblick und unterscheidet historisch-philologische Rezeption, die Rezeption in der Erziehungswissenschaft sowie die innerhalb der Kant-Forschung. Mikhail (2017: 67-81) verfolgt „Kants Pädagogik im Spiegel seiner Epigonen“ und bietet einen entwicklungsgeschichtlichen Überblick pädagogischer Kantbezüge von Paul Natorp und Richard Hönigswald bis ins späte 20. Jahrhundert. 6 Weisskopf (1970: 473-519) bietet als Anhang eine summarische Übersicht mit Beschreibungen der bis zu seiner Publikation erschienen Untersuchungen zum Thema „Immanuel Kant und

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Unterschiedliche Konnotationen des Kant-Bezugs und des Pädagogischen Eine Beschäftigung mit Kant aus pädagogischer Perspektive oder mit Pädagogik aus kantischer Perspektive legt die Weichenstellung der Forschung durch das, was jeweils unter den Begriffen ‚Kant‘ und ‚Pädagogik‘ verstanden wird. Unterschiede zeigen sich in ihrem jeweiligen Begriffsumfang sowie Inhalt. Je nach Gewichtung und Zusammenspiel ergeben sich für die Fragestellung variable Möglichkeiten der Untersuchung, die das Ergebnis letztlich formen. Aufgrund der unterschiedlichen Interessen hat sich ein vielfältiges Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘ entwickelt. Um dieses Feld und seine Schwierigkeiten darzustellen, wird zunächst der Weg von den historischen Perspektiven auf Kant als Person zum Pädagogischen genommen und anschließend vom Gegenstand des Pädagogischen zu den unterschiedlichen Bezügen auf Kant als Träger wichtiger Theorieelemente. Das Abschreiten aus beiden Richtungen kann zum einen präzisieren, worin die Verbindung der beiden Themenkreise ‚Kant‘ und ‚Pädagogik‘ besteht, zum anderen darstellen, warum es sich bei ‚Kant und die Pädagogik‘ um ein offenes Forschungsfeld ohne festen Untersuchungsgegenstand handelt. Kant und sein Werk können auf dem Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘ historisch in den Blick genommen werden, wozu unterschiedlich weite Perspektiven möglich sind. In einer sehr weiten Perspektive wird Kant neben anderen Protagonisten seiner Zeit als Mitglied der Aufklärung und des pädagogischen Jahrhunderts vorgestellt. In pädagogischen und bildungsgeschichtlichen Überblicks- und Einführungswerken wird Kant dementsprechend als Vertreter der Aufklärung behandelt (vgl. Hammerstein/Herrmann 2005; Benner/Brüggen 2011; Kuhlmann 2013). Bereits diese allgemeine Perspektive zeigt eine gewisse Nähe Kants zum Pädagogischen, wie es die Vergegenwärtigung der Aufklärung als pädagogisches Projekt zu Beginn veranschaulicht hat. Eine etwas engere Perspektive behandelt Kants Rolle als zentrale Denkerpersönlichkeit in den konkreten pädagogischen Debatten der Aufklärung. Neben seinen akademischen Werken verfasste er viele Artikel für Zeitschriften wie die Berlinische Monatsschrift, in denen er sich zu aktuellen Fragen und Themen äußerte. Kants Kontakte waren vielfältig und umfassten Studenten und Kollegen, Kaufleute und Geistliche, Mediziner und Generäle. Detailliert finden sich die historischen Bezüge Kants im zweiten Band der umfassenden Darstellung von Fritz Gause (1968) über die Geschichte der Stadt Königsberg. Rudolf Malter hat sich explizit darum bemüht, Kant als Person im die Pädagogik“, um zu zeigen wie selten dieser Gegenstand bisher im Vergleich zu ethischen oder erkenntnistheoretischen Abhandlungen der kantischen Philosophie vorkam.

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Gespräch mit seinen Zeitgenossen (vgl. Malter 1990) und im Zusammenhang mit der Aufklärung zu verstehen (vgl. Malter 1993). Seine Materialsammlung historischer Dokumente wurde von Bernd Dörflinger und James Jakob Fehr unter dem Titel Königsberg 1724-1804 (2009) herausgegeben und eröffnet den politischen, sozialen und geistesgeschichtlichen Hintergrund zu Kants Leben und Werk. In philosophie-historischen Arbeiten wird Kant vereinzelt in Verbindung zu den pädagogischen und universitären Reformbemühungen seines Jahrhunderts situiert und dargestellt (vgl. Bien 1974; Euler 1999; Schulz 2005). In dieser Perspektive wird deutlich, dass er sich für die pädagogischen Projekte seiner Zeit interessierte und besonders für den Philanthropismus einsetzte (vgl. Weisskopf 1970: 55-83). Er befand sich im Gespräch mit pädagogischen Reformern wie dem Minister Zedlitz oder den Philanthropen Joachim Heinrich Campe und Christian Heinrich Wolke. Insbesondere der Briefwechsel mit letzterem lässt Kants pädagogisches Interesse und Engagement erkennen (vgl. Munzel 2012: 187ff.). In einem Brief im August 1778 bezeichnet Kant Wolke als „letzte[n] Anker, auf dem alle Hofnung der Theilnehmer an einer Sache, deren Idee allein das Herz aufschwellen macht“ beruhe (Br, AA 10: 237) und erklärt, für ihn sei nicht die Schulwissenschaft das einzig notwendige, sondern „die Bildung des Menschen, seinem Talente so wohl als Charakter nach“ (ebd.: 238). Eine dritte noch engere pädagogische Perspektive auf Kant als historische Person konzentriert sich auf seine 40-jährige Lehrtätigkeit an der AlbertusUniversität in Königsberg. Insbesondere Biographien versuchen Kants soziale Verbindungen und seine Lehrtätigkeit darzustellen (vgl. Vorländer 1924; Ritzel 1985a; Kühn 2004). Daneben gibt es historisch-systematische Arbeiten, die ihn dezidiert als Lehrer untersuchen (vgl. Messer 1924; Stark 1992 und 1995; Euler 1994 und 1995; Naragon 2006). Hierbei kommt auch seine bereits erwähnte Pädagogik-Vorlesung in den Blick. Wie jedoch die Forschung von Steve Naragon (2006) belegt, nimmt dieses Vorlesungsangebot in dem eindrucksvollen Umfang von Kants Lehrtätigkeit nur eine marginale Position ein. Stärker als durch dieses spezielle, von der Regierung zur Verbesserung der Lehrerbildung initiierte Kolleg wirkte Kant durch seine jahrzehntelange mündlich wie schriftlich vorgetragene philosophische Lehre auf Studierende und Gelehrte und über sie auf die sich etablierende Disziplin der Pädagogik. Denn zu Kants Lebzeiten wurde an deutschen Universitäten zwischen 1790-96 bereits seine kritische Philosophie gelehrt, die als fruchtbarer Boden für pädagogische Bemühungen wahrgenommen wurde. August Hermann Niemeyer und Friedrich Heinrich Christian Schwarz gelten bereits früh als bedeutende Vertreter des Kantianismus in der Pädagogik (vgl. Vogel 1877: 199). Schwarz hat sogar zu Kant Kontakt aufgenommen, um seine Bewunderung und Dankbarkeit für dessen kritische Philosophie zum Ausdruck zu bringen. In einem Brief im

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April 1793 schildert er, dass Kants Philosophie ihm die Arbeit als Prediger und das Erziehungsgeschäft erleichtere. Gerade für letzteres betont er die zentrale Bedeutung der Kritik: „Ich habe dieses neulich in einer Schrift über Erziehung der Töchter versucht, weil Ihre Ideen einer jeden Erziehungstheorie, die zweckmäßig und gründlich seyn soll, zum Grunde liegen müssen.“ (Br, AA 09: 421)

Dass der Kreis der von Kant inspirierten Pädagogen viel größer war, zeigt die aufschlussreiche Analyse von Christiane Ruberg (2002). In Wie ist Erziehung möglich? Moralerziehung bei den frühen pädagogischen Kantianern wird deutlich, wie Kants neue Grundlagen der Moralphilosophie im pädagogischen Bemühen zu einer Revision geführt haben. Das traditionelle Erziehungsziel der Glückseligkeit wurde durch das Konzept reiner Sittlichkeit ersetzt. Die frühen pädagogischen Kantianer teilen sich mit ihren Zeitgenossen, den Philanthropen, die Aufgabe, die Pädagogik systematisch zu fundieren. Einer der zehn von Ruberg untersuchten Kantianer ist Carl Christian Erhard Schmid. Als Theologe und Philosoph wurde er dadurch bekannt, dass er versuchte, die Kritik der reinen Vernunft allgemein verständlich zu machen. Sein Versuch einer Moralphilosophie (1790) und seine Empirische Psychologie (1791) sind zwei wesentliche Werke in der Rezeptionsgeschichte Kants und zwei Standardwerke für die Pädagogen unter den Anhängern der kritischen Philosophie. An Schmid lässt sich exemplarisch zeigen, wie die kritische Philosophie damals Anlass zu pädagogischen Projekten gegeben hat. Paradigmatisch soll deswegen sein kantisch inspirierter Erziehungsstandpunkt kurz skizziert werden (vgl. Ruberg 2002: 61-74). Schmid gelten Philosophie und Psychologie als Hilfswissenschaften für die Etablierung der Pädagogik. Die praktische Philosophie stellt den Zweck der Erziehung bereit, die Psychologie empirische Erfahrungsgegenstände für den Prozess der Erziehung. Unter den Voraussetzungen der transzendentalen Freiheit, kann sich eine Änderung der Denkungsart nur durch Selbsttätigkeit ergeben. Die Erziehung findet jedoch äußerlich statt und geht auf die Sinnesart. Da Sittlichkeit die innere Willensbestimmung betrifft, liegt sie damit außerhalb der Erziehungsmöglichkeiten, sie ist nur durch Selbsterziehung des Subjekts möglich. Schmid kommt zu dem Schluss, Erziehung könne das Moralgesetz nicht erzeugen, aber befördern. Dazu stellt er verschiedene Imperative auf: „Cultiviere alle deine Seelenkräfte, in der gehörigen Subordination unter den Zweck der höchsten vernünftigen Wirksamkeit“ (Schmid 1790: 383). Oder: „Vermehre deine äussere Vollkommenheit, d.i. die äusseren Bedingungen, wovon die Größe deiner Tätigkeit überhaupt und vornehmlich deiner

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vernünftigen Würksamkeit abhängt“ (ebd.: 389). Bei Schmid vermischen sich philanthropisches Bemühen und kritische Philosophie zu einem Denken über Erziehung, das sich am Formalprinzip des kategorischen Imperativs orientiert. Ruberg (2002: 224) schließt ihre Analyse mit dem Fazit, dass einer Pädagogik im Sinne der Vorgaben der kantischen Philosophie die notwendige Rolle als „Vorbereitung zur moralischen Selbsttätigkeit“ zukomme: „Keine Moral durch Erziehung, aber auch keine Moral ohne Erziehung.“ Die drei enger werdenden historischen Perspektiven auf Kant als Mitglied der Aufklärung, philosophische Stimme in den pädagogischen Debatten und Lehrer im 18. Jahrhundert präzisieren die historische Verbindung Kants zum Pädagogischen. Die frühen pädagogischen Kantianer belegen einen durch sein Wirken ausgelösten Einfluss der kritischen Moralphilosophie auf pädagogische Grundfragen bereits in der Forschung der 90er-Jahre des 18. Jahrhunderts. Im darauf folgenden Jahrhundert wird diese Linie durch die pädagogischen Neukantianer wie Paul Natorp oder Richard Hönigswald aus philosophischer Perspektive weitergeführt (vgl. Mikhail 2017: 67-81). Es zeigt sich, dass Pädagogik als Disziplin und Kants Philosophie durch ihre historische Verbundenheit auch sachlich in engem Verhältnis zueinander stehen. Dass sich bei Kant sowohl Reflexionen über Theorie und Praxis als auch über die Subjekte der Emanzipation als Bedingung des Praktisch-Werdens von Vernunft finden (vgl. Noti 1994: 25), weist auf das pädagogische Potential seiner Philosophie hin. Kant entwickelt dabei einen ganz spezifischen Begriff des Praktischen: „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist.“ (KrV, B 828) Diese Freiheit ergibt sich neben der emanzipierenden Selbstbefreiung der Vernunft durch ihre disziplinatorische Selbstbegrenzung. Die Selbstbestimmung eines freien Willens ist durch seinen Bezug auf die Kausalität der Freiheit und dem ihr entspringenden Moralgesetz moralisch konnotiert. Das kann erklären, warum der Frage nach Möglichkeit, Rechtfertigung und Form moralischer Erziehung bei den pädagogischen Kantforschungen zentrale Bedeutung zukommt. Johann Friedrich Herbart (1841: 2) schloss philosophische Systeme, „die entweder Fatalismus oder transscendentale Freiheit“ annehmen, noch von der Pädagogik aus, da sie sich mit dem Begriff der Bildsamkeit nicht vereinigen ließen. Jedoch erwies sich die Funktion der Freiheit für Erziehungstheorien als besonders fruchtbar und beschränkt sich nicht auf moralische Unterweisung im engen Sinne. In ihrer Zusammenfassung über die Hauptfrage der Erziehungswissenschaft, wie Erziehung als Einwirkung auf und Produktion von Freiheit möglich sei, vermuten Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr (1981) den Ursprung dieser Frage sogar in Kants Transzendentalphilosophie. Es lässt sich festhalten: Die Pädagogik zog während ihrer Entstehung als Disziplin und zieht bis heute

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bei ihrer wissenschaftstheoretischen und normativen Rechtfertigung von Ziel und Umsetzung häufig die kantische Philosophie heran. Der historische Blick auf Kant als Person zeigt, dass seine Verbindung zum Pädagogischen sowohl die Erziehungstheorie (Ersetzung des Ziels moralischer Unterweisung) als auch die damit verbundene Erziehungspraxis (Unterstützung des Philanthropismus) betrifft. Auch der Einblick in Schmids Überlegungen verdeutlicht, dass sich die Pädagogik für den ‚Zweck der Erziehung‘ an die praktische Philosophie zu richten habe und für den ‚Prozess der Erziehung‘ an die Psychologie. Dabei deutet sich der Grund an, warum der Gegenstand der Erziehung grundsätzlich für eine Wissenschaft schwer zu handhaben ist: „Das liegt zunächst einmal daran, dass beide Probleme, Legitimations- und Wirkungsproblem, nicht mit den gleichen Mitteln behandelt werden können. Um auf das Legitimationsproblem antworten zu können, muss man Gründe angeben, warum eine bestimmte Umgangsform moralisch gerechtfertigt sein soll. Man bewegt sich im Bereich der Praktischen Philosophie, die nach Kriterien sucht, warum man etwas als ‚richtig‘ akzeptieren soll.“ (Schäfer 2005: 12)

Fragt man hingegen nach der Wirkung der pädagogischen Intention, nach „der Effektivität pädagogischer Handlungen“, behandelt man die Pädagogik wie eine Technik (Schäfer 2005: 13). Der Unterschied zwischen Legitimationsund Wirkungsproblem der Pädagogik verweist auf das grundsätzliche Theorie-Praxis-Problem der Philosophie: Die Frage nach dem Verhältnis von theoretischer Betrachtung, welche auf methodischer Abstraktion beruht, und dem jeweils konkreten Handeln sowie die Frage nach der Erklärung des Handelns in Form einer Theorie der Praxis (vgl. Hardy 2008: 611). Zwar gibt es zahlreiche wissenschaftstheoretische Überlegungen, um die Frage nach dem Gegenstand des Pädagogischen zu beantworten, aber es lässt sich ein Konsens ablesen, das Zusammenspiel von Theorie und Praxis als kennzeichnendes Kriterium anzuerkennen.7 7 Um einige Beispiele dafür zu nennen: Benner (1991: 118f.) weist auf, dass pädagogische Wissenschaft ihrem Selbstverständnis nach sich immer schon als eine „auf Prinzipien gegründete praktische Wissenschaft“ verstanden hat, als eine „Wissenschaft von Praxis für Praxis“. Ruberg (2002: 15) schließt bei der Suche nach dem pädagogischen Gegenstand, eine Wissenschaft der Erziehung scheine sich bestenfalls darauf einigen zu können, dass Erziehen ein wesentlich „intentionales, interpersonales Handeln“ ist, „das Wirkungen erzielen soll“ (Ruberg 2002: 15). Böhm (2011: 9) erhebt das Verhältnis von Theorie und Praxis vom „genuinen Problembestand der Pädagogik“ zu ihrem eigentlichen „Grundproblem“. Schmied-Kowarzik (2008: 13) erarbeitet das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis, da die Pädagogik als Disziplin nur als „dialektische Theorie“ auftreten könne, „wo sie sich bewusst ihrer Aufgabe stellt, praktische Wissenschaft von der und für die Erziehung zu sein“.

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Schäfer (2005: 13f.) unterscheidet zwischen den bereits im erzieherischen Alltagsverständnis angelegten philosophisch zu begründenden Fragen nach dem mit Erziehung verbundenen Macht- und Legitimationsproblem (Wie lässt sich eine erzieherische Umgangsform als richtig oder moralisch rechtfertigen?) und den mit empirischer Forschung zu begegnenden Fragen nach pädagogischer Wirksamkeit (Wie lässt sich eine erzieherische Wirkung technisch erreichen?). Um allerdings beantworten zu können, wann wir es tatsächlich mit Erziehung zu tun haben und was genau die Verbindung von Ursachen und Wirkungen als pädagogisch kennzeichnet, habe eine wissenschaftliche, pädagogische Theorie beides zu leisten: Sie muss begründen, „warum sie es für sinnvoll hält, dies und jenes als Erziehung zu betrachten, welche Ziele sich pädagogisch rechtfertigen lassen“ und gleichsam darauf verweisen, „dass diese Sinnbestimmung etwas mit vermuteten Wirkungen zu tun hat“ (Schäfer 2005: 17). Wissenschaftliche Theorien der Erziehung versuchen sinnvolle und aussichtsreiche Antworten zu geben, sie bemühen sich nicht nur legitim, sondern realistisch zu sein (vgl. ebd.: 26). Dabei gibt es keinen pädagogischen Gegenstand, keine „pädagogische Wirklichkeit“ (ebd.), unabhängig von einem theoretischen Vorverständnis des Pädagogischen. Das Pädagogische fußt somit formal auf einer grundlegenden Verbindung von Theorie und Praxis, unterscheidet sich material aber stets durch die theoretische Perspektive auf die (mögliche) Praxis. Die notwendig mit dem Gegenstand des Pädagogischen einhergehende Perspektivität kann die Vielfältigkeit des Forschungsfelds ‚Kant und die Pädagogik‘ vonseiten der Pädagogik erklären. Wenn es keine unabhängige pädagogische Wirklichkeit geben kann, sondern das, was als solche wahrgenommen wird, von einem theoretischen Vorverständnis abhängt, ändert sich der Gegenstand der Forschungen diesem Vorverständnis entsprechend. Der charakteristische Problemdualismus von rechtfertigender Theorie und wirkungsvoller Praxis erlaubt dennoch eine erste Disposition möglicher Konnotationen: Das Pädagogische, für das Kants Philosophie herangezogen wird, beschränkt sich nicht nur auf die normative Theorie moralischer Unterweisung, die Legitimation wissenschaftstheoretischer Grundlagen der Disziplin oder die für den Erziehungsprozess charakteristische Zwecksetzung, sondern betrifft auch die Begründung der dafür gewählten erzieherischen Praxis und die Frage nach der geeigneten Technik zur Realisation der erzieherischen Intention.8 8 Oftmals werden diese Aspekte für ein Gesamtbild von Kants Pädagogik zusammengebracht. Mikhail (2017) sortiert die von ihm herausgegebenen Schriften Kants zur Pädagogik unter die Themen: „Pädagogik als Wissenschaft“, „Pädagogische Anthropologie“, „Erziehung“, „Unterricht“, „ästhetische Bildung“ und „Pädagogische Pflichten“. Krämers (2009) Analyse zur

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Um pädagogische Grundfragen dieser Art zu behandeln, braucht es keine Bezugnahme auf Kant als historische Person. ‚Kant‘ bezeichnet dann sein schriftliches Werk, das als Träger wichtiger Theorieelemente gilt. Über  200 Jahre nach Schmid und den anderen frühen pädagogischen Kantianern lokalisiert Lutz Koch (2005: 9) das pädagogische Potential der kantischen Philosophie in seinen theoretischen, ethischen und ästhetischen Revolutionen: „Kants Revolutionen, so wird angenommen, enthalten das Potential einer tiefreichenden Umgestaltung der Pädagogik.“ Da das denkende Ich zum Ursprung der Objektivität wird, kann der zu Erziehende nicht mehr passiv als Objekt verstanden werden, an dem Tätigkeiten vollzogen werden. Mit Bezug auf Paul Natorp schließt Koch (2005: 13), die von Kant inspirierte Tradition der Pädagogik habe darauf gesetzt, dass Lernen ein Erzeugen des zu Lernenden und Lehren dementsprechend die Anregung zur Selbsterzeugung der Erkenntnis durch den Lernenden sei. Diese theoretische Revolution hinge mit einer ethischen zusammen, die moralischen Werte als von uns erzeugt zu verstehen. Das bringe eine weitere Implikation für die Pädagogik: „Die ethische Didaktik hat also darauf zu setzen, daß der Einzelne über sich nachdenkt und den Kompaß seines Lebens in sich findet.“ (Koch 2005: 16) Auch die ästhetische Revolution, das Subjekt als Quelle des Schönen anzuerkennen, hat Bedeutung für pädagogische Kernthemen: „Daraus läßt sich als Prinzip einer ästhetischen Bildung des Menschen das Postulat ableiten, ihn für das Schöne in Natur und Kunst empfänglich zu stimmen.“ (Koch 2005: 19) Entsprechend der von Koch genannten Revolutionen finden sich pädagogische Forschungsansätze mit theoretischem, ethischem und ästhetischem Kant-Bezug.9 Bildung im Ausgang von Kant zeigt, dass moralische Erziehung und Unterricht eine Einheit bilden, weil die Haltung, die das Moralische begründe (Selbstdistanz, Unvoreingenommenheit, Zugewandtheit) zugleich die Voraussetzung von Erkenntnis darstelle. Aufgrund einer biographisch-historischen Einordnung und dem sachlichen Überblick der theoretischen, moralphilosophischen, politischen und kulturellen Schriften, entwickelt Johnston (2013) eine kantische Moralerziehung mit moralischer, ethisch-politischer, kosmopolitischer und kultureller Komponente für die Praxis. 9 Diese Ansätze stehen durch die entfaltete Subjektivität in Kants kritischer Philosophie systematisch in Zusammenhang, doch lassen sich unterschiedliche Schwerpunkte ausmachen. Theoretisch orientiert sind etwa die Arbeiten der frühen pädagogischen Kantianer und der pädagogischen Neukantianer sowie die von Wolfgang Ritzel (1971) oder Renate Engel (1996); ethisch orientiert sind die Arbeiten von Jörg Bockow (1984), Lutz Koch (2003), Robinson dos Santos (2007), Hildegard Krämer (2009), Kristin Junga (2011), Felicitas Munzel (2012) und James Scott Johnston (2013). Eine ästhetische Ausrichtung findet sich bei RalfErik Dode (1985), Claudia Gerdenitsch (2011) und Folko Zander (2013). Daneben gibt es noch Ansätze, die sich explizit auf das Politische konzentrieren (Peter Baumanns 2007; YvesMarius Sagou 2009; Täschner 2012; Cavallar 2015).

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Die Vielschichtigkeit des Forschungsfeldes ‚Kant und die Pädagogik‘, für deren Zustandekommen sich die unterschiedlichen Kant-Bezüge sowie die verschiedenen Konnotationen des Pädagogischen identifizieren lassen, ist an sich unproblematisch. In Hinsicht auf die Frage nach einer Kantischen Pädagogik stellen die Offenheit und der Perspektivenreichtum jedoch zentrale Schwierigkeiten dar. Ingrid Blanke (1984: 146) bemerkt in ihrer ideengeschichtlichen Studie zu Erziehung und Sittlichkeit, dass das Problem, wie über Kants Aussagen eine Gesamtdarstellung seines Erziehungsverständnisses generiert und die verschiedenen Aspekte der Erziehung in eine Einheit gebracht werden können, noch nicht gelöst sei. Michael Lausberg (2009: 5) hat darauf hingewiesen, dass je nachdem auf welchen Teil seines theoretischen Werks man sich konzentriere, sich das, was Kant unter Erziehung verstanden hat, verschiedenartig expliziert findet: „Das Problem, wie diese verschiedenen Aspekte der Erziehung in eine Einheit gebracht werden können, ist noch nicht gelöst.“ Anke Redecker (2018: 307) bezeichnet „Immanuel Kant und die Pädagogik“ als „eine vielfältige Allianz, deren Diskussion in der Erziehungswissenschaft häufig in Ansätzen verblieben ist.“ Kant gehe es nicht darum, tradierte Werte zu verinnerlichen, sondern das Werten selbst zu lernen. Doch bleibe die mit dieser Einsicht verbundene systematisch umfassende Sicht auf das kantische Werk bis auf die Ausnahmen der Untersuchungen von Lutz Koch und Hildegard Krämer heute immer noch weitestgehend außer Acht (vgl. ebd. 308). Steht statt einer Inspiration durch seine Philosophie und der Verwen­ dung einzelner Argumente aus seinem Werk ein explizites Interesse an der Rekonstruktion des kantischen Erziehungsdenkens im Vordergrund, ist die Frage nach den zu untersuchenden und relevanten Texten Kants, die als pädagogische herangezogen werden können, ausschlaggebend. Die Frage nach dem kantisch-pädagogischen Textkorpus zeigt, wie vielfältig der systematische Bezug auf ‚Kant‘ in Hinsicht auf Pädagogik konnotiert sein kann. Oft wurde der Versuch unternommen, die bedeutenden Texte zu extrahieren, um sie der pädagogischen Forschung zur Verfügung zu stellen. So etwa von Hermann Groothoff (1963), der in Ausgewählte Schriften zur Pädagogik und ihrer Begrün­ dung sogar Textauszüge aus der Anthropologie, der Metaphysik der Sitten und der Kritik der Urteilskraft zur Verfügung gestellt hat oder Mikhail (2017), der diesem Beispiel folgend ebenfalls eine Auswahl kantischer Texte für pädagogische Fragen herausgegeben hat. Erschwert wird die Frage nach Kants Pädagogik durch die Schrift Immanuel Kant über Pädagogik (1803), die von seinem Schüler Theodor Rink herausgegeben wurde. Durch ihre umstrittene Authentizität und ihre dennoch topische Bedeutung für das Erziehungsthema bei Kant ist sich die Forschung nicht einmal darüber einig, welche Schriften explizit nicht zum kantisch-pädagogischen Textkorpus gezählt werden sollten.

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Der Authentizitätsstreit um die Rink-Schrift und seine Folgen für die Forschung Die 1803 von Kants Schüler Theodor Rink herausgegebene Schrift Immanuel Kant über Pädagogik wurde und wird in der Forschung oft als Kants Pädagogik gehandhabt (vgl. Prange 2008, Roth/Surprenant 2012, Schwenzfeuer 2017). Sie begründet, dass Kant das historische Verdienst zugeschrieben wird, die „für den deutschsprachigen Raum folgenreichste Erörterung der Erziehung als Grundproblem des menschlichen Daseins“ vorgelegt zu haben: Der Mensch könne nur durch Erziehung Mensch werden und er sei nichts, als was Erziehung aus ihm mache (Groothoff 1972: 734). Die definitorische Bedeutung der Rink-Schrift für den Pädagogikbegriff als wissenschaftliche Erziehungslehre findet sich durch das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm bestätigt. Der Lexikonartikel definiert Pädagogik als „die lehre oder ein lehrbuch von der erziehung, die erziehungsmethode“ und führt gleich an erster Stelle als Erklärung ein Zitat der vermeintlich kantischen PädagogikSchrift an (Grimm 1854: 1406). Würde man die Rink-Schrift Kant zuschreiben, wäre er einer der ersten, „wenn nicht überhaupt der erste, der die Verwissenschaftlichung der Pädagogik ausdrücklich gefordert hat“ (Koch 2016b: 1728). Das kann erklären, warum der Frage nach der Authentizität der Schrift eine zentrale Rolle zukommt. Koch (2015c: 2366) macht in seinem Artikel Über Pädagogik im Kant-Lexikon darauf aufmerksam, dass trotz „der Umstrittenheit der Vorlesung“ einige ihrer Formulierungen in der Erziehungswissenschaft „fast topische Bedeutung“ gewonnen haben. Folgende Frage ist zu einer Art Problemformel geworden: „Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen vereinigen könne. Denn Zwang ist nöthig! Wie cultivire ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (Päd, AA 09: 453)

Diese Frage wurde stark rezipiert,10 obwohl sie in dieser prägnanten For­ mulierung in keinem anderen Werk Kants gestellt wird. Die sich daran anlehnende Bezeichnung einer ‚Erziehung zur Freiheit‘, findet sich in diesem 10

Markus Riefling (2013: 23) bezeichnet sie als „pädagogische Grundlegungsfrage bei Kant“ und formuliert von ihr ausgehend folgendes pädagogisches Paradox Kants: „Erziehung als (intentionale) empirische Maßnahme soll Auswirkungen haben auf den intelligiblen Teil des Zöglings“ (Riefling 2013: 61). Für Mikhail (2017: 104-108) stellt sie „Kants pädagogische Gretchenfrage“ dar. Anke Redecker (2018: 304) beginnt ihre Analyse von Kants Ansätzen ethischer Bildung mit dieser „von Kant akzentuierten Frage, wie denn ‚die Freiheit bei dem Zwange‘ im pädagogischen Verhältnis kultiviert werden könne“ und stellt fest: „[D]ie traditionsreiche Frage, wie ethische Bildung in der Übereinkunft von Individualität und

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Wortlaut ebenfalls an keiner anderen Stelle in Kants Werk. Auch wenn Freiheit moralphilosophisch bei Kant der zentrale Begriff ist, entbehrt die prog­ rammatische Formulierung einer Erziehung zur Freiheit somit nicht eines anachronistischen Zugs. Ferner wird die sich in dieser Schrift befindende Forderung, der Mechanismus in der Erziehungskunst müsse ‚in Wissenschaft verwandelt werden‘, gerade in erziehungswissenschaftlichen Ansätzen sehr häufig betont.11 Diese Forderung findet sich ebenso in keiner anderen Schrift Kants und sein strenger Begriff von Wissenschaft innerhalb seines philosophischen Systems lässt sie nicht ohne weiteres zu. Wissenschaften werden von Kant in der Hinsicht auf ihre zugrunde liegende Kausalität eingeteilt: Entweder sie gehören in den Bereich der Naturkausalität oder in den der Freiheit. Da Erziehung bei ihm keine Stelle in diesem System der Philosophie erhalten hat, lässt sich folgern, dass sie für Kant keine eigene philosophische Wissenschaft ist. Wäre sie eine, hätte sie in seinem System, wie er es in der Kritik der Urteilskraft beschreibt, entweder in der Natur- oder der Moralphilosophie, einen Ort gefunden: „So wenig also die Auflösung der Probleme der reinen Geometrie zu einem besonderen Theile derselben gehört, oder die Feldmeßkunst den Namen einer praktischen Geometrie zum Unterschiede von der reinen als ein zweiter Theil der Geometrie überhaupt verdient: so und noch weniger darf die mechanische oder chemische Kunst der Experimente oder der Beobachtungen für einen praktischen Theil der Naturlehre, endlich die Haus-, Land-, Staatswirthschaft, die Kunst des Umganges, die Vorschrift der Diätetik, selbst nicht die allgemeine Glückseligkeitslehre, sogar nicht einmal die Bezähmung der Neigungen und Bändigung der Affecten zum Behuf der letzteren zur praktischen Philosophie gezählt werden, oder die letzteren wohl gar den zweiten Theil der Philosophie überhaupt ausmachen; weil sie insgesammt nur Regeln der Geschicklichkeit, die mithin nur technisch- praktisch sind, enthalten, um eine Wirkung hervorzubringen, die nach Naturbegriffen der Ursachen und Wirkungen möglich ist,

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Gesetzesanspruch möglich werden kann, bleibt in der Kant-Forschung aktuell“ (Redecker 2018: 326). Wolfgang Ritzel (1985b: 37) verwendet diese Forderung ebenfalls, obwohl er sich in seiner Untersuchung Wie ist Pädagogik als Wissenschaft möglich? bewusst darüber zeigt, dass vieles „Erhebliche nur in Rinks Ausgabe steht“ und diese Schrift „von bescheidenem Wert“ für das Vorhaben sei, die tatsächlich kantischen Beiträge zur Pädagogik und ihrer Grundlegung zu untersuchen. Michael Lausberg (2009: 53) verwendet dieses Zitat aus der RinkSchrift, um in Hinblick auf Kants gesamtes Erziehungsverständnis festzustellen, er habe Wert darauf gelegt, „dass die Lehre von der Erziehung zur Wissenschaft werden müsse“. Jean-François Goubet (2016: 47-56) diskutiert die in der Rink-Schrift geforderte Wissenschaftlichkeit der Pädagogik als Disziplin in „La pédagogie kantinne, une science ou un art?“ und stellt fest, dass der Terminus in diesem Kontext nicht unserem heutigen Wissenschaftsbegriff entspricht (vgl. 55).

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Einleitung welche, da sie zur theoretischen Philosophie gehören, jenen Vorschriften als bloßen Corollarien aus derselben (der Naturwissenschaft) unterworfen sind und also keine Stelle in einer besonderen Philosophie, die praktische genannt, verlangen können.“ (KU, AA 05: 172f.)

Erziehung wird hier nicht explizit genannt, aber ihr wäre wohl am ehesten als ‚Kunst des Umganges‘ im Bereich der technisch-praktischen Regeln ein systematischer Ort zuzuweisen. Insofern erscheint es konsistent, dass Kant in seinen authentischen Werken für die erzieherische Tätigkeit nicht den Begriff der Wissenschaft verwendet. Die Forderung, wie sie in der Rink-Schrift steht, sollte nicht ohne weiteres übernommen werden, denn sie kann den Ausführungen Kants über Wissenschaften in seinem philosophischen System sogar widersprechen. Selbst in Bezug auf die Begriffe zeigt sich ein erstaunlicher Unterschied zwischen Kants Schriften und der Rink-Schrift, denn Kant verwendet in den eindeutig von ihm verfassten Schriften an keiner Stelle den Begriff ‚Pädagogik‘. Wie Stark (2012: 155) feststellt, wird das Substantiv in der Werkeabteilung der Akademieausgabe ausschließlich im neunten Band innerhalb der Rink-Schrift verwendet. In adjektivischer Form verwendet Kant ‚pädagogisch‘ in Aufsätze, das Philanthropin betreffend (1776) sowie in Briefen von 1777, 1778 und 1798. ‚Pädagogen‘ erwähnt er einmalig in Die Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft (1793) und das ‚Pädagogio‘ wird im Briefwechsel 1791 und 1798 erwähnt. Neben ‚Erziehung‘ und ‚Bildung‘ beinhaltet sein pädagogisches Vokabular für eine intentionale, zwischenmenschliche Tätigkeit vorwiegend ‚Unterweisung‘, ‚Unterricht‘, ‚Schule‘ oder ‚Kultivierung‘. Das mag nicht verwundern, da der Pädagogik-Begriff erst während seines Jahrhunderts gebräuchlich wurde, selbst in der Rink-Schrift wird er als ‚Erziehungskunst‘ oder ‚Erziehungslehre‘ erläutert (vgl. Koch 2015b: 1728). Gerade in der Kant-Forschung ist das Thema ‚Kant und die Pädagogik‘ von der Debatte um die Authentizität dieser Schrift bestimmt. Rink gibt in seiner Vorrede als Herausgeber an, die Schrift enthalte Bemerkungen über die Pädagogik von Kant, die sich dem Umstand verdanken, dass er Vorlesungen über Pädagogik gehalten habe. Genaueres über die von Kant „hingeworfenen Bemerkungen“, die „beiläufigen Anmerkungen“ von Rink, deren Quellen oder Zusammenspiel findet sich nicht in diesem Vorwort (ebd.). Bis heute12 ist das

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Werner Stark (http://kant.bbaw.de/base.htm/studium.geo/st_v_tab.htm) und Steve Naragon (https://users.manchester.edu/Facstaff/SSNaragon/Kant/Notes/notesGeography. htm) bieten einen aktuellen und ausführlichen Überblick der kantischen Vorlesungen und deren Quellen.

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Wissen um das zugrunde liegende Originalmaterial gering, wie Steve Naragon (2006f) zusammenfasst: „And yet we are lacking even a hint of any student notes. All that exists is the book that Rink edited and published, presumably based on a collection of Kant’s own scattered notes; it is unclear whether Rink included all of this, and how he decided on an arrangement. We can deduce that Kant, in his old age, merely allowed Rink to pursue this publishing project (Rink never says that Kant asked him to do it, and Rink surely would have mentioned this had the facts permitted it). It is also unknown whether Rink had ever heard the lectures; if he had, it would have been WS 1786/87, the last semester that Kant lectured on pedagogy.“

Vermutlich übergab Kant zum Ende seiner Universitätstätigkeit Teile des schriftlichen Nachlasses an zwei jüngere Dozenten der philosophischen Fakultät: Rink und Benjamin Jäsche (vgl. Stark 2000: 94). Wahrscheinlich befand sich darunter das Material zur Pädagogikvorlesung. Da dieses nicht mehr zur Verfügung steht, bleibt der Status der Schrift umstritten. Friedrich Wilhelm Schubert (1838: XVI), der zusammen mit Karl Rosenkranz die ersten Gesammelten Schriften Kants herausgab, äußert sich wie folgt über deren Entstehung: „Professor Dr. Fr. Theod. Rink, in den letzten Lebensjahren Kant’s einer seiner jüngern Collegen, erhielt von Kant selbst die bei Gelegenheit der Vorlesungen über Pädagogik gesammelten Notizen und aufgezeichneten Bemerkungen, die nach Gewohnheit des Philosophen in einzelnen Papierschnitzeln bestanden, um aus denselben das Brauchbarste für das Publicum auszuwählen.“

Ab 1900 veröffentlichte die Königliche Preußische Akademie der Wissenschaften Bände zu einer umfassenden Ausgabe, Kant’s gesammelte Schriften, die sich in vier Teile gliederten: Werke, Briefwechsel, Handschriftlicher Nachlass und Vorlesungen. Band IX, mit dem die Werke-Abteilung 1923 abgeschlossen wurde, enthält die im Auftrag des Philosophen herausgegebenen Vorlesungen: Die Logik von Jäsche, die Physische Geographie und die Pädagogik von Rink. Ernst Aster (1926: 584) äußert sich zu dem neunten Band mit einem Verweis auf Natorps Urteil als Herausgeber kritisch über die in ihm enthaltene Schrift von Rink. Während durch die Arbeiten Erich Adickes in Bezug auf die Physische Geographie geklärt sei, „was im Text der Vorlesungskompendien auf den Philosophen selbst zurückgeht“, könne dies nicht für die Jäsche-Logik und die Rink-Pädagogik gelten: „Bezüglich der ‚Pädagogik‘ lautet Natorps Urteil dahin, daß sich schwerlich werde feststellen lassen, in welcher Weise Rink die Vorlesungsnotizen Kants, ‚die nach der Gewohnheit des Philosophen in einzelnen Papierschnitzeln bestanden‘,

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Einleitung überarbeitet und insbesondere, wie weit die Einteilung und Anordnung nur von ihm herrührt oder auf Anhaltspunkte in den Notizen selbst zurückgeht.“ (ebd.)

Dem Status der Schrift hat sich Weisskopf in Immanuel Kant und die Pädagogik (1970) angenommen und sich zudem mit der Bedeutung der Pädagogik für Kant sowohl philologisch, historisch als auch philosophisch intensiv auseinandergesetzt. Er stellt einen Textvergleich der Rink-Schrift mit Basedows Methodenbuch und Bocks Lehrbuch der Erziehungskunst an, untersucht die editorische Tätigkeit Rinks und beurteilt sie mittels eines Überblicks der Editionen seit 1803. Trotz Weisskopfs ausdauernder Nachforschungen konnte er weder eine Vorlesungsnachschrift noch eines der von Kant benutzten Handbücher finden.13 In seinen Schlussfolgerungen argumentiert er dafür, dass die Rink-Schrift nicht als authentisches Werk Kants angesehen werden könne und sie deswegen aus der Akademieausgabe zu entfernen sei (vgl. Weisskopf 1970: 349). Zudem sei eine „authentische Sammlung von Äußerungen Kants über pädagogische Fragen“ aus den Reflexionen zur Anthropologie zu erstellen und müsse durch Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766, Aufsätze, das Philanthropin betreffend, die Methodenlehren aus den drei Kritiken, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, Teile aus der Metaphysik der Sitten und der Anthropolgie ergänzt werden (ebd.). Mit seiner Arbeit über die Entwicklungsgeschichte von Kants pädagogischem Denken und Engagement verschaffte Weisskopf diesem Thema neuen Raum und Präsenz. Er belegt, dass Kant sich nicht nur gezwungener Maßen durch das angeordnete Kolleg mit pädagogischen Themen beschäftigte und sein Interesse für Erziehung nicht erst mit seiner Rousseau-Lektüre begann, sondern sich bereits in dem Plan einer Kinderphysik mit Johann Georg Hamann viel früher zeigte. Als vorwiegend pädagogisches Jahrzehnt bezeichnet Weisskopf den Zeitraum zwischen 1770 und 1780, in dem Kant sich für das Philanthropin in Dessau einsetzte. Dass in dieser Zeit die Kritik der reinen Vernunft entstand, 13

Wahrscheinlich ist das der Grund, warum der von ihm angekündigte, abschließende „vierte Teil“ nicht mehr erschienen ist (Weisskopf 1970: XVIII und 349). Professor Peter Metz, der zwischen 1986-87 Weisskopfs Assistent war, gab auf telefonische Nachfrage am 21. August 2018 an, dass Weisskopf im Laufe der Jahre die Suche nach einem Original-Manuskript aufgegeben hatte. Leider lässt sich diese Suche nicht rekonstruieren oder an eventuelle Teilergebnisse anknüpfen. Ulrich Weisskopf erteilte telefonisch am 5. September 2018 Auskunft darüber, dass es keinen schriftlichen Nachlass seines Vaters gibt, da sich damals kein Interessent für dessen umfassende Bibliothek und das, was noch in Skripten an unfertigen Arbeiten vorhanden war, gefunden hatte.

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habe den „Blick auf den Anthropologen bzw. Pädagogen Kant verdeckt und die Nachwelt vor allem den kritischen Metaphysiker sehen lassen“ (Weisskopf 1970: 350). Nach dieser Zeit sei Kants Interesse für pädagogische Probleme nicht erloschen, sondern habe in der teleologisch bestimmten Geschichtsphilosophie ein größeres Feld gefunden. Weisskopf verspricht sich von seiner Arbeit folgenden Gewinn: „Dadurch wird es möglich, in Kant nicht nur und in erster Linie den großen Vollender und Überwinder der Aufklärung zu sehen, sondern auch und vor allem heute einen Pädagogen von Rang, dem die Bildungsfähigkeit des Menschen zum Menschen unaufhörlich zu leistende Aufgabe bedeutete.“ (ebd.)

Innerhalb des Forschungsfeldes ‚Kant und die Pädagogik‘ wird Weisskopfs Arbeit zu einem wichtigen Referenzpunkt. Eine frühe Rezension von Theodor Ballauf (1971: 507) findet bereits ausdrückliches Lob: „Dieses Buch ist verblüffend, seine Ergebnisse für die Kantforschung ebenso wie für die Geschichte der Pädagogik von außerordentlicher Tragweite. […] Doch wird man in Zukunft diese ‚Schrift Kants‘ nur noch mit größter Behutsamkeit heranziehen können und den Erziehungstheoretiker Kant in seinen anderen authentischen Werken aufzusuchen haben.“

Teilweise hat sich diese Prognose über die Folgen in der Forschung bewahr­ heitet. Gerade innerhalb der Kant-Forschung wurde Weisskopfs Schluss über die Nicht-Authentizität der Pädagogik-Schrift weitgehend zugestimmt. Stark (2000: 97) lobt nicht nur die „gediegene, mit großem Fleiß geschriebene und sehr umfangreiche Arbeit“, sondern bezieht in der Einschätzung der Authentizität dieser Schrift einen ähnlichen Standpunkt wie Weisskopf. Er plädiert für eine „vollständig neue wissenschaftliche Edition“, die sich auf „moderne technische Verfahren der Textanalyse“ stützen und die „Ergebnisse der Edition der Anthropologie-Nachschriften“ miteinbeziehen soll (Stark 2000: 101). Er ist sich sicher, das Ergebnis werde zeigen, dass der Text nicht in die Abteilung I Werke der Akademieausgabe, sondern entweder in Abteilung III Handschriftlicher Nachlass oder Abteilung IV Vorlesungen gehöre (vgl. ebd.).14 14

Der Bericht Zustand und Zukunft der Akademie-Ausgabe von Immanuel Kants Gesam­ melten Schriften von Thomas Sturm (1999: 103) belegt, dass die Neu-Edition um diese Problematik weiß: „So sind die in Bd. IX, also noch im Werkteil der Ausgabe, enthaltenen drei Texte hinsichtlich ihrer Authentizität nicht den von Kant selbst veröffentlichten Schriften gleichzustellen; sie sind eher den Vorlesungen, also der Abteilung IV zuzurechnen.“ Auf der Internetseite der berlin-brandenburgischen Akademie der Wissenschaften fand sich in Bezug zu Neuedition, Revision und Abschluss der Werke Immanuel Kants allerdings während der Arbeit an der vorliegenden Untersuchung kein Hinweis auf

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Einleitung

In Reaktion auf Weisskopfs Vorwurf der Nicht-Authentizität wird dennoch oftmals weiterhin der Schwerpunkt auf eben diese Schrift gelegt. Peter Kauder (1999) legt mit Immanuel Kant über Pädagogik knapp 30 Jahre nach Weisskopf sechs Studien zu Kants Pädagogik-Schrift vor. Als Grundsatz seiner Interpretation gilt: „Es soll vielmehr der Versuch gemacht werden, den Text immanent zu deuten und sich nach aller Möglichkeit nicht der Hilfe anderer Texte Kants zu bedienen.“ (Kauder 1999: 25) Die Schrift wird von ihm als eigener Interpretationsrahmen verwendet und er verfährt durch eine schriftimmanente, kritisch-wohlwollende Prüfung für das Kantische in dieser Schrift gemäß dem Grundsatz in dubio pro reo. Häufiger allerdings als eine einseitige Konzentration auf diese Schrift sind Versuche, sie mit Kants Werk in Verbindung zu setzen. Jörg Bockow (1984) behandelt in Erziehung zur Sittlichkeit Rousseau und Kant in Hinblick auf das Verhältnis von praktischer Philosophie und Pädagogik. Dabei ist eines seiner Motive, zu zeigen, inwiefern „die Pädagogik-Vorlesung in einem inhaltlichen Zusammenhang mit der kritischen Ethik Kants steht“ (Bockow 1984: 30). Es fällt ihm schwer Kant unter die Klassiker der Pädagogik zu zählen, da außer der umstrittenen Schrift keine ausschließlich der Erziehung gewidmete Schrift vorliegt: „Das heißt alles das, was als Kantische Pädagogik bezeichnet wird, ist Rekonstruktion und Interpretation seines Werkes, seiner Philosophie unter einem pädagogischen Blickwinkel.“ (ebd.: 124) Eben das sorgt dafür, dass ‚Kant und die Pädagogik‘ ein weites Forschungsfeld und keinen klar umrissenen Forschungsgegenstand bezeichnet. Es fehlt ein Konsens sowohl über Texte von Kant, die als für die Pädagogik relevante Texte herangezogen werden sowie darüber, welche aus einer solchen Untersuchung herausgelassen werden sollten. In Hinsicht auf die fehlende systematische Ausarbeitung Kants über Erziehung besteht eine gängige Konsequenz darin, den Aussagegehalt des Pädagogischen bei Kant im Sinne einer Pädagogik zu reduzieren und dennoch dem bestehenden Forschungsinteresse an dieser Thematik nachzukommen. Statt einer Erziehungstheorie Kants geht es den Untersuchungen um ‚Kants pädagogisches Denken‘ (Schuffenhauer 1984), sein ‚pädagogisches Interesse‘ (Santos 2007), den ‚erzieherischen Gedanken‘ (Kumamoto 2010), ‚Kants Bildungsgedanken‘ (Junga 2011) oder ‚Kants kosmopolitische Erziehungsidee‘ (Koch 2013). Der Authentizitätsstreit findet dabei meist Erwähnung, wird aber nicht konsequent auf die Textauswahl angewendet (vgl. Santos 2007; Junga 2011; Schwenzfeuer 2017). Zum einen die Neu-Einordnung der Pädagogikschrift. Dies wäre jedoch ein notwendiger Schritt, um zu signalisieren, dass der Status dieser Schrift in Hinsicht auf die Authentizität nicht derselbe ist, wie der seiner Kritiken oder veröffentlichten Aufsätze.

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mag das daran liegen, dass die Schrift nach wie vor Teil der Werke-Abteilung der Akademieausgabe ist. Zum anderen hat der Einbezug dieser Schrift bei pädagogischen Fragen an Kant neben dem begrifflichen und sachlichen auch einen systematischen Grund. Denn neben einem klar umrissenen Forschungsgegenstand fehlt eine diese Untersuchung leitende Systematik. So zieht etwa Cavallar (2015: 119) mit Bezug auf die Arbeiten von Lewis White Beck (1979) und Robert Louden (2000: 33-61) den Schluss, es sei sinnvoll, die Rink-Schrift als zuverlässige Quelle zu betrachten. Oft gelten die Grundannahmen der Pädagogik-Schrift nach wie vor der breiten Diskussion um die Authentizität als Ausgangspunkt und werden entsprechend der Forschungsfrage durch thematisch passende authentische Schriften ergänzt (vgl. Aulke 2000; Junga 2011; Schott 2015). Ein Rückgriff auf Kants kritische Philosophie, vornehmlich die praktische Philosophie, ist eine weitere Option, seine Äußerungen über Erziehung zu systematisieren:15 „Systemteile wie der wesentliche Umstand, daß Kants Ethik eine Maximenethik und seine Moralpädagogik eine Pädagogik der Maximen ist, oder die wesentliche Rolle der Gefühle, mit der nicht rechnet, wer auf das rationalistische und rigoristische Gewand dieser Ethik fixiert ist, ja selbst das Zentralproblem der moralischen Motivation und die Funktion der Ideendarstellung bei der Lösung dieses Problems – all dies und manches mehr ist bisher nicht in einem systematischen Zusammenhang präsentiert worden.“ (Koch 2003: 9)

Als Kants ethische Didaktik gilt Koch (2003: 68) die gesamte kantische Moralpädagogik, die er auch als „Pädagogik der Freiheit“ bezeichnet. In der Aufgabe als „Anleitung zum freien Handeln“ sieht er eine doppelte Bedeutung, zum einen als emanzipatorische „Bestärkung der Unabhängigkeit“ und zum 15

Neben Koch wählt Santos (2007: 64) diesen Weg und zeigt, dass „die Diskussion über Moral und ihre Anwendung durch die Erziehungswissenschaft völlig legitim ist und dass bei Kant selbst eine Begründung hierfür zu finden ist.“ Oftmals führt der Weg umgekehrt von einer Betrachtung der praktischen Philosophie Kants zu Erziehung und Bildung. Kate Moran (2012) versucht in Community and Progress in Kant’s Moral Philosophy die Kritik an Kants scheinbarem Individualismus mit einer Verteidigung der Bedeutung von Gemeinschaft in seiner Moralphilosophie zu entkräften. Hierfür widmet sie sich auch der Erziehung, für die sie nach einem kurzen Blick auf Kants Biographie und seinen historischen Kontext feststellt: „Kant was both deeply involved with and interested in education“ (Moran 2012: 142). Cavallar (2015: 117-132) entdeckt durch seine Fokussierung auf die Implikationen von Kants Kosmopolitismus dessen Ansatz einer kosmopolitischen Bildung: „The key issue of Kantian moral formation is motivation. How can we educate pupils to become autonomous agents, to realise their self-legislating potential, to cultivate their maxims in a way that they become compatible with the maxims of others?“ (ebd.: 121)

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anderen eine vernunftaktivierende „Anregung zur formalen Selbstgesetzgebung für das Wollen und Handeln“ (ebd.). Munzel (2012) löst das Problem von Textmaterial und System ebenfalls mit einer betont kantischen Antwort. In Kant’s Conception of Pedagogy lautet ihr Ansatz, die vermisste kritische, transzendentale Abhandlung über Erziehung sei in Kants Methodenlehren vorhanden. Parallel zu den Artikeln der republikanischen Verfassung für ewigen Frieden extrapoliert sie aus ihnen Artikel für eine kosmopolitische Erziehung. Dieser Interpretation legt sie einen ausführlichen historischen Einführungsteil zu Grunde, der Kant nicht nur als Mitglied der Aufklärung, sondern als Erzieher der Aufklärer darstellt. Damit verbindet sie die verschiedenen pädagogischen Perspektiven auf Kant als historische Person und Träger wichtiger Theorieelemente der Moralerziehung. Indem Munzel Kants kritische Philosophie durch ihren historischen Kontext im pädagogischen Projekt der Aufklärung verortet, zeigt sie die Wurzeln seiner Philosophie als Paideia, einem umfassenden Programm zur Kultivierung des Geistes, um ihn in die Lage zu versetzen, einen Zustand der Weisheit zu erreichen. Das Interesse an Kants Erziehungsdenken im systematischen Bezug zu seiner kritischen Philosophie wächst seitens der Philosophie im 21. Jahrhundert. Santos (2007: 55) spricht noch von einer Nebenrolle des Erziehungsthemas in der Kant-Forschung. Als Ursache vermutet er eine Überlagerung durch die Dominanz des Authentizitätsstreits und will mit seiner Untersuchung des Zusammenhangs von Moralphilosophie und Erziehung dieser entgegenwirken. Dazu erforscht er Erziehung als Bindeglied zwischen der Begründung und Anwendung Kants moralischer Prinzipien sowohl in der Rink-Schrift als auch in Kants kritischer Philosophie, seiner Anthropologie und Geschichtsphilosophie. Tatsächlich stellen Erziehung und Pädagogik weiterhin häufig ein Unterthema ethischer, geschichtsphilosophischer oder anthropologischer Kant-Studien dar (vgl. Louden 2000; Höffe 2012; Täschner 2012; Moran 2012). Doch lässt sich feststellen, dass das Thema in vielen Ansätzen wie bei Koch, Santos und Munzel an Eigenständigkeit gewinnt. Erzieherische Anregungen, Antworten und Fragen Kants bilden dann das zentrale Untersuchungsanliegen, jedoch immer auch unter Einbezug der Rink-Schrift (vgl. Roth/Surprenant 2012; Riefling 2013; Goubet 2016). Eine Ausnahme bildet Fulvia Leones (2019) Versuch einer Rekonstruktion des kantischen Erziehungsdenkens ausschließlich über seine authentischen Schriften. Das wachsende philosophische Interesse an Kants Erziehungsdenken steht wohl in Zusammenhang mit dem sich ausdifferenzierenden Verständnis seiner praktischen Philosophie. Mit Konzentration auf eine umsichtige Erfassung von Kants Ethik werden die Kritikpunkte des Formalismus und

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Rigorismus an seinem moralphilosophischen System ausgeräumt und die anthropologischen Bedingungen in den Blick genommen (Wood 1999; Moran 2012; Trampota u.a. 2013). Die praktischen Perspektiven verstärken Fragen nach der Vereinbarkeit von Theorie und Praxis, der Relation von bedingter, wirklicher Welt und universalen, a priorischen Prinzipien (vgl. Munzel 1999; Louden 2000; Täschner 2012). Die vielfältige Kant-Forschung aus historischer, pädagogischer, anthropologischer, ästhetischer, politischer, kosmopolitischer und moralischer Perspektive interessiert sich für einen bisher weniger bekannten Kant. Einen Kant, der sich nach der Einschätzung von Louden (2007: 17) zwar oftmals nicht einfach mit dem bekannteren Kant vereinen lässt, den es aber dennoch zu untersuchen gilt, wenn es stimmt, dass die Fragen der Metaphysik, der Moralphilosophie und der Religion alle einen Bezug zu der grundlegenden Frage ‚Was ist der Mensch?‘ aufweisen. Louden erachtet Kants Beschäftigung mit der Frage nach der menschlichen Natur als zentral für die erfolgreiche Anwendung a priorischer Moralphilosophie: Es brauche eben auch empirische Information über die Subjekte, die eine solche Theorie anwenden sollen (vgl. ebd.: 2). Die Vorlesungen wurden dafür als Quelle entdeckt und „über Vorlesungen zu sprechen, heißt, den akademischen Lehrer zum Thema zu machen“ (Stark 2015: 1). Die anthropologischen Vorlesungen zeigen eine Konzeption der Ethik Kants, die im Gegensatz zu rationalen Wesen viel stärker auf die Menschen im Besonderen fokussiere (vgl. Louden 2003). Die Anthropologievorlesung stelle nicht nur ein den Menschen behandelndes Komplement zur Physischen Geographie dar, sondern lasse sich als praktischangewandtes Komplement von Kants Moraltheorie verstehen (vgl. Stark 2003; Louden 2003). Anna Wehofsits (2016) hat auf dieses anwendungsorientierte Projekt einer moralischen Anthropologie seitens Kant aufmerksam gemacht, das sich auf konkrete Fragen der Lebensführung konzentriert, etwa der nach moralischer Erziehung.

Die Formen der Erziehung von Kant als Lehrer der Aufklärung

Konsequenzen aus dem Forschungsstand: Einbezug der biographischen Kant-Forschung und Ausklammerung der Rink-Schrift Prinzipiell stehen zwei verschiedene Quellen zur Verfügung, die Kant als Lehrer der Aufklärung ausweisen und Aufschluss über seine Verbindungslinien zum Pädagogischen geben: Sein Leben und sein Werk. Einerseits war er selbst als Lehrer im pädagogischen Jahrhundert tätig und in die öffentliche Debatte um Aufklärung involviert, andererseits nimmt seine Philosophie seither Einfluss auf die Entwicklung der Pädagogik und die Rechtfertigung des normativen

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Einleitung

Anspruchs, der Aufklärung wie Erziehung als Formung des Menschen kennzeichnet. Um in der Untersuchung eine Einseitigkeit des Kant-Bezugs zu vermeiden und sowohl die historischen als auch systematischen Verbindungslinien zum Pädagogischen zu vergegenwärtigen, sollen nicht nur einzelne Theoreme Beachtung finden, sondern Kant als Lehrer in seiner Zeit historisch situiert und diskutiert werden. Die Forschung von Munzel (2012) zeigt die Bedeutung der Verortung Kants im historischen Kontext des pädagogischen Jahrhunderts für die Wahrnehmung seiner Doppelrolle als Philosoph und Lehrer. Die speziellen Untersuchungen über die anthropologischen Vorlesungen von Louden (2003) und Stark (2003) zeigen zudem, wie die historische Fokussierung auf Kants Unterricht eine fruchtbare Perspektive für die Frage nach der Verbindung von Moraltheorie und Praxis eröffnen kann. Um der kontinuierlich ausgewiesenen historischen und sachlichen Verbindung Kants zum Pädagogischen gerecht zu werden, empfiehlt sich eine historische Rekonstruktion seiner Unterrichtspraxis und eine systematische Rekonstruktion seiner werkimmanenten Aussagen über Erziehung. Warum dabei der Einbezug der Biographie methodisch hilfreich und sachlich angemessen ist, soll im Folgenden begründet werden. Während Erziehung als Begriff und Thema in Kants Werk nur fragmentarisch auftaucht, kann die historisch-biographische Perspektive auf den Umfang und die Bedeutung seiner Unterrichtspraxis sein erzieherisches Wirken als Lehrer verdeutlichen. Biographien sind eine wichtige Quelle, um Kant als Lehrer kennenzulernen, da sie seine Beziehungen, Gespräche und Charakterzüge darstellen. Sie eröffnen den Blick des Anderen auf seine Person und schildern die Gestaltung und Wirkung seiner Lehrtätigkeit. Biographie und Erziehung sind nicht nur in einem weiten Sinne verbunden durch ihren gemeinsamen Gegenstand, der Gestaltung des individuellen Lebens, ihrer Konzentration auf die Person. Der Versuch, den Lebenslauf eines Menschen zu beschreiben, ist strukturell an der Schnittstelle von tätiger Subjektivität und gesellschaftlicher Objektivität angesiedelt. Ähnlich wie die beiden Bilder des Erziehers als Handwerker und Gärtner auf das Führen und Wachsenlassen des Individuums hinweisen, beschreibt die Biographie das verwirklichte Leben als Zusammenspiel planender Subjektivität und der sich ihres Einflusses entziehenden äußeren Umständen. Es ist wohl kein Zufall, dass die ersten wissenschaftlichen Betrachtungen von Biographien im 18. Jahrhundert entstanden (vgl. Krüger 2006: 15). Der Bezug zur sich etablierenden Pädagogik kann dabei in einen primären und einen sekundären unterschieden werden. Primär, da Biographien oftmals mit einer pädagogisch-moralischen Intention verbunden wurden, durch die Konzentration auf das Allgemein-Menschliche der nachfolgenden Generation Muster zur Nachahmung oder Vermeidung zu geben, um aus dem Beschriebenen lernen zu können (vgl. Klein 2009: 235 f.).

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Sekundär, da Lebensbeschreibungen und Autobiographien neben direkter Beobachtung eine empirische Grundlage für Forschungen zu Theorie und Praxis von Erziehung darstellen. Kant selbst verfasste keine Autobiographie und war auch nicht gerade darauf aus, sein Leben biographisch festgehalten zu erleben. Jedoch bestritt er nicht die mögliche pädagogische Bedeutung von Biographien.16 Als ihm sein ehemaliger Schüler Borowski (Br, AA  09: 373 f.) seine „Skizze zu einer künftigen Biographie“ mit der Bitte zuschickte, „zu streichen, oder hinzuzusetzen, zu berichtigen“, reagierte Kant zwiegespalten. Borowskis öffentliche Ehrerweisung verdiene seine Dankbarkeit, doch hege er gegen „alles, was einem Pomp ähnlich sieht“ eine Abneigung (Br, AA 09: 379). Kant bat Borowski deswegen, seine unternommene Arbeit als „Sammlung von Materialien zu einer Lebensbeschreibung“ nach seinem Tode zu betrachten (ebd.). Trotz Kants Wunsch erst nach seinem Tod biographisch festgehalten in Erscheinung zu treten, wurden bereits zu seinen Lebzeiten zwei Skizzen über ihn veröffentlicht. In seinem Todesjahr folgten fünf weitere in Königsberg, darunter die von Borowski, sowie eine zweibändige, anonym publizierte Biographie in Leipzig. Drei weitere biographische Arbeiten folgten in den anschließenden Jahren, deren Autoren sich in ihren Darlegungen auf Begegnungen mit Kant, seine Schilderungen in gemeinsamen Gesprächen oder direkte Beobachtungen seiner Person stützen konnten. Karl Vorländer (1918) untersuchte in einer kritischen Studie diese elf frühesten Kant-Biographien, die sich zum Großteil als Vorarbeiten zu einer umfassenden Biographie verstanden. Die bereits damals gewünschte Gesamtbiographie sei jedoch auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht zustande gekommen (vgl. Vorländer 1918: 48). Mit Immanuel Kant Der Mann und das Werk (1924) versuchte Vorländer eine umfassende und wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie vorzulegen. Sie basiert auf dem 45-jährigen philosophischen Kant-Studium des Autors sowie einem historischen Abstand, der einen großen Fortschritt in der Forschung mit sich gebracht hat. Vorländer hatte Zugriff auf die KantBiographie von Friedrich Wilhelm Schubert aus dem Jahr 1842, den Arbeiten am Nachlass und den mittlerweile aufgefundenen, zahlreichen biographischen 16

Kant scheint der textlichen Darstellung des Lebens als Zusammenspiel des eigenen Planens und der Begrenzung dieser Pläne von nicht-kontrollierbaren äußeren Faktoren die Möglichkeit zuzuschreiben, erzieherisch wirken zu können und „denjenigen zum Muster vorgestellt zu werden, die die Jahre ihrer Erziehung und Jugend rühmlich zurückzulegen denken“ – zumindest wenn es, wie für Funk an dieser Stelle deklariert, von wahrer moralischer Qualität zeuge (GAJFF, AA 02: 44). In der Anthropologie erwähnt er Biographien als Hilfsmittel zu einem möglichen Aufschluss über die Qualität der menschlichen Natur (Anth, AA 07: 121).

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Einleitung

Einzelheiten aus Briefen, Urkunden und Lebensbeschreibungen von Kants Zeitgenossen wie Theodor Gottlieb Hippel, Johann Georg Scheffner, Christian Jakob Kraus, Johann Georg Hamann und Ludwig von Baczko. Die erste Lebenshälfte Kants zählt Vorländer (1918: 48) jedoch zu den wenig erhellten Abschnitten. Seine Ausführungen hierzu stützen sich hauptsächlich auf die drei frühen biographischen Arbeiten von Borowski, Jachmann und Wasianski. Sie gehören bis heute zu den wichtigsten Quellen für Kants Leben. Das Buch mit dem Titel Über Immanuel Kant (1804), das diese drei Beiträge kompiliert herausgab, war ein Projekt des Königsberger Verlegers Friedrich Nicolovius. Vorländer beschäftigte sich ausgiebig mit den biographischen Informationen, analysierte deren Fehler und deren Glaubwürdigkeit. Das ‚biographische Kleeblatt Borowski, Jachmann, Wasianski‘ ist seinem Urteil nach bei weitem höher einzuschätzen als etwa die zu Lebzeiten publizierten Biographien (vgl. Vorländer 1918: 12). Zwar werde keiner der drei Autoren dem Philosophen gerecht, doch ihre Schriften zählen zu den „wichtigsten und genauesten unter den alten Kantbiographien“ (Vorländer 1918: 29). Als besonders zuverlässig gilt der erste Teil von Borowskis Aufzeichnungen, da diese von Kant durchgesehen und korrigiert worden sind. Manfred Kühn (2004: 23) warnt in seiner Kant-Biographie zu Beginn des 21. Jahrhunderts17 wiederum vor dem einheitlichen Bild der drei Theologen und bezeichnet sie als „apologetisches Unternehmen“ gegenüber kursierenden, willkürlichen Meinungen. Den größten Vorwurf, den Kühn (2004: 29) diesen Autoren macht, ist allerdings deren Konzentration auf den älteren Kant: „Es gibt sehr wenig über Kant in seinen Dreißigern, Vierzigern und Fünfzigern und so gut wie nichts über den zwanzigjährigen Kant.“ Er zeichnet die Geschichte von Kants intellektuellem Leben unter Einbezug des Werks, der Briefe, seiner Lehre und seinem Umgang mit seinen Zeitgenossen. Dabei versucht er den globalen, regionalen und lokalen Kontext von Kants Leben und Werk anhand neuer Quellen zu berücksichtigen. Nach Kühn (2004: 34) sei für einen analytisch verfahrenden Philosophen die Biographie eines Denkers zwar irrelevant, da sie nichts über die Wahrheit der Position sage und den Argumenten keine Solidität 17

Im Anschluss an Vorländer ging das Bemühen seitens der philosophischen Forschung um eine angemessene Beschreibung von Kants Leben und Denken im 20. Jahrhundert mit Arsenij Gulyga (1977/1981) und Wolfgang Ritzel (1985a) weiter. Anfang des 21. Jahrhunderts erschien Gerd Irrlitz‘ Kant-Handbuch Leben und Werk (2002) und die Biographien von Manfred Kühn (2001/2004), Manfred Geier (2003) und Steffen Dietzsch (2003). Im Folgenden wird die dritte Auflage der Biographie Kühns in deutscher Übersetzung von Martin Pfeiffer (2004) herangezogen, die durch ihre sachlich fundierte und umfangreiche Darstellung von Kants Leben und der Entwicklungsgeschichte seiner Philosophie als neuer Standard angesehen wird (vgl. Mohr 2004: 1013).

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hinzufüge, doch würde gerade „der Mangel an Kontext – oder vielleicht besser, die Einführung eines anachronistischen Kontextes“, die Würdigung dessen, was ein Philosoph sagen wollte, behindern. Mit Einbezug der Biographie soll demnach nicht bezweifelt werden, dass das theoretische Werk eines Denkers philosophisch und philosophiegeschichtlich für sich spricht. Kant selbst hielt für die wissenschaftliche Suche nach Wahrheit das Motto de nobis ipsis silemus für angemessen. Das gilt es anzuerkennen und zu beachten. Aber dadurch, dass Biographien das Denken im jeweiligen historischen Kontext verorten, wird durch sie die Einführung eines anachronistischen Kontextes vermieden. Sie bieten somit die Möglichkeit, das Verständnis dessen, was ein Philosoph gesagt hat, durch die Verortung im jeweiligen Kontext zu erweitern, in Teilen vielleicht sogar zu korrigieren. Festhalten lässt sich, dass die biographische Kant-Forschung für die Darstellung von ihm als Lehrer eine relevante Quelle ist, da sie sein philosophisches Werk durch den historischen Kontext ergänzt. Wie gezeigt, wurde bereits früh der Versuch unternommen, die Biographie Kants für die Nachwelt zu sichern. Auffällig ist dabei, dass es gerade den frühen Biographen nicht bloß darum ging, mit der Schilderung von Kants Leben einer allgemeinen Neugierde nachzukommen, wie sie das Publikum generell für bekannte Persönlichkeiten empfindet. Die drei frühen Biographen Borowski, Jachmann und Wasianski waren tatsächlich Schüler von Kant und gaben dies als Rechtfertigungs- und Motivationsgrund ihrer Darstellungen an. Jachmann und Borowski ging es gerade darum, Kant als Lehrer zu schildern. Ein Lehrer sei mehr als seine Schriften und schließe den Charakter als Mensch und Freund mit ein, worin Jachmann die Motivation seiner antizipierten Leserschaft vermutete: „Sie kennen und verehren den unsterblichen Kant, als Weltweisen, als Gelehrten und Schriftsteller, aber Sie wünschen ihn auch ganz als Lehrer und Menschen kennen zu lernen, um ihn als solchen eben so zu lieben und hochzuschätzen, als Sie ihn als Weltweisen bewundern und verehren.“ (Jachmann 1804: 2f.)

Was die Biographen Kants vom frühen 19. Jahrhundert bis heute in ihrem Bemühen eint, ist die Perspektive auf das Zusammenspiel von Werk und Leben, von Philosoph und Person zu legen und darin einen Erkenntnisgewinn zu vermuten.18 Der enge Zusammenhang von Kants Leben, seiner Person und seinem Werk kommt dabei häufig zum Ausdruck und beschränkt sich nicht nur auf Biographien im engeren Sinne. In Immanuel Kant Vernunft und Leben 18

Siehe dazu die Rekonstruktion der Gründe, die Kants Biographen für eine Beschäftigung mit seinem Leben angeben in Kapitel 2 Die Formen von Kants Erziehung in Familie, Schule und Universität.

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versucht Volker Gerhardt (2007: 15) eine Gesamtdarstellung der kantischen Philosophie, in der seiner Person eine zentrale Rolle zukommt: „Die philosophische Erkenntnis hat einen personalen Kern, der unverzichtbar ist.“ In Hinsicht auf die grundliegende Verbindung von Leben und Philosophie, Leben und Vernunft kann der genuin philosophische Charakter eines Denkens nur gewahrt werden, wenn er von dem Denkenden nicht getrennt wird (vgl. Gerhardt 2007: 15). Als Ursprung und Träger von Kants Philosophie im Allgemeinen und seinem erzieherischen Denken und Wirken im Besonderen tritt seine Person hervor. Wird die Biographie in die Entwicklungsgeschichte des philosophischen Denkens miteinbezogen, zeigt sich das besondere Zusammenspiel von Person und Werk als Ereignis. Ein im weitesten Sinne pädagogisches Ereignis, wenn das Ziel der Erziehung allgemein als die Verwirklichung einer Idee verstanden wird. Deswegen beginnt auch Weisskopfs Untersuchung mit Kants Biographie: „Eine nur sachbezogene Darstellung, auch wenn sie den Rahmen weit spannt und die im Denken Kants so zwingende Dialektik von Apriorität und Empirie als belebendes Moment herbeiholt, würde an jener appellativen Kraft einbüßen, die bei keinem Denker derart vom Ganzen, vom Werk und vom Leben, ausstrahlt wie bei Kant.“ (Weisskopf 1970: 3)

Durch den Fokus auf die Existenz eines Denkers kann aus einem Nebeneinander detaillierter Einzelfragen ein Bild von einem Ganzen entstehen. Vielleicht hat sich der Einbezug der Biographie in Überblickswerken gerade durch diese heuristische Funktion zur konventionellen Methode entwickelt, einen Denker und sein Werk vorzustellen. Ernst Cassirers Überlegungen hierzu wurzeln in einem tieferen, philosophischen Gedanken. Er hat versucht, Kants Dasein als ursprüngliche Ganzheit zu denken, die sowohl Werk als auch Leben zugrunde liegt: „Wie beide Momente sich wechselseitig bedingen und ergänzen, wie sie auf denselben Ursprung zurückweisen und sich zuletzt zu einem einheitlichen Resultat zusammenschließen und wie somit die Persönlichkeit und das Werk Kants in der Tat aus einem Gusse sind, habe ich zu zeigen versucht.“ (Cassirer 1977: VII)

Die Person und Werk verbindende Dialektik von sich wechselseitig bedin­ genden und bedingten Momenten hat über die Vergegenwärtigung dieses allen Denkens und Handelns zugrunde liegenden Charakters hinaus noch eine weitere wichtige Funktion: Sie zeigt das verwirklichte Ereignis, das auf Bedingungen und Möglichkeiten des menschlichen Denkens und Handelns beruht. Karl Jaspers, dem in der Folge Kants die Freiheit als Grundbedingung

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für das friedliche Zusammenleben galt, machte auf die Menschenvergötterung als eine ihrer Gefahren aufmerksam. Durch sie werde ein einziger „zum alleingeltenden Menschen“ erhoben (Jaspers 1996: 139). Dieser könne ein Führer, Dichter, Weiser oder Heiliger sein, es bleibe gleichermaßen gefährlich, da er durch die Vergötterung unantastbar werde und ihm eine zu große Macht zukomme. Dazu könne es laut Jaspers (ebd.) kommen, wenn der Einzelne, das Faktum vergesse, dass auch jene „Menschen sind und bleiben“. Wird die Philosophie zu stark vom Menschen getrennt, läuft sie Gefahr als übermenschliche Autorität aufzutreten, die zum blinden Glauben verführt. Insofern ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass ein Denken an seinen Denker und dessen Menschlichkeit gebunden ist. Die Unterscheidung Cassirers von Lebens- und Lehrform und deren Zusammenhang ist dabei hilfreich. Die Lebensform ist an die Welt und das Denken über diese gebunden. Sie ist nicht nur der Träger der Lehrform, was sich Cassirer (1977: 2) folgend gerade in Kants Leben und Lehre zeigt: „In Kants Dasein […] ist es nicht lediglich der Gedanke, der sich in seinem objektiven Gehalt und seiner objektiven ‚Wahrheit‘ das Leben unterwirft; sondern er erhält von dem Leben, dem er seine Form gibt, zugleich dessen eigene Form zurück.“

Wie Cassirer die Individualität Kants als Grundlage seiner Person und seiner philosophischen Originalität in den Grundzügen seiner Geistesart und seines Charakters sucht, empfiehlt es sich für die Untersuchung Kants als Lehrer ebenfalls, sein Leben als Basis und Ausdruck seiner Philosophie mit in den Blick zu nehmen. So wie Leben und Werk ganz allgemein auf die Person als ihr Verbindendes hinweisen, verschränken sich Praxis und Theorie der Erziehung in der Person des Lehrers. Für die Vorstellung Kants als Lehrer der Aufklärung und die philosophische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Erziehung ist die Konzentration auf beide Momente, Leben und Werk, von Bedeutung, denn sie lassen sich in Analogie zu den für Erziehung zentralen Momenten, Praxis und Theorie, setzen: „Praxis ist grundsätzlich nicht ohne Theorie denkbar, sowie alle Theorie auf Praxis verweist.“ (Heitger 2003: 149) Das Zusammenspiel von Praxis und Theorie wurde bereits als Kennzeichen des Pädagogischen erarbeitet. Erziehung ist als Reflexionsgegenstand wesentlich durch ihren Praxisbezug gekennzeichnet und als Praxis wesentlich durch ihren Reflexionsbezug. Beide Perspektiven auf Kant als Lehrer sollen genutzt werden, um das Zusammenspiel von Theorie in der Praxis und Praxis in der Theorie zu beschreiben. Die Formen der Erziehung in seinem Leben zeigen, wie er selbst erzogen wurde und unterrichtete. Die Formen von Erziehung

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in seiner schriftlichen Lehre beschreiben, wie er Erziehung philosophisch charakterisiert und problematisiert. Der von Cassirer für die Individualität Kants eingeführte Zusammenhang von Lebens- und Lehrform kann für die Darstellung Kants als Lehrer helfen, die Ergebnisse der Untersuchung beider Quellen, Leben und Werk, zu verbinden. Der Begriff ‚Formen‘ ist für beide zu untersuchenden Quellen, dem Umgang mit Erziehung in Kants Leben und in seiner Lehre, geeignet. Er verhält sich dem historischen und werkimmanenten Material gegenüber offen und gestaltet sich mit ihm sachlich und chronologisch im Laufe der Untersuchung. Wie die Darstellung des Forschungsfelds belegt, ist es fraglich, Kant eine Erziehungstheorie im strengen Sinne zuzusprechen, da er selbst keine eigene Pädagogik systematisch vorgelegt hat. Werden sein praktisches Wirken und seine theoretischen Schriften als ‚Formen von Erziehung‘ untersucht, zeigen sich Kants Versuche, mit denen er als Lehrer auf den Vernunftgebrauch Anderer wirken wollte sowie diesbezügliche Änderungen in seinem Umgang mit und Denken über Erziehung. Neben dem unterschiedlichen Material der Untersuchung eignet sich der Formbegriff für den spezifischen Inhalt des Erziehungsgegenstandes, denn der kleinste gemeinsame Nenner der verschiedenen Bedeutungen von Erziehung, Bildung und Aufklärung ist darin zu finden, dass sie Formungsprozesse des Menschen beschreiben. Durch den Einbezug der Biographie zeigen sich die historischen Verbindungslinien zwischen Kant und der Erziehung, die chronologisch der Ausgangspunkt aller darauffolgenden Forschungen sind. Der Aufweis über sie kann deswegen zur Fundierung und Differenzierung des Forschungsfelds ‚Kant und die Pädagogik‘ beitragen. Zudem tritt in der Perspektive auf die Genese Kants Vernunftgebrauch nicht als übergeordnete Autorität auf, sondern wird eingebettet in ihrem Entstehungsprozess dargestellt. Durch die Methode Kants Formen der Erziehung in Leben und Werk als wechselseitig bestimmende und bestimmte Momente eines Ganzen aufzufassen und zu erarbeiten, erhält die dem Thema einer intendierten Formung des Menschen genuin innewohnende Dialektik von Theorie und Praxis entlang Kants Biographie eine konkrete Veranschaulichung. Der Ausgang von Kants Lehrpraxis bedeutet dabei keine Vernachlässigung seiner Theorie, sondern eröffnet eine ergänzende Perspektive für einen Gesamteindruck von Kant als Lehrer der Aufklärung und seinen Formen der Erziehung. Trotz dialektischer Verbindung kommen historisch bedingter Lebenspraxis (quaestio facti) und allgemeiner Theorie (quaestio iuris) unterschiedliche Aussagekraft zu, die es durch eine Trennung der herangezogenen Quellen zu wahren gilt. Für die historische Rekonstruktion der Unterrichtspraxis werden die Rahmenbedingungen von Kants Lehre und die mit seinen Ämtern

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verbundenen, institutionellen Aufgaben sowie die Beobachtungen und Beschreibungen seiner Studenten analysiert. Dabei ist durch die grundsätzliche Verschränkung von Theorie und Praxis auch seine Konzeption der Lehre von Bedeutung, seine artikulierten Ziele und Methoden. Diese konzeptionel­ len Überlegungen werden aus den Vorlesungsprogrammen, Briefen und Reflexionen erarbeitet. Dabei handelt es sich ebenfalls um authentische Schriften Kants, die sowohl in naher Verbindung zu seiner Unterrichtspraxis als auch zu seinen theoretischen Schriften stehen. Jedoch kommt ihnen eine andere Aussagekraft und Intention zu als seiner kritischen Philosophie und seinen philosophischen Aufsätzen.19 Für die systematische Rekonstruktion werden die Begriffe Bildung und Erziehung anschließend durch eine werkimmanente Exegese untersucht. Die von Rink herausgegebene PädagogikSchrift wird aus dem zu untersuchenden Textkorpus ausgeklammert. Über die Entstehung der Rink-Schrift wissen wir schlicht zu wenig, um sie als kantisch oder nicht-kantisch zu klassifizieren. Stark (2012: 147) bemüht sich, den Umgang mit dieser Schrift in geordnete Bahnen zu führen: „Strikt genommen haben wir keine stichhaltigen Informationen, die über den gedruckten Text des Buches hinausgehen: Eine separate handschriftliche Überlieferung existiert nicht; die äußere Verfassung der dem Druck zugrundeliegenden Handschriften ist unbekannt. Die Angaben des Herausgebers über die Umstände der Entstehung des Buches sind wenig aufschlussreich. Aus der Perspektive eines Historikers oder Biographen sind sie zudem grundsätzlich zweifelhaft und keineswegs sicher.“

So lange es kein Originalmanuskript gibt, wird sich die Authentizität über Aussagen in der Rink-Schrift nicht klären lassen. Das Forschungsinteresse an einer Kantischen Pädagogik und Kants eigenes Interesse an Erziehung legen es deswegen nahe, sich auf die von ihm selbst verfassten Schriftzeugnisse zu konzentrieren. Da bereits der Titel Immanuel Kant über Pädagogik anzeigt, dass diese Schrift eindeutig nicht von ihm verfasst ist, muss die Rink-Schrift aus dem pädagogisch-kantischen Textkorpus ausgeklammert werden. Zudem ist sich die Forschung weitgehend einig, dass ihre Systematik mangelhaft ist.20 19

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Dies betrifft insbesondere die Gründlichkeit der Argumentation. Kant selbst proklamiert einen qualitativen Unterschied für seine verschiedenen Textarten. In Bezug auf die Programmschriften, die in enger Verbindung zu seiner Lehrtätigkeit stehen, bemerkt er, „einige derselben so flüchtig hingeworfen“ zu haben, dass er keinen Neudruck möchte (Br, AA 11: 185). Erwin Rausch (1905: 143) bezeichnet die Rink-Schrift als „schlecht und wenig geordnet“; Erwin Hufnagel (1988: 43) stellt fest, sie sei „keine argumentativ bündige und systematisch geordnete Schrift Kants“, sondern eher „eine Sammlung wichtiger Aphorismen zum

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Die frühen pädagogischen Kantianer belegen zudem, dass die Rink-Schrift nicht der Grund sein kann, warum Kants Philosophie in historischer Nähe zu pädagogischen Fragen steht. Bereits in den 90er-Jahren des 18. Jahrhunderts kommt es durch den Bezug auf Kants Moralphilosophie zu einer Revision des Erziehungsziels. Wie Schmids Versuch einer Moralphilosophie als Beispiel belegt, ist das kantisch inspirierte neue Erziehungsziel der reinen Sittlichkeit genuin verbunden mit der Frage, wie man als Erzieher, also von außen, eine innere Selbsttätigkeit als die Voraussetzung reiner Sittlichkeit befördern könne. Das zeigt die sachliche Verbindung der pädagogischen Kernfrage, wie die Freiheit bei dem Zwange zu kultivieren sei, die so häufig mit Kant aufgeworfen und zu beantworten versucht wurde. Da er sie jedoch außerhalb der RinkSchrift an keiner anderen Stelle direkt formuliert, ist es umso interessanter, herauszufinden, welche Fragen er sich in dieser Hinsicht stellte und welche Lösungen er dazu anbot. Eine erste sachliche Orientierung für das, was zu den ‚Formen der Erziehung‘ von Kant als Lehrer der Aufklärung zählt, sind die bereits erwähnten Beispiele, denen er eine Wirkung auf die Aufklärung zuschreibt und der emanzipatorische sowie disziplinatorische Gebrauch der Vernunft. Eine genauere Bestimmung findet sich in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, wenn Kant in Bezug auf den Charakter der Gattung feststellt, dass der Mensch „einen Charakter hat, den er sich selbst schafft“ (Anth, AA 07: 321). Es ist ein Vermögen des Menschen „sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfektionieren“, aus sich als „mit Vernunftfähigkeit begabtes Thier (animal rationabile)“ ein „vernünftiges Thier (animal rationale)“ zu machen (ebd.). Hierbei spricht er davon, dass der Mensch „durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren“ hat (ebd.: 324). Diesen Prozess weist er als Erziehung aus und gibt das für ihn zentrale Problem dabei an: „Der Mensch muß also zum Guten erzogen werden; der aber, welcher ihn erziehen soll, ist wieder ein Mensch, der noch in der Rohigkeit der Natur liegt und nun doch dasjenige bewirken soll, was er selbst bedarf.“ (Anth, AA 07: 325)

Zum einen umfasst Erziehung für Kant den intentionalen Entwicklungsprozess des Menschen von einem vernunftbegabten zu einem seine Vernunft gebrauchenden Wesen. Zum anderen scheint es ihm in Hinsicht auf diesen pädagogischen Thema“; Thomas Mikhail (2017: 83) ordnet die Schrift als „Vorlesungsmanuskript“ ein, deren Zielgruppe angehende Hauslehrer gewesen wären, die „hilfreiche Tipps“ bekommen sollten: „entsprechend unsystematisch ist auch der Aufbau der Schrift.“

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Prozess primär weniger um die Verwissenschaftlichung oder Rechtfertigung als Disziplin zu gehen, sondern um die Frage, wer ein geeigneter Erzieher für den Menschen sein kann. Für eine sachliche Orientierung der Untersuchung von Erziehung bei Kant, wird seine eigene Vorstellung der Kultivierung menschlicher Anlagen, insbesondere der Vernunft zugrunde gelegt. Um herauszufinden, welche Formen der Erziehung Kant zu einem Lehrer der Aufklärung gemacht haben und machen, zieht die Untersuchung folgende Konsequenzen aus den Ergebnissen bisheriger Forschungsbeiträge und den damit verbundenen Problemen: 1.

2.

3.

Um eine einseitige Kant-Konnotation zu umgehen und den historischen wie systematischen Verbindungslinien Kants zum Pädagogischen nachzuspüren, werden sowohl die historisch-biographischen Quellen als auch die authentisch-philosophischen Fragmente über Bildung und Erziehung in seinem Werk rekonstruiert. Statt eine der vielen möglichen Konnotationen des Pädagogischen an Kant heranzutragen, sollen seine Unterrichtspraxis und seine philosophischen Schriften als ‚Formen der Erziehung‘ untersucht werden, um herauszufinden, welche Möglichkeiten für eine Kultivierung der Vernunft er nutzte und beschrieb. Die bisher trotz ihrer umstrittenen Authentizität annähernd in jedem Forschungsbeitrag zu dem Thema ‚Kant und Pädagogik‘ herangezogene Pädagogik-Schrift von Rink wird aus dem zu untersuchenden Textkorpus ausgeklammert.

Aufriss der Untersuchung: Drei Perspektiven auf Kants Formen von Erziehung Ziel der Arbeit ist es, Kant als Lehrer der Aufklärung vorzustellen und seinen Umgang mit Erziehung zu vergegenwärtigen. Die Konzentration auf die Verbindung von Praxis und Theorie zeigt Kant als Lehrer der Aufklärung, dessen Darstellung die Kant-Forschung ergänzt, indem sie einen historischinformierten und systematisch-authentischen Zugang zur Erziehung als Voraussetzung der Aufklärung erarbeitet. Der historisch-biographische Fokus auf Kants Unterrichtspraxis bietet ein Komplement zu größer gefassten, ideen- und entwicklungsgeschichtlichen Analysen, die die Wurzeln von Kants Bildungsdenken mit anderen Leitfiguren des 18. Jahrhunderts wie Rousseau oder Basedow vergleichen (Louden 2012 und 2020; Munzel 2012; Cavallar 2015). Der systematische Fokus bietet ein Komplement zu Ansätzen, die sich für eine Auseinandersetzung mit ‚Kant und die Pädagogik‘ an Termini und Systematik der Rink-Schrift orientieren.

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Die Untersuchung gliedert sich in drei Hauptteile, die unterschiedliche Perspektiven auf Kants Formen von Erziehung einnehmen, um den historischen und systematischen Verbindunglinien Kants zum Pädagogischen detailliert nachzuspüren. Sie beantworten eigene Fragestellungen, die der Untersuchung von Kant als Lehrer der Aufklärung jeweils bestimmte Aspekte hinzufügen. Die Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘ werden am Ende der jeweiligen Kapitel zusammengetragen und die in den Quellen gefundenen Aussagen zu pädagogischen Zielen, Methoden und Argumenten in Tabellenform disponiert und präsentiert. Abschließend werden die Formen der Erziehung, die Kant zu einem Lehrer der Aufklärung machten und machen, zusammengefasst, um davon ausgehend einen Vorschlag zu erarbeiten, welche Lehrer wir brauchen, um als Mensch und Menschheit besser zu werden. Der erste Teil beginnt mit den Formen von Erziehung, die Kant als Sohn, Schüler und Student kennengelernt hat und stellt sich dabei folgende Fragen: Warum machen die Biographen Kant als Lehrer für Philosophie überhaupt als Menschen zum Thema und schildern dazu auch seine frühen Erfahrungen als Kind und Jugendlicher? Wie beschreiben die Biographen Kants Erziehung in Familie, Schule und Universität? Was lässt sich dadurch über Erziehung lernen? Historisch wird unter Heranziehung der biographischen Quellen in die Annahmen über Erziehung in Kants Jahrhundert eingeführt und systematisch wird das historisch-konkrete Beispiel der biographisch festgehaltenen Erziehung Kants dazu genutzt, auf allgemeine Grundstrukturen und Probleme einer philosophischen Auseinandersetzung mit Erziehung aufmerksam zu machen. Der zweite Teil erarbeitet Kants Unterricht als praktizierte Form der Erziehung, wobei folgende Fragen beantwortet werden: Wie hat Kant gelehrt, wie wurde er als Lehrer wahrgenommen und wie hat er selbst über sich als Lehrer gedacht? Als Quellen für Kants Konzeption seiner Lehre werden insbesondere seine Vorlesungsankündigungen und sein Briefwechsel herangezogen.21 Für einen Eindruck über die Wirkung seines Unterrichts werden 21

Im Vordergrund der Untersuchung stehen Kants Ziele und Methoden sowie seine Wirkung als Lehrer, nicht die inhaltlich-konkrete Ausgestaltung und Änderung seines Unterrichts. Als thematischer Überblick wird das Panorama im Appendix zur Verfügung gestellt, aber die Frage, was Kant gelehrt hat, liegt nicht im Zentrum der Untersuchung. Von einer Untersuchung der insgesamt 126 verfügbaren studentischen Mitschriften wurde demnach abgesehen. Zweifelsfrei sind die im vierten Teil der Akademieausgabe enthaltenen Vorlesungsschriften eine wichtige Quelle für den von Kant vollzogenen Universitätsunterricht und sie erlauben neben inhaltlichen Aspekten einen Einblick in die Ausgestaltung seines Lehrvortrags. Allerdings ist ihre Behandlung mit herausfordernden Problemen verbunden: Datierung der Texte, Klärung der Autorschaft sowie Textzusammensetzung. Wie mit diesen Texten innerhalb der Kant-Forschung umzugehen ist, wurde im Laufe der

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die Beobachtungen und Beschreibungen von Kants Studenten ergänzt. Zeit unterschiedlich bewertet. Nach einem ersten Bemühen um die Edition kantischer Vorlesungen von Johann Jakob Wilhelm Vollmer, Friedrich Christian Starke und Karl Heinrich Ludwig Pölitz zu Beginn des 19. Jahrhunderts, setzte mit den großen Gesamtausgaben der kantischen Schriften im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts eine „Vorlesungsfeindliche Strömung“ in Bezug auf diese Quellen ein (Lehmann 1966: 962). Karl Rosenkranz, dem das Verdienst der ersten Gesamtausgabe zukommt, will zwar nicht den Wert der bereits edierten Vorlesungen leugnen, denn sie geben „ein sehr getreues Bild von Kant’s Kathedervortrag“, doch schließt er sie dennoch aus, da sie den anderen Schriften inhaltlich nichts hinzufügen würden (ebd.). Gustav Hartenstein berücksichtigt für seine Herausgabe die Vorlesungspublikationen ebenfalls nicht, da sie keinen Anspruch auf Authentie machen können. Erst Wilhelm Diltheys Plan einer vollständigen kritischen Edition Kants gesammelter Schriften Ende des 19. Jahrhunderts umfasst neben den schriftlichen Werken, dem Briefwechsel und den handschriftlichen Reflexionen auch die Vorlesungsnachschriften. Im Hintergrund seiner die Preußische Akademie der Wissenschaften überzeugenden Entscheidung dieses bisher teils unveröffentlichte Material miteinzubeziehen, steht sein eigener philosophischer Ansatz der Hermeneutik, laut der die Arbeit eines Philosophen nur im weiten Kontext seiner Karriere und seines Lebens als Ganzen von einem Interpreten angemessen verstanden werden könne (vgl. Guyer 2005: XVI). In den Vorlesungen wird seitdem die gewinnbringende Gelegenheit gesehen, die Entwicklungs-, Quellen- und Wirkungsgeschichte des kantischen Denkens und seines Systems besser verstehen zu können. Auch geben die Vorlesungen „ein anschauliches Bild von Kants Lehrtätigkeit, seinem Vortrage und der pädagogischen Seite seiner Einwirkung auf den Kreise seiner Zuhörer“ (Dilthey 1902, zitiert nach Rodi 1996: 133). Als zunächst nicht anerkannter Teil der Kant-Forschung hat sich ihre Erforschung mittlerweile etabliert (vgl. Dörflinger u.a. 2015). Während die anderen Abteilungen der von Dilthey geplanten Gesamtausgabe nach Erscheinen des ersten fertigen Bandes im Jahr 1900 mittlerweile editorisch abgeschlossen sind, steht der letzte Band der Vorlesungen über Physische Geographie noch aus. Die Dokumentation dieser Arbeit ist online auf der Seite der berlin-brandenburgischen Akademie der Wissenschaften einzusehen, mit der Warnung bis „zum Abschluss der Arbeiten […] sämtliche Angaben als ‚lebend‘ zu betrachten“. Hier finden sich zudem allgemeine Informationen zu Kants Vorlesungen, seinen ausgestellten Zeugnissen und genutzten Lehrbüchern. Die historische Analyse der Formen von Erziehung in Kants Leben stützt sich auf Ergebnisse der genannten Forschung über studentische Mitschriften, Vorlesungstexte und historische Materialien, insofern sie dazu beitragen kann, einen Eindruck von Kants Lehre zu skizzieren. Die Untersuchung nutzt zur Rekonstruktion von Kants Lehrtätigkeit primär das von Steve Naragon eigens zur Erforschung von Kants Vorlesungstätigkeit disponierte Material auf der Internetseite Kant in the Classroom, das in regelmäßigen Abständen aktualisiert wird. Durch eine ausführliche Bibliographie wird diese OnlineMaterialsammlung wissenschaftlichen Standards gerecht, da sie transparent und gründlich über die herangezogenen historischen Quellen und Forschungsarbeiten Auskunft gibt. Die Hauptquellen für die Rekonstruktion von Kants Unterricht stellen seine Briefe, Kant-Biographien und Materialsammlungen (Malter 1990; Naragon 2006; Dörflinger u.a. 2009) dar, die durch historische Quellen (Arnoldt 1746) sowie Einzelstudien (Euler 1994, 1995, 1999; Paulsen 1921; Stark 1995, 2008, 2015) ergänzt werden. Wo darüber hinaus inhaltliche Aufschlüsse erforderlich sind, werden Reflexionen, die durch die editorische Leistung von Erich Adickes im Nachlass der Akademieausgabe mit Blick auf

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Um das vielschichtige und vielfältige Material in Hinsicht auf die Rahmenbedingungen seiner Lehre, die Beobachtungen seiner Studenten und seine eigenen Reflexionen zu seinem Unterricht zu strukturieren sowie diese Ergebnisse übersichtlich präsentieren zu können, wird Kants Lehrtätigkeit während seiner Zeit an der Universität in drei chronologischen Phasen erarbeitet.22 Die erste Phase behandelt seine Zeit als Privatdozent, die zweite Phase untersucht Kants erste Dekade als ordentlicher Professor bis zum Wintersemester 1779/80 und die dritte Phase beginnt mit seiner Funktion als ständiges Mitglied des Senats ab dem Sommersemester 1780 und ist bis zum Einstellen seiner Vorlesungen durch ein reges Amtsverhalten als Dekan und Rektor gekennzeichnet. So ergeben sich drei Phasen vergleichbarer Dauer, die sich jeweils durch charakteristische akademische Funktionen Kants auszeichnen. Im Vordergrund steht die Frage nach Kants Zielen, Methoden und seiner Wirkung als praktisch tätiger Lehrer an der Albertina sowie deren Entwicklung. Wie die historische Rekonstruktion der letzten Phase von Kants Unterricht zeigt, wirkte Kant nicht nur als Lehrer an der Universität auf seine Schüler, sondern auch mit seinen Schriften als Lehrer der Lehrer. Der dritte Teil bietet eine werkimmanente Exegese des Bildung- und Erziehungsbegriffes in seinen Schriften, um die Kontexte und Probleme aufzudecken, die er mit diesen Begriffen vornehmlich adressiert und die systematischen Verbindunglinien Kants zum Pädagogischen aufzuweisen. Um seine philosophischen Schriften, insbesondere seine kritische Philosophie, als Form von Erziehung kennenzulernen und gleichsam auf die von Kant vorgeschlagenen Formen von Erziehung aufmerksam zu machen, werden folgende Fragen zu beantworten versucht: An welchen Stellen beschäftigt sich Kant mit Bildung und Erziehung des Menschen und wie schätzt er sie als Bedingung und Möglichkeit ein, aktiv dazu beizutragen, als Mensch und Menschheit besser werden zu können? Bei der Untersuchung von Kant als Lehrer der Aufklärung, seiner Unterrichtspraxis und seines Werks als Quellen der historischen und systematischen Verbindungslinien zum Pädagogischen, stellt sich die Frage, wie sich individuelle Züge Kants als Lehrer ausmachen lassen können: Inwiefern ist die Gestaltung seines Unterrichts, die Wahl seiner Ziele und Methoden sowie deren Thematisierung im Werk Ausdruck von Zeitgeist und Konvention, inwiefern Ergebnis eigener erzieherischer Reflexion und Intention? Ohne

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Stellungsindizes und handschriftlichen Merkmale sowohl sachlich als auch zeitlich disponiert wurden und eine Vorlesungsmitschrift exemplarisch ergänzt. Stark (1995: 51-53) hält eine Unterteilung in vier Phasen für ratsam, wobei sich dritte und vierte Phase zeitlich nicht exakt trennen lassen, aber von einem Nachlassen in der Art des Vortrags ab den 90er-Jahren auszugehen ist.

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diese Frage abschließend beantworten zu können, bietet der Appendix ein Panorama von Kants Kompendien und deren didaktischer Annahmen. Einerseits veranschaulicht es die Themenpalette seines philosophischen Unterrichts und andererseits ermöglicht es über die Vorstellung der Autoren und ihrer didaktischen Annahmen einen Vergleich von Kant mit anderen Lehrern der Aufklärung. So kann Kant als Lehrer unter anderen Lehrern der Aufklärung historisch verortet und gleichsam seine pädagogischen Intentionen und Reflexionen abgegrenzt werden.

Kapitel 1

Die Formen von Kants Erziehung in Familie, Schule und Universität Die erste Perspektive auf die Formen der Erziehung von Kant als Lehrer der Aufklärung richtet sich auf die Beispiele für Erziehung, die ihm als Sohn, Schüler und Student begegneten. So, wie ganz allgemein die frühen Erfahrungen den weiteren Verlauf des Lebens prägen, stellt der persönliche Erfahrungsschatz aus der eigenen Kindheit und Jugend die ersten Beispiele und Anregungen für eine Auseinandersetzung mit dem Erziehungsthema bereit. Diese Annahme basiert auf dem grundsätzlichen Zusammenhang von Praxis (Erfahrung) und Theorie (Reflexion), der gerade bei der Erziehung als philosophischer Gegenstand ins Zentrum des Denkens tritt. Vermutlich kann sie sich intuitiver Zustimmung gewiss sein, doch ist es im Umkehrschluss keineswegs üblich oder notwendig, für ein Verständnis der pädagogischen Theorie eines Denkers den Blick auf die korrelierte Praxis oder gar die sie vorbereitende, persönliche Erziehungserfahrung zu richten. Vielmehr zeigen sich Praxis und Theorie oftmals in einem schroffen Kontrast. Wie Winfried Böhm (2011: 12) bemerkt, sind gerade im Pädagogischen „die auseinanderklaffenden Gegensätze zwischen Idee und Wirklichkeit, Denken und Handeln nur allzu geläufig“. Er verweist hierfür auf prominente Beispiele wie Jean-Jacques Rousseau, der sich als Gründerfigur der modernen Pädagogik nicht um seine eigenen Kinder kümmerte oder Giovanni Don Bosco, der als Erfinder der Präventivmethode körperliche Strafen ablehnte, jedoch als Erzieher selbst zum Mittel der Ohrfeige griff. Der Versuch Theorie und Praxis in Verbindung zu setzen, kann zu argumentativen Problemen führen. Denn: Ist es überhaupt möglich, die zentralen Einflüsse auszumachen, die zu gewissen Denkstrukturen oder Persönlichkeitsmerkmalen führen? Sei es für uns selbst (wie transparent sind uns unsere eigenen Gründe?) oder in der Perspektive eines Beobachters (kann von einer Tat auf die Motivation geschlossen werden?). Und zu welcher Erkenntnis würde ein solches Wissen über die mögliche Diskrepanz oder Kongruenz zwischen Theorie und Praxis führen? Die Verhaltensweisen Rousseaus oder Don Boscos deuten vielleicht auf eine charakterliche oder persönliche Schwäche hin, doch fügt diese der Aussagekraft ihrer theoretischen Argumente weder etwas hinzu, noch vermag sie diese zu schwächen. Dennoch gibt es ein der Intuition über die Verbindung von Theorie und Praxis entsprechendes genuines Interesse an der Verbindung von Leben und

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752692_003

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Kapitel 1

Werk auch in Bezug auf Kant und so stellt sich die Frage nach dem Grund: Was fügt der Blick auf die Praxis, auf die Person und ihr Leben, der Theorie oder dem Verständnis der Theorie hinzu? Mikhail (2017: 23) macht in diesem Zusammenhang überzeugend darauf aufmerksam, dass man es hierbei mit zwei verschiedenen Fragen zu tun hat: „[E]inerseits mit der Frage nach dem Zustandekommen von Erkenntnissen, andererseits mit der Frage nach der Gültigkeit von Erkenntnissen“. Sowohl Biographen als auch Philosophen interessieren sich in Hinsicht auf die Frage nach dem Zustandekommen von Erkenntnissen für die historischen Zusammenhänge von Kants Philosophie im Allgemeinen und seines pädagogischen Denkens im Besonderen. Weisskopf (1970: 5-86) richtet im ersten Teil seiner Untersuchung die Perspektive lebensnah auf Kant als Zögling und Pädagoge, erarbeitet Kants eigene Erlebnisse und Erfahrungen auf dem Gebiete der Bildung und Erziehung und Kants Interesse und Einsatz für pädagogische Projekte in seiner Zeit. Selbst Mikhail (2017: 22ff.), der sich kritisch von der lebensphilosophischen Gewohnheit distanziert, „alles im menschlichen Leben in mittelbaren oder gar unmittelbaren Bezug zur Biographie zu setzen“, um sich stattdessen auf die von Kant selbst fokussierte „Frage nach der Berechtigung bzw. Rechtmäßigkeit (quaestio iuris)“ zu konzentrieren, bietet eine „biographische Skizze sogar über den konventionellen Rahmen hinaus“. Dass wir heute überhaupt etwas über Kants frühe Kindheit und Jugend wissen, verdankt sich insbesondere den Aufzeichnungen seiner Zeitgenossen und darunter vor allem den frühen biographischen Schriften. Die Kant-Biographen begründen jeweils auch, warum sie das Leben zum Gegenstand machen. Um die Perspektive auf Kants eigene Erziehung, seine Lehrer und deren Theorien zu rechtfertigen und der methodischen Verbindung von Theorie und Praxis ein erstes argumentatives Fundament zu geben, werden zunächst die frühen biographischen Skizzen von Borowski, Jachmann und Wasianski befragt und anschließend mit den Gründen der jüngeren Kant-Biographen verglichen: Warum machen sie Kant als Lehrer für Philosophie überhaupt als Menschen zum Thema und warum schildern sie dazu auch seine frühen Erfahrungen als Kind und Jugendlicher? Sowohl Borowski, Jachmann als auch Wasianski rechtfertigen sich in ihrer Rolle, reflektieren ihre Tätigkeit und geben an, was sie dazu qualifiziert, Kants Leben schriftlich festzuhalten. Borowski (1804: 15) begründet seine Arbeit an Kants Lebensbeschreibung bereits zu dessen Lebzeiten damit, Daten zu sammeln, um „die Grundlinien zu einer künftigen sichern Biographie“ zu ziehen. Er zeigt sich bewusst darüber, dass es erst mit dem Ende des Lebens und einem historischen Abstand möglich werde, „ein ganz treffendes Gemälde von ihm, von seiner ausdauernden Thätigkeit und was diese Thätigkeit für Folgen auf ihn selbst und auf seine Zeitgenossen brachte“, zu zeichnen (ebd.:

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13). Das Leben bleibt, so lange es dauert, in Veränderung begriffen. Sogar der Gelehrteste werde durch tieferes Forschen und das Nutzen gegebener Winke zu allerlei „Retractationen“ veranlasst (ebd.). Doch sei Borowski (1804: 19) als einer von Kants frühesten Schülern in der Lage, „von ihm richtige, zuverlässige Daten in die Hände seines künftigen Biographen“ zu bringen. Er wuchs unter seinen Augen auf, sah die erste Grundlage seiner Kenntnisse durch ihn gemacht, war durch seine Hand zuerst auf die Laufbahn seines irdischen Lebens geführt und behielt deswegen den Lehrer seiner Jugend „mit allen seinen Arbeiten und schriftstellerischen Erzeugnissen, mit alle seinem Thun und Wesen im Auge“ (ebd.). Sein Thema ist die „Geschichte des Mannes“ (ebd.: 15), keine „Geschichte seiner Philosophie“ (ebd.: 18). Dazu beginnt er mit der Kindheit und Jugend, weil von „dem Orte der Geburt, von unsern Eltern, von der Schule, die man besucht, von manchen äußern, oft ganz unbedeutend scheinenden Umständen, unter welchen man aufwuchs, von unsern frühern Lehrern und Mitschülern“ größtenteils die ganze Richtung abhänge, „die unsre Denk- und Verfahrensart unser ganzes Leben hindurch nimmt“ (Borowski 1804: 20f.). Der zweite Urbiograph Kants, Jachmann (1804: V), ist der Ansicht, damit eine Lebensbeschreibung keine „leere Erdichtungen, sondern wahre Charakterzüge und wirkliche Thatsachen enthalte“, müsse der Biograph Gelegenheit gehabt haben, den Mann kennenzulernen, Beobachtungsgeist besitzen und gewillt sein, die Wahrheit zu sprechen. Als Schüler und jahrelanger Freund habe er ihn in verschiedenen Verhältnissen seines Lebens beobachten können. Kant selbst habe Jachmann (1804: VIII) gebeten,23 dessen Biographie zu schreiben und wollte ihm dazu Material zukommen lassen, was altersbedingt leider nicht mehr geschehen sei: „Dieses unglücklichen Ereignisses wegen wird die Welt wohl immer eine vollständige Biographie dieses einzigen Mannes entbehren müssen.“ (ebd.) Er habe sich in den Ausführungen auf seine eigenen Erfahrungen beschränkt und gesteht frei, dass seine subjektive Haltung dabei die Schilderungen färbt: „Ich bin von der Größe des unsterblichen Mannes ganz durchdrungen, mir war er Alles; warum soll ich dann dem letzten Opfer, welches ich meinem großen Lehrer und Freunde mit reinem Herzen darbringe, nicht das Gepräge der tiefsten Ehrfurcht ausdrücken?“ (Jachmann 1804: X)

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Kühn weist hingegen darauf hin, dass ein Brief Jachmanns dessen Initiative zu einer Biographie belege und er sich als erster diesbezüglich an Kant gewandt hatte (vgl. Kühn 2004: 28).

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Jachmanns biographische Skizze besteht neben der Vorrede aus 18 Briefen. Er beginnt den ersten Brief mit einer Beschreibung des Empfängers und definiert damit seine Zielgruppe. Dieser kenne und verehre Kant als Weltweisen, Gelehrten und Schriftsteller, wünsche aber „ihn auch ganz als Lehrer und Menschen kennen zu lernen, um ihn als solchen eben so zu lieben und hochzuschätzen“ (Jachmann 1804: 3). Dafür führe er ihn zuerst in die frühe Jugend des Weltweisen, „von welcher leider! vielleicht allen jetzt lebenden Menschen wenig bekannt ist“ (ebd.: 4). Er fragt sich, wieviel die Psychologie gewinnen würde, wenn alle von früher Jugend an zufällig und absichtlich mitwirkenden Umstände angegeben werden könnten, die „zur Weckung und Ausbildung eines solchen Geistes“ geführt haben (ebd.). Dies hätte nur Kant selbst gekonnt, aber er habe nicht viele Gespräche über seine Jugend geführt. Die dritte biographische Skizze von Wasianski widmet sich Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren und kündigt bereits im Titel an, einen Beytrag zur Kenntniß seines Charakters zu liefern. Wasianski war ebenfalls ein Schüler Kants und begleitete ihn im Alter als dessen Betreuer und helfende Hand. Zu Beginn seiner biographischen Aufzeichnungen erklärt er, es sei seine Pflicht, die persönlichen Erfahrungen mit Kant mitzuteilen, um falsche kursierende Ansichten zu korrigieren. Während die Schriften von Kant für eine Darstellung von ihm „als Gelehrter und Selbstdenker“ eine gute Quelle seien, enthielten sie nur schwache Spuren, um sich „mit dem Charakter, mit der Denk- und Handlungsart“ zu beschäftigen (Wasianski 1804: 5f.). Dabei gebe gerade das Aufschluss darüber, ob „Verstand und Herz nicht im Widerstreit mit einander gestanden haben“, ob das Gute zwar schriftstellerisch vortrefflich dargestellt, aber dennoch schlecht gehandelt wurde (ebd.: 6). Er sei in der Lage, etwas über den Charakter Kants darzulegen, da er ihn in alltäglichen Situationen über einen größeren Zeitraum hinweg genau beobachtet habe: „Der Charakter eines Menschen kann nur durch sorgfältiges, unpartheyisches, am sichersten aber durch tägliches Beobachten seiner verschiedenen Launen und kleinsten Gewohnheiten entziffert werden. Die anscheinend geringfügigsten können bisweilen viel Licht über einen Mann verbreiten und Fingerzeige auf seine Originalität geben.“ (Wasianski 1804: 6f.)

Dem Gelehrten möge manches von Wasianskis Beobachtungen über Kants Charakter als gleichgültig erscheinen, doch seine Freunde und ein Teil des Publikums wünschen, „daß auch selbst dies unbedeutend scheinende nicht verloren gehe“ (ebd.: 12f.). Vielleicht könnte das Dargelegte „zu manchen anthropologischen und psychologischen Betrachtungen Anlaß geben“ (ebd.: 10). Um Kant „von mehr als einer Seite dargestellt“ als „Mensch in seinen Menschlichkeiten“ kennenzulernen, umfasst Wasianskis (1804: 10) Sammlung

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von Beobachtungen nicht nur seinen häuslichen Umgang im Alter, sondern auch dessen Erinnerungen an seine frühe Kindheit. Die Rechtfertigungen der frühen Biographen dafür, Kants Leben zum Thema zu machen, zielen auf die Konservierung von Daten und Beobachtungen. Durch das Festhalten seiner Lebensgeschichte, seiner Charaktereigenschaften, Erlebnisse und Gewohnheiten soll neben seinem schriftlichen Werk, der ‚Geschichte seiner Philosophie‘, ein additiver Zugang zu Kant geschaffen werden, die ‚Geschichte des Mannes‘ (Borowski). Borowski beobachtete neben ‚Arbeiten und schriftstellerischen Erzeugnissen‘ auch ‚Tun und Wesen‘, bezieht sich auf Kants Tätigkeit und die Folgen dieser ‚auf ihn selbst und auf seine Zeitgenossen‘. Jachmann verspricht ‚wahre Charakterzüge und wirkliche Tatsachen‘, um Kant nicht nur als Weltweisen, Gelehrten und Schriftsteller, sondern ‚auch ganz als Lehrer und Menschen kennenzulernen‘. Und Wasianski will eine Quelle zu Kants Schriften schaffen, um ihn nicht nur als Gelehrten und Schriftsteller darzustellen, sondern auch seinen ‚Charakter‘ sowie ‚Denk- und Handlungsart‘ als ‚Mensch in seinen Menschlichkeiten‘. Die Biographen richten ihren Blick auf Kant als Mensch, sein Wesen, sein Tun, seinen Charakter, um eine aus ihren Erfahrungen und Beobachtungen generierte praktisch-konkrete Perspektive auf den Denker Kant zu ergänzen. Dieser Ergänzung scheint es zu bedürfen, um Kant ganz als Lehrer kennenlernen zu können. Sie schreiben nicht nur, um ein generelles Interesse an der Zelebrität eines berühmten Philosophen zu bedienen, sondern um sein Werk mit dem Konservieren von Daten und Beobachtungen durch eine Quelle zu erweitern, die dem speziellen Interesse an dem Zusammenhang von ‚Verstand und Herz‘ (Wasianski), Philosophie und Leben, Denken und Handeln nachkommen kann. Da sie Gelegenheit hatten, Kant aus der Nähe über einen längeren Zeitraum zu beobachten und sich mit ihm zu unterhalten, sehen sie sich dazu prinzipiell in der Lage. Aber sie sind sich durchaus über den teils defizitären Modus ihrer Beobachtungen aufgrund der Subjektivität und Unabgeschlossenheit bewusst. Borowski beschränkt sich in seinem Vorhaben auf ‚Grundlinien‘ und eine ‚Skizze‘ zu einer künftigen Biographie. Jachmanns Ehrfurchtsgeständnis und seine stilistische Wahl von Briefen an einen Freund unterstreichen den eklektischen und privaten Charakter seiner Darstellungen, aus denen der Leser selbst urteilen soll. „Weit entfernt etwas einer Biographie von Kant ähnliches zu liefern“, beschränkt sich auch Wasianski (1804: 12) auf eine Stoffsammlung dafür. Alle drei empfinden sich als Vorarbeiter für eine noch zu schreibende Biographie. Sie teilen dabei die Annahme, dass frühe Erfahrungen die ‚Richtung‘ der ‚Verfahrens- und Denkart‘ (Borowski) und die ‚Weckung und Ausbildung eines solchen Geistes‘ (Jachmann) beeinflussen und schildern deswegen auch

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Kants Kindheit und Jugend, die sie zwar nicht selbst beobachten konnten, aber durch seine Erinnerungen kennenlernten. Die im Laufe der über 200 Jahre nach Kants Tod entstandenen Biographien scheinen die Annahme des Interesses und Potenzials zu bestätigen, welches in einer das Werk ergänzenden Lebensdarstellung bereits damals vermutet wurde. Die jüngeren Biographen Vorländer, Ritzel, Gulyga, Geier und Kühn sind ebenfalls alle Schüler von Kant. Sie haben ihn als Lehrer zwar nicht mehr persönlich erlebt, aber über seine philosophischen Schriften kennengelernt. So rechtfertigen sie sich ebenfalls für ihre Tätigkeit und begründen ihren Blick auf die Person als Ergänzung zum Werk. Ritzel (1985a: VIIff.), der als Student ausschließlich Kants Philosophie als „corpus criticum“ kennenlernte, rechtfertigte in zahlreichen Aufsätzen das Vorhaben einer biographischen Kantdarstellung. In seinem Fall habe das Bemerken von „Umkippungen“ in Kants Themen und Fragen dazu geführt, der „Genese seines Denkens“ nachzugehen und das Interesse „an der Individualität des Denkers“ entwickelt (ebd.: VII). Er erkennt einen hermeneutischen Gewinn für das Kant-Studium darin, wenn „gewisse Koinzidenzen der Lebensgeschichte des Denkers und der Genese seines Werkes“ nicht nur konstatiert, sondern begriffen werden, wenn „die Lebensgeschichte des Denkers und die Ausbildung seiner Philosophie“ nicht unvermittelt nebeneinander herlaufen (Ritzel 1985a: 1). Vorländer habe mit Der Mann und das Werk die bis dato „inhaltsreichste und belehrendste“ KantBiographie vorgelegt (ebd.: 2). Das Wort ‚und‘ im Titel müsse dabei nicht nur additiv, sondern als dialektische Konjunktion verstanden werden: „Der Biograph verknüpft die singuläre, für sich genommen gleichgültige Lebensgeschichte mit dem durch eine allgemeine Bedeutung und Wahrheit ausgezeichneten Werk so, daß in einer einzigen unverwechselbaren Gestalt das Singuläre aller belanglosen Zufälligkeit ledig, das Allgemeine aber individuell erscheint. Als Moment der einen Existenz bleibt ein jedes, was es war: auch der geschichtsmächtige Denker erlitt die teils moralisch, teils physisch, teils wirtschaftlich bedingten Beeinträchtigungen, die zum Menschenleben gehören […]. Doch zugleich muß herauskommen, warum gerade dieses Menschenleben zum Unterschied von ungezählten anderen der Vergessenheit entrissen wird: weil es zusammengehört mit dem Werk, dem monumentum aere perennius, das in einer diesen anspruchsvollen Titel rechtfertigenden Weise vergegenwärtigt wird, und zwar im Sinne jener Zusammengehörigkeit als Lebenswerk.“ (Ritzel 1985a: 2)

Die Vergegenwärtigung des Zusammenschlusses von Leben und Werk zu einer Einheit, einer „produktiven Existenz“, bedeute jedoch nicht, dass diese auf einen Begriff gebracht oder unmissverständlich formuliert werden könne: „Individuum est ineffabile.“ (ebd.: 3) Ritzel (1985a: 3) umschreibt das Streben

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des Biographen nach der produktiven Existenz des Helden als das Streben nach der „Idee, auf die sich die Erzählung aus dem Leben des Helden, die Wiedergabe des Bildes, das er selbst von sich hatte, und dessen, das andere sich von ihm machten, und die Darstellung seines Werkes beziehen – jedoch ohne Gewähr, ihrem Anspruch zu genügen“. Das Suchen nach der Idee, auf die sich Leben, Selbst- und Fremdbild sowie Werk beziehen, weiß sich durch denselben dialektischen Charakter personaler Identität gekennzeichnet wie ihr Gegenstand, die produktive Existenz. Denn: „[I]ndem der Biograph sich selbst verleugnet, um etwas zustandezubringen, das strengen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, und dessen Objektivität keinen Zweifel leidet, zeigt er unabsichtlich, was an ihm ist, und in der Biographie, die er vorlegt, wird sich das verraten.“ (Ritzel 1985a: IX)

Ritzels Rechtfertigung zeigt Individualität als Thema und Produktionsbedingung der Biographie. Dass sich ihr Gegenstand nicht auf den Begriff bringen und eindeutig formulieren lässt, spiegelt den durch sie in Gang gesetzten Lernprozess wider, der die Form eines hermeneutischen Zirkels aufweist, denn „durch jede neue Entdeckung wird der Wert der vormaligen Entdeckungen modifiziert“ (Ritzel 1985a: VIII). Der Gewinn einer Biographie lässt sich somit weniger in dem Aufweis einer eindeutigen, abgeschlossenen und artikulierbaren Erkenntnis verorten als eher in einem durch die Vergegenwärtigung des Zusammenhangs von Leben und Werk angeregten Lernprozess. Die Ansicht, dass Biographien, verstanden als Einheit von Leben und Werk, eine Gelegenheit zum Lernen darstellten, teilen neben Ritzel auch andere der jüngeren Kant-Biographen. Gulyga betont, Leben und Werk von Philosophen seien nicht zu trennen und Kant habe keine andere Biographie als die Geschichte seiner Lehre. Sie kennenzulernen sei „ein guter Anfang für das Studium der Philosophie: eine Erziehung zu selbständigen Denken“ (Gulyga 1981: 7). Wie Wasianski nutzt Gulyga die praktisch-konkrete Perspektive auf Kant dazu, Antworten auf Fragen nach dem Zusammenhang von Leben und Philosophie, Handeln und Denken zu finden. Zwar sei es leichter zu lehren, als die Lehre zu befolgen, doch stellt Gulyga (1981:192) eine Übereinstimmung von Lehre und Verhalten fest: „Der Moralist Kant und der Mensch Kant sind jedenfalls ein und dieselbe Person.“ Für Kühn (2004: 35) liegt die Aufgabe von Biographien darin, deutlich zu machen, „wie Leben und Denken eines Philosophen zusammenhängen“. Kants Leben sei „die Geschichte von Kants intellektuellem Leben, wie es sich nicht nur in seinem Werk, sondern auch in seinen Briefen, seiner Lehre und seinem Umgang mit seinen Zeitgenossen“ widerspiegelt (ebd.: 36). Dennoch schreibt Kühn seine Biographie so, dass sie

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für jemanden zugänglich ist, der sich nicht detailliert mit der philosophischen Kant-Forschung auskennt. Das Leben Kants sei als solches interessant, da es beinahe das gesamte 18. Jahrhundert umspannte. Dabei räumt er ein, dass aus Kants Leben vielleicht noch mehr zu lernen sei als aus dem anderer Persönlichkeiten, „weil Kants Charakter, wie sich zeigen wird, ganz bewußt seine eigene Schöpfung sein sollte“ (ebd.: 38). Laut Kühn sei sich Kant mit Montaigne und dessen stoischen Vorgängern darüber einig gewesen, dass es Pflicht sei, „nicht Bücher, sondern einen Charakter zu entwerfen“ (ebd.). Festhalten lässt sich, dass die Argumente der Kant-Biographen jüngerer Zeit weniger additiven als dialektischen Charakter tragen, da sie die Zusammengehörigkeit von Leben und Werk als ‚Lebenswerk‘ stärker herausstellen und die darin liegende Lernmöglichkeit konkretisieren (Ritzel). Die Urbiographen wollen ein Kennenlernen Kants als Mensch und Lehrer neben seinen Schriften ermöglichen und die Biographen jüngerer Zeit vermuten gerade in der Perspektive auf die Verbindung von Leben und Werk einen spezifischen Lern- oder Erkenntnisgewinn. Der Blick auf den Philosophen als Mensch ermöglicht ‚Koinzidenzen der Lebensgeschichte des Denkers und der Genese seines Werkes‘ zu bemerken und zu begreifen (Ritzel), stellt einen ‚Anfang für das Studium der Philosophie‘ und ‚eine Erziehung zum selbstständigen Denken‘ dar (Gulyga). Biographische Darstellungen Kants vergegenwärtigen seine Philosophie als Prozess in der konkreten Praxis, versuchen das Werden der ‚produktiven Existenz‘ nachzuvollziehen (Ritzel). Vorländer (1924: VI) will mit seiner Biographie „den großen Philosophen als Menschen und Denker […] lebendig machen“ und unterteilt sie in „Die Jugend“, „Die Werdezeit“, „Die Höhezeit“ und „Der alte Kant“. Kühns (2004) ‚Geschichte von Kants intellektuellem Leben‘ beginnt ebenfalls bei „Kindheit und frühe Jugend“ und entwickelt sich entlang der zeitlich folgenden Etappen bis zu „Der alte Kant“. Auch Manfred Geier (2003: 11ff.), der sich mit seiner Biographie vornimmt, darauf aufmerksam zu machen, dass Kants Welt viele Welten seien und unter anderem „unsere Welt, wie sie sein sollte“, beginnt damit „Wie das kleine ‚Manelchen‘ zum Weltweisen Kant wurde“. Indem Biographien den Menschen zum Thema machen, findet das Leben als Bedingung und Möglichkeit von Philosophie Berücksichtigung, wodurch die Dialektik von Werk und Leben, Theorie und Praxis, Allgemeinem und Singulärem als Lernprozess selbst eine exemplifizierte Anschauung erhält. Denn den Menschen zum Thema zu machen, bedeutet sein Sein in seiner Zeitlichkeit, als Werden, zu begreifen und als solches darzustellen. Mit dem Blick auf das Leben und seine zeitlichen Entwicklungsschritte konkretisiert sich durch die dialektische Beziehung von Leben und Werk auch die Wahrnehmung des Werks als Genese. Das Werden von Leben und Werk konstituiert

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sich durch das Werden der zugrunde liegenden produktiven Existenz. Als zentrales Kriterium der Leben und Werk zugrunde liegenden produktiven Existenz zeigt sich dabei das Lernen. Biographien machen als Beschreibung des Lebenswerks performativ auf die anthropologische Grundannahme aufmerksam, die auch für Erziehung als Praxis und Nachdenken über diese Praxis die grundlegende Basis bildet: „Die Erziehung als Tun und die Erziehungswissenschaft als Reflexion dieses Tuns gründen auf der naturbedingten Tatsache, daß der Mensch ein erziehungsbedürftiges beziehungsweise lernbedürftiges Wesen ist.“ (Giesecke 2001: 17f.)

Biographien rücken das Werden, die Genese und die Entwicklung des Men­ schen in den Fokus und ermöglichen durch das thematisierte Individuelle eine exemplarische Aussage über das allgemeine Werden des Menschen. Die Gründe der Biographen, den Lehrer Kant zum Thema zu machen und mit ihm sein Leben, seine Kindheit und Jugend, lassen sich somit zum einen in dem Kennenlernen der Person und der historischen Umstände in Ergänzung zu seinen Schriften verorten. Zum anderen in der durch das ‚lebendig machen‘ (Vorländer) und durch die Vergegenwärtigung der Genese von Kants intellektuellem Leben angeregten Sinnproduktion über die genuine, dialektische Verbindung von Praxis und Theorie. Das Lernen erscheint somit als eigentliches Thema und auch Zweck von Biographien: Ihr Gegenstand ist es, die Verbindung von Leben und Werk als ein Lernen der zugrunde liegenden produktiven Existenz nachzuzeichnen und durch das Kennenlernen dieses Lernprozesses ein Lernen anzuregen, das sich durch die Dialektik von Praxis und Theorie, Person und Schriften ergibt. Für die Untersuchung Kants als Lehrer und seines Umgangs mit dem Erziehungsthema erscheint es den Gründen der Biographen folgend in zweifacher Hinsicht als lohnend, den Blick auf die Praxis zu richten und seine erfahrenen Formen von Erziehung zu rekonstruieren. Zum einen ermöglicht es ein Kennenlernen seiner individuellen Erfahrungen in Familie, Schule und Universität sowie die Erziehungstheorien und deren Praxis zu Beginn des 18. Jahrhunderts und zum anderen regt das so gewonnene historisch-konkrete Beispiel in seinem dialektischen Zusammenhang von Praxis und Theorie dazu an, allgemeine Charakteristika und Probleme von Erziehung zu vergegenwärtigen. Ausgehend davon, dass das biographisch dargestellte Werden ein Lernen beschreibt und ein Lernen über dieses Lernen ermöglicht, kreisen die folgende historisch-biographische Rekonstruktion und die abschließende Diskussion der von Kant erfahrenen Formen von Erziehung um zwei Fragen: Wie beschreiben die Biographen Kants Erziehung als Sohn, Schüler und Student

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und was lässt sich dadurch über Erziehung lernen? Historisch deuten sich durch die Rekonstruktion von Kants Erziehung in Familie, Schule und Universität mögliche Quellen seines pädagogischen Denkens an. Systematisch soll dadurch eine erste Orientierung über die philosophische Charakterisierung und Problematisierung von Erziehung ermöglicht werden. Ziel ist keine argumentative Prüfung der vorgestellten Erziehungsformen oder faktische Wertung ihres Einflusses, sondern die über sie mögliche historische Situierung von Kant als Lehrer der Aufklärung und seines Erziehungsdenkens einerseits sowie die philosophische Reflexion der sich in ihnen zeigenden pädagogischen Grundstrukturen und Probleme andererseits. 1.1

Biographische Rekonstruktion der Erziehung Kants in Familie, Schule und Studium

Ein erster Blick auf die biographischen Eckdaten der Kindheit und Jugend Kants zeigt die noch heute vorhandenen Erziehungsinstanzen Eltern und Lehrer. Auch bildeten Familie, Schule und der daran anschließende Besuch einer Universität oder Ausbildungsstätte zu Beginn des 18. Jahrhunderts die einflussreichsten pädagogischen Erfahrungsräume. Wie die Schilderung der Aufklärung als pädagogisches Projekt verdeutlicht, trennt der historische Abstand die Gegenwart und das 18. Jahrhundert nicht in unverbundene Phänomene. Vielmehr ist die gegenwärtige Erziehungsreflexion grundlegend verflochten mit den denkerischen Leistungen aus Kants Jahrhundert. Aus diesem Grund kann die historisch-biographische Rekonstruktion von Kants Erziehung dazu dienen, Grundelemente und Strukturen kennenzulernen, die inhaltlich-allgemeine Aussagen über Erziehung als Formung betreffen. Die theoretische Diskussion, wie sie in der Renaissance unter Rückgriff auf antike Erziehungsideale geführt wurde, die neuen philosophischen Ansätze, wie sie durch John Locke und Gottfried Wilhelm Leibniz vorgestellt wurden, sowie die praktischen Versuche der Umsetzung, wie sie etwa durch Johann Amos Comenius entwickelt wurden, verdichteten sich im 18. Jahrhundert und bildeten neue Muster mit einer konsistenten Gestalt heraus: „[D]er pädagogische Begriff der Natur und das neue Bild des Kindes, die Kritik der Kultur und das Vertrauen auf die Möglichkeiten der Erziehung, die Bindung des pädagogischen Handelns an die bessere, in der Bildung des Kindes für die Gesellschaft auch erreichbare Zukunft, das Plädoyer für den Menschen – das werden seit Rousseau für die europäische Erziehungsreflexion der Moderne irreversible Errungenschaften, die bis heute in Geltung bleiben und zugleich die Ideen der Vorläufer übersteigen.“ (Tenorth 2000: 84)

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Die historische Beschäftigung mit den Erziehungsdebatten des 18. Jahrhunderts ist deswegen für die heutige Zeit fruchtbar, da die Grundstrukturen und Überlegungen einer standesunabhängigen, staatlich regulierten Erziehung hier ihre Wurzeln haben. Jedoch ist bei der Rekonstruktion von Kants Erziehung folgendes zu beachten: Zwar handelt es sich bei der Aufklärungspädagogik um eine gedankliche Vorwegnahme zentraler Strukturen, jedoch ist ein moderner Erziehungs- und Bildungsprozess noch nicht in der realen Praxis gegeben (vgl. Tenorth 2000: 116). Um dafür zu sensibilisieren, soll vor der Rekonstruktion von Kants Erziehung eine erste historische Einordnung auf die zentralen Unterschiede der Erziehungspraxis, zu der auch die enge Verbindung mit theologischen Motiven des Pietismus zählt, aufmerksam machen. Die Erziehungspraxis im 18. Jahrhundert und der Pietismus als pädagogische Theorie Während sich die modernen und fortschrittlichen Reformabsichten theo­ retisch und praktisch modellhaft an einzelnen Institutionen zeigten, änderten sich die regional und konfessionell bestimmten Lebensverhältnisse und standesspezifischen Bedingungen der Heranwachsenden nur sehr langsam. In seiner Untersuchung über die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland widmet sich Wilhelm Roessler explizit der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Für den Untersuchungszeitraum von 1775 bis 1825 sieht er zu Beginn die vormoderne Erziehung dominierend, die zum Ende nahezu ganz zurückgetreten sei (vgl. Roessler 1961: 9). Mit dem Schritt in die neu verstandene, wissenschaftlich interpretierte Welt, löste sich der bislang festgelegte Lebensweg der Heranwachsenden allmählich aus dem Selbst- und Weltverständnis des Geburtsstandes hin zu einem persönlichen Stand. Die Einstellung der Angehörigen begann sich statt an traditionellen Mustern, an einem selbst gewonnenen Kenntnis- und Erfahrungsstand zu orientieren: „Im Gegensatz zum ‚geschlossenen Weltverständnis‘ der Geburtsstände, nach dem in allen wesentlichen Bezügen die Welt unveränderlich fortdauert, durch Tradition bestimmt wird, bleibt das Weltverständnis der Angehörigen des persönlichen Standes durch Offenheit gekennzeichnet: die Weltverhältnisse gelten als wandelbar; sie sind ‚geschichtlich‘, nicht mehr durch Tradition bestimmt. Dementsprechend werden auch Herrschaft, Stand und Haus nicht mehr als unveränderlich betrachtet, und in den neu sich durchsetzenden Worten Staat, Beruf und Familie macht sich die eingetretene Wandlung der Einstellungshaltung und des Verständnisses auch im Wort- und Sprachfeld bemerkbar.“ (Roessler 1961: 28f.)

Gerade dieser Wechsel ist für die Formen der Erziehung in Kants Leben relevant. Während seine Erziehung als Sohn, Schüler und Student in eine

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eindeutig als vormodern beschriebene Zeit fällt, so verläuft sein erzieheri­ sches Wirken als Hochschullehrer parallel zu den pädagogischen Reformbemühungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die auf die Etablierung moderner Erziehung zielen. Vereinfachend lässt sich der signifikante Wandel der Lebensumstände im 18. Jahrhundert als Wandel vom ganzen Haus hin zur bürgerlichen Familie beschreiben, also von sozialen Verhältnissen, die durch das gemeinsame Wirtschaften geprägt waren, zu einer vom Erwerb stärker abgegrenzten, intimeren und emotional aufgeladenen Privatsphäre der Kernfamilie (vgl. Stollberg-Rilinger 2017: 148-153). In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in die Kants Erziehung fällt, war die Realität der Erziehungsverhältnisse und der Alltag von Kindern primär durch die Lage der Familie strukturiert. Sowohl im geographischen Sinn, da die großen Städte Mittelpunkte der Wandlung und zunächst Ausnahmen in gleichbleibenden Verhältnisse waren, als auch im sozialen, denn der Stand legte meist Zukunftsaussicht und berufliche Perspektive fest (vgl. Roessler 1961: 26). Die dem Geburtsstand gemäße Erziehung versuchte, durch den Umgang in die häusliche Lebenswelt und das traditionsbestimmte Geschäft oder Handwerk einzuführen (vgl. ebd.: 30). Bestimmende Faktoren waren neben der alltäglich im Haus anfallenden und meist harten Arbeit das kirchliche Leben und die dörfliche Gemeinschaft. Einher mit den allgemeinen Lebensumständen ging eine hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit und damit verbunden ein rascher Wechsel von Geburt und Tod, der eine intensive Gefühlsbindung zwischen Eltern und Kindern, wie sie heute gängig ist, erschwerte, wenn nicht sogar ganz verhinderte (vgl. Tenorth 2000: 100). Über diese allgemeinen Anhaltspunkte hinaus lässt sich keine typische häusliche Erziehung für diese Zeit feststellen: „Wirtschaftliche Voraussetzungen, Bedingungen des Erbrechts, die Differenz von städtischen und ländlichen Lebensweisen erzeugen eher eine große Unterschiedlichkeit der Familienformen – mit entsprechend großer Unterschiedlichkeit im Umgang von Eltern und Kindern, Gesinde, Großeltern und Heranwachsenden.“ (Tenorth 2000: 101)

Die Schulen ergeben zu Beginn des 18. Jahrhunderts ebenfalls kein homogenes Bild. Vielmehr zeigen sich Differenzen aufgrund des Kontrastes zwischen Land- und Stadtleben, der konfessionellen Prägung der Region, der standesmäßigen Regularien für Hofmeistererziehung, Ritterakademien oder Schulen für das niedere Volk und das entstehende Bürgertum (vgl. Tenorth 2000: 88f.). Da der Lehrerausbildung eine Professionalisierung noch bevorstand, gab es innerhalb der etablierten Institutionen wie Elementar- oder Lateinschule

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erhebliche Unterschiede. Gerade diesem unsteten Oszillieren zwischen gelehr­tem Unterricht und rigoros umgesetzter Kontrolle sollte die Einrichtung von Lehrerseminaren ein Ende setzen und die Qualität pädagogischer Arbeit steigern (vgl. ebd.). Am ehesten gingen die Universitäten im frühen 18. Jahrhundert darin voran, die wissenschaftliche Durchdringung der Welt durch das Verhalten der Lehrenden zu verwirklichen. Die grobe historische Einordnung von Kants Erziehung sensibilisiert somit für den Unterschied zwischen Erziehungstheorie und tatsächlicher Praxis: Während pädagogisches Handeln in theoretischen und philosophischen Denkmustern im 18. Jahrhundert an Zentralität gewann, verfügte Erziehung weder häuslich, schulisch noch akademisch über einen vergleichbaren Standard. Trotz des aufklärerischen Bemühens war die soziale und politische Ordnung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die auch die Erziehungspraxis prägte, noch sehr eng mit der religiösen verwoben. Sowohl in Kants Familie, Schule als auch der Universität zeigt sich die gesellschaftliche Bedeutung des kirchlichen Lebens und die enge Verbindung von Erziehungszielen und Mitteln mit religiösen Konzepten. Zwar konnte sich die aufklärerische Kritik innerhalb der protestantischen Kirchen insgesamt leichter entfalten als innerhalb der katholischen, aber es entwickelten sich auch neue Formen intensiver Frömmigkeit: „Religiöse Erneuerungsbewegungen wie Pietismus und Methodismus im pro­ testantischen und Jansenismus im katholischen Bereich standen sowohl in Opposition zur verweltlichten, in Routine und Zwang erstarrten Amtskirche als auch zu den Säkularisierungstendenzen der Aufklärung, prägten aber die Religiosität des 18. Jahrhunderts mindestens in ebenso hohem Maße.“ (StollbergRilinger 2017: 104)

Die Biographien weisen den Pietismus als zentrale Strömung in Bezug auf Kants Erziehung in Familie, Schule und Studium aus. Es handelt sich dabei um eine im 17. und 18. Jahrhundert auftretende, vielschichtige Reformbewegung des kontinentaleuropäischen Protestantismus und somit primär um ein religiöses Phänomen. Luthers Überzeugung folgend, Gottes Gnade sei Voraussetzung für den Glauben an Jesus Christus und dessen von der Sünde erlösende Kraft zum Leben, verstanden sich Pietisten als ‚Kinder Gottes‘, was zu einer hohen pädagogischen Produktivität dieser Strömung führte und sie als genuin pädagogisches Phänomen kennzeichnete: „Vor diesem Hintergrund einer ‚Erziehung der Erzieher‘ wurde die Erziehung der Kinder und Jugendlichen als eine der grundlegenden Lebensaufgaben angesehen, durch die der Christ – als Erzieher wie als Zögling – die Chance

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Kapitel 1 bekam, zur ‚Ehre Gottes‘ ein gutes Werk zu tun. […] Wer als Menschenkind geboren und als Gotteskind wiedergeboren wurde, blieb sein Leben lang von Erziehung abhängig.“ (Loch 2004: 265)

Für die Pädagogik ist insbesondere der von August Hermann Francke geprägte Hallische Pietismus von Bedeutung, der Frömmigkeit mit Gemeinnützigkeit verbindet (vgl. Benner/ Brüggen 2011: 101). Der Mensch ist in diesem Verständnis aufgefordert, durch sein Handeln den Willen Gottes in der Welt wirksam zu machen und ist dafür angewiesen auf ein Bekehrungserlebnis. Dieses ist kein Resultat eines reflexiven Bildungsprozesses, keine Tat des Menschen, sondern ein Wirken Gottes (vgl. ebd.: 102). Dennoch ist der Mensch zum Handeln aufgerufen. Um auf Verstand und insbesondere den Willen zu wirken, empfiehlt Francke als Mittel die Gemütspflege oder cultura animi. Durch gute Beispiele, Bibellektüre, Ermahnung, Strafe und Kontrolle soll der Heranwachsende zur Gottseligkeit und somit zum frommen Willen geführt werden. Im Sinne des Pietismus entsteht ein Zwiespalt für die erzieherische Tätigkeit: „Einerseits kann gerade die Bekehrung pädagogisch nie direkt und intentional herbeigeführt werden – sie soll und muss ja die Tat des Bekehrten sein -; andererseits findet aber in ihr das pädagogische Handeln sein Ziel und seinen höchsten Zweck, so dass die Bekehrung nicht der Beliebigkeit und dem Zufall überlassen werden darf, sondern methodisch veranlasst werden muss.“ (Benner/ Brüggen: 104)

In Kants Biographie gewinnt der Pietismus in Königsberg Gestalt durch den ehemaligen Schüler von Francke, Franz Albert Schultz, der als Freund der Familie, Prediger, Rektor des Fridericianums und Professor für Theologie an der Albertina begegnet. Die Strenge, mit der die Lehrer an Kants Schule die pietistischen Erziehungsziele Fleiß und Frömmigkeit verfolgten, und der Versuch sogar das private Seelenleben zu kontrollieren, erscheinen von einem gegenwärtigen Standpunkt befremdlich. Klemme, der sich intensiv mit der Schule Kants beschäftigt hat, beurteilt die damalige Rücksichtslosigkeit, mit der die Schüler in den Dienst einer Sache gestellt wurden, als erschreckend. Gemessen an heutigen Erziehungsvorstellungen falle auf, dass für Freizeit, Selbstbestimmung, Spiel, Erholung und Phantasie kaum Platz gewesen sei. Die von ihm herausgegebene Programmschrift Christian Schifferts als wichtige Quelle über den Schulalltag des Königsberger Collegium Fridericianum sei neben der Illustration von Kants Schulerfahrung „ein anschauliches Dokument aus einer Zeit, die die Kindheit als eigenständigen Lebensabschnitt noch nicht entdeckt, zumindest aber nicht akzeptiert hat“ (Klemme 1994: 44). Jedoch solle man den Königsberger Pietismus in pädagogischer Hinsicht bei aller sich aus

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der Retrospektive aufdrängenden Kritik nicht einfach verurteilen: „Verglichen mit anderen Schulanstalten seiner Zeit lassen sich ganz zweifellos auch Ansätze einer pädagogischen Neuorientierung vermerken.“ (Klemme 1994: 46) Beides, das Abschreckende wie das Fortschrittliche, geht aus Schifferts Bericht hervor, der für die Rekonstruktion von Kants schulischer Erziehung als historische Quelle herangezogen wird. Die theologische Begründung, methodische Strenge und Kontrolle einerseits, die Aufwertung des individuellen Innerlichen und die Konzentration auf aktives Handeln und Verbesserung menschlicher Praxis und Gemeinschaft andererseits, kann verdeutlichen, warum der Pietismus in der historischen Entwicklung der Pädagogik eine schwer einzuordnende Position einnimmt. Die späteren Negativurteile Kants sollten nicht verdecken, dass die erzieherischen Erneuerungen durch die pietistische Bewegung in Königsberg auch seine Philosophie geprägt haben und eine Wurzel seines persönlichen und denkeri­ schen Werdegangs darstellen (vgl. Szyrwińska 2017). Zwei Simplifizierungen erschweren es, die institutionalisierte pietistische Erziehung am Fridericianum als erzieherischen Einfluss anzuerkennen und als Teil der Entstehungsgeschichte der kantischen Philosophie miteinzubeziehen: Erstens, wenn der Pietismus ausschließlich in schroffen Kontrast zur Aufklärung gesetzt wird und zweitens, wenn der Königsberger Pietismus auf den Hallischen reduziert wird. Beides soll durch eine detaillierte, biographische Rekonstruktion vermieden werden. Bereits Weisskopf (1970: 10) bemühte sich um eine ausführliche Darstellung der pädagogischen Ausfaltung des Königsberger Pietismus, „weil von ihm entscheidende positive, aber auch negative Einflüsse auf Kant ausgegangen sind“. Der Vergleich zwischen Halle und Königsberg zeigt, dass es keinesfalls eindeutig ist, was unter einer pietistischen Erziehung zu verstehen sei und die Verbindung von Frömmigkeit und Gemeinnützigkeit sowie Bekehrung und aktivem Handeln verdeutlicht die Ambivalenz des Pietismus als pädagogische Theorie. Die Diskrepanz pädagogischer Praxis und Theorie zu Beginn des 18. Jahrhunderts, das Fehlen eines häuslichen, schulischen und akademischen Stan­ dards sowie die Komplexität des Pietismus als pädagogische Theorie legt als erste historische Orientierung eine genauere Untersuchung von Kants Erziehung nahe. Welche unterschiedlichen Formen von Erziehung bezeichnet die Feststellung, dass sowohl die elterliche als auch schulische Erziehung Kants „ganz pietistisch“ gewesen sei (Weisskopf 1970: 5)? Die Hauptquellen für die folgende Rekonstruktion bilden die biographische Kant-Forschung sowie historische Berichte über die pädagogischen Absichten und Methoden seiner besuchten Schule und Universität. Um den zeitlichen Abstand möglichst authentisch darzustellen, wird das Kolorit der historischen Zeugnisse

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zu erhalten versucht und die Texte werden in ihrer zeitgenössischen Orthographie belassen. Wohltuender Rückblick auf das pietistische Elternhaus als Erziehung, „die von der moralischen Seite betrachtet gar nicht besser seyn konnte“ Die ersten erzieherisch prägenden Personen im Leben eines Menschen sind dessen nächste Bezugspersonen. Für Kant waren das seine Eltern, der Riemermeister Johann Georg Kant und Anna Regina geborene Reuter. Am 22. April 1724 wurde er als viertes ihrer neun Kinder in Kneiphof geboren, das sich noch im Juni seines Geburtsjahres mit den Städten Altstadt und Löbenicht zu der Gemeinde Königsberg vereinte. Von den neun Kindern überlebten insgesamt nur fünf. Vor Kants Geburt hatten seine Eltern bereits zwei Kinder verloren. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war der Verlust von Kindern in ihren frühen Jahren keine Seltenheit. Die Notiz von Kants Mutter nach seiner Geburt in ihrem Hausbuch unterstreicht ihre elterliche Sorge und zugleich ihren Glauben: „Gott erhalte ihn in seinem Gnaden Bunde bis an sein seliges Ende um J: C: Willen. Amen.“ (zitiert nach Vorländer 1924: 22) Kant wuchs mit einer älteren und zwei jüngeren Schwestern sowie einem jüngeren Bruder auf. Biographen stimmen darin überein, sein Elternhaus als pietistisch zu bezeichnen und der Mutter eine starke erzieherische Wirkung auf Kant zuzuschreiben, bis er sie 1737 im Alter von 13 Jahren verliert. Die wenigen Erinnerungen aus seiner Kindheit erreichen uns nicht aus seiner Feder, sondern vermittelt über Berichte seiner Zeitgenossen. Zunächst soll dargestellt werden, was das frühe biographische Kleeblatt Borowski, Jachmann und Wasianski über Kants Erinnerungen an seine Kindheit und die Erziehung im Elternhaus berichtet, bevor es mit Kühns Ausführungen ergänzt wird. Borowski schildert Kants Vater als rechtschaffenen Bürger des Ortes, der sich bemühte, sofern er als Handwerker die Mittel dafür aufbringen konnte, den Verstand seines Sohnes ausbilden zu lassen. „Seine Mutter“, so schreibt er, „hatte einen mehr ausgezeichneten Charakter“ (Borowski 1804: 21). Selber sei sie „zum Aufschwunge zu warmen Gefühlen im Christenthum“ geneigt gewesen, sei eine „herzliche Anhängerin“ von Schultz gewesen und habe auch ihre Kinder zu den förmlichen Betstunden des Pietismus angehalten (ebd.: 22). „Der Vater forderte Arbeit und Ehrlichkeit, besonders Vermeidung jeder Lüge; – die Mutter auch noch Heiligkeit dazu.“ (ebd.: 23) Kant habe seine Eltern Borowski gegenüber oft gelobt: „Er gesteht selbst, daß vielleicht nur wenigen Kindern, besonders in diesem unserm Zeitalter der Rückblick auf ihre Eltern in der Folge, so wohltuend seyn dürfte, als er ihm immer war und noch ist.“ (Borowski 1804: 24)

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Auf den Tod seiner Mutter und später seines Vaters geht Borowski nicht eigens ein. Nach ihm habe Kant die elterliche Aufsicht lange genug genossen, um über deren Denkart urteilen zu können (vgl. ebd.). Bei Jachmann handeln die Briefe Eine Skizze von Kants Jugend und Kant im Verhältnis gegen seine Blutsverwandten von Kants Kindheitserfahrungen, seiner Beziehung zu Mutter und Vater. Er beschreibt die häusliche Erziehung Kants ebenfalls als pietistisch: „Kant pflegte dies öfters von sich anzuführen und diese pietistische Erziehung als eine Schutzwehr für Herz und Sitten gegen lasterhafte Eindrücke aus seiner eigenen Erfahrung zu rühmen.“ (Jachmann 1804: 6) Es folgen Anekdoten, die Kant ihm aus seiner Schulzeit erzählt habe. Jachmanns (1804: 9) Fazit über Kants Erziehung lautet: „Kant gehörte zu den Menschen, die keiner Erziehung fähig, aber auch keiner bedürftig sind. Er ward Alles durch sich selbst.“ Im neunten Brief schildert er jedoch die erzieherische Wirkung der Mutter näher, was die überschwängliche Aussage, Kant sei alles durch sich selbst geworden, relativiert: „‚Meine Mutter‘, so äußerte sich oft Kant gegen mich, ‚war eine liebreiche, gefühlvolle, fromme und rechtschaffene Frau und eine zärtliche Mutter, welche ihre Kinder durch fromme Lehren und durch ein tugendhaftes Beispiel zur Gottesfurcht leitete. Sie führte mich oft außerhalb der Stadt, machte mich auf die Werke Gottes aufmerksam, ließ sich mit einem frommen Entzücken über seine Allmacht, Weisheit und Güte aus und drückte in mein Herz eine tiefe Ehrfurcht gegen den Schöpfer aller Dinge. Ich werde meine Mutter nie vergessen; denn sie pflanzte und nährte den ersten Keim des Guten in mir, sie öfnete mein Herz den Eindrücken der Natur; sie weckte und erweiterte meine Begriffe, und ihre Lehren haben einen immerwährenden heilsamen Einfluß auf mein Leben gehabt.‘“ (Jachmann 1804: 99f.)

Mit dieser Erinnerung an die Worte Kants erhält die Erziehung, die er von seiner Mutter erfuhr, ein Bild, das Borowskis Hinweis auf die Bedeutung der Mutter konkretisiert. Laut Wasianski (1804: 89) seien Kants Eltern nicht reich gewesen, aber auch nicht so arm, dass sie Mangel oder Not leiden mussten: „Sie verdienten so viel, als sie für ihr Hauswesen und die Erziehung ihrer Kinder nöthig hatten“. Es finden sich Hinweise auf Kants Erziehung durch die Mutter, deren natürlichen Verstand, edles Herz und echte Religiosität er lobend erwähnt habe. Kant sei ihr dankbar gewesen für „die erste Bildung seines Charakters“ und teilweise für „die ersten Grundlagen zu dem, was er später wurde“ (Wasianski 1804: 90). Sie habe ziemlich orthographisch schreiben können, was für ihre Zeit und ihren Stand selten gewesen sei. Das Bemerken der Talente ihres Sohnes veranlasste sie, „auf seine Erziehung alle nur mögliche Sorgfalt zu verwenden“ (Wasianski 1804: 91). Wasianski (ebd.) liefert einige Details, was das konkret bedeutet:

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Sie sei eine „rechtliche Frau“ gewesen, Kants Vater ein „redlicher Mann“ und beide „Freunde der Wahrheit“. Sie haben nie gelogen, keine Missverständnisse störten die häusliche Eintracht, keine gegenseitigen Vorwürfe schwächten in Gegenwart der Kinder die Achtung gegenüber ihren Eltern. Das „gute Beyspiel“ habe sehr vorteilhaft auf Kants Charakter gewirkt (ebd.). „Keine Fehler der Erziehung erschwerten ihm daher das Geschäfte späterer Selbstbildung“ (ebd.: 92). In ihrer Erziehung verband die Mutter das Angenehme mit dem Nützlichen, ging mit ihrem „Manelchen“24 oft ins Freie, machte ihn auf manche Erscheinung der Natur aufmerksam, „lehrte ihm manche nützliche Kräuter kennen, sagte ihm sogar vom Bau des Himmels so viel, als sie selbst wußte, und bewunderte seinen Scharfsinn und seine Fassungskraft.“ (ebd.) Kühn gibt in seiner Biographie mehr Details über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation von Kants Familie. Mit dem Beruf des Vaters als Riemermeister kam ihr vor dem Hintergrund des Zunftwesens eine gewisse gesellschaftliche Stellung zu, die Achtung gebot (vgl. Kühn 2004: 45). Zwar machte das Riemerhandwerk kaum reich, aber im Vergleich zu den Wohnstandards der Zeit war das Haus der Familie komfortabel. In Kants ersten fünf Lebensjahren ging es der Familie gut, bis der Großvater 1729 starb und der Vater als Alleinernährer der Familie die Großmutter mitversorgen musste. Als Kant etwa neun Jahre alt war, zog die gesamte Familie in das kleinere Haus der Großmutter, wahrscheinlich um sie besser versorgen zu können. Der neue Standort und eine Krise des Zunftsystems ließen das Einkommen von Kants Vater zurückgehen. Die Riemer gerieten mit den Sattlern in ein starkes Konkurrenzverhältnis, da sie um dieselben Kunden konkurrierten. Um den Umgang von Kants Eltern mit diesen äußeren Schwierigkeiten zu skizzieren, zitiert Kühn eine Anekdote aus Ansichten aus Immanuel Kant’s Leben von dessen Schüler Friedrich Theodor Rink (1805: 14f.): „Noch entsinne ich es mich, […] wie über ihre gegenseitigen Gerechtsame zwischen dem Riemer- und Sattlergewerke Streitigkeiten ausbrachen, unter denen auch mein Vater ziemlich wesentlich litte; aber des ungeachtet wurde selbst bei der häuslichen Unterhaltung dieser Zwist mit solcher Schonung und Liebe in Betreff der Gegner, von meinen Eltern behandelt, und mit einem solchen festen Vertrauen auf die Vorsehung, daß der Gedanke daran, obwohl ich damals ein Knabe war, mich dennoch nie verlassen wird.“

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Eine Abwandlung von Emanuel, Kants Taufname, den der altpreußische Kalender mit seinem Geburtstag verband. Er bedeutet Gott ist mit ihm. Kant änderte ihn später in Immanuel, da er diese Form für eine genauere Wiedergabe des hebräischen Originals hielt (vgl. Kühn 2004: 43).

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Obwohl Familie und Betrieb eng verflochten waren, habe Kants Vater diesen Problemen nicht gestattet, „sein Familienleben zu vergiften“ (Kühn 2004: 47). Kants elterliche Erziehung beinhaltete, äußere Streitigkeiten von der Familie fernzuhalten. Ihre Religiosität bestärkte sie wohl in der Bestimmung und Umsetzung ihrer leitenden Werte. Der bereits genannte Schultz spielte im Königsberger Pietismus eine zentrale Rolle. Kants Mutter war eine Befürworterin von ihm und nahm ihre Kinder zu seinen Bibelstunden mit. Die Kommentare aus den älteren Biographien belegen, dass Kant seine Eltern, die den Pietismus praktizierten, geachtet habe. Hinweise darauf finden sich zudem aus kantischer Feder. In einem Brief an seinen Bruder 1792 beschreibt Kant, inwiefern er finanziell seine Familie unterstützt und sie für seinen Sterbefall versorgt wissen will. Als Grund nennt er, „die Pflicht der Dankbarkeit, wegen der uns von unseren gemeinschaftlichen Eltern gewordenen Erziehung“ (Br, AA 10: 320). In einer Anmerkung zu einem Brief an Jacob Lindblom 1797, der von Kants Abstammung handelt, erwähnt er seine Eltern, die beide „in Rechtschaffenheit, sittlicher Anständigkeit und Ordnung musterhaft, ohne ein Vermögen (aber doch auch keine Schulden) zu hinterlassen, mir eine Erziehung gegeben haben, die von der moralischen Seite betrachtet gar nicht besser seyn konnte und für welche ich bei jedesmaliger Erinnerung an dieselbe mich mit dem dankbarsten Gefühle gerührt finde“ (Anmerkung zu Br, AA 12, 205ff.). Es wäre einseitig, diesen moralischen Effekt der elterlichen Erziehung auf pietistische Praktiken zu reduzieren, wie es geschehen kann, wenn Kants elterliche Erziehung lediglich als pietistisch geschildert wird. Kühn (2004: 58) kommt zu dem Schluss: „Kant schätzte sie wegen ihrer Handlungen, nicht wegen ihrer theologischen Theorien.“ Die Friedrichsschule und ihr institutionalisierter Pietismus als „Schema von Frömmigkeit oder eigentlich Frömmelei“ Die Schule stellt eine prägende pädagogische Erfahrung dar, denn sie bedeutet den Eintritt des Kindes in das öffentliche Leben. Kants erste institutionalisierte Form von Erziehung und Lehre ereignete sich in der sogenannten Hospitalschule in der Vorstadt (vgl. Jachmann 1804: 6). Dort gab es einen Lehrer, Ludwig Boehm, der zugleich Kantor und Organist war. Bei ihm lernte Kant zusammen mit den anderen Kindern aus seiner Nachbarschaft die Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens (vgl. Kühn 2004: 64). Im Sommer 1732 wechselte er als Achtjähriger auf das Collegium Fridericianum. Jachmann, Borowski und Wasianski zeichnen den Theologen Schultz für diesen Schulwechsel verantwortlich.25 Es lässt sich zumindest festhalten, dass Schultz in 25

Klemme (1994) zeigt sich in diesem Punkt skeptisch, da Borowski fälschlicherweise annahm, Schultz sei bei Kants Schulaufnahme bereits Direktor des Collegium

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Kants schulischer Entwicklung und später an der Universität eine wichtige pädagogische Rolle zukommt. Laut Wasianski habe Kant es bedauert, Schultz kein Ehrendenkmal in seinen Schriften gesetzt zu haben. Er habe seine Hilfe und Unterstützung in dankbarer Erinnerung, „lobte seinen edlen Charakter“ und „verdankte ihm die Empfehlung an seine Eltern: auf die Talente ihres Sohnes aufmerksam zu seyn, und ihre Ausbildung zu befördern“ (Wasianski 1804: 89). Borowski (1804: 150) hebt Kants Dankbarkeit für Schultz’ Verdienste hervor: „Den hiesigen Theologen D. Schulz ehrete er lebenslang auf eine ausgezeichnete Art.“ Er betont zudem seine Bedeutung „in der Umformung und Verbesserung des preußischen Kirchen- und Schulwesens“ (Borowski 1804: 151). Kant habe es gewünscht, „daß er doch selbst diesem edlen, großen Manne noch ein ehrenvolles Denkmal errichten könnte, oder daß ihm dieses von Andern, und seiner würdig errichtet würde“ (ebd.: 152). Neben Schultz wird Kants Lateinlehrer Heydenreich aus der Zeit am Fridericianum in positiver Erinnerung von Borowski erwähnt: „Unter der Anführung eines vorzüglichen Lehrers, des guten Heydenreich, dessen Kenntnisse und Unterricht alle seine Schüler dankvoll ehreten, ward K. besonders auf der ersten Klasse dieser Friedrichsschule zu dem Studium der römischen Klassiker so initiirt, daß Liebe für diese ihm immer eingedrückt blieb.“ (Borowski 1804: 25)

Heydenreichs Andenken sei ihm „immer sehr heilig“ gewesen (ebd.: 152). Inspiriert durch dessen Unterricht, begeisterte sich Kant mit seinen Mitschülern und Freunden Johannes Cunde und David Ruhnken so sehr für die Lektüre der klassischen Autoren, dass sich „dieses emporstrebende SchülerTriumvirat“ in Aussicht auf eine literarische Karriere „Cundeus, Rhunkenius und Kantius“ nannte (ebd.: 27). Zu den positiven Einflüssen seiner Schulzeit zählen Kants erworbene Sprachkenntnisse und das Auslösen seiner Begeisterung für lateinische Schriftsteller. Hier fand seine erste Auseinandersetzung mit Cicero, Curtius, Nepos sowie mit Auszügen aus Sextus Empiricus, Livius und Horaz statt. Die anderen Lehrer entbehrten jedoch wohl des Talents von Heydenreich. Über den Unterricht der mathematischen und logischen Klasse, die 1734 zur philosophischen Klasse wurde und die Kant zwei Jahre

Fridericianum gewesen, obwohl er die Stelle erst im Sommer 1733 antrat. Kühn hält es dennoch für sehr wahrscheinlich, da Schultz schon zuvor über gute Beziehungen verfügte und der kirchliche Vorgesetzte von Kants Lehrer Boehm war.

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besuchte, berichtet Borowski (1804: 161f.) folgendes Gespräch von Kant und Cunde: „‚Diese Herren‘, sagte er einmal zu seinem ehemaligen Mitschüler Cunde, ‚konnten wohl keinen Funken, der uns zum Studium der Philosophie oder Mathese lag, zur Flamme bringen!‘ – Ausblasen, ersticken konnten sie ihn wohl – antwortete der sehr ernsthafte Cunde.“

Wiewohl die so wichtige Neugier für das Philosophieren von seinen Lehrern nicht geweckt wurde, so erhielt er durch die für den Königsberger Pietismus spezifische Ausrichtung auf die Wolffsche Philosophie zumindest eine Alternative zum tradierten Aristotelismus (vgl. Klemme 1994: 48). Die Inhalte, die ihm auf seiner Schule begegneten, formten die Basis seines weiteren akademischen Werdegangs und prägten damit auch sein Denken. Ein Beispiel dafür ist die „dreyfache Betrachtung der Erdkugel“ in mathematischer, physischer und politischer Hinsicht in seinem geographischen Lehrbuch, die sich ähnlich formuliert 1757 im Entwurf von Kants „Colllegii der physischen Geographie“ wiederfindet (Klemme 1994: 51f.). Kritik an der schulischen Erziehungspraxis findet sich bei Jachmann (1804: 8), der sich mit Kant über die Mittel, „wodurch ein Lehrer sich bei seinen Schülern in Ansehen setzen könne“, unterhalten habe. Seine Lehrer haben alle versucht, „durch Strenge Ruhe und Ordnung in den Klassen zu erhalten“, die sie „bei der schlechten Schuldisciplin doch nicht erhielten“ (ebd.). Doch unter ihnen sei einer „mit einem gebrechlichen und possierlich gestalteten Körper gewesen“, dem er und andere „Aufmerksamkeit, Folgsamkeit und Achtung bewiesen hätten, weil sie in seinen Lectionen viel hätten lernen können“ (ebd.). Für Jachmann zeugt diese Anekdote von Kants frühem Eifer für die Wissenschaften. Sie liest sich zudem als Wunsch nach einem inhaltlich interessant gestalteten Unterricht. Kant habe laut Borowski (1804: 25) dem „Schema von Frömmigkeit oder eigentlich Frömmelei, zu dem sich manche seiner Mitschüler und, bisweilen nur aus sehr niedrigen Absichten bequemten“, nichts weiter abgewinnen können. Sein Mitschüler Ruhnken wählt in einem Brief an Kant 1771 für deren gemeinsame Schulzeit eine bezeichnende Formulierung: „Dreißig Jahre sind vorbei, seit wir beide unter jener zwar pedantisch finsteren, aber doch nützlichen und nicht verwerflichen Zucht der Fanatiker seufzten. Man hegte damals von Deinen Geistesanlagen allgemein die rühmliche Meinung, Du könntest, wenn Du, ohne in Deinem Eifer nachzulassen, weiter strebtest, die höchsten Höhen der Wissenschaft erreichen.“ (zitiert nach Vorländer 1924: 43)

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Im Vergleich zu Kants insgesamt positiven Kommentaren über seine elterliche Erziehung fällt auf, wie wenig Gutes er wohl über seine Schulzeit berichtete. Hippel (1801/1977: 78) erinnert sich an ein drastisches Urteil Kants über seine schulische Erziehung: „H.  Kant, der diese Drangsale der Jugend auch in vollem Maaße empfunden hatte, obwohl er im Hause seiner Eltern blieb und nur eine öffentliche Schule, die damals sogenannte Pietisten-Herberge, das Collegium Fridericianum besuchte, pflegte zu sagen, daß ihn Schrecken und Bangigkeit überfiele, wenn er an jene Jugendsklaverey zurückdächte.“

Veranlasst durch diese und weitere Negativurteile Kants über den Zwang in Jugendjahren und seiner späteren Kritik am Pietismus, zeichnet Kühn ein insgesamt düsteres Bild über Kants Schulerfahrung. Für ihn steht fest, die Disziplin am Fridericianum habe für Kant „eine besonders harte Form von Sklaverei“ dargestellt (Kühn 2004: 63). Kühn (2004: 72) schließt: „Wenn der Pietismus überhaupt einen Einfluß auf Kant ausübte, dann war dieser negativ.“ Die Nachricht von den jetzigen Anstalten des Collegii Fridericiani (1741) von dem Schulinspektor Christian Schiffert vermittelt, wie streng reglementiert Kants Schulalltag gewesen sein muss. Kant gehörte zu der kleineren Gruppe der Schüler, die zu Hause und nicht im Collegium wohnten. Für ihn begann Montag bis Samstag der Unterricht um sieben Uhr morgens und dauerte bis vier Uhr, lediglich unterbrochen von einer zweistündigen Mittagspause. Jede Stunde fing mit einem Glockenschlag an. Zudem wurde jede Unterrichtsstunde vom Lehrer „mit einem erwecklichen und kurzen Gebet“ eröffnet und beschlossen (Klemme 1994: 69). Die Fächer wechselten meist stündlich, um durch den Lehrer-, Raum- und Fachwechsel die Aufmerksamkeit der Schüler zu fördern. Die Kinder sollten dabei nie unbeaufsichtigt bleiben. Der Lehrer erinnerte an den Hauptzweck, die Hinführung zu und Verherrlichung von Gott und wiederholte in der Unterweisung alles durch Fragen und Antworten. Jeden Tag standen Theologie und Latein auf dem Programm. Daneben besuchte Kant in seinen achteinhalb Jahren auf dem Fridericianum die arithmetische, kalligraphische, griechische, hebräische, poetische, geographische, französische, historische, philosophische und mathematische Klasse sowie die Altertümerklasse und den Gesangsunterricht (vgl. Klemme 1994: 41f.). Während dieser Zeit hatte er auch an den Sonntagen nicht frei, sondern musste in die Kirche und den Religionsunterricht. Schiffert bezeichnet die Wiederholungen als „Seele des Studirens“ (Klemme 1994: 90). Zu jedem Stundenbeginn wurde die vorherige wiederholt und zudem der gesamte Lehrstoff jedes viertel Jahr und jedes halbe Jahr vor den öffentlichen Prüfungen.

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Neben Informationen zur Erziehungspraxis finden sich erziehungstheo­ retische Ansätze in Schifferts Bericht, die das Ziel und die Methode reflektieren. Laut Schiffert hänge von der Erziehung sowohl das eigene „ewige und zeitliche Wohlseyn“ der Jugend als auch „die Glückseligkeit des gemeinen Wesens und des ganzen Landes“ ab (Klemme 1994: 95). Um dieses zu erreichen, brauche es sowohl Gelehrsamkeit als auch Gottesfurcht: „[S]o muß der Fleiß in Künsten und Wissenschaften mit der Gottseligkeit aufs sorgfältigste verbunden werden“ (ebd.). Um zu Fleiß und Frömmigkeit zu führen, werden auch die Lehrer „auf alle Weise ermuntert und ermahnet“, auf Gott zu sehen (Klemme 1994: 96). Neben dem komplett strukturierten und stets bewachten Schulalltag setzte das Fridericianum auf öffentliche Predigten am Sonntag sowie private Inspektionen des Seelenzustandes der Schüler: „[S]o muß ein jeder Schüler, der zum H.  Abendmahl gehet, von dem Zustand seiner Seelen selbst einen Bericht aufsetzen, und dem Inspectori schriftlich übergeben“ (Klemme 1994: 97). Damit oblag auch das Innenleben der Schüler einer strengen Kontrolle. Bei Fehlverhalten galt es, die Schüler „liebreich und väterlich“ zu erinnern (Klemme 1994: 101). Wenn dies jedoch keine Wirkung mehr erziele, sei das Verhalten dem Inspektor zu melden. Wo „Güte“ und „Vorstellungen“ zur Erziehung nicht mehr ausreichen, müsse es zu einer „Beahndung“26 kommen (Klemme 1994: 102). Im äußersten Falle würden die Eltern verständigt werden und das Kind müsste die Schule verlassen. Schiffert betont, dass es hauptsächlich darum gehe, „die Jugend mehr mit Vorstellungen und Ueberzeugungen, als Strafe, zu gewinnen“ (ebd.). Schifferts Bericht eignet sich ebenfalls zur Veranschaulichung der Ansätze, die auf eine pädagogische Neuorientierung hinweisen. So wurden Mädchen und Jungen, aus adeligen und bürgerlichen Schichten, aus Königsberg oder anderen Städten und Ländern aufgenommen (vgl. Klemme 1994: 65). Wenn sich die Eltern das Schulgeld nicht leisten konnten, bei ihrem Kind aber ein „munteres und aufgewecktes Ingenium“ bemerkt wurde, wurden diese Kinder unentgeltlich oder für einen reduzierten Beitrag aufgenommen (Klemme 1994: 105). Sowohl Quantität als auch Qualität der Lehrer waren für die Schule ein Kriterium. Man achtete auf ihre Spezifikation in den zu unterrichtenden Fächern und eine ausreichende Anzahl der Lehrkräfte. Einem jeden solle die Arbeit aufgetragen werden, „wozu er am geschicktesten“ sei und wenn 26

Es existieren auch Zeitberichte über Ohrenzupfen bis zu Prügel. Da Kant meistens die Klasse als Primus abgeschlossen hatte, hält Kühn es für unwahrscheinlich, dass er selbst körperlich gezüchtigt wurde, aber betont, dass diese Strafen zu seiner täglichen Schulerfahrung gehörten (vgl. Kühn 2004: 70).

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einer ermüde, könne ein anderer mit „neuer Munterkeit“ wieder anfangen (Klemme 1994: 106). Man versprach sich davon, die Aufmerksamkeit und Lust zum Studieren zu verbessern. Außerdem war das Ziel der Erziehung, wenn auch überwiegend, nicht einzig und allein auf Gott gerichtet, sondern auf eines jeden „zeitliches und ewiges Heil“ (ebd.). Dazu zählte die künftige Profession, die nicht nur in der Universitätslaufbahn ihr Ziel fand, sondern je nach Fleiß und natürlicher Fähigkeit in eine andere Richtung gehen konnte. Um das Nützliche für die Schüler herauszufinden, bemühte man sich um genaue Beobachtung der Einzelnen und versuchte in der Versetzung auf deren individuelle Leistung einzugehen (vgl. Klemme 1994: 67 u. 93). Durch den väterlich-führenden Umgang der Lehrer wurde dabei die Vorstellung der Schüler noch nicht als Kriterium anerkannt. Denn „ein junger Mensch“ habe noch nicht seine „vollkommene Ueberlegung“, um zu wählen, „was ihm am nützlichsten ist“ (Klemme 1994: 113). Es gibt jedoch Hinweise, dass zumindest die Interessen der Schüler ernstgenommen wurden. Die französischen Klassen wurden auch auf Verlangen „der jungen Leute selbst“ angelegt (Klemme 1994: 81). Das Nützlichkeitskriterium des Lehrstoffs überschritt theologische Inhalte und richtete sich auf die Praktikabilität des künftigen Alltags. So etwa das Schreiben und mündliche Vortragen in deutscher Sprache, die Übung im Briefeschreiben und die Geographie, die vorrangig das eigene Land betraf. Für die Mädchen gab es zudem eine Näh- und Strickklasse. Schifferts Bericht lässt erkennen, dass beide Ziele, die Beförderung des Christentums und des zeitlichen Wohlseins, in der pädagogischen Ausrichtung des Fridericianums eine Einheit bilden. Ohne Gottesfurcht könne „blosse Gelehrsamkeit, von einem sonst unartigen Gemüthe, öfters mehr Schaden als Nutzen“ ausrichten, sowohl bei dem Einzelnen selbst als auch der gesamten Gemeinschaft (Klemme 1994: 95). Andererseits können gottesfürchtige Leute „dem gemeinen Wesen und Vaterlande lange nicht so gute Dienste erweisen“, als wenn sie zudem in Sprachen und Wissenschaften unterwiesen wären (ebd.). Die Lehrer sollten ihren Schülern „in allen Stücken“ ein gutes Beispiel sein und sich „zum Dienste GOttes und des Vaterlandes“ stets selbst verbessern (Klemme 1994: 107). Die genaue Kontrolle durch Regeln und Aufsicht galt somit auch für den Lehrkörper. Als Instrument für gegenseitigen Austausch und Verbesserung der „Lehrart und Erziehung“ der Jugend gab es eine wöchentlich stattfindende Konferenz mit dem Direktor (Klemme 1994: 108). Es findet sich zudem ein Plädoyer für schulische Weiterentwicklung in Schifferts Bericht: „Allein, wie keine Sache in der Welt auf einmal ihre Vollkommenheit erreichet, und man durch dasjenige Gute, so man bereits hat, auf was mehreres und besseres geführet wird: also glauben wir, daß man unverantwortlich gegen junge

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Leute handeln würde, wenn man aus Hochachtung gegen das Schlechtere, weil es alt ist, das Bessere, weil es neu ist, anzunehmen und einzuführen unterlassen wollte.“ (Klemme 1994: 109)

Die Auseinandersetzung mit der Leitfigur des Königsberger Pietismus, dem Prediger und Professor Schultz, der zudem ein wichtiger Lehrer Kants ist, kann helfen, die in der historischen Einordnung angesprochenen Simplifizierungen in Bezug auf den Pietismus zu umgehen. Zwar wurde der vorliegende Bericht von Schiffert verfasst, doch war es Schultz, der für die didaktischen Neuerungen des Fridericianums verantwortlich zeichnete (vgl. Fehr 2005: 49). Unter seiner Direktion wurde die lang als ‚Pietistenwinkel‘ verschriene Schule zur angesehenen „Musterschule und ‚Pfarrschmiede‘ für ganz Ostpreußen“ (Fehr 2005: 48). Seine das Volksschulwesen betreffende Schulordnung trat am 3. April  1734 in Kraft und galt in ganz Preußen. Die allgemeine Schulpflicht wurde von Schultz persönlich umgesetzt, galt auch für Mädchen und sah einen ganzjährigen Schulbetrieb vor (vgl. Fehr 2005: 45). Neben den vielen Ähnlichkeiten zum Hallischen Pietismus rund um Francke sind gerade die Unterschiede im Lehrbetrieb des Fridericianums wesentlich. 1733 wurde zunächst die mathematische Klasse auf Lehrbücher des Philosophen Christian Wolff umgestellt und 1734, nachdem das Verbot seiner Schriften aufgehoben wurde, wurde die philosophische Klasse eingeführt. Fehr (2005: 50) betont, sobald die Philosophie Wolffs zugelassen worden sei, habe sich der pietistische Gymnasialunterricht an ihr orientiert: „Im Grunde empfahl man den Schülern nichts anderes als die Verbindung des aufgeklärten Denkens mit persönlicher Frömmigkeit, eine Pädagogik übrigens, die auch Wolff vertrat.“ Zudem unterscheidet sich der Königsberger Pietismus in pädagogischer Hinsicht darin, dass die beiden Ziele der Frömmigkeit und Nützlichkeit gleichberechtigt sind. Während Francke die christliche Klugheit letztlich in der wahren Gottseligkeit gründete, wurde die profane Nützlichkeit des Lehrstoffs laut Fehr (2005: 51) in Königsberg nicht unmittelbar auf theologische Werte zurückgeführt: „Bei Schultz bleibt das zeitliche Wohlsein sui generis wertvoll.“ Insgesamt war der Königsberger Pietismus damit weniger spiritualistisch und mehr auf die Stärkung der Kommune ausgerichtet als der Hallische. Die Studienzeit an der Albertina: „[N]icht Nachbeter, sondern dereinst Selbstdenker werden“ Mit dem Ende der Schulzeit und dem Beginn der weiterführenden Ausbildung obliegt die Weichenstellung der eigenen Zukunft erstmalig und augenscheinlich dem jungen Menschen selbst. Bei Kant begann diese Zeit am 24. September  1740 mit seinem Eintritt in die Albertus-Universität in

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Königsberg. Per Handschlag mit dem damaligen Rektor Johann Bernhard Hahn wurde er als akademischer Bürger aufgenommen. Damit verpflichtete er sich zum Gehorsam gegenüber der Universität. Ihr Zweck war es seit ihrer Gründung 1544 „zum besten der Kirche Gottes und des gemeinen Wesens, auch zur Aufnahme guter Künste und Wißenschaften“ beizutragen (Arnoldt 1746: 127). Dazu wurden beständig Verordnungen und Statuten erlassen, die Lehrende und Lernende an ihre Pflichten als akademische Bürger erinnern sollten. Durch bestimmte leges versuchte die Universität ihre Studenten insbesondere zu „Fleiß“ sowie einem gewissen „Wandel“ anzuhalten und dafür zu sorgen, dass sie ihre „academische Freyheit“ nicht durch „Müßiggang“ und unanständige Gesellschaft verderben (Arnoldt 1746: 243). Zwar konnte die Disziplin nicht so streng wie an den Schulen gehalten werden, doch fehlte es der Albertina nicht an nachdrücklichen Gesetzen zur Verhaltensregelung (vgl. ebd.). Da man eine „Zerrüttung in Kirchen, Schulen, Ämtern und Rathäusern“ fürchtete, wenn „rohe wilde Leute“ öffentliche Ämter besetzten, galt es „die Exceße der studirenden Jugend“ einzuschränken (ebd.: 249). Am 25. Oktober 1735 erließ König Friedrich Wilhelm I dazu eine erweiterte Verordnung, um das Schulwesen und das akademische Wesen zu verbessern. Abgesehen von den allgemeinen Regeln für das Verhalten akademischer Bürger konnte Kant als Student seinen Tagesablauf eigenständig nach seinen Vorstellungen gestalten, zumal er nun ein eigenes Quartier bezogen hatte (vgl. Kühn 2004: 80). Die Frage, in welchen Studiengang er sich inskribierte, weist bis heute Unsicherheit auf.27 Generell gilt die Wahl des Studienfaches als ein ausschlaggebendes Kriterium der Entwicklung. Doch zu Kants Immatrikulation in Preußen waren Studenten durch eine königliche Verordnung dazu 27

Da der damalige Rektor Hahn nur vermerkte, ob ein Student Pharmazie oder Medizin studieren wollte, findet sich in Kants Immatrikulation kein Fach (vgl. Klemme 1994: 35f.). Emil Arnoldts Urteil über Kant als „Artium Liberalium Studiosus“ folgend, hat man ihn passend zu seiner Folgeentwicklung als fakultätslosen Freigeist beschrieben (vgl. Fehr 2005: 53). Wegen der Liste aller 1032 immatrikulierten Studenten (Herkunft, Stand, Konfession und Fakultät) zum akademischen Jubelfest 1744 und dem Fehlen von Hinweisen in Richtung Medizin und Jura schließt Fehr (2005: 54): „Auf jeden Fall müßte Kant sich zumindest aus verwaltungstechnischen Gründen der Theologie zugeordnet haben.“ Kant selbst hat den Hinweis auf seine theologischen Pläne und Tätigkeiten aus der biographischen Skizze Borowskis gestrichen. Jener hielt es jedoch für wahr und veröffentlichte den gestrichenen Passus als Fußnote. Dort wird Kants Tätigkeit als Prediger erwähnt, um deren Behauptung es nach Benno Erdmann genauso schlecht stehe wie um seine theologischen Studien. Für ihn ist der Umgang mit diesen Darstellungen „wissenschaftliche Mythenbildung“ (Erdmann 1973: 134). Kants Streichen dieser Passage muss als historischer Fakt gleichermaßen Geltung finden, wie die Pflicht der Immatrikulation in einer der oberen Fakultäten. Wenn sich also Kant primär aus verwaltungstechnischen Gründen zu einer Fakultätswahl der Theologie entschied, hatte diese Entscheidung allen Hinweisen nach für ihn nur auf dem Papier eine Bedeutung.

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verpflichtet, sich in eine der drei oberen Fakultäten einzuschreiben. Diese waren die Theologie, Rechtswissenschaft und Medizin. Ein reines Studium der Philosophie, die die vierte, untere Fakultät bildet, war nicht vorgesehen (vgl. Arnoldt 1746: 232). Sie hatte die Funktion eines Propädeutikums zu einer der sogenannten Brotwissenschaften. Aussagekräftiger als die primär verwaltungstechnische Wahl der Fakultät ist für Kants Studienverlauf daher die von ihm vorgenommene Ausgestaltung seines Studiums. Dazu gehören das Kennenlernen neuer Inhalte, seine akademischen Lehrer sowie seine Freunde und Tätigkeiten neben den Vorlesungen. Kants Studienplan, so berichtet Jachmann (1804: 10), sei nicht einmal seinen Freunden bekannt gewesen. Doch wisse man, er habe „vorzüglich Humaniora studirt“ und sich mit „der Mathematik, Philosophie und den lateinischen Klassikern beschäftigt“ (ebd.: 11). Wie auch die königliche Verordnung belegt, gab es zwar in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erste Ansätze zu einer staatlichen Planung, aber keine verbindlichen Lehrpläne. Auf dem „Markt der Gelehrsamkeit“, wie Stark (1992: 544) die damalige Universität beschreibt, konnten die Studenten aus kostenfreien öffentlichen Kollegien der ordentlichen Professoren und kostenpflichtigen Vorlesungen von unabhängigen Magistern oder Privatdozenten wählen. Der philosophischen Fakultät gehörten zu Kants Studienzeit acht ordentliche Professoren und mehrere Privatdozenten an, die laut Kühn (2004: 93) alles lehrten, „angefangen von Griechisch, Hebräisch, Rhetorik, Dichtkunst und Geschichte bis hin zu Logik und Metaphysik, praktischer Philosophie, Mathematik und Physik.“ Unter den damals tätigen Professoren werden von Borowski, neben dem schon vorgestellten Schultz, Johann Gottfried Teske und Martin Knutzen erwähnt. Besonders Knutzen schreibt er eine große Bedeutung zu, da Kant seinem „Unterrichte in Philosophie und Mathematik“ unausgesetzt beigewohnt habe (Borowski 1804: 28). Von allen Lehrern habe er ihm am meisten gegolten: „Dieser zeichnete ihm und Mehreren die Bahn vor, auf der sie nicht Nachbeter, sondern Selbstdenker werden könnten.“ (ebd.: 29)28 Über die Vorträge Knutzens, „die sich über alle Teile der Philosophie, Physik und Mathematik, selbst über Spezialia, wie Rhetorik, Mnemonik sowie Astronomie erstreckten“, erhielt Kant genau in den Gegenständen, die seine Schule vernachlässigte, neue fachliche Anstöße (Erdmann 1973: 139). Durch den Einfluss Knutzens und seiner wissenschaftlichen und pädagogischen Begabung nahm Kants Interesse von den philologischen Studien die Richtung 28

Kühn (2004: 97) ergänzt als wichtige Lehrer noch Karl Heinrich Rappolt und Christian Friedrich Ammon. Werner Stark (2014a) hat mit seinen Forschungen Gründe erarbeitet, warum insbesondere Rappolt als intellektueller Ziehvater und Vorbild des Studenten Kant zu gelten habe.

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in Philosophie und Naturwissenschaft. Er vertiefte sich so sehr in sie, „dass sie der Arbeitskreis seines Lebens blieben“ (ebd.: 141). Auch sein Lehrer Teske bestärkte Kants naturwissenschaftliches Interesse. Gerade seine Veranstaltungen in Experimentalphysik dürften sehr eindrucksvoll für ihn gewesen sein und prägten seine frühen Anschauungen zum Thema Elektrizität (vgl. Kühn 2004: 98). Teske lobte Kants spätere Magisterarbeit und gab zu, dass „er selbst vieles aus diesem Specimen gelernt hätte“ (Borowski 1804: 28). Knutzen habe ebenfalls in Kant „vortreffliche Anlagen“ erkannt, ihn in Privatunterredungen ermuntert, ihm Newtons Werke zukommen lassen und in Folge dessen „alles, was er aus seiner herrlichen, reichlich versehenen Bibliothek irgend verlangte“ (Borowski 1804: 163f.). Kühn (2004: 111) bezweifelt ein enges und förderndes Verhältnis zwischen Knutzen und Kant und vermutet, er habe sich von seinem Lehrer tatsächlich mehr Anerkennung erhofft: „Aus den Quellen geht eindeutig hervor, daß Knutzen Kant nicht als einen seiner besten Studenten betrachtete.“ Das könnte erklären, warum Kant das erste schriftliche, umfangreiche Ergebnis seines Studiums, die Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, 1746 nicht als Dissertation einreichte (vgl. Kühn 2004: 110f.). Fachlich war Knutzen wohl dennoch ein wichtiger Einfluss: „Knutzens unmittelbarer Einfluss auf Kant war daher in philosophischer wie in theologischer Hinsicht ein so tiefgreifender, dass er nicht allein die Umwendung seiner wissenschaftlichen Interessen zu den philosophischen, naturwissenschaftlichen und mathematischen Studien, sondern auch den Standpunkt, den er hier zuerst einnahm, soweit dies bei einer so selbständigen Natur wie Kant möglich war, fast ausschließlich bedingte.“ (Erdmann 1973: 144)

Interessant ist, dass Knutzen denkerisch eine ähnliche Position einnahm wie Schultz, der Kant während seiner Studienzeit als Professor der Theologie begleitete. Knutzens Philosophischer Bericht von der Wahrheit der Christlichen Religion von 1740 zeige „die wunderliche Art der Vermischung zwischen Pietismus und Rationalismus“, die auch das besondere Charakteristikum von Schultz’ Standpunkt sei (Erdmann 1973: 116). Er entwickelte hier in mathematischer Methode mittels Definitionen und Lehrsätzen einen Beweis von der Notwendigkeit der Offenbarung nach pietistischer Auffassung. Da aber „der Glaubensgehalt durch die rationalistische Behandlung durchaus unberührt erscheint“, weise das Knutzen und Schultz „nicht als Anhänger, sondern nur als Vorgänger des aufklärerischen, theologischen Rationalismus“ aus (ebd.). Rudolf Malter (1993: 12) differenziert diese Einordnung weiter:29 29

Fehr (2005: 234) kritisiert das und stellt fest: „Bei Schultz wird Wolffs Philosophie sowohl der Form als auch dem Inhalt nach auf die Theologie übertragen.“

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„Der Materie nach sind beide weitgehend Pietisten, der Form nach Rationalisten – und wenn sie auch bloß der Form nach Rationalisten sind, so haben sie damit der Aufklärung an der Königsberger Universität in Philosophie und Theologie so weit die Tür geöffnet, daß unaufhaltsam deren spezifisches Gedankengut in sie einströmen konnte und Immanuel Kant an seiner Universität bereits als Student die Möglichkeit hatte, aufklärerische Ideen und Denkmethoden sich anzueignen.“

Über die fachlichen Anregungen hinaus waren Schultz und Knutzen durch ihr methodisches Vorgehen ein wichtiger Einfluss für Kant. Ihre wissenschaftlichen Grundbestrebungen zeigen denselben Charakter, „den Gegensatz zwischen der wolfschen Philosophie und dem Pietismus“ durch eine Vereinigung beider Gesichtskreise30 aufzuheben (Erdmann 1973: 124). Schultz versuchte in seinem Unterricht, das unabhängige Denken seiner Schüler zu fördern und bestand auf offene Auseinandersetzung mit Kritikern des theologischen Systems (vgl. Fehr 2005: 51). Er ermutigte sie dazu, ihre Zweifel über die dogmatische Lehre zu äußern oder ihre Fragen schriftlich und anonym über einen Kasten einzureichen (vgl. Fehr 2005: 52). Schultz habe schon im Wintersemester 1732/33 „eine sogenannte thetisch-antithetische Methode in die Dogmatik“ eingeführt, in der Satz und Gegensatz dialektisch nebeneinander geordnet werden, um „Zweifel an dogmatischen Thesen wissenschaftlich zu prüfen“ (ebd.). Die Skizze Hippels (1801/1977: 162), ein späterer Tischfreund Kants, der ebenfalls bei Schultz studiert hat, betont die rationale Komponente seiner Theologie und zeigt, wie Schultz’ pädagogisches Wirken in Königsberg empfunden wurde: „Dieser gewiß gelehrte Mann lehrte mich die Theologie von einer andern Seite kennen, indem er in selbige so viel Philosophie brachte, daß man glauben mußte, Christus und seine Apostel hätten alle in Halle unter Wolf studirt.“

Auch auf Kant und seine Freunde machte die Lehrart von Schultz Eindruck. Sein Kommilitone Christoph Friedrich Heilsberg erinnert sich, wie er mit Wlömer und Kant „die öffentliche Lese Stunden, des noch im besten 30

Ob es sich bei der Wolffschen Philosophie und dem Königsberger Pietismus tatsächlich um zwei Gesichtskreise handelt, kann wiederum in Frage gestellt werden. Denn auch Wolff bemüht sich Glaube und Vernunft in Einklang zu bringen und steht damit wiederum in einer langen Traditionsreihe. Seine Hauptabsicht, die Metaphysik mit der Theologie in Einklang zu bringen, verfolgte er mit einer beharrlichen, rationalen Systematik, die ihm von Seiten der lutherischen Othodoxie wie auch der Pietisten den Atheismus-Vorwurf einbrachte. Letztlich bewirkte er „eine Umformung der orthodoxen Theologie“ und wurde zum „eigentlichen Theoretiker der kritischen Theologie der Aufklärung“ (Madonna 2011:45).

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Andenken stehenden Consistorial Rath Dr. Schulz“ besuchte und sie keine Stunde versäumten, fleißig nachschrieben und die Vorträge zu Hause wiederholten (Malter 1990: 21). Sie bestanden das Examen so gut, dass er am Ende der letzten Stunde die drei Studenten zu sich rief. Schultz erkundigte sich in dem anschließenden Gespräch, warum Kant seine Theologievorlesung besuche und dieser antwortete: „aus Wißbegierde“ (ebd.). Soweit eine Rekonstruktion möglich ist, hörte er Mathematik, Logik, rationale Psychologie, Naturphilosophie, Algebra, Analysis des Unendlichen, Naturrecht, Physik, Dogmatik und besuchte Übungen im Disputieren (vgl. Kühn 2004: 102). Alles deutet daraufhin, dass Kant sich nicht auf ein spezifisches Fach konzentrierte, sondern nach einer umfänglichen und fächerübergreifenden Bildung strebte (vgl. Klemme 1994: 37). Bereits kurze Zeit nach dem Beginn des Studiums fing er an, seine neu gewonnenen Erkenntnisse zu teilen. Kant half etwa Heilsberg auf freundschaftlicher Basis bei dessen Studium. Er gab ihm die collegia von den Professoren Ammon, Knutzen und Teske zur Durchsicht und wiederholte mit ihm zumindest die schwierigsten Stellen daraus (vgl. Malter 1990: 18). Zudem betreute Kant andere Studenten für Geld oder Kaffee, Weißbrot oder freie Unterkunft (vgl. ebd.). Klemme (1994: 36) erwähnt, dass „er durch das Abhalten von Tutorien zu Veranstaltungen seines Lehrers Martin Knutzen Geld verdient hat“. Somit sammelte er bereits als Student erste eigene pädagogische Erfahrungen. Kühn (2004: 84) gibt an, dass er dadurch als älterer Student bereits eine „gewisse Gefolgschaft unter den Jüngeren“ gehabt habe, die er nicht nur akademisch, sondern auch als „moralische Kraft“ beeinflusst habe. Neben seinen Studien hatte Kant als Student zwei Freizeitbeschäftigungen, denen er als Ausgleich nachging: Das Billard- und das L’hombre-Spiel. Ersteres nutzte er, um sich etwas dazu zu verdienen, was durch Heilsberg bekannt ist: „Das Billiard Spiel war seine einzige Erholung; Wlömer und ich, waren dabey stets seine Begleiter. Wir hatten die Geschicklichkeit in diesem Spiel beynahe aufs höchste gebracht, giengen selten ohne Gewinn nach Hause; ich habe den französischen Sprachmeister ganz von dieser Einnahme bezalt; Weil aber in der Folge Niemand mehr mit uns spielen wollte; so gaben wir diesen Erwerbs Artickel ganz auf, und wählten das l’hombre Spiel welches Kant gut spielte.“ (Malter 1990: 19)

Zusätzlich erhielt er finanzielle Unterstützung von seinem Onkel, dem Schuhmacher Richter (vgl. Kühn 2004: 83). Kant schaffte es dadurch, als Student über die Runden zu kommen. Auch wenn er sparen und haushalten musste, konnte er seine Zeit an der Albertina nutzen, um sein Wissen auszubauen. Durch den

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Tod seines Vaters am 24. März 1746 änderte sich sein Leben erneut. Da sein Vater bereits Ende 1744 einen schweren Schlaganfall erlitten hatte, ist es wahrscheinlich, dass Kant 1745 „einen bedeutenden Teil seiner Zeit zu Hause bei seiner Familie“ verbrachte (Kühn 2004: 117). Ebenfalls wahrscheinlich ist, dass er in dieser Zeit, da er nicht regelmäßig universitäre Veranstaltungen besuchte, den größten Teil der Gedanken über die wahre Schätzung der lebendigen Kräfte schrieb. Sie bildete den Abschluss seiner förmlichen Studien an der Albertina. Mit der Frage nach der Messung von Kraft wählte er sich einen zentralen Streitpunkt innerhalb der Naturphilosophie seiner Zeit. Die beiden Theorien von Descartes und Leibniz boten zwei nicht zu vereinbarende Erklärungen für die Schätzung der Kraft durch die Geschwindigkeit. Descartes wollte die Kraft nach der einfachen Geschwindigkeit schätzen, Leibniz nach ihrem Quadrat. Kant schlug einen Mittelweg zwischen den beiden Positionen vor: Die tote Kraft ließe sich durch Leibniz’ Weg berechnen, die lebendige nach Descartes. Rein fachlich ist diese Erklärung nicht korrekt. Sie wurde bereits 1743 ohne Kants Wissen von d’Alembert beantwortet, der mit der Formel Geschwindigkeit zum Quadrat durch zwei die richtige Lösung für die Berechnung der Kraft fand. So erzielte seine Schrift fachlich zwar nicht die intendierte Wirkung, aber das Vorwort zeigt Kant nach fünf Jahren Studium als selbstständigen und zuversichtlichen jungen Gelehrten: „Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen.“ (GSK, AA 01: X) Das Studium wird üblicherweise verstanden als ein Übergang von einem Lernenden zu einem Gelehrten. Als Streben und Bemühen um eine Wissenschaft vollzieht sich dieser Prozess im akademischen Miteinander von Lehrenden und Lernenden. Während Kants Studium herrschte an der Universität akademische Freiheit, um die Wissenschaften kennenzulernen und zu befördern. Neben positivem Wissen, den Inhalten und Informationen, erforderte das einen bestimmten Umgang. Beides sollte durch den Aufenthalt an der Universität gefördert werden, wie Arnoldts (1746: 182f.) Beschreibung der Aufgabe der Hochschullehrer zeigt: „Der Hauptzweck warum öffentliche Lehrer auf Universitäten verordnet werden, gehet ohne Zweifel dahin, daß die studirende Jugend […] die nöthigen Gründe der Wißenschaften, Künste und Sprachen erlernen, und also zum Dienste der Kirchen, Schulen und des gemeinen Wesens zubereitet werden mögen. Das Hauptgeschäfte eines Profesors bestehet demnach darinn, daß er seine Stunden mit aller Treue abwarte, sie nicht ohne dringende Noth aussetze, sich auf dieselben gehörig preparire, und seinen Vortrag also einzurichten suche, daß mit Vermeidung unnöthiger Ausschweifungen der Kern der nützlichsten Dinge auf eine begreifliche und lebhafte Art vorgelegt und also eingeschärfet werde, daß

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Kapitel 1 seine Zuhörer, wenn sie anders die nöthige Fähigkeit besitzen, und die gehörige Aufmerksamkeit beweisen, nicht anders als gehörig von der Sache unterrichtet davon gehen können.“

Hier wird das Erlernen von Inhalten als Zweck des Studiums angeführt und skizziert, wie dieser Unterricht sein sollte: zuverlässig, regelmäßig, vorbereitet, auf das Wesentliche konzentriert, verständlich und lebendig vorgetragen. Vakante Stellen galt es, „mit geschickten und gelehrten Leuten, so dabey von guter Aufführung und Lebensart“ zu besetzen (Arnoldt 1746: 147). Die Lehrer wurden durch gewisse organisatorische Maßnahmen an ihre Pflichten erinnert und darüberhinaus durch „das natürliche Gewißen“, „die Liebe des Nechsten“ und „die Sorge vor das gemeine Beste“ (ebd.: 183). Das zeigt ein Bewusstsein darüber, dass Wissen und Regeln nicht genügen, um die Universität und das Bestreben nach Wissenschaften zu fördern. Es braucht einen gewissen Umgang, der von den gestaltenden Personen selbst abhängt: Ein verständlicher und lebendiger Vortrag auf Seiten des Lehrers und die nötige Fähigkeit und Aufmerksamkeit auf Seiten des Schülers. Schon der Gründer der Albertus-Universität habe darauf geachtet, dass „diese Universität eine Werkstätte nicht nur der Wißenschaften, sondern auch der Frömmigkeit und Tugend seyn möge“ (Arnoldt 1746: 244). Der nötige Umgang und das Bemühen um Wissenschaftlichkeit lassen sich nur in ihrer Wichtigkeit artikulieren. Die entsprechende Einstellung aufzubringen und umzusetzen, obliegt den Lehrenden und Lernenden selbst. Die Universität eröffnet dazu den Raum, sowohl zu den Wissenschaften als auch zu der Bildung des eigenen Selbst. Der Blick auf Kants Hochschullehrer zeigt, wie dieses Konzept praktisch umgesetzt wurde. Fachlich lernte Kant durch sie an der Albertina verschiedene Ansätze in der Philosophie, der Theologie und den Naturwissenschaften kennen. Neben pietistischen und thomasianischen Lehren wurden die Studenten auch mit Wolffs Philosophie und deren Anhängern bekannt gemacht. Kühn (2004: 107) schließt, dass Königsberg keine intellektuelle Provinz gewesen sei: „Alle Gärung der damaligen Zeit und alle neueren philosophischen Ideen waren in Königsberg anzutreffen.“ Das Besondere an Schultz’ und Knutzens pädagogischem Wirken lag in ihrem diskussionsfreudigen und vernunftbetonten Umgang mit möglichen, wissenschaftlichen Ansichten. Werden sie lediglich als Pietisten beschrieben, kann das ihre rationale Grundhaltung verdecken, die den aufkeimenden aufklärerischen Geist vorbereitete. Für Malter (1993: 10) verdanke sich das „Aufblühen der Königsberger Kultur in der zweiten Jahrhunderthälfte“, an dem sich Kant maßgeblich beteiligte, den ersten Initiativen von Schultz. Zudem macht er

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auf das „rationalistisch-aufklärerische Moment“ in Knutzens religionsphilosophischem Werk aufmerksam (ebd.: 11). Die Hybridformen von Pietismus und Rationalismus bei Schultz und Knutzen haben nicht zuletzt durch ihre Wirkung auf Kant einen vorbereitenden Einfluss auf den Aufschwung des Königsberger geistigen Lebens zur Jahrhundertmitte. Praktische Jahre als Hauslehrer: Die „Kunst sich zweckmäßig mit Kindern zu beschäftigen und sich zu ihren Begriffen herabzustimmen“ Von der Berufswahl lassen sich Rückschlüsse auf die eigene Verortung eines Menschen innerhalb der Gesellschaft und seine verfolgten Absichten ziehen. Kants Zeit als Hauslehrer hat jedoch nicht dieselbe Aussagekraft wie eine Berufswahl heutzutage. Seine Tätigkeit als praktischer Erzieher entsprach eher einer Übergangsanstellung oder einer Verlängerung des Studiums (vgl. Kühn 2004: 119). Während dieser Zeit behielt er sein „akademisches Bürgerrecht“ und blieb dem Status nach weiterhin Student (ebd.: 121). In Bezug auf seine pädagogischen Erfahrungen könnte die Ausgestaltung seiner Erziehertätigkeit tatsächlich interessant sein. Doch sind die Quellen hierzu so spärlich, dass sich nicht einmal Beginn und Abschluss seiner Tätigkeit als Hauslehrer eindeutig angeben lassen (vgl. Dörflinger u.a. 2009: 165). Während Weisskopf (1970: 17) einen etwa 8-jährigen Zeitraum in Erwägung zieht, veranschlagt Kühn (2004: 119f.) die Jahre von Herbst 1748 bis August 1754. Sicher ist, dass er mindestens sechs Jahre im Alter von 24 bis 30 Jahren als Hauslehrer tätig war. In den von Kant durchgesehenen biographischen Angaben Borowskis (1804: 30) steht, dass er durch die „Lage seiner Umstände“ einige Jahre genötigt gewesen sei, „Hauslehrer erst in einem Predigerhause außer Königsberg zu werden, dann führte er einen jungen von Hülsen auf Arnsdorf, auch einige Zeit hindurch einen Grafen von Kaiserlingk“. Da Kant für seine Finanzierung sorgen musste und aus bescheidenen Verhältnissen kam, war es eine seiner Zeit und gesellschaftlichem Stand entsprechende Entscheidung, Hauslehrer zu werden. Die Motivation zu solch einer Stelle lag im 18. Jahrhundert weniger in dem Wunsch nach einer pädagogischen Tätigkeit, denn in der Sorge um das alltägliche Leben eines jungen Intellektuellen. Das zeigt der Zeitbericht von Johann Gottfried Hoffmann aus dem Jahr 1792, den Dörflinger, Fehr und Malter (2009: 168) wählen, um einer Beschreibung von Kants Hofmeistertätigkeit nahe zu kommen: „Wenige werden Hofmeister aus Neigung, Viele aus Schicklichkeit, die Meisten aus Noth. Der beßre Theil der Hauslehrer besteht aus Kandidaten des Predigtamts, der schlechtre aus unvollendeten Studenten: jene haben, wenn auch nicht Erziehertalent, doch Reife der Sitten und Kenntnisse vor diesen voraus.“

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In der Tradition der häuslich-adeligen Erziehung beauftragten Eltern, die über die notwendigen Mittel verfügten, einen Lehrer mit der Erziehung ihrer Kinder. Entweder, weil sie das Lehrangebot der öffentlichen Schulen als unzureichend empfanden, oder es durch die Lage schwer zu erreichen war. Die oftmals selbst noch jugendlichen Studenten fanden sich in dieser Stellung als Bedienstete vor einer herausfordernden Aufgabe, welche diplomatisches Geschick erforderte. Zum einen galt es, den moralischen und intellektuellen Ansprüchen an einen Erzieher und Lehrer gerecht zu werden, zum anderen sich in das Familienleben zu integrieren. Man könne „schwerlich ein gefälliger Hauslehrer werden“, ohne sich „an den feinen Ton einer edlen Familie“ anzupassen, wozu eine „herzliche Vereinigung“ gehöre, um mehr als „ein fremder Miethling“ zu sein (Dörflinger u.a. 2009: 170). Der jeweilige Kandidat habe noch dazu kein klares Selbstverständnis von seinem Berufsstand gehabt, an dem er sich hätte orientieren können: „Es existierte kein unumstrittendes Hauspädagogen-Curriculum; die Planung des Unterrichts erfolgte, wenn überhaupt, von Fall zu Fall.“ (Fertig 1982: 323) Als Privaterzieher sah man sich mehreren Erwartungen ausgesetzt. Um die Anstellung nicht zu gefährden, sollte der Unterricht sowohl zur Zufriedenheit der Eltern und ihrer Regeln erledigt, aber auch die Kinder durch lebendiges Lernen stets ermuntert werden. Die geringe Vergütung förderte dabei „nicht gerade pädagogisches Eros und Ethos“ (ebd.: 324). Das habe zu einer starken, qualitativen Varianz unter den Hauslehrern geführt, was der Zeitbericht von 1794 mit dem Aufzählen verschiedener Lehrertypen skizziert (vgl. Dörflinger u.a. 2009: 170ff.). Kant hatte mit seinen Anstellungen bei Pastor Andersch, Bernhard Friedrich von Hülsen und den Keyserlingks ausgesprochenes Glück gehabt (vgl. Kühn 2004: 119). Wie Borowski (1804: 30f.) berichtet, konnte er den stillen ländlichen Aufenthalt nutzen: „Da wurden schon in seinem Kopfe die Grundlinien zu so manchen Untersuchungen gezogen, manches auch beinahe vollständig ausgearbeitet […]. Da sammelte er sich in seinen Miscellaneen aus allen Fächern der Gelehrsamkeit das, was ihm fürs menschliche Wissen irgend erheblich zu seyn schien – und denkt heute noch mit vieler Zufriedenheit an diese Jahre seines ländlichen Aufenthalts und Fleißes zurück.“

Kants Zeit als Hauslehrer bot ihm die Möglichkeit, seine eigenen Studien ohne Sorge um sein tägliches Brot fortzuführen und etwas Geld zu sparen. Während über die Tätigkeit bei der Familie Keyserlingk keine Details bekannt sind, gibt es über die Zeit bei den anderen beiden Familien einige Informationen. In seinen Jahren bei Pfarrer Andersch in Judtschen betreute er dessen drei jüngere

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Söhne im Alter von dreizehn, elf und acht Jahren (vgl. Weisskopf 1970: 17). Der Aufenthalt Kants in Judtschen ist durch Einträge im Taufregister bestätigt, was zudem belegt, dass er wohl einige soziale Kontakte zu Gemeindemitgliedern pflegte (vgl. Kühn 2004: 120). Bei seiner daran anschließenden Anstellung in der Familie von Hülsen auf dem großen Gut Arnsberg war er ebenfalls wieder für drei Söhne einige Jahre zuständig. Dass er seinen „Erziehergeschäften“ gewissenhaft gefolgt sei, dafür gibt es laut Rink (1805: 27f.) Beweise in den Briefen seiner Schüler und des Vaters an ihn, die „den gefühltesten Ausdruck des Dankes, der Hochachtung und Liebe“ enthalten, weswegen sie ihn auch „zum Theilnehmer jedes interessanten Familienereignisses“ machten. Tatsächlich schickte Kant im August 1754, als er wieder in Königsberg war, einen Brief an die Familie von Hülsen. Er legte zwei Bücher und Bilder bei und wünschte sich für seinen ehemaligen Schüler „Fritzchen“, dass man ihm „immer mit gutem Exempel“ vorgehen und ihn freundlich von ihm grüßen solle (Br, AA 10: 2). Von Jachmann (1804: 11) erfahren wir, dass Kant über sein Hofmeisterleben zu scherzen pflegte, „daß in der Welt vielleicht nie ein schlechterer Hofmeister gewesen wäre als er.“ Er habe es „für eine große Kunst“ gehalten, „sich zweckmäßig mit Kindern zu beschäftigen und sich zu ihren Begriffen herabzustimmen“, doch sei es ihm nicht möglich gewesen, „sich diese Kunst zu eigen zu machen“ (ebd.). Wahrscheinlich kennzeichnet Kants Aussage ihn gerade nicht als schlechten Hofmeister. Denn ein wirklich schlechter Lehrer würde wohl kaum ein Interesse an der Erziehung entwickeln, in ihr eine Kunst sehen und zumindest so viel von ihr wissen, dass er bezweifelt, ihrer fähig zu sein. Auch Kühn (2004: 120f.) schließt, „aller Wahrscheinlichkeit nach war er ein besserer Lehrer, als er glaubte.“ 1.2

Diskussion der Rekonstruktion: Theorie, Praxis und Person als Dimensionen von Erziehung

Die biographische Rekonstruktion differenziert die pietistische Erziehung in Kants Familie, Schule und Universität in verschiedene Formen. Die häusliche Erziehung wird als sorgfältig und liebevoll beschrieben und sogar Kant lobte, dass sie ‚von der moralischen Seite betrachtet gar nicht besser sein konnte‘. Die institutionalisierte Erziehung an der Friedrichsschule hielt die Lehrer dazu an, durch Strenge, Ruhe und Ordnung die Schuldisziplin zu befördern, was zu einem ‚Schema von Frömmigkeit oder eigentlich Frömmelei‘ führte (Borowski). Der erzieherische Einfluss der Universität gestaltete sich durch die Gesetze zur Verhaltensregelung, die einen Missbrauch der akademischen Freiheit zu verhindern suchten, und die Beispiele der kennengelernten Lehrer.

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Durch die Hybridformen von Pietismus und Rationalismus zeichneten sich die Vorlesungen von Knutzen und Schultz durch rationalistisch-aufklärerische Momente aus. Die unterschiedlichen Erziehungsinstanzen (Eltern und Lehrer) gestalteten verschiedene Erfahrungsräume (Familie, Schule und Universität) ihren Zwecken gemäß, um mit ihrem sozialen Handeln in Bezug auf Kant einen Erwerb von Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnissen und Überzeugungen zu bewirken. Das kennzeichnet ihre Handlungen als Erziehung: „Unter Erziehung werden Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten. Statt vom ‚Gefüge der psychischen Dispositionen‘ kann man abkürzend auch von der ‚Persönlichkeit‘ sprechen.“ (Brezinka 1978: 45)

Die Ausdifferenzierung der Versuche von Kants Eltern und Lehrern, auf seine Persönlichkeit Einfluss zu nehmen, beantwortet die erste, zu Beginn aufgeworfene Frage, wie Kants Biographen die Erziehung als Sohn, Schüler und Student beschreiben. Für eine Antwort auf die zweite Frage, was sich aus diesen Beschreibungen über Erziehung lernen lässt, werden die rekonstruierten Formulierungen und historischen Quellen zu Kants Formen der Erziehung in der nun folgenden Diskussion auf ihren pädagogischen Problemhorizont hin befragt. Ziel ist es, den bereits akzentuierten normativen Anspruch auf Formung des Menschen, der Aufklärung und Erziehung im Kern kennzeichnet, als philosophischen Gegenstand anhand dieser Beispiele zu problematisieren, um für die weitere Untersuchung systematische Orientierung zu gewinnen. Die Perspektiven der frühen Biographen Borowski, Jachmann und Wasianski sind allesamt Perspektiven von Personen, die während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts studierten und Kant als Lehrer erlebten. In ihren Schilderungen über Kants Erziehung spiegeln sich nicht nur theologische, sondern auch pädagogische Vorstellungen und Urteile zur Zeit des 18. Jahrhunderts. Selbiges gilt für die herangezogenen historischen Quellen, den Bericht über das Fridericianum von Schiffert und Arnoldts Historie der Königsbergischen Universität.31 Wird nun das jeweilige Erziehungsverständnis der Biographien diskutiert, dann nicht um eine Art objektive, pädagogische Wirklichkeit der Aufklärung zu generieren. Vielmehr wird von Schäfers (2005: 26) 31

In die Biographie von Kühn mischt sich neben Perspektiven aus der Zeit der Aufklärung auch ein modern zu nennendes Pädagogikverständnis, weswegen diese Formulierungen nicht Teil der folgenden Diskussion sind.

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Argumentation ausgegangen, dass eine philosophische Einführung in die pädagogische Wissenschaft immer eine problematisierende sein müsse, da jede Theorie der Erziehung nur eine eigene Interpretation dieser Wirklichkeit schaffen kann, die zwischen anderen pädagogischen Theorien strittig bleiben wird: „Die ‚pädagogische Wirklichkeit‘ bleibt ein Problem, weil ihre Wahrnehmung von Problemhorizonten (‚theoretischen‘ Vorverständnissen) abhängt, die zugleich definieren, was denn nun eine sinnvolle und aussichtsreiche Antwort darstellen könnte. […] Dies bedeutet, dass es nicht darum gehen soll, verschiedene Antworten auf das Problem der ‚pädagogischen Wirklichkeit‘ in Form pädagogischer Theorien vorzustellen, sondern dass versucht werden soll, die Probleme, auf die solche Theorien eine Antwort geben wollen, als Problemhorizont zu verstehen.“

Zwar handelt es sich bei den Biographien und Zeitberichten nicht um Erziehungstheorien, aber dennoch zeigen die Formulierungen theoretische Vorverständnisse über Erziehung auf, von denen wiederum abhängt, was überhaupt als Erziehung beschrieben wird. Diese sollen thematisiert werden, um Charakteristika und Dimensionen sowie Probleme und Fragestellungen einer aufklärerischen Perspektive auf Erziehung zu diskutieren. Erziehung als Theorie von und für die Praxis: Ziele, Methoden und Wirkungen Während es wissenschaftlich eine Herausforderung darstellt, zu begründen, warum und wie sich Theorie und Praxis zueinander verhalten, konstituieren sich die herangezogenen Biographien daraus, theoretische Komponenten wie Erziehungsziele und Methoden mit praktischen Komponenten wie Personen, Situationen und Wirkungen als performativen, ineinandergreifenden Praxisvollzug abzubilden. Für eine philosophische Reflexion und Problematisierung der Erziehung ergibt sich dadurch eine konkrete Anschauung für die Abhängigkeit von der Schilderung einer Erziehungswirklichkeit von theoretischen Vorverständnissen. Die Beschreibungen der Biographen lassen sich, wie zu Beginn des Kapitels erarbeitet, als Darstellung von Kants Lernen verstehen, die nicht nur ein Kennenlernen dieses individuellen Lernens, sondern auch ein Lernen über allgemeine Bedingungen und Charakteristiken des Lernens ermöglichen. In Bezug auf die Erziehung als Beitrag zu diesem Lernen sind ihre Schilderungen dabei von einem bestimmten pädagogischen Problemhorizont abhängig, von theoretischen Vorverständnissen, die im zeitlichen Kontext des 18. Jahrhunderts gängig waren. Borowski geht von einem Einfluss früher Umstände auf die ‚Richtung der späteren Denk- und Verfahrensart‘ aus,

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zu denen auch die Handlungen anderer Personen wie Lehrer und Mitschüler zählen. Jachmann räumt den in Kindheit und Jugend zufällig und absichtlich mitwirkenden Umständen einen Anteil an der ‚Weckung und Ausbildung des Geistes‘ ein. Die diesen Grundannahmen folgenden Angaben über die Einflüsse in Familie, Schule und Universität weisen die für Theorien der Erziehung kennzeichnende teleologische Struktur auf. Durch Angabe der Ziele, die Eltern und Lehrer verfolgten, wird ihren Handlungen eine bewusste Intention zugrunde gelegt. Als Erziehungsziele von Kants Eltern werden etwa ‚Arbeit‘, ‚Ehrlichkeit‘ und ‚Heiligkeit‘ angegeben (Borowski). Die historischen Quellen bestätigen die Präsenz von pietistischen Erziehungszielen in Kants Schule und Universität. Schifferts Bericht über das Fridericianum weist die pietistischen Erziehungsziele ‚Fleiß und Frömmigkeit‘ aus. Ähnliches findet sich in Arnoldts Bericht über die Universität, die neben Wissenschaften eine Werkstätte für ‚Frömmigkeit und Tugend‘ sein sollte. Der Hauptzweck der Albertina bestand in der ‚Zubereitung‘ der studierenden Jugend zum ‚Dienst an Kirche, Schule und gemeinem Wesen‘. Es galt die Jugend zu ‚Fleiß und Wandel‘ anzuhalten, damit sie die ‚akademische Freiheit‘ nicht für ‚Müßiggang und unanständige Gesellschaft‘ nutzte. Die beschriebenen Tätigkeiten der Eltern und Lehrer bestätigen die in der Einleitung herausgestellte intentionale und teleologische Struktur von Erziehung. Die Ziele veranschaulichen, woran sich die erzieherischen Tätigkeiten normativ orientieren: Fleiß, Frömmigkeit und Tugend bringen positiv zum Ausdruck, worin die erzieherisch angestrebte Verbesserung bestehen soll, Müßiggang und unanständige Gesellschaft sind Beispiele für das, was vermieden werden soll. Die teleologische Struktur bringt zum Ausdruck, dass sich Erziehung über Handlungen vollzieht, die bewusst, absichtlich und zweckgebunden geschehen. Die biographischen Schilderungen weisen auch auf die mit den Zielen verbundenen Methoden hin, was wiederum den genuinen Praxisbezug von Erziehung unterstreicht. Denn mit den theoretischen Zielen und der Wahl der Methoden gilt es, eine entsprechende Wirkung herbeizuführen. Die biographisch dargestellte Erziehung beinhaltet den Versuch, mit den Handlungen auch die Erziehungsabsichten zu erreichen. Wenn Jachmann behauptet, Kant habe seine ‚pietistische Erziehung als eine Schutzwehr für Herz und Sitten gegen lasterhafte Eindrücke‘ gerühmt, unterstellt diese Formulierung, dass die Erziehung einen tatsächlichen Effekt auf die Dispositionen, in diesem Fall Kants moralischer Einstellungen, gehabt habe. Während sich die sowohl in Familie, Schule und Universität als pietistisch bezeichnete Erziehung an denselben Zielen ausrichtet, in der Hauptsache Fleiß, Frömmigkeit und Tugend, zeigen sich bei der Wahl der Mittel Unterschiede, wie Eltern und Lehrer diese zu erreichen versuchen. Die Mutter

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habe durch ‚fromme Lehren‘ und ihr ‚tugendhaftes Beispiel‘ zur ‚Gottesfurcht‘ erziehen wollen (Jachmann). Zu den Erziehungsmitteln an Kants Schule zählen ‚Strenge für Ruhe und Ordnung, erweckliche Gebete zur Verherrlichung Gottes sowie öffentliche Predigten und private Inspektionen des Seelenzustandes‘ (Schiffert). Um zu Fleiß und Frömmigkeit zu führen, sollen die Lehrer an der Universität ihre Vorträge zuverlässig halten, ‚gehörig präparieren‘ und ‚auf begreifliche und lebhafte Art‘ vorlegen (Arnoldt). Der Blick auf Kants Hochschullehrer zeigt, wie diese Regel praktisch umgesetzt wird und hat auf die besonderen Hybridformen von Pietismus und Rationalismus bei Schultz und Knutzen aufmerksam gemacht. Damit lässt sich zweierlei festhalten: Erstens müssen dieselben Ziele nicht notwendig zu denselben Methoden führen, denn es liegt an der Erziehungsinstanz, welche Methode als sinnvoll und aussichtsreich in der jeweiligen Situation beurteilt und angewandt wird. Zweitens erschöpft sich Erziehung als Formung nicht in den theoretischen und formulierbaren Zielen und Methoden. So stellt die akademische Lehre einen weiten pädagogischen Rahmen, der mit religiöser und moralischer Färbung auf die Nützlichkeit der Wissenschaften und Künste für das gemeine Leben ausgerichtet ist. In ihrer Funktion als institutionelle Personen verpflichten sich die Hochschullehrer zu der Umsetzung dieser Ziele. Dabei bilden ihre Lehrveranstaltungen jedoch einen engeren pädagogischen Rahmen, der von der Wahl ihrer jeweiligen Inhalte, ihrer didaktischen Konzeption und der vollzogenen Lehrpraxis abhängt. Hierbei spielt die Person des Lehrers neben seiner institutionell festgelegten Funktion eine zentrale Rolle. Dass die personengebundene, pädagogische Wirkung des Lehrers sogar die Inhalte des Unterrichts beeinflusst, wird in Hippels Anmerkung über Schultz deutlich, der ihn die ‚Theologie von einer andern Seite kennen‘ lehrte, indem er ‚in selbige so viel Philosophie brachte, dass man glauben musste, Christus und seine Apostel hätten alle in Halle unter Wolf studiert‘. Nicht nur in Hinsicht auf die Methoden unterscheiden sich die als pietis­ tisch beschriebenen Erziehungsformen in Familie, Schule und Universität, sondern insbesondere in den beschriebenen Wirkungen und Wertungen der Erziehung. Jachmann beschreibt Kants Dankbarkeit gegenüber seiner Mutter für das Öffnen seines Herzens für Natureindrücke und das Wecken und Erweitern erster Begriffe. Laut Wasianski sei er ihr für die ‚erste Bildung seines Charakters‘, ‚die ersten Grundlagen zu dem, was er später wurde‘ dankbar und betont, dass keine ‚Fehler der Erziehung‘ ihm ‚daher das Geschäfte späterer Selbstbildung‘ erschwert haben. Die Eltern haben mit ihrem täglichen Wirken auf ihren Sohn wohl positive Erinnerungen in ihm hinterlassen, die er noch im Alter seinen Freunden mitteilte. Das, was Kant an dieser Erziehung lobte, ist weniger das im Hintergrund stehende Konzept des Pietismus, als

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die konkreten, pädagogischen Folgen der durch ihren Glauben und den an ihm ausgerichteten Handlungen konkret gewordenen Erziehungspraxis. Die Erinnerung Rinks (1805: 14) an eine Stellungnahme Kants hierzu unterstreicht das: „Man sage dem Pietismus nach, was man will, genug! Die Leute, denen er ein Ernst war, zeichneten sich auf eine ehrwürdige Weise aus. Sie besaßen das höchste, was der Mensch besitzen kann, jene Ruhe, jene Heiterkeit, jenen innern Frieden, die durch keine Leidenschaft beunruhigt wurden. Keine Noth, keine Verfolgung setzte sie in Mißmuth, keine Streitigkeit war vermögend sie zum Zorn und zur Feindschaft zu reizen. Mit einem Wort, auch der bloße Beobachter wurde unwillkürlich zur Achtung hingerissen.“

Während sich Kant wohl hinreichend oft über die erzieherische Wirkung seiner Eltern geäußert haben muss, so dass sich Angaben zu ihren charakterlichen Eigenschaften in den Biographien finden, bleibt seine schulische Erfahrung wesentlich abstrakter. Abgesehen von seiner geweckten Begeisterung für lateinische Schriftsteller und seinen Lieblingslehrer Heydenreich muss sich Kant äußerst selten und wenn kritisch über seine Schule geäußert haben. Der Versuch seiner Lehrer zu Frömmigkeit zu führen, scheint tatsächlich ein Schema von Frömmigkeit bewirkt zu haben. Gerade dieser Unterschied zwischen tatsächlicher und scheinbarer Frömmigkeit weist darauf hin, dass sich die Wirkung erzieherischer Methoden der äußeren Wahrnehmbarkeit entzieht. Ob der Schüler seine Seelenberichte und seine Gebete ernst meint oder ohne tatsächliche Überzeugung aufsagt, entzieht sich der äußerlichen Überprüfbarkeit. Hier zeigt sich die zentrale Rolle der Person des zu Erziehenden im Erziehungsprozess. Zum einen werden Wirkung des Unterrichts und der schulischen Erziehung maßgeblich durch den Empfänger geformt und zum anderen weiß nur er selbst, welche Dispositionen damit tatsächlich erreicht wurden. Kants negative Schulerfahrung hätte auch für gänzliche Ablehnung der Lehre sorgen können, hat aber ein besonderes Interesse bewirkt oder ein vorhandenes bestärkt. Die Person als vermittelnde Dimension zwischen Theorie und Praxis Neben den allgemeinen Charakteristika von Erziehung (Ziele, Methoden und Wirkungen) weisen die biographischen Beschreibungen auf die persönlichen Eigenschaften der beteiligten Personen des Erziehungsprozesses hin. Dabei zeigt sich eine Spannung, die eine grundsätzliche Schwierigkeit von Erziehung als Formung zum Ausdruck bringt. So konkurrieren Aussagen wie Kant sei keiner Erziehung fähig und auch nicht bedürftig gewesen, da er ‚alles durch sich selbst‘ war (Jachmann), mit Formulierungen wie er sei seiner Mutter

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für die ‚erste Bildung des Charakters‘, der ‚Grundlage zu dem, was er später wurde‘ (Wasianski) sowie den durch sie gepflanzten und genährten ‚ersten Keim des Guten‘ (Jachmann) dankbar. Es finden sich Formulierungen mit passiver Tendenz, die Kants Erziehung als ein Geformt-Werden ausweisen. Er selbst spricht von der durch die Eltern ‚gewordene‘ oder der von den Eltern ‚gegebenen‘ Erziehung. In Bezug auf die Lehrer habe Heydenreich seine Schüler ‚zu dem Studium der römischen Klassiker so initiiert‘, dass Liebe für diese Kant ‚immer eingedrückt blieb‘ und die anderen Lehrer konnten zwar ‚keinen Funken zur Flamme bringen‘, aber ihn ‚ausblasen und ersticken‘ (Borowski). Damit konkurrieren Formulierungen mit aktiver Tendenz, die Kants Erziehung als Selbst-Formung ausweisen. So wird Kants ‚Wißbegierde‘ erwähnt (Heilsberg) oder, dass Knutzen ihm und mehreren zwar die Bahn vorgezeichnet habe, auf der es jedoch galt, ‚Selbstdenker‘ statt Nachbeter zu werden (Borowski). Kant stellte dem korrespondierend fest, er habe sich die Bahn selbst vorgezeichnet, die er halten wolle. Die skizzierte Spannung bringt die in der Aufklärung zentral gewordene Paradoxie zum Ausdruck: „Erziehung soll durch Anleitung Autonomie, die vernünftige Selbstbestimmung des Menschen ermöglichen.“ (Schäfer 2005: 97) Wenn diese Autonomie mit den Handlungen anderer ihren Anfang nimmt, sich auf sie gründet, dann ist der Mensch nicht ausschließlich durch sich selbst bestimmt und somit nicht völlig autonom. Doch hindert dieses theoretische Problem der Autonomie die Biographen nicht daran, das paradoxale Ineinander von erzieherischer Wirkung und selbstständigem Urteil zu beschreiben. Ihre Schilderungen setzen die Möglichkeit voraus, dass Andere auf eine Person und deren Entwicklung wirken: Dass Bahnen vorgezeichnet werden, auf denen es gilt, Selbstdenker zu werden. Dass Grundlagen zu dem gelegt werden, was man später wird. Dass der Charakter eine erste Bildung erfährt. Eltern und Lehrer treten als Formende auf. Doch wird deren Erziehen dabei nie als bloß passives Erleiden geschildert, sondern stets auch als Ergebnis eines aktiven Umgangs mit dem Erfahrenen. Kant tritt ebenfalls als Formender auf. Um Kants Bildungsprozess als Übergang vom Schüler zum Gelehrten zu schildern, behandeln die Biographen ihn zugleich als Geformten und Formenden. Die Perspektiven der frühen Kant-Biographen auf Erziehung zeigen somit ein Bewusstsein über das niemals unabhängige Werden des Einzelnen von Anderen. Zwar ist es richtig, dass es laut Schäfer (2005: 45) nach dem Selbstverständnis der Aufklärung möglich sei, „aufgrund einer kritischen und souveränen Distanz zu sich selbst und zu sozialen Erwartungen sich selbst in alleiniger Verantwortung zu bestimmen“. Doch kombinieren die biographischen Perspektiven auf Kants Erziehung zur Zeit der Aufklärung die Möglichkeit eines solch autonomen Selbst stets mit einem Bewusstsein über

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den Menschen als gesellschaftliches Wesen und somit in Abhängigkeit von anderen Personen, ihren Handlungen und deren Wirkungen. Die biographischen Schilderungen über Kants Entwicklung entfalten somit anschaulich das Spannungsfeld zwischen der Einwirkung von Anderen und seinem Umgang damit, zwischen Inspiration durch und Emanzipation von seinen frühen Erfahrungen. Sie zeichnen ein Bild von seiner Bildung, seines Lernens, seiner Erziehung, das zwischen „Formwerdung“ als selbstgestalteter, von innen heraus kommender Prozess, und „Formgebung“ als ein von außen an den zu bildenden Menschen herangetragenen Prozess oszilliert (vgl. Schelten 2004: 27). Mittlerweile hat sich in Psychologie und Pädagogik ein Bewusstsein darüber etabliert, dass Erziehung und gelingendes Lernen an das aktive Gestalten beiderseits gebunden ist: „(Zum Lernen) Erzogen werden ist niemals rein passiv, sondern es muss zugelassen und nachvollzogen werden. Ein von beiden Seiten aus aufeinander abgestimmtes Verhalten ist die notwendige Bedingung für Erziehung, wenn nicht sogar ihr Kern.“ (Kraus 2017: 744)

Die Versuche, Kants Entwicklung schriftlich darzustellen, zeichnen dieses Ineinander von Fremdem und Eigenem, ohne es explizit zu theoretisieren. Die biographische Darstellung von Kants Erziehung vermag dabei neben dem kennzeichnenden Theorie-Praxis-Verhältnis auf die Dimension der Person aufmerksam zu machen. Sowohl die Ziele, Absichten und Methoden (Theorie) als auch die wahrnehmbaren Situationen, Handlungen und Wirkungen (Praxis) zeigen sich als grundlegende Dimensionen der Erziehung gebunden an die sie vermittelnden Personen. Theorie und Praxis bedingen einander, sind aber nicht aufeinander zu reduzieren. Denn das Vermittelnde zwischen den beiden Dimensionen Theorie und Praxis ist die Person des Erziehers und das Vermittelnde zwischen erzieherischen Handlungen und deren Wirkungen ist die Person des zu Erziehenden. Um die Bedeutung der Dimension der Person für die Erziehung als Formungsprozess näher zu beschreiben, wird nun zuerst die Erzieherseite näher beleuchtet und dann die des zu Erziehenden. Begleitet von ihrer charakterlichen Besonderheit lässt die erziehende Person einerseits die grundlegende pädagogische Theorie oder Idee in ihren Handlungen lebendig werden und verwirklicht dabei andererseits ein wahrnehmbares Bild, das immer über die Theorie hinausgeht, von ihr abweicht oder ihr etwas hinzufügt. Damit lässt sich erklären, warum es verkürzend ist, die elterliche Erziehung, die auf einem pietistischen Glauben fußt, und deren Erziehungspraxis lediglich als pietistisch darzustellen. Das Handeln von Kants Eltern erschöpft sich nicht in der ihrer Entscheidungen und Erziehung

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fundierenden Theorie. Ihre Charaktere mit den beschriebenen Eigenschaften wie Redlichkeit, Verantwortungsbewusstsein und Wohlwollen bieten Kant ein orientierendes Beispiel und erzielen eine charakterlich stärkende Wirkung, die Kant auf sein Leben mit allen Möglichkeiten vorbereiten soll. Dasselbe lässt sich exemplarisch an Schultz für den akademischen Unterricht feststellen, dessen aufklärerische Grundeinstellung, die sich auch pädagogisch zeigte, durch das Pietismus-Etikett verkürzt wird. Dass neben den theoretischen Zielen und Methoden sowie formulierbaren Regeln gerade der sich in der praktisch-konkreten Erziehungssituation zeigende Charakter des Lehrers die erzieherische Wirkung beeinflusst, hat sich bereits in den Rechtfertigungen der Biographen zu Beginn angedeutet. Sie bemühen sich, eine Quelle neben den Schriften aus Beobachtungen und Erinnerungen zu generieren, um in den Worten Wasianskis Kant als ‚Mensch in seinen Menschlichkeiten‘ kennenzulernen und sich ‚mit dem Charakter, mit der Denk- und Handlungsart‘ zu beschäftigen, oder wie Jachmann es ausdrückt, ‚ihn auch ganz als Lehrer und Menschen kennen zu lernen‘. Auch der für die historische Einordnung der erzieherischen Aufgabe der Universität herangezogene Bericht von Arnoldt gibt Hinweise in diese Richtung. Zwar werden Regeln für die Hochschullehrer formuliert, aber durch die Berufung auf ‚das natürliche Gewissen‘, ‚die Liebe des Nächsten‘ und ‚die Sorge für das gemeine Beste‘ erhält die sich institutionellen, äußeren Eingriffen entziehende, innerliche Einstellung des Lehrers Gewicht. Der Blick auf die individuelle Gestaltungs- und Wirkungsdimension von Erziehung weist neben den theo­ retisch formulierbaren Zielen und Methoden den beteiligten Personen und ihren Charakteren eine zentrale Rolle zu. Die durch Ziele und Methoden angezeigte Planbarkeit erhält durch die Dimension der Person auf Seiten des Lehrers eine Grenze. Ziele und Methoden werden in der Erziehungspraxis stets von der Persönlichkeit, dem Charakter des Lehrers und Erziehers begleitet und erhalten erst dabei praktische Wirkkraft. Gegenüber Expertentum und Kompetenzen kommt der Lehrerpersönlichkeit in aktuellen Forschungen eher wenig Aufmerksamkeit zu. Ludwig Haag und Doris Streber (2020: 8) zeichnen dafür den der beschriebenen Individualität konkurrierenden Kern der Wissenschaft verantwortlich: „‚Scientia non est individuorum‘, für individuelle Persönlichkeiten scheint es keinen Spielraum zu geben, wenn Unterricht unabhängig von privaten Dispositionen wissenschaftlich begründet nach allgemeinen Regeln ablaufen soll.“

Nicht nur die individuelle Persönlichkeit des Lehrers bereitet einer wissenschaftlichen Erfassung Probleme. Die Dimension der Person erstreckt sich

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auch auf die Empfängerseite. Wie Theorie und Charakter des Erziehers in der Erziehungspraxis letztlich wirken, zu welchem Ergebnis hinsichtlich der verschiedenen Dispositionen der Erziehungsprozess führt, hängt ab von der individuellen Wertung des Empfangenen, die ebenfalls für eine nicht kalkulierbare Unschärfe sorgt. Neben dem Lehrer ist der Schüler selbst ein wichtiger, formender Faktor für das Ergebnis der Erziehung. Die pädagogische Wirkung von Kants Eltern und Lehrern anzuerkennen bedeutet nicht, seine Dispositionen, seinen aufklärerischen Geist und Charaktereigenschaften, auf diese Einflüsse zu reduzieren. Bereits als Kind bemerkte seine Mutter ‚seinen Scharfsinn und seine Fassungskraft‘ (Wasianski). Im Studium half er früh anderen Studenten beim Lernen. Während seiner Einschreibung 1740 und dem Einreichen seiner akademischen Erstlingsschrift im Sommersemester 1746 wurde Kant auf mehreren Ebenen selbstständig. Er bezog eine eigene Unterkunft und verdiente etwas zu seinem Lebensunterhalt dazu, wählte seine Vorlesungen gemäß seiner Vorstellung von einer möglichst umfassenden Bildung, konzentrierte sich hauptsächlich auf sein wissenschaftliches Fortschreiten, wählte sich seine Freunde und seine Freizeitbeschäftigungen mit Bedacht. Selbstständigkeit war ohnehin eine Charaktereigenschaft, auf die er großen Wert legte. Laut Jachmann (1804: 65f.) habe er bereits seit seiner Jugend „das Bestreben gehabt, sich selbstständig und von Jedermann unabhängig zu machen, damit er nicht den Menschen, sondern sich selbst und seiner Pflicht leben durfte“. Als Ergebnis des Studiums zeigen sich die charakterlichen Eigenschaften Kants, die bereits sein studentisches Leben formten: Selbstständigkeit und Wissbegierde. So selbstständig er sich seine Vorlesungen seiner Vorstellung eines möglichst umfassenden Wissens gemäß wählte, so versuchte er mit seinem erworbenen Wissen umzugehen. Das unterstreicht das einleitende Zitat seiner ersten akademischen Arbeit aus Senecas De vita beata: „Auf nichts haben wir mehr zu achten, als daß wir nicht wie das Vieh der Herde der Vorangehenden folgen und entlangtrotten, nicht wo man gehen soll, sondern wo man geht.“ (GSK, AA 01: 7) Er fand seinen eigenen wissenschaftlichen Weg nicht in dem Wiedergeben einer Lehre oder Theorie, sondern setzte „ein gewisses edles Vertrauen in seine eigenen Kräfte“ und versuchte scheinbar Konträres zu vereinen (ebd.: 10). Die Vorrede von Kants erstem akademischen Werk liest sich gewissermaßen als Nachweis über den erzieherischen Effekt seines Studiums. Das Resultat als Ich, welches sich hier selbstbewusst um Wahrheit in den Wissenschaften bemüht, ist in diesem Vorwort sehr präsent. Kant hatte den akademischen Raum und das Wirken seiner Hochschullehrer genutzt, um sich in den Wissenschaften zu bilden. In diesem Bildungsprozess als Übergang vom Lernenden zum Gelehrten ist er zugleich Formender und Geformter. Kants

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Erfahrung und Werdegang als Student an der Universität resultieren in einem zuversichtlichen Blick auf die eigenen Fähigkeiten, die es gilt für die wissenschaftliche Wahrheitssuche zu nutzen. Dass die durch Erziehung zu fördernden Dispositionen bereits schon angelegt sind und einen aktiven Anteil an der Erziehung als Formung haben, darauf weisen auch die historischen Quellen hin. So werde laut Schifferts Bericht für Schüler, bei denen ein ‚munteres und aufgewecktes Ingenium‘ bemerkt wurde, das übliche Schulgeld reduziert oder sogar ganz ausgesetzt. Arnoldts Bericht weist für einen tatsächlichen Lernerfolg neben den Aufgaben des Lehrers auf die dafür ‚nötige Fähigkeit‘ und ‚gehörige Aufmerksamkeit‘ seitens des Schülers hin. Neben der Person des Erziehers nimmt die Person des zu Erziehenden eine vermittelnde Position zwischen Erziehungspraxis und Wirkung ein. Erziehung als Einflussnahme auf Dispositionen zeigt sich somit in Abhängigkeit von den je bereits vorhandenen Dispositionen. Die Person als Bedingung, Grenze und Problem von Erziehung Der Blick auf die biographische Darstellung von Kants Lernen zeigt, je konkreter die Personen und damit ihre Individualität in Erscheinung treten, desto mehr verlieren begriffliche Konzeptionen an Aussagekraft. Dass Kant zu dem wurde, der er war, dass er etwa den Pietismus, der als theoretische Konzeption die von ihm erfahrenen Formen von Erziehung prägte, weder blind bejahte noch strikt ablehnte, sondern differenziert kritisierte, zeigt sich als individuelles Ereignis. Klemme (1994: 44) sieht entsprechend in den negativen Äußerungen keine „Bekenntnisse eines mit seinen traumatischen Kindheits- und Jugenderfahrungen kämpfenden alten Mannes“, sondern eine hochreflektierte „Auseinandersetzung mit den Prinzipien menschlicher Erfahrung, die auf ihrer abstraktesten Ebene die der Transzendentalphilosophie sind“. Dass Kant selbst Lehrer wurde, ein Interesse an Bildung und Lehre entwickelte, in seiner Philosophie den Reflexionsgrad der Transzendentalphilosophie erreichte, erschöpft sich nicht in den Personen, denen er begegnete, deren erzieherischen Absichten und Methoden, ist aber auch nicht unabhängig von ihnen. Seine Dispositionen als Gegenstand der Formung verweisen auf einen personalen Kern, der stets angelegt ist und alle Einflüsse und Wirkungen begleitet, ermöglicht, begrenzt. Diesen Kern zu erfassen und zu formulieren, entzieht sich äußerlichen, objektiven und wissenschaftlichen Methoden. Wie Ritzels Hinweis verdeutlicht, markiert das nicht zu fassende Individuum auch die Grenze des Versuches einer Biographie und lässt biographische Arbeit zu einem selbst durch Individualität gekennzeichneten Streben nach einer Idee werden. Wie Worte, Methoden und Inhalte von Eltern und Lehrern letztlich wirken, zu welchem Ergebnis ein Erziehungsprozess führt, entzieht sich einer sicheren

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Planbarkeit. Weder lassen sich die Methoden aus den Zielen notwendig deduzieren oder die theoretischen Überlegungen ohne persönliche Färbung in die Praxis und somit zur Wirkung bringen (Person des Erziehenden), noch lässt sich durch eine Erziehungspraxis notwendig eine Wirkung vorhersagen (Person des zu Erziehenden). Die Diskussion der rekonstruierten pietistisch-geprägten Erziehungsformen lässt neben Theorie und Praxis die Person als dritte Dimension der Erziehung erkennen (vgl. Böhm 2011: 118-181; Flores D’Arcais 2017; Haag/Streber 2020: 145-164). Da Ziel, Gestaltung und Effekt des Lehr-Lern-Prozesses von den stets individuellen Personen abhängen, markiert die Grenze und die Möglichkeit eines Einflusses auf die Person (initiiert durch Andere oder sich selbst als Formenden) die Grenze und Möglichkeit von Erziehung als intentionalen Formungsprozess. Den Lehrer Kant als Menschen zum Thema zu machen, beinhaltet den biographischen Versuch, seinen individuellen Entwicklungsgang nachzuzeichnen und macht dabei auf die zentrale Rolle der Person aufmerksam. Mit dem historischen Blick auf die agierenden Personen stellt sich das Lernen in Bezug auf Erziehung als komplexer Formungsprozess dar, der wechselseitig die Momente passiven Geformt-Werdens mit aktiver SelbstFormung verbindet. Dabei zeichnen sich folgende Grundstrukturen mit je eigenen Problemen ab: 1.

2.

3.

Erziehung verfügt als intendiertes Handeln über eine teleologische Struktur, die sie zu einem theoretischen Gegenstand werden lässt. Kants Eltern und seine Lehrer an Schule und Universität verfolgen mit ihren Tätigkeiten Ziele: Gottesfurcht, Fleiß, Frömmigkeit, Wissenschaft, Tugend, Wandel. In dieser Perspektive auf Erziehung stellt sich das „Legitimationsproblem“ (Schäfer 2005: 12): Wie lässt sich die Richtigkeit dieser Ziele rechtfertigen? Die Erziehungspraxis orientiert sich methodisch an den Zielen und wählt Mittel, um diese zu erreichen. Über diese theoretischen Überlegungen erhalten die Handlungen eine gewisse Stabilität und Planbarkeit: Fromme Lehren, tugendhaftes Beispiel, Strenge, erweckliche Gebete, öffentliche Predigten, private Inspektionen des Seelenzustandes, Vermeidung unnötiger Ausschweifungen, vorbereitete, begreifliche und lebhafte Vorträge, thetisch-antithetische Methode. In dieser Perspektive auf Erziehung stellt sich das „Wirkungsproblem“ (Schäfer 2005: 12): Wie lässt sich die pädagogische Effektivität der Methoden nachweisen? Erziehung als Einflussnahme von Personen auf die Persönlichkeit konstituiert sich aus einem Ineinander von Fremdem und Eigenem, von Leiden und Handeln. Die Erzieher interagieren mit dem Vorhandenen:

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Sie pflanzen und nähren Keime, öffnen für Eindrücke, wecken den Geist, erweitern Begriffe, initiieren zum Studium, bereiten zu künftigen Tätigkeiten zu, zeichnen Wege vor, drücken ein, blasen Funken aus, nehmen Einfluss auf das Leben, die Richtung der Denk-und Verfahrensart. Ihr Wirken richtet sich auf das Werden des Menschen und wird dabei durch das vorhandene Sein begrenzt. Kants Eigenschaften werden nicht nur als Ergebnis von Erziehung geschildert, sondern als etwas, das seine Art, sein Wesen, seinen Umgang kennzeichnet: Aufmerksamkeit, Folgsamkeit, Achtung, Scharfsinn, Fassungskraft, Wissbegierde, Selbstständigkeit, Fähigkeiten, Talente, Anlagen. In der biographischen Perspektive auf das Werden der Persönlichkeit stellt sich in Hinblick auf die Erziehung das Problem der Person: Wie wird man eine Person? Diese Frage begleitet sowohl das Legitimationsproblem (denn legitim kann nur sein, was dem Personwerden förderlich ist) als auch das Wirkungsproblem (ein erzieherischer Effekt ist nur möglich, wenn eine Einflussnahme auf das Personwerden möglich ist) und es deutet sich gleichsam eine Aporie von Erziehung an: Kann der Mensch nur das werden, was er ursprünglich ist? Die Diskussion hat zum einen auf Charakteristika der Erziehung (Ziele, Methoden und Wirkungen) sowie Dimensionen der Erziehung (Theorie, Praxis und Person) aufmerksam gemacht. Zudem weist die Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Problembewusstsein auf das paradoxale Ineinander von Formung und Geformt-Werden und das zentrale Problem einer aufklärerischen Auffassung von Erziehung hin: Die Bahn vorzuzeichnen, auf der es gilt, ‚nicht Nachbeter, sondern Selbstdenker‘ zu werden (Borowski), durch ‚keine Fehler der Erziehung‘ ‚das Geschäfte späterer Selbstbildung’ zu erschweren (Wasianski), ‚Alles durch sich selbst‘ zu sein und dennoch anderen ‚den ersten Keim des Guten‘ zu verdanken, den sie pflanzten und nährten (Jachmann). Das aufklärerische Problembewusstsein und die systematisch adressierten Probleme von Erziehung (Legitimation, Effektivität und Aporie) kreisen um die Konstitution des Subjekts: „Selbstbildung ist deshalb die zentrale Prämisse der Bildungsreflexion, wenn sie die Form des Bildungsprozesses thematisiert, aber auch dann, wenn sie Kriterien wirklicher Bildung und legitimer Erziehung formuliert und die Bedingungen ihres Gelingens thematisiert. Diese Emphase für das Selbst, das seine eigene Bildung betreibt, verdankt sich den anthropologischen Prämissen der Freiheit und Autonomie des Subjekts als den zentralen Referenzen der Konstruktion und Bestimmung des Menschen. Aber diese Referenzen erzeugen auch die Probleme der Beantwortung der Frage, wie denn Selbstbildung im Aufwachsen in einer Gesellschaft überhaupt möglich ist.“ (Tenorth 2020: 68)

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Philosophisch stellen sich in Bezug auf das aufklärerische Problembewusstsein der Selbstbildung basale Fragen: Wie lässt sich durch das Denken anderer ein Selbstdenken bewirken, wie durch die Interaktion mit den Beispielen Anderer ein Charakter bilden? Eine sinnvolle und aussichtsreiche Antwort auf diese Fragen zu geben, sieht sich konfrontiert mit den Problemen der Legitimität und Wirksamkeit sowie der mit dem Problem der Person verbundenen Aporie der Erziehung. Das an den rekonstruierten Formulierungen diskutierte, aufklärerische Problembewusstsein deutet auf die grundsätzliche Spannung zwischen der für die Aufklärung zentralen Selbsttätigkeit der Person und dem ebenfalls stets deutlichen sozialen Zusammenhang mit den Handlungen anderer Personen hin. In diesem pädagogischen Problemhorizont stehen auch Kants Ziele und Methoden als Lehrer der Aufklärung.

Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Der Königsberger Pietismus als historische Verbindungslinie Kants zum Pädagogischen

Die Formen von Erziehung, die Kant in Familie, Schule und Studium erfuhr, haben auf den Königsberger Pietismus rund um Schultz als pädagogische Strömung hingewiesen. Als Professor war Schultz, ähnlich wie Knutzen, durch seine wissenschaftliche Grundbestrebung, den Pietismus mit dem rationalen Ansatz von Wolffs Philosophie zu verbinden, ein frühes pädagogisches und didaktisches Beispiel für Kant. Für einen Aufschluss über seine Herangehensweise an pädagogische Probleme gilt es, den Königsberger Pietismus als historische Verbindungslinie Kants zum Pädagogischen anzuerkennen. Wie Fehr (2005: 51f.) zeigt, versuchte Schultz in seinem Unterricht, das unabhängige Denken seiner Schüler zu fördern, bestand auf die offene Auseinandersetzung mit Kritikern des theologischen Systems, ermutigte sie dazu, ihre Zweifel über die dogmatische Lehre zu äußern oder ihre Fragen schriftlich und anonym über einen Kasten einzureichen und hatte bereits im Wintersemester 1732/33 eine „thetisch-antithetische Methode in die Dogmatik“ eingeführt, in der Satz und Gegensatz dialektisch nebeneinander geordnet werden, um Zweifel an dogmatischen Thesen wissenschaftlich zu prüfen (ebd.: 52). Zu den allgemeinen Wirkungen des Pietismus, wie Kant ihn als persönlichen Glauben seiner Eltern erfahren hatte, zählte die Aufwertung des individuellen Innerlichen etwa als charakterliche Stärke und die Konzentration auf aktives Handeln und Verbesserung menschlicher Praxis und Gemeinschaft. Die bloße Gegenüberstellung des Pietismus zur Aufklärung und ihren Leitideen erweist sich als ebenso problematisch wie die schlichte Ein- und Unterordnung in die Aufklärungsepoche (vgl. Benner/ Brüggen 2011: 100-106). Wie die Exegese des

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Erziehungsbegriffs zeigen wird, gibt es eine zentrale Ähnlichkeit zwischen Kants späterer Konzeption der Charaktergründung als ‚Revolution der Denkungsart‘, ‚Herzensänderung‘ und ‚Wiedergeburt‘ mit der pietistischen Auffassung des Bekehrungserlebnisses. Beide können zwar pädagogisch nie direkt herbeigeführt werden, da es die Tat des Charaktergründers bzw. Bekehrten sein müsse, aber da sie gleichsam das Ziel pädagogischen Handelns sind, können sie auch nicht dem Zufall überlassen werden, weswegen nach einer methodischen Veranlassung gesucht wird. Der detaillierte Vergleich von Anna Szyrwińska (2017: 179-256) von Kants ethischem Motivationsmodell mit dem von Philipp Jakob Spener zeigt ebenfalls bedeutsame Analogien: Sie lehnen beide ein rein externalistisches Motivationsmodell ab, doch erteilen ebenfalls dem radikalen Internalismus eine Absage. Wird der Pietismus als pädagogischer Einfluss auf Kant in Betracht gezogen, stellt dabei die institutionalisierte Form des Pietismus am Fridericianum einen Sonderfall dar. Aus Schifferts Bericht geht hervor, dass diese Form für Kants pädagogische Überlegungen eine Art Negativfolie darstellte: Der streng reglementierte Schulalltag, das ständige Beten, Wiederholen und die Kontrolle, die sogar durch Inspektionen des Seelenzustandes nicht einmal vor dem Innenleben der Schüler Halt machten. Wie die in der Rekonstruktion seiner Unterrichtspraxis angeführten Beobachtungen der Studenten Kants zeigen, lässt sich für seinen eigenen Unterricht Gegenteiliges feststellen: Er stellte kaum Wiederholungen an, gestaltete seine Vorlesungen in einem freien Stil und forderte seine Schüler auf, nicht Gedanken, sondern Selbstdenken zu lernen. Die Rekonstruktion von Kants eigener Erziehung und seiner Unterrichtspraxis unterstützt Klemmes (1994: 44) Feststellung, in der Pietismuskritik eine „Auseinandersetzung mit den Prinzipien menschlicher Erfahrung, die auf ihrer abstraktesten Ebene die der Transzendentalphilosophie sind“, zu erkennen. Eine wertneutrale Untersuchung des Königsberger Pietismus als historische Verbindungslinie kann sich für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘ als eine fruchtbare Ergänzung erweisen, denn es zeigen sich neben Abgrenzung und Kritik auffällige Parallelen. Der Pietismus wendet sich in pädagogischer Hinsicht nicht nur Gott, sondern auch der Welt und der Nützlichkeit in der Welt zu. Kant bemühte sich ebenfalls mit seiner Anthropologie und Physichen Geographie um ein praktisch ausgerichtetes Unterrichtsangebot. Eine konzeptionelle Anregung zu dem didaktischen Blick auf die Welt in seiner Physischen Geographie erhielt er bereits durch sein geographisches Lehrbuch am Fridericianum, in dem sich die ‚dreifache Betrachtung der Erdkugel‘ in mathematischer, physischer und politischer Hinsicht findet, die, wie Klemme (1994: 51f.) anmerkt, bereits 1716 von Wolff ähnlich formuliert wurde. Die biographische Rekonstruktion von Kants Erziehung macht auf diese historische Verbindungslinie aufmerksam.

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Kapitel 1

Vergleicht man die in der biographischen Rekonstruktion erarbeiteten pädagogischen Ziele in Familie, Schule und Universität Kants, lässt sich als gemeinsames Merkmal die Ausrichtung auf Gott sowie ein gelingendes Zusammenleben in der Gemeinschaft feststellen. Als gemeinsames Merkmal der pädagogischen Methoden lässt sich das ‚gute Beispiel‘ ausmachen, mit dem die erziehenden Personen eine Wirkung in Hinsicht auf ihre Absichten zu erzielen versuchen. Die folgende Tabelle fasst noch einmal überblicksartig die in den Quellen aufgefundenen pädagogischen Ziele und Methoden zu Beginn des 18. Jahrhunderts zusammen, die Kant als Sohn, Schüler und Student begegneten:

Abb. 1

Historische Stimmen zu Kants pietistischer Erziehung [ED]

Kapitel 2

Die Formen von Erziehung in Kants Unterrichtspraxis als Privatdozent, Professor und öffentlicher Gelehrter Dieses Kapitel legt den Fokus auf das praktische Moment des Pädagogischen und erarbeitet die Formen von Erziehung in historischer Perspektive auf Kants Unterrichtspraxis: Wie hat Kant gelehrt, wie wurde er als Lehrer wahrgenommen und wie hat er selbst über sich als Lehrer gedacht? Im Appendix findet sich ein Panorama über die von ihm genutzten Kompendien und deren Autoren. Es präzisiert seine Lehrpraxis durch einen Einblick in die Themenpalette seines Unterrichts und erlaubt einen Eindruck über die didaktischen Annahmen von Hochschullehrern des 18. Jahrhunderts. Die Ergebnisse werden in die Rekonstruktion miteingebunden, um Kant als Lehrer unter anderen Lehrern der Aufklärung zu verorten und seine pädagogischen Intentionen und Reflexionen zu vergleichen. Kant hielt über vier Jahrzehnte an der Universität Königsberg Vorlesungen, bot praktische Übungen für seine Studenten an und nahm Prüfungen ab. Auch wenn es keinen Zweifel daran gibt, dass Kant ein Lehrer war, so gibt es doch unterschiedliche Einschätzungen über die Bedeutung, die seine an der Albertina praktizierte Lehre für ihn hatte. Bereits zu Beginn seines neunten Semesters als Privatdozent brachte er in einem Brief an Johann Gotthelf Lindner seine Ablehnung gegenüber der Lehrtätigkeit als notwendigen, aber lästigen Gelderwerb zum Ausdruck: „Ich meines theils sitze täglich vor dem Ambos meines Lehrpults und führe den schweeren Hammer sich selbst ähnlicher Vorlesungen in einerley tacte fort. Bisweilen reizt mich irgendwo eine Neigung edlerer Art mich über diese enge Sphäre etwas auszudehnen allein der Mangel mit ungestühmer Stimme so gleich gegenwärtig mich anzufallen und immer warhaftig in seinen Drohungen treibt mich ohne Verzug zur schweren Arbeit zurück.“ (Br, AA 10: 18f.)

Zusammen mit den Informationen darüber, dass er seine Hauslehrertätigkeit aus Not heraus aufnahm und er die Vorlesungen über Pädagogik nur auf staatliche Anordnung hielt, ließe sich begründet an Kants pädagogischem Interesse zweifeln. Etwa Kühn (2012: 55) schließt in diesem Zusammenhang, die Lehre sei für Kant kein wahres, inneres Bedürfnis gewesen. Sollte Kant 82 Semester aus Mangel oder Sorge um seine Existenz an der Universität gelehrt haben?

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752692_004

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Kapitel 2

Das stände in Kontrast zu der selbstbestimmten Persönlichkeit, die Kants Biographen schildern und sein beruflicher Werdegang zeichnet ebenfalls ein anderes Bild. Während Borowski (1804: 30) sich für Kants Hauslehrertum tatsächlich auf „die Lage seiner Umstände“ beruft, gibt er für sein Erlangen der Magisterwürde und die Aufnahme seines Dienstes an der Universität einen anderen Grund an: „[D]ie gesammelten Kenntnisse für die Jünglinge, die auf derselben leben, nützlich anwenden zu können“ (ebd.: 32). Kants Entscheidung zur Lehre wird mit ihrer Nützlichkeit begründet. Dementsprechend bezeichnet Borowski (1804: 37) die Professur Kants als „Ziel seiner Wünsche“, der königsbergischen Universität „als ordentlicher Lehrer nützlich zu werden“. Die Verwirklichung dieses Ziels belegt, dass er nicht nach einer beliebigen Universitätsanstellung suchte, sondern sich bewusst für den Beruf des philosophischen Hochschullehrers entschied und konkret das Ziel verfolgte, ordentlicher Professor für Logik und Metaphysik in Königsberg zu werden. Nachdem er zum Wintersemester 1755/56 seine Vorlesungstätigkeit als Privatdozent an der Albertina aufgenommen hatte, schrieb er im April 1756 an den König: „Die Begierde mich in einer von denen philosophischen Wißenschaften vorzüglich zu habilitiren, veranlaßet mich Ew: Königl. Majestät in tiefster Unterthänigkeit um die durch das Absterben des Seel. Prof. Knutzen erledigte außerordentliche Profeßion der logic und metaphysic auf der hiesigen academie anzuflehen.“ (Br, AA 10: 3)

Dieser erste Versuch schlug fehl, doch nach dem Tod von Professor Kypke versuchte Kant erneut, den Lehrstuhl für Logik und Metaphysik zu bekommen. Er schrieb dazu im Dezember 1758 an den Rektor und den Senat, die philosophische Fakultät und die russische Kaiserin Elisabeth, da Königsberg damals unter russischer Besatzung stand. Der Erfolg blieb jedoch erneut aus. Ein Rückschlag für sein Ziel ordentlicher Professor zu werden, der auch den frustrierten Ton über die eintönige Lehre in dem Brief an Lindner erklären könnte. Während ein ordentlicher Professor für seine Tätigkeit ein bestimmtes staatliches Gehalt erhielt, finanzierten sich Privatdozenten über ihre studentischen Zuhörer. Das Einkommen war davon abhängig, wie viele Zuhörer sich für eine Vorlesung pro Semester in dem angebotenen Kurs einfanden. Die Nützlichkeit der Lehre wird auch von Kant selbst deklariert und weist bereits auf die mit ihr verbundene, erzieherische Intention hin. In einem Brief an Herz im April 1778 zeigt sich, welches Gewicht das Pädagogische in seinen akademischen Aufgaben einnahm. Er meinte, in seinem Schüler Herz einen Beweis dafür zu erkennen, dass sein „akademisches Leben in Ansehung des

Die Formen von Erziehung in Kants Unterrichtspraxis

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Hauptzweks“, den er „iederzeit vor Augen habe nicht fruchtlos verstreichen werde, nämlich gute und auf Grundsätze errichtete Gesinnungen zu verbreiten, in gutgeschaffenen Seelen zu bevestigen und dadurch der Ausbildung der Talente die einzige zweckmäßige Richtung zu geben“ (Br, AA 10: 230f.). Elf Jahre später formulierte Kant in einem weiteren Brief an Herz: „Das edle Gefühl der Dankbarkeit, für den gringen Beytrag, den ich zu Entwickelung ihrer vortreflichen Naturanlagen habe thun können, unterscheidet Sie von den meisten meiner Zuhörer; was kan aber, wenn man nahe daran ist, diese Welt zu verlassen, tröstender seyn, als zu sehen, daß man nicht umsonst gelebt habe, weil man einige, wenn gleich nur wenige, zu guten Menschen gebildet hat.“ (Br, AA 11: 48)

Es finden sich weitere Hinweise dafür, dass Kant ein über finanzielle Absiche­ rung hinausgehendes Interesse an der von ihm angestrebten Professur hatte. Als ihm die Regierung 1764 die Professur für Dichtkunst und Rhetorik anbot, lehnte er die Stelle ab. Genauso wichtig wie der Inhalt seiner Professur schien ihm seine Heimatstadt gewesen zu sein, denn einen Ruf von der Universität Erlangen als theoretischer Professor für Logik und Metaphysik lehnte er im Dezember 1769 ebenfalls ab. Im März 1770 machte er ob der vakanten Professur für Mathematik den König erneut auf sich aufmerksam, beschrieb seinen „Fleis und Beyfall in Academischen Vorlesungen“ und seine „Gewissenhaftigkeit […] sich nur zu denen Stellen zu melden, die man mit Ehre bekleiden kan“ (Br, AA 10: 93). Dieser von ihm initiierte Tausch führte zum Erfolg. Er erreichte 1770 sein berufliches Ziel und kam im Anschluss der mit seiner Professur verbundenen Lehrtätigkeit bis zum Sommersemester 1796 unausgesetzt nach. Die Amtstätigkeit erweitert den zeitlich wie thematisch beeindruckenden Umfang von Kants Lehrtätigkeit. Insgesamt kam er in dem Zeitraum von 41 Jahren auf 279 Vorlesungen in dreizehn verschiedenen Fächern. Eine Orientierung über Zeitraum und Umfang der akademischen Lehrtätigkeit Kants ermöglicht die Tabelle von Naragon (2006a; s. Abb. 2). Im Durchschnitt ergibt sich ein Angebot von 3,5 Kursen pro Semester, wobei die praktischen Übungen, die er ebenfalls angeboten hat, nicht in der Tabellenübersicht enthalten sind. Die meisten Kurse fanden vier akademische Stunden á 45 Minuten pro Woche statt, außer Anthropologie und Physische Geographie mit je zwei Stunden und Pädagogik mit je einer Stunde wöchentlich. Trotz einiger Ferienzeiten lässt sich bereits erahnen, dass die Vorlesungen Kants Leben prägten und einen Großteil seiner zeitlichen Ressourcen beanspruchten.

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Kapitel 2

Oben wie unten markieren die Punkte das jeweilige Winter-, die Zahlen das jeweilige Sommersemester der Lehrdekaden. Links finden sich die Unterrichtsfächer, rechts die Gesamtzahl der jeweiligen Vorlesungen. Die Zahlen der untersten Spalte zeigen die Gesamtzahl der Vorlesungen des jeweiligen Semesters, rechts unten als Gesamtsumme abgebildet. Ein Kringel zeigt, die Vorlesung lässt sich belegen, das N gibt an, dass eine studentische Mitschrift vorhanden ist. Abb. 2

Überblick der Lehrtätigkeit Kants von Narragon (2006)

Der Umfang von Kants Lehrtätigkeit und seinen Ämtern, die Schilderungen seiner Biographen und die von ihm zum Ausdruck gebrachte erzieherische Intention weisen auf die bedeutende Rolle der Lehre in seinem Leben hin. Jedoch handelt es sich dabei um Hinweise, nicht um Beweise. Die Rekonstruktion von Kants Formen der Erziehung in seinem Unterricht weiß sich demselben Problem ausgesetzt, das Ritzel (1985a: 3) für das Vorhaben einer Biographie beschreibt: Das Streben nach der „Wiedergabe des Bildes, das er selbst von sich hatte, und dessen, das andere sich von ihm machten“ bleibt ein Anspruch ohne Gewähr. Wenn im Folgenden die Ziele, Methoden und Wirkungen von Kants Unterricht anhand historischer und biographischer Quellen erarbeitet werden, lässt sich an der Treffsicherheit des entstehenden Bildes zweifeln, ebenso wie an dem Wahrheitswert jeder Aussage von Personen (Wird tatsächlich das gemeint, was gesagt wird?). Ob Kant das, was er in seinen Briefen schrieb, tatsächlich so meinte oder Konventionen folgte, lässt sich ebenso wenig nachweisen, wie ob die Schilderungen der Zeitgenossen Tatsachen entsprechen oder andere Ziele wie Höflichkeit oder Schmeichelei verfolgten. Wie bereits bei der Rekonstruktion der Erziehung Kants als Sohn, Schüler und Student soll das Beschriebene nicht auf allgemeine Gültigkeit geprüft werden. Beabsichtigt wird ein Kennenlernen und Vergegenwärtigen der historisch-konkreten Rahmenbedingungen von Kants Lehre sowie deren Ziele, Methoden und Wirkungen, um Kant möglichst umfassend als Lehrer der Aufklärung vorzustellen.

Die Formen von Erziehung in Kants Unterrichtspraxis

2.1

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Selbstdenken als Ziel philosophischen Unterrichts: Die ersten Jahre als Privatdozent (Winter 1755/56 – Winter 1769/70)

Nach der Einreichung seiner lateinischen Dissertation Über das Feuer und dem Examen promovierte Kant am 12. Juni 1755 öffentlich zum Magister. Seine Rede zu diesem Anlass ist heute leider nicht mehr erhalten. Borowski lag ihre Abschrift beim Abfassen der Biographie noch vor und dadurch ist bekannt, dass sich Kant für seinen akademischen Auftakt ein philosophie-didaktisches Thema aussuchte: „K. spricht darin vom leichtern und gründlichern Vortrage der Philosophie.“ (Borowski 1804: 32) Es ist wahrscheinlich, dass die Rede in Zusammenhang mit dem dritten Hauptteil von Friedrich Meiers Vernunftlehre Von dem gelehrten Vortrage stand, auf den Kant in seinen späteren Vorlesungen über Logik öfter zu sprechen kam (vgl. Lehmann 1966: 955). Um die venia legendi, die Erlaubnis zur Lehre an der Universität, zu erhalten, war damals eine zweite Dissertation nötig. Kant erfüllte diese Auflage am 27. September mit der öffentlichen Verteidigung seiner lateinischen Schrift Eine neue Beleuchtung der ersten Prinzipien der metaphysischen Erkenntnis. Zum Winter 1755/56 nahm er seine Lehrtätigkeit als Privatdozent an der Albertus-Universität in Königsberg auf und führte sie über die nächsten 15 Jahre bis zu seiner Ernennung zum ordentlichen Professor fort. Die Rahmenbedingungen von Kants Unterrichtspraxis als Privatdozent an der Albertina Ursprünglich war die Rolle der Privatdozenten von der Universität im 16. Jahrhundert als Ergänzung zu den Vorlesungen der ordentlichen Professoren angedacht. Sie sollten die dort vorgetragenen Inhalte wiederholen und den weniger selbstständigen Studenten „mit gutem Rath und nöthiger Ermahnung an die Hand gehen“ (Arnoldt 1746: 212). Diese Privatstunden entwickelten sich im Laufe der Zeit vom Wiederholen und der unterstützenden Hilfe bei Aufbau und Umsetzung des Studiums weiter. Im  18. Jahrhundert bestand der Unterschied an der Albertina zu den öffentlichen Vorlesungen nunmehr darin, dass „dieselben Wissenschaften und Materien vor ein billiges, so in den öffentlichen Stunden umsonst, vorgetragen werden“ (ebd.: 217). Ab 1704 gab es zur Regelung „gewiße Leges aus den academischen Statuten so wol als den Statuten der philosoph. Facultät zusammen getragen und gedruckt“, zu denen sich die Privatdozenten per Handschlag bekannten (ebd.: 220). Sie verlangten etwa, dass nie dasselbe Thema eines ordentlichen Professors zur selben Zeit vorgetragen und keine Vorlesung am schwarzen Brett ohne das Wissen des Dekans und der ordentlichen Professoren angekündigt wurden. Da der offizielle Lehrkatalog nur die Vorlesungen der Professoren ankündigte,

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Kapitel 2

nutzten Privatdozenten andere Möglichkeiten, um für ihre Kurse zu werben und verteilten kurze Programme ihrer geplanten Veranstaltungen. Insgesamt gibt es sieben solche Programmschriften Kants, von denen sechs in die Privatdozentenzeit fallen (vgl. Naragon 2006i). Ihr Zweck bestand in der Information für und Werbung von Studenten für die jeweiligen Semestervorlesungen, weswegen sich Kant 1790 in einem Brief an Johann Friedrich Blumenbach gegen eine Neuveröffentlichung dieser Schriften aussprach. Trotz seiner Bemerkung, er habe einige der Programme „so flüchtig hingeworfen“, dass er es nicht gerne sähe, „wenn sie wieder ans Tageslicht gezogen werden sollten“ (Br, AA 11: 185), kommt ihnen in der Untersuchung Kants als Lehrer Bedeutung zu. Denn es handelt sich um authentische Texte, die als Teil seiner Unterrichtspraxis auch Reflexionen über Lehrziele und Methoden enthalten. Da die philosophische Fakultät in Folge der mittelalterlichen Artistenfakultät eine vorbereitende Funktion für den in eine der drei oberen Fakultäten immatrikulierten Studenten einnahm, waren Kants Hörer meist junge, teilweise noch jugendliche, sowie ausschließlich männliche Studienanfänger mit allgemein meist niedrigen Bildungsstand (vgl. Stark 1995: 54). Hörerzahlen für Kants Vorlesungen als Privatdozent lassen sich nicht genau angeben. Aus den ab Sommersemester 1775 ermittelten Anzahlen der Studenten in Kants Vorlesungen lässt sich die Gruppenstärke auf etwa 10 bis 80 Hörer schätzen (vgl. Naragon 2006e). Für eine Einordnung gibt Kühn (2004: 85) an, dass es im Jahr 1700 auf die einzelnen deutschen Staaten verteilt 28 Universitäten gab, in denen insgesamt 9000 Studenten immatrikuliert waren. Obwohl bis 1760 fünf Universitäten hinzukamen, sank diese Zahl auf 7000 Studenten. Die größten Universitäten waren Halle und Leipzig mit je über 500 Immatrikulierten, 20 der anderen Universitäten hatten unter 300 Studenten, Heidelberg zum Beispiel nur 80. Kühn geht davon aus, dass während des 18. Jahrhunderts an der Albertina in Königsberg zwischen 300 bis 500 Studenten eingeschrieben waren (vgl. ebd.). Stark (1992: 545) schätzt, dass insgesamt mehrere Tausend Studenten Kant als akademischen Lehrer persönlich kennenlernten, von denen sich allerdings nur rund 500 Hörer namhaft machen lassen (Stark 1995: 67). Zwar berichtet Borowski (1804: 33) über Kants erste Vorlesungen, „ein ganz geräumiger Hörsaal faßte gleich am Anfange die Menge nicht ganz, die ihm zuströmte“, aber auch Kant stand in großer Konkurrenz zu anderen Dozenten der Philosophie und konnte oftmals seine Lehrangebote aufgrund zu weniger Teilnehmer nicht durchführen (vgl. Naragon 2006a). Für Vorlesungen von Privatdozenten entrichteten die Studenten pro Semester und Lehrveranstaltung ein Honorar für den Lehrer von vier Reichstalern, was für das studententypische Minimaljahresbudget von 80 Reichstalern keine

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geringe Ausgabe darstellte (vgl. Stark 2015: 5). Dass sich Privatdozenten über ihre zahlenden Hörer finanzierten, kann erklären, warum Kants Lehrpensum in seinen ersten 15 Jahren den ohnehin hohen Umfang übertraf. Laut Paulsen (1921: 144) kündigte Kant 1760 einmal bis zu 34 Stunden wöchentlich an. Von denen wurden zwar nicht alle durchgeführt, aber für den Winter 1766/67 lassen sich zum Beispiel 26-28 Wochenstunden nachweisen (vgl. ebd.). Zusätzlich zu finanziellen Sorgen um ihren Lebensunterhalt mussten sich Privatdozenten selbst um geeignete Räume für ihre Vorlesungen kümmern. Nur für die öffentlichen Vorlesungen der Professoren stellte die Universität Räume zur Verfügung. Bevor Kant sein eigenes Haus für Vorlesungen nutzen konnte, musste er 29 Jahre lang Räume zu diesem Zweck mieten. Für seine Zeit als Privatdozent sind drei Räume bekannt. Von 1755 bis in die frühen 60er-Jahre unterrichtete Kant bei Professor Kypke in der Neustadt, daran anschließend bis 1766 in der Magistergasse nahe des Pregels und dann in Johann Jakob Kanters Buchladen bis 1777. Als äußerliche Faktoren bedingen die Planung und Umsetzung seiner Lehre somit die institutionellen Regeln für Privatdozenten, die Organisation einer geeigneten Räumlichkeit und die Suche nach einem passenden Zeitfenster und Thema, um möglichst viele zahlende Studenten für die Vorlesungen zu gewinnen. Für die inhaltliche Ausrichtung der Lehre war es im 18. Jahrhundert immer noch üblich, dass die Dozenten ihr Fachgebiet insgesamt überblickten, wobei eine Spezialisierung von Themen nach und nach einzusetzen begann (vgl. Hammerstein 2005: 384). Das philosophische Lehrangebot steckte in Folge des mittelalterlichen Kanons an Studienfächern, den septem artes liberales, ein weites Angebot ab. Neben Logik, Metaphysik und praktischer Philosophie, umfasste es auch Poesie, griechische Sprache und Rhetorik sowie Geschichte und naturwissenschaftliche Fächer wie Mathematik und Physik. Während sich erste Ansätze zu einer staatlichen Planung abzeichneten, gab es jedoch noch keine verbindlichen Lehrpläne (vgl. Stark 1992: 544). Sucht man nach einer Gemeinsamkeit innerhalb des philosophischen Unterrichts, lässt sich diese am ehesten in der sich verstärkenden anti-scholastischen Bemühung zur Aufklärung des Verstandes und dem damit verbundenen Nutzen in der Welt finden (vgl. Hammerstein 2005: 383f.; Paulsen 1921: 145f.; Stark 1995: 543; Appendix). Eine formale Üblichkeit des akademischen Unterrichts war es, den Vorlesungen Lehrbücher, sogenannte Compendien, zugrunde zu legen. Abgesehen von seiner Vorlesung über Physische Geographie verwandte Kant von Beginn seiner Lehrtätigkeit an die Lehrbücher anderer Autoren als Basis seines Unterrichts. Als Mittel zur Regelung des gelehrten Unterrichts setzte sich später die Regierung für diesen von Kant gewählten und stets praktizierten Lehrstil ein.

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Der für die Geistlichen und Schulangelegenheiten zuständige Minister von Zedlitz rügte in einem Reskript von 1778 das Lesen der Professoren aus eigenen Notizen und forderte ein Verbot: „Das schlechteste Kompendium ist gewiß besser als keines, und die Professores mögen, wenn sie so viel Weisheit besitzen, ihren Autorem verbessern, so viel sie können, aber das Lesen über Diktata muß schlechterdings abgeschafft werden.“ (vgl. GStAA PK, HA XX. EM 139b, Nr. 25, Bd. 8, f. 170)

Das Diktieren sollte abgeschafft und dennoch der eigenen Weisheit des Dozenten eine Richtschnur gegeben werden, die es den Studenten ermöglichte, sich auf die Vorlesungen vorzubereiten (vgl. Paulsen 1921: 144). Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde es immer mehr zur Regel, dass der Vortragende sein Lehrbuch selbst verfasste, da es eine zusätzliche Einnahme darstellte und als Nachweis über Fleiß und Gelehrsamkeit galt (vgl. Hammerstein 2005: 385). Kant legte jedoch außer für seine Vorlesungen über Physische Geographie und später auch der Anthropologie die Kompendien anderer Autoren zugrunde. Dass er selbst für seine Vorlesungen über Physische Geographie ab dem Sommersemester 1756 kein Lehrbuch veröffentlichte, mag verwundern. Nicht nur, weil er darüber zusammen mit Logik und Metaphysik am häufigsten und kontinuierlichsten las, sondern da er hierfür sogar eine Ausnahmegenehmigung der Regierung hatte. In dem eben erwähnten Reskript nahm Zedlitz namentlich Kant und seine Vorlesung über Physische Geographie aus, da es noch kein angemessenes Lehrbuch gegeben habe. Zedlitz hatte wie viele andere großes Interesse an diesem von Kant angebotenen neuen Fach und bemühte sich um eine sorgfältige Abschrift dieser Vorlesung. Er versäumte es dabei nicht, in einem Brief an Kant im Februar 1778 die Idee in den Raum zu stellen, das Collegium drucken zu lassen (vgl. Malter 1990: 144). Mit der durch seine Vorlesungen unternommenen Etablierung der Physischen Geographie im Lehrangebot der philosophischen Fakultät bewies Kant durchaus philosophie-didaktisches Interesse und Innovationsgeist. Er war zwar weder der Erfinder noch der erste Dozent für Physische Geographie in Königsberg, aber er kam einem aufkeimenden Interesse so geschickt entgegen, dass die Vorlesung von Beginn an ein Erfolg war und zahlende Studenten für den jungen Privatdozenten begeisterte (vgl. Stark 2008: 3). Wenn das Ausbleiben eines eigenen Lehrbuches nicht als Fehlen eines genuinen Interesses Kants an Lehre und Didaktik ausgelegt wird, kann es als deren Teilaspekt gelten. Insofern es ein formales Kriterium von Kants Unterricht ist, sich auf Lehrbücher anderer Autoren zu beziehen, sind für die Rekonstruktion seiner Lehre die von ihm genutzten Lehrbücher besonders interessant. Sie drücken die inhaltliche Ausrichtung der philosophischen Lehre Kants aus und stellen das Grundgerüst

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seiner Vorlesungskonzeption. Kants Umgang mit ihnen und der Vergleich zu den in ihnen enthaltenen didaktischen Konzeptionen kennzeichnet seine individuelle Art und Weise als Lehrer. Als Privatdozent hielt Kant in 29 Semestern Vorlesungen in Logik (28), Metaphysik (26), Physischer Geographie (20), Mathematik (15), Physik (15), Moralphilosophie (13), Enzyklopädie (3), Naturrecht (2) und Mechanik (2) (vgl. Naragon 2006c).32 Aus der Tabelle von Naragon (2006a) ergibt sich für die erste Phase die Gesamtanzahl von 128 gehaltenen Lehrveranstaltungen. Enthalten sind darin auch die nicht namentlich in der Tabelle aufzufindenden vier unbenannten Privatissima aus den Semestern im Sommer 1767, Sommer 1769 und den beiden im Winter 1769/70. Nicht enthalten sind hingegen die praktischen Übungen, die verschiedentlich als repetitorium, examinatorium oder disputatorium bezeichnet werden. Neben den Vorlesungen boten sie den Studierenden Gelegenheit, unter Anleitung das Disputieren zu üben. Schon Borowski (1804: 33), der zu den ersten Studenten Kants zählte, berichtet über dessen angebotene „Disputirübungen mit seinen Schülern“. Es kann gut sein, dass Kant jedes Semester solche praktische Übungen anbot, jedoch gibt es für seine Zeit als Privatdozent nur für die drei Semester 1757/58, 1758 und 1761 gesicherte Nachweise darüber (vgl. Naragon 2006f). Seine Programmankündigung für das Sommersemester 1758 lässt erkennen, dass Kant diese Formate als gewinnbringend empfand, da er hier „die in den vorigen Tagen abgehandelte[n] Sätze polemisch betrachten“ werde, was „eins der vorzüglichsten Mittel“ sei, um „zu gründlichen Einsichten zu gelangen“ (NLBR, AA 02: 25). Diese praktische Übungsstunde wurde einerseits von Kant dafür genutzt, die Inhalte der Vorlesungen durch das Befragen seiner Studenten zu wiederholen und andererseits bekamen die Studenten die Gelegenheit, Kant ihre Fragen zu stellen (vgl. Naragon 2006f). Die Hauptvorlesungstage waren vormittags am Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag. Außer der Physischen Geographie mit zwei Stunden, fanden die meisten der oben aufgelisteten Vorlesungen für vier akademische Stunden an diesen Tagen statt (vgl. Naragon 2006a). Während der Vorlesungszeit war Kant außer sonntags jeden Tag als Lehrer tätig. Der Lehrumfang von etwa 20 bis 24 Wochenstunden, die Ergänzung durch Wiederholungsstunden und das sehr junge Publikum

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Für die Ermittlung der Anzahl stützt sich Naragon auf Emil Arnoldts Kritische Exkurse im Gebiete der Kantforschung (1908). Die historischen Quellen sind die Ankündigungslisten, die offiziellen Vorlesungsverzeichnisse, die Verzeichnisse der Studiosorum, die Mitsemester- und Abschlussberichte. Naragon erklärt seinen Umgang mit den Daten als großzügig, da er neben den eindeutig bestätigten auch die sehr wahrscheinlich stattgefundenen Kurse mitzählt.

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lassen auf eine dem Schulunterricht nahe Unterrichtspraxis schließen (vgl. Paulsen 1921: 144 f.). In Bezug auf die Unterrichtsinhalte fällt auf, dass Kant nur in seinen ersten 15 Jahren als Privatdozent Mathematik und Mechanik unterrichtete. Auch der Großteil seiner Lehrveranstaltungen zur Physik fällt mit 15 von insgesamt 21 Vorlesungen in diese erste Phase. Naturrecht und Enzyklopädie unterrichtete er hingegen zum Großteil erst als ordentlicher Professor und hielt als Privatdozent lediglich in den späten 60er-Jahren je drei Vorlesungen zur Enzyklopädie und zwei zum Naturrecht. Während Kant in dieser ersten Phase bereits regelmäßig Physische Geographie anbot, begann er erst ab dem Winter 1772/73 mit separaten Anthropologievorlesungen und etablierte in Folge einen Wech­ sel der beiden Fächer im Semesterrhythmus. Eine Konstante seines Privatdozententums bildeten die Logikvorlesung, die er außer im Sommer 1767 jedes Semester hielt, sowie die Metaphysikvorlesung, die er nur in den Sommern 1763, 1765 und 1769 aussetzte. Als inhaltliche Tendenz seiner frühen Lehrtätigkeit lassen sich die Kerndisziplinen der theoretischen Philosophie, Logik und Metaphysik, als gleichbleibender Schwerpunkt seiner Lehre ausmachen, der mit einem überwiegend mathematisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Lehrangebot ergänzt wurde. Neben der formalen Eigenart Kants, seinem akademischen Unterricht Handbücher anderer Autoren zugrunde zu legen, weist Stark (2015: 7) darauf hin, dass Kant nur in der zu seiner Zeit bereits schnell voranschreitenden Physik sein Lehrbuch aktualisiert. Auffällig ist, dass er für seinen 40 Jahre praktizierten Unterricht gerade in der theoretischen Philosophie, der Logik und Metaphysik, sowie in der praktischen Philosophie, der Moralphilosophie und dem Naturrecht, an den einmal gewählten Lehrbüchern annähernd konstant festhält. Den meisten Autoren, die er bereits in der ersten Phase heranzieht, kommt ein Status als Lehrbuch-Klassiker zu. Auch das überwiegende Ausbleiben einer Aktualisierung der Lehrbücher kann als kennzeichnender Teilaspekt seiner didaktischen Vorstellung gewertet werden oder zumindest einen Hinweis auf sie enthalten. Die Wirkung von Kants Unterricht: Beobachtungen und Beschreibungen seiner Schüler Kants Treue zum einmal gewählten Autor entging seinem studentischen Publikum nicht. Bereits Borowski (1804: 33) gab für den Beginn seiner Vorlesungen an, dass er die Logik nach Meier las und sein späterer Student von Purgstall berichtete in einem Brief im April 1795: „Kant liest über eine alte Logik, von Meyer, wenn ich nicht irre. Immer bringt er das Buch mit in die Stunde. Es sieht so alt und abgeschmutzt aus, ich glaube er

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bringt es schon 40 Jahre täglich in’s Collegium; alle Blätter sind klein von seiner Hand beschrieben und noch dazu sind viele gedruckte Seiten mit Papier verklebt und viele Zeilen ausgestrichen, so dass, wie sich dies verstehet, von Meyer’s Logik beinahe nichts mehr übrig ist.“ (Malter 1990: 420)

Diese Bemerkung gibt einen ersten Hinweis auf Kants Umgang mit den zugrunde gelegten Kompendien. Anders als einige Professoren, die auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts teilweise noch an der tradierten Lesart des Diktierens festhielten (vgl. Hammerstein 2005: 385), bevorzugte Kant bereits zum Auftakt seiner Lehre einen eher als frei zu beschreibenden Vortragsstil. Seit Beginn der Lehrtätigkeit bestätigen das mehrere der studentischen Zeugnisse. So erinnerte sich Stephan Wannowski, der Kants Vorlesungen ab 1759 besuchte, Kant sei „stets seinen eigenen Gedankengang“ gegangen und habe die Kompendien „nur so pro forma und nicht als Canon“ gebraucht (Malter 1990: 48). Christian Friedrich Jensch berichtete mit Bezug auf den Sommer 1763 über Kants interessante Vorlesungen, in denen er „sich die Hauptideen so tief und lebendig eingeprägt“ habe, „daß er nun nach denselben und in denselben die ganze Stunde lebte“ und dabei wenig Rücksicht auf sein Handbuch genommen habe (Malter 1990: 73). Bereits ihm fiel der durchgearbeitete Zustand des Handbuchs auf: „Er las über Baumgarten. Sein Exemplar ist aber von oben bis unten u. überall beschrieben.“ (ebd.) Borowski (1804: 186) erinnerte sich später an Kants erste Vorlesungen von 1755: „Sein Vortrag war, wie er’s auch in der Folge blieb, nicht allein gründlich, sondern auch freimüthig und angenehm. Das Kompendium, welches er etwa zum Grunde legte, befolgte er nie strenge und nur in so ferne, daß er seine Belehrungen nach der Ordnung des Autors anreihte.“

An derselben Stelle berichtete er, dass Kant oft ein „besonderes handschriftliches Heft außer dem Kompendium“ mitgebracht habe, indem er sich Notizen machte (ebd.). Die voll beschriebenen Handbücher, das eifrige Notieren und die Lebendigkeit seiner Vorlesungen deuten darauf hin, dass Kant diese Stunden nicht nur nutzte, um Inhalte zu lehren, sondern um selbst philosophisch nachzudenken. Er gab seinen Studenten mit seinen Vorträgen ein Exempel für philosophisches Nachdenken und ermunterte sie dadurch, es ihm gleich zu tun. Borowski (1804: 187) erinnerte sich, Kant habe unablässig wiederholt, seine Schüler werden bei ihm „nicht Philosophie lernen, – aber philosophiren; nicht Gedanken bloß zum Nachsprechen, sondern denken.“ Denken lernen ist ein hoher Anspruch, denn es impliziert mit seinem grundlegenden Charakter weitreichende Folgen für das betroffene Selbst. Durch entsprechende Entscheidungen kann dieses Lernziel mit Konsequenzen in

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allen Lebensbereichen verbunden sein. Den von Kant erfahrenen Unterricht empfanden tatsächlich einige seiner Studenten in der Retrospektive als verantwortlich für tiefgreifende Veränderungen in ihrem Leben. Ein Brief von Marcus Herz aus dem Jahr 1770 zeigt das anschaulich: „Sie allein sind es dem ich meine glückliche Verändrung des Zustandes zu danken habe, dem ich ganz mich selbst schuldig bin; ohne Ihnen würde ich noch jezo gleich so vielen meiner Mitbrüder, gefeßelt am Wagen der Vorurtheile ein Leben führen, das einem jeden viehischen Leben nach zusetzen ist; ich würde eine Seele ohne Kräfte haben, ein Verstand ohne Thätigkeit, kurz ohne Ihnen wäre ich dies, was ich vor vier Jahre war, das ist, ich wäre nichts.“ (Br, AA 10: 99)

Zweifelsohne war die Verbindung zwischen Kant und Herz, die sich aus dem Kennenlernen als Lehrer und Schüler im Sommer 1766 zu einer bleibenden Freundschaft entwickelte, von besonderer Qualität. Neben Sympathie und Galanterie kann die frühe Bekundung von Herz dennoch belegen, dass Kants Bemühen, seine Schüler zum Selbstdenken anzuregen, zumindest in Teilen Erfolge verzeichnen und für die betroffenen Schüler eine lebensverändernde Erfahrung bedeuten konnte. Eine Formulierung von Hieronymus Gottfried Wielkes, der Kant ab 1758 hörte, vermag das zu unterstreichen: „Ihnen und Ihrem Unterricht danke ich die Weise meines Lebens und die ganze Faßung meines Gemüths“ (Malter 1990: 46). Johann Friedrich Reichardt bestätigt, dass Kants Vorlesungen ihn zwar damals nicht gleich „zu der philosophischen Bildung“ geführt haben, aber „zu der Aufmercksamkeit und Liebe zu eigenem Nachdenken“ (Malter 1990: 79). Mit Bezug auf die 60er-Jahre finden sich viele Dankesbekundungen ehemaliger Schüler für Kants lehrreichen Unterricht und Umgang, wie zum Beispiel von Christian Gottlieb Arndt (vgl. Malter 1990: 54), Johann Friedrich Riesemann (vgl. Malter 1990: 55) oder Johann Ernst Lüdecke (vgl. Malter 1990: 82). Zwar sagte Kants Unterrichtsstil nicht allen Studenten gleichermaßen zu, aber die biographischen Darstellungen stimmen darin überein, dass er sich bereits in seinen frühen Jahren und vor seiner gewachsenen Bekanntheit insgesamt einen Ruf als beliebter und anregender Dozent erworben hatte (Gulyga 1981: 86; Dietzsch 2003: 73; Kühn 2004: 130). Es gibt einige Stimmen unter Kants Studenten, die insbesondere den theoretischphilosophischen Unterricht als kompliziert beschreiben. Johann Christoph Mortzfeld berichtete: „Selbst unter seinen Schülern hatte sich die Meinung verbreitet, daß seine Vorlesungen schwer zu fassen wären, weswegen die mehresten mit den Collegien der physischen Geographie, oder mit der philosophischen Moral anzufangen pflegten.“ (Malter 1990: 32)

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Die unterschiedlichen Bewertungen der Studenten stehen wahrscheinlich mit der Komplexität des jeweiligen Lehrinhaltes in Zusammenhang. Auch wenn Borowski (1804: 188) Kants Unterricht als freien mit Witz und Laune gewürzten Diskurs beschrieb, betonte er, dass seitens der Hörer stets ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erforderlich gewesen sei. So verzichtete Kant darauf, „die vorkommenden Begriffe und Sachen ganz ins Klare für Jeden zu setzen“ (Borowski 1804: 187). Reichardt hingegen, der Kant ab 1765 als Lehrer kennenlernte, lobte dessen schillernde Reisebeschreibungen aus der Physischen Geographie, aber erwähnte genauso, dass die Vorlesungen über abstrakte Philosophie „durch jenen Schatz von Erläuterungen und Beispielen“, die Kants Gedächtnis darbot, „große Klarheit und Deutlichkeit“ erhielten (Malter 1990: 81). Soll ein guter Lehrer derjenige sein, der nicht nur für einige, sondern für alle seine Schüler den Stoff verständlich und nachvollziehbar präsentiert, kann Kants pädagogische Qualität bezweifelt werden. Da er wohl zum Teil auf ausführliche Erklärungen und Wiederholungen zu verzichten schien, stellt Kühn (2004: 130) fest: „Kants Vortrag war nicht durch große Bemühungen um didaktische Methoden gekennzeichnet.“ Kühns Feststellung dürfte jedoch zu kurz greifen. Denn Kant überließ seine Studenten nicht ohne methodische Hilfestellung den Vorlesungen. Beispielsweise gab er ihnen Ratschläge, wie sie das Gelernte memorieren können. Borowski (1804: 159) erinnerte sich an Kants Empfehlung, sich im Kopf verschiedene Behälter vorzustellen, in die der eingesammelte wissenschaftliche Vorrat verteilt werden könne. Wenn beim Lesen eines Buches oder Journals eine neue Idee vorkäme, sollten die Schüler sich fragen: „In welches Fach oder Behältnis gehört dies […]?“ (ebd.: 160) Mit dieser „Rubricirung des Neugelernten“ könne zur Ordnung des Wissens und Schärfung des Gedächtnisses beigetragen werden (ebd.). Laut Borowski habe dieser Vorschlag auf viele seiner Schüler großen Eindruck gemacht und sehr viele haben ihm „die Schärfung und Treue ihres Gedächtnisses durch Anwendung dieses Mittels, noch jetzt und lebenslang“ zu verdanken (ebd.). Auch das von Kant selbst praktizierte Notieren folgte einer Methode, die er seinen Studenten empfahl: „Miscellaneen nach den Wissenschaften geordnet, anzulegen“ (ebd.: 161). Daraus lässt sich schließen, dass Kant Wiederholungen durchaus für das Behalten des Gelernten als wichtig erachtete. Doch war es ihm wichtig, dass seine Studenten maßgeblich selbst entschieden, was sie von dem Gehörten behalten wollen. Das passt zu seiner Wahl eines Vortrages, der die Studenten zum eigenen Reflektieren ermuntern sollte. Gegenüber Hippel habe Kant oft behauptet, „daß eine gewisse Freiheit auf Universitäten den Jünglingen äußerst nöthig wäre“ (Malter 1990: 95).

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Demgemäß zeigte er sich gewillt, auf die Bedürfnisse und Wünsche seiner Studenten einzugehen. Auf das „Verlangen einiger Herren“ kündigte er für den Sommer 1757 einen möglichen Wechsel von dem von ihm bevorzugten Baumgarten zu dem metaphysischen Lehrbuch von Friedrich Christian Baumeister an (EACG, AA  02: 10). Er wollte seinen Studenten „die Freiheit der Wahl“ lassen, sich für den Autor auszusprechen, von dem sie sich größere Vorteile versprachen (ebd.). Durch eine anonyme Quelle, die Malter (1990: 42) auf den Zeitraum 1756-59 datiert, wird bestätigt, dass Kant sein Auditorium tatsächlich über den bevorzugten Metaphysik-Autor befragte und dazu einen Zettel kursieren ließ. Nur einer sprach sich für den schwierigeren Baumgarten aus, den Kant lieber gelesen hätte. Kants Reaktion zeigt, wie stark er von der Nützlichkeit des Metaphysiklehrbuchs von Baumgarten überzeugt war, aber auch, wie sehr er sich darum bemühte, einen in seinem Sinne gründlichen und nützlichen Unterricht anbieten zu können. Trotz des damit verbundenen Mehraufwands habe Kant diesem einzelnen Schüler versichert, „daß er bei Zweifeln und Bedenklichkeiten ihn gerne noch privatim belehren würde“ (ebd.). Kant war sich durchaus bewusst darüber, dass gerade Baumgartens Metaphysik keine leichte Kost für seine Studenten darstellte, und dennoch war er von ihrer Qualität und Nützlichkeit überzeugt. In seiner Vorlesungsankündigung von 1756 gab er an die „Schwierigkeiten der Dunkelheiten, die dieses nützlichste und gründlichste unter allen Handbüchern seiner Art zu umgeben scheinen“, durch seine „Sorgfalt des Vortrags und ausführliche schriftliche Erläuterung“ beheben zu wollen (TW, AA  01: 503). Wie um Erwartungen in Hinsicht auf Verständlichkeit und Einfachheit zu dämpfen, ergänzte er: „Mich dünkt, es sei mehr als allzu gewiß, daß nicht die Leichtigkeit, sondern die Nützlichkeit den Werth einer Sache bestimmen müsse, und daß, wie ein sinnreicher Schriftsteller sich ausdrückt, die Stoppeln ohne Mühe oben fließend gefunden werden, wer aber Perlen suchen will, in die Tiefe herabsteigen müsse.“ (ebd.)

Damit lässt Kant bereits in seiner Vorlesungsankündigung, die Studenten gewinnen sollte, keinen Zweifel daran, dass seine Vorlesungen für die Hörer mit einem nicht zu verachtenden Aufwand verbunden waren. Wie sich aus diesen Beschreibungen seines Unterrichts zusammentragen lässt, scheint es ein Kriterium von Kants Unterricht zu sein, die Schüler zum eigenständigen Arbeiten, das mit Anstrengung und eigenem Entscheidungsraum verbunden ist, anzuregen. Ein Schüler von ihm, der dieser Einladung folgte, ist Johann Gottfried Herder. Der Großteil der frühen Vorlesungsnachschriften stammt aus seiner Feder. Dabei handelt es sich nicht um bloße Mitschriften. Wie

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ein Mitschüler von Herder, Karl Gottlieb Bock, sich erinnerte, stellten diese Schriften eine eigenständige Auseinandersetzung mit Kants Vorlesungen dar: „Mit gespannter Aufmerksamkeit faßte er jede Idee, jedes Wort des großen Philosophen auf und ordnete zu Hause Gedanken und Ausdruck. Oft theilte er mir diese seine Nachschrift mit und wir besprachen uns darüber in einer abgelegenen Sommerlaube eines wenig besuchten öffentlichen Gartens an der Alt-Roßgärtschen Kirche …“ (Malter 1990: 63)

Das Vorgehen von Herder und Bock zeigt, wie Kant sich den Umgang seiner Studenten mit seinen Vorlesungen wohl gewünscht haben dürfte, denn vom diktatenmäßigen Nachschreiben hielt er nicht viel (vgl. Br, AA 10: 242). Dementsprechend schätzte er die Beiträge von Herder in seinem Unterricht. Wie ebenfalls der Erinnerung Bocks zu entnehmen ist, habe Herder einmal „die Ideen seines Lehrers in Verse“ gekleidet (Malter 1990: 63). Von dem Gedicht, das Bock als Fragment didaktischer Poesie bezeichnet, war Kant so begeistert, dass er es „mit lobpreisendem Feuer im Auditorium“ vorlas (ebd.). Die Beziehung von Herder und Kant hatte in der Folge als Lehrer-SchülerVerhältnisses viele Facetten. Insbesondere durch fachliche Differenzen kam es später zu polemischen und abwertenden Äußerungen Herders über seinen frühen Lehrer. Weisskopf (1970: 43ff.) interpretiert das Verhältnis der beiden dennoch als ein pädagogisches im sokratischen Sinne. Eindrucksvoll dafür spricht das Bild, das Herder mehrere Jahre nach Kants Rezension seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit und der mit ihr einsetzenden Entfremdung, über seinen Lehrer zeichnete: „Ich habe das Glück genossen, einen Philosophen zu kennen, der mein Lehrer war. Er in seinen blühendsten Jahren hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglinges, die, wie ich glaube, ihn auch in sein greisestes Alter begleitet. Seine offne, zum Denken gebauete Stirn war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude; die gedankenreichste Rede floß von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebot, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang. Mit ebendem Geist, mit dem er Leibniz, Wolf, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte und die Naturgesetze Keplers, Newtons, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Rousseaus, seinen Emil und seine Heloise, sowie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf moralischen Werth des Menschen. Menschen-, Völker-, Natur-Geschichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung, waren die Quellen, aus denen er seinen Vortrag und Umgang belebte; nichts Wissenswürdiges war ihm gleichgültig; keine Kabale, keine Secte, kein Vortheil, kein Namen-Ehrgeiz hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf, und zwang angenehm zum Selbstdenken; Despotismus war

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Kapitel 2 seinem Gemüth fremde. Dieser Mann, den ich mit größester Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Immanuel Kant; sein Bild steht angenehm vor mir.“ (Herder 1820: 233f.)

Zu dieser Erinnerung ließ sich Herder in seinem Werk Briefe zur Beförderung der Humanität an einer Stelle hinreißen, die sich mit dem moralischen Ursprung des Menschen befasst. Er sah das Bemühen Kants um eine reine Philosophie in Tradition zu Sokrates. Dadurch, dass der innere Sinn fordere, recht zu tun, und Menschen in sich die Freiheit erfahren, nach dieser Forderung zu handeln, könne geschlossen werden, der Mensch sei moralischen Ursprungs. Herder (1820: 233) verortete Kants Absicht als Lehrer darin, auf die moralische Bestimmung als „selbstverdiente Glückseligkeit“ aufmerksam zu machen: „Unnennbar schön und nützlich wäre es gewesen, wenn diese reine Absicht Kants von allen seinen Schülern, (von den Bessern und Besten ists geschehen) erkannt und angewandt worden wäre. Das Salz, womit er unsern Verstand und unsre Vernunft abreibend geschärft und geläutert hat, die Macht, mit der er das moralische Gesetz der Freiheit in uns aufruft, können nicht anders als gute Früchte erzeugen.“

An einer anderen Stelle im Anhang zu den Briefen bezeichnete Herder Kant ausdrücklich als wahren „Lehrer der Humanität“ (Malter 1990: 58). Mit der Ansicht, dass Kants Unterricht insbesondere durch eine moralische Zielrichtung gekennzeichnet sei, war Herder unter den frühen Studenten nicht der einzige. Borowski (1804: 87) beschreibt, Kant habe die Studierenden aller Fakultäten „zur Selbst- und Menschenkenntnis, zum Streben nach Wahrheit und Sittlichkeit“ angeleitet und sprach ihm die Rolle als „viel wirkendes moralisches Beispiel“ zu. Mit dieser Skizze von Kants Unterricht und seiner Wirkung als Lehrer aus der Perspektive und Erinnerung seiner Studenten soll nun Kants eigene Wahrnehmung seiner Aufgabe als Privatdozent, seine Ziele und Methoden aus den Briefen und Vorlesungsankündigungen erarbeitet und mit den didaktischen Annahmen seiner Kompendienautoren verglichen werden. Kants philosophische Lehrmethode als Form der Erziehung: Philosophieren lernen durch die zetetische Methode Wie die Analyse der didaktischen Aspekte von Kants Kompendien im Appendix zeigt, zielten die philosophischen Lehrer des 18. Jahrhunderts auf die Selbsttätigkeit, das Aktivieren der denkerischen Eigenleistung ihrer Schüler. Wolff riet seinen Schülern, sich stets zu fragen, warum sie etwas so und nicht anders machen, um zur eigenständigen Selbstprüfung anzuleiten.

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Einerseits ließe sich so das Gelernte besser merken und andererseits galt ihm diese Selbstprüfung als erstrebenswerte Grundhaltung. Meier sprach dem Meditieren, dem eigenen Durchdenken und logischen Urteilen, eine tragende Rolle beim Studieren zu. J.P.  Eberhard betonte, die Naturlehre müsse vom eigenen Standpunkt aus selbstständig durchdacht und durch neue Versuche erweitert werden. Dafür gab er mit seinem Lehrbuch ein demonstratives Beispiel. Die Kompendienautoren waren sich zudem einig, dass das Ziel des philosophischen Unterrichts, selbstständig denken und vernünftig urteilen zu lernen, sowohl Lehrer als auch Schüler in die Pflicht nehme. Laut Wolff könne der Anfang inhaltlich einfach gestaltet werden, müsse aber ein Anfang sein. Baumgarten appellierte an seine Schüler, sie sollen nicht nur sehen, sondern hören, um der Metaphysik Farbe und Leben zu schenken. Meiers Beschreibung des gelehrten Charakters begann den Unterschied zwischen Lehrer und Schüler aufzuweichen. Das Lernen und der damit verbundene Fleiß, die Übung und das Meditieren wurden zum gemeinsamen Kriterium. Mit Blick auf die Vorlesungungsankündigungen und die Korrespondenz soll nun erarbeitet werden, wie Kant seinen philosophischen Unterricht als Privatdozent konzipierte und welche pädagogischen Ziele er auf welche Weise verfolgte. Die Beschreibungen der Studenten über Kants Unterricht zeigen, dass er seit Aufnahme seiner Lehrtätigkeit von der aufklärerischen Methode, einer der Zielgruppe angemessenen Darlegung des Materials und der aktivierenden, zum Selbstdenken anregenden Funktion des Lehrers, überzeugt zu sein schien. Das findet sich in der ersten erhaltenen Vorlesungsankündigung Neue Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde von 1756 bestätigt. Er begann sie mit allgemeinen Annahmen über die Luft als elastische Materie unterschiedlicher Dichtegrade und forderte sogleich, „daß das eigene Nachdenken des Lesers das nöthige Licht über das Vorgetragene ausbreiten werde“ (TW, AA 01: 492). Sowie auch die anderen Lehrer der Aufklärung ihre Schüler in die Pflicht nahmen, wendete sich Kant hier an seine Leser und forderte sie auf, selbst nachzudenken. Im Folgenden führte er fünf theoretische Anmerkungen über die Winde aus, die er jeweils mit einer Bestätigung aus der Erfahrung absicherte. Der Text verbindet allgemeine Regeln oder Feststellungen mit real beobachtbaren Gegebenheiten, wie messbare Barometerergebnisse, die sie bestätigen. Am Ende formulierte Kant die Absicht, im Unterricht nichts auszulassen, „was eine gründliche Einsicht in die wichtige Entdeckungen alter und neuer Zeiten befördern“ könne und er den „Vorzug, den die letztere durch die glückliche Anwendung der Geometrie vor jenen erhalten haben, in deutlichen und vollständigen Beispielen“ beweisen wolle (ebd.: 502f.). Wie seine Kompendienautoren verband er Philosophie mit Welt, Theorien mit

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Kapitel 2

Demonstrationen und Versuchen, um auf den konkreten Nutzen der Wissenschaften aufmerksam zu machen und ihn zu befördern. Dass für Kant der Weltbezug von Philosophie in seinem Unterricht zentral war, zeigt auch die zweite Vorlesungsankündigung von 1757, Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie, die seine Konzeption der Physischen Geographie vorstellt. Nach einer Einleitung und einem kurzen Abriss der Physischen Geographie folgt die Abhandlung, die sich in einen allgemeinen Teil mit acht Hauptstücken und einen besonderen Teil gliedert, der das Tier-, Pflanzen- und Mineralienreich untersuchen soll. Die Einleitung knüpfte an das aufklärerische Projekt „einer richtigen Wissenschaft der natürlichen Merkwürdigkeiten“ an, um das Irren in „einer Welt von Fabeln“ zu beenden (EACG, AA 02: 3). Man könne die Erde auf drei Arten betrachten: Mathematisch als Weltkörper, ihre Größe und Figur, politisch in Hinsicht auf menschliche Gemeinschaft, Völker und Regierungen oder mittels der Physischen Geographie, die sich der Naturbeschaffenheit der Erde, der Meere, Gebirge, Luftkreise und ihrer Geschöpfe widmet. Da für die mathematische und politische Betrachtung der Erde bereits genug Lehrmaterial vorhanden war, wollte Kant das durch sein Kollegium der Physischen Geographie ebenfalls für die dritte Betrachtung der Welt ermöglichen. Um die Erde physischgeographisch zu betrachten, bedürfe es nicht der Vollständigkeit und Genauigkeit der Physik oder Naturgeschichte, sondern „der vernünftigen Neubegierde eines Reisenden, der allenthalben das Merkwürdige, das Sonderbare und Schöne aufsucht, seine gesammelte Beobachtungen vergleicht und seinen Plan überdenkt“ (ebd.). Die Funktion des Gelehrten als suchender, beobachtender und planender Reisender in der Welt weist den forschenden, vernünftig-neugierigen Umgang des Menschen mit den Beschaffenheiten der Natur als Bedingung der Physischen Geographie aus. Gerade der besondere Teil verdeutlicht die Ausrichtung dieser Wissenschaft auf den Menschen. In Bezug auf das Tierreich solle „der Mensch nach dem Unterschiede seiner natürlichen Bildung und Farbe in verschiedenen Gegenden der Erde auf eine vergleichende Art betrachtet“ werden, die Betrachtung des Pflanzenreichs erhielte „die Aufmerksamkeit entweder durch ihre Seltsamkeit oder besondern Nutzen“ und das Mineralienreich werde auf „dessen angenehmste und in den menschlichen Nutzen oder Vergnügen am meisten einfließende Merkwürdigkeiten“ durchgegangen (EACG, AA  02: 9). Die ‚natürliche Bildung‘ des Menschen als Tier auf der Erde stellt somit selbst einen Untersuchungsgegenstand des besonderen Teils der Physischen Geographie dar und gleichsam ist es der Mensch, der seine Perspektive auf die anderen Weltbereiche und deren Nutzen für ihn ausrichtet. Der Nutzen der

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Physischen Geographie für den Menschen bezog sich nicht nur auf einen Aufschluss über mögliche Arten, die Erde für seine Zwecke zu nutzen, sondern lag in der Möglichkeit, sich mit sich selbst bekannt zu machen: „Ich trage dieses zuerst in der natürlichen Ordnung der Classen vor und gehe zuletzt in geographischer Lehrart alle Länder der Erde durch, um die Neigungen der Menschen, die aus dem Himmelsstriche, darin sie leben, herfließen, die Mannigfaltigkeit ihrer Vorurtheile und Denkungsart, in so fern dieses alles dazu dienen kann, den Menschen näher mit sich selbst bekannt zu machen […].“ (EACG, AA 02: 9)

Didaktisch ist dabei interessant, dass Kant seinen theoretischen Fächern wie Logik, Metaphysik und Mathematik, eine empirische Phänomene beob­ achtende Disziplin zur Seite stellte. Die Physische Geographie ergänzte sein Lehrangebot durch ein Fach, das gezielt einen Blick in die Welt wirft und auf eine bestimmte Art wissenschaftlichen Umgangs des Menschen mit der Erde aufmerksam macht: Als Forscher ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder philosophische Genauigkeit alles wahrzunehmen, was ‚den Menschen näher mit sich selbst bekannt macht‘. Die Beschreibung des neugierigen Forschers, dessen Perspektive er durch sein Kollegium der Physischen Geographie in der philosophischen Fakultät ergänzte, lässt die Erde und deren Phänomene als Lehrer auftreten. In Kants Unterricht sollten philosophische Fertigkeiten und Kenntnisse nicht nur auf die Welt bezogen werden, sondern auch die Welt auf die Philosophie, da die Beobachtungen ihrer Phänomene es dem Menschen ermöglicht, sich als Teil der Natur sowie als ihres Erforschers und Nutzers näher mit sich selbst bekannt zu machen. Dass der forschende, neugierige Blick in die Welt für Kant bei der Erziehung und Lehre des Menschen eine zentrale Rolle spielte, deuten auch seine Überlegungen zu einer Kinderphysik an. Als Johann Georg Hamann 1759 von Kants Plänen erfuhr, ein Lehrbuch für Kinder schreiben zu wollen, bekundete er großes Interesse an diesem Projekt, bezweifelte jedoch offenkundig Kants Eignung als Autor: „Ein gutes, nützliches und schönes Werk, das nicht ist, soll durch ihre Feder entstehen. […] ‚Der Titel oder Name einer Kinderphysik ist da, sagen Sie, aber das Buch selbst fehlt.‘ – Sie haben gewisse Gründe zu vermuthen, daß Ihnen etwas glücken wird, was so vielen nicht gelingen wolle. […] Sie sind in Wahrheit ein Meister in Israel, wenn Sie es für eine Kleinigkeit halten, sich in ein Kind zu verwandeln, trotz Ihrer Gelehrsamkeit! Oder trauen Sie Kindern mehr zu, unterdessen ihre erwachsene Zuhörer Mühe haben es in der Geduld und Geschwindigkeit des Denkens mit Ihnen auszuhalten?“ (Br, AA 10: 20f.)

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Dezidiert ging Hamann auf die speziellen Herausforderungen ein, die er mit dem Verfassen eines Werkes für Kinder verbunden sah. Dazu bedürfe es, „einer freywilligen Entäußerung aller Überlegenheit an Alter und Weisheit“, eine „Verläugnung aller Eitelkeit“ (Br, AA  10: 22). Kant sollte sich angesichts der Zielgruppe fragen, ob er so viel Herz habe, „der Verfasser einer einfältigen, thörichten und abgeschmackten Naturlehre zu sein“, und er schloss: „Haben Sie Herz, so sind sie auch ein Philosoph für Kinder. Vale et sapere AUDE!“ (ebd.) Vielleicht bezweifelte Hamann weniger Kants grundlegende Fähigkeit, sich methodisch auf Kinder einstellen zu können, „sich zu ihrer Schwäche herunterzulaßen“ (ebd.), sondern eher sein genuines Interesse an Kindern und an dem dafür benötigten Mut, sich als Mitglied der galanten und akademischen Welt einer solchen Aufgabe zu widmen. Schließlich versuchte der elegante Magister sich gerade akademisch zu etablieren (vgl. Kühn 2004: 123-173) und wie hilfreich war für einen angehenden Logik- und Metaphysikprofessor das Verfassen einer Kinderphysik? Da es von Kant selbst keine schriftlich festgehaltene Äußerung über seine Kinderphysikpläne gibt, kann nicht angegeben werden, warum eine Umsetzung letztlich nicht erfolgte und Hamanns Briefe in dieser Sache unbeantwortet blieben.33 Dass er 1759 zumindest darüber nachdachte, bestätigt ein Brief von Johann Gotthelf Lindner, dem damaligen Rektor der Domschule in Riga: „Ew. Hochedelgeb. haben, wie HE. B[erens], sagt, eine Kinderphysick zu schreiben, im Sinne.“ (Br, AA  10: 25) Anders als Hamann reagierte Lindner nicht mit Zweifeln an Kants Fähigkeit, eine Kinderphysik zu schreiben. Stattdessen gab er kurze und prägnante Ratschläge aus seinem Schulkontext für die Einteilung des Stoffes, riet die Zielgruppe der Kinder nach deren „Jahre und Fähigkeiten, und Lust zu unterscheiden“ und empfahl für die altersspezifischen Abschnitte „Frag und Antworten“ als „die faßlichste Methode“ (ebd.). Hamanns und Lindners Reaktion auf Kants Pläne einer Kinderphysik weisen nicht nur auf ein kurzzeitig über den akademischen Rahmen hinausweisendes, pädagogisches Interesse Kants hin, sondern betonen beide die geeignete Methode als zentralen Faktor für das Vermitteln von Lehrinhalten. Das legt nahe, dass auch Kant zu dieser Zeit darüber reflektierte. Tatsächlich präsentierte Kant wenige Jahre später das, was als sein didak­ tisches Programm angesehen werden kann (vgl. Malter 1981). Die Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766 33

Eine Skizze über die Kinderphysikpläne von Hamann und Kant unter pädagogischem Gesichtspunkt gibt Weisskopf (1970: 75-83). Hans Graubner (1990: 117-146) erörtert das Scheitern des Projekts mittels den Divergenzen der beiden Denker, die sich hinsichtlich des geteilten physiko-theologischen Hintergrunds ergeben.

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liest sich wie das Kondensat seiner bis zu diesem Zeitpunkt gesammelten Lehrerfahrung und der ihr gemäßen Unterrichtskonzeption. Anders als die Überschrift es durch den direkten Semesterbezug vermuten lässt, behandelt er die Einrichtung seiner Vorlesungen allgemein. Er erkennt ein Grundproblem der „Unterweisung der Jugend“ darin, dass man genötigt sei „mit der Einsicht den Jahren vorauszueilen, und, ohne die Reife des Verstandes abzuwarten, solche Erkenntnisse ertheilen soll, die nach der natürlichen Ordnung nur von einer geübteren und versuchten Vernunft könnten begriffen werden“ (NEV, AA  02: 305). Kant beschreibt einen stufenförmig aufeinander aufbauenden Erkenntnisprozess, in dem er eine natürliche Beschaffenheit des Menschen vermutete. Zuerst müsse sich der Verstand ausbilden, „indem er durch Erfahrung zu anschauenden Urtheilen und durch diese zu Begriffen“ gelange (NEV, AA 02: 305). Diese Begriffe können dann durch die Vernunft mit ihren Gründen und Folgen ins Verhältnis gebracht werden „und endlich in einem wohlgeordneten Ganzen vermittelst der Wissenschaft erkannt werden“ (ebd.). Es sei ratsam, den Unterricht an diesem natürlichen Ablauf zu orientieren: „Von einem Lehrer wird also erwartet, daß er an seinem Zuhörer erstlich den verständigen, dann den vernünftigen Mann und endlich den Gelehrten bilde.“ (ebd.) Der Vorzug dieser Methode bestehe darin, dass für den Fall ein Schüler käme nicht bis zur letzten Stufe, er „wo nicht für die Schule, doch für das Leben geübter und klüger geworden“ sei (ebd.: 306). Werde die Reihenfolge verkehrt und eine Art Vernunft erlernt, ehe der Verstand ausgebildet wurde, bleibe die „Gemüthsfähigkeit noch so unfruchtbar wie jemals“, doch sei der Schüler „durch den Wahn von Weisheit viel verderbter geworden“ (ebd.). Kant machte seine Schüler auf ihren zu leistenden Aufwand aufmerksam und formulierte klar dieses Selbstdenken als seine pädagogische Absicht: „Kurz, er soll nicht Gedanken, sondern denken lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, daß er in Zukunft von sich selbst zu gehen geschickt sein soll.“ (ebd.) Die Philosophie als Weltweisheit mache diese Lehrart erforderlich, denn sie selbst sei unmöglich zu erlernen. Anders als in mathematischen oder historischen Wissenschaften, in denen etwas „vorräthig und gleichsam nur aufzunehmen ist“, gäbe es keine gegenständlich fertige Philosophie, die in „das Gedächtniß, oder den Verstand“ eingedrückt werden könnte: „Die eigenthümliche Methode des Unterrichts in der Weltweisheit ist zetetisch, wie sie einige Alte nannten (von ζητειν) d.i. forschend, und wird nur bei schon geübterer Vernunft in verschiedenen Stücken dogmatisch, d.i. entschieden. Auch soll der philosophische Verfasser, den man etwa bei der Unterweisung zum Grunde legt, nicht wie das Urbild des Urtheils, sondern nur als eine Veranlassung selbst über ihn, ja sogar wider ihn zu urtheilen angesehen werden, und die Methode selbst nachzudenken und zu schließen ist es, deren Fertigkeit

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Kapitel 2 der Lehrling eigentlich sucht, die ihm auch nur allein nützlich sein kann, und wovon die etwa zugleich erworbene entschiedene Einsichten als zufällige Folgen angesehen werden müssen, zu deren reichem Überflusse er nur die fruchtbare Wurzel in sich zu pflanzen hat.“ (NEV, AA 02: 307)

Das nützliche Selbstdenken wurde zum Lernziel des philosophischen Unterrichts, die dafür angemessene Methode nannte Kant zetetisch. Zwar räumte er hier der geübteren Vernunft ein, dogmatisch werden zu können, doch erschien diese Methode in Zusammenhang mit seiner Feststellung, dass in der Philosophie jeder seinen eigenen Maßstab habe und eine fertige Philosophie fehlen würde als allgemeines Kriterium des Philosophierens. Philosophieren als Selbstdenken setzt stetiges Forschen voraus, ist wesenhaft ein aktiver Prozess. Im Fortgang seiner Schrift bezog er sich auf das konkret angekündigte Semester und gab an, wie er in seinen Fächern Metaphysik, Logik, Ethik und Physische Geographie diese Methode anwenden wollte. Er bliebe aufgrund „des Reichtums und der Präzision seiner Lehrart“ bei Baumgartens Lehrbuch, aber verändere dessen Ordnung (NEV, AA 02: 308; vgl. Appendix: 293f.). Statt wie Baumgarten mit der Ontologie beginne Kant seiner vorher dargelegten Stufenordnung entsprechend mit der empirischen Psychologie, „welche eigentlich die metaphysische Erfahrungswissenschaft vom Menschen ist“ (ebd.: 309). Er fahre fort mit der Kosmologie, in der von Materie gehandelt werde, um dann zur Ontologie, den allgemeinen Eigenschaft der Dinge und letztlich zum Unterschied von geistigen und materiellen Dingen zu kommen. Durch Verknüpfung und Trennung der beiden sah Kant die rationale Psychologie hierin enthalten. Auf die natürliche Theologie kam er nicht extra zu sprechen. Für sein Verfahren führte er auch eine langjährige Beobachtung seinerseits an: „Jedermann weiß, wie eifrig der Anfang der Kollegien von der muntern und unbeständigen Jugend gemacht wird, und wie darauf die Hörsäle allmählich geräumiger werden.“ (ebd.) Der pragmatische Vorteil von Kants Reihenfolge lag darin, dass Schüler mit geringer Ausdauer das anfangs Einfachere mitnehmen konnten und nicht gleich durch die schwer zu fassende Ontologie vertrieben wurden. Der didaktische Vorteil bestand in dem schrittweisen Fortschritt von dem Erfahrungsnahen zum Abstrakteren. Die Logik als „Kritik und Vorschrift des gesunden Verstandes“, nicht der eigentlichen Gelehrsamkeit, wollte Kant nach Meier vortragen und sollte laut ihm jeder akademischen Unterweisung in Philosophie vorausgeschickt werden (NEV, AA  02: 310). Er bezeichnete sie als Quarantäne, „welche der Lehrling halten muß, der aus dem Lande des Vorurteils und des Irrtums in das Gebiete der aufgeklärteren Vernunft und der Wissenschaften“ übergehen möchte (ebd.). Meier gebe Anlass, „neben der Cultur der feineren und

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gelehrten Vernunft die Bildung des zwar gemeinen aber tätigen und gesunden Verstandes zu begreifen“, jene für das betrachtende, diese für das tätige Leben (ebd.: 311; vgl. Appendix: 299ff.). In der Ethik ging es Kant darum, die Methode deutlich zu machen, nach welcher man den Menschen studieren müsse. Es ging nicht um den einzelnen und zufälligen Menschen, sondern um „die Natur des Menschen, die immer bleibt“ (ebd.: 311). Im Zuge seiner Beschreibung über Physische Geographie räumte Kant ein, er habe als Lehrer bald erkannt, dass die Jugend früh „vernünfteln lernet, ohne gnugsame historische Kenntnisse, welche die Stelle der Erfahrenheit vertreten können“ (ebd.: 312). Um sie zu „einer praktischen Vernunft“ vorzubereiten, bot er mit dieser Disziplin eine „physisch-moralisch- und politische Geographie“ an, „eine große Mannigfaltigkeit angenehmer und belehrender Kenntnisse von leichter Faßlichkeit zum Unterhalt des Umganges“ (ebd.: 313). Die von Kant hier im Winter 1765 dargelegte und begründete zetetische Methode der Philosophie fand ihren Ausdruck in der Gestaltung seines Unterrichts als freier Auseinandersetzung mit dem zugrunde gelegten Handbuch. Als ‚Methode selbst nachzudenken und zu schließen‘ spiegelt sich in ihr die basale, vorbereitende Funktion der Philosophie für die anderen akademischen Fakultäten wider sowie die von Wolff und den anderen Kompendienautoren betonte Nützlichkeit der theoretischen Lehre für die Praxis des menschlichen Lebens. Denn Kant zeigte auch, inwiefern der philosophische Unterricht als Selbstdenkenlernen nicht nur für die Schule, sondern für die Welt zu einem Nutzen führte. Seine Vorlesungsankündigungen geben verschiedene Beispiele, um die Nützlichkeit theoretischer Einsichten in allgemeine Gesetze für die Praxis zu belegen. In seinem Programm über die Theorie der Winde erklärte er, wie das Wissen um die Nordwestwinde für Expeditionen in der Seefahrt dazu genutzt werden könne, neue Länder zu entdecken (vgl. TW, AA 01: 501). In seinem Programm über den Optimismus von 1759 kontrastierte er die schulmäßige Schlussart mit einer anderen Art des Schließens, in der er „mit etwas weniger Schulgelehrsamkeit, aber vielleicht mit eben so bündigem Urtheil eines richtigen Verstandes“ vorgehe (VBO, AA 02: 33). Zum einen führte er in eine aktuelle philosophische Debatte ein und skizzierte mit dem schulmäßigen Schluss, wie wertvoll das Beherrschen logischer Begriffe und Schlüsse für das eigene Urteil in aktuellen Fragestellungen sein könne. Zum anderen machte er durch das Kontrastieren der beiden Arten zu Schließen auf eine mögliche Ergänzung von abstrakter, philosophischer Deduktion und allgemein in der Welt kursierender Annahmen aufmerksam und wies so auf die Vereinbarkeit von Schule und Welt hin. Wie sein Kollegium der Physischen Geographie, die zeitweiligen Pläne einer Kinderphysik und die Praxisbezüge in seinen

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Kapitel 2

Vorlesungsprogrammen belegen, kennzeichnete sich das philosophische For­schen als Ziel und Methode von Kants Unterricht durch die Offenheit für die Erkenntnisse eines neugierigen Blickes in die Welt. Die tatsächlichen Gegebenheiten in der Welt sollten nicht nur Theorien bestätigen, sondern den Menschen mit sich selbst bekannt machen. Neben expliziten Anwendungshinweisen und Verbindungsversuchen von Theorie und Praxis verfolgten seine Vorlesungsankündigungen einen propädeutischen Zweck für seinen Unterricht. So hoffte er, seine Anmerkungen könnten „das Urtheil über die Streitigkeit erleichtern“ und seinen Zuhörern dienen, den Vortrag, den er „über diesen Artikel in den Vorlesungen thue, in seinem Zusammenhange besser einzusehen“ (VBO, AA  02: 30). Es fällt auf, dass Kant diese Schriften nur in knappem Umfang als konkrete Ankündigung seiner Lehrveranstaltungen nutzte. Die fünf Programme von 1756, 1757, 1758, 1759/60 und 1762/63 haben gemeinsam, dass er hier mit der Art und Weise seiner Reflexion zu bestimmten, aktuellen Themen als Lehrer zu überzeugen versuchte. Sie gaben mehr als einen thematischen Vorgeschmack der philosophischen Semestervorlesungen. Durch Kants häufige Verwendung der ersten Person Singular lesen sie sich wie Anwendungsbeispiele der zetetischen Methode, als Demonstration des zu erreichenden Lernziels, des Selbstdenkens eines Ichs, was anhand der Ankündigung Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe veranschaulicht werden soll.34 34

Das Verwenden der Ich-Perspektive kennzeichnet alle seine Vorlesungsprogramme: In der Theorie der Winde wechselt er von einer allgemeinen, unpersönlichen Darlegung in den ersten drei Anmerkungen zu der Ich-Perspektive in der vierten Anmerkung. In Entwurf eines Collegii der physischen Geographie und Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe sind bereits die Einleitungen in der ersten Person verfasst. Der Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus rückt das Schließen des Ichs als Mittel für die Belehrung der Studenten in den Blick, da Kant gleich im Anschluss an die propädeutische Funktion des Programms für die Vorlesung formuliert: „Ich fange demnach also an zu schließen.“ (VBO, AA 02: 30) In Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren lässt sich eine markante Kombination von allgemeinen, unpersönlichen Formulierungen und Erklärungsversuchen in der ersten Personen-Perspektive feststellen, wie etwa: „Die Regel der zweiten Figur ist diese […]“ und der „durch die Umkehrung heraus gebrachte Satz aber ist eine eingeschobene unmittelbare Folge aus dem ersteren, und der Vernunftschluß hat vier Urtheile und ist ein ratiocinium hybridum, z.E. wenn ich sage: […] so schließe ich recht […].“ (DfS, AA 02: 52) In der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766 wechselt Kant sowohl in seinen allgemeinen Ausführungen über die Lehre der Philosophie – „Ich will mich deutlicher erklären.“ (NEV, AA  02: 306) – als auch in den Ankündigungen der konkreten Lehrveranstaltungen – „Diejenige Wissenschaften, welche ich in dem jetzt angefangenen halben Jahre durch Privatvorlesungen vorzutragen und völlig abzuhandeln gedenke, sind folgende […].“ (ebd.: 308) – in die erste-Personen-Perspektive. Die Verwendung der ersten Person Singular als Erzählperspektive lässt sich auch als Kennzeichen seiner Vorreden

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In dieser Schrift von 1758 trat Kant in aufklärerischer Manier als Gelehrter auf, der sich durch nichts „als durch die gesunde Vernunft“ rechtfertigen möchte (NLBR, AA  02: 15). Keine „Zwangmühle des Wolffischen oder eines andern berühmten Lehrgebäudes“ solle folgende Gedanken lenken und er wünschte sich auch für seine Leser, sich in den Zustand zu versetzen, den schon Descartes als notwendig für das Erlangen richtiger Einsichten ansah, sich „aller erlernten Begriffe vergessen zu machen und den Weg zur Wahrheit ohne einen anderen Führer als die bloße gesunde Vernunft von selber anzutreten“ (ebd.: 16). Was im Folgenden über die Bewegungen und ihre Kräfte erörtert wird, geht über eine inhaltliche Kostprobe hinaus und gibt einen Eindruck davon, wie Kant sich selbstständiges, durch eigene Vernunft geleitetes Nachdenken vorstellte. Exemplarisch nahm er als denkendes Ich seine Leser mit auf eine nicht durch viele Fachwörter komplizierte, sondern mit einfachen Begriffen vorgetragene Reflexion. Das Ich teilte seine Beobachtungen schrittweise mit, ließ nachvollziehen, was es zu welchen Überlegungen führte, stellte sich diesbezüglich Fragen, die es zu beantworten suchte und nahm den Leser dadurch in seinen sich aufbauenden Gedankengang über die Trägheitskraft und die Gesetzte der Kontinuität mit. Es machte ihn auf diesem Weg vertraut mit der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion über auftauchende Erklärungsprobleme und formulierte einen Vorschlag für einen neuen Begriff der Bewegung und Ruhe. Kant schloss seine geführte Reise durch die mechanischen Überlegungen seines reflektierenden, forschenden Ichs damit, dass es nötig wäre, das Vorgetragene durch mehrere Erläuterungen zu erhellen und dabei „vollständig in dem Inhalte und doch auch wortreich im Ausdrucke zu sein“, wie es in der Kürze dieser Ankündigung nicht möglich sei (ebd.: 25). Das Programm Kants erinnert an die letzten drei Schritte des Studierens, auf die Meier (1752, AA  16: 868-871) aufmerksam machte: Das Nachforschen, das Vortragen der eigenen Disziplin und das Erfinden neuer Wahrheiten. Das Ich, welches seine Reflexionen darlegte und auf diesem Wege zu allgemein gültigen Erkenntnissen zu kommen hoffte, ist dasselbe Ich, welches zu Beginn der Schrift den Leser aufforderte, sich wie es selbst nur von der bloßen gesunden Vernunft leiten zu lassen und dasselbe Ich, welches zum Schluss seine geplanten Vorlesungen ankündigte: Kant als Lehrer. Festhalten lässt sich: Der Lehrer Kant lehrte, indem er seinen Stu­ denten transparent zu machen versuchte, wie er selbst dachte. Durch die Demonstration seiner prüfenden Subjektivität versuchte er, sie zum ausweisen und gibt einen Hinweis auf Kants aufklärerische Haltung als philosophischer Schriftsteller, die sich im Kern durch den stetigen Versuch kennzeichnet, als tätige Subjektivität die Leser zu subjektiver Tätigkeit anzuregen (vgl. Johst 2020).

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Kapitel 2

Selbstdenken einzuladen. Er zeigte, wie er seine Vernunft und ihre Schlüsse an allgemeinen Theorien und konkreten Phänomenen der Welt übte, um seine Schüler dazu anzuleiten, ihre Vernunft ebenfalls auf diese Weise zu üben. Wie die Formulierungen von Kants Vorlesungsprogrammen in der ersten Person Singular verdeutlichen, war der Vollziehende dieser Übung das denkende Ich, welches als Person nicht hinter allgemeinen, unpersönlichen Erkenntnissen verschwand, sondern als Träger und Urteilender über diese stets präsent war: Als neugieriger, beobachtender Forscher in der Welt und als seine Vernunft anwendender und sie demonstrierender Lehrer in der Schule. Das, was Kant als Lehrer vermitteln wollte, war das philosophische Forschen selbst und die dafür notwendige ‚Methode selbst nachzudenken und zu schließen‘. Was er in seinem didaktischen Programm von 1765/66 nicht explizit machte, aber implizit anklingt, ist, dass es dafür kein äußerliches Kriterium gibt, keinen Inhalt, den man abfragen könnte, sondern es einer inneren Einstellung oder Haltung bedarf. Der Philosophierende ist dafür verantwortlich, selbst zu denken, zu forschen. Verstand, Vernunft und Wissenschaft auszubilden, nicht anzukleben (vgl. NEV, AA 02: 306). Zum Philosophieren als Denken und nicht als Gedanken lernen gehört etwas, das selbst nicht direkt zu vermitteln ist, das dem Gedächtnis oder Verstand nicht ‚eingedrückt‘ werden könnte. Philosophie ist nichts fertiges, es widerstreite ihr, „sich dem Wahne der Nachfrage und dem Gesetze der Mode zu bequemen“, „sich in die Form des gemeinen Beifalls zu schmiegen“ (ebd.: 308). Selbst zu denken bedeutet, sich selbst zu leiten, und dafür kann niemand anders als man selbst verantwortlich sein. Und ob das denkende Ich diese Verantwortung für seinen Weg und Maßstab im Sinne der Philosophie wörtlich genommen als Streben zur Weisheit wahr und ernst nimmt, liegt bei ihm genauso wie das Tun dessen, was es zum Forschen braucht und das Lassen dessen, was es daran hindert. Dass es neben fachlichen Kenntnissen zum Philosophieren eine selbstverantwortliche Einstellung braucht und diese das Essentielle ist, weist auf die Konnexion von philosophischen Unterricht und moralischer Erziehung hin. Die philosophischen Lehrer zur Zeit der Aufklärung waren sich ihrer Aufgabe bewusst etwas, das als innere Einstellung selbst nicht inhaltlich und gegenständlich gemacht werden konnte, durch das eigene Beispiel zu demonstrieren (vgl. Appendix: 336f.). Baumgarten hatte dafür auf die Pflichten des Lehrers aufmerksam gemacht, Meier auf den Charakter, Kant auf die forschende Methode, die es zum Selbstdenken braucht. Im kantischen Sinne ließe sich die spezifische didaktische Frage für einen gelingenden Philosophie-Unterricht so formulieren: Wie wird man ein Forscher? Seine Vorlesungsankündigungen verraten, dass es dazu nötig sei, sich von bisherigen Begriffen frei zu machen, auf die gesunde Vernunft zu hören. Auch lässt sich seinem Bemühen um die

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Physische Geographie entnehmen, wie wichtig es sei, unterhaltsam zu sein, die Schüler neugierig zu machen, sie einzuladen, wie ein Reisender offen Neues wahrzunehmen. In einer bekannten autobiographischen Notiz, von Adickes auf den Zeitraum 1764-68 datiert, reflektierte sich Kant als Forscher: „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis u. die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bei jedem Erwerb. Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß diese Betrachtung allen übrigen einen Wert erteilen könne, die Rechte der Menschheit herzustellen.“ (HN, AA 20: 44),

Diese Reflexion betont den starken Einfluss Rousseaus auf Kant zu dieser Zeit, der in Zusammenhang mit pädagogischen Fragestellung bereits untersucht wurde (vgl. Bockow 1984; Roth/Surprenant 2012: 12-38; Munzel 2012: 82-183). Kant stellte für sich selbst fest, er sei aus Neigung Forscher, er habe sich nicht dazu bringen müssen, sondern er sei darauf angelegt. Wenn das Forschen eine Neigung ist, muss der Schüler dafür eine spezielle Anlage mitbringen, um Philosophieren lernen zu können. Lehrer können in die Technik des Schließens und Urteilens einführen, ihre Vorteile demonstrieren und wie Kant es nannte, die Logik als ‚Quarantäne‘ empfehlen und anbieten. Sie können, wie Wolff es ausdrückte, ein Bild der Ordnung erzeugen, ihre Schüler auf den Geschmack bringen oder laut Meier durch die Wahl ihrer Worte, die Schüler zum Verstehen motivieren. Das, was der Schüler zum Forschen selbst mitbringen muss, verdeutlicht jedoch die Grenze des erzieherischen Einflusses. Laut Kants Reflexion mache das bloße Forschen, die betrachtende Lebensweise, den Menschen nicht moralisch oder besser. Das Philosophieren als forschende Methode scheint dennoch mit einem moralischen Aspekt verbunden. Denn als Forscher gibt es gewisse Regeln, die es zu achten gilt, etwa sich nicht durch Unvernünftiges leiten zu lassen und sich und seine Urteile ständig zu prüfen. Für das stete Kalibrieren auf dem prozessualen Gebiet der Weltweisheit ist das denkende Ich verantwortlich. Es liegt an ihm kein „Blendwerk von Wissenschaft“ entspringen zu lassen (NEV, AA 02: 307), keine frühkluge Geschwätzigkeit zu praktizieren oder zu fördern, „die blinder ist als irgend ein anderer Eigendünkel und unheilbarer als die Unwissenheit“ (ebd.: 305). Ohne allgemeinen Maßstab obliegt es dem Philosophierenden, sich um einen vernünftigen Maßstab zu bemühen. Diese notwendige Verantwortungsübernahme für das eigene Denken kann erklären, dass Kants Unterricht unabhängig von dem spezifischen Fach jene moralische Zielrichtung enthielt,

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Kapitel 2

die seine Studenten wahrnahmen und beschrieben. Die zetetische Methode lässt darauf schließen, dass Kant seinen Schülern den verantwortlichen Umgang mit Theorie und Welt zu demonstrieren versuchte und sie mit seinem Selbstdenken aufmuntern wollte, eine forschende Haltung einzunehmen, die sowohl in der Welt als auch der Schule nützlich sein sollte.

Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Kants frühes Interesse an Erziehung und sein Unterricht als demonstratives Beispiel des Selbstdenkens

Die Rekonstruktion der ersten Unterrichtsphase von Kant als Privatdozent vom Winter 1755/56 bis zum Winter 1769/70 lässt erkennen, dass er mit seinem Unterricht pädagogische Ziele verfolgte und über eine geeignete Lehrmethode reflektierte. Hinsichtlich der Bedeutung der Pädagogik in Kants Leben und Werk schlussfolgerte bereits Weisskopf (1970: 349), dass dessen Interesse für die Erziehung „nicht erst durch Rousseau geweckt“ wurde. Neben dem von Weisskopf hierfür angeführten Plänen einer Kinderphysik, die durch die Korrespondenz von 1759 mit Hamann (vgl. Br, AA 10, 20ff.) und Lindner (vgl. Br, AA 10: 25) bestätigt werden, kann dafür die Etablierung der Physischen Geographie als philosophisches Unterrichtsfach angeführt werden. Zwar war er nicht der Erfinder dieser Disziplin, aber er kam einem aufkeimenden Interesse so geschickt entgegen, dass die Vorlesung von Beginn an ein Erfolg war (vgl. Stark 2008: 3). Wie seine Ankündigung von 1757 belegt, waren mit diesem Angebot didaktische Überlegungen verbunden, da er die Perspektive auf die physische Naturbeschaffenheit der Welt nutzen wollte, „um den Menschen näher mit sich selbst bekannt zu machen“ (EACG, AA 02: 9). Kant bemühte sich somit seit Beginn seiner Vorlesungen um eine Verbindung von Fächern, die sich durch systematische Vollständigkeit und Genauigkeit kennzeichnen, mit Unterrichtsangeboten, die durch den konkreten Weltbezug das eigene Vergleichen von Beobachtungen und das Überdenken der Position ermöglichen sollen. Seine allgemeine Reflexion über die ‚Unterweisung der Jugend‘ in Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766 zeigt Kants pädagogisches Interesse und seine didaktischen Überlegungen als Lehrer für Philosophie fast zehn Jahre vor, und somit unabhängig von seiner ersten Pädagogik-Vorlesung im Winter 1776/77. Der Annahme über die Stufenfolge des natürlichen Fortschritts der Erkenntnis folgend schließt er, der Lehrer müsse zuerst den Verständigen, dann den Vernünftigen und

Die Formen von Erziehung in Kants Unterrichtspraxis

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schließlich den Gelehrten bilden. Für die Lehrart der Weltweisheit stellt er fest, ihre ‚eigentümliche Methode des Unterrichts‘ sei zetetisch, also forschend. Die Methode des Unterrichts entspricht somit derjenigen Fertigkeit, die der Lehrling eigentlich sucht: „[D]ie Methode selbst nachzudenken und zu schließen“ (NEV, AA 02: 307). Das pädagogische Ziel des Philosophieren-Lernens besteht in der forschenden Methode, selbst nachzudenken und zu schließen und verlangt einen Unterricht, der dieser Methode folgt. Demgemäß gestaltete Kant seinen Unterricht durch einen freien Umgang mit dem zugrunde liegenden Kompendium und nutzte es nicht als ‚Urbild des Urteils‘, sondern als ‚Veranlassung‘, selbst zu urteilen. Gerade der polemischen Betrachtung abgehandelter Sätze räumte er ein, „eins der vorzüglichsten Mittel“ zu sein, um zu gründlicher Erkenntnis zu kommen (NLBR: AA 02: 25). Die Analyse der Vorlesungsprogramme zeigt, dass Kant auf zwei Arten versuchte, seine Schüler zum Selbstdenken anzuregen: Durch die explizite Aufforderung, stets selbst zu denken (vgl. TW, AA 01: 492; NLBR, AA 02: 16; NEV, AA  02: 305), und die Demonstration seines Selbstdenkens. Folgende Tabelle bietet eine Übersicht der bisher erarbeiteten pädagogischen Ziele und didaktischen Methoden Kants sowie der angeführten Schülerstimmen über die Wirkungen und Handlungen von ihm als Lehrer und deutet eine Korrespondenz zwischen Kants theoretischer Konzeption und der wahrgenommenen Unterrichtssituation seiner Schüler an, die ihn als demonstratives Beispiel seiner theoretischen Überlegungen ausweist:

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Abb. 3

Kapitel 2

Historische Stimmen zu Kants Unterrichtspraxis 1755/56-1769/70 [ED]

Die Formen von Erziehung in Kants Unterrichtspraxis

2.2

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Weltkenntnis als Idee eines nützlichen philosophischen Unterrichts: Die erste Dekade als ordentlicher Professor und Dekan (Sommer 1770 – Winter 1779/80)

Am 31. März 1770 wurde Kant zum ordentlichen Professor für Logik und Metaphysik an seiner Alma mater ernannt. Es lagen bereits 29 Semester Lehre als Privatdozent hinter ihm, in denen er sich eine eigene Methode für seinen Unterricht erarbeitet hatte. Für seinen offiziellen Antritt verfasste er eine Inauguraldissertation und verteidigte De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et pricipiis am 21. August 1770 öffentlich. Sein damaliger Student Jakob Michael Reinhold Lenz (1891: 78) schrieb dazu ein Gedicht, das sich als poetische Bestätigung der bisherigen Ergebnisse über Kants didaktische Konzeption liest: „Mit ächterm Ruhme wird der Mann belohnet,/ In welchem Tugend bey der Weißheit wohnet,/ Der Menschheit Lehrer, der, was er sie lehret, Selbst übt und ehret: […].“ Er lobte Kant dafür, der Torheit oft die Maske entrissen und schon vielen Augen Licht gegeben zu haben. Er habe seinen Schülern mit „reiner Lust ihr Leben angefüllet,/ Weil sie den Durst nach Weißheit, den er stillet,/ Doch nimmer löschet, glücklicher als Fürsten,/ Zeitlebens dürsten.“ (ebd.: 79) Die Beschreibung von Lenz deckt sich mit der von Kant formulierten, forschenden Lehrart, die dem prozessualen Wesen der Philosophie entsprechen soll. So stille er zwar den Durst nach Weisheit, aber lösche ihn nicht. Er unterstützte seine Schüler beim Üben ihres Verstandes und ihrer Vernunft, nicht beim einmaligen Entscheiden oder Festlegen. Sein Unterricht war ein Anfang, der mit dem und in dem Leben der Schüler weitergehen sollte: „Stets wollen wir durch Weißheit ihn erheben,/ Ihn unsern Lehrer, wie er lehrte, leben/ Und andre lehren: unsre Kinder sollen/ Auch also wollen.“ (ebd.) Schüler werden mit ihren Lehrern zu künftigen Lehrern, die wiederum ihre Schüler informieren und motivieren: Das Selbstdenken als Forschen nimmt seinen Anfang, um sich in Welt und Schule fortzusetzen. Für den 46-Jährigen begann mit der ordentlichen Professur ein neuer Abschnitt seiner akademischen Laufbahn, dessen erste Dekade nun rekonstruiert wird. Veränderungen der Rahmenbedingungen durch die neue Amtstätigkeit Mit der ordentlichen Professur war für Kant ein regelmäßiges Gehalt von 160 Talern und 60 Groschen verbunden. Das waren 100 Taler mehr als er mit seiner bisherigen Anstellung als Unterbibliothekar verdiente, ein noch immer bescheidenes Einkommen, das ihm dennoch erlaubte relativ sorglos zu leben (vgl. Kühn 2004: 224). Die Rolle der ordentlichen Professoren an der Albertina wurde bereits in dem Kapitel über Kants eigenes Studium beschrieben (vgl.

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S. 85f.). Dabei zeigte sich neben dem inhaltlichen Lehrauftrag als Einführen in die Wissenschaften auch der erzieherische Auftrag, für einen gewissen Wandel zu sorgen. Da für das Gelingen Lehrende und Lernende ihren Beitrag leisten mussten, betrafen die Verordnungen der Universität beide Gruppen. Auf Seiten des Lehrkörpers sei es wichtig, vakante Stellen „mit geschickten und gelehrten Leuten, so dabey von guter Aufführung und Lebensart“ zu besetzen (Arnoldt 1746: 147). Dazu solle durch Disputation Geschicklichkeit und Tüchtigkeit bewiesen werden. Da es der Hauptzweck der öffentlichen Lehrer sei, Studierende zum Dienste der Kirche, Schulen oder des gemeinen Wesens zuzubereiten, sollen sie in ihren Vorlesungen unentgeltlich und zuverlässig „den Kern der nützlichsten Dinge auf eine begreifliche und lebhafte Art vorlegen“ (ebd.: 182f.). Die „Cabinetsordre“ von Friedrich II., die Kant zum Professor ernannte, erinnerte ihn daran, „die studirende Jugend publice und privatim, docendo et disputando ohnermüdet“ zu unterrichten, „davon tüchtige und geschickte Subjecta zu machen“ und sich darum zu bemühen, „wie nicht weniger derselben mit gutem Exempel“ voranzugehen (Malter 1990: 103). Professoren sollten durch ihre Kenntnisse und ihr Verhalten eine Vorbildfunktion erfüllen, um für die Zukunft und den Nutzen des gemeinen Wesens die Jugend zu belehren und zu erziehen. Damit dies gelinge, sei es wichtig, nicht jeden zum Studium zuzulassen und einen Unterschied zwischen fähigen und unfähigen Köpfen zu machen (vgl. Arnoldt 1746: 226). Auch sollten die Jugendlichen nicht zu früh und zu unreif auf die Universität geschickt werden, „da sie sich noch nicht selber zu regieren und der academischen Freyheit recht zu gebrauchen wißen“ (Arnoldt 1746: 228). Studierende sollten neben einem fähigen Kopf auch Fleiß und Wandel vorweisen, denn bei „einem unordentlichen Leben“ ließe sich „kaum was gründliches lernen“ (ebd.: 242). Zu den Regeln verpflichteten sich Professoren, Dozenten und Studenten symbolisch per Eid oder Handschlag. Seit dem Jahr, in dem Kant Professor wurde, erhielten die Studenten mit ihrem Studienantritt ein gültiges Vorlesungsverzeichnis sowie ein Exemplar der Methodologischen Anweisungen für die Studirende in allen 4 Facultaeten des Berliner Ministeriums (vgl. Stark 1995: 55). Alle der vier Verordnungen sahen einen akademischen Kursus von sechs Semestern vor, wobei die von Kant angebotenen Disziplinen dringend für die ersten Semester empfohlen wurden. Durch die Logik werde „eine Anweisung zum gelehrten Denken und Studiren gegeben“, so dass der Student durch sie gleich am Anfang lerne, „wie er eine jede Wissenschaft lernen muß, auf die er sich legt“ (ebd.: 56). Die Metaphysik erleichtere durch „die ersten Begriffe und Grundsätze aller menschlichen Erkenntniß“ das Erlernen aller übrigen Wissenschaften, „da sie nun ausser dem von der Welt, von der Natur der Cörper, des Menschen, und aller seiner Seelenkräfte und von Gott handelt“ (ebd.). Zwar wurde die Aushändigung der Anweisungen

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Mitte der 70er-Jahre wieder eingestellt, doch ist davon auszugehen, dass sie als grobe Orientierungsfunktion weiter wirkte (vgl. ebd., FN). Wahrscheinlich besuchten viele Studienanfänger Kants öffentliche Logik- und Metaphysikvorlesungen. Den Durchschnitt des Studienanfangsalters berechnet Stark (1995: 68) auf 16,8 Jahre. Räumlich änderte sich für Kants Vorlesungen bis 1777 nichts und er las weiterhin in seinem bei Kanter gemieteten Zimmer im dritten Stock. Zwar ist bekannt, dass Kanters Buchladen einen wichtigen Treffpunkt zum intellektuellen Austausch in Königsberg darstellte, aber es gibt keine genaue Beschreibung von Kants Vorlesungsraum. Durch die von Naragon (2006e) ermittelten Studentenzahlen aus den 70er-Jahren lässt sich schließen, dass dort mindestens 60 Personen Platz fanden. Der Erinnerung seines Studenten Ludwig von Baczko lässt sich entnehmen, dass „Kant sein Auditorium vorzüglich gut heizen ließ“ (Malter 1990: 120). Ende des Jahres 1777 bezog Kant eine Räumlichkeit auf dem Ochsenmarkte. Der Grund für den Umzug, so berichtete Borowski (1804: 120f.), war ein durch lautes Krähen störender Hahn gewesen. Zeitlich war Kant dazu verpflichtet, seine öffentlichen Vorlesungen montags, dienstags, donnerstags und freitags zwischen 7 und 8 Uhr morgens anzubieten. Bis dahin hatte er nie früher als 8 Uhr angefangen (vgl. Kühn 2004: 240). Die so begonnenen Vormittage nutzte er für weitere Vorlesungen, etwa zur Moralphilosophie oder Enzyklopädie. Für die von Kant privatim angebotenen Fächer konnten sich die Studenten bei ihm persönlich in eine Liste eintragen und verpflichteten sich damit zu einer Gebühr von vier Talern (vgl. Stark 1995: 57). Da er mittwochs und samstags meistens je zwei Stunden Anthropologie oder Physische Geographie las, war er weiterhin beinahe jeden Tag als Lehrer tätig. Der Lehrumfang ging nur leicht zurück und betrug in dieser Phase meistens zwischen 16 und 20 Wochenstunden. Inhaltlich änderte sich die Ausrichtung seines Lehrangebots, da Mathematik und Mechanik mit Beginn der Professur wegfielen. In den ersten zehn Jahren als Professor las er nur zwei Mal über Physik. Er etablierte einen Wechsel von Logik (10) im Sommersemester und Metaphysik (11) im Wintersemester. Im Wintersemester 1772/73 las er zum ersten Mal Anthropologie (8) und etablierte im Folgenden einen Wechsel mit Physischer Geographie (12), jene im Winter, diese im Sommer. Seine moralphilosophischen Vorlesungen (9) bot er weiterhin im gleichen Umfang an, die über Naturrecht (5) und Enzyklopädie (6) baute er aus. In drei Fächern hielt er in den 70er-Jahren je einmal eine Vorlesung. In Mineralogie im Winter 1770/71, in rationaler Theologie 1774 und in Pädagogik 1776/77. Während die Mineralogievorlesung eine einmalige Ausnahme bildete, hielt er in rationaler Theologie und Pädagogik insgesamt noch je drei weitere Vorlesungen in den 80er-Jahren. Als grobe inhaltliche Ausrichtung seiner Lehre lässt sich eine stärkere Konzentration auf den Menschen feststellen.

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Mit seiner Rolle als Professor ergaben sich neben der Lehre andere akademische Verpflichtungen. Seit Gründung der Universität in Königsberg 1544 waren acht Professorenstellen für die philosophische Fakultät vorgesehen (vgl. Arnoldt 1746: 169). Naragon (2006g) bietet einen chronologischen Überblick aller ordentlichen und außerordentlichen Philosophie-Professoren an der Albertina im 18. Jahrhundert. Neben Kants Professur gab es einen Professor für praktische Philosophie, für Rhetorik und Geschichte, für Poesie, für Mathematik, für Physik, für griechische Sprache und für orientalische Sprache. Jede der vier Fakultäten hatte einen Dekan. Für dieses Amt wechselten sich die acht ordentlichen Professoren der philosophischen Fakultät semesterweise ab. Im Sommer 1776 übernahm Kant erstmals die Aufgaben als Dekan, im Winter 1779/80 zum zweiten Mal. Obschon kein ordentliches Mitglied, nahm man als Dekan der philosophischen Fakultät an den Senatssitzungen teil und fungierte als „Consiliarus des Rectors“ (Arnoldt 1746: 177). Der Senat war das Gremium, das alle akademischen und administrativen Aufgaben beaufsichtigte und als Gericht für sämtliche Streitigkeiten akademischer Bürger und ihrer Familien zuständig war (vgl. Kühn 2004: 242). Zu den Aufgaben des Dekans gehörte das Prüfen der neu ankommenden Studenten, von denen es jedes Semester etwa 70 bis 80 gab (vgl. ebd.). Bereits seit 1717 wurden an der Albertina teilweise Reifeprüfungen von dem jeweiligen Dekan der philosophischen Fakultät durchgeführt und protokolliert (vgl. Euler/Stiening 1995: 64). Durch das Forschungsprojekt von Werner Euler und Gideon Stiening (1995) zu Kants Amtszeit konnten zu dem vormals einzig bekannten Protokoll Kants sechs weitere ausgemacht werden. Ein Fall betraf die Prüfung und Immatrikulation von Carl Heinrich Schreiner. Während der Schulinspektor dem Schüler ein Zeugnis verweigerte, befürwortete Kant seine Aufnahme (vgl. ebd.: 65). Johann Christoph Mortzfeld berichtete als Zeitgenosse in seiner Kant-Biographie von dessen Prüfertätigkeit: „Man machte Kant den Vorwurf, daß wenn er in der Tour Decan war, er die jungen Leute, welche von den Schulen kamen nicht strenge genug examinirte. Seine Gutmüthigkeit ließ ihm die Aengstlichkeit dieser nur fühlen, – und es schien ihm hinlänglich zu seyn, wenn sie nicht gänzliche Vernachlässigung verriethen. Ebenmäßig beschränkte er nicht die academische Freiheit studierender Jünglinge, sondern liebte eine anständige ihnen ertheilte Freiheit, welche jedoch nie in Zügellosigkeit ausarten mußte.“ (Malter 1990: 132f.)

Mortzfeld ergänzte einen Vergleich zwischen Schülern und Bäumen, den Kant für seine Position angeführt haben soll. Bäume würden im Freien besser gedeihen und herrlichere Früchte tragen, als wenn sie durch Künsteleien dazu gebracht werden sollen. An den oft geführten akademischen Streitigkeiten sollte er keinen wesentlichen Anteil genommen haben (vgl. ebd.: 133). Kants

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Student Christian Jacob Kraus, der sich im April 1771 immatrikulierte, meinte dazu, Kant habe nicht scharf geprüft, „weil ihm das ganze Geschäft höchst zuwider war“ (ebd.). Borowski (1804: 191) berichtete, „wenn er Dekan und Rektor war, soll er vorzüglich auf Talent und Gewandtheit des Kopfes gesehen – und dann immer sehr väterlich ermahnt haben, jenes ja durch anhaltenden Fleiß zu excoliren“. Ein Zeugnis von Kant aus den 90er-Jahren attestierte dem Schüler Friedrich Seiff Unreife (vgl. Euler/Stiening 1995: 65). Ausgehend von diesen wenigen Hinweisen, schien Kant als Dekan ein milder Prüfer gewesen zu sein, der den Schülern früh Raum ließ, die Verantwortung für ihren Werdegang zu übernehmen. Doch lassen die Protokolle und Zeugnisse keinen eindeutigen Schluss auf Kants Haltung bei der Befragung und Beurteilung künftiger Studenten zu (Euler 1999: 448, FN). Die Wirkung von Kants Unterricht: Beobachtungen und Beschreibungen seiner Schüler Im Vergleich zu den anderen beiden Phasen fällt auf, dass sich in Malters Materialsammlung und der Korrespondenz in der Akademieausgabe für die 70er-Jahre weniger häufig Aussagen über Kants Unterricht und seine Lehrart finden. Gleich zu Beginn 1770 war Kant gesundheitlich angeschlagen, und seinem Briefwechsel mit Herz ist zu entnehmen, dass ihn seine akademischen Pflichten strapazierten. Im August schrieb er: „Ich bin dieser Tage her sehr unpäslich gewesen und die mit einmal wieder angefangene überhäufte Last der collegien hat mir nicht erlaubt Erholungen zu suchen.“ (Br, AA  10: 95) Kurz darauf findet sich eine Bestätigung dessen in einem Brief an Lambert, dem er schrieb, seine ermüdende akademische Arbeit mache einen Aufschub nach dem anderen für die Weiterführung seiner Untersuchungen notwendig (ebd.: 97). Herz machte sich Sorgen um seinen Freund und Lehrer und fragte, ob es ihm nicht möglich sei, die Last der Kollegien zu verringern „oder überhaupt nicht mit so vieler Anstrengung“ vorzutragen (ebd.: 101). Kant reduzierte sein Lehrpensum jedoch nicht. Ein Jahr später im Juni 1771 gab er Herz zwei Gründe für seine Nachlässigkeit im Korrespondieren. Zum einen beschäftige ihn seine Arbeit an einem Werk mit dem Titel „Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft“, zum anderen habe es sein gesundheitlicher Zustand erforderlich gemacht, „alle Anstrengungen eine Zeitlang auszusetzen und nur immer die Augenblicke der guten Laune zu nutzen“ (ebd.: 123). Diese Gemächlichkeit und der tägliche Gebrauch der Chinarinde seit Oktober des vergangenen Jahres zeigten nun Wirkung und haben ihm „schon sichtbarlich aufgeholfen“ (ebd.). Der Verlauf der Korrespondenz zeigt, dass Kant seit seiner Inauguraldissertation verstärkt damit begann, seine philosophischen Überlegungen, die er dort über den Unterschied der sinnlichen Erkenntnis und der Verstandeserkenntnis skizzierte, „durch sorgfältigere Forschung einst zur

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genauen Ausbildung“ zu bringen (MSI, AA 02: 419). Sein Fokus lag in dieser Zeit auf Forschung und Gesundheit. Während die Beschreibungen von Kants Unterricht als Privatdozent überwiegend ein Bild von einem anregenden und beliebten Lehrer zeichnen, scheint sich Kants Vorlesungsstil als Professor geändert zu haben (vgl. Kühn 2004: 247). Andreas Meyer berichtete im Jahr 1770, er habe Kants Kollegium besucht und sich gewundert, „daß ein Mann, der außer seinem Hörsaale der aufgeweckteste Gesellschafter ist, in demselben hingegen den ernsthaftetsten und tiefstdenkenden Philosophen macht“ (Malter 1990: 107). Ludwig von Baczko, der ebenfalls Kants Vorlesungen hörte und ab April 1772 immatrikuliert war, berichtete: „Kant hatte damals seine glänzendste Periode angetreten. Er las, als ich auf die Akademie kam, die Metaphysik unentgeltlich. Ich besuchte nun diese Vorlesung und verstand sie nicht. Bei der Achtung für Kants Ruf und dem Mißtrauen, das ich jederzeit in meine Kräfte setzte, glaubte ich selbst mehr studiren zu müssen.“ (Malter 1990: 117f.)

Als von Baczko jedoch herausfand, dass manche Zuhörer Kants noch weniger wussten als er, fing er an zu glauben, „daß die Leute in Kants Vorlesungen liefen, um sich ein Ansehen zu geben“ und begann „alle Philosophie für unnütz zu erklären“ (ebd.: 118). Diese Erinnerung deutet nicht nur an, dass Kants Metaphysikvorlesung schwer zu verstehen war, sondern zeigt durch die Reaktion darauf, wie ausschlaggebend der Unterricht für die Meinungsbildung über das jeweilige Fach und der daran anschließenden Studienrichtung oder Lebensentscheidungen sein kann. Ganz anders ging es von Baczko nämlich mit den anthropologischen Vorlesungen Kants, die er so fleißig und interessiert besuchte, dass er sogar den Plan fasste, einst selbst Vorlesungen über Anthropologie zu halten (vgl. ebd.: 119). Wie bereits für die Zeit als Privatdozent festgestellt, unterschied sich Kants Wirkung auf die Studenten je nach Fach, denn seine Kollegien über Anthropologie erfreuten sich größter Beliebtheit. Johann Bernoulli, der sich im Sommer 1778 in Königsberg aufhielt, berichtete: „Er las nun ein Collegium, welches grossen Beyfall fand, und zum Endzweck hatte, seinen Zuhörern richtige Begriffe von den Menschen, ihren Thaten, und von den mannichfaltigen im menschlichen Leben sich ereignenden Vorfällen, Handlungen u.s.w. beyzubringen; untermischte Geschichte und Anekdoten von allerley Leuten und Ländern würzten diese Vorlesungen, und machten sie noch lehrreicher und beliebter.“ (Malter 1990: 147)

Kühn (2004: 240f.) betont ebenfalls diesen Kontrast, indem er feststellt, dass Kants Vorlesungen über Logik und Metaphysik von den Studenten gefürchtet,

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die über Anthropologie jedoch genossen wurden. Auch Kant musste sich darüber bewusst gewesen sein, zumindest erklärte er Herz, der sich bei ihm über Nachschriften erkundigt hatte, im August 1778: „Von der Logik möchte sich noch hie oder da etwas ausführliches finden. Aber Metaphysik ist ein Collegium, was ich seit den letztern Jahren so bearbeitet habe, daß ich besorge, es möchte auch einem scharfsinnigen Kopfe schwer werden, aus dem Nachgeschriebenen die Idee praecise herauszubekommen, die im Vortrage zwar meinem Bedüncken nach verständlich war, aber, da sie von einem Anfänger aufgefaßt worden und von meinen Vormaligen und den gemein angenommenen Begriffen sehr abweicht, einen so guten Kopf als den Ihrigen erfordern würde, systematisch und begreiflich darzustellen.“ (Br, AA 10: 241)

Kant riet nicht nur in Hinsicht auf ihre Qualität von den Nachschriften ab, sondern machte auf die Diskrepanz zwischen seiner fortgeschrittenen Arbeit an dem Kollegium und den Verständnismöglichkeiten, die Anfänger mitbrachten, aufmerksam. Zudem habe er zu seinen Auditoren „fast gar keine Privatbekanntschaft“ (Br, AA 10: 242). Als Grund gab er an, dass er seit 1770 Logik und Metaphysik nur öffentlich gelesen habe, „wo ich sehr wenige meiner auditoren kenne die sich auch bald ohne daß man sie auffinden kan verliehren“ (ebd.: 246). Zweierlei schien den Unterricht Kants in Metaphysik und Logik als Professor verändert zu haben. Zum einen war die Vorlesung als öffentliche anonymer geworden, zum anderen fiel Kants eigenes philosophisches Forschungsinteresse überwiegend in die Metaphysik. Dass er seine Vorlesungen für eigene Reflexion nutzte und er in Anbetracht der sinnlichen Erkenntnis und Verstandeserkenntnis immer differenzierter wurde, kann erklären, dass Kants Gedanken gerade für Studienanfänger überwiegend dunkel und unverständlich wirken mussten. Wenn dem so war, zeigt es sich als Kants pädagogische Entscheidung, zugunsten einer forschenden philosophischen Reflexion Abstriche in der Verständlichkeit in Kauf zu nehmen. Kants pädagogische Absicht, seine Schüler zum Selbstdenken anzuleiten, wird durch die Untersuchungen der Vorlesungsnachschriften bestätigt. Naragon (2006d) listet fünf eingängige Stellen aus verschiedenen Nachschriften auf, die speziell das Philosophieren-Lernen als Selbstdenken und Üben der eigenen Vernunft beschreiben. Stark (1995: 62) weist in seinen Arbeiten über Kant als Lehrer ebenfalls auf das Prinzip des Denkenlernens in seinen Vorlesungen hin, „nicht bei der bloßen Auslegung eines zugrundeliegenden Textes“ stehen zu bleiben, sondern „seine eigenen anhand des ‚Autors‘ entwickelten Gedankengänge“ vorzutragen. Er zitiert dafür aus einer unveröffentlichten Nachschrift Kants, die für die hier behandelte Schaffenszeit der Kritik der reinen Vernunft exemplarisch angeführt werden soll:

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Konsistent zu den bisherigen methodischen Annahmen von Kant als Lehrer und seinem freien Umgang mit den Kompendien stand für ihn nicht ‚die Erzählung von dem Produkt einer fremden Vernunft‘ im Zentrum des Unterrichts. Soll gelehrt werden, sich auf die eigene und nicht eine fremde Vernunft zu verlassen, muss es die eigene Vernunft sein, die in der Lehre gezeigt wird und die Lehre formt. Die Nachforschungen der Vorlesungsnachschriften belegen, dass Kant je mit einer umfänglichen, eigenen Einleitung in die Disziplin einführte und an passenden Stellen gemäß seinem pädagogisch-philosophischen Prinzip den Gedankengang des Kompendiums zugunsten grundlegender Fragen sogar völlig verließ (vgl. Stark 1995: 62). In der Logik fragte Kant, was Wahrheit sei, in der Moral nach dem obersten moralischen Prinzip. Die Vorlesungsnachschriften weisen die Tendenz auf, zwischen der darstellenden Sachabhandlung des Lehrbuches und der Kritik daran zu wechseln (Stark 1992: 549). Starks (1995: 62) Untersuchungen zufolge war Kant in diesen Jahren zwar für die breitere Öffentlichkeit praktisch stumm, doch durch seine Vortragsweise ließ er seine studentische Hörerschaft „am Werdeprozeß der kritischen Philosophie teilnehmen“. Dass Kants Lehre durch die zetetische Methode mit seinem philosophischen Denken und den daraus resultierenden Werken eng verflochten ist, belegen die Hinweise darauf, in der zetetischen Methode den Keim der später kritischen zu verorten, auf die Lehmann (1969: 95) aufmerksam macht. Es ist naheliegend, dass Kant, der sich seit nunmehr über 15 Jahren fast täglich mit Baumgartens Metaphysik auseinandersetzte und eine immer stärkere eigene Position entwickelte, andere Kritikpunkte hatte als ein junger Studienanfänger, der erstmals mit metaphysischen Begriffen in Kontakt kam. Das pädagogische Prinzip der praktizierenden, forschenden Vernunft für den Unterricht weist auf eine Schwierigkeit hin: Der Lehrer kann nur seinen eigenen Vernunftgebrauch demonstrieren. Soll der Lehrer ein Beispiel für den eigenen Vernunftgebrauch sein und im Unterricht auf authentische Weise philosophisch nachdenken, kann er durch seine bereits geübtere Vernunft diejenigen mit einer ungeübteren abschrecken. Vielleicht kann die Vorbereitung auf Kants Hauptprojekt, die Kritik der reinen Vernunft, die empfundenen Verständnisschwierigkeiten seiner Studenten gerade in den Logik- und Metaphysikvorlesungen erklären. Doch darf nicht vergessen werden, dass es sehr

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wenige Beschreibungen über diese Jahre gibt und sich in ihnen auch ausdrücklich positive Rückmeldung zu seinen Vorlesungen findet. Johann Ernst Lüdeke wendete sich mit einem Dankesbrief 1781 für den erfahrenen Unterricht Anfang der 1770er-Jahre an seinen verehrungswürdigen Lehrer: „Ihnen allein habe ich die aufrichtigste Charte von dem so verwachsenen Gefilde der Philosophie zu danken“ (Br, AA  10: 264). Borowski (1804: 191) bemerkte mit Bezug auf die späteren Jahre, Kant habe nicht nur durch seine Philosophie, sondern „durch seine Pünktlichkeit und Lehrertreue“ einen guten Eindruck bei seinen Schülern gemacht. Die Biographie über den Studenten Christian Jacob Kraus, der sich 1771 in Königsberg immatrikulierte, belegt, dass Kant diesen ob seiner tief durchdachten Einwürfe nach der Stunde zu sich rief, um ihn besser kennenzulernen (vgl. Malter 1990: 112). Kraus habe in Kants Unterricht „Nahrung für seine Forschungsgabe, für seine Neigung des Selbstdenkens“ gefunden (ebd.: 130). Der Student Timotheus Gisevius, der sich im November  1772 immatrikulierte, beschrieb seine Schülererfahrung mit Kant wie folgt: „Ich respectire innigst diesen Mann, den die ganze gelehrte Welt so hoch achtet und den die neue Philosophie ihren Vater nennt. ich ehre ihn um desto williger als ein dankbarer Schüler, dem auch einst das Glück ward, zu den Füßen dieses Gamaliels zu sitzen.“ (Malter 1990: 125)

In seinem Urteil verglich sich Gisevius offensichtlich mit Paulus, der darauf hinwies, „zu den Füßen Gamaliels erzogen“ worden zu sein (Apostelgeschichte 22: 3). Gamaliel war ein hochgeachteter Pharisäer, der als Rabbi aus der Thora lehrte. Das ‚zu Füßen sitzen‘ entsprach der typischen Lehrsituation des rabbinischen Unterrichts, um den Worten des Lehrers aufmerksam folgen zu können. Paulus brachte diese Aussage Respekt ein, da er einen berühmten Lehrer hatte und durch ihn nichts Geringeres als Gottes Gesetze erfuhr. Kant wurde mit diesem Vergleich als ein Lehrer dargestellt, mit dessen Namen man sich Respekt verschaffen konnte, da man seine Lehre mit einer Art philosophischer Offenbarung verband. Vielleicht ist dieser Vergleich für Kants Unterricht in den 70er-Jahren insgesamt ganz treffend. Kant schien weniger durch Nahbarkeit und Verständlichkeit bei seinen Schülern Eindruck gemacht zu haben als durch sein komplexes, philosophisches Denken. Laut Kühn (2004: 247) erwarb er sich den Ruf, „ein schwieriger Philosoph zu sein“. Wenn es jedoch Zweck des Schülers war, sich durch den Vorlesungsbesuch Respekt zu verschaffen oder bloß den konventionellen Anfang für ein später juristisches, medizinisches oder theologisches Studium zu absolvieren, konnte die zetetische Methode

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nicht funktionieren. Dazu war es erforderlich, den Zweck zu verfolgen, den erfahrenen Unterricht als Übung für das eigene Denken aktiv zu nutzen. Die Vergegenwärtigung von Kants Wirkung als Lehrer kann darauf aufmerksam machen, dass die Verantwortung für einen gelingenden philosophischen Unterricht bei Schülern und Lehrern, in ihrer Tätigkeit, Zwecksetzung und Neigung liegt. Wie sich Kant selbst als Lehrer positionierte, welche Ziele und Methoden die Briefe und die Vorlesungsankündigung dieser ersten Zeit als Professor enthalten und ihr Verhältnis zu den didaktischen Annahmen des 18. Jahrhundert soll nun untersucht werden. Kants Idee eines nützlichen Unterrichts: Anthropologie als Vorübung in Weltkenntnis Bereits als Privatdozent formulierte Kant es als „Methode des Unterrichts in der Weltweisheit“, eine Veranlassung dazu zu geben, selbst nachzudenken, zu urteilen, zu forschen (NEV, AA 02: 307). Die Etablierung der Physischen Geographie als Disziplin weist zudem darauf hin, dass er sich darum bemühte, das philosophisch forschende Denken in Bezug auf die Welt anzuwenden. Dass Kant neben der bereits zu Beginn seiner Lehre angebotenen Physischen Geographie als ordentlicher Professor mit der Anthropologie noch ein weiteres Fach etablierte, das sich durch die Verbindung von Philosophie und Welt kennzeichnete, entsprach dem Wissenschafts- und Philosophieverständnis des 18. Jahrhunderts. Im Deutschen spiegelte sich das geforderte Wechselverhältnis im Begriff der Weltweisheit wider, einer „Weisheit in der Welt und für die Welt“ (Stollberg-Rilinger 2017: 183). Kants zetetische Methode bezog sich auf den Unterricht der Weltweisheit. Dass er diesen Begriff für seine Philosophie verwandte und mit eben jenem aufklärerischen Anspruch verband, zeigt sich beispielsweise 1765 in einem Brief an Lambert über die geeignete Methode der Metaphysik: „Ehe wahre Weltweisheit aufleben soll, ist es nöthig, daß die alte sich selbst zerstöhre, und, wie die Fäulnis die vollkommenste Auflösung ist, die iederzeit vorausgeht, wenn eine neue Erzeugung anfangen soll, so macht mir die Crisis der Gelehrsamkeit zu einer solchen Zeit, da es an guten Köpfen gleichwohl nicht fehlt, die beste Hofnung, daß die so längst gewünschte große revolution der Wissenschaften nicht mehr weit entfernet sey.“ (Br, AA 10: 57)

Kant verstand sein philosophisches Bemühen als Teil der ‚Revolution der Wissenschaften‘ und grenzte es in diesem Brief von einer falschen Philosophie ab. Nicht nur in seinen Vorlesungen war ihm der Bezug auf die Welt wichtig. Auch mit der Arbeit an der Methode der Metaphysik wollte er dazu beitragen, dass wahre Weltweisheit aufleben könne. Er ließ Lambert, mit

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dem er eine Übereinstimmung in Hinsicht auf diese Methode erkannte, wissen, dass er „dieses Werk, als das Hauptziel aller dieser Aussichten noch ein wenig aussetzen“ werde, weil es ihm an Beispielen fehle, mit denen er „in concreto das eigenthümliche Verfahren zeigen“ könne (Br, AA  10: 56). Da er vermeiden wolle, „einer neuen philosophischen Proiektmacherey beschuldigt zu werden“, konzentriere er sich zunächst auf die Vorarbeiten, „worunter die metaphysische Anfangsgründe der natürlichen Weltweisheit, und die metaph: Anfangsgr: der praktischen Weltweisheit die ersten seyn werden“ (ebd.). Die Welt und das Konkrete waren für Kant wichtige Kriterien bei der Suche nach einer metaphysischen Methode, die dazu beitragen konnte, dem „Blendwerk des Wissens“ zu entgehen (ebd.: 55). Die von Pölitz herausgegebenen Vorlesungen über die Metaphysik deuten an, dass sich die Verbindung von Philosophie und Welt nicht auf die beiden empirisch ausgerichteten Disziplinen beschränkte, sondern ein allgemeines Merkmal von Kants philosophischem Unterricht darstellte.35 Laut dem von Pölitz als Einleitung deklarierten Stück Von der Philosophie überhaupt machte Kant seine Studenten darauf aufmerksam, dass man Philosophie lernen könne, ohne selbst zu philosophieren. Aber er riet ihnen: „Wer also eigentlich Philosoph werden will: der muß einen freien Gebrauch von seiner Vernunft machen, und nicht blos einen nachahmenden, so zu sagen, mechanischen Gebrauch“ (Pölitz 1821, AA 28: 531f.). Weiter unterschied er die Philosophie in zweierlei Hinsicht: „In sensu scholastica ist also Philosophie das System der philosophischen Vernunfterkenntnisse aus Begriffen; in sensu cosmopolitico aber ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft. Das giebt der Philosophie Würde, d.i. absoluten Werth; und sie ist es, die nur allein innern Werth hat, und allen andern Wissenschaften Werth giebt. – Philosophie in sensu scholastico geht nur auf Geschicklichkeit, in sensu cosmopolitico aber auf die Nützlichkeit.“ (ebd.: 532f.)

In Hinsicht auf die Schule nannte Kant die Philosophie Lehre der Geschicklichkeit, in Hinsicht auf die Welt jedoch Weisheit, weil diese auf Nützlichkeit 35

Die Datierung des Manuskripts für die Einleitung [Logik Pölitz] wird laut Kant im Kontext auf 1780 angesetzt, weswegen es in der vorliegenden Untersuchung zur näheren Illustration von Kants Unterricht in der zweiten Lehrphase herangezogen wird. Allerdings ist die Datierung als auch der genaue Fachbezug zur Metaphysik mit Schwierigkeiten verbunden. Laut Gualtiero Lorini (2013: 105-111) bezieht sich der hier untersuchte Teil Von der Philosophie überhaupt auf die von Kant unterrichtete Logik, und die darauffolgenden Passagen setzen sich aus zwei von Pölitz gefundenen Handschriften zu Metaphysikvorlesungen unterschiedlichen Datums zusammen.

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gehe. Der Begriff cosmopolitico wird hier nicht näher definiert, deutet etymologisch eindeutig auf einen Bezug zu Welt und Mensch hin, der mit dem bloßen Schulbezug kontrastiert wurde.36 Während der Vernunftkünstler sich für seinen geschickten Vernunftgebrauch Regeln zu beliebigen Zwecken geben könne, sehe der wahre Philosoph auf den letzten Zweck der menschlichen Vernunft, was der Philosophie ihren absoluten Wert, ihre Würde gebe: „Der practische Philosoph ist eigentlich Philosoph. – Philosophie ist die Idee einer vollkommenen Weisheit, die mir die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt.“ (Pölitz 1821, AA 28: 533) Die Philosophie in diesem Sinne übe die Vernunft nicht nur in einem geschickteren Gebrauch von Regeln und ihrer Anwendung, sie sei zugleich die Instanz, welche die Zwecksetzung für den Vernunftgebrauch ermögliche: „Wenn wir das innere Princip der Wahl unter den verschiedenen Zwecken Maxime nennen, so können wir sagen: die Philosophie ist eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft. Dann wird der Philosoph mehr nach seinem Betragen, als nach seiner Wissenschaft bezeichnet. – Die Philosophie im Schulbegriff ist blos ein Organon der Geschicklichkeit. Der Philosoph in sensu cosmopolitico ist der, der die Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft zu gewissen Zwecken hat.“ (ebd.: 533f.)

Der kosmopolitische oder praktische Philosoph kennzeichne sich durch sein ‚Betragen‘. Statt sich lediglich auf den geschickten Gebrauch der Vernunft zu allerlei Zwecken zu beschränken, erlege er sich eine Maxime des Vernunftgebrauchs auf, ein inneres Prinzip der Wahl, indem er auf die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft sehe. Dieses Betragen charakterisiere den praktischen Philosophen und markiere den grundsätzlichen Bezug auf die Welt in allen Teilen der Philosophie, denn das „Feld der Philosophie in sensu cosmopolitico“ setze sich so zusammen: „1) Was kann ich wissen? Das zeigt die Metaphysik. 2) Was soll ich thun? Das zeigt die Moral. 3) Was darf ich hoffen? Das lehrt die Religion. 4) Was ist der Mensch? Das lehrt die Anthropologie.“ (Pölitz 1821, AA 28: 533f.)

Wie schon das Selbstdenken als Philosophieren mit einer bestimmten Haltung in Verbindung gebracht wurde, der eines neugierigen Forschers, definierte Kant 36

Der hier betonte Begriff einer Philosophie in sensu cosmopolitico findet sich nicht in Kants authentischen Schriften bestätigt. Für eine textkritische Einordnung von Kants authentischer Formulierung, einer Philosophie nach dem Weltbegriff (KrV, B 866f.), siehe Courtney Fugate (2019).

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in seinem Unterricht das Feld der Philosophie in sensu cosmopolitico durch ein gewisses Betragen des praktischen Philosophen. Eines, das ihn vom Schulphilosophen unterschied, indem es sich nur an letzten Zwecken der Vernunft, an der Idee einer vollkommenen Weisheit orientierte. Damit distanzierte sich Kant mit dem gesamten Fächerangebot seines Philosophieunterrichts von einer Philosophie ‚bloß‘ für die Schule, von einer Philosophie als Werkzeug für intellektuelle Geschicklichkeit. Die ‚Idee einer vollkommenen Weisheit‘ kennzeichnet den Weltbezug auch für die Metaphysik, die Moral und die Religion. Statt einer positiven Definition über einen festen Inhalt dieser Fächer, einer Kennzeichnung des Philosophen über seine Wissenschaft, formulierte er sie als offene Felder durch Fragen an das sich seiner Vernunft bedienende, reflektierende Ich, einer Kennzeichnung des Philosophen über sein Betragen. Die Formulierung der Fragen in der ersten Person Singular unterstreicht Kants Bemühen als Lehrer, das forschende Denken der Studenten anzuregen und verbindet die Forschungsfelder zugleich mit der sie kennzeichnenden Selbsttätigkeit. Durch dieses Ich eines reflektierenden Menschen in der Welt erhielt zugleich die philosophisch aktualisierte Reflexion, in Form von Metaphysik, Moral und Religion, eine Verbindung mit der Welt. Somit kennzeichneten sich auch die theoretischen Unterrichtsfächer Kants durch ihren Bezug auf die Welt. Sie wurden ausgeübt von einem praktischen Philosophen, der die Zwecke seines Vernunftgebrauchs an der Idee einer vollkommenen Weisheit ausrichtete. Kants Begriff der ‚Weltweisheit‘ und die Formulierung in den von Pölitz herausgegebenen Vorlesungsmitschriften der ‚Philosophie in sensu cosmo­ politico‘ deuten eine Konnexion von Philosophie und Welt in Kants Unterricht an. Das selbstständige Forschen und das Betragen des praktischen Philosophen weisen neben spezifischen Kenntnissen als Gegenstand philosophischer Beschäftigung auf den Umgang mit ihnen hin, auf die Haltung des Philosophen in der Welt: sich selbst zu fragen, selbst zu forschen, die eigene Vernunft an höchsten Maximen auszurichten. Dass dem Menschen im Feld der Philosophie die zentrale Rolle zukomme, geht ebenfalls aus der Vorlesung hervor, denn da „sich die drei ersten Fragen auf die letztere beziehen“, könne man alles „Anthropologie“ nennen (Pölitz 1821, AA 28: 534). Auffällig ist dabei die unpersönliche Frage der Anthropologie: Was ist der Mensch? Hier klingt eine unpersönliche Allgemeinheit an, die unabhängig von dem subjektiven Vernunftgebrauch des denkenden Ichs zu sein scheint. Der Grund für die besondere Lehrmethode des selbsttätigen, anhaltenden Forschens in der Philosophie war das Fehlen eines gemeinschaftlichen Maßstabs. Kant betonte in seiner Vorlesungsankündigung von 1765/66, dass in der Weltweisheit „ein jeder seinen eigenen“ Maßstab habe (NEV, AA 02: 308). Vielleicht vermutete

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er in der Anthropologie ein mögliches Korrektiv für den je eigenen, subjektiven Vernunftgebrauch. Was für ein Ziel verfolgte Kant mit seinem Lehrangebot der Anthropologie? Ende des Jahres 1773 erklärte Kant in einem Brief an Herz, er wolle in diesem Winter zum zweiten Mal ein privates Kollegium zur Anthropologie anbieten, welche er „zu einer ordentlichen academischen disciplin zu machen gedenke“ (Br, AA 10: 145). Seine Absicht sei es, „die Quellen aller Wissenschaften die der Sitten der Geschiklichkeit des Umganges der Methode Menschen zu bilden u. zu regiren mithin alles Praktischen zu eröfnen“ (ebd.). Er suche „Phänomena u. ihre Gesetze als die erste Gründe der Möglichkeit der modification der menschlichen Natur überhaupt“ (ebd.). Anstelle einer subtilen, immer vergeblichen „Untersuchung über die Art wie die organe des Korper mit den Gedanken in Verbindung stehen“, wolle er seine Beobachtungen aus dem Leben mit den Studenten teilen, um sie zu veranlassen, „ihre gewöhnliche Erfahrung mit [s]einen Bemerkungen zu vergleichen“ (ebd.). Kant etablierte eine Disziplin konkreter Phänomene, um so über deren Gesetze als Gründe der Möglichkeit für Unterschiede und Änderungen der menschlichen Natur nachzudenken. Inhaltlich deuten die anthropologischen Beobachtungen dabei ein mögliches Korrektiv des eigenen Nachdenkens an, ‚Gesetze‘ der Phänomene. Didaktisch versprechen sie eine Anregung zum Vergleichen der eigenen Erfahrungen mit dem Gehörten, einen ‚Anlaß‘ zum Vergleichen. Die Zuhörer sollten „niemals eine trokene“, sondern „iederzeit eine unterhaltende Beschäftigung“ haben (Br, AA  10: 146). Ähnlich wie Basedow mit seinem Methodenbuch für die Pädagogik, widmete sich Kant mit der Anthropologie dem zugrunde liegenden Prozess der Entwicklung menschlicher Eigenschaften, der Bildung von Menschen. Jedoch war sein Bezug auf den Menschen und dessen Modifikation allgemeiner und nicht allein auf Erziehung fokussiert. Ihm ging es um die Untersuchung der Gründe, die eine Formung der menschlichen Natur ermöglichen, ihre Erscheinungen und Gesetze. Kant ließ Herz in diesem Brief wissen: „Ich arbeite in Zwischenzeiten daran, aus dieser in meinen Augen sehr angenehmen Beobachtungslehre eine Vorübung der Geschiklichkeit der Klugheit und selbst der Weisheit vor die academische Jugend zu machen welche nebst der physischen geographie von aller andern Unterweisung unterschieden ist und die Kenntnis der Welt heissen kan.“ (ebd.)

Als ‚Kenntnis der Welt‘ sollten Physische Geographie und Anthropologie eine Vorübung für Geschicklichkeit, Klugheit und Weisheit sein. Weisheit bezeichnet seit Sokrates, Platon und Aristoteles das die Philosophie

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kennzeichnende Streben nach Einsicht und die damit verbundene Lebensführung (vgl. Burkard 2008b: 672). Die Bedingung für dieses Streben, die Einsicht in die eigenen Grenzen, lässt sich historisch noch früher in der Inschrift des Apollotempel von Delphi antreffen, als dessen Urheber einer der Sieben Weisen gilt: Γνῶθι σεαυτόν. ‚Erkenne dich selbst‘ oder ‚Erkenne, was du bist‘. Wie die Untersuchung der Privatdozentenzeit zeigt, setzte es sich Kant bereits mit seinem Unterricht in Physischer Geographie zum Ziel, „den Menschen näher mit sich selbst bekannt zu machen“ (EACG, AA 02: 9). Von Anfang an beinhaltete das Fach konzeptionell „die Neigungen der Menschen, die aus dem Himmelsstriche, darin sie leben, herfließen“ und „die Mannigfaltigkeit ihrer Vorurtheile und Denkungsart“ (ebd.). Wie sich der Korrespondenz mit Herz entnehmen lässt, beschäftigte sich Kant in den 70er-Jahren intensiv mit einer Theorie über die „Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft“ (Br, AA 10: 123). Vor diesem Hintergrund fällt mit dem Angebot der Anthropologie als Disziplin auf, dass er die Konzentration auf die Grenzen mit einem praktischen Blick auf die ‚Gründe der Möglichkeit der modification der menschlichen Natur überhaupt‘ ergänzte. Demnach schien Kant beide Zugänge nutzen zu wollen, den Menschen näher mit sich bekannt zu machen: Die Grenzen im Wissen um Sinnlichkeit und Vernunft als auch deren Möglichkeiten und Phänomene in der Welt. Den Zusammenhang der beiden Fächer als ‚Kenntnis der Welt‘ und ‚Vorübung der Weisheit‘ präzisierte Kant in seiner Vorlesungsankündigung von 1775. Mit der einzigen von ihm verfassten Vorlesungsankündigung als Professor Von den verschiedenen Racen der Menschen machte er auf seine Vorlesung aufmerksam, die „mehr eine nützliche Unterhaltung, als eine mühsame Beschäftigung“ sei (VvRM, AA  02: 429). Demnach sei die begleitende Ankündigungsschrift „zwar etwas für den Verstand, aber mehr wie ein Spiel desselben, als eine tiefe Nachforschung“ (ebd.). Sie setzte sich aus vier Punkten zusammen, in denen Kant eine Theorie über die menschliche Gattung und ihre Einteilung in vier verschiedene Rassen vorstellte. Durch die Fürsorge der Natur seien Keime in organische Körper gelegt worden, deren ‚Auswickelung‘ von äußeren Umständen, insbesondere von Luft und Sonne, abhängen. So könnten sich aus einer Naturgattung des Menschen unterschiedliche Rassen entwickeln. Die Schwierigkeit, dass es trotz ähnlichen klimatischen Bedingungen zu unterschiedlichen Lokalschöpfungen kommen könne, mache neben einer bloßen Naturbeschreibung eine Geschichte der Natur zur Erklärung aller Mannigfaltigkeiten notwendig. In seiner Anmerkung zu dieser Schrift erklärte er, dass die Physische Geographie, zu der er mit ihr einladen wolle, „zu einer Idee“ gehöre, „welche ich mir von einem nützlichen akademischen Unterricht

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mache, den ich die Vorübung in der Kenntniß der Welt nennen kann“ (ebd.: 443). Er schilderte, welchen Nutzen er sich davon versprach und aus welchen Teilen dieser Unterricht bestand: „Diese Weltkenntniß ist es, welche dazu dient, allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaffen, dadurch sie nicht bloß für die Schule, sondern für das Leben brauchbar werden, und wodurch der fertig gewordene Lehrling auf den Schauplatz seiner Bestimmung, nämlich in die Welt, eingeführt wird. Hier liegt ein zwiefaches Feld vor ihm, wovon er einen vorläufigen Abriß nöthig hat, um alle künftige Erfahrungen darin nach Regeln ordnen zu können: nämlich die Natur und der Mensch.“ (ebd.)

Die Welt als Ort für die künftigen Tätigkeiten der Studenten sollte durch einen Abriss, einen groben Überblick vorgestellt werden. Dieser sollte sie darin üben, die erworbene Wissenschaft und Geschicklichkeit pragmatisch anzuwenden, um in der Welt später selbstständig alle weiteren Erfahrungen nach Regeln ordnen zu können. Deswegen werden die beiden Felder, die Natur in der Physischen Geographie und der Mensch in der Anthropologie, ‚kosmologisch‘ erwogen. Darunter verstand Kant nicht, einzelne Merkwürdigkeiten zu betrachten, sondern ihr Verhältnis im Ganzen zu reflektieren, „worin sie stehen und darin ein jeder selbst seine Stelle einnimmt“ (ebd.). Kosmologisch zu betrachten bedeutete für ihn, den Gegenstand und sich selbst in Zusammenhang mit der Welt zu denken. Festhalten lässt sich, dass Kant in seinem philosophischen Unterricht insgesamt eine besondere Haltung, eine bestimmte Zwecksetzung im Vernunftgebrauch wichtig war, die sich aus einem Zusammenhang des Denkens mit der Welt ergab. Ferner war es ihm ein Bedürfnis, die an der Universität erworbene Kenntnis und Geschicklichkeit durch die Weltkenntnis pragmatisch werden zu lassen, damit sie nicht nur für die Schule, sondern für das Leben ‚brauchbar‘ wurde. Bereits in der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766 betonte Kant es als Vorteil seiner stufenweise vollzogenen Unterweisung, dass, wenn der Schüler nicht bis zur letzten Stufe des Gelehrten käme, er „wo nicht für die Schule, doch für das Leben geübter und klüger geworden“ sei (ebd.: 306). Laut der von Pölitz herausgegebenen Vorlesung gehe es der Philosophie in sensu cosmopolitico nicht nur um bloße Geschicklichkeit, sondern ‚Nützlichkeit‘. Beide Disziplinen der Weltkenntnis, durch die laut Kant der Lehrling auf den Schauplatz seiner Bestimmung, in die Welt eingeführt werden sollte, verdeutlichen den Primat der Praxis in seinem Unterricht während der zweiten Phase. Mittels Physischer Geographie und Anthropologie verwirklichte Kant seine ‚Idee eines nützlichen akademischen Unterrichts‘ und bot den Studenten eine Vorübung darin, die Kenntnisse der

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Schule für das Leben brauchbar machen zu können. Das Selbstdenken der zetetischen Methode wurde so auf dem Schauplatz der Welt als dem Ort nützlicher Forschung angewendet. Kants philosophischer Einsatz für eine ‚wahre Weltweisheit‘, sein Unterricht von einer ‚Philosophie in sensu cosmopolitico‘, die auf eine moralisch zu nennende Haltung des ‚praktischen Philosophen‘ hinsichtlich seiner Zwecke aufmerksam machte, sein Versuch durch eine Vorübung der Weltkenntnis, den erworbenen Kenntnissen Eingang ins ‚Pragmatische‘ zu verschaffen, damit sie ‚nicht bloß für die Schule, sondern für das Leben brauchbar werden‘, liest sich auch als Antwort auf die grundsätzliche Frage der Zeit, wie sich wissenschaftlicher Fortschritt und damit verbundener Nutzen befördern ließe (vgl. Appendix: 334f.). Das Panorama über Kants Kompendien und deren Autoren belegt ebenfalls das Entstehen neuer akademischer Disziplinen in Verbindung mit ihrem praktischen Nutzen in der Welt. Wallerius beförderte die Mineralogie sowie die praktische Chemie und richtete sich sowohl an den Bergmann als auch den Gelehrten. Erxleben begründete die Tierheilkunde als wissenschaftliche Disziplin und richtete sich an den Landmann und seine Studenten. Ihre Lehrbücher waren an spezifische Personen aus Schule und Welt adressiert. Sie verwiesen auf das Forttreiben der Wissenschaften durch einen generationenund bei Wallerius überdies nationenübergreifenden Austausch der Forscher und Gelehrten. Dieser vollzog sich durch den Unterricht der Lehrer, das Weitergeben ihrer Forschung an ihre Schüler und das Einbinden in das gemeinsame Projekt, damit diese ihrerseits durch Austausch, Recherche und Erfahrungen das Feld weiter erschließen. Dadurch versprach man sich einen wachsenden Nutzen in der Welt, ganz konkret etwa für den Bergbau oder die Landwirtschaft. Die Autoren bemühten sich dafür einer einfachen und klaren Sprache, um möglichst Viele zu erreichen. Außerhalb der Wissenschaften und Universitäten verstärkte sich das Inter­ esse des Staates auf diesen Fortschritt und den dadurch zu erwartenden Nutzen Einfluss zu nehmen, etwa durch die Verbesserung des Schulwesens. Das General-Landschul-Reglement vom 12. August 1763 unter Friedrich dem Großen drückte einen gesamtstaatlichen Ordnungswillen im Bereich der Schulen aus, da es konkrete „Bestimmungen über Umfang, Dauer und Zielsetzung eines regelmäßigen und verpflichtenden Schulunterrichts, Höhe und Art der Bezahlung des Schulgelds, Qualifikation und Anstellung der Schulmeister, Inhalt und Methode der einzelnen Unterrichtsfächer und über die Aufsichtspflicht der Prediger und Inspektoren“ enthielt (Mainka 2005: 212f.). Seit 1770/71 war Zedlitz als Minister für den Großteil der brandenburgpreußischen Schulangelegenheiten zuständig. Traditionelle Verkrustungen auf lokaler Ebene, institutionelle Zersplitterung und mangelnde Kompetenz

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der zuständigen Aufsichtsbehörden verhinderten durchgreifende Erfolge des Justiz- und Kultusministers und erschwerten die Umsetzung von Reformen (ebd.: 214). Zedlitz konzentrierte sich deswegen auf wenige Projekte und Musterbeispiele, um Modellcharakter zur Nachahmung zu schaffen (vgl. ebd.: 215f.). Das Methodenbuch von Basedow (vgl. Appendix: 318ff.), das Kant für seine erste Pädagogik-Vorlesung in den 70er-Jahren verwandte, richtete sich auf die für Wissensvermehrung, Verbreitung und Nutzen basale Voraussetzung: Die Erziehung, Bildung und Lehre des Menschen. Basedow erkannte in der Erziehung die Bedingung, einzelne Menschen gemeinnützig und glücklich zu machen und damit den Staat zu mehr Glückseligkeit zu führen. Indem die Erziehungsmethode den natürlichen Bedürfnissen und Anlagen des Menschen angepasst werde, solle sich die Menschheit insgesamt verbessern. Auch er richtete sich nicht ausschließlich an Studierende als künftige Lehrer, sondern an alle, die einen Beitrag zu dieser Erziehung leisten konnten: Mütter, Väter und Ratgeber des Staates und der gelehrten Welt. Forschung als generationenübergreifendes Gemeinschaftsprojekt für praktischen Nutzen in der Welt zu verstehen, Erziehung und das wechselseitige Lehrer-SchülerVerhältnis als Bedingung für diesen Prozess anzusehen, zeigt sich somit als Ausdruck des aufklärerischen Denkens dieser Zeit seitens der Gelehrten und des Staates. Während etwa Wallerius, Erxleben und Basedow ein spezifisches Wissensgebiet als akademische Disziplin etablierten, um einen spezifischen Nutzen in der Gesellschaft zu verbessern, widmete sich Kant dem dafür grundlegenden Prozess und seinen Bedingungen. Die Etablierung der Anthropologie als Wissenschaft und Kants Konzentration auf die Natur des Menschen zeigen sich im historischen Kontext der Reformbemühungen Basedows und der Philanthropen, die sich um die Verbesserung der Erziehung kümmerten, und dem wissenschaftlichen Streben der Forschung nach gesellschaftlichem Nutzen als Versuch, diesen Bemühungen ein sicheres Fundament zu bieten. Der Bildungsminister Zedlitz, der ebenfalls mit Spannung die kantische Anthropologie bei seinem Schüler Herz hörte und um die Probleme der Umsetzung seiner Reformen wusste, erkannte den grundlegenden Nutzen Kants philosophischen Unterrichts. Im August  1778 bat er Kant in einem Brief, ihm Mittel an die Hand zu geben, „die Studenten auf Universitaeten von den Brodt Collegiis zuruk zu halten u. ihnen begreiflich zu machen daß das bischen Richterey, ja selbst Theologie u. ArzneyGelarheit unendlich leichter u. in der Anwendung sichrer wird wenn der Lehrling mehr philosophische Kenntniß hat, daß man doch nur wenige Stunden des Tages Richter, Advocat, Prediger, Arzt u. in so vielen Mensch ist wo man andre Wißenschaften nötig

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hat“ (Br, AA 10: 236). Kants Entscheidung, statt Philosophie Philosophieren zu lehren, Philosophie mit Weltbezug zu unterrichten und den Menschen näher mit sich selbst bekannt zu machen, sollte seinen Studenten die Bedingung ermöglichen, ihr Denken auf alle tatsächlichen Gegebenheiten anzuwen­ den und sich selbst durch ihre Vernunft in Hinsicht auf die Zwecke ihres Gebrauches zu orientieren. Mit dieser Form des Unterrichts bereitete er seine Schüler vor, die sich in seiner Zeit verstärkt zeigenden, offenen Wissenschaftsfelder weiterzuentwickeln, das mechanische Nachahmen von Gegebenheiten zu überkommen und sich dabei an allgemein anzuerkennenden, ‚letzten‘ Zwecken in der Welt auszurichten. Zu wissen, was der Mensch ist, erkannte Kant als basalen Orientierungspunkt für das Fortschreiten des menschlichen Geschlechts. Seine ‚Idee eines nützlichen Unterrichts‘ liest sich im historischen Kontext als Bemühen um die Grundlage einer theoretisch-allgemeinen wie faktisch-geprüften Orientierung, für einen Generationen-, Länder- und Konventionsgrenzen überschreitenden Fortschritt der Wissenschaften und des gesellschaftlichen Nutzens, durch das Ausrichten des eigenen Vernunftgebrauches in der Welt auf letzte Zwecke. Kants Einsatz für den Philanthropismus kann verdeutlichen, inwiefern sein pädagogisches Interesse und Engagement mit einer moralisch zu nennenden Zielrichtung einherging und dass er es durchaus für möglich hielt, eine philosophische Idee durch Tätigkeit in der Welt zu verwirklichen. Nachdem Basedow das Philanthropin in Dessau eröffnete, machte er in seiner ersten Ausgabe des philanthropischen Archivs auf seine Schwierigkeiten aufmerksam und richtete sich an: „Vormünder der Menschheit, besonders welche eine Schulverbesserung beginnen, und an Väter und Mütter, welche Kinder ins Dessauische Philanthropin senden wollen“ (AP, AA 02: 447). Mit diesem Aufruf überschrieb Kant den ersten Abschnitt seiner Aufsätze, das Philanthropin betreffend, die sowohl im März 1776 als auch im März 1777 in den Königsbergsche Gelehrte und Politische Zeitungen veröffentlicht wurden. Er lobte Basedows Einsatz für „Wohlfahrt und Verbesserung der Menschen“, dass er „die ächte, der Natur sowohl als allen bürgerlichen Zwecken angemessene Erziehungsanstalt“ nicht nur erdacht, sondern umgesetzt hatte (ebd.). Mit dieser Anstalt könne eine ganz neue Ordnung menschlicher Dinge beginnen, wenn sie schnelle Ausbreitung finde, eine Reform im Privatleben und im bürgerlichen Leben hervorbringen: „Um deswillen ist es auch der eigentliche Beruf jedes Menschenfreundes, diesen noch zarten Keim, so viel an ihm ist, mit Sorgfalt zu pflegen, zu beschützen, oder ihn wenigstens dem Schutze derer, die mit einem guten Willen das Vermögen verbinden Gutes zu thun, unablässig zu empfehlen; denn wenn er, wie der

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Kapitel 2 glückliche Anfang hoffen läßt, einmal zum vollständigen Wachsthume gelangt sein wird, so werden die Früchte desselben sich bald in alle Länder und bis zur spätesten Nachkommenschaft verbreiten.“ (ebd.: 448)

Dazu empfahl er, Basedows Schulbücher zu nutzen. Im zweiten Abschnitt richtete sich Kant „[a]n das gemeine Wesen“ und erklärte, es gebe zwar genug Erziehungsanstalten und fleißige Lehrer, aber weil „alles darin der Natur entgegen arbeitet“, könne nicht „das Gute aus dem Menschen gebracht werden, wozu die Natur die Anlage gegeben“ habe (AP, AA 02: 449). Da wir als tierische Geschöpfe „nur durch Ausbildung zu Menschen gemacht werden“, könne eine von Gewohnheit und sklavischer Nachahmung freie Erziehungsmethode, „die weislich aus der Natur selbst gezogen“ sei, zu anderen Menschen führen (ebd.). Da von einer solchen Schulverbesserung das „Heil des menschlichen Geschlechts“ abhänge, forderte Kant statt langsamer Reform eine schnelle Revolution (ebd.). Die Musterschule in Dessau sei die Quelle für eigenständiges Wachsen und Ausbreiten, denn sie gebe den Schülern die Gelegenheit, „sich nach und nach in großer Zahl bei ihr nach der wahren Erziehungsmethode zu Lehrern zu bilden“ (ebd.). Die so gebildeten Lehrer würden im Anschluss bald das ganze Land mit guten Schulen versehen. Kant sah in Basedows Schule eine praktisch gewordene Annäherung an das Gute, einen „Beitrag das größtmögliche, dauerhafteste und allgemeine Gute“ zu befördern (ebd.: 451). Eine der Natur angemessene Erziehung habe Realität gewonnen: „Eine solche Erziehungsanstalt ist nun nicht mehr bloß eine schöne Idee, sondern zeigt sich mit sichtbaren Beweisen der Thunlichkeit dessen, was längst gewünscht worden, in thätigen und sichtbaren Beweisen. Gewiß eine Erscheinung unserer Zeit, die, obzwar von gemeinen Augen übersehen, jedem verständigen und an dem Wohl der Menschheit theilnehmenden Zuschauer viel wichtiger sein muß, als das glänzende Nichts auf dem jederzeit veränderlichen Schauplatze der großen Welt, wodurch das Beste des menschlichen Geschlechts, wo nicht zurückgesetzt, doch nicht um ein Haar breit weitergebracht wird.“ (ebd.: 450)

Um das Gute zu befördern, so lässt sich daraus schließen, brauche es mehr als vernünftiges Denken, es brauche vernünftiges Handeln in der Welt. Deswegen machte Kant aktiv Werbung für die Unterstützung des Philanthropins und rief Eltern, Lehrer und alle Menschenfreunde auf, „wenigstens zur Bildung der Menschen das ihrige beizutragen“ (ebd.: 451). Für die Formen von Kants Erziehung ist von Bedeutung, dass er mit seinem Einsatz für das Institut pädagogisches Interesse bewies, für das er aktiv und öffentlich eintrat, um es voranzutreiben. Die Erziehung und Bildung des Menschen erachtete er für den Fortschritt der menschlichen Gattung als

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wichtig. Das bezeugt auch die bereits erwähnte Korrespondenz 1778 mit Wolke, dem Leiter des Philanthropins, dem Kant beschrieb, worauf es ihm bei einem Lehrinstitut ankam: Die „Bildung des Menschen, seinem Talente so wohl als Charakter nach“ (Br, AA 10: 238). Hier deutet sich die Konnexion zum Moralischen an. Eine echte Erziehung sei notwendig, um das Gute aus dem Menschen zu bringen und dadurch die praktische Wirkung des Guten zu befördern: „Das Gute hat eine unwiderstehliche Gewalt, wenn es angeschauet wird.“ (AP, AA  02: 448) Die Gründung des Philanthropins und Kants Einsatz dafür deuten an, dass das konkrete Beispiel des eigenen Handelns eine solche Anschauung des Guten sein kann. Kant setzte sich mit seinem philosophischen Unterricht für einen grundlegenden Maßstab zur Orientierung in den allgemeinen Bemühungen um Erziehung, Wissenschaften und Nutzen ein und bemühte sich, durch seine Tätigkeiten selbst zum Exempel zu werden: Als Lehrer und öffentlich auftretender Gelehrter. Praktisches Handeln für eine Verbesserung der Erziehung, und Erziehung als praktisches Anleiten zum eigenständigen Denken und Urteilen über und in der Welt waren für Kant eng mit einer moralischen Zielrichtung verbunden. Ein Gutes, auf das sich als praktischer Philosoph in der Welt betrachtend und tätig Bezug nehmen ließ.

Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Pädagogische und didaktische Einflüsse neben Rousseau und Kants Idee eines nützlichen Unterrichts

Die historische Rekonstruktion der Unterrichtspraxis ermöglicht eine Kor­ rektur von Weisskopfs (1970: 350) Schlussfolgerung, das „vorwiegend pädago­ gische Jahrzehnt“ von Kant sei „die Zeit von 1770-1780“, da er sich hier für das Philanthropin einsetzte und in den Reflexionen zur Anthropologie seine ‚Beobachtungslehre‘ vorbereitete. Die Beobachtungen und Beschreibungen der Studenten und die herangezogenen Biographien zeigen, dass Kant gerade in seiner Zeit als Privatdozent zwischen 1755/56 und 1769/70 als anregender Dozent wahrgenommen wurde. Zwar fällt sein Einsatz für das Philanthropin in diesen Zeitraum, aber für das von Weisskopf genannte Jahrzehnt finden sich insgesamt weniger Beschreibungen von Studenten, die ihn, abgesehen von seinen Vorlesungen in Anthropologie und Moralphilosophie, als schwierigen Philosoph wahrnahmen (vgl. Kühn 2004: 247; Malter 1990: 107, 117f., 119). Allerdings konkretisierte er in dieser Phase seine Idee von einem nützlichen akademischen Unterricht und etablierte neben der Physischen Geographie die Anthropologie. Jedoch verband Kant bereits seit seiner Vorlesungsankündigung von 1757 die Physische Geographie mit der didaktischen Überlegung, durch die

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Perspektive auf die physische Naturbeschaffenheit der Welt ‚den Menschen näher mit sich selbst bekannt zu machen‘. Das Interesse an einer empirischen Beobachtung des Menschen, seiner Neigungen, Vorurteile und Denkungsart war demnach kein Novum in Kants Unterrichtspraxis der 1770er. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Schlussfolgerung Weisskopfs (1970: 350), die Beschäftigung mit Rousseaus Werken eröffnete Kant „eine neue Richtung und Dimension seines Denkens: die Wendung vom naturwissenschaftlich und vorwiegend metaphysisch orientierten zum anthropologischen Denken“, in zweifacher Hinsicht differenzieren. Zum einen zeigte Kant bereits als Schüler eine Leidenschaft für die Lektüre der alten Klassiker und eignete sich als Student ein möglichst breites Wissen an, bevor er sich in seinen ersten akademischen Arbeiten auf den naturwissenschaftlich-metaphysischen Bereich spezialisierte. Die inhaltliche Ausrichtung von Kants Unterricht zeigt als gleichbleibende Konstante zwischen Winter 1755/56 und Sommer 1796 seine Vorlesungen in den Kerndisziplinen der theoretischen Philosophie, Logik und Metaphysik. Die erste Phase als Privatdozent lässt zwar tatsächlich ein überwiegend mathematischnaturwissenschaftlich ausgerichtetes Lehrangebot erkennen, das sich in der ersten Dekade als ordentlicher Professor von Sommer 1770 bis Winter 79/80 änderte. Er bot fortan keine Vorlesungen mehr in Mathematik und Mechanik an, las in diesen zehn Jahren nur zwei Mal über Physik und ergänzte seine Physische Geographie ab Wintersemester 1772/73 erstmals mit der Anthropologie. Wird jedoch beachtet, dass Kant seit Beginn der Privatdozentenzeit mit dem besonderen Teil der Physischen Geographie auch beabsichtigte, den „Mensch nach dem Unterschiede seiner natürlichen Bildung und Farbe in verschiedenen Gegenden der Erde auf eine vergleichende Art“ zu betrachten (EACG, AA 02: 9), ließe sich in Bezug auf Kants anthropologisches Denken treffender von einer zunehmenden Konzentration als von einer ‚Wendung‘ sprechen. Wie die Exegese des Bildungsbegriffes im mechanischen Kontext der Naturgeschichte und das frühe Problembewusstsein Kants über die Erziehung zeigen werden, weisen auch die frühen ‚naturwissenschaftlichen‘ Arbeiten stets anthropologische Bezüge zur Beschaffenheit des Erkenntnisvermögens und der Sonderstellung des Menschen in der Natur auf (GSK, AA 01: I-XIII; FEV, AA 01: 212; NTH, AA 01: 351-368). Zum anderen rät der Aufweis der pädagogischen Strömungen in Kants direktem Umfeld von einer monokausalen Bewertung des Einflusses von Rousseau ab. Dass Rousseau für Kant richtungsweisend war und er ihm zugestand, ihn zurechtgebracht zu haben, steht außer Frage (vgl. HN, AA  20: 44). Doch die biographische Rekonstruktion hat bereits den Königsberger

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Pietismus und seine institutionalisierte Form des Fridericianums als historische Verbindungslinie Kants zum Pädagogischen ausgewiesen. Die Kompendien stellen weitere didaktische und pädagogische Einflüsse aus Kants unmittelbarer Umgebung dar, die zudem dabei helfen können, seine pädagogischen Absichten und Methoden historisch einzuordnen. Wie im Appendix dieser Arbeit gezeigt, teilte Kant seine pädagogischen Absichten, das Selbstdenkenlernen und das Streben nach Nützlichkeit, mit den anderen Lehrern der Aufklärung. Doch lassen sich in Bezug auf die Methoden der Kompendien zwei unterschiedliche Tendenzen erkennen. Die erste Tendenz spiegelt sich in der mathematischen Ordnung von Wolff und der methodo scientia von Baumgarten. Wolff und Baumgarten bevorzugten für ihre Kompendien eine strenge Ordnung und eine klare Sprache mit gründlicher Terminologie. Wolff (1728: 3vff.) sah in der mathematischen Ordnung „das Mittel, wodurch der Verstand des Menschen geändert“ werden könne und betonte, die Fertigkeit käme „durch die Übung, nicht aber durch Erlernung der Regeln“, eine Veränderung, die nach und nach geschehe. Ein Anfänger solle durch den Unterricht ein „Bild der richtigen Ordnung“ erblicken und „von der Gründlichkeit einigen Geschmack“ bekommen (ebd.: 4v). Baumgarten (1763/1969: 5), der sich als Schüler Wolffs verstand, verfasste seine Kompendien ebenfalls schmucklos nach einer „methodo scientia“, einer wissenschaftlichen Methode ohne Glauben. Dass diese rationalistische, schulphilosophische Herangehensweise des Wolffianismus einen Einfluss auf Kants pädagogische Überlegungen hatte, deuten seine Reflexionen über „die Grundsätze der Popularität in Wissenschaften überhaupt“ an, in denen er sich für „die schulgerechte Methode“ aussprach, die immer das Fundament bleiben müsse (Br, AA 10: 247). Mittels mathematisch gewisser Methode und Ordnung ein Beispiel für gründliches Prüfen und Urteilen zu bieten und dabei auf scholastische Genauigkeit in den Begriffen zu achten, ist eine didaktische Überzeugung, die Kant mit Wolff und Baumgarten teilte. Daneben lassen Kants Kompendien eine zweite Tendenz erkennen: Die ebenfalls für die Aufklärung typische Hinwendung zum Praktischen, zum Nützlichen und dem Konkreten, die eine Aufwertung der Rhetorik mit sich brachte. Bereits Baumgarten beschrieb die Pflichten des Gelehrten und erwähnte neben Wahrheit, Klarheit und Gründlichkeit auch Lebendigkeit und Begeisterung. Meier (1752, AA 16: 872) beendete seine Vernunftlehre mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Verknüpfung der eigenen Meditationen mit der täglichen Erfahrung, dem Umgang mit der Welt und dem Gebrauch der Dinge selbst, um „nicht als ein blosser gelehrter Wurm vom Schulstaube“ zu leben, der platonische Republiken erträume. Mit dem Lehrbuch von Feder

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entschied sich Kant für eine neue Art philosophischer Lehrwerke, „den Prototyp der popularphilosophischen Kompendien“ (Nowitzki 2018: 384). Durch dieses Lehrbuch erhielt er bereits zum Ende seiner Privatdozentenzeit in den späten 1760er-Jahren Anregungen zu praktischen Regeln für den Unterricht aus der Erfahrung eines geübten Erziehers und Lehrers, wurde auf die Geschichte als prägenden Faktor für die philosophische Disziplin und ihre Lehre hingewiesen und darauf, dass Übung und Beispiel auch im Bereich der Tugend und praktischen Philosophie für das Lernen eine wesentliche Rolle einnehmen. So gab Feder (1769: 308-317) etwa die konkrete Empfehlung, man solle das eigene Tugendbemühen prüfen und dafür gemäß der goldenen Lehre des Pythagoras die Handlungen des Tages untersuchen, bot einen Satz imperativischer Regeln, um sich selbst und andere zu Tugend und Weisheit zu führen und betonte, „Beyspiele machen mehr Eindruck als Lehren“. Das erinnert an die von Kant später formulierte pädagogische Empfehlung, zur „Vergleichung […] mit der Idee (der Menschheit)“ anzuleiten, wobei er ebenfalls die „Kraft des Exempels“ betonte, jedoch auf den Beweis der Tunlichkeit einschränkte (MS, AA 06: 480). Nicht zuletzt zeigt sich zudem in Kants offenkundiger Unterstützung des Philanthropins ein weiterer pädagogischer Einfluss. Basedow, der das Philanthropin in Dessau gründete, das Kant unterstützte und dessen Methodenbuch er für seine erste Pädagogikvorlesung im Winter 1776/77 verwandte, sammelte bereits früh pädagogische Erfahrungen als Erzieher. Da er bereits in den 1750er-Jahren die Grundlagen seines pädagogischen Systems entwickelte, das in wesentlichen Punkten mit der ab 1774 als philanthropisch bezeichneten Pädagogik übereinstimmt, schließt Overhoff (2004: 216), dass „die philanthropische Pädagogik schon lange vor und deshalb auch eindeutig unbeeinflußt von Jean-Jacques Rousseaus Emil konzipiert wurde“. Die philanthropische Pädagogik stellt somit eine weitere Quelle für Kants Denken über Erziehung unabhängig von Rousseau dar. In Basedows Schule sah Kant eine praktisch gewordene Annäherung an das Gute, einen „Beitrag das größtmögliche, dauerhafteste und allgemeine Gute“ zu befördern, da sie sich durch eine Erziehungsmethode kennzeichne, „die weislich aus der Natur selbst gezogen“ sei (AP, AA 02: 449ff.). Die Ergebnisse der vorliegenden Rekonstruktion von Kants Unterrichtspraxis sollen den Einfluss Rousseaus auf Kant nicht schmälern oder gar widerlegen, sondern durch weitere, historische Verbindungslinien zum Pädagogischen ergänzen: Die rationalistisch-tabellarischen als auch populärphilosophischrhetorischen Didaktikanregungen seiner Kompendien und die konkreten

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Reformbemühungen des Philanthropismus. Das markanteste Merkmal der zweiten Unterrichtsphase von Kant als Professor vom Sommer 1770 bis zum Winter 1779/80 ist die Etablierung der Anthropologie als weitere Disziplin der ‚Weltkenntnis‘ im Wintersemester 1772/73. Folgende Tabelle soll die pädagogische Absicht der ‚Kenntnis der Welt‘ als ‚Vorübung in Weisheit‘ und die kosmologische Methode ergänzen sowie auf das sich zeigende Problem aufmerksam machen, zu dem Kants forschende Methode einer freien Reflexion mit seiner geübten Lehrervernunft gerade in der Metaphysik führte:

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Abb. 4

2.3

Kapitel 2

Historische Stimmen zu Kants Unterrichtspraxis 1770-1779/80 [ED]

Philosophische Schriften als Erweiterung des Unterrichts: Vom Einrücken in den Senat bis zum Vorlesungsende (Sommer 1780 – Sommer 1796)

Im Alter von 56 Jahren wurde Kant zum ständigen Mitglied des akademischen Senats der Albertina. Mit dem Einrücken am 11. August 1780 begann eine rege Amtstätigkeit, in der er 1786 und 1788 zweimal das Rektorat der Universität übernahm. 1781 nahm Kants kritische Philosophie mit der Kritik der reinen Vernunft ihren öffentlichen Auftakt. In den folgenden 80er- und frühen 90erJahren schrieb er den Großteil seiner heute bekannten Schriften. Es folgte der Ausbau und das Weiterentwickeln seines philosophischen Systems sowie eine zunehmende, schriftstellerische Produktion kleinerer Aufsätze, in denen er zu aktuellen Debatten als Gelehrter Stellung bezog. Neben der Vorlesungstätigkeit verstärkte sich in seinem fortgeschrittenen Alter die Hinwendung an die Öffentlichkeit: Als Professor wendete er sich an den Kreis seiner Hörer, als Autor an die Öffentlichkeit der Leser und als Amtsperson an die akademischen Bürger, somit auch als bildungs- und kulturpolitische Stimme an die Regierung. Um seinen Unterricht in der letzten Phase zu erarbeiten, werden die geänderten Rahmenbedingungen seiner Lehre sowie die Wirkung seiner individuellen Art

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als Lehrer geschildert und anhand seiner Korrespondenz geprüft, ob er seine pädagogische Konzeption, die sich bisher in der zetetischen Methode und der Idee eines nützlichen akademischen Unterrichts als Vorübung in Weltkenntnis zeigte, beibehält oder weiterentwickelt. Veränderungen der Rahmenbedingungen durch die Hinwendung an die Öffentlichkeit Wie bereits in der vorangegangen Phase in Bezug auf Kant als Dekan erwähnt wurde, war der Senat das oberste Organ der akademischen Selbstverwaltung. In seiner Kant-Biographie zitiert Steffen Dietzsch (2003: 131) die Erklärung der ostpreußischen Regierung vom 11. August 1780, mit der Kant dieses Amt aufgetragen wurde: „Wir wollen dem jede Verbesserung so sehr verdienenden Prof. Log. & Met. Kant die vacant gewordene Stelle im academisch. Senat mit den dabey aufkommenden Emolumenten a. 27 Thr. 75 gr. 10 Pf. hiemit conferiren und darin bestätigen.“

Das Hauptauswahlkriterium, um Mitglied des Senats, wortwörtlich dem Ältes­ tenrat, zu werden, war das Dienstalter. Dem Prinzip der Anciennietät folgend übernahm Kant den Sitz des vorherigen Senatsmitglieds Karl Andreas Christiani, der 1780 starb. Naragon (2006h) listet die Gruppe der Senatoren auf, die sich aus je zwei Professoren der oberen Fakultäten und neben Kant noch drei weiteren Professoren der philosophischen Fakultät zusammensetzte. Neben der geringen finanziellen Zusatzeinnahme war es Kant als Senator gestattet, seinem Gehilfen, dem Amanuensis, ein freies Essen an der Universität zu ermöglichen. Einher ging die Verpflichtung, an den wöchentlich stattfindenden Senatssitzungen teilzunehmen und sich für die Aufgabe des Rektors zur Wahl stellen zu lassen (vgl. ebd.). Über die wachsenden Amtsverpflichtungen klagte Kant in einem Brief an Carl Leonhard Reinhold im März 1788: „Ich bin dieses Sommersemestre durch sehr durch ungewohnte Arbeit, nämlich das Rectorat der Universitaet (welches, zusammt dem Decanat der philos. Facult. mich in drey Jahren hintereinander 2 mal getroffen hat) belästigt.“ (Br, AA 10: 532)

In den letzten 15 Jahren seiner Vorlesungstätigkeit an der Albertus-Universität vertrat Kant insgesamt vier Mal die philosophische Fakultät als Dekan, in den Wintern 1782/83, 1785/86, 1787/88 und im Sommer 1791. Zweimal vertrat er zudem als Rektor die gesamte Universität, in den Sommern 1786 und 1788. Für

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den feierlichen Antritt seines ersten Rektorats dichteten einige seiner Schüler ihm zu Ehren: „Wenn Du uns den Weg der Weisheit führst, / Unsern Geist durch Wissenschaft erhöhest / Und das Herz mit ächter Tugend zierst; / Weihen wir in stiller reiner Freude / DIR des Herzens lautre Dankbarkeit, / Und verehren DICH als unsern Vater, / Der uns liebt mit gleicher Zärtlichkeit.“ (Br, AA 12: 405)

Gleich in seiner ersten Amtszeit als Rektor fiel ihm die Aufgabe zu, die Thronbesteigung von Friedrich Wilhelm II am 19. September 1786 zu organisieren (vgl. Kühn 2004: 362). Der Anatomieprofessor Johann Daniel Metzger protokollierte dabei die Versäumnisse Kants, wie etwa die fehlende Einladung der übrigen ordentlichen und außerordentlichen Professoren, um einen Beweis „der Confusion und des tumultarischen Ganges der Geschäfte in diesem Rectorat“ vorzulegen (vgl. Euler/Stiening 1995: 60f.). Die nähere Untersuchung von Kants Verhalten gegenüber Metzger zeugt von kollegialer Professionalität und somit davon, dass Kant „mit Entschiedenheit für eine funktionierende universitäre Selbstverwaltung eintrat und konstruktiv an der Ausdifferenzierung ihrer inneren Organisation mitwirkte“ (ebd.: 63). Kühn (2004: 364f.) listet Kants geschickte Einflussnahme auf die Universität über ihre Personen auf, mit der er nach und nach dafür sorgte, dass die philosophische Fakultät zunehmend einen kantischen Anstrich erhielt. Die Verwaltungsangelegenheiten waren für ihn, schließt Kühn (2004: 365), von untergeordneter Bedeutung gewesen, doch nicht unwichtig. So habe Kant etwa als Dekan das Gesuch eines jüdischen Studenten unterstützt, ihm den Erhalt der Magisterwürde zu gewähren, was aufgrund dessen Konfession jedoch scheiterte (vgl. ebd.: 361). Neben dem Brief an Reinhold klagte Kant gegenüber Ludwig Heinrich Jakob im Mai 1786, „ein academisches weitläufiges Geschäfte“ sei dieses Semester auf ihn gefallen und es raube ihm „beynahe alle Zeit“, die er für eine zweite, teilweise klarere Auflage der Kritik benötige (Br, AA  10: 451). Die Quellen belegen, dass er seine Amtsaufgaben gewissenhaft vertrat, obwohl die Produktion seiner Schriften und Verbreitung seines kritischen Systems für ihn Priorität hatten. Dass es zu den Aufgaben des Dekans zählte, die neuankommenden Stu­ denten zu prüfen, wurde bereits in der zweiten Phase geschildert. Euler untersuchte eine weitere Aufgabe näher, die Kant in seiner Rolle als Dekan im Winter 1787/88 zukam. Die soeben installierte, staatliche Schulaufsichtsbehörde, das Oberschulkollegium, bat zu dieser Zeit die drei führenden preußischen Universitäten Halle, Frankfurt an der Oder und Königsberg um Vorschläge, durch welche Mittel der Fleiß von Studienanfängern künftig befördert werden könnten (vgl. Euler 1999: 235). Das Abfassen des Gutachtens

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fiel in Kants Aufgabenbereich und wurde im Anschluss als „Kantsche Idee“ vom Oberschulkollegium etikettiert und diskutiert (ebd.: 237). Euler (1999: 238251) erarbeitet die Aspekte des Gutachtens, wie Kants Ansicht, dass Prüfungen nie frei von Menschlichkeiten seien und deswegen ein Amtswechsel als ausgleichendes Instrument nutzen könne, Fehler gegenseitig aufzuheben statt zu perpetuieren. Euler schließt, dass diese Idee im Wesentlichen darin bestand, die momentan bewährte Praxis durch die Prüfung sich abwechselnder Dekane an der Universität beizubehalten und stattdessen einen funktionierenden Selektionsmechanismus an den Schulen zu etablieren. Kants Argumentation als amtliche Person und seine konkreten Vorschläge beruhten „auf der Einsicht in die Unmöglichkeit, durch staatliche Verordnungen die Qualität der Lehre an den Universitäten verbessern zu können“ (ebd.: 253). Sein Vorschlag von einer auf Lehrerkonferenzen basierenden Versetzungspraxis an den Schulen ging in den Beschluss des Oberschulkollegiums ein, Prüfungen sowohl an Schulen als auch Universitäten einzuführen (vgl. ebd.: 262). Indem Kant praktikable Vorschläge formulierte, bekundete er „ein ernsthaftes Interesse an der Kulturpolitik seiner Zeit, dem er als Amtsträger der Universität nach Kräften nachzukommen suchte“ (Euler 1999: 270). Den Umfang seiner Vorlesungen reduzierte Kant erst Ende der 80er-Jahre merklich. Während er im Sommer des Jahres, in dem er sich bei Reinhold über seine ausufernde Amtstätigkeit beklagte, noch 13 Wochenstunden über Logik, Naturrecht und Physische Geographie hielt sowie ein Examinatorium über Logik anbot, beschränkte er sein Angebot im anschließenden Sommer auf neun Wochenstunden (vgl. Kühn 2004: 415). Wie Naragons (2006a) Tabelle belegt, blieb Kant in den 90er-Jahren bis zum Ende seiner Vorlesungen bei dem von ihm etablierten Wechsel von Logik und Physischer Geographie im Sommer sowie Metaphysik und Anthropologie im Winter. Lediglich im Winter 1793/94 schien es noch eine separate moralphilosophische Vorlesung gegeben zu haben. Quantitativ lässt sich festhalten, dass Kant erst im Alter von 64 Jahren seine Vorlesungstätigkeit merklich begrenzte, jedoch bis zu seinem 72. Lebensjahr kontinuierlich pro Semester zwei Kollegien, ein öffentliches und ein privates, im gleichbleibenden Wechsel anbot. Inhaltlich blieb es in den 80er-Jahren bei einem weiterhin gleichhäufigen Angebot seiner Vorlesungen zu Physik (4), Moralphilosophie (5) und Naturrecht (5). Der Großteil seiner Pädagogikvorlesungen (3) und der Vorlesungen in rationaler Theologie (3) fiel in diesen Zeitraum, über Enzyklopädie hielt er nur noch eine Vorlesung im Winter 1781/82. Markant ist die Beschränkung in den 90er-Jahren auf seine Fächerkombination der theoretischen Philosophie, die je mit einer Diszi­ plin der Vorübung in Weltkenntnis verbunden wurde: Logik und Physische

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Geographie im Sommer, Metaphysik und Anthropologie im Winter. Mit der Reduktion seiner Vorlesungstätigkeit kristallisieren sich diese vier Fächer in ihrem Zusammenspiel als Kern seines philosophischen Unterrichts heraus. Äußerlich änderte sich der Unterricht für Kant durch den Umzug in sein eigenes Haus. Ab 1784 nutzte er das zweistöckige, ruhig gelegene Haus in der Prinzessinstraße zum Wohnen und für seine Vorlesungen. Im Vergleich zu Kants anderen Wohnstätten gibt es zu diesem Haus die detailliertesten Beschreibungen (vgl. Naragon 2006b; Kühn 2004: 311-319). Jachmann (1804: 33) berichtete, der Hörsaal konnte in den öffentlichen Vorträgen, „besonders im Anfange des halben Jahres, die große Zahl seiner Zuhörer nicht fassen, sondern viele mußten eine Nebenstube und die Hausflur einnehmen.“ Die Hörerzahlen belegen für die letzte Phase in Logik zwischen 50 und 100, in Metaphysik zwischen 40 und 80, in Physischer Geographie zwischen 23 und 69 und in Anthropologie zwischen 32 und 70 Hörer (vgl. Naragon 2006e). Die Rahmenbedingungen von Kants Unterricht änderten sich somit durch den Umzug ins eigene Haus, durch die verstärkte Amtstätigkeit und wöchentliche Teilnahme an den Senatssitzungen sowie einer Reduktion des Lehrumfangs in den 90er-Jahren. Einen weiteren, prägenden Faktor stellte seine wachsende Bekanntheit durch das öffentliche Auftreten als philosophischer Autor dar. Während die Kritik zunächst nicht die erhoffte Wirkung und Anerkennung im öffentlichen Raum erfuhr, häuften sich bereits Mitte der 80er-Jahre Bücher für und wider Kants kritisches System (vgl. Kühn 2004: 368). Seine schriftstellerische Produktion im Anschluss an die erste Kritik, mit der er sein kritisches System ausarbeiten möchte, war beeindruckend. Als zusätzliche Erklärung der Kritik der reinen Vernunft von 1781 folgten 1783 die Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können und darauf aufbauend 1785 die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1786 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1788 die Kritik der praktischen Vernunft und schließlich 1790 die Kritik der Urteilskraft. Durch Rezensionen und Aufsätze in Zeitschriften erreichte er zudem nicht nur ein philosophisches Fachpublikum, sondern wurde zu einer maßgebenden Stimme für die gelehrte Öffentlichkeit. Biester, der Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, betonte diese Bedeutung Kants ausdrücklich. Er bedankte sich für einen seiner Aufsätze über die menschliche Geschichte im November 1785: „Das ist ein Stük der erhabensten edelsten Philosophie, die wahrhaft erbaut u. die Seele erhebet. Solche Betrachtungen sind es immer gewesen, mit denen ich mich zum liebsten beschäftiget habe, für die ich aber nur selten Nahrung fand. Sie bringen uns zu einem hohen Standpunkte, wo wir das Ganze übersehen

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können, u. wo die größten Widersprüche sich in Harmonie vereinigen. Es ist ein kostbares Geschenk, was Sie durch uns dem Publikum geben […].“ (Br, AA 10: 417)

Kants Aufsätze galten Biester als Geschenke an das Publikum, die einen anderen Standpunkt aufzeigten, der bei dem Umgang mit Widersprüchlichem helfen konnte. Mit diesen kürzeren Schriften nahm Kant klärend und schlichtend Bezug auf aktuelle Debatten. Seine Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? bezog sich auf eine von dem Berliner Pfarrer Johann Friedrich Zöllner aufgeworfene, grundlegende Frage und antwortet so allgemein, dass sie noch heute definitionsgebende Funktion besitzt. Was heißt: Sich im Denken orientieren? antwortete auf den Streit zwischen Mendelssohn und Friedrich Heinrich Jacobi über Lessings angeblichen Pantheismus und versuchte aufzuzeigen, wo die Missverständnisse lagen. Biester zeigte sich so sehr von Kants aufklärendem Talent überzeugt, dass er ihn auch proaktiv um Stellungnahmen bat. Etwa im März 1786: „Wahrlich, es ist Zeit, daß Sie, edler Wiederhersteller des gründlichen und gereinigten Denkens, aufstehen, und dem Unwesen ein Ende machen.“ (ebd.: 433) Biester verortete jedoch diese Wirkung Kants potenziert und dauerhaft in dessen philosophischen Werk und der Vollendung seines kritischen Systems, an der er zeitgleich arbeitete: „Der Himmel sei dafür, daß ich nicht auf Kosten Ihrer wichtigern Arbeiten, welche eine allgemeine Aufklärung der wichtigsten Begriffe u. eine heilsame Revolution in der Denkart für Welt u. Nachwelt bewirken, aus Eigennutz von Ihnen fordere! Indeß, wenn Sie Musse haben, so weiß ich, wählen Sie auch gern diesen unbedeutenderen Weg der Monatsschrift, wodurch doch eine Menge nützlicher Ideen in allgemeinen Kreislauf gekommen sind.“ (Br, AA 10: 531)

Andererseits zeigte er sich überzeugt, dass ein „in vieler Leser Hände kommender Aufsatz oft mehr Wirkung thut, als ein eigenes besonders gedrucktes Buch“ (Br, AA 11: 492). Biester war nicht der Einzige, der in Kants Schriften eine mögliche Wirkung auf praktische, gesellschaftliche Veränderungen erkannte. Der Buchhändler Meyer trat in einem Brief im September 1788 ebenfalls an Kant heran und bat ihn um eine Ausarbeitung für Druck- und Pressefreiheit, mit der er sich „ein neues großes Verdienst um die Aufklärung und daß damit in so enger Verbindung stehende Wohl der Menschheit“ erwerben könne (Br, AA 10: 545). Viele der Gelehrten, die sich an Kant wendeten, sahen in seiner Philosophie eine Revolution, die Denken und Leben der Menschen mittel- oder langfristig verbessern könne. Reinhold, der sich daran machte, Kants kritische Philosophie nach seiner Lesart in Jena zu verbreiten, sprach in einem Brief 1787 „von der heilsamen Revolution“, durch welche Kant für ihn „der größte und beste Wohlthäter, der je ein Mensch dem andern war und seyn kann“ geworden sei

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(ebd.: 498). Der Berliner Pfarrer Zöllner, der die Frage nach Aufklärung stellte, prognostizierte: „Es wird freilich noch eine gute Zeit dauern, ehe der von Ihnen ausgestreute Same für das Volk Früchte bringt, aber unausbleiblich muß durch Ihr System nicht bloß in den Studierstuben, sondern auch eine allmählig in das Publicum fort rückende, Revolution bewirkt werden, deren sich unsere Enkel gewiß, mit herzlichem Dank gegen den Urheber derselben, freuen werden.“ (Br, AA 11: 161)

Für die einen brachte Kants Philosophie eine individuelle Revolution im Denken, von der sie sich gesellschaftliche und kulturelle Verbesserungen für die Menschheit erhofften. Andere versuchten, ihn eifrig zu widerlegen und seine Philosophie regelrecht zu bekämpfen, weil sie in ihr und ihren Folgen eine Gefahr vermuteten. Es lässt sich nicht abstreiten, dass Kants Kritik sich im Laufe der 80er-Jahre von einem anfänglichen Nebenschauplatz zum philosophischen Zentrum entwickelte. Seine Präsentation und Etablierung der reinen Vernunft als richtende Instanz läutete eine Zäsur ein, die sprachlich neben der metaphorischen Umschreibung als ‚Revolution‘ auch als ‚Krise und Heilung‘ oder ‚Zerstörung und Wiederaufbau‘ zum Ausdruck kam (vgl. Pietsch 2010). Die kritische Philosophie brachte Kant allgemeine Bekanntheit und machte ihn zur öffentlichen Person. Neben seinen Studenten kamen viele neugierige Besucher nach Königsberg, um eines seiner Kollegien zu erleben und sich einen Eindruck über den berühmten Philosophen zu verschaffen. Der Kreis seiner Schüler erweiterte sich durch sein schriftlich verbreitetes, kritisches System von den Hörern auf das Lese-Publikum. Bei der Beschreibung seiner Wirkung auf die Studenten in der letzten Unterrichtsphase ist deswegen besonders darauf zu achten, ob es sich um Urteile eingeschriebener Schüler handelte oder um Beschreibungen seiner neugewonnenen Lese-Schüler. Ein Vergleich der Schülerstimmen soll einen Eindruck der Wirkung von Kants nun expandiertem Lehrersein ermöglichen. Die Wirkung von Kants expandiertem Unterricht: Beobachtungen und Beschreibungen seiner hörenden und lesenden Schüler Kants verstärkte Hinwendung zur Öffentlichkeit macht sich in dem Umfang seiner Korrespondenz sowie in Malters Materialsammlung zeitgenössischer Stimmen bemerkbar. Der Fokus bei der Sichtung des umfangreichen Materials liegt auf der Wirkung von Kant als Lehrer. Zu Kants Studenten in den 80erJahren zählte sein späterer Biograph Reinhold Bernhard Jachmann, der sich im April  1783 immatrikulierte. Neben der Betonung von Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit beschrieb er Kants Vortrag näher:

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„Seine Vorträge waren ganz frei. In vielen Stunden bediente er sich nicht einmal eines Heftes, sondern er hatte sich auf dem Rande seiner Lehrbücher einiges notiert, das ihm zum Leitfaden diente. […] Sein Vortrag war immer dem Gegenstande vollkommen angemessen, aber er war nicht ein memorierter, sondern ein stets neu gedachter Erguß seines Geistes. Unter seinen philosophischen Vorlesungen war Kant am leichtesten in der Logik zu fassen; nur war Kants Absicht nie, eine Logik seinen Zuhörern beizubringen, sondern sie denken zu lehren.“ (Jachmann 1804: 27ff.)

Der freie Vortrag, der stets neu gedachte Erguss und das Ziel des Selbstdenkenlernens lassen darauf schließen, dass Kant seiner zetetischen Methode für den philosophischen Unterricht treu blieb. Bei der Aufstellung und Definition metaphysischer Begriffe stellte er Versuche an, „als wenn er selbst anfinge, über den Gegenstand nachzudenken“, fügte neue Begriffe allmählich hinzu, versuchte Erklärungen, die er nach und nach verbesserte und machte dadurch nicht nur den Zuhörer mit dem Gegenstand bekannt, sondern leitete ihn „zum methodischen Denken“ an (ebd.: 29). Als „hervorstechendste Kraft des Kantischen Geistes“ beschrieb Jachmann (1804: 20) das Zergliedern von Begriffen in ihre einfachen Bestandteile und Merkmale: „Durch dieses tiefe Forschungsvermögen blieb seinem Geistesblick nichts verborgen“, sowohl die physische als auch intellektuelle Welt „ward seinem Späherblicke offenbar“. Anspruchsvoll wurde seitens der Schüler Aufmerksamkeit gefordert, für Anfänger sei die Metaphysik-Vorlesung schwer gewesen. Kant habe das registriert und deswegen seine Studenten öffentlich aufgefordert, sich durch die Vorlesungen des Professors Pörschke auf diesen Unterricht vorzubereiten (vgl. ebd.: 30). Eine „äußerst anziehende Belehrung gewährte sein Vortrag über Anthropologie und physische Geographie“, in diesen Vorträgen „war Kant Allen Alles und hat vielleicht durch sie den größten Nutzen fürs gemeine Leben gestiftet“ (ebd.: 33). Doch sei seine Stimme schwach gewesen und er habe sich von Kleinigkeiten, wie einem fehlenden Knopf am Rocke eines Zuhörers, ablenken lassen (vgl. ebd.: 33.f.). Kant wurde dennoch von seinen Zuhörern „fast vergöttert“ und war ein „wahrer Freund der studierenden Jugend“ (ebd.: 35f.). Eine freundschaftliche Haltung brachte Kant nicht nur gegenüber Jachmann und seinem zwei Jahre älteren Bruder Johann Benjamin auf, die er beide tatkräftig unterstützte. Es finden sich viele Dankesbekundungen von Kants Schülern für seine Wohltätigkeit und Unterstützung, die über den Unterricht oder eine bloße Verehrung seiner philosophischen Leistungen hinausgehen. Reinhold Friedrich Weiß, der Kants Vorlesungen ab 1782 besuchte, bedankte sich für „so auffallende und häuffige Beweise Ihrer Gewogenheit“ (Malter

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1990: 189). Christian Gottlieb Zimmermann besuchte seine Vorlesungen ab 1785, bedankte sich für das durch ihn erhaltene Stipendium und bezeichnete Kant nicht nur als großen Lehrer, sondern auch als unvergesslichen Wohltäter (vgl. ebd.: 262). Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetter besuchte Kants Vorlesungen Ende der 80er-Jahre und ergriff in einem Brief 1789 die Gelegenheit, sich zu bedanken, „für die vielen und großen Beweise Ihrer Güte, die sie mir erwiesen, für den Fleiß den Sie auf meinen Unterricht verwandten, für die väterliche Sorgfalt mit der Sie sich meiner annahmen“ (ebd.: 330f.). Kiesewetter bezeichnete Kant häufiger als seinen „zweiten Vater“ (ebd.: 342) und widmete auch seine Schrift Grundriß einer reinen allgemeinen Logik nach Kantischen Grundsätzen zum Gebrauch für Vorlesungen seinem „Lehrer und Vater, Immanuel Kant“ (ebd.: 333). Kants Korrespondenz in diesen Jahren belegt den wohltätigen Einsatz für seine Studenten. Er kümmerte sich um Versorgungsmöglichkeiten und Stipendien (Br AA 10: 405; Br, AA 11: 120, 371), bemühte sich, ihnen im Anschluss Hofmeisterstellen zu verschaffen (Br, AA 10: 395; Br, AA 11: 412, 423) und vermittelte Kontakte, stellte Zeugnisse aus oder gab Empfehlungen, wie etwa für Johann Friedrich Plessing oder Jacob Sigismund Beck. Kants Ratschläge für die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder waren auch seitens der Eltern begehrt, die sich diesbezüglich an ihn wandten, wie etwa Johann Christoph Berens im April  1782, Johann Friedrich Gentz im April 1783, Ewald Egidius Lübeck im Januar 1788 oder ein gewisser H. von Thile geb. von Runkel im Mai 1790. Ein besonders dankbarer Vater, Wilhelm Magnus von Brünneck, attestierte Kant sogar, „das Werckzeug zu sein, Menschen glücklich zu machen“ (Br, AA  11: 336). Kants Qualität als Lehrer hatte sich offensichtlich herumgesprochen. So räumte Mendelssohn ein, der Kant in einem Brief 1783 auf einen Schüler und dessen Talente aufmerksam machte: „Ihnen ist ohnehin jeder Jüngling, der nach Weisheit strebt, empfohlen, wie Ihr Sohn“ (Br, AA  10: 308). Und auch der Minister Zedlitz ersuchte Kant, einen ihm bekannten Schüler zu unterstützen, „es sey im physischen oder Moralischen u. wo möglich in beyden“ und gab zu, er wüsste sich dabei „in keinem Fall beßer an Jemand zu wenden“ als an ihn (ebd.: 318). Friedrich Theodor Rink, ebenfalls ein späterer Biograph, immatrikulierte sich 1789 in Königsberg und wird 1792 Kants Tischgenosse. Er beschrieb Kants Vorlesungen: „Sein mündlicher Vortrag selbst war simpel und ungesucht. In der physischen Geographie ward er durch das allgemeine Interesse des Gegenstandes, und durch sein Erzähler-Talent, in der Anthropologie aber durch seine eingestreuten feinen Beobachtungen, die er aus seiner eignen Erfahrung oder aus der Lectüre, wie z.B. nahmentlich der besten englischen Romanschreiber, entlehnt hatte, belebt. Nie verließ man unbelehrt und ohne angenehme Unterhaltung diese Vorlesungen. Dasselbe galt für den, welcher ihm zu folgen im Stande war, auch von seiner

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Logik und Metaphysik […]. Und, zu leugnen ist es nicht, schon in den Jahren achtzig des letztvergangenen Jahrhunderts, verlor sein Vortrag zuweilen an Lebhaftigkeit in der Art, daß man hätte glauben mögen, er werde einschlummern […].“ (Rink 1805: 46f.)

Kant verfolgte erfolgreich weiterhin seine Idee eines nie trockenen und angenehm belehrenden, akademischen Unterrichts in den Fächern Anthropologie und Physische Geographie. Rinks Eindruck bestätigt, dass diese Vortragsweise sich von dem voraussetzungsreicheren theoretischen Fächern unterschied. Und er gab einen Hinweis darauf, dass Kants Alter anfing, sich bemerkbar zu machen, wobei er betonte, er sei bis in die späteste Zeit „ein sehr gewissenhafter Lehrer“ geblieben, der nicht nur eine Stunde habe ausfallen lassen (ebd.: 47). Von eingeschriebenen Studenten finden sich selten negative Äußerungen über Kants Unterricht. Christian Friedrich Puttlich, der ab 1782 in der Universität Königsberg eingeschrieben war, notierte folgende Momentaufnahme 1785: „Kant schloß heute die Vorlesungen über die physische Geographie. Er eilte sehr am Ende u. schien mit großer Nachlässigkeit zu lesen.“ (Malter 1990: 268) Christian Friedrich Reusch kam 1793 an die Universität und berichtete, Kant sei „schon im 70sten Jahre, seine Stimme schwach“, er verwickele sich in seinen Vorlesungen und sei undeutlich (ebd.: 400). Er beschrieb ebenfalls den Kontrast zwischen einerseits Logik und Metaphysik, die einem „jungen Menschen von 15-16 Jahren“ nur wenig verständlich werden konnten, und andererseits dem geographisch-physikalischen Vortrag, der „höchst geistreich und unterhaltend“ war (ebd.: 401). Von Johann Gottlieb Fichte, der Kant 1791 besuchte, findet sich folgendes Urteil: „Seine Collegia sind nicht so brauchbar, als seine Schriften. Sein schwächlicher Körper ist es müde einen so großen Geist zu beherbergen.“ (ebd.: 375) Ein weiterer Besucher, Gottfried Wenzel von Purgstall, berichtete aus dem Jahr 1795 kurz vor dem Ende der Lehrtätigkeit Kants: „Sein Vortrag ist ganz im Tone des gewöhnlichen Sprechens und, wenn Sie wollen, nicht eben schön. Stellen Sie sich ein altes, kleines Männlein vor, das gekrümmt im braunen Rocke mit gelben Knöpfen, eine Perrücke und den Haarbeutel nicht zu vergessen – dasitzt […]. Obschon dies nun nicht eben schön aussieht, obschon seine Stimme nicht hell klingt, so ist doch Alles, was seinem Vortrage, wenn ich mich so ausdrücken darf, an Form fehlt, reichlich durch die Vortrefflichkeit des Stoffes am selben ersetzt.“ (Malter 1990: 419)

Weit häufiger finden sich positive bis überschwängliche Dankesbekundungen für Kants mündlichen Unterricht aus den 80er- und 90er-Jahren. Für Daniel Jenisch war die Rückerinnerung an Kants „so wohlthätigen Unterricht“ an und für sich selbst „die süßeste und theureste“ (Br, AA 10: 485). Er habe ihm die Grundlage seines Denkens und Glückes auf immer zu verdanken (vgl. Br,

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AA  11: 99). Christian Schirmacher habe es größtenteils Kant zu danken, „im Geiste leben und denken“ zu können (Br, AA 10: 533). Gottlieb Johann Jäsche bedankte sich 1796 bei seinem verehrungswürdigsten Lehrer, dessen „schriftlichen und mündlichen Unterrichte in der Philosophie“ er „den schönsten und sichersten Theil“ seiner wissenschaftlichen Bildung zu verdanken habe (Br, AA 12: 105). Die Korrespondenz von Kants Schülern, die sich für seinen Unterricht bedankten und ihm mitteilten, durch ihn als Lehrer eine glückliche Veränderung in ihrem Denken und Leben erfahren zu haben, bestätigen den bereits in der ersten Phase beschriebenen Effekt des Selbstdenkenlernens als tiefgreifendes, lebensveränderndes Ereignis. Sie lesen sich als vorsichtiger Beleg dafür, dass, was an der Lebhaftigkeit in Kants Vortragsweise im fortschreitenden Alter und vornehmlich in seinen bereits zuvor als schwer verständlich eingestuften Metaphysikvorlesungen vielleicht abnahm, stets durch eine belehrende Wirkung ausgeglichen wurde. Sie zeugen von dem Lehrziel Kants, das er mit seiner zetetischen Methode verfolgte und wohl bei einigen zu erreichen schien. Neben dem Versuch, durch demonstrierten Vernunftgebrauch zum eigenständig methodischen Nachdenken anzuleiten und sie weitestgehend in allen Belangen freundschaftlich zu unterstützen, beschreiben Kants Hörer seine moralische Wirkung, die er durch sich selbst als vorbildliches Beispiel evoziert haben soll. Jachmann (1804: 30f.) schilderte Kant in seinen moralphilosophischen Vorlesungen als geistvollen Redner, der seine Hörer zu Tränen rührte, ihr Herz erschütterte: „Der unsterbliche Weltweise schien uns dann von himmlischer Kraft begeistert zu seyn und begeisterte auch uns“. Keiner, so Jachmann (ebd.), habe seine Stunden über Sittenlehre verlassen, ohne besser geworden zu sein. Rink (1805: 42) erklärte, wenn sich für Kant die Gelegenheit bot, „der versammelten Jugend Wahrheit und Sittlichkeit zu empfehlen“, wurde er sichtbar wärmer, seine Augen lebendiger und seine Worte eindringlicher. Jenisch beschrieb Folgendes: „Denn so viele Jünglinge, denen Sie ein vorsorgender Vater waren; so viele Wohlthaten, deren Segen der Genießer empfand, ohne die Hand zu kennen, aus welcher sie ihm zuflossen; so viele Handlungen der anspruchlosesten Gemeinnützigkeit, der reinsten Wahrheit- und Tugendliebe, reden es laut, daß Kant, der Weise, der Mensch, eben so sehr die Achtung der Welt, als, der Tiefdenker, ihre Bewunderung seyn muß; daß er jene erhabene Sittenlehre, die er vorträgt, aus seinem eigenen Herzen abschrieb; daß er der kategorische Imperativ seines eigenen Systems ist.“ (Malter 1990: 159).

Als lehrreich, wohltätig und von außerordentlicher Bedeutung für Wahrheit und Sittlichkeit wurde nicht nur sein mündlich vorgetragener Unterricht empfunden, sondern auch seine schriftliche Lehre. Zahlreich sind die ihm

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entgegengebrachten Verehrungen und Anfragen nach zusätzlicher Belehrung in der Korrespondenz dieser Zeit. Ab Mitte der 80er-Jahre ist unter Kants Lesern, die sich an ihn wendeten, eine Gruppe quantitativ stark vertreten, die sich durch die Aneignung der Schriften als seine Schüler verstanden wissen wollten. Sie verspürten das Bedürfnis, sich an ihn zu wenden und sich zu bedanken. Johann August Heinrich Ulrich sendete Kant 1785 sein Schulbuch, in dem er Beweise finden solle, dass er zu seinen „fleisigsten Lesern und Schülern gehöre“ (Br, AA  10: 402). Karl Adolf Cäsar hoffte, sich „durch fortgesetztes Forschen“ immer mehr in Kants System einstudieren zu können und wünschte sich, ihm nah und ein Schüler von ihm zu sein (ebd.: 501). Johann Heinrich Abicht bat 1789, Kant möge ihn als seinen Schüler lieben, denn er habe ihm „so manche seelige Augenblike zu verdanken“ (Br, AA 11: 26). Johann Andreas Christian Michelsen reflektierte 1790 sein Schülersein: „Unter den Schülern, welche Sich Ew. Wohlgeboren durch die Critik der reinen Vernunft erworben haben, gehöre ich zu den spätern und zu denen mittlern Gattung“ (ebd.: 150). Spät, weil ihn zunächst körperliche Krankheit vom Studium abhielt, mittlere Gattung in Bezug auf das Maß seiner Fähigkeiten. Einige aus dem Kreis der Schüler, die sich von Kant durch seine Schriften belehrt und unterrichtet fühlten, hatten sich zu dieser Zeit bereits schon öffentlich durch eigene Werke gezeigt. Unter ihnen Reinhold in Jena, der seinen Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens 1789 Kant als „jungen Blüthenzweig von dem Baume“ zuschickte, den er als sein höchstverehrungswürdiger „Lehrer und Freund“ gepflanzt habe (Br, AA 11: 17). Der Pfarrer und Dichter Gotthard Ludwig Kosegarten eignete seine Schrift im selben Jahr Kant zu, dem er „die Schärfung der edelsten und göttlichsten“ Geisteskräfte hauptsächlich zu verdanken habe (ebd.: 57). Salomon Maimon schrieb 1789: „Endlich war mir das Glük noch aufbehalten, Ihre unsterblichen Werke zu sehen, zu studiren, und meine ganze Denkungsart nach dieselben umzubauen“ (ebd.: 16). Sein Versuch über die Transscendentalphilosophie mit einem Anhang über die symbolische Erkenntniß und Anmerkungen folgte ein Jahr später. Michelsen hatte mit der Klassifizierung seines Schülerseins insofern Recht, als dass er nicht zu den ganz frühen Kant-Schülern zählte, und nicht zu denen, die selbst einem breiteren Publikum durch ihre an Kant anknüpfenden Schriften bekannt wurden. Doch auch er verfasste einige Bücher und es sollte noch sehr viel spätere Schüler als ihn geben. Fichte bezeichnete sich 1791 sehr differenziert als „Schüler der Critik“ und verspürte das Bedürfnis, dem Manne zu danken, dem er alle seine Überzeugungen und Grundsätze, sogar seinen „Character, bis auf das Bestreben einen haben zu wollen“ verdanke (ebd.: 277f.). Friedrich Bouterwek lernte durch die Kritik, sich seiner Vernunft zu erfreuen und wurde dadurch zu Kants dankbarem Schüler (vgl. ebd.: 368f.).

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Noch öfter finden sich Bekundungen von Kants Lesern, die sich zwar nicht ausdrücklich als seine Schüler beschrieben, aber angaben, durch seine Schriften in ihm einen Lehrer gefunden zu haben und bestätigten, durch sie belehrt und unterrichtet worden zu sein. Christian Gottfried Schütz dankte Kant 1784 für den Unterricht, den er aus seinen Schriften genoss und „besonders für die tägliche Nahrung des Geistes“, die ihm die Kritik gewährte (Br, AA 10: 392). Gottlieb Hufeland bedankte sich 1785 „für die wichtigen unschätzbaren Belehrungen“ durch Kants Schriften (ebd.: 412). Carl Christian Erhard Schmid schrieb Kant seinen Dank 1789 „für die wohlthätigen Einflüße auf die Nahrung“ seiner „intellectuellen und moralischen Thätigkeit“ (Br, AA 11: 1). Johann Friedrich Nathanael Bando, selbst ein Volkslehrer, dankte für Kants Schriften und seine würdigen Schüler, in denen er nichts weniger als ein „Verdienst um Menschenwohl“ erkannte (ebd.: 86). Friedrich Delbrück fühlte sich stolz, in Kant „einen Lehrer zu verehren“ (ebd.: 230), für Karl Wilhelm Nose war er ein „erhabener Lehrer“ (ebd.: 335), Christoph Friedrich Ammon dankte Kant als „verehrungswürdigster Lehrer“ (ebd.: 493) und Friedrich Schiller beschrieb ihn als „vortrefflicher Lehrer“ (ebd.: 507). Grund genug, zu fragen: Was hatten Kants lesende Schüler von ihm gelernt, wofür waren sie ihm dankbar? Das steht im Zusammenhang mit der bereits als Revolution beschriebenen Zäsur, welche Kants kritische Philosophie seinen Zeitgenossen bot. Seine Transzendental-Philosophie stellte eine Umkehrung im Denken vor, die Kant 1787 selbst als „veränderte Methode der Denkungsart“ beschrieb: Anzunehmen, „die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten“, „der Gegenstand (als Object der Sinne)“ richte sich „nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens“ (KrV, BXVIf.). Diejenigen, die mit Kants Philosophie den Standpunkt wechselten, entdeckten eine andere Art zu denken. Doch dieser Wechsel stellte sich nicht ohne weiteres automatisch ein, wie die Schilderung der persönlichen Auseinandersetzung mit der Kritik von Johann Benjamin Erhard 1786 eindrücklich belegt. Erhard nahm dieses Buch mit „Bitterkeit in die Hand“ und dem Vorsatz, Kant zu widerlegen (Br, AA 10: 447). Er musste jedoch die Stringenz der Argumentation beim eigenen Durchdenken feststellen und gestand, der Lösung der Antinomien habe Kant seine Freundschaft zu verdanken: „[N]un wurden mir die Augen geöfnet, das Entzüken das ich bey Lesung derselben empfand werde ich nie vergessen“ (ebd.). Statt nach Irrtümern suchte er fortan nach Wahrheiten und konnte sein vormals inkonsequentes Denken kaum mehr begreifen: „Nachdem ich sie für meinen Freund erkannte, so konnte ich es erst ertragen, sie als meinen Lehrer betrachten zu müssen.“ (ebd.) Sich von der Kritik im eigenen Denken belehren zu lassen, hatte zur Bedingung, sie nicht als Angriff aufzufassen, sondern sich auf sie einzulassen. Heinrich Jung-Stilling beschrieb dies 1789 wie folgt:

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„[D]ie allgemein verschriene Dunckelheit Ihrer Schriften, und das Geschwäz Ihrer Gegner, als wenn Sie der Religion gefährlich wären hatten mich abgeschreckt […] so wie ich laße, alles faste, alles begrif, so fiel mir die Hülle von den Augen, mein Hertz wurde erweitert, und es durchdrung mich ein Gefühl von Beruhigung das ich nie empfunden hatte. Ich laß also nun die Critick der reinen, und dann auch der praktischen Vernunft, und bey mehrmaliger Wiederholung verstehe und begreif ich alles, und finde nun apodiktische Wahrheit und Gewisheit allenthalben. […] Ihre Philosophie wird eine weit grösere geseegnetere und allgemeinere Revolution bewürcken als Luthers Reformation.“ (Br, AA 11: 8f.)

Die Auseinandersetzung mit Kants Kritik bedeutete Arbeit, und eine erste Hürde dabei bildeten kursierende Vorurteile. Der Weg, die Kritik zu verstehen, war für Kants Zeitgenossen kein einfacher Prozess, sondern verlangte viel Kraft und oftmals mehrere Versuche. Dies findet sich häufig in den bereits erwähnten Dankesbekundungen bestätigt, wie etwa in der von Ulrich. Viele wendeten sich mit detaillierten Fragen direkt an Kant, zum Beispiel Reinhold, Beck, Fichte, Kiesewetter, Johann Bering und Ludwig Heinrich Jakob, um ihr Verständnis von Kants Schriften zu überprüfen, bevor sie sich selbst ans Publikum richteten. Wer Kants Grundsätze für sich entdeckte, zeigte sich häufig von ihrer Nützlichkeit überzeugt und fühlte das Bedürfnis, das Gelernte weiter zu verbreiten. Bering wollte ein Handbuch für Logik und Metaphysik nach Kants System erarbeiten, Jakob arbeitete ein solches aus, damit „junge Leute zur Lesung der Critik und zum kritischen Studiums der Philosophie überhaupt gehörig vorbereitet werden möchten“ (ebd.: 257). Georg Samuel Albert Mellin fühlte sich bewogen, „die Uebersicht der Critik zu erleichtern“ und erstellte dazu als Hilfsmittel 1794 Marginalien und Register zu Kants Critik der reinen Vernunft (ebd.: 497). Friedrich Gottlob Born und Rudolph Gotthold Rath wollten die Kritik ins Lateinische übersetzen, um sie international bekannter zu machen. Friedrich August Nitsch wollte Kants Kritik in England bekannt machen, und der Bruder von Anton Ludwig Théremin versuchte das in Frankreich. Bevor sich der zitierte Jung-Stilling an die Kritik wagte, nahm er den Umweg über einen von Kants publizierenden Schülern, den Pastor Johann Schulz. Dessen Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft erschien bereits 1784. Dieser Auszug zeigt exemplarisch das Bedürfnis derjenigen, die versuchten, Kants Grundsätze zu popularisieren, sie zu erklären, weil sie durch ihre eigene Verständnisarbeit mit der Kritik von ihrer Wirkung und von dem Gewinn dieses neu erworbenen Denkens überzeugt waren. Der Brief von Christian Garve beschreibt näher, worin dieser Gewinn gesehen wurde: „Sie sind auch mein Lehrer, in vielen Puncten, so wie der Lehrer von Deutschland. Da Sie keine nachsprechende Schüler verlangen, so werden Sie meinen

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Kapitel 2 Dank, den ich Ihnen hier von neuem für Ihren philosophischen Unterricht sage, nicht weniger wahr u. aufrichtig finden, wenn ich hinzusetze, daß ich nicht über alle von Ihnen behandelte Materien mit Ihnen gleichförmig denke. Es ist die größte Belohnung des Selbstdenkers, wenn er die Denkkräfte andrer in Thätigkeit setzt. Wenige Schriftsteller haben diesen Endzweck durch ihre Werke in einem so hohen Grade erreicht, wenige, noch bey ihrem Leben, eine so ausgebreitete Wirkung davon gesehen, als Sie.“ (Br, AA 11: 432)

Kant regte laut Garve mit seinen Schriften die Leser zum Selbstdenken an. Eine dementsprechende Beschreibung findet sich bei Heinrich Amadeus Wilhelm Klapp, der durch Kants Art zu philosophieren zum „Schüler und Zögling“ seiner eigenen Vernunft wurde (ebd.: 477). Die Revolution von Klapps Denkart habe sich schnell vollzogen und es ging ihm „wie dem Blinden der nach der glücklichen Operation sich nicht sogleich in der Gesichtswelt zurecht finden konnte“ (ebd.). Mendelssohn vermutete bereits 1785 die Absicht von Kants Kritik darin, „das Nachbeten aus der Schule der Philosophie zu verbannen“ (Br, AA 10: 413). Mit dem kritischen Selbstdenken ging ein weiterer Effekt einher: Kant galt als Menschenfreund, Wohltäter und Beförderer des Besten für die Menschheit. Simon Schlesier schrieb 1788, dass „durch die Bestimmung der Grenzen unserer Erkenntnis“ Kant „das menschliche Geschlecht seinem Ziele näher gebracht“ habe (ebd.: 548). Christoph Andreas Leonhard Creuzer rief 1793 aus: „Ja verehrungswürdiger Lehrer! war je eine Philosophie im Stande, Kopf und Herz des Menschen in harmonischen Einklang zu versetzen, so ist es die Ihrige.“ (Br, AA 11: 422) Georg Wilhelm Bartoldy dankte Kant für seine moralische und intellektuelle Bildung und formulierte: „Arbeiten des Geistes haben keinen süßeren Lohn, als die Überzeugung, selbst errungene Grundsätze in fremden Geistern keimen zu sehn, dadurch einen neuen Vermuthungsgrund für ihre Allgemeingültigkeit und für ihre ewige Wirksamkeit unter unserem Geschlechte zu erhalten, und sich auf diese Weise der edelsten Art von Unsterblichkeit zu versichern. Oft habe ich mich seit einigen Jahren darüber gefreuet, daß Ihnen dieser Lohn in immer höheren Maße zu Theil wird, und ich wünsche von ganzer Seele, daß Sie noch viele Jahre unter uns zubringen möchten, um immer mehrere von den segenvollen Früchten der Reife nahen zu sehn, die ich von der allgemeinen Annahme Ihres Systems für die Menschheit erwarte“ (ebd.: 449)

Dass all diese Bekundungen Ausdruck einer tatsächlichen Änderung des eigenen Denkens und Hoffnung auf eine durch sie zu erreichende Besserung darstellen, dass sie über bloße Galanterie, Verehrung und Anbiederung hinausgehen, lässt sich natürlich nicht beweisen. Einen Brief von Kant zu bekommen, um sich damit schmücken zu können, mag durchaus ein Anlass gewesen sein, oder die taktische Überlegung, durch Kant und sein Urteil den eigenen Schriften zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen zu können. Doch ist zumindest

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die Anzahl der Dankesschreiben, die eigene Reflexionen in Bezug auf seine Philosophie authentisch schildern, sehr hoch. Viele legten Schriften als Beweis ihrer Mühen bei, bekundeten aus sich heraus ihre Absicht, die erfahrenen Grundsätze verbreiten zu wollen oder gaben über ihre eigene unterrichtende Tätigkeit in diesem Zusammenhang Auskunft. Die Erfahrungen, die Kants Philosophie im eigenen Denken seiner lesenden Schüler hervorrief, ließen ihn auf eine den Unterricht im Hörsaal ergänzende Art zum Lehrer werden. In den Augen mancher erstreckte sich der Wirkungskreis von Kant als Lehrer durch seine kritische Philosophie auf die Nachwelt und die Menschheit insgesamt. Daniel Friedrich Koehler erwähnte, Kant befördere so gerne „das Beste der Menschheit“ (Br, AA  1: 248), Georg Gustav Fülleborn sprach von Kants „humaner Philosophie“ (ebd.: 334), Mellin meinte, „die dankbare Nachwelt“ würde Kants Namen preisen (Br, AA  12: 234) und Jäsche bezeichnete Kant als „Lehrer der Menschheit“ (ebd.: 105). Die mit Kants schriftlicher Lehre eingeführten Grundsätze des Denkens ließen eine beobachtbare Wirksamkeit zum Besseren der Menschheit erwarten. Das kann die Motivation seiner Anhänger und der von ihm inspirierten Denker für ihre erläuternden und die kritische Philosophie verbreitenden Ansätze erklären. Die Beschreibungen von den Schülern Kants, die seine Lehre durch die philosophischen Schriften kennengelernt haben, zeigen erstaunliche Parallelen zu den Beschreibungen der Schüler seines praktiztierten Unterrichts. Das Studium bei Kant wurde als anstrengender und schwieriger Prozess beschrieben, als Lernziel ein neuartiges Selbstdenken angegeben, das als tiefgreifende Veränderung empfunden wurde und dem Konsequenzen für das eigene Leben und die allgemeine Entwicklung der Menschheit zugeschrieben wurden. Kant als Lehrer der Lehrer: Sein Beitrag zum Nutzen in der Welt Mit der Veröffentlichung seines philosophischen Systems erweiterte Kant sein Lehrersein in der letzten Phase seines akademischen Unterrichts. Nimmt man seine didaktischen Überlegungen zum natürlichen Stufenaufbau der Erkenntnis aus der Programmankündigung für den Winter 1765/66 zum Modell, lässt sich folgern, dass er sich nun vornehmlich an Gelehrte wandte, die bereits ihren Verstand und ihre Vernunft geübt hatten und dadurch in der Lage waren, durch Wissenschaft ein wohlgeordnetes Ganzes zu erkennen. Neben diesen im strengen Sinn philosophischen Schriften wandte er sich durch Aufsätze, die aktuelle Fragestellungen und Probleme adressierten, an einen weiten Lesekreis von Gelehrten. In seinem Einsatz für das Philanthropin zeigt sich ein aktives Bemühen, als praktischer Philosoph in der Welt nützlich zu werden. Da er in diesen Arbeiten kein wohlgeordnetes Ganzes einer Wissenschaft präsentierte, schien er sich seinem didaktischen Programm entsprechend mit ihnen an Vernünftige zu wenden, um dabei zu helfen, Begriffe mit ihren Gründen und

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Kapitel 2

Folgen in Zusammenhang zu bringen. Mit dem Auftreten als öffentlicher Philosoph in der Welt erweiterte sich sein Schülerkreis von hörenden Studenten auf lesende Vernünftige und Gelehrte. Sein erzieherisches Wirken verstand Kant als Anleiten zum Selbstdenken, durch das mittels selbstgewählter Zwecke die Denk- und Lebensweise so gewählt werden könne, dass sie den Voraussetzungen für einen allgemeinen Nutzen entspreche. Durch seine Erfahrungen als Lehrer und Mitglied des pädagogischen Jahrhunderts reflektierte er die Fragestellungen pädagogischer Formung, Lehrmethoden und praktikablen Umsetzungen zur Schul- und Bildungsverbesserung grundlegend. Erst eine genaue Exegese seiner philosophischen Schriften im anschließenden Teil über die Formen der Erziehung in Kants Werk kann zeigen, wie eng seine Philosophie mit den Fragen nach Erziehung, der Grenzen und Möglichkeiten der Formbarkeit des Menschen verbunden ist. Aber die bisherige Analyse seiner Vorlesungsprogramme, Briefe, Reflexionen und der Metaphysikvorlesung von Pölitz zeigt, dass Kant die je eigene Vernunft nicht nur als Werkzeug für kluges und geschicktes Schließen, sondern als zwecksetzendes Vermögen in der Welt aktivieren wollte. Er arbeitete daran, den zeitgenössischen pädagogischen und wissenschaftlichen Nutzenüberlegungen, die sich als zentrales Kriterium des Selbstverständnisses seiner Lehrer-Kollegen erwiesen haben, ein grundlegendes, allgemeines und doch praktikables Fundament zu ermöglichen. Diese Form philosophischer Lehre wollte er über die Hörsäle hinaus bekannt machen. Zwar verfasste er nie ein eigenes Handbuch, doch weisen seine Überlegungen diesbezüglich darauf hin, dass er die kritische Philosophie als Grundlage für Kompendien erachtete. In einem Brief an Mendelssohn im August 1783 überlegte er, selbst „ein Lehrbuch der Metaphysik“ nach Grundsätzen der kritischen Philosophie „mit aller Kürze eines Handbuchs, zum Behuf academischer Vorlesungen, nach und nach auszuarbeiten“ (Br, AA  10: 346). Die Kritik, mit der er die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis genau zu bestimmen versuchte, stellte für ihn den ersten notwendigen und fundierenden Schritt dar, um Lehrbücher formulieren zu können. Kant war sich bewusst, dass die von ihm in der Kritik präsentierte Art zu denken einen Richtungswechsel darstellte, der mit Anstrengung verbunden war. An Herz schrieb er 1781, sie werde wohl erst mit der Zeit allgemeiner werden, „denn man kan es nicht erwarten daß die Denkungsart aufeinmal in ein bisher ganz ungewohntes Gleis geleitet werde sondern es gehört Zeit dazu um sie zuvor in ihrem alten Gange nach und nach aufzuhalten und sie endlich durch allmählige Eindrücke in die entgegengesetzte Richtung zu bringen“ (ebd.: 269). Er gab an, selbst Jahre gebraucht zu haben, um zu dieser Einsicht gelangt zu sein. Mit dem Ergebnis war er inhaltlich zufrieden, aber nicht immer mit der Präsentation seines Denkens:

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„Schweer wird diese Art der Nachforschung immer bleiben denn sie enthält die Metaphysik von der Metaphysik und gleichwohl habe ich einen Plan in Gedanken nach welchem sie auch Popularität bekommen kan die aber im Anfange da der Grund aufzuräumen war übel angebracht seyn würde zumal das Ganze dieser Art der Erkenntnis nach aller seiner Articulation vor Augen gestellt werden mußte; sonst hätte ich nur von demienigen, was ich unter dem Titel der Antinomie der r. V. vorgetragen, anfangen dürfen, welches in sehr blühendem Vortrage hätte geschehen können und dem Leser Lust gemacht hätte hinter die Quellen dieses Wiederstreits zu forschen. Allein der Schule muß zuerst ihr Recht wiederfahren hernach kan man auch dahin sehen daß man der Welt zu gefallen lebe.“ (Br, AA 10: 269f.)

So wie Kant seine Studenten im Hörsaal zum forschenden Selbstdenken ermuntern wollte, überlegte er durch strategische Textpräsentation, die Lust des Lesers anzuregen. Bereits zwei Jahre zuvor teilte er Herz mit, dass er seit einiger Zeit über „die Grundsätze der Popularität in Wissenschaften überhaupt“, vornehmlich in der Philosophie nachdenke (ebd.: 247). Er sprach sich dafür aus, dass „die schulgerechte Methode“ immer das Fundament bleiben müsse, die Auswahl und Ordnung jedoch geändert werden könne (ebd.). Hinsichtlich der Präsentation räumte Kant ein, er habe nicht alles, was ihm möglich gewesen wäre, getan, um dem Leser Lust auf seine Schrift zu machen. Er hätte eine andere Anordnung der Gedanken und einen blühenderen Vortrag wählen können. Aber er musste zunächst das Feld der Metaphysik aufräumen. Durch den Hintergrund der verschiedenen Lehrmethoden, mit denen er durch seine Kompendien in Berührung gekommen ist, weiß Kant um die motivierende Wirkung einer interessanten Anordnung, einer lebhaften und verständlichen Sprache. Meier diskutierte diese Kriterien in seiner Darstellung des gelehrten Vortrags und mit Feders Lehrbuch hatte er ein umgesetztes Beispiel für ein populärphilosophisches Kompendium vor Augen. Die Kompendien von Wolff, Baumgarten und Achenwall bevorzugten hingegen eine mathematische Ordnung, klar definierte und abgegrenzte Begriffe, einen systematischen Aufbau des Traktats. Kant erschien dieses Vorgehen wohl als das geeignetere, um ausreichend Klarheit in den schweren Nachforschungen über die ‚Metaphysik der Metaphysik‘ zu erreichen. Erst musste der Gegenstand klar und gründlich durchdacht sein, bevor es darum gehen konnte, ihn populärer zu präsentieren. Kant gab somit der Schule den Vorzug vor der Popularität. Einer Schule allerdings, die wie im Abschnitt der zweiten Phase seines Unterrichts erarbeitet, für ihn dem Ideal des praktischen Philosophen gemäß immer mit einem Nutzen in der Welt verbunden war. Das Streben nach Nützlichkeit statt bloßer Geschicklichkeit, danach, die Kenntnisse für das Leben brauchbar zu machen, kann seine mehrmaligen Popularitätsüberlegungen erklären. In einem Brief an Bouterwek 1793 teilte er mit, er habe sich immer schon einen dichterischen Kopf gewünscht, der eine den reinen Verstandesbegriffen

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korrespondierende Darstellung schaffe, um seine kritischen Grundsätze zu verbreiten (vgl. Br, AA 11: 432). Doch sei es ein seltenes Talent, „scholastische Genauigkeit in Bestimmung der Begriffe, mit der Popularität einer blühenden Einbildungskraft“ vereinigen zu können (ebd.). Kant hatte durch den Umgang anderer mit seinen Schriften einen Nachteil der scholastischen Begriffe festgestellt. Er bestand darin, dass seine Terminologien von Nachbetern gebraucht würden, ohne dass sie deren Sinn erfassten. Das Vorgehen, mit dem Bouterwek in seinen Gedichten laut Kant eben jenes seltene Talent zeige, könne durch „Reichthum und Gewandtheit der Sprache“ größtenteils diesen Scheingebrauch der Begriffe verhüten (ebd.). Ähnlich äußerte er sich in einem Brief zur selben Zeit an Kästner. Kant habe über dessen Rat, die „rauhe Schulsprache gegen eine populäre zu vertauschen, oder wenigstens mit ihr zu verbinden“ oft nachgedacht, gerade wenn er die Schriften seiner Gegner gelesen habe (ebd.: 427). Den Unfug seiner Nachbeter, „mit Worten um sich zu werfen, womit sie keinen“, zumindest nicht seinen Sinn verbanden, schob Kant auf jene von ihm verwandte Schulsprache (ebd.). Um diesen Missbrauch der Begriffe zu verhindern, werde er die nächste Gelegenheit ergreifen, „die eine trockene Darstellung erfordert“ und sie als Anlass nutzen, die Schulsprache mit der gemeinen zu verbinden (ebd.). Als er sich jedoch zwei Jahre später bei Mellin für dessen Verdienst um die Verbreitung der kritischen Philosophie bedankte, räumte er ein, er selbst habe ihr leider nicht immer „die ausnahmende Klarheit der Darstellung und die Popularität“ geben können (HN, AA  23: 498). Kant schrieb sich nicht das von ihm so geschätzte, seltene Talent zu, die mit schulischer Genauigkeit bestimmten Begriffe ansprechend und verständlich präsentieren zu können. Zum einen wusste Kant, dass die Auseinandersetzung mit seinen Schriften und seiner kritischen Philosophie durch den abstrakten Gegenstand und die scholastischen Begriffe intellektuell herausfordernd war, zum anderen war es der zentrale Kern seiner metaphysischen Reflexion, mehr als abstrakte Spekulation zu sein, keine ‚neue philosophische Proiektmacherei‘, sondern wahre Weltweisheit. Ein optimaler Zugang zu seinen kritischen Grundsätzen könne bei ihrer Verbreitung und Anwendung nutzen, war ihm aber nicht immer gelungen. Umso mehr freute es ihn, wenn er merkte, dass er verstanden wurde und dass seine so gewonnenen Schüler ihren Teil beisteuerten, weitere Zugänge zur kritischen Philosophie zu eröffnen. Er dankte Reinhold in einem Brief 1788 dafür, dass dieser eine Sache übernehme, zu der er zwar den Anlass gegeben habe, deren Vollendung, Aufhellung und Verbreitung jedoch „von jüngeren, so geistvollen, zugleich aber auch so redlich gesinnten Männern“ wie ihm übernommen werden müsse (Br, AA 10: 531). Kant wusste, dass er kein Lehrer für jeden war. Man musste bestimmte Voraussetzungen mitbringen, um Schüler

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seiner Schriften werden zu können. Reinhold war zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren als Philosophielehrer tätig. Nahezu alle aus der Gruppe, die sich als Schüler der kantischen Schriften verstanden, waren zu dem Zeitpunkt bereits Professoren oder wurden es bald. Ulrich war seit 1776 ordentlicher Professor für Philosophie in Jena, Cäsar seit 1778 außerordentlicher Professor für Philosophie in Leipzig, Michelsen seit 1778 Professor für Mathematik am Gymnasium in Berlin und Schütz ab 1777 Professor für Philosophie in Halle. Abicht war zu der Zeit seines Dankesschreibens Magister und wurde 1796 ordentlicher Professor für Philosophie in Erlangen, Hufeland wurde drei Jahre nach seinem Dankesbrief zum außerordentlichen Professor der Rechte in Jena, und Schmid zwei Jahre nach seinem Dankesschreiben Professor für Logik und Metaphysik in Gießen. Kant war ein Lehrer der Lehrer. Gemäß seiner Vorstellung eines schrittweisen Ganges der Unterweisung, als Lehrer erst den verständigen, dann den Vernünftigen und schließlich den Gelehrten zu bilden (vgl. NEV, AA 02: 305), schien Kant sich auf die letzten beiden Zielgruppen zu konzentrieren. Die historische Wirkung seiner Philosophie gerade auf die Lehrer des 18. Jahrhunderts unterstreicht die Validität von Munzels (2012: 34) These, Kant sei als kritischer Philosoph mit seiner kritischen Philosophie der Erzieher der Lehrer. Die Wirkung seiner kritischen Schriften auf die Lehrer belegt zudem, dass Kants erzieherisches Wirken als Lehrer und seine Aussagen über Erziehung, Bildung und Unterricht nicht neben seiner kritischen Philosophie standen, sondern genuin mit ihr verbunden waren. Der mit seiner kritischen Philosophie verbundene Nutzen ging oftmals nicht direkt von ihr aus, sondern nahm seinen Weg in die Welt über die Lehrer, die sich von ihr unterrichten ließen. Dies entspricht Kants eigener Auffassung von sich als Lehrer in seinem Briefwechsel. 1794 wurde er von König Friedrich Wilhelm II. aufgrund seiner Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft angeklagt, unverantwortlich gegen seine „Pflicht als Lehrer der Jugend“ gehandelt zu haben (Br, AA  11: 525). Sein Antwortschreiben belegt, dass sich Kant durch seine Vorlesungen in der Rolle „als Lehrer der Jugend“ verstand, sich jedoch mit seinen Schriften nicht „als Volkslehrer“ sah (ebd.: 528). Seine Aufsätze seien „Verhandlungen zwischen Facultätsgelehrten des theologischen Fachs“ und damit „eine Lehre, wovon das Volk keine Notiz nimmt“ (ebd.). Dazu müsse allererst die Regierung veranlassen, die Schul- und Kirchenlehrer danach zu instruieren. Er nahm sich als Gelehrter die Freiheit dazu, Vorschläge zu formulieren. Diese Erklärung unterstreicht, dass Kant sich als Lehrer der Lehrer gewissermaßen als primus inter pares betrachtete und über diesen Weg eine erzieherische Wirkung auf die Regierung anstrebte. Einem Brief an Hellwag 1791 ist zu entnehmen, dass Kant davon überzeugt war, dass seine kritischen Grundsätze die Lehre langfristig verbessern könnten.

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Er schrieb, eine Methode zu predigen, könne „nicht eher allgemein werden, als bis die Rechtschaffenheit der Gesinnungen bey Lehreren (die nicht damit zufrieden ist, daß gute Handlungen, gleich gut aus welchen Gründen, ausgeübt werden; sondern auf die Reinigkeit des Beweggrundes alles anlegt) gleichfalls allgemein wird“ (ebd.: 247). Er erhoffte von seiner kritischen Philosophie einen erzieherischen Effekt auf die Grundsätze der Lehrer und über sie, einen Beitrag zum Allgemeinheitsgrad dieser Grundsätze in der Welt. Wie er selbst über seine Tätigkeit als Lehrer dachte, dazu finden sich in der Korrespondenz noch weitere Hinweise. Er beschrieb seinen erzieherischen Einfluss in einem Brief an Herz 1789 als geringen Beitrag, den er zu der Entwickelung seiner vortrefflichen Naturanlagen habe unternehmen können (vgl. Br, AA 11: 48). Dennoch sei nichts tröstender als zu sehen, „daß man nicht umsonst gelebt habe, weil man einige, wenn gleich nur wenige, zu guten Menschen gebildet hat“ (ebd.). An Fichte schrieb er 1793, er werde seine Laufbahn nicht unzufrieden enden, da das, was seine Bemühungen angefangen haben, „von geschickten, zum Weltbesten eifrig hinarbeitenden Männern der Vollendung immer näher gebracht werden dürfte“ (ebd.: 434). Ähnlich, wie er bereits bei Reinhold sich nur als denjenigen beschrieb, der den Anlass zu etwas gegeben habe, formulierte Kant sein Wirken auf Plücker 1796 wie folgt: „Daß ich gleichsam nur die Hebamme Ihrer Gedanken war und Alles, wie Sie sagen, schon längst, obwohl noch nicht geordnet, in Ihnen lag, das ist eben die rechte und einzige Art zur gründlichen und hellen Erkenntnis zu gelangen. Denn nur das, was wir selbst machen können, verstehen wir aus dem Grunde; was wir von Anderen lernen sollen, davon, wenn es geistige Dinge sind, können wir nie gewiß seyn, ob wir es auch recht verstehen, und, die sich zu Auslegern aufwerfen, eben so wenig.“ (Br, AA 12: 57)

Das unterstreicht Kants Ziel als Lehrer, andere zum Selbstdenken anzuregen. Dieses Ziel verfolgte er bei seinen Studenten mit der zetetischen Methode seines Unterrichts, bei den Lehrern und Gelehrten mit seiner kritischen Philosophie und bei den Vernünftigen der Gesellschaft durch seine Schriften als öffentlicher Philosoph. Ein Brief an Jacobi aus demselben Jahr lässt ablesen, woran sich Kant selbst in seinem forschenden Denken orientierte. Er sprach vom „Compas der Vernunft“ und betonte, er habe es jederzeit für seine Pflicht gehalten, „Männern von Talent, Wissenschaft u. Rechtschaffenheit mit Achtung zu begegnen“, soweit sie auch in ihren Meinungen auseinander gewesen seien (Br, AA 11: 76). Er ordnete sich selbst in seinem Denken der Vernunft unter und begegnete anderen Meinungen mit Achtung. In einem Brief an Reinhold 1791 betonte er ebenso, er habe kein Interesse an Rechthaberei, sondern „an den rechtschaffenen Gesinnungen der Mitwirkung zu Allem, was gut und selbstständig ist, wozu das volle Zutrauen und die Herzensvereinigung

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zwischen Wohldenkenden, selbst bei großer Verschiedenheit der Meinungen […] nothwendig gehört“ (ebd.: 287). Kant hielt eine erzieherische Wirkung auf andere in Hinsicht auf ihr Denken und ihr moralisches Verhalten für möglich, schien jedoch in den Naturanlagen eine Art Grenze dieses Einflusses zu sehen. Er wusste, dass die Geistesgaben nur ein Teil seien, wenn es darum gehe, das Weltbeste zu befördern. Zu einer Herzensvereinigung zwischen Wohldenkenden, trotz Meinungsverschiedenheit, gehöre darüber hinaus noch etwas anderes. Das kommt dann zum Ausdruck, wenn er eben jene Eigenschaft bei anderen lobend hervorhob. Für die Verbindung von dem Talent als Philosoph und der edelsten Denkungsart eines Weltbürgers zeigte Kant seine Hochachtung (vgl. ebd.: 75). Es freute ihn, in Garves Schreiben „deutliche Beweise einer pünctlichen und gewissenhaften Redlichkeit und einer menschlichen theilnehmenden Denkungsart anzutreffen, die jenen Geistesgaben den wahren Werth giebt“ (Br, AA  10: 336). Und er hoffte, dass sich Reinholds Jugend mit einer philosophischen Gleichgültigkeit gegen das, was nicht in unserer Gewalt sei, verbinde, „die allein im Bewustseyn seiner Pflichtbeobachtung den wahren Werth des Lebens“ setze (Br, AA  11: 433). Vernünftiges Selbstdenken und der wissenschaftliche Austausch gehen einher mit einer moralischen Einstellung der Beteiligten. Wie für die Nutzenüberlegungen versuchte Kant für die innere Einstellung, die kontinuierlich in dieser Rekonstruktion als notwendige Voraussetzung für eine glückende Lehrer-Schüler-Beziehung ausgemacht wurde, ebenfalls ein grundlegendes, allgemeines und doch praktikables Fundament zu ermöglichen. Mit den Verweisen auf die Reinigkeit des Beweggrundes von Lehrern, die wertgebende Denkungsart und das Bewusstsein der Pflichtbeobachtung als wahren Wert des Lebens wies Kant auf die konkrete Bedeutung seiner Moraltheorie hin. Seine gewählten Formen der Erziehung als ‚Hebamme‘ der Gedanken und Freund der studierenden Jugend lesen sich als deren praktischer Umsetzungsversuch.

Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Nützlichkeit durch eine forschende, kritische und moralische Haltung in der Welt

Durch die Fortschritte der Kant-Forschung in den vergangenen fünfzig Jahren wird eine Korrektur von Weisskopfs Vermutung (1970: 350), das Heranreifen der Kritik habe „den Blick auf den Anthropologen bzw. Pädagogen Kant verdeckt und die Nachwelt vor allem den kritischen Metaphysiker sehen lassen“, möglich. Ausgehend von Weisskopf, der dem Thema Präsenz verschaffte und neue Perspektiven auf die Pädagogik-Schrift eröffnete, hat sich das Forschungsfeld

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‚Kant und die Pädagogik‘, wie es zu Beginn der Arbeit dargestellt wurde, weiter ausdifferenziert. Dass in Kants Philosophie das denkende Ich zum Ursprung der allgemeinen Erkenntnis wird, kann in systematischer Perspektive erklären, warum die theoretischen, ethischen und ästhetischen Revolutionen in Kants Philosophie das „Potential einer tiefreichenden Umgestaltung der Pädagogik“ mit sich bringen (Koch 2005: 9). Die historische Situierung Kants im Kontext des pädagogischen Jahrhunderts und die Exegese insbesondere der Methodenlehren von Munzel (2012: 225-232) zeigen, dass Kant seine kritische Philosophie als Paideia für Lehrer und Erzieher ansah. Die sich zeigenden historischen und systematischen Verbindungslinien Kants zum Pädagogischen weisen auf eine grundsätzliche Konnexion seiner kritischen Metaphysik und der Anthropologie hin. Die vorliegende Rekonstruktion von Kants Unterricht, die in der letzten Phase von 1780 bis 1796 in seinen kritischen Schriften und kleineren Aufsätzen eine Expansion seines Unterrichts erkennen lässt, liefert einen Beitrag zu der Wahrnehmung des ‚Anthropologen bzw. Pädagogen Kant‘ nicht neben sondern in Verbindung mit seiner kritischen Philosophie. Denn die zetetische Methode von Kants Unterricht zeigt durch die Vergegenwärtigung seiner Unterrichtspraxis als Genese eindeutige Analogien mit der Kritik als ‚Metaphysik der Metaphysik‘ in Hinsicht auf die pädagogische Absicht des Selbstdenkenlernens. Wie es die anschließende Exegese expliziert, wird in der Kritik der reinen Vernunft der selbstständige Gebrauch der Vernunft zum Prinzip erhoben, und auch hier findet sich Kants didaktischer Grundsatz, man könne nur philosophieren lernen, „das Talent der Vernunft in der Befolgung ihrer allgemeinen Principien an gewissen vorhandenen Versuchen üben, doch immer mit Vorbehalt des Rechts der Vernunft, jene selbst in ihren Quellen zu untersuchen und zu bestätigen, oder zu verwerfen“ (KrV, B 866). Der „Lehrer im Ideal“, der alle Vernunfterkenntnisse als „Werkzeuge nutzt, um die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft zu befördern“, seine Idee zu einer Gesetzgebung könne in jeder Menschenvernunft angetroffen werden (ebd.: 867). Durch die mit Vernunft geprüfte Vernunft komme es zur „Cultur der Vernunft“, die einen „sicheren Gang“ der Metaphysik ermögliche, der ohne diese Kritik einem „grundlosen Tappen und leichtsinnigen Herumstreifen“ glich (KrV, B XXXf.). Während sich Kant mit der Logik in seinem philosophischen Unterricht um die ‚Kultur der Vernunft‘ seiner Schüler bemühte, sollte seine Kritik als Methode eine ‚Kultur der Vernunft‘ als Grundlage der Wissenschaften und Philosophie überhaupt ermöglichen. Der zentralen Selbsttätigkeit entsprechend formulierte Kant seine demons­ trierten Reflexionen in den Vorlesungsprogrammen nicht nur als allgemeine, unpersönliche Erkenntnisse, sondern in der ersten Person Singular als sich stufenweise aufbauende Tätigkeit eines denkenden Ichs. Zudem formulierte

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er in seinen Vorlesungen die Gegenstandsbereiche der Philosophie in drei Fragen der Subjektivität, die auch in der Kritik als spekulatives wie praktisches Interesse der Vernunft zum Ausdruck kommen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? (vgl. KrV, B 832f.) Er bot seinen hörenden und lesenden Schülern keinen festen Antwortkatalog, sondern eine Anregung zur eigenständigen, methodischen Aktualisierung. Seine Philosophie kann somit auch heute Pädagogen darauf aufmerksam machen, dass die Frage nach einer nützlichen Erziehung zum Selbstdenken keine ist, „die mit praktikablen teaching tipps beantwortbar wäre“ (Mikhail 2017: 107). Seine kritische Philosophie versucht eine Antwortkonzeption auf der abstrakten Ebene der Bedingungen der Möglichkeit des Wissens, Tuns und Hoffens, die sich der je einzelne Mensch durch seine Vernunftfähigkeit erschließen kann, indem er durch Versuche und Übung tätig wird. Wie Zöller (2017: 179f.) herausstellt, ersetzt Kant dabei den doktrinalen Anspruch der „alten Spezialmetaphysik“ und führt Metaphysik als Projekt „auf spezifisch praktischer Grundlage“ funktional fort. So werden in Kants kritischer Metaphysik aus Theoremen Postulate, aus Wissen ein Glaube an die Vernunft und aus sachlich zwingenden Gründen faktisch alternativlose Bedürfnisse (vgl. ebd.). Anstelle einer „Metaphysik als Wissenschaft“ formuliert Kant eine „Metaphysik als Weisheitslehre“, die mit der „Vereinbarung von Sittlichkeit und Sinnlichkeit, von (rein-praktischer) Vernunft und (verdientem) Vergnügen in einer gelungenen Lebensführung“, „das antike Bildungsideal der sophia in spezifisch moderner Form fortführt“ (ebd.: 180). Die Rekonstruktion von Kants Unterricht sensibilisiert für seine Ausrichtung als Lehrer auf die Weisheit und somit für die Verbindung von Philosophie als theoretischer Reflexion und ihrer tätigen Anwendung in der Welt, die sich didaktisch in seiner markanten Fächerkombination von theoretischabstrakten Disziplinen (Logik und Metaphysik) und empirisch-phänomenalen Disziplinen (Physische Geographie und Anthropologie) zeigt. Was durch die Rekonstruktion von Kants Unterrichtspraxis neben den von Naragon (2006d) erarbeiteten Kriterien – Pünktlichkeit, erforderliche Aufmerksamkeit und erzählerischem Talent, das zum Selbstdenken anregt – als markantes Merkmal auffällt, ist die Übereinstimmung seiner pädagogischen Konzeption mit der Unterrichtssituation, die seine Studenten beschrieben, und der formulierten Ziele mit der Wirkung, die seinem Unterricht zuge­ schrieben wurde. Die Beschreibungen und Beobachtungen seiner Schüler lassen erkennen, dass dies sowohl auf seine mündliche als auch schriftliche Lehre zutraf. Sowohl der Unterricht nach zetetischer Methode als auch die kritische Philosophie waren mit demselben pädagogischen Ziel verbunden: Dem Selbstdenkenlernen. Beide Lehrformen stimmen mit der didaktischen Grundkonzeption überein, dass Philosophieren nur forschend und versu­ chend von einer denkenden Subjektivität vollzogen werden könne. Malter

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(1981: 64-78) hat diesen Grundgedanken analysiert und herausgefunden, dass bei der zetetischen Methode für den Philosophieunterricht zwei gegenläufige Tendenzen hervortreten. Zum einen erfordere der Unterricht eine aktualistische Form, in der Bücher und Lehrmeinungen nur eine instrumentelle Funktion für die Entfaltung des Selbstdenkens einnehmen. Zum anderen ist das Üben als formales Ziel selbst auf ein Ziel gerichtet, der Erforschung der Weisheit fähig zu werden, was einer systematisch-finalistischen Tendenz entspricht. Jedoch widerspricht das absolute Ziel der Weisheit nicht dem aktualistischen Anspruch der zetetischen Methode: „[G]erade weil Weisheit nur in bestimmter begrifflich-argumentativer Gestalt existiert und weil die gattungshafte Vernunft nur im Individuum wirklich ist, muß das Philosophieren zetetisch sein (um des Überschichtlichen der Weisheit und der Gattungshaftigkeit der Vernunft willen); es muß aber auch systematischfinalistisch sein, wenn es sich nicht im Spielerisch-Vagen, Ziellosen, letztlich Unsinnigen verlieren will.“ (Malter 1981: 77)

Wer sich zetetisch auf das Philosophieren einlasse, komme durch die Prinzipien der Vernunft zu einer Weisheit in Systemgestalt. Die von Malter festgestellten Tendenzen spiegeln sich in der Rekonstruktion von Kants Unterrichtspraxis. Aktualistische Merkmale des Unterrichts sind die freie Auseinandersetzung mit Kompendien, das Anregen zum Nachdenken durch eigenständige Reflexionen und die Fächer in Weltkenntnis als ‚nützliche Unterhaltung‘, als ‚Spiel‘ für den Verstand, das niemals trocken und jederzeit unterhaltend sein sollte. Systematisch-finalistische Merkmale zeigen sich in der Annahme von ‚letzten Zwecken der Vernunft‘ oder der ‚Idee einer vollkommenen Weisheit‘ sowie dem Stufenaufbau menschlicher Erkenntnis, der von Gelehrten zuletzt mittels der Wissenschaft ‚in einem wohlgeordneten Ganzen‘ erkannt werden kann. Als philosophischer Lehrer verband Kant die beiden Tendenzen, welche sich in seinen Kompendien finden: Die rationalistisch-tabellarischen und die populärphilosophisch-rhetorischen Didaktikanregungen. Dass Kant die Vorzüge beider Methoden schätzte und nutzen wollte, lässt sich seinen Überlegungen in der Korrespondenz zur Präsentation der Kritik entnehmen. Zunächst galt es, der Schule ihr Recht widerfahren zu lassen und auf ‚scholastische Genauigkeit in Bestimmung der Begriffe‘ zu achten, bevor er sich einen ‚Plan in Gedanken‘ machte, nach welchem sie Popularität bekommen könne. Zetetischer Unterricht und kritische Philosophie gründen auf denselben basalen, didaktischen Reflexionen und Überzeugungen. Wie Starks (1992: 550) Analyse über die Formen von Kants akademischer Lehre bestätigt, steht Kants Unterricht in enger Verbindung zu seinen philosophischen

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Schriften. Zwar benutzte er Lehrbücher anderer Philosophieprofessoren, aber er trug in kritischer Auseinandersetzung mit ihnen seine eigenen philosophischen Lehren vor. Dass Kant kein eigenes Kompendium verfasste und seine philosophische Lehre in den beiden Formen Wort und Schrift dennoch eine Einheit bilden, kann in Zusammenhang mit seiner pädagogischen Methode des Philosophierenlernens gesehen werden (vgl. ebd.: 553f.). Es kann aber auch ein philosophischer Grund dafür angeführt werden (vgl. ebd.: 555f.). Denn für Kant ist die Kritik „ein Tractat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst“ (KrV, B XXII). Weniger als ein Unterrichtsgegenstand, der als Wissensgehalt dem Gedächtnis und dem Verstand eingedrückt werden könnte, ist die Kritik eine Methode des Subjekts, welches mit seiner Vernunft über die Grenzen und Glieder von Natur und Moral nachdenkt. Durch ihre systematische Ausarbeitung und als methodisches Vorbild verbindet sie ebenfalls die finalistischen und aktualistischen Tendenzen des Philosophierens. Ausgehend von Kants früher Feststellung als er Privatdozent war, dass es die ‚Methode selbst nachzudenken und zu schließen‘ sei, ‚deren Fertigkeit der Lehrling eigentlich sucht, die ihm auch nur allein nützlich sein kann‘, zeigen sich zetetischer Unterricht und kritische Philosophie in der Rekonstruktion von Kants Unterricht in einer konsistenten Entwicklungslinie. Weniger um das was, ging es Kant als Lehrer um das wie: Seine Schüler sollten in der Physischen Geographie die Welt ‚mit der vernünftigen Neubegierde eines Reisenden‘ wahrnehmen, Natur und Mensch sollen in der Anthropologie und Physischen Geographie ‚kosmologisch erwogen werden‘, im Verhältnis zum Ganzen, ‚darin ein jeder selbst seine Stelle einnimmt‘, der praktische Philosoph kennzeichne sich ‚nach seinem Betragen‘ seine Vernunft ‚zu gewissen Zwecken‘ zu gebrauchen. Was Kant als Lehrer seinen Studenten mit seinem Unterricht zeigte, war eine besondere Haltung: Forschend und kritisch in Bezug auf die Welt die Vernunft zu üben. Diese lässt sich nur vorstellen und anwenden, nicht festlegen und auswendig lernen. Als Mensch gilt es, sein Erkenntnisvermögen kritisch zu prüfen und sich gleichsam in der Welt ‚kosmologisch‘ zu verorten. Kant demonstrierte mit seiner Unterrichtskonzeption, wie sich der Mensch auf zwei Wegen mit sich selbst bekannt machen kann. Mit der Etablierung der Anthropologie im Winter 1772/73 führte er eine markante Fächerkombination ein, die sich durch die Reduktion seiner Vorlesungstätigkeit in den 90erJahren als Kern seines philosophischen Unterrichts kristallisierte: Logik und Physische Geographie im Sommer, Metaphysik und Anthropologie im Winter. Er verband stets eine Disziplin der theoretischen Philosophie, die den Blick auf die gründliche und vollständige Vernunftwissenschaft richtete, mit je einer Disziplin der Weltkenntnis als ‚Vorübung der Weisheit‘, die als phänomenologische Beobachtungslehre den Blick in die Welt richtete. Dabei machte er

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Kapitel 2

sich als Lehrer für seine Schüler selbst zum demonstrativen Beispiel seiner Methode: Er prüfte kritisch die Logik Meiers und die Metaphysik Baumgartens und präsentierte seine kosmologisch erwogenen Beobachtungen in Anthropologie und Physischer Geographie, um seine Schüler durch Phänomene und historische Kenntnisse als Substitut für Erfahrenheit „zu einer praktischen Vernunft“ vorzubereiten (NEV, AA 02: 312). Kants Bemühen, Vernunft und Welt, Theorie und Praxis zu verbinden, beschränkte sich nicht nur auf den Hörsaal. Die beschriebene Haltung demonstrierte er auch als öffentlicher Gelehrter in seinen Ämtern und Schriften. Über seine offizielle Amtstätigkeit ist wenig bekannt, doch kann die Arbeit von Euler zeigen, dass er sich für akademische Freiheit einsetzte, sein Amt nutzte, um praktikable Vorschläge auszuarbeiten und sich für eine verbesserte Prüfungspraxis engagierte. Als publizierender Philosoph legte er seinen Fachkollegen sein ausgearbeitetes System als Beitrag zur Beförderung der Wissenschaft vor und sortierte zudem mittels kurzen, verständlichen Aufsätzen gegenwärtige Debatten. Dabei folgte Kant seiner eigenen pädagogischen Absicht, die Schule für das Leben brauchbar werden zu lassen. Damit gab er ein Beispiel für den von ihm beschriebenen praktischen Philosophen, der seine theoretischen Kenntnisse auf Begebenheiten und Probleme der aktuellen Debatten anwendet und so zu einem konkreten Nutzen in der Welt beizutragen versucht. Die Reaktionen seiner Zeitgenossen machen darauf aufmerksam, dass die kritische und kosmologische Haltung Kants moralisch konnotiert war. Ihm wurden Verdienste um die ‚Aufklärung und das damit in so enger Verbindung stehende Wohl der Menschheit’ zugeschrieben (Meyer). Sein kritisches System habe eine ‚heilsame Revolution in der Denkart für Welt und Nachwelt‘ bewirkt und er galt als ‚Wiederhersteller des gründlichen und gereinigten Denkens‘ (Biester). Kants Ziele als Lehrer (Selbstdenken, Weltkenntnis und Weisheit) bezeugen konkreten Praxisbezug: Denken und Handeln konstituieren sich durch forschende Selbsttätigkeit in der Welt. Als Lehrer gab Kant konsequent in verschiedenen Praxisfeldern (Hörsaal, Ämter und Schriften) ein anschauliches Exempel für den von ihm empfohlenen praktischen Philosophen, indem er betrachtend und tätig Bezug auf die Welt nahm. Die kritische Philosophie als Methode des denkenden Subjekts erweitert seine Formen der Erziehung. Die Konformität zwischen seinen pädagogischen Zielen und Methoden und seinem Wirken als Lehrer in Unterricht und Schriften, weisen den Lehrer Kant als anschauliches Beispiel für die Anwendung seiner eigenen Theorie aus und lassen eine moralische Konnexion seiner Lehre erkennen, wie es die folgende Tabelle veranschaulicht:

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Abb. 5

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Historische Stimmen zu Kants Unterrichtspraxis 1780-1796 [ED]

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Die Formen von Erziehung in Kants philosophischen Schriften: Werkimmanente Exegese der Begriffe Bildung und Erziehung Dieses Kapitel legt den Fokus auf das theoretische Moment des Pädagogischen und erarbeitet die Formen von Erziehung in systematischer Perspektive auf Kants Werk: An welchen Stellen beschäftigt er sich mit der Bildung und Erziehung des Menschen und wie schätzt er sie als Bedingung und Möglichkeit ein, aktiv dazu beizutragen, als Mensch und Menschheit besser werden zu können? Als sachliche Orientierung wird die im einleitenden Methodenteil dieser Arbeit entwickelte Erziehungsvorstellung von Kant als Kultivierung menschlicher Anlagen, insbesondere der Vernunft, zugrunde gelegt und die in ihrer Authentizität umstrittene Pädagogikschrift ausgeklammert (vgl. S.  48f.). Zunächst soll eine Exegese des Bildungsbegriffs Kants Auffassung des Menschen und dessen Sonderrolle in der Natur skizzieren, indem die drei Kontexte herausgearbeitet werden, in denen Kant den Bildungsbegriff verwendet: Der mechanische Kontext der Naturgeschichte, der organische Kontext der kritischen Naturerforschung und der pädagogisch, rechtlich sowie kulturelle Kontext in Bezug auf die Ausbildung und Entwicklung des Menschen. Im Anschluss wird die Verwendung seines Erziehungsbegriffs untersucht. Da sich das kritische Denken auf die philosophische Konzeption von Natur und Mensch auswirkt, wird zuerst das Problembewusstsein von Erziehung in seinen frühen Schriften vorgestellt, bevor die zwei Problemfelder, die er in seinen späteren Schriften mit dem Erziehungsbegriff adressiert, erarbeitet werden: das Problem der Grundsätze von Erziehung für den Einzelnen, um im moralischen Sinne gut zu werden, und das prinzipielle Problem der moralischen Erziehung der menschlichen Gattung in Hinsicht auf einen Fortschritt zum Besseren. Da Kants Erziehungsdenken keiner spezifischen Schrift als systematischer Themenschwerpunkt zuzuordnen ist, sondern die überwiegend metaphysischen und methodischen Grundfragen begleitet, handelt es sich um eine übergreifende Interpretationsfrage an das kantische Werk. Die leitende Frage, wie die Möglichkeit erzieherischer Einflussnahme als aktives Einwirken auf den Entwicklungsprozess des Menschen und der Menschheit einzuschätzen und zu beschreiben ist, betrifft nach einer Unterscheidung Lehmanns (1969: 89f.) primär Kant als Problem- und weniger als Systemdenker. Kants

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752692_005

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Begriffsrepertoire ist in einzelnen Schriften sehr präzise und stringent, doch können sich bei schriftübergreifenden Interpretationsversuchen Unregelmäßigkeiten und Spannungen zeigen. Zugunsten einer Klärung und Vergegenwärtigung der im Zentrum stehenden Begriffe ‚Bildung‘ und ‚Erziehung‘ wird mit anderen begrifflichen Distinktionen großzügig umgegangen, statt spezifische Feinheiten zu fokussieren. Anstelle der oftmals transzendentalspezifischen Bedeutung der Begriffe konzentriert sich die Exegese auf den allgemeineren Bedeutungsinhalt. So wird etwa der Unterschied zwischen Triebfeder und Bewegungsgrund in Hinsicht auf den ihnen gemeinsamen motivationalen Aspekt simplifiziert oder der zwischen Verstand und Vernunft in Hinsicht auf den kognitiven Charakter beider Erkenntnisvermögen. Die Unterschiede von Textgattung, Intention, Stil und Ton sowie das prozessuale Element seines jahrzehntelangen philosophischen Schriftstellertums erschweren es, ein einheitliches Bild von Kants Schriften zu beschreiben oder die exakte Definition eines einzelnen Begriffes festzulegen. Zwar wird auf den jeweiligen denkerischen Standpunkt der Äußerungen geachtet, aber im Vordergrund steht nicht die Konsistenzprüfung einzelner Begriffe oder der kritischen Philosophie als System, sondern die Entwicklung der Kontexte und Problemfelder, in denen Kant Bildung und Erziehung behandelt. 3.1

Der Bildungsbegriff und seine Bedeutungsfelder: Die Bildung des Menschen als Sonderfall der mechanischen und organischen Bildungsprozesse der Natur

Der Ursprung des Bildungsbegriffs vor seiner pädagogischen und idealistischen Bedeutung ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts liegt im mystischtheologischen und naturphilosophisch-spekulativen Bedeutungsfeld (vgl. Lich­tenstein 1971: 921). Wie die folgende Analyse belegen wird, zeigt sich der Bildungsbegriff im kantischen Werk sowohl in der traditionellen naturphilosophischen als auch der jüngeren pädagogischen Verwendung. Da in der Bildungsfähigkeit die Bedingung der Möglichkeit einer erzieherischen Einflussnahme liegt und Erziehung somit insgesamt ein Spezifikum innerhalb des allgemeineren Bildungsprozesses darstellt, beginnt die werkimmanente Exegese mit dem Bildungsbegriff. Bildung im mechanischen Kontext der Naturgeschichte (1755): Kants frühe Beschreibung der Bildung der Natur als Vollkommenheitsbewegung vom Chaos zur Ordnung In Kants frühen Schriften, die ihren Schwerpunkt in der philosophischen Betrachtung der Naturvorgänge haben, zeigt sich die Verwendung seiner

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Begriffe ‚Bildung‘, ‚Ausbildung‘, ‚Auswickelung‘ und ‚Entwicklung‘ vorwiegend mit Bezug auf die materiellen Dinge der Natur wie die Planeten oder die Erde.37 Er beschäftigt sich mit der „Bildung der Natur aus dem Chaos“ und mit „in der Bildung begriffenen Systeme[n]“ (NTH, AA 01: 307), der „Bildung der Planeten“ (ebd.: 273), der „Bildung der Himmelskörper“ (ebd.: 341) oder der „Bildung eines Weltgebäudes“ (ebd.: 323). Bildung in diesem materiellen und mechanischen Kontext beschreibt stets einen fortschreitenden Prozess in Raum und Zeit. Bezogen auf die Entstehung von Welten, die Schöpfung im ganzen Umfang ihrer Unendlichkeit in Raum und Zeit, stellt er fest, dass die „Ausbildung der Natur“ bei einem Mittelpunkt anfange und sich dann „mit stetiger Fortschreitung nach und nach in alle fernere Welten“ ausbreite, „um den unendlichen Raum in dem Fortgange der Ewigkeit mit Welten und Ordnungen zu erfüllen“ (NTH, AA 01: 312). Für die räumlich und zeitlich feststellbare Veränderung materieller Formungsprozesse wird als Zweck die Ausbreitung und Füllung des Raums mit Welten und Ordnungen angegeben. Das eröffnet die Möglichkeit, graduelle Unterschiede in dieser Veränderung festzustellen. So nimmt Kant an, die Natur sei ausgebildeter, je näher sie sich an dem anfänglichen Mittelpunkt befinde und je weiter entfernt sie hiervon ist, desto näher sei hingegen das Chaos. Der Bildungsprozess besteht somit in der Ausfüllung des Raumes mit Welten und Ordnungen, in einer zeitlich und räumlichen Bewegung vom Chaos zur Ordnung: „Es ist vielleicht eine Reihe von Millionen Jahren und Jahrhunderten verflossen, ehe die Sphäre der gebildeten Natur, darin wir uns befinden, zu der Vollkommenheit gediehen ist, die ihr jetzt beiwohnt; und es wird vielleicht ein eben so langer Periodus vergehen, bis die Natur einen eben so weiten Schritt in dem Chaos thut: allein die Sphäre der ausgebildeten Natur ist unaufhörlich beschäftigt, sich auszubreiten. Die Schöpfung ist nicht das Werk von einem Augenblicke.“ (NTH, AA 01: 313f.)

Zwar liegen der Naturgeschichte von Kant lediglich Materie und Triebfedern zugrunde, von denen ausgehend sich die Natur über die Zeit hinweg durch Anziehung und Zurückstoßung der Elemente bildet. Zuversichtlich verkündet er demgemäß zu Beginn, es sei nicht vermessen, zu sagen: „Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen!“ (NTH, AA  01: 230) Aber die sukzessive mechanische Naturbildung ist für Kant mit der Vorstellung von 37

Die folgende Analyse konzentriert sich auf die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), in der Kant am ausführlichsten die Bildung der Natur beschreibt. Ähnliche Überlegungen zu seinem mechanischen Bildungsbegriff finden sich darüber hinaus in der Preisschrift von 1754 (vgl. UFE, AA 01: 186ff.), in Die Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erwogen (1754) (vgl. FEV, AA 01: 198ff.) und Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763) (vgl. BDG, AA 02: 144ff.).

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Vollkommenheit verbunden. Die nach notwendigen, mechanischen Gesetzen andauernde und sich ausbreitende Naturbildung wird nicht neutral als Reihe qualitativ gleichwertiger Ereignisse beschrieben, sondern mit einem teleologischen Moment versehen. Die Materie als Urstoff aller Dinge sei an Gesetze gebunden, welche notwendig Schönes hervorbringen müssen: „Sie hat keine Freiheit von diesem Plane der Vollkommenheit abzuweichen.“ (ebd.: 228) Die Materie, die sich durch mechanische Gesetze der Anziehung und Zurückstoßung in der Natur ausbildet, ist dabei keineswegs so roh und ungebildet, wie es Kants Formulierungen teilweise behaupten. Ihre Eigenschaften und Kräfte, die allen Veränderungen zugrunde liegen, sind eine unmittelbare Folge des göttlichen Daseins (vgl. ebd.: 310). Zwar bietet Kants Geschichte der Naturbildung mit Fokus auf mechanische Gesetze eine Alternative zur religiösen Schöpfungsgeschichte, insbesondere zu der Annahme, die Natur wäre unselbstständig, „nur ein Gott in der Maschine“ und somit stets abhängig von seinem wundersamen Eingreifen (ebd.: 333). Aber dennoch ist Gott für diese Erklärung zentral. Er wird an den Anfang der Geschichte gesetzt als erster und ursächlicher Grund der Notwendigkeit und Vorhandenheit der Gesetze, aber nicht in Form eines bestimmten Schöpfergottes, sondern in seiner Funktion als göttlicher Verstand: „Alle Wesen hängen aus einer Ursache zusammen, welche der Verstand Gottes ist; sie können daher keine andere Folgen nach sich ziehen, als solche, die eine Vorstellung der Vollkommenheit in eben derselben göttlichen Idee mit sich führen.“ (NTH, AA 01: 294)

Ursprünglich und ursächlich wurzelt Kants teleologische Vollkommenheitsvorstellung der Naturbildung in einem die mechanischen Gesetze notwendig machenden, göttlichen Verstand. Dieser Verstand wird als gemeinschaftlicher Ursprung aller Naturdinge gedacht, von der einfachen Materie bis zu Menschen und Tieren. Bezeichnet wird er als „unendlicher Verstand“ und „selbständige Weisheit“, aus der die Natur „sogar ihrer Möglichkeit nach in dem ganzen Inbegriffe der Bestimmungen ihren Ursprung zieht“ (NTH, AA 01: 334). Kant strebt mit dieser Bedingung eines grundsätzlichen, unendlichen Verstandes nach einer holistischen Erklärung der Naturdinge sowie ihrer grundlegenden Vollkommenheit. Durch den ursächlichen, göttlichen Verstand ist alles in der Natur wesentlich zur Vollkommenheit bestimmt. Doch bedeutet die Vollkommenheit als Zielvorstellung der Naturbildungen nicht, dass alles in der Welt Befindliche vollkommen und harmonisch ist: „Die Natur, unerachtet sie eine wesentliche Bestimmung zur Vollkommenheit und Ordnung hat, faßt in dem Umfange ihrer Mannigfaltigkeit alle mögliche Abwechselungen sogar bis auf die Mängel und Abweichungen in sich.“ (NTH, AA 01: 347)

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Die Vollkommenheit bezieht sich auf den Plan, die Bestimmung, den Inbegriff der Natur, nicht auf das Partikulare, Einzelne in ihr. Wenn Vollkommenheit nicht das je Einzelne betrifft, sondern das Zusammenspiel des Einzelnen im Ganzen, dann verweist das darauf, dass es neben dem ursächlichen, göttlichen Verstand auch eines rezeptiven Verstandes bedarf, der zu dieser Feststellung als geistig produzierte, abstrahierende Gesamtschau fähig ist. Die Vollkommenheit ist laut Kant bereits in den einfachsten Elementen angelegt und sei „in den wesentlichen Eigenschaften der Elemente, die das Chaos ausmachen“ als Merkmal bereits „zu spüren“ (NTH, AA 01: 263). Der Mensch verfüge über eine Einbildungskraft, die von der Vorstellung der Vollkommenheit gerührt werde, und einen Verstand, der von der Betrachtung der ewigen und richtigen Ordnung entzückt sei (vgl. ebd.: 306). Durch diese Vermögen erhält der Mensch die Rolle eines spürenden und urteilenden Beobachters des Universums. Er kann dem Weltbau „Ordnung und Schönheit“ zuschreiben (ebd.: 222) und feststellen, dass die Materie Gesetze hat, die auf „Ordnung und Wohlanständigkeit abzwecken“ (ebd.: 227). Kant ist überzeugt, das Weltgebäude ließe sich gar nicht ansehen, „ohne die trefflichste Anordnung in seiner Einrichtung“, „die Vollkommenheit seiner Beziehungen“ zu bemerken (ebd.: 331). Verantwortlich dafür sind die geistigen Vermögen des Beobachters: Die Vernunft ermöglicht es, in der beobachtenden Perspektive auf die Welt, Schönheit und Trefflichkeit festzustellen und zu bewundern (vgl. NTH, AA 01: 331.). Sie weigert sich, „alles dieses dem Zufalle und einem glücklichen Ungefähr zuzuschreiben“, und sucht stattdessen nach einer höchsten Weisheit, die es ermöglicht, „so viele in einem Zweck zusammen kommende Absichten in der Verfassung des Weltgebäudes anzutreffen“ (ebd.: 331f.). Neben Gott kommt dem Menschen für die Erklärung der Naturbildung und ihrer Vollkommenheit die zentrale Rolle zu. Als Teil der Naturbildungen hänge das Denken des Menschen von den Eindrücken ab, welche das Universum mittels seines Körpers in ihm erregt: „Der Mensch ist erschaffen, die Eindrücke und Rührungen, die die Welt in ihm erregen soll, durch denjenigen Körper anzunehmen, der der sichtbare Theil seines Wesens ist, und dessen Materie nicht allein dem unsichtbaren Geiste, welcher ihn bewohnt, dient, die ersten Begriffe der äußeren Gegenstände einzudrücken, sondern auch in der innern Handlung diese zu wiederholen, kurz zu denken, unentbehrlich ist.“ (NTH, AA 01: 355)

Das menschliche Denken, welches die Einsicht in die mechanischen Gesetze und die Vollkommenheit der Natur als Ganzes ermöglichen kann, ist im Gegensatz zu dem unendlichen, göttlichen Verstand an einen einzelnen, partikularen Körper gebunden. Die geistigen Fähigkeiten des Menschen sind von der Beschaffenheit der Materie und ihrer Ausbildung abhängig: „Nach

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dem Maße, als sein Körper sich ausbildet, bekommen die Fähigkeiten seiner denkenden Natur auch die gehörigen Grade der Vollkommenheit“ (NTH, AA  01: 355f.). Analog zu der Vollkommenheitsbewegung der Naturbildung nach dem göttlichen Plan als materielle Entfaltung von Ordnung und Schönheit weisen die körperliche Ausbildung des Menschen und die damit verbundenen geistigen Fähigkeiten eine graduelle Abstufung auf. Je besser der Mensch mittels seiner geistigen Fähigkeiten den göttlichen Verstand erkennen und verstehen kann, desto vollkommener ist für Kant seine Entwicklung in Raum und Zeit. So entwickele er bereits früh die Fähigkeit, sich den Abhängigkeiten vom Äußerlichen anzupassen, und einige Menschen blieben bei diesem „Grade der Auswickelung“ stehen (ebd.: 356). Hingegen finde sich teils nie, teils spät, aber immer nur schwach auch „das Vermögen abgezogene Begriffe zu verbinden, und, durch eine freie Anwendung der Einsichten, über den Hang der Leidenschaften zu herrschen“ (ebd.). Einzig die Hoffnung des Künftigen und das Bevorstehen „einer völligen Auswickelung“ der in ihm verschlossenen Kräfte erhebe den Menschen von sei­ nem verachtungswürdigen Zustand (ebd.). Das hoffnungsbringende Potential wird in den Bemühungen der Vernunft verortet, die sich über die Leidenschaften erheben und Verwirrungen durch Urteilskraft vertreiben können. Die Hindernisse der menschlichen Natur dieses versteckte Potenzial zu entfalten, werden in der Materialität verortet, dem „natürlichen Hang der körperlichen Maschine“ (NTH, AA 01: 357). Die Abhängigkeit von grober Materie erkläre die Trägheit der Denkungskraft, die als Quelle von Laster und Irrtum ausgemacht wird. Jedoch stellt Kant in der innigen Bindung der Kräfte der menschlichen Seele an die Materie nicht nur eine Hinderung fest. Die materielle Verbundenheit habe „eine wesentliche Beziehung zu dem Grade des Hirnflusses“, der je nach Abstand zur Sonne eine belebende Wirkung ausübe und „zu den Verrichtungen der animalischen Ökonomie tüchtig“ mache (ebd.: 358). Materie taucht an dieser Stelle somit als Grenze und Bedingung des menschlichen Potenzials auf, insbesondere seiner geistigen Fähigkeiten. Spannung der Vollkommenheitskonzeption: Die mittlere Position des Menschen im Universum Kants Ausführungen über die Bildung der Natur schwanken zwischen einem holistisch-gleichwertigen und einem partikulär-graduellen Denken der Vollkommenheit. Einerseits impliziert die Vollkommenheit als Annäherung an Schönheit und Ordnung ein Ziel der Naturbildung und eröffnet somit die Vorstellung, auf diesem Weg verschiedene Grade voneinander zu unterscheiden. So geht Kant etwa nicht grundsätzlich davon aus, dass jeder Planet bewohnbar sei, aber er scheint den Vollkommenheitsgrad der Planetenbildung an seiner Eignung für Bewohner festzumachen:

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„Vielleicht ist unsere Erde tausend oder mehr Jahre vorhanden gewesen, ehe sie sich in Verfassung befunden hat, Menschen, Thiere und Gewächse unterhalten zu können. Daß ein Planet nun einige tausend Jahre später zu dieser Vollkommenheit kommt, das thut dem Zwecke seines Daseins keinen Abbruch. Er wird eben um deswillen auch ins zukünftige länger in der Vollkommenheit seiner Verfassung, wenn er sie einmal erreicht hat, verbleiben; denn es ist einmal ein gewisses Naturgesetz: alles, was einen Anfang hat, nähert sich beständig seinem Untergange und ist demselben um so viel näher, je mehr es sich von dem Punkte seines Anfanges entfernt hat.“ (NTH, AA 01: 352f.)

Die Bewohnung von Planeten durch Menschen, Tiere und Gewächse wird hier als allgemeines Zeichen von Vollkommenheit beschrieben. Andererseits ist jeder Moment als Teil des auf Vollkommenheit ausgerichteten göttlichen Plans gleichermaßen notwendig und hat somit Anteil an der Vollkommenheit des Ganzen. In diesem Sinne stellt Kant fest, sei von der erhabensten Klasse unter den denkenden Wesen bis zum Insekt kein Glied der Schöpfung gleichgültig und allen Naturen werde deswegen die gleiche Notwendigkeit zugeschrieben (vgl. ebd.). Vollkommenheit ist zum einen ein zu erreichender Zustand und zum anderen eine bereits stets vorhandene Anlage in allen Momenten der Bildung der Natur. Der teleologische Aspekt der Vollkommenheit zeigt die mechanische Beschreibung der Natur bei Kant zum einen an die ursächliche Vorstellung eines göttlichen Verstandes und zum anderen an die urteilende Vernunft des Beobachters gebunden. Sowohl die Gottesvorstellung als auch die Annahme eines Planeten als umso vollkommener, je eher er sich für Schönes wie Tiere und Menschen eigne, deuten eine anthropozentrische oder gar anthropomorphe Färbung in Kants Vorstellung der mechanischen Naturbildung an.38 Jedoch will er sich in seinem Anhang über die Bewohner der Gestirne explizit von dem Vorurteil distanziert wissen, das menschliche Geschlecht als Mittelpunkt der Zwecke der Schöpfung anzusehen. Seine Ausführungen der Naturbildung schwanken nicht nur zwischen einem holistisch-gleichwertigen und einem partikulär-graduellen Denken der Vollkommenheit, sondern erweisen die Rolle des Menschen, der innerhalb dieser Naturbildung eine Beobachterfunktion einnimmt, als äußerst ambivalent. Sein Denkvermögen ist abhängig von der Mechanik seines Körpers. Zwar sei es ihm durch seine materielle Beschaffenheit möglich, vernünftig zu denken, jedoch würde er durch deren Grobheit den „Zweck seines Daseins“ im Vergleich zu den anderen Geschöpfen am wenigsten erreichen (NTH, AA  01: 356). Nur weil der Mensch dasjenige unter allen vernünftigen Wesen sei, welches wir am besten kennen, setzt ihn 38

Verstärkt wird diese durch metaphorische Parallelen zum Lebensgang des Menschen, zum Beispiel spricht Kant von der Kindheit der Erde oder ihrem natürlichen Tod.

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Kant für seinen Vergleich als allgemeinen Bezugspunkt. So will er die physischen Bedingungen untersuchen und herausfinden, „was das Vermögen, vernünftig zu denken, und die Bewegungen seines Leibes, die diesem gehorcht“, materiell durch den jeweiligen Abstand zur Sonne einschränkt (ebd.: 355). Durch die Annahme einer Konnexion von Sonnenabstand, materieller Beschaffenheit und geistigen Vermögen beschreibt Kant eine Hierarchie unter den potentiellen Planetenbewohnern des Sonnensystems (vgl. NTH, AA  01: 353ff.). Der Stoff werde desto feiner und leichter je weiter die Entfernung zur Sonne sei, was eine Folge für die geistigen Fähigkeiten der Bewohner mit sich bringe: „Der Stoff, woraus die Einwohner verschiedener Planeten, ja sogar die Thiere und Gewächse auf denselben gebildet sind, muß überhaupt um desto leichterer und feinerer Art und die Elasticität der Fasern sammt der vortheilhaften Anlage ihres Baues um desto vollkommener sein nach dem Maße, als sie weiter von der Sonne abstehen. […] Wenn demnach diese geistige Fähigkeiten eine nothwendige Abhängigkeit von dem Stoffe der Maschine haben, welche sie bewohnen, so werden wir mit mehr als wahrscheinlicher Vermuthung schließen können: daß die Trefflichkeit der denkenden Naturen, die Hurtigkeit in ihren Vorstellungen, die Deutlichkeit und Lebhaftigkeit der Begriffe, die sie durch äußerlichen Eindruck bekommen, sammt dem Vermögen sie zusammen zu setzen, endlich auch die Behendigkeit in der wirklichen Ausübung, kurz der ganze Umfang ihrer Vollkommenheit, unter einer gewissen Regel stehen nach welcher dieselben nach dem Verhältniß des Abstandes ihrer Wohnplätze immer trefflicher und vollkommener werden.“ (NTH, AA 01: 358ff.)

Der menschlichen Natur spricht Kant durch die mechanische Verortung als körperlich materielle Maschine mit der Fähigkeit zu denken im Sonnensystem die mittlere Sprosse auf der Leiter möglicher denkender Wesen zu. Die menschliche Natur als Teil der Naturbildung findet sich „zwischen den zwei äußersten Grenzen der Vollkommenheit mitten inne, von deren beiden Enden sie gleich weit entfernt ist“ (NTH, AA  01: 359). In Richtung der Sonne wird die eine äußere Grenze der Vollkommenheit verortet, in Richtung Jupiter und Saturn die andere. Sowohl die Vollkommenheit der „Geisterwelt“ als auch der Materie in den Planeten folgt einer „Gradenfolge“, die nach ihrer Entfernung von der Sonne wachse (ebd.: 360). Ohne den spekulativen Charakter von Kants Überlegungen einer graduellen Abstufung in der Vernünftigkeit der Planetenbewohner in Proportion zu ihrer Sonnenentfernung abstreiten zu wollen, ist es interessant, dass er bereits in dem kosmogonischen Bildungsvorgang der Planeten eine Lokalisierung des Menschen im Dazwischen vornimmt. Die mittlere Position zwischen den anderen Planeten im Sonnensystem entspricht einer mittleren Position in

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den denkbaren Denk- und Handlungsfähigkeiten möglicher Wesen. Als Erdbewohner sei der Mensch durch die materielle Beschaffenheit mit einem trefflicheren Denkvermögen ausgestattet als ein Mars- oder Venusbewohner, aber mit einem weniger leistungsfähigen Denkvermögen als der Saturn- oder Jupiterbewohner, dessen Material eine feinere Beschaffenheit vorweist. Verbunden damit sind moralische Konsequenzen. Die entfernteren Planetenbewohner seien zu weise, um zu sündigen, diejenigen, die zu fest an die Materie gebunden sind, haben hingegen zu geringe geistige Fähigkeiten, „um die Verantwortung ihrer Handlungen vor dem Richterstuhle der Gerechtigkeit“ zu tragen (NTH, AA 01: 365f.). Diese geistige und moralische Hierarchie der Planetenbewohner verdeutlicht die partikulär-graduelle Vollkommenheitsvorstellung. Die Zielvorstellung von Vollkommenheit wird als materielle Annäherung der Naturbildung an die geistige Form beschrieben, gewissermaßen als Geistwerdung der Materie: Je feiner das Material durch den Abstand zur Sonne wird, desto trefflicher die geistigen Fähigkeiten der Bewohner und auch ihr moralisches Verhalten. Analog dazu stellt die bereits skizzierte Entwicklung der geistigen Fähigkeiten ein Kriterium der graduellen Vollkommenheitsbewegung des Menschen dar: Seine Entwicklung gilt als fortgeschrittener, je mehr sich die Bemühungen der Vernunft gegen die Leidenschaften, welche seine körperliche Maschine erhalten, durchsetzen können (vgl. NTH, AA 01: 356). Jedoch betrifft der Geist nur die eine äußere Grenze der Vollkommenheit, die andere äußere Grenze wird in der Materie verortet. Das unterstreicht wiederum die holistisch-gleichwertige Vorstellung der Vollkommenheit aller Momente der Naturbildung in ihrer Funktion als Teil der Ausbildung eines umfassenden, göttlichen Plans. Wie bereits ausgeführt, sei in den einfachen, materiellen Elementen bereits die Anlage, den göttlichen Plan auszuführen, zu spüren. Kants Überlegungen der mechanischen Naturbildungen entdecken eine Grundannahme über die Verbindung von materieller Beschaffenheit und geistigen Fähigkeiten in der Natur, nämlich „daß die allgemeinen Beschaffenheiten der Dinge einander nicht fremd und getrennt sind“ (NTH, AA 01: 364). Materie und Geist, Mechanik und Vernunft zeigen sich in Verwandtschaft, einander in „Errichtung vollkommener Verfassungen“ unterstützend (ebd.). Er denkt sie im Felde der ewigen Wahrheiten untereinander in Bezug stehend „ein System ausmachen, in welchem eine auf die andere beziehend ist“ (ebd.: 365). Durch ein gleiches Prinzip wird die Geisterwelt der Verfassung der materiellen Natur eingeflochten: „So hängt denn alles in dem ganzen Umfange der Natur in einer ununterbrochenen Gradfolge zusammen, durch die ewige Harmonie, die alle Glieder auf einander beziehend macht.“ (ebd.)

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Die Untersuchung des Bildungsbegriffes in Kants frühen naturphilosophi­ schen Betrachtungen zeigt in Hinsicht auf den Aspekt der Vollkommenheit eine grundlegende Spannung. Einerseits wird durch den ursprünglichen göttlichen Verstand als gemeinsame Quelle von Geist und Materie die Naturbildung insgesamt zu der Abfolge eines Plans, der stets in der Bildung von Ordnung und Schönheit fortschreitet. Insofern ist die Natur ein Ganzes, das einzelne räumliche und zeitliche Abschnitte insgesamt als Vollkommenes umfasst. Andererseits wird die Vollkommenheit als Zielvorstellung des Bildungsprozesses gesetzt, wodurch unterschiedliche Grade in der Entwicklung festgestellt werden. Insofern ist die Natur stets auch ein Nebeneinander von mehr und weniger gebildeter Vollkommenheit. Der Mensch ist als Naturbildung ein Teil dieses Bildungsprozesses. Analog zu den beiden Vollkommenheitsvorstellungen können seine materiell-körperliche Ausbildung und die damit verbundenen geistigen Entwicklungen einerseits als graduelle Bewegung zu einer partikulären Vollkommenheit verstanden werden und andererseits als eingebettet in einen göttlichen Plan der Vollkommenheit, der das Ganze der Natur umfasst. Festhalten lässt sich, dass in der mechanischen Betrachtung der Natur Bildung als prozessuale Vollkommenheitsbewegung eine die menschliche Existenz betreffende Notwendigkeit darstellt. Zudem zeigt sich bereits in diesen frühen Überlegungen die ambivalente Rolle des Menschen. Durch die mittlere Position zwischen geistiger und materieller Vollkommenheit ist er ein Wesen, welches die Möglichkeit der Sünde in sich trägt: Einerseits ist er frei genug, sich von der Lenkung durch materielle Zwänge zu emanzipieren, seine Vernunft zu bemühen und Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, andererseits ist er aber zu gebunden an die körperliche Maschine und ihre Bedürfnisse, um stets vernünftig zu handeln. Eine mechanische Erklärung des Bildungsprozesses kommt an dieser Stelle an ihre Leistungsgrenzen, denn die Handlungen von organischen Lebewesen unterliegen zwar mechanischen Gesetzen, aber nicht ausschließlich. Dieser Grenze ist sich Kant mit Beginn seines Projektes einer philosophischen Erklärung der Naturbildung nach mechanischen Gesetzen bewusst. Die Erzeugung eines Krauts oder einer Raupe könne aus mechanischen Gründen weder deutlich noch vollständig erklärt werden (vgl. NTH, AA 01: 210). Bis sich Kant explizit, begrifflich und ausführlich mit organischer Bildung beschäftigt, dauert es von den bisher vorgestellten Überlegungen der Allgemeinen Naturgeschichte an über drei Jahrzehnte. Diese Überlegungen bilden infolge des mechanischen Kontextes des Bildungsbegriffs das nächste zu betrachtende Bedeutungsfeld. Im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft thematisiert Kant die „Bildung der Natur“ erneut, dieses Mal allerdings unter den theoretischen

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Voraussetzungen seines transzendentalen Idealismus (KU, AA  05: 348). Um diesen Bildungsbegriff einordnen zu können, wird zunächst Kants Absicht, die er mit dieser Schrift verfolgt, im kritischen Gesamtprojekt verortet und allgemein skizziert. Bildung im organischen Kontext der kritischen Naturerforschung (1793): Kants späte Ausführungen über subjektive und objektive Zweckmäßigkeit als Strukturprinzip von Urteilen Die in der ersten Kritik dargelegte Erkenntnislehre nimmt eine scharfe Tren­nung zwischen Gegenständen vor, wie sie uns nach den grundlegenden Erkenntnisformen als Erscheinung vorkommen und unabhängig von diesen Bedingungen als Dinge an sich existieren können. Durch diese von Kant selbst mit der Leistung des auf Kopernikus zurückgehenden Weltbildwechsels verglichene Umkehrung der Perspektive von den Dingen, wie sie sind, zu dem Subjekt als festen Beobachtungspunkt, dem sie erscheinen, eröffnet sich die Möglichkeit, unabhängig von der besonderen Erfahrung Aussagen über Gegenstände und ihre Formen zu tätigen (vgl. KrV: B XVI). Die allgemeinen Bedingungen der Erscheinungen ermöglichen es, Metaphysik als Wissenschaft betreiben zu können. Darüber hinaus wird durch die Trennung von Sinnlichem und Übersinnlichem in separate Zuständigkeits- und Gesetzesbereiche die Möglichkeit für eine erfahrungsunabhängige Theorie der Moral gegeben, die Kant in der zweiten Kritik entwickelt. Doch kommt es durch diese Trennung auch zu dem Problem zweier verschiedener Gebiete der Philosophie: Das Gebiet der Naturbegriffe als dem Sinnlichen und das Gebiet des Freiheitsbegriffs als dem Übersinnlichen (vgl. KU, AA 05: 175f.). Beide Gebiete unterliegen unterschiedlichen Gesetzgebungen. Die Gesetzgebung durch Naturbegriffe wird durch den Verstand vollzogen und ist theoretisch, die durch den Freiheitsbegriff wird von der Vernunft vollzogen und ist praktisch: „Nur allein im Praktischen kann die Vernunft gesetzgebend sein; in Ansehung des theoretischen Erkenntnisses (der Natur) kann sie nur (als gesetzkundig vermittelst des Verstandes) aus gegebnen Gesetzen Schlüsse ziehen, die doch immer nur bei der Natur stehen bleiben.“ (KU, AA 05: 174)

Da mittels des theoretischen Vernunftgebrauchs kein Übergang vom Sinnlichen zum Übersinnlichen möglich sei, scheine es nun, als ob es verschiedene Welten wären. Neben den Erkenntnisvermögen Verstand und Vernunft möchte Kant mit einer Untersuchung der Urteilskraft versuchen, diese Kluft zu überwinden, einen Übergang von Natur und Freiheit zu ermöglichen. Denn für ihn steht fest:

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Kant fragt in seiner dritten Kritik nach dem Grund der Einheit des Übersinnlichen, welcher der Natur zu Grunde liegt. Dieser sei kein eigentümliches Gebiet, sondern ein „Übergang von der Denkungsart“ der Prinzipien der Vernunft zu Prinzipien des Verstandes, vom Prinzip Endzweck zum Prinzip Gesetzmäßigkeit (ebd.). Diesen Übergang ermögliche wenn überhaupt das Erkenntnisvermögen der Urteilskraft mit ihrem Prinzip der Zweckmäßigkeit, welches Kant im ersten Teil der dritten Kritik im ästhetischen und im zweiten Teil im teleologischen Kontext untersucht. Zweckmäßigkeit als Übergangstruktur für die Denkungsarten ist in beiden Teilen somit das zentrale philosophische Thema. Die ästhetische Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur wird von Kant auch als subjektive Zweckmäßigkeit bezeichnet, weil sie dasjenige an der Vorstellung eines Objekts meint, welches sich auf das Subjekt und nicht auf den Gegenstand bezieht. Dass das Geschmacksurteil keinem objektiven Prinzip der Zweckmäßigkeit folgt, beschreibt Kant ausführlich in  §15 und definiert die Beurteilung des Schönen als „formale Zweckmäßigkeit, d.i. eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ (KU, AA 05: 226). Das bedeutet, wenn etwas als schön beurteilt wird, richtet sich diese Entsprechung an einem subjektiven Grund aus als Übereinstimmung der Form des in der Erfahrung gegebenen Gegenstandes mit der Auffassung (apprehensio) derselben vor allen Begriffen. Diese Vorstellung entspricht einer formalen, subjektiven Zweckmäßigkeit, die ihre Darstellung in der Naturschönheit findet. In der Kritik der teleologischen Urteilskraft macht sich Kant auf die Suche nach einer objektiven Zweckmäßigkeit. Wird die Zweckmäßigkeit an einem in der Erfahrung gegebenen Gegenstand als objektiv vorgestellt, stimmt die Form des Gegenstandes mit der Möglichkeit des Dinges selbst überein, und zwar nach einem Begriff von ihm der vorhergeht und den Grund dieser Form enthält. Einen teleologischen Grund führen wir dort an, „wo wir einem Begriffe vom Objecte, als ob er in der Natur (nicht in uns) befindlich wäre, Causalität in Ansehung eines Objects zueignen“ (KU, AA 05: 360). Diese Zweckmäßigkeit betrifft demnach immer eine Reflexionsstruktur über Zusammenhänge in der Natur. Unsere auf einen teleologischen Grund reflektierende Urteilskraft hilft uns dabei, „Verbindungen und Formen der Natur nach Zwecken“ unter Regeln

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zu bringen, „wo die Gesetze der Causalität nach dem bloßen Mechanism derselben nicht zulangen“ (ebd.). Dieses kritische Denken über Zweckmäßigkeit lässt sich als fortgesetztes Reflektieren Kants über die frühen Gedanken der Bildung der Natur nach mechanischen Gesetzen lesen. Die Vollkommenheit als teleologisches Moment der frühen Allgemeinen Naturgeschichte wird nun nicht konstatiert, sondern Zweckmäßigkeit als allgemeines Prinzip der Urteilskraft problematisiert. Der mechanische Bildungskontext mit dem Schwerpunkt Planetenbildung wird in der Kritik der Urteilskraft unter den erkenntnistheoretischen Bedingungen der gesetzgebenden Vernunft und dem gesetzkundigen Verstand durch Konzentration auf eine besondere Materieform ergänzt: die Organismen, die dem Begriff ‚Zweck der Natur‘ objektive Realität verleihen. Diese Argu­ mentation soll mit Schwerpunkt auf die §§64 und 65 dargestellt werden, um den organischen Bildungsbegriff im späten Denken Kants vorzustellen. Organisierte Wesen als Naturzwecke: Die objektive Realität innerer Zweckmäßigkeit als teleologisches Moment organischer Bildung Als Grenze der Erklärung der Naturbildung nach mechanischen Gesetzen wurden bereits auf eine eher intuitiv zu nennende Art und Weise in den frühen Schriften Lebewesen ausgemacht. Eine kritische Begründung dafür findet sich nun in den §§64 und 65 der Kritik der teleologischen Urteilskraft. Das Vermögen, ein Ding als Zweck einzusehen, verlangt die „Causalität seines Ursprungs nicht im Mechanism der Natur, sondern in einer Ursache, deren Vermögen zu wirken durch Begriffe bestimmt wird“ zu suchen (KU, AA  05: 369). Das bedeutet zum einen, die Kausalität des Zwecks ist eine Ergänzung zu mechanischen Erklärungen von Naturdingen und zum anderen, dass Dinge als Zwecke nur durch Begriffe der Vernunft möglich sind. Der Zweckbegriff entspringt der Vernunft und gehört nicht zu den a priori Begriffen des reinen Verstandes. Dadurch ist seine Funktion nicht konstitutiv für die Erkenntnis der Erfahrung, sondern regulativ. Wo in der Allgemeinen Naturgeschichte der göttliche Verstand der Bildung der Natur Vollkommenheit als teleologisches Moment gegeben hat, wird in der Kritik der Urteilskraft das Denken von Dingen als Zwecke überhaupt als gebunden an ein Vernunftvermögen erkannt. Durch seine kritische Konzentration auf die Bedingungen der Möglichkeit unserer Erkenntnis ist Kant nun der Ansicht, dass man sich nicht auf das Dasein einer höchsten Intelligenz als zweckmäßig wirkende Ursache einfach berufen könne. Stattdessen versucht er, in der dritten Kritik zu rechtfertigen, dass es zumindest rechtmäßig sei, die Zweckmäßigkeit der ganzen Natur als systematische Einheit in Bezug auf die regulative Idee einer höchsten

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Intelligenz für die Erforschung der Natur vorauszusetzen. Diese Vernunftleistung kommt einer heuristischen Funktion für die erkenntnistheoretische Erweiterung der Untersuchung einer Natureinheit nach allgemeinen Gesetzen gleich. Kant illustriert das Vorgehen unserer Vernunft an dem Beispiel, wie ein Mensch sich in einem ihm unbewohnt scheinenden Land eine geometrische Figur im Sand erklären würde (vgl. KU, AA  05: 370). Da er dem Begriff der geometrischen Figur vermittelst der Vernunft gewahr wird, würde er vernunftlose Ursachen als Grund der Möglichkeit dieser Figur wie Meeresströmungen, Wind oder Tierabdrücke ausschließen. Die Zufälligkeit erscheine ihm zu groß, einen „solchen Begriffe, der nur in der Vernunft möglich ist“, der mechanisch wirkenden Natur zuzuschreiben (ebd.). So läge der Schluss für ihn nahe, es handele sich bei der Figur im Sand um ein Kunstprodukt, also um eine Wirkung einer ursächlichen Vernunft. Der Mensch würde als Ursache dementsprechend wohl ein anderes vernünftiges Wesen außer ihm auf dieser Insel annehmen. Dieses Beispiel weist auf Kunstprodukte hin, die einer anderen vernünftigen Ursache entsprungen sind. Um jedoch wirklich behaupten zu können, ein Ding existiere zweckmäßig als Naturzweck ohne auf eine ursächliche Vernunftursache, die sich der empirischen Erkenntnis entzieht, zu verweisen, muss eine gewisse Selbstständigkeit vorausgesetzt werden. Wie Kant es am Beispiel der dreifachen Selbstbildung des Baums illustriert, habe ein Ding als Naturzweck von sich selbst Ursache und Wirkung zu sein (vgl. KU, AA  05: 371f.). Dass ein Baum einen anderen erzeuge, dieser die Ursache von jenem sei, ließe sich durch ein Naturgesetz erklären. Da aber der erzeugte Baum von derselben Gattung ist, wie der ihn erzeugende, „so erzeugt er sich selbst der Gattung nach, in der er einerseits als Wirkung, andrerseits als Ursache, von sich selbst unaufhörlich hervorgebracht und eben so sich selbst oft hervorbringend, sich als Gattung beständig erhält“ (ebd.: 371). Zweitens erzeuge sich der Baum auch selbst als Individuum, indem er Materie verstoffwechsele und dadurch wachse. Zwar liegen die materiellen Bestandteile dazu in der Natur außerhalb von ihm vor, wie etwa auch bei der Planetenbildung nach mechanischen Gesetzen, jedoch ist „in der Scheidung und neuen Zusammensetzung dieses rohen Stoffs eine solche Originalität des Scheidungs- und Bildungsvermögens dieser Art Naturwesen anzutreffen“, dass alle Kunst davon unendlich weit entfernt bliebe (ebd.). Und drittens erzeuge sich ein Teil dieses Geschöpfes selbst, so dass „die Erhaltung des einen von der Erhaltung der andern wechselweise abhängt“ (ebd.). So seien zwar die Äste und Blätter Produkte des Baums, aber sie erhalten diesen auch, denn sein Wachstum hänge wiederum von deren Wirkung auf den Stamm ab.

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Der Baum bildet sich in Hinsicht auf die Gattung, seine individuelle Originalität und die wechselseitige Abhängigkeit seiner Teile selbst und ist deswegen nie nur Wirkung, sondern auch selbst Ursache. Soll nun also ein Ding in der Natur sowohl als Naturprodukt als auch als Naturzweck erkannt werden, so muss es sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und Wirkung verhalten. Der Unterschied zwischen mechanischer und organischer Bildung wird dadurch von Kant in der jeweiligen Kausalverbindung verortet. Der Verstand, welcher die Natur nach Gesetzen erklärt, stellt die Verknüpfungen von Ursachen und Wirkungen als Reihe vor, die abwärts in eine Richtung läuft: „Diese Causalverbindung nennt man die der wirkenden Ursachen (nexus effectivus).“ (KU, AA 05: 372) Eine Kausalverbindung, die sich an einem Vernunftbegriff von Zwecken ausrichtet, lässt sich in zwei Richtungen denken. Das Ding, das sich abwärts als Wirkung bezeichnen lässt, würde aufwärts auch Ursache desjenigen Dinges sein können, von welchem es die Wirkung ist: „Eine solche Causalverknüpfung wird die der Endursachen (nexus finalis) genannt.“ (ebd.) Kants Beispiel an dieser Stelle ist das Haus als Ursache der Mieteinnahmen und die antizipierten Mieteinnahmen als Ursache des Hauses. Die Kausalverbindung des nexus effectivus nennt er deswegen auch Verknüpfung nach realen, die des nexus finalis Verknüpfung nach idealen Ursachen. Aus den bisherigen Ausführungen schließt Kant auf zwei Kriterien von Naturzwecken: 1.

Die Teile sind nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich: „Denn das Ding selbst ist ein Zweck, folglich unter einem Begriffe oder einer Idee befaßt, die alles, was in ihm enthalten sein soll, a priori bestimmen muß.“ (KU, AA 05: 373)

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Die Teile verbinden sich zu einer Einheit als Ganzes, indem sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind: „Denn auf solche Weise ist es allein möglich, daß umgekehrt (wechselseitig) die Idee des Ganzen wiederum die Form und Verbindung aller Theile bestimme: nicht als Ursache – denn da wäre es ein Kunstproduct – sondern als Erkenntnißgrund der systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen, was in der gegebenen Materie enthalten ist, für den, der es beurteilt.“ (ebd.)

Obwohl der Begriff Naturzweck objektiv und auf die von uns unabhängige Natur gerichtet ist, zeigen Kants Formulierungen von ‚Begriff‘, ‚Idee‘ und ‚Erkenntnisgrund‘ ihn untrennbar verbunden mit dem erkennenden Subjekt. Während in der Allgemeinen Naturgeschichte der Mensch zumindest implizit aufgrund seines rezeptiven Verstandes eine zentrale Rolle für die Erklärung

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der Naturbildung nach mechanischen Gesetzen einnimmt, so ist er mit seinem vernünftigen Vermögen im abstrakt-formalen Erklären der Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft explizit die Bedingung der Möglichkeit für einen Naturzweck überhaupt. Denn er ist derjenige, der die Dinge der Natur beurteilt und zwar so, dass seine Urteilskraft der Erkenntnisgrund für die Erklärung einer Verknüpfung nach idealen Ursachen ist. Naturzwecke gibt es nur für den vernünftigen Beobachter, der eine wechselseitige Beziehung von Ursache und Wirkung in einem Ganzen feststellen kann. Dieses Vorgehen unserer Vernunft lässt sich jedoch nur rechtfertigen, wenn ein Ding in der Natur bestimmte Voraussetzungen mitbringt, die das Feststellen einer wechselseitigen Kausalverbindung zulassen. Ein Produkt der Natur, welches sich so erklären lässt, dass es zum einen nur durch die anderen Teile und des Ganzen willen existiert und zum anderen auch wechselseitig die anderen hervorbringt, ist ein „organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen“ (KU, AA  05: 374). Kant kontrastiert organisierte Wesen mit der Mechanik einer Uhr, um deren Besonderheit an einem konkreten Beispiel anschaulich zu machen (vgl. ebd.). In einer Uhr sei ebenfalls ein Teil das Werkzeug der Bewegung eines anderen, aber nicht die wirkende Ursache seiner Hervorbringung: „[E]in Theil ist zwar um des andern willen, aber nicht durch denselben da“ (ebd.). Die hervorbringende Ursache der Uhr und ihrer Form liege somit nicht in der Materie, sondern in einem Wesen außer ihr. Zudem könne eine Uhr nicht andere Uhren hervorbringen, indem sie Materie dazu benutze und entsprechend organisiere. Sie könne auch nicht entwendete Teile ausgleichen oder sich selbst ausbessern. Alles das hingegen, ließe sich von der organisierten Natur erwarten, weswegen Kant schließt: „Ein organisirtes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern es besitzt in sich bildende Kraft und zwar eine solche, die sie den Materien mittheilt, welche sie nicht haben (sie organisirt): also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanism) nicht erklärt werden kann.“ (KU, AA 05: 374)

Die besondere Kausalität von organisierten Wesen kennzeichnet sich durch ihre eigene Kraft zur produktiven und originellen Bildung. In der Allgemeinen Naturgeschichte arbeitet Kant bereits an der Selbstständigkeit der Natur, indem er sie von Wundern und dem Eingreifen Gottes mit Blick auf die notwendigen, mechanischen Gesetze der Materie emanzipiert. Mit seiner Erklärung der Organismen, die durch ihre besondere wechselseitige Ursache-WirkungsRelation dem Begriff eines Zwecks der Natur „objective Realität“ verleihen (KU, AA  05: 376), wird die Selbstständigkeit der Natur weiter ausgebaut. Eine Analogie zur Kunst greife durch die bildende Kraft der Organismen zu

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kurz, denn man nehme dabei immer einen Künstler außer der Natur an. Die Natur ist im mechanischen Sinne selbstständig durch die bewegende Kraft der Materie und im organischen Sinne durch die den Organismen innewohnende bildende Kraft: „Sie organisirt sich vielmehr selbst […]“ (ebd.: 374). Dadurch, dass Organismen Zwecken objektive Realität verleihen und sie ein Teil der Natur sind, kann die Natur nicht „zwecklos“ sein oder einem „blinden Naturmechanism“ zugeschrieben werden (ebd.: 376). Zumindest nicht für uns als Menschen, deren Vernunft auch dort nach Erklärungen verlangt, wo sie unser Vermögen überschreiten. Die bildende Kraft der Organismen ist Kants Rechtfertigung einer teleologischen Naturwissenschaft. Um Zwecke in der Bildung der Natur anzunehmen, braucht es nicht mehr die Vollkommenheit des göttlichen Plans, sondern es genügt die bildende Kraft der Organismen sich selbst Ursache und Wirkung zu sein, die durch den vernünftigen Beobachter festgestellt werden kann. Organische Bildung als produktiver und origineller Prozess: Der Mensch als Naturzweck und letzter Zweck der Natur Der Bildungsbegriff im Kontext der teleologischen Urteilskraft stellt Bildung wie bereits in dem mechanischen Bedeutungsfeld der Allgemeinen Naturgeschichte als Prozess in Raum und Zeit dar. Das belegen der Hinweis auf die Erhaltung der Gattung, das Wachstum des Individuums und die fortpflanzende, bildende Kraft. Darüber hinaus wird durch die Betrachtung der Organismen mit ihrer besonderen bildenden Kraft auf die innere Zweckmäßigkeit als Strukturmoment der Bildung aufmerksam gemacht. Bildungen in der Natur können somit auf zwei Arten erklärt werden: Entweder durch die bewegende Kraft der Materie, so erklärt Kant etwa das Entstehen von Bergen aus Sand und Wind, oder durch die bildende Kraft eines Organismus, mit der Materie nicht nur bewegt, sondern organisiert wird. Organisierte Materie weist im Vergleich zu lediglich bewegter eine innere Zweckmäßigkeit auf. In einem Organismus ist nichts umsonst, die Teile bedingen sich selbst und das Ganze als wechselseitige Ursache und Wirkung. Der organische Kontext des Bildungsbegriffs eröffnet zuallererst die Mög­ lichkeit, dem theoretisch denkbaren Zweckbegriff objektive Realität in der Natur zu verschaffen. Nur dadurch lässt es sich rechtfertigen, sich mit einem teleologischen Prinzip der Urteilskraft auszuhelfen, wenn eine Erklärung nicht nach der bloßen Mechanik möglich ist. Naturzwecke als Naturprodukte führen uns Menschen dabei notwendig zu der Idee der Natur als ein System nach den Regeln der Zwecke. Denn unsere reflektierende Urteilskraft führt zu der Maxime: „Alles in der Welt ist irgend wozu gut; nichts in ihr ist umsonst.“ (KU, AA 05: 379) Statt einen Gott vorauszusetzen, der den Bildungen der Natur

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Vollkommenheit verleiht, argumentiert Kant dafür, dass wir als Menschen in Anbetracht der inneren Zweckmäßigkeit von Organismen notwendigerweise Zweckmäßigkeit als regulatives Prinzip für Naturkenntnis voraussetzen dürfen, um in unseren Erklärungen fortzuschreiten, auch wenn das Prinzip einer ursprünglichen Organisation selbst für uns unerforschlich und unbestimmbar ist. Organisierte Wesen, die sich selbst Ursache und Wirkung sind, führen unsere Urteilskraft zu der Frage, wozu etwas da ist. Entweder werden Dasein und Erzeugung eines Dinges dem Ursprung nach in den Mechanismus der Natur gesetzt – dann haben sie „keine Beziehung auf eine nach Absichten wirkende Ursache“ – oder es gibt einen absichtlichen Grund ihres Daseins, weil wir das Produkt eines innerlich zweckmäßigen Organismus nicht anders wie als Zweck denken können (ebd.: 425f.). Als Menschen sind wir somit nicht nur wie Materie allgemein notwendigerweise mechanischen Gesetzen unterstellt, sondern als organische Wesen immer auch ein Produkt der Epigenesis (vgl. KU, AA 05: 423). Das bedeutet, der Mensch als Organismus ist wie alle lebendigen Wesen als Naturzweck nicht nur gesetzmäßig hervorgebracht, sondern produktiv und originell hervorbringend. Er teilt mit anderen Organismen die Eigenschaft, sich selbst als Gattung und Individuum zu bilden. Doch das, was der Mensch hervorbringt, unterliegt im Vergleich zu anderen Organismen nicht ausschließlich einer zweckmäßigen Anlage, die seine spezifische Form präformiert. Er kann sich nicht nur als Naturzweck erkennen, sondern als der letzte Zweck der Natur auf dieser Erde. Denn er kann fragen, wozu der fruchtbare Boden, pflanzenverzehrende Tiere und Raubtiere da sind, und sich folgende Antwort geben: „Für den Menschen, zu dem mannigfaltigen Gebrauche, den ihm sein Verstand von allen jenen Geschöpfen machen lehrt; und er ist der letzte Zweck der Schöpfung hier auf Erden, weil er das einzige Wesen auf derselben ist, welches sich einen Begriff von Zwecken machen und aus einem Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen kann.“ (KU, AA 05: 426f.)

In dem Vorhandensein von Naturzwecken findet Kant eine Anschlussmöglichkeit in der Natur für unser praktisches Vermögen der Vernunft, Zwecke zu setzen. Ein in Hinblick auf die Naturdinge als System von Zwecken gewissermaßen architektonischer Zweck ist es, den Mensch mit seiner reflektierenden Urteilskraft als letzten Zweck der Natur zu setzen (vgl. KU, AA 05: 429). Kant nennt zwei Möglichkeiten dafür, was im Menschen selbst anzutreffen sei und „als Zweck durch seine Verknüpfung mit der Natur befördert werden soll“ (ebd.: 429f.). Ein solcher Zweck richte sich entweder darauf, dass der Mensch durch die Natur befriedigt werden kann, oder auf die „Tauglichkeit

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und Geschicklichkeit, wozu die Natur (äußerlich und innerlich) von ihm gebraucht werden kann“: „Der erste Zweck der Natur würde die Glückseligkeit, der zweite die Cultur des Menschen sein.“ (ebd.) Im weiteren Verlauf des §83 argumentiert Kant dafür, dass die Glückseligkeit nicht als Naturzweck in Frage käme. Zum einen sei dieser Begriff selbst so unbestimmt, dass er nicht zum allgemeinen Gesetz tauge, zum anderen sei auch die Natur selbst nicht so wohltätig zum Menschen, um dessen Glückseligkeit als Zweck anzusehen. Weder sind die äußerlichen Bedingungen dafür geeignet, wie Pest, Hunger, Wassergefahr oder Frost, noch die innerlichen Bedingungen der widersinnigen Naturanlage, die zu Herrschaft, Barbarei und Krieg führen. Von allen Zwecken in der Natur bleibe nur die formale, subjektive Bedingung als Zweck übrig, die menschliche Tauglichkeit, „sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen“ und „die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen als Mittel zu gebrauchen“ (ebd.: 431). Er schließt: „Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Cultur. Also kann nur die Cultur der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache hat […].“ (KU, AA 05: 431)

Der durch die innere Zweckmäßigkeit von Organismen objektive Realität gewonnene Zweckbegriff in der Natur, der die teleologische Urteilskraft als regulatives Prinzip rechtfertigt, führt zu der besonderen Rolle des Menschen in der Natur als letzter Zweck. Seine organische Bildung führt wie bei anderen Lebewesen notwendig zu einer produktiven und originellen Selbstbildung. Durch sein besonderes Vermögen der Vernunft, welches ihm erlaubt sich als letzten Zweck der Natur zu setzen, lässt sich erahnen, dass seine selbsttätige Bildung besonderen Bedingungen unterliegt. Kants Hinweis auf die Kultur als letzten Zweck, den der Mensch in der Natur verwirklichen soll, zeigt an, dass für die Bildung des Menschen das in seiner Natur angelegte Vermögen, sich selbst Zwecke zu setzen, die zentrale Funktion einnimmt. Nach der bereits dargestellten Bedeutung der mechanischen und organischen Bildung der Natur, in die auch der Mensch notwendigerweise eingebettet ist, soll nun das spezifisch menschliche Bedeutungsfeld des Bildungsbegriffs untersucht werden. Die Bildung im pädagogischen, rechtlichen und kulturellen Kontext menschlicher Weltkenntnis: Die ‚Bildung des Menschen‘ in den frühen pädagogischen Schriften (1765/66 und 1776/77) Kant widmet sich in seinen Überlegungen fragmentarisch sowohl in den vorkritischen als auch den kritischen Schriften der spezifisch menschlichen Bildung. Er behandelt dementsprechend allgemein die „Bildung der Menschen“

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(AP, AA 02: 451; RGV, AA 06: 176), die „Bildung der Jugend“ (SF, AA 07: 92) oder die „Bildung des Kindes“ (MS, AA 06: 281). Zumeist differenziert er diesen Prozess nach den jeweiligen Fähigkeiten oder Bereichen, die sich bilden oder gebildet werden sollen. Er adressiert dabei etwa die „Bildung der Denkungsart“ der Bürger aus Perspektive eines Staates (IaG, AA 08: 26), die „Bildung eines Talents“ (KrV: B 737), die „Bildung und Cultur des Geschmacks“ (KU, AA 05: 170) oder spricht von „wissenschaftlicher und sittlicher Bildung“ (Anth, AA 07: 226) und „moralischer Bildung und Übung“ (KpV, AA 05: 161). Wie die folgende Textanalyse herausstellen wird, betrifft Kants Bildungsdenken in Bezug auf den Menschen vorwiegend die Bedingungen konkreter menschlicher Bildung in der Welt. Es handelt sich um philosophische Betrachtungen, die sich auf die tatsächlichen pädagogischen, rechtlichen und kulturellen Kontexte des Menschen beziehen. Die erste schriftliche Verwendung des Bildungsbegriffs in einem spezifisch pädagogischen Kontext findet sich in der Vorlesungsankündigung zum Wintersemester 1765-66. Wie bereits ausführlich in der Rekonstruktion seines Unterrichts als Form der Erziehung dargestellt wurde, diskutiert Kant hier die Einrichtung seiner Vorlesungen und präsentiert didaktisch zu nennende Überlegungen (vgl. 124ff.). Dabei setzt er sich als Lehrer für seine Logikvorlesungen die „Cultur der feineren und gelehrten Vernunft“ und die „Bildung des zwar gemeinen, aber thätigen und gesunden Verstandes“ zum Ziel (NEV, AA  02: 311). Der Kontext, in dem unter diesen Bedingungen menschliche Bildung geschildert wird, entspricht nicht den umfassenderen, mechanischen oder organischen Bildungsvorgängen der Natur, sondern betrifft explizit den Entwicklungsprozess menschlicher Fähigkeiten durch den Menschen. Neben dem Bedeutungsfeld der Naturbildung zeigt sich somit in Kants Schriften bereits früh der Bildungsbegriff in seiner etymologisch jüngeren, pädagogischen Bedeutung. In diesem pädagogischen Kontext werden primär die geistigen Vermögen der Vernunft und des Verstandes adressiert. Eine Unterweisung von jüngeren Schülern durch ältere Lehrer stünde hierbei vor dem Problem, der natürlichen Entwicklung vorzugreifen: Der Lehrer werde in seinem unterweisenden Handeln dazu genötigt, „mit der Einsicht den Jahren vorzueilen“ und „ohne die Reife des Verstandes abzuwarten, solche Erkenntnisse“ zu erteilen, „die nach der natürlichen Ordnung nur von einer geübteren und versuchten Vernunft“ begriffen werden könnten (NEV, AA  02: 305). Das könne neben frühkluger Geschwätzigkeit zu hartnäckigen Vorurteilen in Schulen führen. Für Kant ist dieses Problem durch die Entwicklung der bürgerlichen Verfassung nicht gänzlich zu vermeiden. Denn diese sorge dafür, dass „feinere Einsichten zu den Mitteln des Fortkommens gehören und Bedürfnisse werden, die ihrer Natur

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nach eigentlich nur zur Zierde des Lebens und gleichsam zum EntbehrlichSchönen“ gezählt werden sollten (vgl. ebd.). Die durch Menschen entwickelten, bürgerlichen Umstände erheben gewisse Erkenntnisse zu Mitteln der Weiterentwicklung und lassen sie zu einem Bedürfnis werden, obgleich sie selbst Produkte menschlichen Handelns sind und nicht der Natur entspringen. Diese Handlungsweisen sind demnach nicht notwendig, sondern werden lediglich aufgrund des momentanen, gesellschaftlichen Zustandes dafür gehalten. Auch wenn sich dieses Problem nicht verhindern lasse, sondern einen Teil der Entwicklung der Menschen darstelle, empfiehlt Kant für den öffentlichen Unterricht die Natur als Korrektiv: „Indessen ist es möglich den öffentlichen Unterricht auch in diesem Stücke nach der Natur mehr zu bequemen, wo nicht mit ihr gänzlich einstimmig zu machen. Denn da der natürliche Fortschritt der menschlichen Erkenntniß dieser ist, daß sich zuerst der Verstand ausbildet, indem er durch die Erfahrung zu anschauenden Urtheilen und durch diese zu Begriffen gelangt, daß darauf diese Begriffe in Verhältniß mit ihren Gründen und Folgen durch Vernunft und endlich in einem wohlgeordneten Ganzen vermittelst der Wissenschaft erkannt werden, so wird die Unterweisung eben denselben Weg zu nehmen haben. Von einem Lehrer wird also erwartet, daß er an seinem Zuhörer erstlich den verständigen, dann den vernünftigen und endlich den Gelehrten bilde.“ (NEV, AA 02: 305)

Der Mensch solle sich als Lehrer für die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten seiner Schüler an der natürlichen Entwicklung orientieren und nicht an gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Dadurch scheint das mögliche Abweichen von der Natur verhindert werden zu können, welches die bürgerliche Verfassung evoziert. Die Natur gilt als Korrektiv, um das Entbehrlich-Schöne vom Relevanten in dem jeweiligen bürgerlichen Erkenntnisstand zu unterscheiden. Zudem verdeutlicht das von Kant hier beschriebene Problem der Unterweisung, dass Menschen in ihrer Bildung stets voneinander abhängen. Das Lernen junger Menschen von älteren Lehrern mit einer geübteren Vernunft ist notwendig, ermöglicht aber Abweichungen vom natürlichen Fortschritt der menschlichen Erkenntnisse. Eine andere pädagogische Schrift, die im historischen Kontext des Unterrichts als Nachweis über Kants Einsatz für das Philanthropin herangezogen wurde (vgl. S. 153ff.), bestätigt Kants Empfehlung, sich für die Bildung des Menschen an der Natur zu orientieren und die Abhängigkeit von den Handlungen anderer in diesem Ausbildungsprozess. In seinen Aufsätzen zum Philanthropin bezieht sich Kant auf Forderungen nach einem konkreten, pädagogischen Fortschritt und kritisiert den gegenwärtigen Zustand der Erziehung und Ausbildung. Zwar würde es „nicht an Erziehungsanstalten und

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an wohlgemeintem Fleiße der Lehrer“ fehlen, doch seien „sie insgesammt im ersten Zuschnitte verdorben“ (AP, AA 02: 449). Den Grund dafür verortet Kant darin, dass der Bildungs- und Erziehungsprozess der Natur entgegenarbeite. Denn diese habe die Anlage dazu gegeben, „das Gute aus dem Menschen“ zu bringen (ebd.). Da Menschen als „thierische Geschöpfe nur durch Ausbildung zu Menschen gemacht werden“, sieht Kant die Chance für einen pädagogisch bewirkten Umschwung darin, die Erziehungsmethode „weislich aus der Natur selbst“ zu ziehen, statt sie gewohnheitsmäßig von unerfahrenen Zeitaltern „sklavisch“ nachzuahmen (ebd.). Um die Schulen durch „eine schnelle Revolution“ zu verbessern, bedarf es einer Neuanordnung nach eben dieser „ächten Methode“ (ebd.). Dadurch würden die Lehrer „eine neue Bildung annehmen“ und somit ihren Zöglingen die Chance eröffnen, „sich nach der wahren Erziehungsmethode zu Lehrern zu bilden“ (ebd.: 449f.). Als Beispiel führt Kant für die von ihm als natürliche Erziehungsmethode empfohlene Verbesserungsmöglichkeit das Dessauische Institut an. Zwar finden sich keine konkreten Ausführungen, worin die Methode zur Beförderung des Guten im Menschen genau bestehe, aber Kants Aufsätze, das Philanthropin betreffend bestätigen wesentliche Punkte der etwa zehn Jahre zuvor verfassten pädagogischen Überlegungen der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen. Es ergeben sich erste Konturen seines Denkens über die Bildung des Menschen: 1. Um zum Menschen zu werden, bedarf der Mensch einer Ausbildung. 2. Diese Ausbildung hängt von den Handlungen anderer Menschen ab. 3. Dadurch werden Fehler ermöglicht, für welche die Natur ein Korrektiv bietet.

Um Kants Beschreibung der Bildung des Menschen und seine Gründe dafür genauer nachzuvollziehen, sollen die aufgedeckten Konturen im pädagogi­ schen Kontext durch die Argumente und Details aus dem rechtlichen Kontext der Metaphysik der Sitten und dem kulturellen Kontext der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht geprüft und ergänzt werden. Auch wenn dabei bereits die Erziehung des Menschen zur Sprache kommt, liegt der Schwerpunkt der Analyse noch auf der Exegese des allgemeinen Bildungsprozesses als Grundlage für die später zu klärende Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten von Erziehung. Die Bildung im Kontext der Rechtslehre (1797): Die elterliche Pflicht der Bildung ihrer Kinder als Personen und Weltbürger Nicht nur für das pädagogische Verhältnis von Lehrern zu ihren Schülern findet sich bei Kant der Hinweis darauf, dass Bildung für Menschen ein notwendiger

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Prozess ist, in dem sie auf die Handlungen anderer angewiesen sind. Aufgrund seiner natürlichen Beschaffenheit bedarf der Mensch zu Beginn seines Lebens zunächst immer der Sorge und Pflege anderer Menschen. Bevor er für seine Bildung selbst verantwortlich sein kann, kommt diese Aufgabe seinen Eltern zu. Dementsprechend sieht Kant in seiner Rechtslehre zunächst die Eltern in der Verantwortung für die Bildung ihrer Kinder. Da die Eltern der kausale Grund für die Erzeugung ihrer Kinder sind, haben „Kinder als Personen“ für Kant „ein ursprünglich-angeborenes (nicht angeerbtes) Recht auf ihre Versorgung durch die Eltern, bis sie vermögend sind, sich selbst zu erhalten“ (MS, AA  06: 280). Den  §§ 28-30 der Metaphysik der Sitten lässt sich entnehmen, dass obwohl Kinder noch nicht mündig und ihre eigenen Herren sind, sie rechtlich dennoch bereits qua Geburt als Person gelten, da sie mit Freiheit begabte Wesen sind. Um diese Feststellung nachzuvollziehen, bedarf es einer genauen Definition der Begriffe Freiheit und Person. Kant definiert sie in der Einleitung als Vorbegriffe seiner Metaphysik der Sitten, deren erster Teil die angesprochene Rechtslehre bildet. Während Freiheit in der theoretischen Philosophie ein transzendenter Begriff sei, „dem kein angemessenes Beispiel in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden“ könne und der deswegen nur als „regulatives“ und „negatives Prinzip der spekulativen Vernunft“ gelte, beweise der Freiheitsbegriff im praktischen Gebrauch seine „Realität durch praktische Grundsätze“ (MS, AA 06: 221). Diese praktischen Grundsätze als Gesetze bilden eine von allen empirischen Bedingungen unabhängige „Kausalität der reinen Vernunft“, die unsere Willkür bestimmen und einen „reinen Willen in uns“ beweisen könne (ebd.). Dieser positive Begriff der Freiheit ist der Ursprung von sittlichen Begriffen und Gesetzen. Praktische Freiheit bildet damit die Grundlage der für beide Teile der Metaphysik der Sitten zentralen Begriffe. Der Begriff der Person lässt sich ebenfalls nur in Bezug zur praktischen Freiheit erklären: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind.“ (MS, AA 06: 223) Um eine Handlung einem Subjekt zurechnen zu können, müsse man es nach der „Freiheit seiner Willkür“ betrachten (ebd.). Sein Handeln stehe dann „unter Gesetzen der Verbindlichkeit“, es werde „als Urheber der Wirkung betrachtet, und diese, zusamt der Handlung selbst, können ihm zugerechnet werden“ (ebd.). Da Sachen zwar Objekte der freien Willkür sein können, ihnen jedoch Freiheit fehle, sind sie keiner Zurechnung fähig (vgl. ebd.). Handlungen von Personen basieren hingegen auf einem „Act der Freiheit des handelnden Subjects“ und sind nicht lediglich eine Wirkung der Natur (MS, AA  06: 385). Ein Zweck ist für Kant ein „Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt (wodurch jener hervorgebracht wird)“ (ebd.: 384). Mittels der

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Freiheit stellt sich der Mensch unabhängig von den Wirkungen der Natur einen Zweck vor, bestimmt dadurch seine Willkür und bringt ihn durch seine Handlung hervor. In der Metaphysik der Sitten behandelt Kant keine Zwecke, „die der Mensch sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur macht“, sondern spricht von „Gegenständen der freien Willkür“ unter Gesetzen, welche der Mensch sich zum Zweck machen soll (ebd.: 385). Die mit praktischer Freiheit selbstgewählten Zwecke folgen einer normativen Gesetzmäßigkeit. In diesem Zusammenhang stellt der elterliche „Act der Zeugung“ ihrer Kinder eine „That“ dar (MS, AA  06: 281). Diese bezeichnet eine Handlung unter Gesetzen der Verbindlichkeit und betrachtet die Eltern als Subjekte mit freier Willkür (vgl. ebd.: 223). Da ihnen als Urheber der Tat diese und ihre Wirkung zugerechnet werden können, geht eine Verbindlichkeit damit einher: Die elterliche „Pflicht der Erhaltung und Versorgung“ ihrer Kinder (ebd.: 280). Sie können ihr Kind weder zerstören, noch dem Zufall überlassen, „weil an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern auch ein Weltbürger in einen Zustand herüber gezogen“ wurde, der ihnen nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein könne (ebd.: 281). Was das Kind von Beginn an zu mehr als einem Weltwesen, nämlich zu einem Weltbürger macht, ist seine Freiheitsbegabung. Diese begründet sein Handeln als prinzipiell unter Gesetzen der Verbindlichkeit stehend, welches ihm zusammen mit den Wirkungen als Urheber zugerechnet werden kann. Bis das Kind dazu selbstständig in der Lage ist, entspringt aus der elterlichen Pflicht: „nothwendig das Recht der Eltern zur Handhabung und Bildung des Kindes, so lange es des eigenen Gebrauchs seiner Gliedmaße, imgleichen des Verstandesgebrauchs noch nicht mächtig ist, außer der Ernährung und Pflege es zu erziehen und sowohl pragmatisch, damit es künftig sich selbst erhalten und fortbringen könne, als auch moralisch, weil sonst die Schuld ihrer Verwahrlosung auf die Eltern fallen würde, – es zu bilden“ (MS, AA 06: 281).

Als Personen und Weltbürger sind Kinder mit Freiheit begabte Wesen. Das bedeutet, sie haben Zugang zu der Kausalität der reinen Vernunft, durch die sie ihre Willkür bestimmen können. Ihr Handeln steht dadurch unter Gesetzen der Verbindlichkeit und kann ihnen zugerechnet werden, zumindest potenziell und zukünftig. In einer Fußnote gibt Kant ein Argument, durch welches ein Widerspruch zwischen Freisein und Freiwerden an dieser Stelle vermieden werden kann (vgl. MS, AA 06: 280). Seine Ausführung betrifft zwar die Möglichkeit der Schöpfung freier Wesen allgemein, erlaubt aber in Zusammenhang mit den Kindern folgenden Schluss: Während sie in moralisch-praktischer Hinsicht unter nicht sinnlichen Verhältnissen der Kategorie nach frei sind, unterliegt

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ihr Handeln im Verhältnis zu Sinnenobjekten der Zeitbedingung. Durch die tatsächliche Zeitbedingung der Kausalität realer, menschlicher Handlungen nehmen sie somit einen besonderen Status in den gesetzlichen Verbindlichkeiten ein: Denn realiter sind sie zunächst Objekte der freien Willkür ihrer Eltern bis sie ihre Freiheit gänzlich selbstständig gebrauchen können und einer Zurechnung fähig sind. Solange ein Mensch aufgrund seines Entwicklungsstadiums noch nicht körperlich und geistig selbst für sein Verhalten die ganze Verantwortung übernehmen kann, haben die Eltern die Pflicht und das Recht dazu. Neben Maßnahmen für die Erfüllung körperlicher Bedürfnisse, der Ernährung und Pflege, sollen sie ihr Kind erziehen und bilden. Bei dieser Erziehung, die Kant hier und an anderen Stellen mit Bildung sachlich überschneidend verwendet,39 unterscheidet er zwei Hinsichten. Die pragmatische Bildung soll dafür sorgen, das Kind dazu zu befähigen, dass es sich künftig selbst erhalten und weiterbilden, also fortbringen kann. Die moralische Bildung wird hier nicht positiv beschrieben, sondern lediglich negativ: Würde sie fehlen, hätten die Eltern die moralische Verwahrlosung ihrer Kinder zu verantworten. Bis zu der „Zeit der Entlassung (emancipatio)“ sind die Eltern für die pragmatische und moralische Bildung ihrer Kinder verantwortlich (MS, AA  06: 281). Für den dazugehörigen Aufwand an „Verpflegung und Mühe“ sieht Kant keine rechtliche Verbindlichkeit der Kinder gegenüber ihren Eltern (ebd.). Für und nach „vollendeter Erziehung“ könne bloß die Dankbarkeit als Tugendpflicht in Anschlag gebracht werden (ebd.). Mit der „Gelangung zu dem Vermögen ihrer Selbsterhaltung“ endet für die Kinder durch ihre „natürliche Volljährigkeit“ die Abhängigkeit von den Eltern: Sie sind für Kant in der hier eingenommenen rechtlichen Perspektive nun „mündig (maiorennes), d.i. ihre eigenen Herren (sui iuris)“ (ebd.). Wie Kants Beschreibung der pragmatischen und moralischen Bildung zeigt, bedeutet das Ende dieser Abhängigkeit zwar das Ende der elterlichen Erziehung, aber kein Ende der Bildung des Menschen. Durch die Erziehung soll der nun mündige Mensch befähigt worden sein, sich selbst fortbringen zu können. Neben der Selbsterhaltung weist dieses Fortbringenkönnen auf eine 39

Während mittlerweile Bildung und Erziehung als zu unterscheidende pädagogische Termini verwendet werden, weist Louden (2015: 294) Bildung bei Kant als „Bezeichnung für den Gesamtprozess geistiger Formung“ aus, der sich mit den Begriffen Kultur, Erziehung und Moralisierung überschneidet und mit ihnen sachlich verknüpft ist. Koch (2015a: 576) weist darauf hin, dass Kant Erziehung und die damit verbundenen Aufgaben nicht genau vom Bildungsbegriff abgrenzt, sondern diesen zur näheren Erläuterung verwendet.

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fortzusetzende Entwicklungsmöglichkeit hin. Mit dem Ende des elterlichen Rechts zur Handhabung und Bildung enden somit weder Handhabung noch Bildung in der konkreten, zeitabhängigen und sinnlichen Welt, sondern es verschiebt sich lediglich die zuständige Zurechenbarkeit für diese Handlungen: Bis zur körperlichen und geistigen Selbstständigkeit sind die Eltern für die Bildung des Kindes verantwortlich und ab diesem Zeitpunkt das mit Freiheit begabte Wesen selbst. Um den Zeitpunkt der Volljährigkeit festzusetzen, verweist Kant auf die Natur. Die natürliche Beschaffenheit des Menschen fungiert somit auch in diesem Zusammenhang als orientierende Grundlage für den Bildungsprozess. Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798): Kultur als Schule des Menschen, letzter Zweck in der Welt zu sein Weitere Details über die pragmatische und moralische Bildung sowie die Ausbildung des Menschen lassen sich der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht entnehmen. Generell ist diese Schrift für Kants Bildungsdenken eine wichtige Quelle. Zum einen ist sie das schriftliche Ergebnis von seinem auf Weltkenntnis abzielenden Unterrichtsfach der Anthropologie. Er gibt in seiner Vorrede an, es sei das „gegenwärtige Handbuch“ seiner anthropologischen Vorlesungen (Anth, AA  07: 122). Zum anderen enthält sie eine „Lehre von der Kenntniß des Menschen“ in pragmatischer Hinsicht, die den Menschen hinsichtlich dessen behandelt, „was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll“ (ebd.: 119). Kant scheint hier demnach genau die Bedingungen des Bildungsprozesses zu untersuchen, dessen Gestaltung der Mensch als mit Freiheit begabtes Wesen selbst zu führen hat. Denn die pragmatische Anthropologie untersucht die „Erkenntniß des Menschen als Weltbürgers“ (ebd.: 120); also genau dasjenige Kriterium des Menschen, welches Kant für die Begründung der elterlichen Pflicht zur Erziehung und Bildung ihrer Kinder anführt. Wie bereits in Zusammenhang mit der organischen Bildung in der Kritik der Urteilskraft geschildert, ist der Mensch laut Kant nicht nur wie andere Organismen innerlich zweckmäßig verfasst, sondern kann durch sein Vermögen sich Zwecke zu setzen auch die Rolle des letzten Zwecks der Natur einnehmen. Als „Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit)“ ließe sich deswegen die Kultur als letzter Zweck annehmen, den die Natur in Bezug auf die Menschengattung verfolge (KU, AA  05: 431). Die Vorrede zur Anthropologie weist zu diesem speziellen Vermögen der Zwecksetzung einen Bezug auf: „Alle Fortschritte der Cultur, wodurch der Mensch seine Schule macht, haben das Ziel, diese erworbenen Kenntnisse und Geschicklichkeiten zum Gebrauch

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für die Welt anzuwenden; aber der wichtigste Gegenstand in derselben, auf den er jene verwenden kann, ist der Mensch: weil er sein eigener letzter Zweck ist. – Ihn also seiner Species nach als mit Vernunft begabtes Erdwesen zu erkennen, verdient besonders Weltkenntniß genannt zu werden, ob er gleich nur einen Theil der Erdgeschöpfe ausmacht.“ (Anth, AA 07: 119)

Der Mensch lernt durch ‚Fortschritte der Kultur‘, sein Wissen und sein Können in der Welt zu gebrauchen. Der wichtigste Gegenstand dieses angewandten Lernens ist der Mensch, weil er sein eigener letzter Zweck ist. Der Mensch ist somit nicht nur in der Erforschung des Naturgeschehens letzter Zweck, sondern auch für sich selbst: Was er in einem fortschreitenden Lernprozess der Kultur aus sich macht, ist sein letzter Zweck. Dieses Machenkönnen bezieht sich auf ein Lernen, das Wissen und Können als Leistung der Spezies versteht. Es geht demnach um die Möglichkeit, was Menschen aus sich als Gattung realiter machen; den letzten Zweck, den sie gemeinsam in ihrem Fortschreiten erreichen können und sollen. Wie Kant feststellt, sei es schwer, in den Erkenntnissen über das, was der Mensch aus sich macht und machen soll, zu einer „Wissenschaft mit Gründlichkeit“ zu gelangen (Anth, AA  07: 120). Erstens würden sich Menschen verstellen, wenn sie bemerken, dass sie beobachtet und erforscht werden. Zweitens stehe sogar die Selbsterforschung insbesondere im unverstellten „Zustand im Affect“ vor dem Problem, „daß wenn die Triebfedern in Action sind, er sich nicht beobachtet, und wenn er sich beobachtet, die Triebfedern ruhen“ (ebd.: 121). Zudem erschweren die durch Ort und Zeitumstände bewirkten „Angewöhnungen, die wie man sagt, eine andere Natur sind“, dem Menschen das Urteil darüber, wofür er sich und die anderen, mit denen er agiert, halten solle (ebd.). Menschen können sich verstellen und unterliegen in ihren Beobachtungen und Urteilen Einschränkungen, sowohl durch ihre innerliche Beschaffenheit als auch durch Ort und Zeit bedingte Angewöhnungen. Wie bereits im Kontext der pädagogischen Bildung erwähnt Kant hier die gesellschaftlichen Umstände als Problem für die Grundlage der Bildung des Menschen: Indem sie wie eine andere Natur eine Notwendigkeit implizieren, die tatsächlich keine ist, erschweren sie dem Menschen ein Urteil über das, wofür er sich und andere halten soll. Obgleich er sich dieser Schwierigkeiten bewusst ist, hält Kant die Anthropologie für gemeinnützig und versucht sie mit seiner systematischen und dennoch populären Analyse in ihrem Wachstum als Wissenschaft zu befördern und zu beschleunigen (vgl. Anth, AA 07: 121f.). Er unterscheidet dafür zwei Teile. In der anthropologischen Didaktik widmet er sich der Frage, wie man das Innere und Äußere des Menschen erkennen könne. Hier beschreibt er das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust sowie das Begehrungsvermögen.

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Im zweiten Teil, der anthropologischen Charakteristik, geht es um die Frage, wie sich das Innere des Menschen aus dem Äußeren erkennen ließe. Dabei untersucht Kant den Charakter der Person, des Geschlechts, des Volks, der Rasse und der Gattung. In pragmatischer Hinsicht habe der Begriff des Charakters zwei Bedeu­ tungen. Entweder er bezeichne „diesen oder jenen (physischen) Charakter“ und beziehe sich somit auf ein Unterscheidungskriterium des Menschen als sinnliches Naturwesen (Anth, AA 07: 285). Oder er meine, dass der Mensch „überhaupt einen Charakter (einen moralischen)“ habe und verweise damit auf ihn als ein vernünftiges, mit Freiheit begabtes Wesen (ebd.). Das Charakteristische ließe sich einteilen in „Naturell oder Naturanlage“, „Temperament oder Sinnesart“ sowie „Charakter schlechthin oder Denkungsart“ (ebd.). Während die beiden ersten Anlagen anzeigen, „was sich aus dem Menschen machen läßt“, zeige die letzte, „was er aus sich selbst zu machen bereit ist“ (ebd.). Wichtig ist, dass beide Charakterbegriffe zwar auf ein Inneres verweisen, welches sich aber an einem Äußeren erkennen lässt: Sowohl der physische Charakter als allgemeines Kriterium des Machbaren als auch der moralische Charakter als individueller Bereitschaftsgrad dazu beziehen sich auf eine praktikable Verwirklichung verschiedener Anlagen in der Welt. Das Kapitel über den Gattungscharakter wird nun näher untersucht, da es eine Beschreibung der Ausbildung des Menschen enthält. Perfektionierung der Rohigkeit: Die Ausbildung des Menschen als Kultivieren, Zivilisieren und Moralisieren Allgemein zählt Kant den Menschen unter den obersten Gattungsbegriff „eines irdischen vernünftigen Wesens“ (Anth, AA  07: 321). Um etwas über seinen Charakter, also den eigentümlichen Unterscheidungsgrund anzugeben, stehe man vor dem Problem, dass es zwar in der Erfahrung irdische unvernünftige Wesen zum Vergleich gebe, aber nicht-irdische vernünftige Wesen sich als Mittelbegriff der Vergleichung unserer Erfahrung entziehen. Soll der Mensch im „System der lebenden Natur“ charakterisiert werden, bleibt nur folgender Ausgangspunkt übrig: „[D]aß er einen Charakter hat, den er sich selbst schafft, indem er vermögend ist, sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfectioniren; wodurch er als mit Vernunftfähigkeit begabtes Thier (animal rationabile) aus sich selbst ein vernünftiges Thier (animal rationale) machen kann“. (Anth, AA 07: 321)

Der Charakter der Gattung wird von Kant als Selbsttätigkeit definiert, sich nach selbst gesetzten Zwecken zu perfektionieren. Dieses Perfektionieren

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besteht darin, aus einem Wesen in der Welt mit Begabung zur Vernunftfähigkeit ein vernünftiges Wesen zu machen. Die Realisation der Vernunft als Perfektionieren nach selbst gesetzten Zwecken betrifft durch den Weltbezug der pragmatischen Anthropologie nicht nur einen innerlichen Vorgang. Da Kant das Perfektionieren als Charakter der Gattung beschreibt, bezieht er sich allgemein auf die Erkenntnis des Inneren anhand des Äußeren. Auch die Fortsetzung des Perfektionsprozesses macht dies deutlich. Den herzustellenden Zustand als vernünftiges Tier beschreibt Kant als Lage des Menschen: „wo er dann: erstlich sich selbst und seine Art erhält, zweitens sie übt, belehrt und für die häusliche Gesellschaft erzieht, drittens sie als ein systematisches (nach Vernunftprincipien geordnetes), für die Gesellschaft gehöriges Ganze regiert“ (Anth, AA 07: 321f.).

Die Selbst- und Arterhaltung, die Übung, Belehrung und Erziehung der häuslichen Gesellschaft sowie das Regieren der Gesellschaft als systematisches Ganzes sind äußerlich beobachtbare Ausdrücke der Selbstperfektionierung des Menschen nach selbstgesetzten Zwecken in der Welt. Sie sind der äußerlich ablesbare Charakter der Gattung. Das selbstständige Perfektionieren des Menschen ist durch die vernünftige Zwecksetzung selbstgeschaffen. Jedoch verweist Kant darauf, dass dieser Charakter der Menschengattung durch die Natur bedingt ist. Die Natur habe „den Keim der Zwietracht“ in die Menschengattung gelegt und gewollt, dass die Menschen mittels ihrer eigenen Vernunft „aus dieser diejenige Eintracht, wenigstens die beständige Annäherung zu derselben“ herausbringen (Anth, AA  07: 322). Diese Eintracht sei in der Idee der Zweck und die Zwietracht im Plan der Natur das Mittel „einer höchsten uns unerforschlichen Weisheit“ für das Bewirken der „Perfectionirung des Menschen durch fortschreitende Cultur“ (ebd.). Menschliche Zwecksetzung erscheint hier eingebettet in einen Plan der Natur, der einer uns unerforschlichen, höchsten Weisheit folgt. Auch die charakteristischen Anlagen des Menschen kommen ihm von Natur aus und damit notwendig zu: die technische Anlage zur Handhabung der Sachen, die pragmatische Anlage, andere Menschen geschickt zu gebrauchen, und die moralische Anlage unter Freiheitsgesetzen gegen sich und andere zu handeln (vgl. ebd.). Kant bezeichnet sie auch als Stufen, die jeweils bereits für sich genommen, den Menschen von den übrigen Naturwesen unterscheiden können. In Hinsicht auf die technische Anlage würden bereits die Gestalt und Organisation der menschlichen Hand, ihrer Finger und Fingerspitzen ihn als ein vernünftiges Tier charakterisieren. Denn durch diesen Bau und das zarte Gefühl habe „die Natur ihn nicht für Eine Art der Handhabung der Sachen,

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sondern unbestimmt für alle, mithin für den Gebrauch der Vernunft geschickt gemacht“ (Anth, AA 07: 323). Die „pragmatische Anlage der Civilisirung durch Cultur“, zu der Umgangseigenschaften und der Hang zählen, in gesellschaftlichen Verhältnissen ein gesittetes „zur Eintracht bestimmtes Wesen“ zu werden, bilden eine höhere Stufe menschlicher Perfektionierung (ebd.). Kant merkt hier an, dass der Mensch einer Erziehung im Sinne von Belehrung und Zucht sowohl fähig als auch bedürftig sei (vgl. ebd.: 324). Mit Verweis auf Rousseau stellt er die Frage, ob der Charakter der Gattung „ihrer Naturanlage nach“ sich besser aus der „Rohigkeit seiner Natur“ oder „den Künsten der Cultur“ entwickeln ließe (ebd.). Ein Ende sei bei der Klärung dieser Frage nicht abzusehen, aber Kant betont, dass Menschen nur als Gattung und niemals als einzelnes Individuum ihre ganze Bestimmung erreichen können. Ein Fortschritt in der Kultur, bei dem die Individuen stets aufeinander angewiesen sind, sei deswegen eine notwendige Voraussetzung, für die Verwirklichung der Bestimmung: „[S]o daß sich das menschliche Geschlecht nur durch Fortschreiten in einer Reihe unabsehlich vieler Generationen zu seiner Bestimmung empor arbeiten kann; wo das Ziel ihm doch immer noch im Prospect bleibt, gleichwohl aber die Tendenz zu diesem Endzwecke zwar wohl öfters gehemmt, aber nie ganz rückläufig werden kann.“ (Anth, AA 07: 324)

Bei seinem Perfektionieren ist der Mensch notwendigerweise auf die Leis­ tungen und Handlungen anderer angewiesen, da er für sich selbst nicht in der Lage ist, die Vernunft in der Welt zu entfalten, sondern durch seinen Beitrag lediglich eine Annäherung zu diesem Endzweck für die gesamte Gattung des Menschen erreicht werden kann. Die Realisation von Vernunft in der Welt ist für Kant demnach ein menschliches Gemeinschaftsprojekt, das an das Wissen und Geschick der vorherigen Generationen anknüpft. Es kann gehemmt werden, aber nicht rückläufig sein. In Hinsicht auf die moralische Anlage stelle sich die Frage, ob der Mensch von Natur gut oder böse oder aber, je nachdem in welche „bildende Hände“ er falle, für beides gleichermaßen geeignet sei (Anth, AA 07: 324). Wäre letzteres der Fall, hätte die menschliche Gattung keinen Charakter. Dies widerspreche sich laut Kant jedoch selbst, da der Mensch „ein mit praktischem Vernunftvermögen und Bewußtsein ausgestattetes Wesen (eine Person)“ sei und sich deswegen, sei es noch so dunkel, „unter einem Pflichtgesetze und im Gefühl“ sehe, dass ihm oder anderen recht oder unrecht geschehe (ebd.). Da dies „der intelligible Charakter der Menschheit überhaupt“ ist, sei der Mensch „seiner angeborenen Anlage nach (von Natur aus) gut“ (ebd.). Dennoch sei der Mensch seinem sensiblen Charakter nach „auch als (von Natur) böse“ zu

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beurteilen (ebd.). In Hinblick auf den Gattungscharakter bedeute das jedoch keinen Widerspruch, „weil man annehmen kann, daß dieser ihre Naturbestimmung im continuirlichen Fortschreiten zum Besseren bestehe“ (ebd.). Der menschliche Gattungscharakter lässt sich als das durch Zusammenarbeit möglich werdende Perfektionieren der Vernunftanlage verstehen, als ein sich stufenweise realisierender Fortschritt zum Besseren. Kant schließt aus der Betrachtung der zu entwickelnden Anlagen: „Die Summe der pragmatischen Anthropologie der Bestimmung des Menschen und die Charakteristik seiner Ausbildung ist folgende. Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren, wie groß auch sein thierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr thätig, im Kampf mit Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen.“ (Anth, AA 07: 324f.)

Da der Mensch über Vernunft verfügt, ist er dazu bestimmt, sich in Gesellschaft mit anderen Menschen durch Kunst und Wissenschaft auszubilden. Diese Ausbildung beschreibt Kant als Abfolge der verschiedenen Stufen von Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung, mit denen sich der Mensch als Gattung fortschreitend perfektioniert. Dass sie vielmehr eine Aufgabe als einen automatischen Entwicklungsprozess für den Menschen in der Welt darstellt, wird deutlich durch die Beschreibung als ‚Kampf mit Hindernissen‘. Um sich der Menschheit würdig zu machen, muss der Mensch aktiv tätig werden und darf sich nicht passiv gewissen Anreizen überlassen. Die von Kant als Gattungscharakter beschriebene Ausbildung des Menschen als stufenweise Perfektionierung zu einer realisierten Vernunft bestätigt die ersten Konturen der Bildung des Menschen aus dem Kontext seiner pädagogischen Schriften: Der Mensch braucht eine Ausbildung, um zum Menschen zu werden, und ist hierbei abhängig von anderen. Doch erlaubt die Analyse der elterlichen Erziehungspflicht und des Charakters der menschlichen Gattung die festgestellten Konturen von Kants Denken über Erziehung (vgl. S.  210) hinsichtlich der ersten beiden Punkte zu präzisieren und den dritten Punkt zu korrigieren. Die ambivalente Rolle von Natur und Kultur: Menschsein als gemeinschaftliches und selbstverantwortliches Menschwerden in der Welt Der rechtliche und kulturelle Kontext zeigen, dass die Ausbildung des Menschen sowohl individuell als auch gattungsspezifisch notwendig ist, um

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Mensch zu werden. Als je einzelner Mensch gilt es zunächst schrittweise die körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu entwickeln. Zwar ist der Mensch in moralisch-praktischer Perspektive immer schon ein freies Wesen, doch muss er sich körperlich und geistig in der Welt erst entwickeln, um seine Willkür nach der Kausalität der reinen Vernunft zu bestimmen und somit in der zeitabhängigen Realität als voll zurechenbar zu gelten. Als Gattung betrifft das Menschwerden die kulturelle Entwicklung aus dem Zusammenspiel der Handlungen Einzelner über Generationen. In beiden Perspektiven realisiert sich der Mensch durch seine Handlungen in der Zeit. Die erste Kontur des Bildungsbegriffs lässt sich folgendermaßen präzisieren: Sowohl für das Individuum als auch die Gattung bedeutet Menschsein Menschwerden in der Welt. Auch ist der Mensch bei seiner Ausbildung in beiderlei Perspektive auf andere Menschen angewiesen. Bis sich die Zurechenbarkeit auf das Individuum selbst verschiebt, sind die Eltern für die Bildung und Erziehung verantwortlich. Es ist ihre Aufgabe, das Kind moralisch zu bilden. Würden Sie das verabsäumen, wäre eine Verwahrlosung des Kindes ihre Schuld. Die individuelle Erziehung durch Eltern und Lehrer ist dabei eingebettet in den gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt. Dieser betrifft die Ausbildung der Menschen als Gattung und knüpft an die Leistungen vorheriger Generationen an. Um die Vernunftanlage in der Welt zu realisieren, ist der Mensch auf die Zusammenarbeit mit anderen und einen Fortschritt über Generationen angewiesen. Nur so lässt sich seine Bestimmung als vernünftiges Wesen in der Welt gemeinsam aus der natürlichen Rohigkeit schrittweise perfektionieren. Im pädagogischen Kontext bildet das Individuum gemäß dem natürlichen Fortschritt der Erkenntnis schrittweise Verstand, Vernunft und Wissenschaft aus und wird dabei von seinem Lehrer unterstützt, der erst den verständigen, dann den vernünftigen und endlich den Gelehrten an ihm bilden soll (vgl. NEV, AA 02: 305). Im rechtlichen Kontext zeigt sich durch die Verschiebung der Verantwortung für Bildung und Handhabung ab der natürlichen Volljährigkeit, eine Entwicklung von dem mit Freiheit begabten Wesen zu einem mündigen Wesen, das sein eigener Herr ist (vgl. MS, AA  06: 280-282). Im kulturellen Kontext bezieht sich das Werden des Menschen als Individuum und Gattung auf eine Realisation seiner Anlagen, die menschliches Miteinander voraussetzt: Stufenweise wird gemeinsam die technische Anlage durch die Kultivierung ausgebildet, die pragmatische Anlage durch Zivilisierung und die moralische Anlage durch Moralisierung (vgl. Anth, AA 07: 322-325). Demnach lässt sich die zweite Kontur des Bildungsbegriffs folgendermaßen präzisieren: Sowohl für das Individuum als auch die Gattung vollzieht sich das Menschwerden als zeitliche Entwicklung im realen Miteinander.

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Bereits die frühen Korrekturempfehlungen in den pädagogischen Schriften weisen darauf hin, dass es durch gesellschaftliche Umstände zu Fehlern in der Ausbildung kommen kann. Auch später wird das notwendige menschliche Miteinander in der Ausbildung des Menschen von Kant ambivalent beurteilt. Zum einen ist der kulturelle Fortschritt unumgänglich und notwendig für die nur gemeinschaftlich mögliche Entfaltung und Realisation der menschlichen Vernunftanlage durch Kunst und Wissenschaften. Zum anderen stellt diese gesellschaftlich-kulturelle Sphäre als „andere Natur“ eine Quelle für mögliche Fehler in diesem Perfektionierungsprozess dar (Anth, AA  07: 121). Durch orts- und zeitabhängige Gewohnheiten fällt dem Menschen das Urteil darüber schwer, was er aus sich machen kann und soll. Und gerade das scheint eine wichtige Bedingung für die Ausbildung des Menschen als Fortschritt zum Besseren zu sein: zu wissen, was der Mensch ist, um es zu werden40. Die Kultur spielt für diese Erkenntnis eine ambivalente Rolle. Sie ist notwendig für den Fortschritt der menschlichen Gattung zum Besseren in der Welt und eine mögliche Quelle für Hindernisse und Hemmungen auf diesem Weg. Während in den beiden pädagogischen Schriften die Natur eindeutig als Korrektiv dafür empfohlen wird, die von Gewohnheiten und Vorurteilen ausgehende Gefahr zu umgehen, erweist sich durch die bisherige Analyse die Rolle der Natur in Bezug auf die Bildung des Menschen ebenfalls als ambivalent. Einerseits erscheint sie in den herangezogenen späteren Schriften als ein mögliches Korrektiv oder zumindest als ein förderlicher Faktor der menschlichen Ausbildung, denn die Natur stellt in Kants Argumentation kontinuierlich ein begründendes und orientierendes Kriterium für die Ausbildung des Menschen dar: Die Abhängigkeit von elterlicher Erziehung und Bildung wird gerechtfertigt, da es durch den „allgemeinen Laufe der Natur überhaupt“ sowie der „besonderen Naturbeschaffenheit gemäß“ dauert, bis die „natürliche Volljährigkeit“ eintritt (MS, AA  06: 282); durch Zwietracht stellt der weise und für uns unerforschliche „Plane der Natur“ die Mittel für den Fortschritt der menschlichen Gattung zur Verfügung (Anth, AA 07: 322) und die für Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung notwendigen Anlagen kommen 40

Das kann erklären, warum Kant die Anthropologie als Weltkenntnis für gemeinnützig hält. Mit den Erkenntnissen über das, was der Mensch als freies Wesen aus sich macht, knüpft Kant selbst an kulturelle Leistungen an und versucht ihre Wissenschaftlichkeit zu fördern. Ein Teil dieser Leistung ist die Erkenntnis, dass der Mensch sich seinen Charakter selbst schafft, indem er sich nach selbstgewählten Zwecken perfektioniert (vgl. Anth, AA  07: 321). Diese Erkenntnis scheint somit als Teil der gemeinnützigen Weltkenntnis aus Kants Perspektive eine kulturell-förderliche Leistung für die Perfektionierung des Menschen zu sein.

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dem Menschen von Natur aus zu, so dass der Charakter der Gattung als „Naturbestimmung im continuirlichen Fortschreiten zum Besseren bestehe“ (ebd.: 324). Andererseits ist die Natur auch letztbegründend für die Faktoren, die den Ausbildungsprozess des Menschen erschweren: Der „Hang zur thätigen Begehrung des Unerlaubten“, der anhebt, alsbald der Mensch von seiner Freiheit Gebrauch macht, lässt den Menschen nach seinem sensiblen Charakter als „(von Natur) böse“ beurteilen (ebd.); die Passivität, welche der Tätigkeit, „sich der Menschheit würdig zu machen“, im Wege steht, ist auf den tierischen Hang und Hindernisse zurückzuführen, die dem Menschen „von der Rohigkeit seiner Natur anhängen“ (ebd.: 325). Die Natur bietet die Bedingungen für beide Möglichkeiten: Eine Unterstützung bei der Perfektionierung oder eine Erschwerung und Hemmung. Für den Menschen ist Bildung zwar notwendig, um Mensch zu werden und sie wird notwendigerweise durch natürliche und kulturell-gesellschaftliche Faktoren bedingt, aber weder Natur noch Kultur sind in diesem Zusammenhang notwendigerweise für die grundsätzlich mögliche Perfektionierung förderlich. Letztverantwortlich dafür, ob sie der Mensch verwirklicht, ist der Mensch selbst: Es ist seine Aufgabe, durch seine Handlungen zur Realisation der Vernunft beizutragen. Die reale Selbstverantwortung des Menschen lässt somit eine Lücke in der Notwendigkeit menschlicher Bildung entstehen und unterscheidet sie dadurch von den anderen ebenfalls zeitlichen Entwicklungsprozessen der mechanischen und organischen Bildung. Denn sowohl mechanische als auch organische Bildung lassen sich durch Regelmäßigkeiten der Natur erklären: den bewegenden Kräften von Anziehung und Abstoßung und dem Organisieren von Materie nach einer inneren Zweckmäßigkeit. Die gesetzmäßige Struktur der beiden Bildungsprozesse macht sie in ihrem Ablauf notwendig.

Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Die selbstverantwortliche Bildungsfähigkeit des Menschen als Sonderfall in der Natur

Kant verwendet den Bildungsbegriff für mechanische und organische Prozesse in der Natur und für pädagogische und kulturelle Prozesse des Menschen. Wie die Untersuchung der mechanischen Bildung gezeigt hat, betrifft sie materielle Dinge der Natur. Die organische Bildung betrifft Lebewesen in der Natur, denen eine innerlich zweckmäßige Form eignet. Aufgrund seiner Eigenschaften als materielles und organisches Naturwesen ist der Mensch beiden Bildungsprozessen eingeschrieben. Das bezeugt zum Beispiel Kants

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Anwendung von mechanischen Gesetzen auf die Bildung möglicher Bewohner der Planeten, zu denen Menschen als Erdbewohner gehören (vgl. NTH, AA 01: 358). Die Formulierung der „körperlichen Maschine“ kennzeichnet deutlich, dass Menschen als Materie mechanischen Gesetzen unterliegen (ebd.: 357). In den kritischen Ausführungen über die innere Naturvollkommenheit, wie sie nur organisierte Wesen als Naturzwecke besitzen, betont Kant, dass „wir selbst zur Natur im weitesten Verstande gehören“ (KU, AA 05: 375). Als Teil der Natur ist der Mensch somit notwendig in Bildungsprozesse eingeschrieben, die durch zwei verschiedene Arten der Kausalverbindung gekennzeichnet sind: eine Verbindung nach wirklichen Ursachen (nexus effectivus) und eine Verbindung nach idealen Ursachen (nexus finalis). Die mechanischen Gesetze der Naturbildung und die organische Bildung nach innerer Zweckmäßigkeit beeinflussen die Bildung des Menschen und geben einen Hinweis auf zwei mögliche Kräfte, die bei seiner Bildung als Teil der Natur eine Rolle spielen: die durch seinen materiellen Körper gegebene bewegende Kraft und die organischen Wesen zukommende bildende Kraft. Die Beschreibung der Bildung des Menschen im pädagogischen Kontext weist auf die Möglichkeit hin, trotz dieser Einbindung in notwenige Naturprozesse, von der Natur abweichen zu können. Die Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen und die Aufsätze, das Philanthropin betreffend beschreiben, dass es durch Fehler in diesem Prozess zu Vorurteilen in Schulen oder frühkluger Geschwätzigkeit kommen kann und sogar dazu, dass das Gute als Naturanlage nicht aus dem Menschen gebracht werde. Der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht lässt sich entnehmen, dass Menschen sich verstellen können und es durch ihren Umgang miteinander unter gewissen Ort- und Zeitumständen zu Gewohnheiten kommt. Als ‚andere Natur‘ erschweren sie dem Menschen das Urteil über sich selbst und somit die Bedingung für die Erkenntnis, was er aus sich machen kann und soll. Obwohl der Mensch ein Teil der Natur ist, kann er ihr entgegenarbeiten und etwas schaffen, das für ihn wie eine andere Natur ist. Das kennzeichnet seine Sonderrolle in der Natur. Hinweise auf die Sonderrolle des Menschen in der Natur zeigen sich in den Ausführungen des mechanischen und organischen Bildungskontexts. So beschreibt Kant in den frühen Schriften die mittlere Position des Menschen zwischen den zwei äußeren Grenzen der Vollkommenheit. In den späteren Ausführungen der dritten Kritik hebt sich der Mensch von den anderen Naturzwecken durch die Möglichkeit ab, ‚letzter Zweck‘ der Natur zu sein. Im Vergleich zu anderen Organismen ist das, was der Mensch hervorbringt, nicht präformiert: Ihn kennzeichnet das Vermögen, sich selbst Zwecke zu setzen. Deswegen sei die Kultur als „Tauglichkeit und Geschicklichkeit, wozu die Natur (äußerlich und innerlich) von ihm gebraucht werden kann“, der letzte

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Zweck, den man der Menschengattung begründet beilegen könne (KU, AA 05: 429ff.). Neben der bewegenden und bildenden Kraft kommt dem Menschen durch seine Vernunft noch eine Art zwecksetzende Kraft zu, denn er kann „sich einen Begriff von Zwecken machen und aus einem Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen“ (ebd.: 426f.). Sein Vermögen, sich selbst Zwecke zu setzen, zeigt, dass es für die Erklärung der Bildung des Menschen nicht genügt, auf die mechanischen und organischen Bildungsprozesse zu verweisen. Zwar ist er ein Teil der Natur und ihre zweckmäßige Struktur erlaubt ihm einen Anschluss für das Anwenden seiner selbst gewählten Zwecke, aber diese unterscheiden sich von der Zweckmäßigkeit der Natur. Der untersuchte Kontext der Metaphysik der Sitten zeigt, dass Menschen in einem ‚Akt der Freiheit‘ sich ihre Zwecke vorstellen, die ihre Handlungen bestimmen. Praktische Freiheit ist das Kriterium, welches Menschen zu Personen macht, denen ihre Taten zugerechnet werden können. Diese Verantwortung erzeugt Verbindlichkeiten und eine Kausalität für das Zwecksetzungsvermögen, sich nach Zwecken zu bestimmen, die der Mensch sich machen soll. Neben der Naturnotwendigkeit eröffnet sich dem Menschen durch die ‚Kausalität der reinen Vernunft‘ und den ‚reinen Willen in uns‘ eine weitere Zwecksetzungs- und Handlungsmöglichkeit. Wie es die Exegese des Erziehungsbegriffs in den moralphilosophischen Schriften explizieren und der Hinweis auf ‚praktische Gesetze‘ bereits andeutet, sieht Kant in dieser Kausalität eine normative Notwendigkeit. Sie begründet die Pflicht auf Versorgung und Erhaltung sowie das zeitlich terminierte Recht der Eltern auf die Handhabung und Bildung ihrer Kinder und macht ihre pragmatische und moralische Erziehung notwendig (vgl. MS, AA 06: 280ff.). Doch in den untersuchten Kontexten des Menschwerdens als zeitliche Entwicklung im realen Miteinander scheint diese Notwendigkeit über Lücken oder zumindest eine gewisse Unschärfe zu verfügen. Das belegt etwa die angedeutete Möglichkeit einer Rechtsverletzung: Würden die Eltern ihr Recht auf moralische Bildung verabsäumen, wären sie Schuld an der Verwahrlosung ihrer Kinder (vgl. ebd.: 281). Obwohl der Mensch ein ‚mit Freiheit begabtes Wesen‘ ist und dies im kulturellen Kontext die Bedingung für die Möglichkeit der menschlichen Gattung darstellt, sich selbst nach selbstgesetzten Zwecken perfektionieren zu können, wird die Beschaffenheit des Menschen und die Wahl seiner Zwecke im Gegensatz zur Natur nicht eindeutig als positive Qualität behandelt. Als irdisch-vernünftiges Wesen ist die moralische Qualität des Charakters seiner Gattung sogar ein prinzipielles Problem: Der sensible Charakter des Menschen spricht dafür, dass er von Natur böse und der intelligible hingegen dafür, dass

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er von Natur gut ist. Für beides wird die Natur als Letztbegründung angeführt, die „den Keim der Zwietracht“ in die Menschengattung gelegt und gewollt habe, dass die Menschen mittels ihrer eigenen Vernunft „aus dieser diejenige Eintracht, wenigstens die beständige Annäherung zu derselben“ herausbringen (Anth, AA 07: 322). Kant schreibt es „einer höchsten uns unerforschlichen Weisheit“ zu, dass zweierlei für die Perfektionierung der menschlichen Gattung durch fortschreitende Kultur zusammenkommen müsse: das Mittel der Zwietracht im Plane der Natur und die Idee der Eintracht als selbstgesetzter Zweck der Vernunft (ebd.). Ohne den Grund dafür weiter erforschen zu können, eröffnet er die Hoffnung darauf, dass die Verbindung von Natur und Vernunft nicht nur zu irgendetwas gut sei, sondern auf ein Gutes ziele: die Perfektionierung der menschlichen Gattung, die in der Moralisierung gipfelt. Während Natur und Natürliches genau wie Vernunft und Vernünftiges in den bisher untersuchten Schriften, sei es als bloße Behauptung oder eingebettet in eine Argumentation, beständig eine durchaus positiv konnotierte Qualität einnehmen, wird der Mensch und Menschliches von Kant unter sich ändernden Parametern konstant als ambivalent beschrieben. Bereits in den vorkritischen Überlegungen räumt er der Natur durch ihren göttlichen Ursprung Vollkommenheit ein. Später rechtfertigt er auf kritischem Wege die teleologische Annahme „der Weisheit, der Sparsamkeit, der Vorsorge, der Wohltätigkeit der Natur“ als bestimmte Kausalität nach idealen Ursachen und legitimiert diese als heuristisches, regulatives Prinzip der Naturerforschung (KU, AA 05: 383). Obwohl der Mensch mit seiner Vernunftanlage ebenfalls zur Natur gehört, trifft die mit ihr verbundene positive Qualität nicht automatisch auf ihn zu. Bereits die Positionierung des Menschen in Hinsicht auf Denk- und Handlungsfähigkeiten möglicher Wesen weist auf eine Sonderrolle im Naturgeschehen hin. Die Mischung von potentiell vorhandenen und graduell zu entwickelnden geistigen Fähigkeiten einerseits und stofflicher Gebundenheit andererseits lässt Kant den Menschen auf der mittleren Sprosse der Leiter der Wesen verorten (vgl. NTH, AA  01: 359). Er fragt: „Gehört nicht ein gewisser Mittelstand zwischen der Weisheit und Unvernunft zu der unglücklichen Fähigkeit sündigen zu können?“ (ebd.: 365) Die Positionierung des Menschen zwischen Vollkommenheiten, in der Mitte von Weisheit und Unvernunft sowie die damit gegebene Möglichkeit zu sündigen, expliziert die Ambivalenz seiner Qualität. Auch in anderen frühen Texten beobachtet Kant, dass sich in der menschlichen Natur „niemals rühmliche Eigenschaften“ zeigen, ohne zugleich zu „Abartungen derselben durch unendliche Schattierungen bis zur äußersten Unvollkommenheit“ überzugehen (GSE, AA  02: 213). Für ihn steht jedoch fest: „An der Natur liegt es niemals, wenn wir nicht mit einem guten Anstande erscheinen, sondern daran, daß man sie verkehren will.“ (ebd.: 240) Während

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Kapitel 3

Mängel und Abweichungen als Mannigfaltigkeit der im Großen und Ganzen vollkommenen Natur gelten, gehört die Verkehrung der Natur durch menschliches Verhalten allein in den Verantwortungsbereich des Menschen. Spätere Schriften bestätigen, dass sich dem Menschen hinsichtlich seiner Qualität unterschiedliche Optionen bieten. Wie gezeigt wurde, ist seine Perfektionierung eine durch Natur, Vernunft und Kultur bedingte Möglichkeit, aber letztlich abhängig von den konkreten Handlungen der je einzelnen Menschen. Selbst die Notwendigkeit der Vernunft scheint bei dieser Realisierung des Fortschritts zum Besseren deswegen nicht automatisch zu greifen: Weil der Mensch mit seinen Handlungen zwischen den Faktoren Natur, Vernunft und der momentanen Leistung von Kultur steht. Die Ausbildung der pragmatischen Anlage beschreibt zwar einen kontinuierlichen Fortschritt zum Besseren, doch könne dieser „öfters gehemmt“ werden (Anth, AA  07: 324). Und da die Zivilisierung eine notwendige Stufe ist, um zur Moralisierung des Menschen fortzuschreiten, würde eine Hemmung ausreichen, um die Ausbildung der Anlage des Guten realiter zu verhindern. Diese obliegt der Realisation durch die verwirklichten Handlungen der Menschen selbst. Während sowohl das Vermögen der Vernunft als Quelle der Sittlichkeit als auch die Natur in ihrer Vollkommenheit und Notwendigkeit bei Kant positiv konnotiert sind, nimmt die Qualität des Menschen als vernünftiges Naturwesen in der Welt eine Sonderrolle ein. Diese Sonderrolle unterstreicht das hohe Maß an menschlicher Selbstverantwortung. Wie er seine zwecksetzende Kraft nutzt und welche Qualität er in der Welt realisiert, wird durch Natur und Vernunft sowie dem status quo der Kultur bedingt, jedoch nicht festgeschrieben. Der Mensch bildet seine Qualität selbst.41 41

Der Schluss aus der Exegese des Bildungsbegriffs auf die selbstverantwortliche Bildungsfähigkeit des Menschen lässt sich durch andere Interpretationen der Kant-Forschung stützen. So zeigt Reinhard Brandt (2007: 19), dass Kants Annahme einer Bestimmung des Menschen durch seine Vernunft keinesfalls sein Werden entscheidet und festlegt, sondern Kant diese vom Menschen selbst gestellte Frage noch einmal auf den Menschen zurückziehe: „Wir sind durch unsere eigene Vernunft dazu bestimmt, uns selbst zu bestimmen. Der Plan der Natur ist, paradox formuliert, daß wir uns gemäß unserer Natur von der Natur emanzipieren.“ Anna Wehofsits (2016: 151) schließt ihre Analyse über Kants moralische Anthropologie mit der Auslegung menschlicher Selbsterkenntnis als Prozess, der auf einer dynamischen Konzeption der menschlichen Natur basiere: „Der Mensch ist definiert über die Fähigkeit, an sich selbst zu arbeiten, und über die Verpflichtung, diese Arbeit auch zu leisten. […] Für Kant ist der Charakter eines Menschen also nicht feststehend und dem Handeln vorgängig. Er entsteht erst durch Handeln und verändert sich mit diesem.“ Volker Gerhardt (2007: 296) macht darauf aufmerksam, dass der Zugang zur Dimension der Universalität es dem Menschen ermögliche, sein Selbstverständnis als vernünftiges Wesen zu bilden: „So hat er einen eigenen Anteil an dem, wie und was er

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Als Ergebnis der Bildungsexegese lässt sich neben den drei Bedeutungsfeldern von Naturgeschichte, Naturerforschung und Weltkenntnis die selbstverantwortliche Bildungsfähigkeit des Menschen als Individuum und Gattung als systematische Verbindungslinie von Kants Philosophie zum Pädagogischen festhalten. Kontinuierlich wird dem Menschen eine Ambivalenz hinsichtlich seines moralischen Status und eine Sonderrolle in der Natur zugeschrieben. Den Grund dafür verortet Kant in seiner kritischen Philosophie in dem vernünftigen Vermögen des Menschen, sich selbst Zwecke setzen zu können, das in seiner Konkretisierung von der Vorstellung und Handlung des jeweiligen Subjekts abhängt:

Abb. 6

Kants Hinweise auf die selbstverantwortliche Bildungsfähigkeit des Menschen [ED]

geworden ist. Und je mehr er davon weiß, umso größer wird seine Verantwortung für das, was künftig aus ihm wird.“

228 3.2

Kapitel 3

Der Erziehungsbegriff im Spannungsfeld von Natur, Vernunft und Kultur: Der moralische Charakter des Einzelnen und die Moralisierung der Gattung

Der Erziehungsbegriff wurde seinem Ursprung nach von ‚herausziehen‘ aber auch ‚aufziehen‘ oder ‚großziehen‘ gleichermaßen für Tiere und Menschen verwendet, bevor ihm im Zusammenhang mit educare in der Neuzeit die noch heutige Bedeutung eines „Handelns am werdenden Menschen zugunsten dessen späterer Mündigkeit“ zukam (Groothoff 1972: 733). Spuren dieser etymologischen Entwicklung finden sich auch in Kants Schriften, in denen an zwei Stellen ‚Erziehung‘ und ‚erziehen‘ noch in Bezug auf Tiere vorkommen (vgl. VT, AA  08: 390; PG, AA  09: 314). Abgesehen von diesen Ausnahmen bezieht er sich jedoch mit dem Erziehungsbegriff speziell auf den Menschen und ein intendiertes Handeln in Hinsicht auf dessen Werden. Welche Formen von Erziehung Kant in seinen philosophischen Schriften behandelt und wie er sie als Bedingung und Möglichkeit einschätzt, aktiv dazu beizutragen, als Mensch und Menschheit besser werden zu können, liegt im Fokus der folgenden Begriffsexegese. Erzieherisches Problembewusstsein der frühen Schriften (1754-77): Erziehung als ambivalenter Einfluss auf Gemüt und Sitten Wie die bereits in Bezug auf den Bildungsbegriff analysierten pädagogischen Schriften eindeutig belegen, attestiert Kant Unterschiede in der Qualität der Erziehung als von Menschen gestalteter Prozess. So verspricht er sich von philanthropischen Musterschulen, sie könnten eine Quelle für weitere, vorbildliche Einrichtungen sein, ein vollständiges „Beispiel und Pflanzschule der guten Erziehung“ (AP, AA 02: 450). Im Vergleich dazu bezeichnet er die aktuellen Einrichtungen als „fehlerhaft“ (ebd.: 449). Auch den Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Herrn Johann Friedrich von Funk lassen sich mögliche qualitative Unterschiede bei Erziehungsprozessen ablesen: Funk wurde „mit großer Sorgfalt erzogen“ (GAJFF, AA 02: 43) und er selbst verdiene es aufgrund seines Verhaltens und seiner Eigenschaften, denjenigen „zum Muster vorgestellt zu werden, die die Jahre ihrer Erziehung und Jugend rühmlich zurückzulegen denken“ (ebd.: 44). Aus diesen sehr allgemeinen Anmerkungen lässt sich schließen, dass eine Erziehung gut oder fehlerhaft, mit oder ohne Sorgfalt, rühmlich oder unrühmlich sein kann. Kants ambivalentes Urteil über die Qualität des Menschen spiegelt sich in den Stellungnahmen zum Erziehungsprozess. Das weist auf einen konsistenten Zusammenhang hin, denn dieser wird schließlich von Menschen gestaltet. Die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels beschließt Kant mit

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einem demgemäß ambivalenten Urteil aus der Perspektive der Erde über ihre menschlichen Bewohner. In Anbetracht der „niederträchtigen Wesen“ unter den denkenden Geschöpfen des Planeten, die sich allen Reizen des bestirnten Himmels zum Trotz an „die Dienstbarkeit der Eitelkeit“ heften, müsse die Kugel unglücklich sein, „daß sie so elende Geschöpfe hat erziehen können“ (NTH, AA 01: 367f.). Doch: „Wie glücklich aber ist sie andererseits, da ihr unter den allerannehmungs­ würdigsten Bedingungen ein Weg eröffnet ist, zu einer Glückseligkeit und Hoheit zu gelangen, welche unendlich weit über die Vorzüge erhaben ist, die die allervortheilhafteste Einrichtung der Natur in allen Weltkörpern erreichen kann!“ (NTH, AA 01: 368)

Dem Menschen ist aufgrund seiner Beschaffenheit beides möglich: Als niederträchtiges, eitles Wesen kann er die Erde unglücklich machen oder ihr als edle Seele zu Glückseligkeit und Hoheit verhelfen. Je nachdem wie und ob der Mensch seine Anlagen entfaltet, ob ‚allerannehmungswürdigste Bedingungen‘ dazu einen Weg eröffnen. Die frühen Texte zeigen, dass Kant der Erziehung durch andere Menschen als Bedingung für diesen Weg durchaus Bedeutung und Wirkungskraft einräumt. Er beschreibt den großen Einfluss von Regierungsart, Unterweisung und Exempel auf „die Gemüthsverfassung und die Sitten“ (FEV, AA 01: 212). In der von ihm an dieser Stelle eingenommenen, historisch-vergleichenden Perspektive stellt er fest, dass sie Ergebnisse menschlichen Werdens beeinflussen, wie „Enthusiasmus der Ehrbegierde, der Tugend und der Freiheitsliebe“ (ebd.). Deswegen würden selbst diese Ergebnisse keine eindeutigen Aussagen über eine wirkliche Veränderung der menschlichen Natur ablesen lassen. Der Einflussfaktor durch menschliche Bemühen lässt das Ergebnis als Veränderung der Sittenlehre und Wissenschaften nur als „zweideutige Merkmale“ in Hinsicht auf eine Veränderung der Natur erscheinen (ebd.: 212). Das zeigt wiederholt Kants Skepsis gegenüber kulturellen Leistungen, die zwar notwendig sind, aber eine Sphäre kreieren, die von der Notwendigkeit der Natur abweichen kann.42 Daraus lässt sich folgern, dass Erziehung als menschliche Tätigkeit zwar starken Einfluss auf die sittliche und wissenschaftliche Entwicklung des Menschen hat, aber aufgrund der hohen Variabilität ihrer Ausgestaltung 42

An dieser Stelle begründet Kant es nicht weiter, dass die Faktoren Regierungsart, Unterweisung und Exempel zu zweideutigen Merkmalen führen. Der Grund mag in der bereits aufgedeckten Ambivalenz kultureller Leistungen liegen und darin, dass Erziehung so wie andere kulturelle Prozesse ein zeit- und ortsabhängiges Geschehen ist, das von qualitativ ambivalenten Wesen vollzogen wird. Kant behandelt dementsprechend nationalcharakteristische Unterschiede in der Erziehung (vgl. GSE, AA 02: 253; PG, AA 09: 433).

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selbst die durch sie erzielten Errungenschaften nur als zweideutige Merkmale erscheinen lässt. Regierungsart, Unterweisung und Exempel wirken auf Sitten und Wissenschaften, sind aber unstete Einflüsse, die zu unsteten Ergebnissen führen. In dieser werksgeschichtlich frühen Periode finden sich Überlegungen zu einer geschlechtsspezifischen Erziehung. Alle „Erziehung und Unterweisung“ müsse den Unterschied zwischen der männlichen und weiblichen Gattung beachten, um spezifisch „die sittliche Vollkommenheit des einen oder des anderen zu befördern“ (GSE, AA 02: 228). Wie ist Kants Vorschlag einer geschlechtsspezifischen Erziehung in Hinsicht auf sein Erziehungsdenken zu bewerten? In der Betonung des Unterschieds der beiden Geschlechter lässt sich ein Vorurteil Kants feststellen, welches er mit vielen Zeitgenossen teilt. Seine Position ließe sich folglich vor dem Hintergrund geschlechtsunabhängiger Dispositionen als antiquiert und überholt ausweisen. In Zusammenhang mit seiner Darstellung lässt sich dieser Aspekt jedoch auch als Hinweis dafür lesen, dass für Kant Erziehung oder Unterricht erfolgversprechender und gewinnbringender sind, je mehr die unterschiedlichen Dispositionen der Lernenden berücksichtigt werden. Immerhin handelt es sich bei diesem Vorschlag um eine, wenn auch pauschale, adressatenspezifische Differenzierung des Erziehungsprozesses: Es genügt nicht zu wissen, einen Menschen vor sich zu haben, sondern es gelte zu beachten, dass sich die emotionale Beschaffenheit von Menschen unterscheide. Stützend für letztere Auslegung lässt sich anführen, dass es sich bei Kants Unterschied zwischen dem männlichen Merkmal des Edlen und dem weiblichen Merkmal des Schönen nicht um ausschließende Kategorien handelt, sondern lediglich um Vorzüge (vgl. GSE, AA  02: 228f.). Die Mann-FrauDichotomie muss nicht als die Behauptung einer kategorialen Kausalität zwischen biologischer Ausstattung und mentaler Fähigkeiten verstanden werden. Kant unternimmt mit seiner Schrift primär die Beschreibung von einem „Gefühl von feinerer Art“, das „eine Reizbarkeit der Seele“ voraussetze (ebd.: 208). Zwar stehen Verstand und Gefühl als Fähigkeiten der Seele in engem Zusammenhang, aber es komme bei dem Schönen und Erhabenen nicht so sehr darauf an, „was der Verstand einsehe, sondern was das Gefühl empfinde“ (ebd.: 225). Der Unterschied zwischen Mann und Frau adressiert keine mentale Leistungsfähigkeit, sondern dieses Gefühl. Bei der Dichotomie handelt es sich somit um den Versuch, eine emotional natürliche Differenz zwischen den Menschen festzustellen. Einige Formulierungen scheinen auf eine Hierarchisierung der Geschlechter abzuzielen, jedoch sieht Kant gerade ihre Verbindung und Ergänzung als natürlich an, weil sie für die Fortpflanzung

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des menschlichen Geschlechts sorgen. In seinen Beobachtungen erhält somit die Kombination der beiden Geschlechter eine zentrale Bedeutung: Denn zusammen als vereinigtes Paar machen sie gleichsam „eine einzige moralische Person“ aus (ebd.: 242). Zentraler als der attestierte biologische Unterschied ist die ihm zugrunde liegende Erkenntnis, dass es in der Erziehung und Unterweisung von Menschen förderlich sein kann, die je variierende, emotionale Beschaffenheit zu berücksichtigen. Stellt man den aus heutiger Sicht missglückten Strukturierungsversuch in den Hintergrund, lässt Kants Vorschlag eine Differenzierung von Erziehung mit Rücksicht auf das Gefühl feststellen. Unterschiede, die es in den seelischen oder emotionalen Verfassungen geben kann, sollten für eine angemessene Erziehung Beachtung finden und nicht nivelliert werden. Eine Erziehung, welche die Pluralität des Geschmacks, die Verschiedenheit der feinen Gefühle der Seele ernst nimmt, fokussiert sich nicht auf einen Zugang der Vermittlung, sondern bemüht sich um eine Anpassung an individuelle Bedürfnisse. In seinen Überlegungen für eine frauengemäße Erziehung stellt Kant fest: „Niemals ein kalter und speculativer Unterricht, jederzeit Empfindungen“ (GSE, AA 02: 231). Eine solch passende Unterrichtsform sei deswegen so selten, „weil sie Talente, Erfahrenheit und ein Herz voll Gefühl“ erfordere (ebd.). Über Empfindungen zu erziehen, so lässt sich schließen, erfordert eine adressatenspezifische Anpassung der Unterweisung und setzt damit hohe Anforderungen an die Lehrtätigkeit. An dieser Stelle scheint Kant die anspruchsvolle Form von empfindungsorientierter Unterweisung auf das weibliche Geschlecht einzuschränken. Dass gerade die emotionale Sphäre für moralische Erziehung allgemein von Bedeutung ist, darauf findet sich in seinen zeitnahen Überlegungen zum einzig möglichen Beweisgrund Gottes jedoch ein Hinweis. Bei der Abwägung des kosmologischen und ontologischen Beweises, käme dem ontologischen Beweis der Vorzug in Hinsicht „auf logische Genauigkeit und Vollständigkeit“ zu, während der kosmologische Beweis „Faßlichkeit für den gemeinen richtigen Begriff, Lebhaftigkeit des Eindrucks, Schönheit und Bewegkraft auf die moralische Triebfedern der menschlichen Natur“ biete (BDG, AA 02:161). Diese unterschiedlichen Vorzüge wertet Kant folgendermaßen aus: „Und da es ohne Zweifel von mehr Erheblichkeit ist, den Menschen mit hohen Empfindungen, die fruchtbar an edler Tätigkeit sind, zu beleben, indem man zugleich den gesunden Verstand überzeugt, als mit sorgfältig abgewogenen Vernunftschlüssen zu unterweisen, dadurch daß der feinern Speculation ein Gnüge gethan wird, so ist, wenn man aufrichtig verfahren will, dem bekannten kosmologischen Beweise der Vorzug der allgemeinern Nutzbarkeit nicht abzusprechen.“ (BDG, AA 02: 161)

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Nützlicher als eine Unterweisung mit sorgfältigen Vernunfturteilen ist das Überzeugen des gesunden Verstandes und das Beleben des Menschen mit Empfindungen. Durch Fasslichkeit, Lebendigkeit und Bewegkraft auf die moralischen Triebfedern ist der kosmologische Gottesbeweis deswegen nützlicher als der logische, genaue und sorgfältige ontologische Gottesbeweis. Nützlich und überzeugend ist somit das, was zur edlen Tätigkeit anregt und hier scheint in der Unterweisung des Menschen etwas Schönes und Lebhaftes erheblichere Wirkung zu haben als sorgfältige Vernunftschlüsse. In der Unterweisung ist es demnach generell wichtig, mögliche Unterschiede in den Gefühlen und Empfindungsarten zu bemerken, um Empfindungen beleben zu können. Sie anzusprechen, zu beleben, hält Kant für nützlicher als mit feinen Vernunfturteilen zu überzeugen. Unabhängig von der geschlechtsspezifischen Trennung der Erziehung verdeutlicht das auch die allgemeine Konzentration auf das Gefühl in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Die Schrift endet mit folgendem Ausblick: „Endlich nachdem das menschliche Genie von einer fast gänzlichen Zerstörung sich durch eine Art Palingenesie glücklich wiederum erhoben hat, so sehen wir in unsern Tagen den richtigen Geschmack des Schönen und Edlen sowohl in den Künsten und Wissenschaften als in Ansehung des Sittlichen aufblühen, und es ist nichts mehr zu wünschen, als daß der falsche Schimmer, der so leichtlich täuscht, uns nicht unvermerkt von der edlen Einfalt entferne, vornehmlich aber, daß das noch unentdeckte Geheimniß der Erziehung dem alten Wahne entrissen werde, um das sittliche Gefühl frühzeitig in dem Busen eines jeden jungen Weltbürgers zu einer thätigen Empfindung zu erhöhen, damit nicht alle Feinigkeit blos auf das flüchtige und müßige Vergnügen hinauslaufe, dasjenige, was außer uns vorgeht, mit mehr oder weniger Geschmacke zu beurtheilen.“ (GSE, AA 02: 256)

Gerade der hier angesprochene zeitliche Aspekt menschlicher Geschichte und der Aufweis variabler Ausgestaltungen des Genies, des Geschmacks, des Schönen und Edlen in Künsten und Wissenschaften weisen mögliche Unterschiede in Bezug auf den Menschen und dessen Sittlichkeit aus. Kant zeigt sich hier dennoch in zweifacher Hinsicht zuversichtlich. Erstens meint er, gegenwärtig eine Art Wiederbelebung, ein Aufblühen des Sittlichen, festzustellen. Zweitens spricht er von einem ‚noch unentdeckten Geheimnis der Erziehung‘, was ein künftiges Entdecken zumindest nicht ausschließt und eine Korrektur des alten Wahns ermöglichen könnte. Mit der Entdeckung verbunden, sei die Möglichkeit, das sittliche Gefühl jedes jungen Weltbürgers zu einer ‚tätigen Empfindung‘ zu erhöhen. Kants frühe Verwendung des Erziehungsbegriffs gibt sein Problembewusstsein über Erziehung zu erkennen. Neben der Regierungsart beeinflusst

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Erziehung als Exempel die Gemütsverfassung und die Sitten, die Wissenschaften und Künste. Durch ihre sachliche und kausale Verbindung evozieren Erziehung und Qualität des Menschen eine ambivalente Einschätzung. Einerseits scheint Kant auf positive Konsequenzen einer guten Erziehung für die Qualitätsbildung der Menschen zu hoffen und andererseits hält ihn die Möglichkeit einer fehlerhaften Umsetzung mit negativen Konsequenzen vor einer zu euphorischen Einschätzung ab. Trotz einer gewissen Wirkung von Erziehung auf die Qualität des Menschen ist Kant vorsichtig bei ihrer Beurteilung als Mittel. Die variierende, emotionale Beschaffenheit von Menschen stellt für eine gute Erziehung an den Lehrenden hohe Erfordernisse, wie Talent, Erfahrenheit und Gefühl. Dabei kommt der motivationalen Komponente des Unterrichts zentrale Bedeutung zu: Unterricht solle niemals kalt und spekulativ sein, sondern jederzeit Empfindungen regen; nützliche Unterweisung solle mit Fasslichkeit für den gemeinen richtigen Begriff, Lebhaftigkeit des Eindrucks, Schönheit und Bewegkraft die moralische Triebfedern der menschlichen Natur beleben und mit dem unentdeckten Geheimnis der Erziehung könne das sittliche Gefühl frühzeitig zur tätigen Empfindung erhöht werden. Das Problem der Grundsätze von Erziehung (ab 1781): Als Mensch gut werden Passend zu dem bereits herausgestellten Problembewusstsein der Erziehung als ambivalenter Einfluss auf Sitten und Gemüt in den frühen Schriften interessiert sich Kant in seinen späteren Schriften insbesondere für die Grundsätze von Erziehung. Es geht ihm „um die Erzeugung, Ausbreitung und Stärkung moralischer Grundsätze (in der Erziehung, der Schul- & Volksbelehrung)“ (MS, AA 06: 217) oder in Bezug auf den Lehrer der Tugend um „das nie fehlende Richtmaß seiner Erziehung“ (MS, AA 06: 480). Er schlägt vor, die „Würdigkeit glücklich zu sein“, „zum Grundsatz der Erziehung und des Kanzelvortrages“ zu machen und behauptet, „wenn es im Privat- und öffentlichen Unterricht Grundsatz würde“, „Pflichten einzuschärfen“, „so müßte es mit der Sittlichkeit der Menschen bald besser stehen“ (TP, AA 08: 288). Von einer „Cultur nach wahren Principien der Erziehung zum Menschen und Bürger“ verspricht er sich, „das letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der Menschengattung“ zu befördern (MAM, AA 08: 116 ff.). Mit dem Erziehungsbegriff bezieht sich Kant in seinen späteren Schriften speziell auf den Menschen und ein intendiertes Handeln in Hinsicht auf dessen Werden, insbesondere in Bezug auf seine Sittlichkeit und Moralität. Dabei zeigen sich zwei grundsätzliche Problemfelder, die Kant mit seinem Erziehungsbegriff adressiert. Zum einen die interpersonale und moralisch ausgerichtete Beziehung zwischen einzelnen Menschen, etwa in Familie oder

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Unterricht, für die er nach Grundsätzen sucht und zum anderen die Entwicklung der menschlichen Gattung insgesamt in Hinsicht auf einen Fortschritt zum Besseren. Diese Problemfelder sollen nacheinander erarbeitet werden. Zwar geht es immer um interpersonale Handlungen von Menschen mit Menschen, aber im ersten Sinne um die „Einzelnen (singulorum), wo die Menge nicht ein System, sondern nur ein zusammengelesenes Aggregat abgiebt“ und im zweiten Sinne um die „Erziehung des Menschengeschlechts im Ganzen ihrer Gattung, d.i. collectiv genommen (universorum)“ (Anth, AA 07: 328). Begonnen wird mit den Grundsätzen für die moralische Unterweisung Einzelner, bevor das prinzipielle Problem moralischer Erziehung der Gattung analysiert wird. Die kritische Suche nach einem Leitfaden für Wissenschaften, Künste und Sittlichkeit (1781/87): Die Menschenvernunft als ‚Lehrer im Ideal‘ Für das Verständnis von Kants Erziehungsbegriff und seine Suche nach Prinzipien, an denen sich eine moralische Unterweisung orientieren kann, ist es notwendig, sich die orientierende Funktion der Kritik der reinen Vernunft zu vergegenwärtigen. Denn sie soll den Boden bereiten für einen sicheren Weg der Metaphysik der Sitten und der Natur. Zwar wird der Erziehungsbegriff explizit nur an einer Stelle der B-Auflage verwendet,43 jedoch verfolgt die Kritik insgesamt einen durchaus erzieherisch zu nennenden Anspruch. Begrifflich zeigt sich ihre disziplinierende Ausrichtung in der Methodenlehre. Doch bereits zu Beginn der ersten Vorrede zeichnet sich ab, dass die Vernunft hierbei vor einer Aufgabe mit sich selbst steht, die einen bestimmten Umgang erforderlich macht. Kant macht auf das grundsätzliche Problem aufmerksam, dass die menschliche Vernunft mit Fragen konfrontiert wird, „die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft“ (KrV, A VII). Statt sich auf etablierte Grundsätze zu verlassen, die den möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten und sich durch Scheinwissen hinhalten zu lassen, will sich Kant der „Aufforderung an die Vernunft“ stellen, „das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntniß, aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen 43

Diese Stelle kann die bereits für Kants frühes Problembewusstsein festgestellte Einschätzung der Erziehung als ambivalenter Einfluss auf den Menschen bestätigen. So würde man, um herauszufinden, warum eine Person boshafte Lügen erzählt, „seinen empirischen Charakter bis zu den Quellen desselben“ durchgehen und diese etwa „in der schlechten Erziehung, übler Gesellschaft, zum Theil auch in der Bösartigkeit eines für Beschämung unempfindlichen Naturells“ aufsuchen (KrV, B 582).

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aber alle grundlose Anmaßungen nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen abfertigen könne; und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst“ (KrV, A XIf.). Für die Untersuchung der Grundsätze menschlicher Erkenntnis wird die sich bereits gezeigte Selbstständigkeit des Menschen aufgrund seiner Sonderrolle in der Natur, sein selbstständiger Gebrauch der Vernunft, zum Prinzip erhoben: „Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie unabhängig von aller Erfahrung streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Gränzen derselben, alles aber aus Principien.“ (KrV, A XIf.)

Zur Vorbereitung für eine künftige Metaphysik prüft sich die Vernunft zunächst unabhängig von Erkenntnissen, die auf Erfahrung beruhen. Als Kritik des Vernunftvermögens sortiert sie sich in Hinblick auf mögliche Quellen und Grenzen der Metaphysik und deutet an, sich in Hinsicht auf die Grenzen zu disziplinieren. Die Vernunft ist dabei Geprüftes und Prüfendes, muss also aktiv gebraucht werden, um sich über sich selbst und ihre Prinzipien aufzuklären. Das gelte auch für die künftigen Leser der Kritik, die sie als Propädeutik nutzen sollen. Denn es sei nicht möglich die Philosophie als Erkenntnis aus reiner Vernunft oder Vernunfterkenntnissen aus empirischen Prinzipien zu lernen: „Man kann nur philosophiren lernen, d.i. das Talent der Vernunft in der Befolgung ihrer allgemeinen Principien an gewissen vorhandenen Versuchen üben, doch immer mit Vorbehalt des Rechts der Vernunft, jene selbst in ihren Quellen zu untersuchen und zu bestätigen, oder zu verwerfen.“ (KrV, B 866)

Das Talent der Vernunft muss geübt werden. Dazu können vorhandene Versuche zwar eine Hilfestellung bieten, doch ist eine Selbsttätigkeit notwendig, mittels der sie untersucht, bestätigt oder verworfen werden. Kant nennt dementsprechend einen „Lehrer im Ideal“, der alle Vernunfterkenntnisse als „Werkzeuge nutzt, um die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft zu befördern“ (KrV, B 867). Diesen allein müsse man „den Philosophen“ nennen, „aber da er selbst doch nirgend, die Idee aber seiner Gesetzgebung allenthalben in jeder Menschenvernunft angetroffen wird“, so empfehle es sich an letztere zu halten (ebd.). Für Kant ist die in jedem Menschen anzutreffende Vernunft der ‚Lehrer im Ideal‘. Die Kritik ist somit ein weiterer Versuch, an dem Wissenschaftler und Philosophen ihren Vernunftgebrauch schulen und üben können. Wie die Vorrede zur zweiten Auflage bestätigt, verspricht sich Kant dennoch von seiner Kritik einen erzieherischen Beitrag für die Zukunft der

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Wissenschaften, indem sie den Vernunftgebrauch der Nachkommenschaft verbessern könne, was er auch als Geschenk bezeichnet. Denn mit der durch die Vernunft geprüften Vernunft komme es zur „Cultur der Vernunft“, die einen „sicheren Gang“ der Metaphysik ermögliche, der ohne diese Kritik einem „grundlosen Tappen und leichtsinnigen Herumstreifen“ glich (KrV, B XXXf.). Diese ‚Kultur der Vernunft‘ wendet sich an den Vernunftgebrauch von Wissenschaftlern und Philosophen, welche durch die Vernunftkritik einen Dogmatismus in ihren Bemühungen verhindern. Mit Dogmatismus meint Kant die „Anmaßung, mit einer reinen Erkenntniß aus Begriffen (der philosophischen) nach Principien, so wie sie die Vernunft längst im Gebrauch hat, ohne Erkundigung der Art und des Rechts, womit sie dazu gelangt ist, allein fortzukommen“ (KrV, B XXV). Es braucht eine grundsätzliche Kritik des Vernunftvermögens, um die Grenzen ihrer Leistungsmöglichkeit zu markieren und um in den an sie anknüpfenden Wissenschaften keine Fehler zu machen. Die Kritik als ‚Kultur der Vernunft‘ ist somit primär für die Rechtfertigung der Tätigkeit von Philosophen und Wissenschaftlern notwendig, die nach allgemein gültiger Erkenntnis streben und dafür Begriffe der Vernunft gebrauchen. Sekundär ist die Kritik durch ihren Einfluss auf die Wissenschaften und deren empirischen Verbindung zur Welt auch allgemein für den Menschen nützlich. Für Kant bliebe der spekulative Philosoph „immer ausschließlich Depositär einer dem Publicum ohne dessen Wissen nützlichen Wissenschaft, nämlich der Kritik der Vernunft, denn die kann niemals populär werden, hat aber auch nicht nöthig es zu sein“ (KrV, B XXXIV). Einerseits ist es kein Problem, dass die Kritik der Vernunft als Kultur der Vernunft selbst nicht populär werden kann. Nicht jeder müsse Metaphysik studieren und dies sei auch nicht jedem möglich (vgl. Prol, AA 04: 263). Andererseits hat die Kritik auch Auswirkungen auf die sittliche Weltweisheit und somit auf die Möglichkeiten der Vernunft als Leitfaden und Bewegungsgrund moralischen Handelns. Das wird in Kants Konzeption seiner Moralphilosophie in der Grundlegung deutlich. Praktische Grundsätze der Vernunft als Leitfaden und Bewegungsgrund (1785): Die Sitten auf Prinzipien gründen und moralische Gesinnungen bewirken Da Kants Verwendung des Erziehungsbegriffs in enger Verbindung zu seiner Moralphilosophie steht, wird für einen Überblick seiner praktischen Philosophie mit der Gliederung der philosophischen Wissenschaften begonnen, die er der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als dem ersten größeren, moralphilosophischen Werk im Anschluss an die Kritik der reinen Vernunft voranstellt. Hier wird der Unterschied als auch der Zusammenhang von reiner und empirischer Ethik in Kants Moralphilosophie expliziert und es zeigt sich die

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doppelte Rolle der Vernunft als Leitfaden und Triebfeder für die Moralität des Menschen.44 Die Vorrede der Grundlegung beginnt mit einer Bezugnahme auf die Einteilung der griechischen Philosophie in Physik, Ethik und Logik. Kant hält sie „der Natur der Sache“ nach für angemessen und möchte sie nur um „das Princip derselben“ ergänzen (GMS, AA 04: 387). Die Logik gilt ihm als formal und beschäftige sich „bloß mit der Form des Verstandes und der Vernunft selbst“ (ebd.). Materiale Formen von Vernunfterkenntnis, die „irgend ein Object“ betrachten, können zwei unterschiedliche Gegenstände und Gesetze betreffen: Die Physik beschäftige sich mit Gesetzen der Natur und die Ethik oder Sittenlehre mit Gesetzen der Freiheit (ebd.). Während die Logik keinen empirischen Teil haben könne, gelte das nicht für Physik und Ethik. Den Grund dafür verortet Kant in der empirischen Verbindung der Gesetzesbestimmung: „Dagegen können sowohl die natürliche, als sittliche Weltweisheit jede ihren empirischen Theil haben, weil jene der Natur als einem Gegenstande der Erfahrung, diese aber dem Willen des Menschen, so fern er durch die Natur afficirt wird, ihre Gesetze bestimmen muß, die erstern zwar als Gesetze, nach denen alles geschieht, die zweiten als solche, nach denen alles geschehen soll, aber doch auch mit Erwägung der Bedingungen, unter denen es öfters nicht geschieht.“ (GMS, AA 04: 387f.)

Die Physik hat einen empirischen Teil, weil sie ihre Gesetze bestimmt, nach denen alles geschieht, indem sie sich auf die Natur als Gegenstand der Erfahrung bezieht. Die Ethik hat einen empirischen Teil, weil sie die Gesetze für den menschlichen Willen bestimmt, sofern dieser durch die Natur affiziert wird. Nach diesen Gesetzen soll alles geschehen. Die Gesetze der Freiheit haben einen empirischen Teil der Wissenschaft, da der Wille, welchen sie bestimmen sollen, durch die Natur affiziert wird, also eine empirische Verbindung aufweist. Daneben haben Physik und Ethik auch einen nicht empirischen, reinen Teil, der „lediglich aus Principien a priori ihre Lehren vorträgt“, wenn er auf bestimmte Gegenstände des Verstandes eingeschränkt wird (GMS, AA  04: 388). Diesen Teil nennt Kant Metaphysik und insofern gibt es sowohl eine Metaphysik der Natur als auch der Sitten. Den rationalen, reinen Teil der Ethik, nennt Kant „Metaphysik der Sitten“ oder „Moral“, den empirischen Teil der Ethik nennt er „praktische Anthropologie“ (ebd.).

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Der Erziehungsbegriff wird von Kant nicht in der Grundlegung verwendet. Wie auch in der Kritik benutzt er die Begriffe ‚Unterweisung‘ und ‚Cultur‘ für die Bezugnahme auf eine erzieherische Tätigkeit.

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Kant, der sich in der Grundlegung auf die sittliche Weltweisheit richtet, hält diese Trennung und ein ihr folgendes Vorgehen für wissenschaftlich notwendig: Zuerst müsse „einmal eine reine Moralphilosophie“ bearbeitet werden, die von allem Empirischen gesäubert sei (GMS, AA 04: 389). Eine Metaphysik der Sitten sei unentbehrlich, nicht nur um die „Quelle der a priori in unserer Vernunft liegenden praktischen Grundsätze zu erforschen“, „sondern weil die Sitten selber allerlei Verderbniß unterworfen bleiben, so lange jener Leitfaden und oberste Norm ihrer richtigen Beurtheilung fehlt“ (ebd.: 389f.). Kant erklärt das abstrakte und reine Erforschen einer Metaphysik der Sitten als notwendig, um einen Leitfaden für die empirische Bestimmung, des durch die Natur affizierten Willen des Menschen, nach Gesetzen der Freiheit zu generieren. Das deutet einen Praxisbezug von Kants Moralphilosophie an: Die empirisch reine Metaphysik der Sitten liefert einen Leitfaden für die konkreten Sitten und bietet eine Norm für ihre Beurteilung. Als Theorie bleibe die Metaphysik der Sitten auf einen empirischen, praktischen Teil der Ethik angewiesen, um wirksam zu werden. Reine Moralphilosophie gibt dem Menschen „als vernünftigem Wesen, Gesetze a priori, die freilich noch durch Erfahrung geschärfte Urtheilskraft erfordern, um theils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, theils ihnen Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen, da dieser, als selbst mit so viel Neigungen afficirt, der Idee einer praktischen reinen Vernunft zwar fähig, aber nicht so leicht vermögend ist, sie in seinem Lebenswandel in concreto wirksam zu machen.“ (GMS, AA 04: 389)

Die moralphilosophische Suche nach der ‚Idee einer praktischen reinen Vernunft‘ ist der grundlegende, orientierungsstiftende Teil eines Projektes, der mit einer praktischen Ethik komplementiert wird, und an dessen Ende die konkrete Wirksamkeit dieser Idee steht. Vor einer reinen Metaphysik der Sitten sei es „sogar im bloß gemeinen und praktischen Gebrauche, vornehmlich der moralischen Unterweisung, unmöglich“, die Sitten auf ihre echten Prinzipien zu gründen und „dadurch reine moralische Gesinnungen zu bewirken und zum höchsten Weltbesten den Gemüthern einzupfropfen“ (GMS, AA 04: 412). Für die Wirksamkeit in concreto bedarf es neben der Fähigkeit, diese Idee einzusehen, noch ‚durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft‘, um ihr Eingang in den Willen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen. Doch entdecke die reine Ethik etwas, das für die wirkliche Vollziehung ihrer Vorschriften von höchster Wichtigkeit sei: „Denn die reine und mit keinem fremden Zusatze von empirischen Anreizen vermischte Vorstellung der Pflicht und überhaupt des sittlichen Gesetzes hat

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auf das menschliche Herz durch den Weg der Vernunft (die hiebei zuerst inne wird, daß sie für sich selbst auch praktisch sein kann) einen so viel mächtigern Einfluß, als alle andere Triebfedern, die man aus dem empirischen Felde aufbieten mag, daß sie im Bewußtsein ihrer Würde die letzteren verachtet und nach und nach ihr Meister werden kann; an dessen Statt eine vermischte Sittenlehre, die aus Triebfedern von Gefühlen und Neigungen und zugleich aus Vernunftbegriffen zusammengesetzt ist, das Gemüt zwischen Bewegursachen, die sich unter kein Princip bringen lassen, die nur sehr zufällig zum Guten, öfters aber auch zum Bösen leiten können, schwankend machen muß.“ (GMS, AA 04: 410f.)

Die Vorstellung der Pflicht und des sittlichen Gesetztes, die Kant mit seiner Moralphilosophie erarbeitet, erlauben über den ‚Weg der Vernunft‘ nicht nur die Erkenntnis eines Leitfadens für die Praxis, der als Bedingung des Sittlichen und Korrektiv konkreter Handlungen dient. Durch das Bewusstsein der praktischen Vernunft, das Bewusstsein ihrer Würde, kommt es zu einem mächtigen Einfluss auf das menschliche Herz. Die reine Vorstellung der Pflicht und des sittlichen Gesetzes ist nicht nur ein Leitfaden für Orientierung, sondern eine prinzipielle Bewegursache, die stärker als alle anderen Triebfedern ist. Die praktische Vernunft bleibt in ihrer reinen Form somit auf doppelte Weise mit der Wirklichkeit des Menschen verbunden: Als Leitfaden bietet sie moralische Orientierung und als Bewegursache den Antrieb zu moralischen Handlungen. Das praktische Vermögen der Vernunft besteht darin, den Willen in Hinsicht auf die Vorstellung eines an sich guten Willens und seines Gesetzes zu bestimmen. Dass in der Welt und auch außer ihr nichts zu denken möglich sei, „was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“ (GMS, AA 04: 393), kann erklären, warum sich ausschließlich ein aus der Vernunft gewonnener Leitfaden zum moralischen Prinzip eignet. Denn alle anderen Talente des Geistes wie etwa Verstand, Witz, Urteilskraft oder Mut sind ambivalent: Sie können „in mancher Absicht gut“ und „äußerst böse und schädlich werden“ (ebd.). Verantwortlich dafür ist der Wille und wie er von ihnen Gebrauch macht. Seine Beschaffenheit nenne man darum Charakter (vgl. ebd.). Mit einem guten Willen lässt sich das Gemüt beeinflussen und „das ganze Prinzip zu handeln“ berichtigen und allgemein-zweckmäßig machen (ebd.). Ein guter Wille ist nicht durch seine tatsächliche Wirkung oder die Erreichung eines vorgesetzten Zweckes gut, „sondern allein durch das Wollen, d.i. an sich“ (GMS, AA 04: 394). Von einem bloßen Wunsch unterscheide er sich allerdings dadurch, dass er alle verfügbaren Mittel aufbiete, seine Absicht durchzusetzen. Aber sein Wert sei unabhängig von der konkreten Wirkung, weder Nützlichkeit noch Fruchtlosigkeit können seinem Wert etwas zusetzen oder abnehmen: Er glänzt wie ein Juwel, „als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat“ (ebd.).

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Dass wir durch unsere Vernunftfähigkeit in der Lage sind, uns ein solches Juwel vorzustellen, scheint bereits eine motivierende Kraft zu besitzen. Denn es wird uns möglich, ein unbedingtes Gutes zu denken, das unabhängig von ambivalenten, kontingenten und unzuverlässigen Wertungen einen Wert an sich hat. Als höchstes Gut ist er die Bedingung für alles andere Gute und ermöglicht die Schätzung des Werts menschlicher Handlungen. Passend zu der bisher bereits gezeigten Sonderrolle des Menschen als irdisches und vernünftiges Wesen, beschreibt Kant den Willen des Menschen auf einem „Scheidewege“, „zwischen seinem Princip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell ist“ (ebd.: 400). Ähnlich, wie die Perfektionierung des Menschen als Gattung mit Hindernissen zu kämpfen hat, schildert Kant das Handeln aus Pflicht als Nötigung des Willens: „Die Vorstellung eines objectiven Princips, sofern es für einen Willen nöthigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft), und die Formel des Gebots heißt Imperativ.“ (GMS, AA 04: 413) Der menschliche Wille wird seiner subjektiven Beschaffenheit nach nicht notwendig durch das objektive Gesetz der Vernunft bestimmt. Imperative sagen dem Willen, „daß etwas zu tun gut sein würde, allein sie sagen es einem Willen, der nicht immer darum etwas thut, weil ihm vorgestellt wird, daß es zu thun gut sei“ (ebd.). Das Folgen der Sollensansprüche der Vernunft ist nicht angenehm, sondern stellt eine Nötigung dar. Imperative sind immer „Formeln der Bestimmung der Handlung, die nach dem Princip eines in irgend einer Art guten Willens nothwendig ist“ (ebd.: 414). Inwiefern kann die Vernunft durch die Beobachtung der Pflicht also eine Triebfeder dazu sein, den Willen am Scheideweg nach einem formellen Prinzip zu bestimmen? Das Vermögen der Vernunft sorgt dafür, dass dem Menschen generell zwei Standpunkte möglich sind, von denen aus er „sich selbst betrachten“, die „Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen“ erkennen kann: Erstens insofern er „zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, als zur intelligiblen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sein“ (GMS, AA 04: 452). Um sich als Intelligenz selbst zu betrachten, muss der Mensch seine Vernunft als Selbsttätigkeit nutzen. Das ermöglicht ihm neben der Eingebundenheit in die Gesetze der Natur eben jenen zweiten Standpunkt einzunehmen, von dem aus er seine Freiheit als zu einer intelligiblen Welt gehörendes Wesen erkennt. „Denn jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens sammt ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig.“ (GMS, AA 04: 453)

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Für die motivierende Kraft der Vernunft finden sich somit zwei Gründe. Zum einen können wir uns als vernunftbegabte Wesen als frei denken und auf diese Art den glänzenden, an sich guten Willen vorstellen, der uns moralischen Wert erkennen lässt. Zum anderen können wir uns als vernunftbegabte und irdische Wesen als verpflichtet denken. Indem wir uns so als beiden Welten zugleich angehörig betrachten, können wir unseren Willen am Scheideweg gemäß der Pflicht bestimmen und uns dadurch von sinnlichen, nicht selbst gewählten Willensaffizierungen befreien. Kants eindrucksvolles Beispiel dafür ist, trotz unsäglicher Schmerzen der Neigung nicht nachzugeben und aus Pflicht heraus am Leben zu bleiben (vgl. GMS, AA 04: 398). Im Gehorchen der Pflicht liegt eine Kraft des Menschen, die ihm Macht über seine Neigungen verschafft. Gehorcht der Mensch seiner Pflicht, befreit er sich von den äußeren Einflüssen. Der Verstandeswelt-Standpunkt ermöglicht es, Mensch und Menschheit als moralische Wesen wahrzunehmen, denn „die vernünftige Natur existirt als Zweck an sich selbst“ (GMS, AA 04: 429). Die gleichsame Verortung in Sinnenund Verstandeswelt ermöglicht es, die Handlungen des Willens, der sich immer empirisch auf die Sinnenwelt bezieht, an den Zweck der vernünftigen Natur anzupassen: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (ebd.) Durch unseren Anteil an der intelligiblen Welt und das Vermögen der Autonomie, unsere Vernunft praktisch werden zu lassen, können wir unseren Handlungen einen moralischen Wert geben. Zwar lässt sich dieser äußerlich nicht feststellen, doch erlaubt er es uns, andere Menschen und uns selbst in der Welt nicht nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck zu betrachten und dieser Vorstellung gemäß zu handeln. In den Zusammenhängen der Sinnenwelt können wir nicht sicher sein, ob wir durch das am Moralgesetz orientierte Handeln glücklich werden (im Sinne von Glückseligkeit), doch können wir sicher sein, uns unserer Würde gemäß verhalten zu haben. Das könne motivieren, denn in der Unabhängigkeit von sinnlichen Triebfedern bestehe eine „Erhabenheit“ und die „Würdigkeit eines jeden vernünftigen Subjects, ein gesetzgebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein“ (ebd.: 439). Von der Wirksamkeit der Pflichtbeobachtung, von der Qualität der Vernunft als Triebfeder zur prinzipiellen Willensbestimmung ist Kant überzeugt. Selbst der „ärgste Bösewicht“ könne, „wenn er nur sonst Vernunft zu gebrauchen gewohnt ist“, bei Beispielen der „Redlichkeit in Absichten, der Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Teilnehmung und des allgemeinen Wohlwollens“ nicht anders, als sich zu wünschen, „daß er auch so gesinnt sein möchte“ (GMS, AA 04: 454). Dabei wären ihm nur die Neigungen und Antriebe im Wege, von denen er sich deswegen wünsche, frei zu sein (vgl.

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ebd.). Da selbst Kinder die Erhabenheit der Vernunft als Triebfeder spüren, solle man ihnen die Pflichten nicht vermischt mit empirischen Anreizen sondern in ihrer Reinheit vorstellen: „Denn die gemeinste Beobachtung zeigt, daß, wenn man eine Handlung der Rechtschaffenheit vorstellt, wie sie von aller Absicht auf irgend einen Vortheil in dieser oder einer andern Welt abgesondert selbst unter den größten Versuchungen der Noth oder der Anlockung mit standhafter Seele ausgeübt worden, sie jede ähnliche Handlung, die nur im mindesten durch eine fremde Triebfeder afficirt war, weit hinter sich lasse und verdunkle, die Seele erhebe und den Wunsch errege, auch so handeln zu können.“ (GMS, AA 04: 410 FN2)

Während es die Aufgabe des Philosophen ist, das Moralgesetz als Prinzip zu begründen, zeigt es bereits im allgemeinen Vernunftvermögen des Menschen seine Kraft und Gültigkeit. Für das Prinzip einer möglichen, allgemeinen Gesetzgebung „zwingt mir die Vernunft unmittelbare Achtung ab“, denn „die allgemeine Menschenvernunft“ versteht bereits bei der Vorstellung eines allgemeinen Gesetzes für den Willen, „daß es eine Schätzung des Werthes sei, welcher allen Werth dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit überwiegt, und daß die Nothwendigkeit meiner Handlungen aus reiner Achtung fürs praktische Gesetz dasjenige sei, was die Pflicht ausmacht, der jeder andere Bewegungsgrund weichen muß, weil sie die Bedingung eines an sich guten Willens ist, dessen Werth über alles geht“ (GMS, AA 04: 403). Als die Bedingung der Möglichkeit sich einerseits als Glied einer Verstan­ deswelt und damit verbunden die Autonomie als Kausalität des Willen mitsamt der Folge der Moralität zu erkennen und andererseits sich als verpflichtet zu denken und den Willen am Scheideweg durch ein formelles Prinzip zu bestimmen, zeigt sich das allgemeine Vernunftvermögen des Menschen. Diese Vernunft kann sich einen guten Willen an sich vorstellen, der das einzige ist, was in der Welt ohne Einschränkung gut sein kann. Als Begriff wohne der an sich gute Wille bereits „dem natürlichen gesunden Verstande“ bei, weswegen er „nicht sowohl gelehrt als vielmehr nur aufgeklärt zu werden bedarf“ (GMS, AA  04: 397). Das ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass der Mensch durch die Kultur seiner Vernunft einerseits einen allgemeinen Leitfaden für moralisches Handeln formulieren kann und andererseits durch seinen Vernunftgebrauch zur Achtung für das Gesetz, zum Gehorsam der Pflicht gezwungen wird, einen ihr gemäßen Einfluss auf seinen Charakter, seine Beschaffenheit des Willens zu nehmen. Der Begriff eines an sich guten Willens müsse nicht gelehrt, sondern, da er dem natürlichen Verstande bereits beiwohne, nur aufgeklärt werden. Das weist daraufhin, dass der Ursprung dazu, in der menschlichen Vernunftanlage liegt, jedoch die Erkenntnis des

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damit verbundenen Imperativs von dem aktiven Gebrauch abhängig ist, den der Mensch von seiner Vernunft macht. Hinweise dafür finden sich in Kants Formulierungen der ‚Vernunft als praktisches Vermögen‘, der ‚Kultur der Vernunft‘ und der Achtung nicht als „empfangenes“, sondern „durch den Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ (GMS, AA 04: 400 FN2). Auch wenn der Begriff eines guten Willen und mit ihm Prinzipien der Moralität in der Vernunftanlage des Menschen liegen und dies der Grund für den Menschen ist, seinen moralischen Wert erkennen und seinen Handlungen moralischen Wert geben zu können, muss dieser, um praktisch zu werden, ‚aufgeklärt‘ werden. Neben der Vernunftanlage des Menschen ist ihre Aktivierung, die Kultur der Vernunft, eine weitere Bedingung der Möglichkeit sich als frei und verpflichtet zu denken. Die Möglichkeiten von moralischer Erziehung als mittelbarer Einfluss (1788-98): Pflichtbeobachtung, Gutes Beispiel, Kasuistik, Katechismus, Asketik, Reform der Sinnesart Aus den bisher skizzierten Grundansichten von Kants kritischer Philosophie wurde deutlich, dass es für ihn nur einen ‚Lehrer im Ideal‘ gibt und das ist die sich selbst gebrauchende und übende Menschenvernunft. Als praktische Vernunft ist sie nicht nur ein Lehrer, der einen Leitfaden bietet, Gesetze nach denen alles geschehen soll, sondern sie ist auch die Motivation, alles daran zu setzen, sie zum Grundsatz der Handlungen, zum Bewegungsgrund des auf die Welt gerichteten Willens zu machen. Alle Erziehung kann insofern nur ein mittelbarer Einfluss auf die unmittelbaren Wirkungen der je eigenen Vernunft sein, ein Beitrag oder ein Versuch bereits vorhandene Begriffe aufzuklären. Wie sich Kant das vorstellt, welche Formen von Erziehung er empfiehlt, soll nun näher erarbeitet werden. Trotz des in der Grundlegung angedeuteten, möglichen Einflusses durch eine moralische Unterweisung und dem zwingenden Charakter der Pflichtbeobachtung ist Erziehung als Mittel keine Garantie für die Verbesserung von Sittlichkeit. Wie Kant zu Beginn seiner Kritik der praktischen Vernunft feststellt, ist Erziehung wie die bürgerliche Verfassung ein materialer, praktischer Bestimmungsgrund von Sittlichkeit und eignet sich als empirischer und äußerlicher Grund nicht zum Prinzip der Sittlichkeit (vgl. KpV, AA 05: 40f.). Am Ende versucht er dennoch zu zeigen, „wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüth, Einfluß auf die Maximen desselben verschaffen“ kann und weist auf „die allgemeinen Maximen der Methodenlehre einer moralischen Bildung und Übung“ hin (KpV, AA 05: 151161). Es sei zwar nicht abzustreiten, dass man ein „noch ungebildetes“ oder „verwildertes Gemüth“ zuerst durch vorbereitende Anleitung „ins Gleis des

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moralisch Guten“ zu bringen versuche und es dazu mit dem eigenen Vorteil locke oder durch möglichen Schaden schrecke: „[A]llein so bald dieses Maschinenwerk, dieses Gängelband nur einige Wirkung gethan hat, so muß durchaus der reine moralische Bewegungsgrund an die Seele gebracht werden, der nicht allein dadurch, daß er der einzige ist, welcher einen Charakter (praktische consequente Denkungsart nach unveränderlichen Maximen) gründet, sondern auch darum, weil er den Menschen seine eigene Würde fühlen lehrt, dem Gemüthe eine ihm selbst unerwartete Kraft giebt, sich von aller sinnlichen Anhänglichkeit, so fern sie herrschend werden will, loszureißen und in der Unabhängigkeit seiner intelligibelen Natur und der Seelengröße, dazu er sich bestimmt sieht, für die Opfer, die er darbringt, reichliche Entschädigung zu finden. (KpV, AA 05: 152)

Zwar könne einzig der reine moralische Bewegungsgrund zu einer Charaktergründung als praktisch konsequente Denkungsart führen, den Menschen seine eigene Würde fühlen lehren und dem Gemüt eine unerwartete Kraft geben. Da der Mensch ein irdisch-vernünftiges Wesen und somit immer ein Teil der Sinnenwelt ist, kann sich der Lehrer aber dennoch in der moralischen Unterweisung das ‚Maschinenwerk‘ kurzzeitig zu Nutze machen. Sein Hauptziel müsse es dabei jedoch sein, den reinen moralischen Bewegungsgrund an die Seele zu bringen. Das Mittel dafür ist, „durch Beobachtungen, die ein jeder anstellen kann“, die Eigenschaft des Gemüts, „die bewegende Kraft der reinen Vorstellung der Tugend“ zu beweisen (KpV, AA  05: 152f.). Kant fragt sich, „warum die Erzieher der Jugend von diesem Hange der Vernunft, in aufgeworfenen praktischen Fragen selbst die subtilste Prüfung mit Vergnügen einzuschlagen“ sich nicht längst zu Nutze gemacht haben (ebd.: 154). Es scheint also möglich zu sein, als Lehrer von außen durch das Fragen und das Aufwerfen von moralischen Themen, den Schülern zu helfen, sich des Vermögens der Vernunft und der damit verbundenen moralischen Triebfeder bewusst zu werden, weil es einen ‚Hang der Vernunft‘ dazu gibt. Wie bereits gezeigt, ermöglicht die reine Vernunfterkenntnis einen orien­ tierenden Leitfaden und eine oberste Norm für die Beurteilung sittlichen Verhaltens. Folgerichtig fordert Kant fünf Jahre nach der zweiten Kritik in seinem Aufsatz Über den Gemeinspruch das, „was die Vernunft zur obersten Bedingung macht“, nämlich die Würdigkeit glücklich zu sein, zum „Grundsatz der Erziehung“ zu machen (TP, AA 08: 288). Der Gebrauch der Vernunft ist dabei zugleich die Quelle des orientierenden Leitfadens als auch das überzeugende Mittel, sich tatsächlich an ihm zu orientieren: „Und wenn der Mensch öfters darauf aufmerksam gemacht und gewöhnt würde, die Tugend von allem Reichthum ihrer aus der Beobachtung der Pflicht

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zu machenden Beute von Vortheilen gänzlich zu entladen und sie in ihrer ganzen Reinigkeit sich vorzustellen; wenn es im Privat- und öffentlichen Unterricht Grundsatz würde davon beständig Gebrauch zu machen (eine Methode, Pflichten einzuschärfen, die fast jederzeit versäumt worden ist): so müßte es mit der Sittlichkeit der Menschen bald besser stehen.“ (TP, AA 08: 288)

Durch den Unterricht könne der Mensch aufmerksam gemacht und daran gewöhnt werden, die Pflicht zu beobachten, sie sich in ihrer ganzen Reinigkeit vorzustellen. Würden Lehrer in diesem Sinne eine Methode verwenden, um ‚Pflichten einzuschärfen‘, müsste das reale Konsequenzen haben und zu einer Verbesserung der Sittlichkeit führen. Das Pflichten einschärfen, zielt auf die je eigene Fähigkeit der Schüler, sich innerlich die Pflicht vorzustellen und in ihrer Reinheit zu beobachten. Die erzieherische Wirkung des Lehrers beschränkt sich darauf, die Schüler auf die Möglichkeit der Pflichtbeobachtung aufmerksam zu machen, sie zum Gebrauch der Vernunft anzuregen. Kommt es zu einer sittlichen Verbesserung, liegt das in der erzieherischen Wirkung der je eigenen Vernunft, desjenigen, der sie gebraucht, um sich die Pflichten vorzustellen. Der „Idee der Pflicht“ räumt Kant die Kraft ein, „unmittelbar auf das Gemüth“ zu wirken und auch ohne konkrete Nachteile aus einer etwaigen Übertretung, würde sie dem Menschen Rücksicht abverlangen, weil diese „den Menschen in seinen eigenen Augen verwerflich und strafbar macht“ (TP, AA 08: 288). Der Lehrer kann darauf lediglich mittelbar Einfluss nehmen, indem er auf diese Möglichkeit der inneren Instanz aufmerksam macht. Die in Bezug auf den Bildungsbegriff festgestellte Sonderrolle des Menschen in der Natur macht sich auch im Kontext des Erziehungsbegriffs bemerkbar. Denn trotz der möglichen Wirkungen des äußerlichen Maschinenwerks und der zwingenden Kraft der Pflicht, lässt Kant weiterhin keinen Zweifel daran, dass der Mensch selbst verantwortlich für sein Werden ist: „Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen, oder gemacht haben.“ (RGV, AA  06: 44) Er stellt zwei Wege des Menschen vor, um ein guter Mensch zu werden: Die „Revolution für die Denkungsart, die allmähliche Reform aber für die Sinnesart“ (ebd.: 47). Erstere bestehe als intelligible Tugend (virtus noumenon) in einer plötzlichen „Herzensänderung“, zweite als empirische Tugend (virtus phaenomenon) in einer allmählichen „Änderung der Sitten“ (ebd.). Konsequent in Hinsicht auf den prinzipiellen Leitfaden und die vernünftige Triebfeder als Bedingung moralischen Handelns folgert Kant: Die „moralische Bildung des Menschen“ habe nicht von der „Besserung der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart“ und der „Gründung eines Charakters“ anzufangen (ebd.: 48). Wie bereits in der Grundlegung zeigt er sich dabei von dem Mittel und der Wirksamkeit der Pflichtbeobachtung überzeugt. Selbst der „eingeschränkteste

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Mensch“ sei „des Eindrucks einer desto größeren Achtung für eine pflichtmäßige Handlung fähig, je mehr er ihr in Gedanken andere Triebfedern“ entziehe, wie etwa die Selbstliebe, die auch auf die Maxime der Handlung Einfluss haben könne (ebd.). Und „selbst Kinder“ seien fähig, „die kleinste Spur von Beimischung unechter Triebfedern aufzufinden: da denn die Handlung bei ihnen augenblicklich allen moralischen Wert verliert“: „Diese Anlage zum Guten wird dadurch, daß man das Beispiel selbst von guten Menschen (was die Gesetzmäßigkeit derselben betrifft) anführt und seine moralischen Lehrlinge die Unlauterkeit mancher Maximen aus den wirklichen Triebfedern ihrer Handlungen beurtheilen läßt, unvergleichlich cultivirt und geht allmählig in die Denkungsart über: so daß Pflicht bloß für sich selbst in ihren Herzen ein merkliches Gewicht zu bekommen anhebt.“ (RGV, AA 06: 48)

Ob das moralische Handeln von Menschen auf einer tatsächlichen ‚Revolution der Denkungsart‘ basiert, oder auf einer allmählichen ‚Reform der Sinnesart‘, kann nur der einzelne Mensch selbst wissen. Interessant ist, dass die ‚Anlage zum Guten‘ durch Beispiele für gesetzmäßig gute Menschen und der Beurteilung der zugrunde liegenden Maximen ‚unvergleichlich cultivirt‘ werden kann. So scheint ein Übergang von der empirischen zur intelligiblen Tugend, ein Weg von der Reform der Sinnesart zur Revolution der Denkungsart möglich zu sein, da durch die Aufmerksamkeit auf die Pflicht, die Pflicht in den Herzen der Lehrlinge ‚merkliches Gewicht‘ bekomme. Zwölf Jahre nach seiner in der Grundlegung aufgeführten Vorstellung einer zweigeteilten Ethik erscheint 1797 mit der Metaphysik der Sitten das Werk, welches einen empirisch-reinen Leitfaden für die konkreten Sitten ausarbeiten und eine Norm zu ihrer Beurteilung bieten sollte. Wie sich Kant moralische Erziehung vorstellt, lässt sich insbesondere mit dem Vorgehen in seiner Tugendlehre näher erklären. Denn anders als in der Rechtslehre komme es in der Ethik durch die unvollkommenen Pflichten zu einem Spielraum, der die Urteilskraft auffordere, „auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei“ (MS, AA  06: 411). Deswegen schließt Kant an seine Elementarlehre eine Methodenlehre an. Sie enthält die „Casuistik“, als „Übung, wie die Wahrheit solle gesucht werden“ und unterteilt sich in eine „Katechetik als theoretischer Übung“ und dem praktischen Gegenstück, der „Ascetik, welche derjenige Theil der Methodenlehre ist, in welchem nicht bloß der Tugendbegriff, sondern auch, wie das Tugendvermögen sowohl als der Wille dazu in Ausübung gesetzt und cultivirt werden könne, gelehrt“ werden solle (ebd.: 411f.). Wie sich bereits in Bezug auf die Grundlegung herausgestellt hat, ist es zweierlei, die Pflicht zu beobachten, sich vorzustellen, und den Willen ihr

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gemäß zu bestimmen, tätig zu werden. Deswegen, so lässt sich schließen, gelte es als Lehrer, beides zu lehren: Den Tugendbegriff und das Tugendvermögen. Tugend als das sittliche Vermögen des Menschen müsse gelehrt werden, da es nicht angeboren ist: „Denn das sittliche Vermögen des Menschen wäre nicht Tugend, wenn es nicht durch die Stärke des Vorsatzes in dem Streit mit so mächtigen entgegenstehenden Neigungen hervorgebracht wäre. Sie ist das Product aus der reinen praktischen Vernunft, so fern diese im Bewußtsein ihrer Überlegenheit (aus Freiheit) über jene die Obermacht gewinnt.“ (MS, AA 06: 477)

Allein zu wissen, wie man sich verhalten solle, bringe jedoch noch nicht die Kraft, die zur Ausübung dieser Regeln nötig sei. Deswegen ist es für eine Unterweisung in der Tugend auch wichtig, die Anwendung zu üben. Neben der „bloßen Vorstellung der Pflicht“ käme es zudem darauf an, „durch Versuche der Bekämpfung des inneren Feindes im Menschen“ Tugend asketisch, als Stärke zu kultivieren (MS, AA 06: 477). Wie beschreibt Kant die Katechetik als theoretische und die Asketik als praktische Lehre der Tugend näher? Im Vergleich zu einem religiösen Katechismus wird der moralische Katechismus als Grundlehre der Tugendpflichten „aus der gemeinen Menschenvernunft (seinem Inhalte nach) entwickelt“ (MS, AA 06: 479). Die Unterweisung betreffe lediglich die Form, mit welcher der Lehrer versucht, die Antwort „aus der Vernunft des Lehrlings“ methodisch herauszulocken (ebd.). In Hinsicht auf den Unterricht besteht die erzieherische Aufgabe des Lehrers in der äußerlichen Aktivierung der Vernunft des Schülers durch Fragen. Als ein weiteres, technisches „Mittel der Bildung zur Tugend“ nennt Kant „das gute Beispiel an dem Lehrer selbst (von exemplarischer Führung zu sein) und das warnende an Anderen“ (ebd.: 479). Zwar sei die Nachahmung „dem noch ungebildeten Menschen die erste Willensbestimmung“ zur Annehmung von Maximen, doch sei sie „ein Mechanism der Sinnesart“ und nicht das „Princip der Denkungsart“, auf dem Kants Moralkonzeption fußt (ebd.). Die „Kraft des Exempels“, das „was uns Andere geben“, kann keine Tugendmaxime begründen, denn diese „besteht gerade in der subjectiven Autonomie der praktischen Vernunft eines jeden Menschen“ (ebd.: 480). Hier wird die Grenze erzieherischer Einflussnahme durch andere Personen deutlich: Denn zur subjektiven Autonomie müsse „das Gesetz uns zur Triebfeder dienen“, nicht „Anderer Menschen Verhalten“ (ebd.). Das weist daraufhin, dass die je eigene Vernunft nicht nur eine Möglichkeit ist, uns zu moralischem Verhalten zu motivieren, sondern die einzige. Kant schränkt das gute Beispiel als Methode moralischer Unterweisung deswegen ein:

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Kapitel 3 „Das gute Exempel (der exemplarische Wandel) soll nicht als Muster, sondern nur zum Beweise der Thunlichkeit des Pflichtmäßigen dienen. Also nicht die Vergleichung mit irgend einem andern Menschen (wie er ist), sondern mit der Idee (der Menschheit), wie er sein soll, also mit dem Gesetz, muß dem Lehrer das nie fehlende Richtmaß seiner Erziehung an die Hand geben.“ (MS, AA 06: 480)

Was durch das konkrete gute Beispiel des Lehrers demonstriert wird, ist nicht dasjenige, was zuverlässig moralische Orientierung geben kann. Ausschließlich das Vernunftgesetz und die durch die Vernunft mögliche Idee der Menschheit taugt als ‚Richtmaß‘ der Erziehung. Dennoch kommt dem guten Beispiel, etwa dem des Lehrers, eine Funktion zu: Es erlaubt eine Anschauung des exemplarischen Wandels und dient somit zum Beweis dafür, dass das Pflichtmäßige auch das Tunliche ist, also das, was tatsächlich angeraten ist. Es folgt ein Beispiel für einen moralischen Katechismus, eine Skizze für mögliche Fragen des Lehrers, mit denen er sich an die Vernunft der Schüler wendet. In der katechetischen Moralunterweisung würde es „zur sittlichen Bildung von großem Nutzen sein“, bei jeder Pflichtzergliederung einige fallbezogene Fragen aufzuwerfen und die Kinder selbstständig versuchen zu lassen, die Aufgaben zu lösen (MS, AA 06: 483). Einerseits entspreche diese Methode der jeweiligen Fähigkeit der Kinder, andererseits würde durch das aktive Üben gleichsam ein Interesse an der Sittlichkeit geweckt: „Nicht allein daß dieses eine der Fähigkeit des Ungebildeten am meisten ange­ messene Cultur der Vernunft ist (weil diese in Fragen, die, was Pflicht ist, betreffen, weit leichter entscheiden kann, als in Ansehung der speculativen) und so den Verstand der Jugend überhaupt zu schärfen die schicklichste Art ist: sondern vornehmlich deswegen, weil es in der Natur des Menschen liegt, das zu lieben, worin und in dessen Bearbeitung er es bis zu einer Wissenschaft (mit der er nun Bescheid weiß) gebracht hat, und so der Lehrling durch dergleichen Übungen unvermerkt in das Interesse der Sittlichkeit gezogen wird.“ (MS, AA 06: 483f.)

Allein die stetige, selbstständige Beschäftigung des Schülers kann unvermerkt dazu führen, dass der Schüler ein Interesse an der Sittlichkeit entwickelt. Verantwortlich dafür ist ‚die Natur des Menschen‘, in der es liegt, das zu lieben, worin er Fortschritte gemacht hat und womit er sich auskennt. Setzt man allerdings auf die Gewohnheit durch Übung, sei es ausschlaggebend, „in der Erziehung“ den moralischen Katechismus nicht mit dem Religionskatechismus zu vermischen, „sondern jederzeit den ersteren und zwar mit dem größten Fleiße und Ausführlichkeit zur klärsten Einsicht zu bringen“ (MS, AA 06: 484). Selbst wenn sich die moralische Unterweisung den ‚Mechanism der Sinnesart‘ zu Nutze macht, indem sie auf einen Katechismus, auf Gewohnheit und

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methodisches Üben setzt, darf dabei nur das Moralgesetz oder ‚die Idee der Menschheit‘ das ‚Richtmaß‘ der Erziehung sein. Die moralische Asketik als „Cultur der Tugend“ solle dazu führen, sich bei der Befolgung der Pflicht in einer „wackeren und fröhlichen“ Gemütsstimmung zu befinden (MS, AA 06: 484). Auch wenn sich hier keine konkreten Ratschläge für den Lehrer finden, wie etwa die exemplarischen Fragestellungen des moralischen Katechismus, liest sich dieser Hinweis im Kontext der bisherigen Exegese als Reminiszenz an die Bedeutung der Empfindung in den frühen Schriften. Damals hoffte Kant, das „unentdeckte Geheimniß der Erziehung“ könne dazu führen, „das sittliche Gefühl frühzeitig in dem Busen eines jeden jungen Weltbürgers zu einer thätigen Empfindung zu erhöhen“ (GSE, AA 02: 256). Auch wenn sich durch seine kritische Philosophie die grundsätzliche Bedeutung von Gefühlen im Zusammenhang mit Moralität geändert hat, erhält die Empfindung für tugendhaftes Handeln einen Stellenwert, denn: „[W]as man aber nicht mit Lust, sondern blos als Frohndienst thut, das hat für den, der hierin seiner Pflicht gehorcht, keinen inneren Werth und wird nicht geliebt, sondern die Gelegenheit ihrer Ausübung so viel möglich geflohen.“ (MS, AA 06: 484)

Es müsse also noch etwas Motivierendes hinzukommen, um die Stärke aufzubringen, gegen die Hindernisse der Tugend zu kämpfen. Etwas, das Lebensgenuss und Moralität verbinden könne, sei „das jederzeit fröhliche Herz“ (MS, AA 06: 485). Kant empfiehlt es, den Schülern bewusst zu machen, dass man den besten Grund dazu habe, „frohen Muths zu sein“, wenn man auf die Pflicht höre und sich gerade darum „keiner vorsetzlichen Übertretung bewußt“ sei (ebd.). Tugend ist zwar ein Kampf mit Hindernissen und verlangt Stärke, doch belohnt die Pflicht einen damit, sich nichts vorwerfen zu müssen. Der Pflicht zu gehorchen, ist die Rechtfertigung für ein fröhliches Herz. Zwar hat eine Handlung nur moralischen Wert, wenn sie nicht aus einem äußeren Anreiz heraus geschieht, sondern aus einem inneren Prinzip, aus Pflicht, doch das bedeutet nicht, dass man finster und mürrisch sein müsse. Im Gegenteil, man habe gerade deswegen den besten Grund dafür, mit sich zufrieden sein zu dürfen: „Die Zucht (Disciplin), die der Mensch an sich selbst verübt, kann daher nur durch den Frohsinn, der sie begleitet, verdienstlich und exemplarisch werden.“ (ebd.) Ein weiteres Jahr später, 1798, folgt mit der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht der zweite Teil der Ethik, der auf Erfahrung fußt und als praktischempirischer Teil dazu beitragen könne, die Gesetze, nach denen alles geschehen soll, in concreto zu verwirklichen (vgl. GMS, AA 04: 389). Kant bleibt dabei, dass die innere, praktisch-konsequente Denkungsart, sein Handeln nach Maximen

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auszurichten, die sich am Moralgesetz orientieren, die Bedingung dafür ist, ob der Mensch moralisch gut ist. Charakter oder Denkungsart bezeichnet „diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subject sich selbst an bestimmte praktische Principien bindet“, die es sich durch eigene Vernunft fest vorgeschrieben hat (Anth, AA 07: 292). Dabei käme es nicht auf das an, was die Natur aus dem Menschen, sondern was dieser aus sich selbst mache (vgl. ebd.). Deswegen ist es eine Leistung des Menschen, über die Eigenschaft eines Charakters als Denkungsart zu verfügen: „Der Mensch, der sich eines Charakters in seiner Denkungsart bewußt ist, hat ihn nicht von der Natur, sondern muß ihn jederzeit erworben haben.“ (ebd.: 294) Ob der Mensch seine Vernunft und seine Stärke dafür nutzt, liegt an ihm. Zwar kann die Erziehung zu einer Gründung des Charakters beitragen, doch zentral ist dabei die Selbsttätigkeit, der Entschluss desjenigen, der seine Vernunft gebraucht: „Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit und Beharrlichkeit in Grundsätzen überhaupt nicht nach und nach, sondern nur gleichsam durch eine Explosion, die auf den Überdruß am schwankenden Zustande des Instincts auf einmal erfolgt, bewirken.“ (Anth, AA 07: 294)

Wichtiger als Erziehung, Beispiele und Belehrung ist der Entschluss, sich an bestimmte praktische Prinzipien zu binden, die einem die eigene Vernunft vorschreibt. Weisheit sei „als die Idee vom gesetzmäßig-vollkommenen praktischen Gebrauch der Vernunft“ laut Kant vom Menschen, der immer auch ein sinnliches Wesen sei, zu viel verlangt, jedoch bliebe es von enormer Wichtigkeit, sich bei Annäherungsversuchen bewusst zu machen, dass man sie „selbst dem mindesten Grade nach“ nicht durch andere erhalten könne, sondern sie „aus sich selbst herausbringen“ müsse (Anth, AA  07: 200). Drei Maximen können dazu führen: „1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mittheilung mit Menschen) an die Stelle des Anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.“ (ebd.) Das sind die Ratschläge, die Kant im empirischpraktischen Teil seiner Ethik dem einzelnen Menschen für dessen Werden mitgibt. Den Weg bis zum vollständigen Vernunftgebrauch parallelisiert er mit der Entwicklung des Menschen im fortschreitenden Alter. Zunächst gehe es darum, bis etwa zum 20. Lebensjahr die Vernunft zur Geschicklichkeit als Kunstvermögen „zu beliebiger Absicht“ zu entwickeln, dann bis zum 40. Lebensjahr in Ansehung der Klugheit „andere Menschen zu seinen Absichten zu brauchen“, bevor ab dem 60. Lebensjahr die Entwicklungsstufe der Weisheit erreicht werden könne (ebd.). Erst dann habe man allererst gelernt, wie man hätte leben sollen. Aus den hier zusammengetragenen Aspekten einer moralischen Unterweisung, einer Erziehung durch Pflichtbeobachtung, lässt sich festhalten, dass

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die einzige Triebfeder für das Gründen eines Charakters als Denkungsart und somit die Möglichkeit für Sittlichkeit überhaupt von Kant in dem je eigenen Vernunftvermögen des Menschen verortet wird. Diese Gründung erfolgt als ‚Herzensänderung‘, „durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben)“, die aus ihm „durch eine Art von Wiedergeburt“ einen neuen Menschen macht (RGV, AA 06: 47). Denn der Mensch hat nun einen Charakter als Denkungsart, entstanden aus einer „Explosion, die auf den Überdruß am schwankenden Zustande des Instincts auf einmal erfolgt“ (Anth, AA  07: 294). In diesem Sinne sei es ein vergeblicher Versuch, fragmentarisch ein besserer Mensch werden zu wollen. Der Einzelne findet die Möglichkeit dazu in der „Gründung eines Charakters“, einer absoluten Einheit des „innern Princips des Lebenswandels überhaupt“ (ebd.: 295). Dem inneren Prinzip und der Revolution der Denkungsart gegenüber steht allerdings die allmähliche ‚Änderung der Sitten‘, die ‚Reform der Sinnesart‘ und der ‚Mechanism der Sinnesart‘. Zumindest mittelbar scheint dadurch ein Einfluss auf die Revolution der Charaktergründung möglich. Etwa, indem Lehrer, die sich in ihrer Unterweisung an der Idee der Menschheit als Richtmaß orientieren, Fragen stellen, die den Hang der Vernunft anregen, selbst Prüfungen anzustellen. Oder Beispiele für gesetzesmäßiges Handeln aufgezeigt und diesbezüglich geprüft werden, sei es anhand von anderen Personen oder durch das gute Exempel des Lehrers selbst. Auch wenn durch Gewohnheit und methodisches Üben nur schrittweise durch den Mechanismus der Sinnesart zu einer Reform der Sinnesart, einer Änderung der Sitten beigetragen werden könne, so werde die ‚Anlage zum Guten‘ des Lehrlings dadurch dennoch unvergleichlich kultiviert. Eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Pflichten weckt ein ‚Interesse der Sittlichkeit‘ und räumt der Pflicht ein immer merklicheres Gewicht ein. Die Auseinandersetzung mit dem Tugendbegriff und dem Tugendvermögen könne zu einer ‚Kultur der Tugend‘ beitragen. Die Untersuchung von Kants Erziehungsbegriff zeigt, dass eine erzieherische Einflussnahme nicht nur unmittelbar von einem inneren Prinzip und einer inneren Triebfeder veranlasst werden kann, sondern diese auch mittelbar durch äußere Einflüsse unterstützt werden kann. Die innere Revolution der Denkungsart und die allmähliche Reform der Sinnesart in Kants späten moralphilosophischen Überlegungen lassen sich mit der bereits in Bezug auf den Bildungsbegriff früh identifizierten Spannung in der Vollkommenheitskonzeption parallelisieren. Bereits die Überlegungen in der Allgemeinen Naturgeschichte lassen zwei Perspektiven auf den Menschen innerhalb der Bildung der Natur zu: Seine materiell-körperliche Ausbildung und die damit verbundenen geistigen Entwicklungen können

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einerseits als graduelle Bewegung zu einer partikulären Vollkommenheit verstanden werden und andererseits als eingebettet in einen das Ganze der Natur umfassenden göttlichen Plan der Vollkommenheit. Ähnlich ist es den Ausführungen der Grundlegung folgend dem Menschen möglich, sich selbst von einem intelligiblen Standpunkt als Intelligenz zu betrachten: Von hier aus kann er seine Würde erkennen, sich frei denken und seinen Handlungen unbedingten moralischen Wert geben, indem er sich das Moralgesetz zur Maxime macht, sich in der Sinnenwelt als verpflichtet denkt und demgemäß handelt. Gleichsam können die Handlungen als Teil der Sinnenwelt immer nur eine Annäherung zum Guten darstellen, da der Mensch hier nie ausschließlich Zweck an sich selbst, sondern auch Mittel ist. Das zeitlich unbedingte, absolute Gute ist somit eine innerliche Vorstellung der praktischen Vernunft, das zeitlich bedingte Gute ist somit eine äußerliche, graduelle Annäherung an diese Vorstellung. Die Möglichkeit, die Kant dem Menschen als konsequentpraktische Denkungsart einräumt, ist eine Art Brückenschlag zwischen innerlicher, absoluter Vollkommenheit und äußerlicher Annäherung. Indem der Mensch sich nicht nur nach den Gesetzen der Natur richtet, nach denen alles geschieht, sondern konsequent nach dem Gesetz der Freiheit, nach dem alles geschehen soll, hat er als sinnlich-vernünftiges Wesen Anteil an der absoluten Vollkommenheit. Sein Lebenswandel gestaltet sich dann nach einem inneren Prinzip. Zwar unterliegen die konkreten Handlungen immer noch der Möglichkeit, Mittel zu anderen Zwecken in der Sinnenwelt zu sein, aber der Mensch bestimmt seinen Willen konsequent durch die praktische Vernunft und verleiht sich somit eine mehr als graduelle Vollkommenheit: Seine Handlungen haben und seine Person hat moralischen Wert. Sittlichkeit besteht für den Menschen in der Welt in der Würdigkeit, glücklich zu sein, derer er sich durch die Gründung eines Charakters als ‚praktisch konsequente Denkungsart nach unveränderlichen Maximen‘ versichert. Der Einzelne wird insofern nicht fragmentarisch besser, sondern verleiht sich durch die Charaktergründung einen absoluten Wert: Er wird nicht nur ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter Mensch (vgl. RGV, AA 06: 47). Seine Handlungen sind dann nicht nicht nur gesetzmäßig, sondem dem Geiste, der Gesinnung nach moralisch gut (vgl. KpV, AA 05: 72FN). Erziehung kann das Treffen der notwendigen Entscheidung des Einzelnen für die Charaktergründung und die moralisch guten Handlungen unterstützen. Dass der Mensch sich selbst im Zusammenspiel mit anderen Menschen bildet, zeigt die Spannung zwischen innerlicher Denkungsart und äußerlichen Mechanismus der Sinnesart. In Bezug auf die Gattung wird Erziehung in Kants Philosophie deswegen sogar zum prinzipiellen Problem, welches das zweite Problemfeld der Exegese darstellt und nun analysiert wird.

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Das prinzipielle Problem moralischer Erziehung der Gattung: Als Menschheit besser werden Aufklärung durch Erziehung (in den 1780er-Jahren): Äußere Hindernisse und Kultur als Problem Aus der bisherigen Exegese ergibt sich als notwendige Voraussetzung für die Gründung eines Charakters und die Sittlichkeit des Menschen die vernünftige Selbsttätigkeit des je einzelnen Menschen. „Selbstdenken“ bedeutet, „den obersten Probirstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft)“ zu suchen und „die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung“ (WDO, AA  08: 147FN). Entsprechend seiner Überzeugung der Pflichtbeobachtung als wirksames Mittel, das selbst Kinder oder Bösewichte von ihrer Würde überzeugen könne, solange sie nur ihre Vernunft gebrauchen, stellt Kant fest: „Aufklärung in einzelnen Subjecten durch Erziehung zu gründen, ist also gar leicht; man muß nur früh anfangen, die jungen Köpfe zu dieser Reflexion zu gewöhnen. Ein Zeitalter aber aufzuklären, ist sehr langwierig; denn es finden sich viel äußere Hindernisse, welche jene Erziehungsart theils verbieten, theils erschweren.“ (WDO, AA 08: 147FN)

Es sei also leicht, Einzelne durch Erziehung zur Aufklärung zu führen, indem man sie fragt, „ob man es wohl thunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen“ (ebd.). Dadurch werde man sich des Vermögens der Vernunft bewusst und könne anfangen, sie zu gebrauchen und weiter zu üben. Ein Zeitalter aufzuklären, sei jedoch schwer, weil viele äußere Hindernisse eine solche Erziehungsart, eine Erziehung zum selbstständigen Denken, erschweren oder verhindern. Die Entwicklung der Menschheit ist kein automatischer Prozess der Aufklärung, sondern kann Hindernisse schaffen, die das Selbstdenken erschweren. In dem Aufsatz Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte diskutiert Kant die Entwicklung der menschlichen Gattung. Dabei schildert er die Emanzipation des Menschen von der Natur durch seine Vernunft als „Übergang aus der Rohigkeit eines bloß thierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instincts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte, aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit“ (MAM, AA 08: 115). Während das „Fortschreiten zur Vollkommenheit“ für die Gattung ein „Fortschritt vom Schlechteren zum Besseren“ ist, bedeutet das Kultivieren der Vernunft für den Einzelnen „Verlust“, eine Einschränkung durch ihre Gebote und Verbote (ebd.: 115). Rousseau habe versucht, das „schwere Problem“ aufzulösen, „wie die Cultur fortgehen müsse, um die Anlagen der Menschheit

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als einer sittlichen Gattung zu ihrer Bestimmung gehörig zu entwickeln, so daß diese jener als Naturgattung nicht mehr widerstreite“ (ebd.: 116). Zur Illustration des „Widerstreits zwischen der Bestrebung der Menschheit zu ihrer sittlichen Bestimmung einerseits und der unveränderlichen Befolgung der für den rohen und thierischen Zustand in ihrer Natur gelegten Gesetze andererseits“ führt er Beispiele an und hält fest, dass „die Natur in uns zwei Anlagen zu zwei verschiedenen Zwecken, nämlich der Menschheit als Thiergattung und eben derselben als sittlicher Gattung“ gegründet hat (MAM, AA 08: 116, FN 2). Kant diagnostiziert den Widerstreit von Kultur und Natur als Ursprung allen menschlichen Übels: „Aus welchem Widerstreit (da die Cultur nach wahren Principien der Erziehung zum Menschen und Bürger zugleich vielleicht noch nicht recht angefangen, viel weniger vollendet ist) alle wahre Übel entspringen, die das menschliche Leben drücken, und alles Laster, die es verunehren; indessen daß die Anreize zu letzteren, denen man desfalls Schuld giebt, an sich gut und als Naturanlagen zweckmäßig sind, diese Anlagen aber, da sie auf den bloßen Naturzustand gestellt waren, durch die fortgehende Cultur Abbruch leiden und dieser dagegen Abbruch thun, bis vollkommene Kunst wieder Natur wird: als welches das letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der Menschengattung ist.“ (MAM, AA 08: 116ff.)

Eine ‚Kultur nach wahren Prinzipien der Erziehung‘ habe vielleicht noch nicht angefangen, aber sei potenziell möglich. Die Kultur scheint eines Korrektivs zu bedürfen, um zur sittlichen Bestimmung der Menschengattung führen zu können. Eine ‚Kultur nach wahren Prinzipien der Erziehung zum Menschen und Bürger‘ könnte aus vollkommener Kunst wieder Natur werden lassen und dadurch dazu beitragen, den Widerstreit zwischen Natur und Kultur zu lösen. Um zu zeigen, wie einerseits die Natur alle ihre Anlagen entfalten und gleichsam der Mensch seine vernünftigen Zwecke verwirklichen könne, entwirft Kant die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Anders als bei Bienen oder Bibern fehlt augenscheinlich der Geschichte der Menschheit ein planmäßiger Verlauf. Denn in unseren Bestrebungen handeln wir weder instinktmäßig wie diese Tiere noch „wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im Ganzen“ (IaG, AA 08: 17). Kant wählt dennoch diesen „besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“, weil er glaubt, dadurch einen „Leitfaden“ zu entdecken, „der nicht bloß zur Erklärung des so verworrenen Spiels menschlicher Dinge, oder zur politischen Wahrsagerkunst künftiger Staatsveränderungen dienen kann“, sondern „eine tröstende Aussicht in die Zukunft eröffnet“ (ebd.: 30). Auf diese würde sich nicht begründet hoffen lassen, „ohne einen Naturplan vorauszusetzen“, der „die Menschengattung in weiter Ferne“ vorstellt, „wie sie sich endlich doch zu dem Zustande empor arbeitet, in welchem alle Keime, die die Natur in sie legte, völlig können

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entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllt werden“ (ebd.). Eine solche „Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung“ sei „kein unwichtiger Bewegungsgrund“, denn was helfe es, „die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesem den Zweck enthält, – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nöthigt unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden und, indem wir verzweifeln jemals darin eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer andern Welt zu hoffen? (IaG, AA 08: 30)

Mit dem Naturplan stellt Kant der innerlichen Motivation durch die Vernunft einen nicht ‚unwichtigen Bewegungsgrund‘ zur Seite, indem er eine ‚tröstende Aussicht in die Zukunft‘ eröffnet. Wie bereits gezeigt, stellt die Pflicht einen Gehorsam dar, eine Einschränkung. Das Kultivieren der Vernunft für den Einzelnen bedeute neben dem Erkennen der eigenen Würde auch „Verlust“, eine Einschränkung durch ihre Gebote und Verbote, während das „Fortschreiten zur Vollkommenheit“ für die Gattung einen „Fortschritt vom Schlechteren zum Besseren“ bringe (MAM, AA 08: 115). In der eigenen, zeitlich begrenzten Tätigkeit einen Beitrag zu einem Naturplane zu erkennen, kann deswegen zusätzlich motivieren und trösten. Kant skizziert in neun Sätzen diesen Plan der Natur. Da der Mensch als einziges vernünftiges Geschöpf auf Erden die „Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln“ könne, bedarf es „Versuche, Übung und Unterricht“, um von einer Stufe der Einsicht allmählich zur nächsten fortzuschreiten (IaG, AA  08: 18f.). Wir leben zu kurz, um als Individuum sämtliche Keime vollständig zu entwickeln und können nur als Gattung dieses Ziel erreichen. Diese Idee müsse das Ziel unserer Bestrebungen sein, sonst wären unsere Naturanlagen vergeblich, was dem Grundsatz der Natur widerspreche (vgl. ebd.: 18). Die Natur habe gewollt, dass „der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines thierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit theilhaftig werde, als die er sich selbst frei von Instinct, durch eigene Vernunft, verschafft hat“ (ebd.: 19). Wie bereits durch die Grundlegung und die Kritik der Urteilskraft gezeigt wurde, sind die Bedingungen, die die Natur dem Menschen bereitet, nicht dazu geeignet, Glückseligkeit zu befördern und deswegen könne nur die Kultur als Zweck der Natur angesehen werden. Für sie haben wir die Vernunft und die sich darauf gründende Freiheit des Willens von Natur aus bekommen. Als „Mittel, dessen sich die Natur

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bedient“, um auch alle ihre Anlagen tatsächlich zu entwickeln, ist „der Antagonism derselben in der Gesellschaft“, „die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d.i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist“ (ebd.: 20). Mit diesem Widerstand erweckt die Natur alle Kräfte des Menschen und lässt ihn auch seinen Hang zur Faulheit überwinden: „Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Cultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Werth des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Principien und so eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze verwandeln kann.“ (IaG, AA 08: 21)

Der Antagonismus der Natur ist das Mittel, mit dem die Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur anheben, sich Talente entwickeln und durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht werde, die zu einem moralischen Ganzen führen könne. Dieser Widerstreit zwischen Vereinzelung und Vergesellschaftung des Menschen führe zu weniger liebenswürdigen Eigenschaften, wie Widerstand gegen Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe. Doch die „Unvertragsamkeit“, „die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit“ und „die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen“ treiben den Menschen aus seiner „Lässigkeit und unthätigen Genügsamkeit hinaus“, sorgen dafür „sich in Arbeit und Mühseligkeiten“ zu stürzen (IaG, AA  08: 21). Aus diesen „natürlichen Triebfedern“ entspringen zwar viele Übel, die aber doch auch wieder „zur neuen Anspannung der Kräfte, mithin zu mehrerer Entwickelung der Naturanlagen antreiben“ (ebd.: 21f.). Nach der Feststellung über die ‚natürlichen Triebfedern‘, mit Zwietracht statt Eintracht die Entwicklung der menschlichen Gattung zu fördern, widmet sich Kant dem größten Problem der Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt: Von der ungebundenen Freiheit in eine Freiheit unter äußeren Gesetzen zu wechseln. Es sei das schwerste Problem, denn „der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter anderen seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat“ (IaG, AA 08: 23). Dieser Herr könne nur ein Mensch sein, der selbst wiederum einen Herrn nötig habe. Da der Mensch aus krummen Holze gemacht sei, er immer auch versuchen werde, seine Freiheit zu missbrauchen, „wenn er keinen über sich hat, der nach den Gesetzen über ihn Gewalt ausübt“, ist eine „vollkommene Auflösung“ unmöglich und nur „die Annäherung

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zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt“ (ebd.). Es brauche dazu „richtige Begriffe von der Natur einer möglichen Verfassung, große durch viel Weltläufe geübte Erfahrenheit und über das alles ein zur Annehmung derselben vorbereiteter guter Wille“ (ebd.). Zwar hat Kant keinen Zweifel daran, dass Erziehung zu dieser Annäherung einen Beitrag leisten könne, aber in dem von ihm skizzierten Naturplane wird deutlich, dass es noch andere Faktoren braucht, um die Anlagen des Menschen zu entwickeln. Denn ein weiteres Problem für die Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung bestehe in der Abhängigkeit zu äußeren Staatsverhältnissen. Dieselbe Ungeselligkeit, die sich zwischen Menschen zeige, sorge auch zwischen Staaten für Probleme. Diese Unverträglichkeit sei das Mittel der Natur, um durch Kriege und Not letztlich nach „vielen Verwüstungen, Umkippungen und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem, was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können“, zu führen: einem friedlichen Völkerbund (IaG, AA  08: 24f.). Kriege, Not, Verwüstung, Erschöpfung der Kräfte zielen als Mittel der Natur auf dasselbe, was die Vernunft rät. Ehe der letzte Schritt zur weltbürgerlichen Staatenverbindung nicht geschehen ist, „also fast nur auf der Hälfte ihrer Ausbildung, erduldet die menschliche Natur die härtesten Übel unter dem betrüglichen Anschein äußerer Wohlfahrt“ (IaG, AA 08: 26). Hier kommt Kant auf die Stufen zu sprechen, die er auch in der Anthropologie in Hinblick auf die Perfektionierung der Gattung anführt (vgl. Anth, AA 07: 324f.). Zwar sei man bereits in hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert und durch allerlei gesellschaftliche Artigkeit und Anständigkeit zivilisiert, doch fehle es zur Moralisierung noch weit: „So lange aber Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eiteln und gewaltsamen Erwei­ terungsabsichten verwenden und so die langsame Bemühung der inneren Bil­ dung der Denkungsart ihrer Bürger unaufhörlich hemmen, ihnen selbst auch alle Unterstützung in dieser Absicht entziehen, ist nichts von dieser Art zu erwarten: weil dazu eine lange innere Bearbeitung jedes gemeinen Wesens zur Bildung seiner Bürger erfordert wird.“ (IaG, AA 08: 26)

Auch wenn die innere Beobachtung unserer Pflichten eine effektive Motivation für moralisches Handeln darstellt und Anlass zu einem moralischen Charakter, einer Denkungsart, geben kann, so kann sie durch äußerliche Faktoren gehemmt werden. Die äußeren Hindernisse, die dadurch entstehen, dass Herrscher ihre Freiheit missbrauchen und Staaten gegeneinander Krieg führen, stehen einer moralischen Bildung Einzelner und der Aufklärung des Zeitalters entgegen. Letztlich müsse die Natur den Menschen zwingen, wozu Vernunft als Motivation alleine nicht ausreicht. Ihre Mittel dazu zeigen im Laufe der

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Geschichte des Menschen weitere ‚natürliche Triebfedern‘, deren Quelle Kant in der ungeselligen Geselligkeit des Menschen verortet. Daraus ergeben sich drastische Umstände, die den Menschen letztlich zu der Verwirklichung seiner moralischen Bestimmung zwingen. Die Vergegenwärtigung dieses ‚Naturplans‘ stelle dabei eine weitere Möglichkeit des Menschen dar, durch sein intendiertes Handeln die Natur bei der Erreichung ihrer Absicht zu unterstützen. Am Ende des Aufsatzes gibt Kant zu erkennen, dass der philosophische Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, welcher auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung der Menschengattung abziele, nicht nur möglich sei, sondern selbst für diese Naturabsicht als förderlich angesehen werden könne. Indem die „Ehrbegierde der Staatsoberhäupter sowohl als ihrer Diener“ auf das „einzige Mittel“ aufmerksam gemacht wird, mit dem sie sich „ihr rühmliches Andenken“ unter den nachfolgenden Generationen sichern können, nämlich ihren Beitrag in weltbürgerlicher Absicht, erkennt Kant einen kleinen „Bewegungsgrund“ dafür, eine solche philosophische Geschichte zu versuchen (IaG, AA  08: 31). Mit dem Naturplan nimmt Kant den Menschen nicht ihre Selbstverantwortung für sich als Gattung, indem er letztlich die Natur für ihre Entwicklung verantwortlich zeichnen lässt. Vielmehr eröffnet er eine tröstende Perspektive, indem er seine Vernunft zur Interpretation der Geschichte verwendet. Wird die ‚ungesellige Geselligkeit‘ als Mittel der Natur ausgelegt, mit dem dieselben Zwecke befördert werden, zu denen die Vernunft rät, kann das zusätzlich dazu motivieren, den im Großen betrachtet kleinen und zeitlich begrenzten Einfluss zu nutzen, den man als Mensch mit seinem moralischen Handeln in Hinsicht auf das Weltbeste hat. Die ‚Erziehung von oben herab‘ (ab den 1790er-Jahren): Das prinzipielle Problem zweier Anlagen zu zwei verschiedenen Zwecken Eine gewisse Hoffnung scheint Kant bei der Beförderung der Sittlichkeit in die Erziehung und ihren Beitrag zur Kultur der Vernunft und der Tugend auch in Hinblick auf die Entwicklung der Menschheit insgesamt zu setzen. Denn würden Lehrer die Methode, Pflichten einzuschärfen, verwenden und den Grundsatz ihrer Erziehung auf die Würdigkeit glücklich zu sein legen, müsste es „mit der Sittlichkeit der Menschen bald besser stehen“ (TP, AA  08: 288). Durch den Menschen, der seine Vernunft kultiviert, sich aufklärt und sich als Sinnen- und Vernunftwesen in der Welt als verpflichtet denkt, wird die Vernunft als letzter Probierstein der Wahrheit „zum höchsten Gut auf Erden“ (WDO, AA 08: 146). Würde man der Vernunft dieses Vermögen abstreiten, würde man das Vermögen der Autonomie, der Freiheit verkennen und verhindern, dass sich der Mensch „seiner Freiheit gesetzmäßig und dadurch auch zweckmäßig

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zum Weltbesten“ bediene (ebd.: 147). Die Prinzipien der Moral sind Leitfaden und Motivation, den Neigungen zu trotzen und die „Idee einer praktischen reinen Vernunft“ mit der gehörigen Anstrengung im „Lebenswandel in concreto wirksam zu machen“ (GMS, AA 04: 389). Werden die Sitten auf ihre echten Prinzipien gegründet und „dadurch reine moralische Gesinnungen“ bewirkt, geschehe das zum „höchsten Weltbesten“ (GMS, AA  04: 412). Die Vernunft ist das Vermögen, welches dem Menschen moralisches Urteilen und Handeln ermöglicht und zugleich auch zum ‚Weltbesten‘ führen kann. Kant hält es für möglich, dass Menschen durch ihr vernünftiges Vermögen, sich selbst Zwecke zu setzen, in der Welt moralisch wirken können. Aber führt dies auch zur Moralisierung der Gattung? Wie bereits gezeigt, ist der Fortschritt in der Kultur nicht gleichsam ein Fortschritt zum Besseren. Vielmehr zeigen sich durch fortgeschrittene Kultivierung und Zivilisierung die ‚härtesten Übel unter dem betrüglichen Anschein äußerer Wohlfahrt‘. Außerdem finden sich äußere Hindernisse, welche die der Aufklärung förderliche Erziehungsart teils erschweren, teils sogar verbieten. Externe Faktoren können den Bedingungen der Möglichkeit der Aufklärung so schwerwiegend schaden, dass Kant die effektive Wirksamkeit der Erziehung als intendierte, menschliche Einflussnahme auf den Fortschritt zum Besseren begrenzt: „Fragen wir nun: durch welche Mittel dieser immerwährende Fortschritt zum Besseren dürfte erhalten und auch wohl beschleunigt werden, so sieht man bald, daß dieser ins unermeßlich Weite gehende Erfolg nicht sowohl davon abhängen werde, was wir thun (z.B. von der Erziehung, die wir der jüngeren Welt geben), und nach welcher Methode wir verfahren sollen, um es zu bewirken; sondern von dem, was die menschliche Natur in und mit uns thun wird, um uns in ein Gleis zu nöthigen, in welches wir uns von selbst nicht leicht fügen würden.“ (TP, AA 310)

Es käme demnach nicht nur darauf an, was die menschliche Natur in uns, sondern mit uns tun werde, um uns in das Gleis zu nötigen, welches zu einem Fortschritt zum Besseren führt. Die Natur bildet in der Rekonstruktion von Kants Formen der Erziehung immer den Letztgrund der Argumentation. In einem umfassenden Sinne ist sie dafür verantwortlich, dass wir als Menschen vernünftige Naturwesen sind und somit auch dafür, dass wir in uns das Vermögen der Freiheit finden können. Da sie den Menschen in dieser Form geschaffen hat, zeichnet sie letztverantwortlich dafür, ob es nur einzelnen Menschen gelingen solle, ihre Vernunft zu gebrauchen, sich aufzuklären, oder ob die Menschheit insgesamt tatsächlich zum Besseren fortschreitet. Die intendierte Erziehung, nach Prinzipien der Vernunft als Möglichkeit auf die nachfolgende Generation zu wirken, ist für diesen Fortschritt nur ein Mittel. So

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wie letztlich nicht nur die Mittel der Vernunft dazu geführt haben, die eigene Handlungsfreiheit tatsächlich einzuschränken und sich öffentlicher Gesetze zu unterwerfen, sondern „allseitige Gewaltthätigkeit und daraus entspringende Noth endlich ein Volk“ zu dieser Entschließung bringen musste, hält Kant es für wahrscheinlich, dass erst „die Noth aus den beständigen Kriegen“, die Staaten untereinander führen, „sie zuletzt dahin bringen, selbst wider Willen entweder in eine weltbürgerliche Verfassung zu treten“ oder in einen „Zustand der Föderation nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht“ (TP, AA 08: 310). Ein dauerhafter Friede zwischen den Staaten käme erst dann zu Stande. Damit die Menschen auch tatsächlich beginnen, die Zwecke der Vernunft zu verwirklichen, selbst wenn sie es nicht wollen, bringt die Natur also Mittel auf, die sie äußerlich dazu zwingen. Denn die „fortrückende Cultur“ alleine sei keine Garantie für einen Fortschritt zum Besseren, im Gegenteil wachse mit ihr auch der Hang der einzelnen Staaten, „sich auf Kosten der Andern durch List oder Gewalt zu vergrößern“ und die Kriege sogar noch zu vervielfältigen (TP, AA 08: 311). Es bedarf also äußerer Mittel, um die Menschheit zu disziplinieren, um durch Ohnmacht letztlich das zu bewirken, „was guter Wille hätte thun sollen, aber nicht that“ (ebd.). Mit dieser hypothetischen Überlegung eröffnet Kant eine Aussicht darauf, die erforderlichen Umstände für die moralischen Wünsche und Hoffnungen der Menschen von der Vorsehung zu erwarten, „welche dem Zwecke der Menschheit im Ganzen ihrer Gattung zu Erreichung ihrer endlichen Bestimmung durch freien Gebrauch ihrer Kräfte, so weit sie reichen, einen Ausgang verschaffen werde, welchem die Zwecke der Menschen, abgesondert betrachtet, gerade entgegen wirken“ (ebd.: 312). Da es für die konkrete Verwirklichung dieses dem Menschen und durch den Menschen möglichen, guten Ausgangs keine zwingende Notwendigkeit gibt, zweifelt Kant nicht daran, dass der Mensch als vernünftig-irdisches Wesen zum Guten erzogen werden müsse. Vielmehr beschäftigt ihn die Frage, wie dieses von qualitativ ambivalenten Wesen vollzogene Unterfangen zum Erfolg führen könne. Denn derjenige, der zum Guten erziehen soll, muss selbst zum Guten erzogen werden: „Der Mensch muß also zum Guten erzogen werden; der aber, welcher ihn erziehen soll, ist wieder ein Mensch, der noch in der Rohigkeit der Natur liegt und nun doch dasjenige bewirken soll, was er selbst bedarf.“ (Anth, AA 07: 325)

Vielmehr als eine Aporie bringt Kant mit dem Mensch-erzieht-MenschProblem ein inhärentes Dilemma menschlicher Existenz zum Ausdruck. Der Grund dafür liegt in den Anlagen, die ihm von Natur aus zukommen und in verschiedene Richtungen weisen. Die Vernunft bestimmt ihn dazu, „in einer

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Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren“ (Anth, AA 07: 324). Der tierische Hang zum Gemächlichen und Angenehmen, der ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängt, lässt die Befolgung der vernünftigen Bestimmung zum Kampf werden. Diese Grundsituation zwischen passiver Folge des natürlichen Hangs als sinnliches Wesen und aktiver Tätigkeit als vernunftbegabtes Wesen, sich der Menschheit würdig zu machen, sorgt zum einen dafür, dass der Mensch eine Erziehung zum Guten benötigt, denn er ist es nicht automatisch. Zum anderen kann diese wieder nur von einem Menschen vollzogen werden, der selbst immer ein sinnlich-vernünftiges Wesen ist und der demnach mit Hindernissen zu kämpfen hat. Das Problem der Erreichung der menschlichen Bestimmung durch die Vernunft wird von Kant dementsprechend nicht aufgelöst, sondern er erarbeitet die zugrunde liegenden Schwierigkeiten und Hindernisse einer Auflösung auf drei Ebenen. Erstens zeige bereits die physische Bestimmung der Erhaltung der eigenen Gattung eine Diskrepanz zwischen Natur und Kultur. Während der Mensch „im Naturzustande“ etwa ab dem 15. Lebensjahr „durch den Geschlechtsinstinct angetrieben und auch vermögend ist, seine Art zu erzeugen und zu erhalten, bedarf es kulturell bedingt dazu wesentlich mehr Zeit (Anth, AA  07: 325). Erst müsse ein Gewerbe erlernt und ein Verdienst erworben werden, bevor es möglich sei, ein Hauswesen zu gründen. Bis dahin könne „auch wohl das 25ste Jahr verfließen“, wodurch eine zeitliche Lücke für Laster entstehe (ebd.). Zweitens zeige sich in Hinsicht auf die Bestimmung eine Diskrepanz zwischen Individuum und Gattung. Wissenschaft stehe als „einer die Menschheit veredelnden Cultur“ nicht in Proportion zur Lebensdauer (ebd.). Da der Gelehrte in seinem Bemühen „durch den Tod abgerufen“ werde und ein „ABC-Schüler“ seine Stelle einnehme, könne das „Fortschreiten der Gattung in Wissenschaften immer nur fragmentarisch“ sein, wohingegen dem Einzelnen das Ganze der Wissenschaften nie zugänglich sein werde (Anth, AA 07: 325f.). Drittens zeige sich eine Diskrepanz zwischen der Natur, die den Menschen zur Glückseligkeit antreibe und der Vernunft, die als Bedingung die Würdigkeit glücklich zu sein setze. Mit Bezug auf Rousseau erklärt Kant, das „Problem der moralischen Erziehung“ bleibe deswegen für unsere Gattung „selbst der Qualität des Princips, nicht bloß dem Grade nach unaufgelöst“ (ebd.: 327). Der Mensch, welcher zum Guten erzogen werden und erziehen soll, findet sich mehrfachen Spannungen ausgesetzt: Zwischen natürlichen und kulturellen Bedingungen, zwischen individueller und gattungsspezifischer Vernunftentwicklung und zwischen den Prinzipien der Natur und der Vernunft. Diese Diskrepanzen gestalten die Schwierigkeiten und Hindernisse der Auflösung des Mensch-erzieht-Mensch-Problems:

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Kapitel 3 „Der eigene Wille ist immer in Bereitschaft, in Widerwillen gegen seinen Nebenmenschen auszubrechen, und strebt jederzeit, seinen Anspruch auf unbedingte Freiheit, nicht blos unabhängig, sondern selbst über andere ihm von Natur aus gleiche Wesen Gebieter zu sein, welches man auch an dem kleinsten Kinde schon gewahr wird: weil die Natur in ihm von der Cultur zur Moralität, nicht (wie es doch die Vernunft vorschreibt) von der Moralität und ihrem Gesetze anhebend, zu einer darauf angelegten zweckmäßigen Cultur hinzuleiten strebt, welches unvermeidlich eine verkehrte, zweckwidrige Tendenz abgiebt: z.B.  wenn  Religionsunterricht, der nothwendig eine moralische Cultur sein sollte, mit der historischen, die blos Gedächtniscultur ist, anhebt und daraus Moralität zu folgern vergeblich sucht.“ (Anth, AA 07: 327f.)

Das grundsätzliche Problem bei dem Versuch des Menschen, seine vernünftige Bestimmung zum Guten zu erreichen, ist der Ausgangspunkt menschlichen Bemühens: Statt von der Kultur zur Moralität zu kommen, müsse von der Moralität und ihrem Gesetze begonnen werden, zu einer darauf angelegten zweckmäßigen Kultur hinzustreben. Solange die Richtung von Kultur zur Moral genommen wird, ist eine verkehrte, zweckwidrige Tendenz unvermeidlich. Der Weg müsse von der Moralität zur Kultur genommen werden, um die Bestimmung des Menschen, die Verwirklichung seiner Vernunftanlage, zu vollziehen. Auch in der Anthropologie kommt Kant in Bezug auf die Frage nach dem „Fortschritt zum Besseren“ auf die Vorsehung als einer Weisheit zu sprechen, die nicht die des Menschen sei, „aber doch die (durch seine eigene Schuld) ohnmächtige Idee seiner eigenen Vernunft“ (Anth, AA 07: 328). Durch diese Vorsehung, die das Freiheits- und das Zwangsprinzip für ein Streben zu einer bürgerlichen Verfassung zusammenbringe, könne die „Erziehung des Menschengeschlechts im Ganzen ihrer Gattung“ nach eine „Erziehung von oben herab“ erfahren (ebd.). Zwar sei sie heilsam, aber auch rauh und streng, denn durch sie komme es zu „viel Ungemach und bis nahe an die Zerstörung des ganzen Geschlechts reichende Bearbeitung der Natur“ (ebd.). Kant rückt nicht von der kontinuierlichen Selbstverantwortung des Menschen als Sonderfall der Natur ab. Mit der Aussicht auf eine mögliche Vorsehung sorgt er für eine zusätzliche Motivation, sich nach allen Kräften für einen Fortschritt zum Besseren einzusetzen: „Übrigens soll und kann die Menschengattung selbst Schöpferin ihres Glücks sein; nur daß sie es sein wird, läßt sich nicht a priori aus den uns von ihr bekannten Naturanlagen, sondern nur aus der Erfahrung und Geschichte mit so weit gegründeter Erwartung schließen, als nöthig ist, an diesem ihrem Fortschreiten zum Besseren nicht zu verzweifeln, sondern mit aller Klugheit und moralischer Vorleuchtung die Annäherung zu diesem Ziele (ein jeder, so viel an ihm ist) zu befördern.“ (Anth, AA 07: 328f.)

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Der Verweis auf eine Vorsehung ist kein Rückfall hinter die kritisch erarbeitete Autonomie des Menschen als Quelle für Sittlichkeit. Der ‚Plane der Natur‘, die ‚Vorsehung‘ und die „Weisheit von oben herab“ (SF, AA 07: 93) lesen sich in Zusammenhang mit der bisherigen Exegese als zusätzliche Motivationsgründe von der und für die Vernunft, die ihre Zwecke in der Welt verwirklichen möchte und dafür nach einer möglichen Erklärung sucht, die beiden unterschiedlichen Gesetzgebungen der Natur und der Vernunft auf eine Richtung hin zu einen. Die ‚Erziehung von oben herab‘ ist beides: Letzte Hoffnung und somit Antrieb, alle Kraft für die Verwirklichung der Zwecke der Vernunft in der Welt aufzubringen, und Abschreckung durch das, was passieren kann, wenn erst die Mittel der Natur bewirken müssen‚ ‚was guter Wille hätte tun sollen, aber nicht tat‘.

Ergebnisse für das Forschungsfeld ‚Kant und die Pädagogik‘: Der ‚Zweck an sich selbst‘ als Erziehungsnorm für Mensch und Menschheit

Die Exegese des Erziehungsbegriffs zeigt, dass sich Kant zwar fragmentarisch, aber kontinuierlich diesem Thema in seinen philosophischen Schriften widmet. In diesen Überlegungen finden sich stets Gründe, die ihn von einer zu euphorischen Einschätzung dieser Art Einflussnahme als Mittel zum GutWerden des Menschen oder Besser-Werden der Menschheit abhalten. Doch scheint Erziehung nicht nur eine sehr wichtige Einflussnahme auf Mensch und Menschheit zu sein, sondern sogar notwendig, um überhaupt moralisch gut zu werden und zum Besseren fortschreiten zu können. Neben dieser grundsätzlichen Ambivalenz lässt sich im Laufe der Jahrzehnte eine Differenzierung seines Problembewusstseins über Erziehung identifizieren. Bereits die frühen Schriften weisen Erziehung als ambivalenten Einfluss auf Wissenschaft, Künste und Gemüt aus. Der motivationalen Komponente des Unterrichts, den Empfindungen, wird eine zentrale Bedeutung eingeräumt: Schönheit und Bewegkraft können die moralischen Triebfedern der menschlichen Natur beleben und mit dem ‚noch unentdeckten Geheimnis der Erziehung‘ könne das sittliche Gefühl frühzeitig zur tätigen Empfindung erhöht werden. Später adressiert er zwei Problemfelder der Erziehung des Menschen: Die moralische Unterweisung und den Fortschritt der Gattung zum Besseren. In Kants Reflexionen sind die Fragen nach dem ‚Grundsatz‘, dem ‚Prinzip‘ und dem ‚Richtmaß‘ der Erziehung als auch nach der Motivation zentral. Dass in seiner Kritik das Vernunftvermögen des Menschen zum Prüfen­ den und Geprüften wird, hat Auswirkungen auf die Verwendung seines

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Kapitel 3

Erziehungsbegriffs. Es verdeutlicht, dass es nur einen „Lehrer im Ideal“ gibt und zwar die Idee zur Gesetzgebung, die sich in jeder Menschenvernunft finden lasse (KrV, B 867). In seiner Moralphilosophie begibt sich Kant dementsprechend auf die Suche nach einem Leitfaden für moralisches Handeln und moralische Unterweisung. Er entdeckt ihn in den formellen, apriorischen Gesetzen der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff eines an sich guten Willens, der das unbedingte Gute ist, sei in jeder menschlichen Vernunft angelegt und müsse nur aufgeklärt werden. Durch die Vernunft als Vermögen kann der Mensch neben seinem Standpunkt als Sinnenwesen in der Natur einen zweiten Standpunkt als Intelligenz einnehmen (vgl. GMS, AA 04: 452f.). Dieser ermöglicht ihm, sich als Vernunftwesen frei und autonom zu denken und sich als vernünftig-sinnliches Wesen verpflichtet zu denken und dementsprechend zu handeln. Der Mensch hat durch seine praktische Vernunft die Möglichkeit, den Willen durch Maximen zu bestimmen, die mit den Forderungen des Moralgesetzes übereinstimmen. Das ermöglicht es dem Menschen, moralisch zu handeln. Die Vernunft bietet nicht nur den Leitfaden, das Auffinden des kategorischen Imperativs zur Orientierung, sondern auch den einzigen Bewegungsgrund zu moralischen Handlungen: Die Vorstellung der reinen Pflicht lässt den Menschen seine Würde erkennen und gleichsam fühlen. Sittlichkeit ergibt sich für den Menschen nicht durch die Effekte seiner konkreten Handlungen, sondern durch die Maxime, die er ihnen zugrunde legt, indem er der Pflicht gehorcht. Moralisches Handeln besteht demnach in der innerlichen Handlung aus Pflicht und belohnt nicht mit Glückseligkeit, sondern mit der Würdigkeit glücklich zu sein. Diese moralphilosophische Konzeption bildet den theoretischen Boden für die Differenzierung von Kants erzieherischem Problembewusstsein. Das erste Problemfeld, das er mit seiner Verwendung des Erziehungsbegriffs seit den 1780er-Jahren adressierte, ist die Frage nach der moralischen Unterweisung des Menschen. Seine Ausführungen beantworten zum einen, woran die Lehrer sich in ihrem Unterricht orientieren können: An der „Vorstellung der Pflicht und überhaupt des sittlichen Gesetzes“ (GMS, AA  04: 410), an der Idee der Menschheit (vgl. MS, AA 06: 480), an der „Beobachtung der Pflicht“ (TP, AA 08: 288) und „der Würdigkeit glücklich zu sein“ (ebd.). Zum anderen beantwortet er, wie sie ihre Schüler dazu motivieren können, ihre Vernunft zu gebrauchen, sich ihrem Vermögen der praktischen Vernunft bewusst zu werden: Indem sie eine reine „Handlung der Rechtschaffenheit“ vorstellen, „wie sie von aller Absicht auf irgend einen Vortheil in dieser oder einer andern Welt abgesondert […] mit standhafter Seele ausgeübt“ wurde (GMS, AA 04: 410FN2), durch Fallbezogene Fragen (vgl. MS, AA  06: 483), durch das gute Beispiel als Beweis der Tunlichkeit des Pflichtmäßigen (vgl. ebd.: 480), mit der begründeten

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Aussicht auf ein jederzeit fröhliches Herz (vgl. ebd.: 485). Unmittelbar gibt es nur einen Lehrer im Ideal, die Vernunft des je einzelnen Menschen, die sich über sich und ihre Möglichkeiten und Grenzen aufklärt. Für die Lehrer in der Welt, in Schulen, Büchern oder von der Kanzel, beschränkt sich die Wirkung auf die mittelbare Anregung zum Gebrauch der Vernunft, zum Schulen der Urteilskraft durch Erfahrung, zum Zergliedern der Pflichten, zum Wecken des Interesses an der Sittlichkeit durch Übung und Gewöhnung. Die allmähliche Reform der Sinnesart, die sich zeigende Tugend (virtus phaenomenon), kann kultivierend wirken und die Wahrscheinlichkeit für eine plötzliche Revolution der Denkungsart (virtus noumenon) erhöhen (vgl. RGV, AA 06: 47). Das, was dabei erzieherisch wirkt, ist direkt und zuverlässig immer die je eigene Vernunft, die die Vorstellung eines guten Willens an sich ermöglicht, die dem Menschen einen zweiten Standpunkt zur Selbstbetrachtung eröffnet, durch den er sich sowohl frei als auch verpflichtet denken kann. Feststellungen wie, man könne „nur philosophieren lernen“ und das „Talent der Vernunft“ an vorhandenen Versuchen in der Befolgung ihrer Prinzipien üben (KrV, B 866), oder der Mensch müsse das, was er im moralischen Sinne ist, „selbst machen“ (RGV, AA 06: 44), unterstreichen, dass es für die ‚Kultur der Vernunft‘ der konkreten Selbsttätigkeit bedarf. Die Frage nach der moralischen Erziehung der Gattung bildet das zweite Problemfeld, das Kant mit seiner Verwendung des Erziehungsbegriffs beschreitet. Es stellt für ihn ein prinzipielles Problem dar und muss daher unaufgelöst bleiben: Die Natur will von der Kultur zur Moralität und die Vernunft von der Moralität zur Kultur. Kants Problemidentifizierung liest sich so, als ob durch die verkehrte Richtung mit fortschreitender Kultur die ursprünglich nützlichen Naturanlagen durch falsche Zwecke verzerrt werden. Statt zu folgern, dass alle Bemühungen um einen Fortschritt zum Besseren hinfällig sind, sucht er nach einer Möglichkeit, die Prinzipien der Natur und Vernunft zu versöhnen. In Hinsicht auf die Frage nach dem Fortschritt der menschlichen Gattung kommt er auf eine „Vorsehung“ (IaG, AA 08: 30), eine „Weisheit von oben herab“ (SF, AA 07: 93) und einen „Plane der Natur“ (Anth, AA 07: 322) zu sprechen. Dies sind Erklärungsversuche, wie mit dem prinzipiellen und nicht aufzulösenden Problem einer Erziehung der menschlichen Gattung zum Guten umzugehen ist. Indem der Natur als übergeordneter Instanz, die sowohl die vernünftige als auch die natürliche Anlage in den Menschen gelegt hat, ein Plan zugesprochen wird, der es letztlich doch ermöglicht, die konkurrierenden Richtungen der Anlagen auf ein Ziel einzustimmen, eröffnet sich eine Interpretation der bisherigen menschlichen Geschichte, die eine tröstende Aussicht ermöglicht. Die hypothetische Annahme einer nicht erforschbaren Weisheit ist kein Versuch, dem Menschen seine autonome Zwecksetzung und

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Kapitel 3

Verwirklichung letztlich wieder abzusprechen. Bei dem Aufspüren des Leitfadens der Natur handelt es sich vielmehr selbst um eine Leistung der Vernunft, die sich für die Verwirklichung ihrer vernünftigen Absichten nicht mit der Hoffnung auf eine andere Welt vertrösten lassen möchte (vgl. IaG, AA 08: 30). Der ‚Antagonismus der ungeselligen Geselligkeit‘ lässt sich dadurch nicht nur als Quelle menschlicher Übel begreifen, sondern auch als Antrieb zu Kultur, Aufklärung und Fortschritt. Aus der Exegese von Kants Erziehungsbegriff lässt sich festhalten, dass Kant gravierende Probleme für moralische Erziehung identifiziert. Zum einen lässt sich moralisches Handeln nur durch die innerliche Bestimmung des Willens an einem Prinzip begründen und bewirken. Zwar liegt der Begriff des guten Willens in jedem Menschen und müsse nur aufgeklärt werden, doch die Sollens-Ansprüche der Vernunft, die Imperative, haben es mit einem Willen am Scheideweg zu tun, ‚der nicht immer darum etwas tut, weil ihm vorgestellt wird, daß es zu tun gut sei‘. Der notwendigen Selbsterziehung des Menschen, sich nach Gesetzen zu bestimmen, nach denen alles geschehen soll, stehen natürliche Neigungen im Wege. Zum anderen führt die Spannung zwischen Natur und Vernunft die kulturelle Entwicklung der Menschheit vor das prinzipielle Problem, dass die Sinnlichkeit des Menschen in eine andere Richtung weist als seine vernünftigen Zwecke. Mit der möglichen Moralisierung der Gattung konkurriert ihr Zweck als Tierheit. Die Natur habe beide Anlagen zu diesen verschiedenen Zwecken in den Menschen gelegt. Das erklärt die ambivalente Einschätzung Kants gegenüber der Kultur, welche sich bereits in der Exegese des Bildungsbegriffs zeigte. Denn nur von der Moralität und ihrem Gesetze anhebend ließe sich zu einer ‚zweckmäßigen Kultur‘ führen. Die bisher im Laufe der Geschichte etablierte Kultur des Menschen stellt demnach keineswegs einen zuverlässigen Schritt für die Moralisierung der Gattung dar. Im Gegenteil zeigt sich Kant sehr skeptisch ihr gegenüber, erzeuge sie doch durch den ‚betrüglichen Anschein äußerer Wohlfahrt‘ ein großes Übel und lasse den Hang der einzelnen Staaten wachsen, ‚sich auf Kosten der Andern durch List oder Gewalt zu vergrößern‘. Die Kultur führt nicht automatisch zur moralischen Entwicklung der menschlichen Gattung, aber sie ist dennoch ein notwendiger Faktor für den möglichen Fortschritt der Gattung zum Besseren: Genau dann, wenn sie nach selbstgewählten Zwecken gestaltet wird. Dazu braucht der Mensch ein Korrektiv, seine Zwecke zu prüfen und Motivation, die ihn dazu veranlasst. Die systematische Verbindungslinie von Kants Philosophie zum Pädagogischen lässt sich in der dafür notwendigen Verschränkung von Theorie und Praxis verorten. Das Kriterium, das Mensch wie Menschheit im absoluten Sinne ‚gut‘ macht, entzieht sich äußerlicher Feststellbarkeit wie Einflussnahme, da es

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den intelligiblen Charakter betrifft. Dafür ermöglicht es eine prinzipielle Orientierung und eignet sich somit dafür, dem ambivalenten Erziehungsgeschäft ein zuverlässiges Richtmaß an die Hand zu geben. Indem Kant für seine späteren Reflexionen über Erziehung auf diese apriorische Moralphilosophie rekuriert, eröffnet er neben dem denkbaren, vorgestellten Guten als Leitfaden und Motivation moralischen Handelns die Möglichkeit für eine intendierte, äußerliche Einflussnahme zum Besseren für Mensch und Menschheit. Zwar sei der Versuch, fragmentarisch ein besserer Mensch werden zu wollen, vergeblich, denn dazu könne nur die „Revolution der Denkungsart“, „die Gründung eines Charakters“ führen (RGV, AA 06: 47f.). Dennoch kommt der moralischen Erziehung als Tugendlehre Bedeutung und Funktion als Anregung und Ermutigung zu, indem sich die Zwecksetzung der Vernunft den Mechanismus der Sinnesart zu Nutze macht und Gewohnheit, Übung, Beispiel und Interesse statt auf irgendwelche Zwecke auf selbstgesetzte Zwecke und statt auf Glückseligkeit auf die Würdigkeit glücklich zu sein lenkt. Über die Zeit könne das dazu beitragen, dass der Mensch seines schwankenden Zustands überdrüssig werde und einen moralischen Charakter gründe, die Maximen seiner Handlungen fortan dem Prinzip der praktischen Vernunft unterstelle. Für den Fortschritt zum Besseren der menschlichen Gattung eröffnet Kant mit dem Ausblick auf eine Vorsehung eine mögliche Erklärung, wie es der Mensch über einen langen Zeitraum der Geschichte hinweg doch noch stufenweise zu einer Annäherung an seine sittliche Bestimmung schaffen könne. Das, was durch die Bearbeitung des Menschengeschlechts als Resultat besser werden soll, sind die „guten Thaten der Menschen“, eine „Vermehrung der Producte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen“ und nicht „ein immer wachsendes Quantum der Moralität in der Gesinnung“ (SF, AA 07: 91). Kants Ausführungen über das absolut Gute und das graduelle Besserwerden von Mensch und Menschheit lesen sich im Zusammenhang mit der Exegese des Bildungsbegriffs analog zu seinen frühen Überlegungen zur Bildung der Natur, die zwischen einem holistischen und einem partikulären Denken der Vollkommenheit schwanken. Wie die göttlichen, ewigen Gesetze die Natur aus dem Chaos graduell zu Schönheit und Ordnung führen, gibt die Vorstellung eines an sich guten Willens als absolutes Gut a priori Orientierung für ein graduelles Besserwerden von Mensch und Menschheit in Zeit und Raum. Kants Umgang mit den Problemen der Erziehung des Menschen zeigt, wie wichtig ihm die Möglichkeit einer konkreten Verbesserung des Menschen als Einzelner und als Gattung ist. So streng er bei der Trennung seiner Prinzipien ist, so bemüht ist er darin, sie für eine Verbesserung der Sittlichkeit im Leben zu vereinen. Er versucht mechanisch-sinnliche Methoden gemäß moralischvernünftiger Formprinzipien zu nutzen und schafft zusätzlich zu dem reinen

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Bewegungsgrund äußere Motivation: Mit der ‚Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht‘ eröffnet er eine ‚tröstende Aussicht in die Zukunft‘, das ‚jederzeit fröhliche Herz‘, die ‚Seelengröße‘ und das Fühlen der Würde entschädigen für den ‚Kampf mit Hindernissen‘. Der moralische Katechismus, die ‚Methode, Pflichten einzuschärfen‘, die ‚Beobachtung der Pflicht‘ führen zu einem Interesse, verleihen der Pflicht in den Herzen ein ‚merkliches Gewicht‘. Die kultivierende Wirkung von Beispielen sowie die gewohnheitsmäßige Prüfung der Gesetzmäßigkeit von Maximen können indirekt Einfluss auf die Denkungsart nehmen. Er belässt es nicht dabei, Probleme zu identifizieren, sondern erarbeitet Möglichkeiten für eine prinzipielle Orientierung an einem absolut Guten im intelligiblen und einer dadurch begründeten Motivation zum graduellen Besser-Werden im phänomenalen Sinne.45 Das macht ihn zu einem Lehrer der Aufklärung. Als Ergebnis der Erziehungsexegese lässt sich neben der Ausdifferenzierung des frühen Problembewusstseins in die zwei Problemfelder der Moralerziehung von Mensch und Menschheit die Verschränkung von apriorisch-absoluter Allgemeinheit und empirisch-gradueller Annäherung als zentrale systematische Verbindungslinie von Kants Philosophie zum Pädagogischen festhalten. Diese enge Verschränkung von Theorie und Praxis ermöglicht, die Frage zu stellen, wie wir aktiv dazu beitragen können, als Mensch und Menschheit besser zu werden und bietet eine Antwort: indem wir theoretisch die allgemeine, vernünftige Natur als Bedingung der Möglichkeit eines absolut reinen Guten als Ziel und Maßstab entdecken und empirische Möglichkeiten zum Kultivieren dieser Anlage im konkreten Lebenszusammenhang als graduelle Annäherung aufzeigen, was folgende Tabelle zusammenfassend veranschaulicht. 45

Der Schluss aus der Exegese des Erziehungsbegriffs auf die Vorstellung des reinen Guten als Erziehungsnorm und der Motivation zu ihrer konkreten Anwendung lässt sich durch andere Interpretationen der Kant-Forschung stützen. So zeigt Koch (2003: 399), dass Kants „Programm einer Pädagogik innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ als Theorie eine praktische Stoßrichtung hat: „Man kann sie als eine Theorie beschreiben, deren Thema Bildung der Denkungsart ist, die zunächst Moralität heißt, sich dann zur natürlichen Religion erweitert und sich gleichzeitig politisch als Republikanismus bis hin zum Kosmopolitismus profiliert.“ Munzels (2012: 293) letzter Artikel einer kosmopolitischen Erziehung im Sinne Kants beinhaltet die Kultivierung der menschlichen Vernunft, die eine kritische Prüfung und Selbstprüfung auf alle Bereiche des Forschens und Handelns ausdehne: „[T]hat the inner philosopher, the inner idea of legislation or principle of governance, be allowed to speak, that a philosophical habit of mind be cultivated, is indispensable for the true enlightenment of the human being qua human, rational, moral being.“ Markus Riefling (2014: 407) stellt fest: „Erziehung findet nach Kant ihren zentralen Referenzpunkt in der praktischen Philosophie und kann als Entwicklungshelfer der Moralität verstanden werden.“

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Abb. 7

Kapitel 3

Kants Hinweise auf den Zweck an sich selbst als Erziehungsnorm [ED]

Fazit: Der Lehrer Kant als Beispiel und Kant über das Beispiel eines Lehrers Die Vergegenwärtigung von Kant als Lehrer der Aufklärung erweist sich als fruchtbare Quelle, die Notwendigkeit und Probleme pädagogischen Denkens und Handelns gründlich zu reflektieren. Die drei Perspektiven auf Kants Formen der Erziehung veranschaulichen, inwiefern Aufklärung auch immer ein pädagogisches Projekt ist. Die zahlreichen Stimmen aus dem 18. Jahrhundert, die den Berichten über seine Schule und Universität, den frühen Kant-Biographien, den schriftlich festgehaltenen Erinnerungen seiner Schüler und den Kompendien seiner Lehrerkollegen entnommen wurden, eröffnen das aufklärerische Problembewusstsein der Erziehung. Wie es die Diskussion der biographischen Berichte über Kants Erziehung in Familie, Schule und Universität zeigt, stellt sich in der historisch-konkreten Perspektive auf die agierenden Personen das Lernen als komplexer Formungsprozess dar, der wechselseitig die Momente passiven Geformt-Werdens mit aktiver SelbstFormung verbindet. Die Emphase des Selbst, die Bedeutung des eigenständigen Denkens und der selbstgewirkten Bildung, weiß sich dabei stets in Verbindung und Abhängigkeit zu anderen Personen. Deutlich wird diese Bedeutung des Anderen in den Reflexionen zur Methode der Erziehung, dem Bewusstsein über die Wichtigkeit eines guten Beispiels, und des Ziels der Erziehung, dem gelingenden Zusammenleben in der Gemeinschaft. Die Lehrer der Aufklärung versprachen sich von der Verbreitung ihrer Kenntnisse einen konkreten Nutzen in der Welt: Die Förderung von Wissenschaft und Tugend. Dazu versuchten sie das Interesse der nachfolgenden Lehrer- und Forschergeneration zum eigenständigen Beobachten, Schließen, Beurteilen und Denken zu wecken (vgl. Appendix). Soll ein wirklicher Fortschritt, der für alle einen Nutzen bringt, im Wissen und Handeln erreicht werden, genügt es nicht, Muster zur Nachahmung aufzustellen: Es gilt, selbst zu forschen und neue Wege zu entdecken. Vor diesem Hintergrund zeigt sich der pädagogische Impetus von Kant als Lehrer der Aufklärung. Um die historischen und systematischen Verbindungslinien Kants zum Pädagogischen aufzuzeigen, bedarf es somit nicht der in ihrer Authentizität umstrittenen Rink-Schrift. Die vorliegende Rekonstruktion erlaubt eine Bestätigung und Ergänzung der Schlussfolgerung von Weisskopf (1970: 349), dass sich Kant unabhängig von der Verpflichtung zu den Vorlesungen über Pädagogik mit pädagogischen Problemen beschäftigte. Die vier Mal angebotene Pädagogik-Vorlesung sowie die von Rink herausgege­ bene Schrift bilden lediglich Berührungspunkte Kants zum Pädagogischen.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752692_006

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Fazit

Aussagekräftiger sind die in dieser Untersuchung rekonstruierte vier Jahrzehnte umfassende philosophische Lehrtätigkeit an der Albertina, die Expansion seines Unterrichts in den 1780er-Jahren durch sein Auftreten als öffentlicher Gelehrter sowie die Problematisierung der Bildung des Menschen als Sonderfall in der Natur und die Charakterisierung der Erziehung als zwar notwendigen aber problematischen Prozess für die moralische Qualität von Individuum und Gattung. Hieraus ergibt sich eine Antwort auf Kauders (1999: 29) Frage, ob die Bedeutung Kants für die Pädagogik nicht auch ohne die RinkSchrift und die Vorlesungen über Pädagogik von signifikanter Art wäre. Seine Lehrerrolle entdeckt die Gründe für die Verbindung zum Pädagogischen und kann erklären, warum es sinnvoll ist, mit Kant pädagogisch zu denken. Mit welchen pädagogischen Problemen er sich beschäftigte und welche Ziele und Methoden ihn zu einem Lehrer der Aufklärung machten und machen, soll nun abschließend zusammengefasst werden, um die eingangs aufgeworfene Frage nach den erzieherischen Voraussetzungen von Aufklärung zu beantworten. Bereits als Privatdozent identifizierte Kant ein Grundproblem der Unterweisung der Jugend (vgl. NEV, AA 02: 305). Ganz allgemein bringe die Lehrsituation des philosophischen Unterrichts an der Universität ein Gefälle zwischen geübter Lehrer- und noch zu übender Schülervernunft mit sich. Wie aus einer Notiz zu Meiers Vernunftlehre hervorgeht (vgl. Refl, AA  16: 808), unterscheidet sich der Austausch zwischen Lehrer und Schüler deswegen von einem echten Gespräch. Da sich die Fragen des Lehrers auf Gedächtnissachen beziehen, könne der Schüler dem Lehrer keine Einsichten eröffnen, wie es im gemeinsamen Räsonieren hingegen der Fall wäre. Zwar empfiehlt auch Kant als Mittel für die Bildung des Schülers zur Tugend den moralischen Katechismus, mit dem der Lehrer durch Fragen versucht, die Antwort aus der Vernunft des Lehrlings methodisch herauszulocken (vgl. MS, AA 06: 479). Aber der Versuch, die Vernunft des Schülers durch Fragen in Form eines ‚methodischen Dialogs‘ zu aktivieren, kann durch das Gefälle zwischen geübter Lehrer- und zu übender Schülervernunft kein Substitut für, sondern lediglich eine Vorbereitung auf die tatsächlichen Gespräche, das Unterreden und Räsonieren in commercio sein. In Anbetracht dieses Gefälles zwischen geübter Lehrer- und noch zu übender Schülervernunft solle sich der Lehrer an dem natürlichen, stufenförmig, aufeinander aufbauenden Erkenntnisprozess orientieren, damit der Schüler erst den Verstand, dann die Vernunft und schließlich eine Wissenschaft ausbilden könne. Dass Lehrer in der Unterweisung der Jugend der natürlichen Ordnung vorgreifen, kann zu schwerwiegenden Problemen führen. Würde diese natürliche Methode verkehrt, so erschnappe der Schüler eine Art von Vernunft, noch bevor der Verstand ausgebildet wurde, und trage lediglich erborgte Wissenschaft, die

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nur an ihn geklebt und nicht gewachsen sei. Das führe zu Fehlern wie ‚hartnäckigen Vorurteilen‘ in den Schulen, ‚frühkluger Geschwätzigkeit‘, einem ‚Wahn von Weisheit‘ und schließlich einem ‚Blendwerk von Wissenschaft‘. Ein in diesem Sinne falscher Unterricht, der die natürliche, schrittweise Entwicklung von Verstand und Vernunft verkehre, wird als Wurzel der Probleme identifiziert, mit denen sich Kant und seine Zeitgenossen der Aufklärung für die Etablierung ihrer neuen Forschungsmethoden und Disziplinen sowie der Umsetzung von Reformen konfrontiert sahen. Jedoch lässt sich dieses Problem nicht ein für alle Mal lösen, sondern grün­ det auf einer anthropologischen Grundbeschaffenheit des Menschen. Kants frühes Problembewusstsein über die Erziehung als möglichen aber unsteten Einfluss auf die Gemütsverfassung, die Sitten, die Wissenschaften und Künste entwickelt sich von der Hoffnung in „das noch unentdeckte Geheimniß der Erziehung“ (GSE, AA 02: 256) zu der Einsicht in das „Problem der moralischen Erziehung“ für die menschliche Gattung, das „selbst der Qualität des Princips, nicht blos dem Grade nach unaufgelöst“ bleibe (Anth, AA 07: 327). Das früh von Kant artikulierte Grundproblem der Unterweisung der Jugend lässt sich durch die späten Ausführungen zur Kultur ergänzen und vertiefen. Die Exegese von Kants Bildungs- und Erziehungsbegriff weist kontinuierlich auf die Ambivalenz der Kultur als Ergebnis und Einfluss menschlicher Entwicklung hin. Einerseits braucht es die kulturelle Zusammenarbeit von Menschen, um durch einen Fortschritt über Generationen hinweg die Vernunftanlage in der Welt zu realisieren, denn nur so lässt sich die Bestimmung des Menschen als vernünftiges Wesen in der Welt aus der ‚natürlichen Rohigkeit‘ schrittweise zur Stufe der Moralisierung perfektionieren. Andererseits stellt der Fortschritt der Kultur nicht notwendigerweise einen Fortschritt für die Moralisierung dar. Im Gegenteil kann er der Ursprung großer Übel sein, die Aufklärung und Fortschritt zum Besseren verhindern (vgl. IaG, AA 08: 26; TP, AA 08: 311). Das Problem der moralischen Erziehung der Gattung lässt sich durch die beiden Prinzipien und deren verschiedenen Zwecke nicht lösen: Die Natur will von der Kultur zur Moralität und die Vernunft von der Moralität zur Kultur. Kant bleibt jedoch weder in Hinsicht auf das grundsätzliche Problem der Unterweisung der Jugend noch gegenüber dem prinzipiellen Problem des moralischen Fortschritts der Gattung bei der bloßen Identifikation stehen. Stattdessen bemüht er sich um einen begründeten wie hilfreichen Umgang mit diesen Problemen, mit denen der Mensch durch seine paradoxe Beschaffenheit als sinnlich-vernünftiges Wesens konfrontiert ist und bleibt. Dem Problem der Unterweisung begegnet Kant mit der ‚Methode des Unterrichts in der Weltweisheit‘, die nur zetetisch, das bedeutet forschend, sein könne. Die Rolle des Lehrers wird dabei der Initiative und Tätigkeit des

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Fazit

Schülers untergeordnet. Der Schüler lernt das ihm nützliche Nachdenken und Schließen selbst, er pflanzt die Wurzel für seine Einsichten in sich. Der Lehrer nimmt dabei eine regulierende Funktion ein, indem er die Reihenfolge der natürlichen Ordnung beachtet und dem Schüler erst die Gelegenheit bietet, durch Erfahrung zu anschauenden Urteilen zu gelangen, von dort zu Begriffen und darauffolgend zu einem begründeten Ganzen der Wissenschaft. Die historische Rekonstruktion des Unterrichts zeigt, dass Kant auf zwei Arten versuchte, seine Schüler zum Selbstdenken anzuregen: Durch die explizite Aufforderung stets selbst zu denken (vgl. TW, AA 01: 492; NLBR, AA 02: 16; NEV, AA 02: 305) und die Demonstration seines Selbstdenkens, seiner geübten Lehrervernunft. Die Demonstration, mit der er sich selbst zum anschaulichen Beispiel seiner Methode und gleichsam seiner pädagogischen Absicht, dem Selbstdenken, machte, kommt in seinem freien Umgang mit dem zugrunde liegenden Kompendium zum Ausdruck. Er nutzte es nicht als ‚Urbild des Urteils‘, sondern als ‚Veranlassung‘ selbst zu urteilen. Auch die Formulierungen von Kants Vorlesungsprogrammen in der ersten Person Singular verdeutlichen, dass der Vollziehende der philosophischen Reflexion das denkende Ich ist, welches als Person nicht hinter allgemeinen, unpersönlichen Erkenntnissen verschwindet, sondern sich und das Zustandekommen seiner Urteile transparent macht. Das, was Kant als Lehrer vermitteln wollte, war das philosophische Forschen selbst und die dafür notwendige ‚Methode selbst nachzudenken und zu schließen‘. Dem prinzipiellen Problem einer moralischen Erziehung der menschlichen Gattung begegnet Kant etwa mit der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Durch die Betrachtung der Geschichte des Menschen als Realisation eines ‚Naturplans‘ führt er vor, wie es sich denken lässt, dass einerseits die Natur alle ihre Anlagen entfalten und gleichsam der Mensch seine vernünftigen Zwecke verwirklichen könne. Kant wählt diese besondere Weltbetrachtung, weil er glaubt, dadurch einen Leitfaden zu entdecken, der die verworrene menschliche Geschichte nicht nur erklären, sondern ‚eine tröstende Aussicht in die Zukunft‘ eröffnen könne (vgl. IaG, AA 08: 30). Diese Aussicht wie auch der Hinweis auf einen tatsächlichen Fortschritt zum Besseren durch eine „Erziehung von oben herab“ (Anth, AA 07: 328) oder eine „Weisheit von oben herab“ (SF, AA  07: 93) stellen zusätzliche Motivationsgründe von der und für die Vernunft des Menschen dar. Es sind Versuche der Vernunft, die ihre Zwecke in der Welt verwirklichen möchte und dafür nach einer möglichen Erklärung sucht, ihre eigene Gesetzgebung mit der Gesetzgebung der Natur auf eine Richtung hin zu einen. Kants Umgang mit dem prinzipiellen Problem der Moralisierung der Gattung besteht somit in der Motivation der einzelnen Menschen, selbst zu denken und sich im Handeln selbst geprüfte Zwecke zu

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setzen. Er sucht nach Gründen, die davon überzeugen können, dass es sich lohnt, sich nach allen Kräften für einen Fortschritt zum Besseren einzusetzen. Nach Gründen, um an dem allmählichen „Fortschreiten zum Besseren nicht zu verzweifeln, sondern mit aller Klugheit und moralischer Vorleuchtung die Annäherung zu diesem Ziele (ein jeder, so viel an ihm ist) zu befördern“ (Anth, AA 07: 328f.). Kant bietet somit beides: Ein mögliches Korrektiv für Probleme und die Motivation, sich ihnen trotz ihrer Unlösbarkeit zu stellen. Er identifiziert eine verkehrte Reihenfolge als Ursache für das Problem des Fortschritts der Gattung, von der Kultur zur Moralität zu gehen, sowie auch für das Problem akademischer Unterweisung, vor der Ausbildung des Verstandes eine Art Vernunft zu erschnappen. Seine Lösung setzt dort an, wo sowohl die Zwecksetzung des Fortschritts der menschlichen Erkenntnis des Einzelnen als auch der Gattung gründet: In der Denkungsart des jeweiligen Subjekts. Wie es die werkimmanente Exegese zeigt, geben die fragmentarischen Reflexionen zur Bildung und Erziehung in Hinsicht auf das Selbstdenken eine pädagogische Grundintention von Kants Philosophie zu erkennen, die als systematische Verbindung zum Pädagogischen ausgewiesen werden kann. Denn es finden sich zentrale Argumente für die Bildungsfähigkeit des Menschen und eine ihr entsprechende Erziehungsnorm. Zum einen entwickelt Kant mit der praktischen Vernunft als dem Vermögen sich selbst Zwecke zu setzen einen Grund für die selbstverantwortliche Bildungsfähigkeit des Menschen: Zwar wird der Mensch in seiner Zwecksetzung von Natur, Vernunft und Kultur bedingt, aber welche Zwecke er sich setzt, liegt in seinem Entscheidungsbereich. Zum anderen findet er in der ‚vernünftigen Natur‘ als Zweck an sich selbst eine Möglichkeit für eine allgemeine Orientierung der Zwecksetzung: Menschen können Zwecke so setzen, dass sie Gesetzen folgen, nach denen alles geschehen soll. Mittels der kritischen Methode entdeckt die praktische Vernunft einen ‚Leitfaden‘, eine ‚Richtschnur‘, ein ‚Prinzip‘, einen ‚Grundsatz‘ und zugleich einen ‚Bewegungsgrund‘, den Willen danach zu bestimmen. Hierbei ist wieder die Reihenfolge entscheidend: Die Zwecksetzung der moralischen Handlung erfolgt aus Pflicht, aus einer inneren Vorstellung dessen, was man tun soll, nicht aus den damit verbundenen konkreten Folgen in der Welt. Orientierung für den Erwerb eines Charakters als Denkungsart und die schrittweise Ausbildung des intelligiblen Charakters der Menschheit zur Moralisierung bietet das formale Moralgesetz, die Pflicht, die sich aus dem Begriff des an sich guten Willens ableiten lässt, den jeder in seiner Vernunft finden kann und nur aufzuklären braucht. Aber braucht es denn dann überhaupt Lehrer der Aufklärung? Die Diskussion der Erziehung Kants als Sohn, Schüler und Student hat gezeigt, dass das aufklärerische Problembewusstsein und die systematisch

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Fazit

adressierten Probleme von Erziehung (Legitimation, Effektivität und Aporie) um die Konstitution des Subjekts kreisen. Selbstbildung als Prämisse legitimer Erziehung, Freiheit und Autonomie des Subjekts, beschränken die Tätigkeit des Lehrers auf eine stets im Äußerlichen verbleibende Anregung und führt für die Pädagogik zu „der paradoxen Situation, daß man einen anderen nur dadurch zum rechten Wollen und Handeln bilden kann, daß man ihn veranlaßt, dies aus Freiheit zu tun“ (Koch 2003: 69). Wie man zur Freiheit erziehen könne, ist eine in Bezug auf Kants Philosophie häufig gestellte Frage und über das ‚Paradoxe‘ einer kantischen Moralerziehung, das Problem einer Erziehung zur Freiheit, wird anhaltend und ausgiebig diskutiert, was die ‚Gretchenfrage‘ der Rink-Schrift wohl zusätzlich fördert.46 Es gibt einen Konsens in den Forschungsarbeiten zu ‚Kant und der Pädagogik‘, dass Sittlichkeit und Freiheit die letztrangigen Ziele der kantischen Pädagogik seien (vgl. Hufnagel 1988: 54; Mikhail 2017: 95f.; Santos 2007: 84). Auch die vorliegende Exegese zeigt Kants Formen der Erziehung, die Pflichtbeobachtung, das gute Beispiel, die Kasuistik, den moralischen Katechismus, die Asketik und die Reform der Sinnesart, ausgerichtet auf die Sittlichkeit, die sich an dem Gesetz der Freiheit orientiert. Jedoch konzentriert sich Kant nicht darauf, wie man zur Freiheit erziehen könne. Die Vergegenwärtigung Kants als Lehrer der Aufklärung unabhängig von der Rink-Schrift kann darauf aufmerksam machen, dass Kant mit seinem forschenden Unterricht und seiner kritischen Philosophie die Weisheit in der Welt als Zwecksetzung nach allgemeinen Zwecken als übergeordnetes Bildungsziel adressiert. Weisheit sei laut Kant vom Menschen als immer auch sinnliches Wesen zu viel verlangt, aber sie stelle das übergeordnete Ziel für Annäherungsversuche dar. Dabei sei es zentral, sich bewusst zu machen, dass man sie „selbst dem mindesten Grade nach“ nicht durch andere erhalten könne, sondern sie „aus sich selbst herausbringen“ müsse (Anth, AA  07: 200). Dazu formuliert Kant drei Maximen: „1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mittheilung mit Menschen) an die Stelle des Anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.“ (ebd.) Der Kern Kants pädagogischer Ziele und Methoden ist tätiges Selbstdenken in der Welt. Es ist gleichsam auch die Antwort auf die Probleme, die mit der Erziehung des Menschen zum Guten verbunden sind. Als Lehrer konzentriert er sich nicht darauf, zur Freiheit zu erziehen, sondern darauf, zum Selbstdenken als einer Maxime zur Annäherung an die Weisheit anzuregen.

46

Siehe dazu die Ausführungen über den Authentizitätsstreit um die Rink-Schrift in Kapi­ tel I.2. Kant und die Pädagogik: Ein interdisziplinäres Forschungsfeld mit Schwierigkeiten.

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Die zetetische Methode und die Kritik folgen demselben philosophischen und didaktischen Grundgedanken: Philosophieren lernen als üben des ‚Talents der Vernunft‘. Als ‚Traktat von der Methode‘ ist die Kritik weniger ein System, das man lehrt und lernt, sondern eine Methode, wie man seine Vernunft üben und gebrauchen kann. Wie die zetetische zeichnet sich die kritische Methode durch eine Reihenfolge aus, die es zu beachten gilt: Vor der theoretischen oder praktischen Erkenntnis der Vernunft müsse erst der ‚reine‘ Teil vorgetragen werden, derjenige, in dem die Vernunft gänzlich a priori ihren Gegenstand bestimmt, ohne ihn mit anderen Quellen zu vermengen. Die Kritik nimmt, wie der Lehrer der Weltweisheit im Unterricht, eine regulierende Funktion für das Üben des Vernunfttalents ein, indem sie die Reihenfolge wahrt und zuerst auf die reine Quelle der Vernunft sieht. Wie der Lehrer in Weltkenntnis einen ‚Plan‘ von dem zweifachen Feld der Welt macht, verzeichnet die Kritik ‚Umriss, Grenzen und Gliederbau‘ für ein System der Wissenschaften. Der Schüler kann jenen anwenden, um sich in der Welt selbst zu betrachten und zu orientieren, der Philosoph diesen, um durch die Leistungsmöglichkeiten und Grenzen seiner Vernunft die Wissenschaft auf einen sicheren Weg zu bringen. Die Tätigkeit liegt bei demjenigen, der die Vernunft gebraucht. Der Lehrer trägt seinen Schüler nicht auf diesem Weg, sondern leitet ihn darauf, indem er zeigt, wie er sich selbst an der Welt, in der er steht und der Vernunft, die in ihm liegt, übend und versuchend orientiert. Nur weil eine direkte Einwirkung des Lehrers auf das Vermögen des Schülers, sich selbst Zwecke zu setzen, weder möglich noch wünschenswert ist, bedeutet das nicht, dass Lehrer für das Streben nach Weisheit und die Maxime der Aufklärung, das Selbstdenken, obsolet werden. Neben der Natur und der Vernunft als allgemeines Korrektiv menschlicher Erkenntnis kommt dem Weisheitslehrer bei Kant sogar eine zentrale Rolle zu. Seine Weisheit müsse zwar „immer ein Ideal bleiben, welches objectiv in der Vernunft allein vollständig vorgestellt wird, subjectiv aber, für die Person, nur das Ziel seiner unaufhörlichen Bestrebung ist“, doch nur derjenige dürfe sich so nennen, „der auch die unfehlbare Wirkung derselben (in Beherrschung seiner selbst und dem ungezweifelten Interesse, das er vorzüglich am allgemeinen Guten nimmt) an seiner Person als Beispiele aufstellen kann“ (KpV, AA 05: 108f.). Der Weisheitslehrer demonstriert die Funktionalität und Wirksamkeit seiner Methode an dem eigenen Beispiel seiner Person. Kant bleibt somit selbst nicht bei dem vieldiskutierten Paradox von intelligibler Autonomie und phänomenaler Welt stehen, sondern zeigt einen Weg, sich dem Paradox gegenüber zu verhalten. Sein Unterricht kann dafür ein Beispiel geben. Ab dem Wintersemester 1772/73 ergänzte er mit seinem Angebot der Anthropologie die Vorlesungen zur Physischen Geographie und verwirklichte seine ‚Idee eines nützlichen

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Fazit

akademischen Unterrichts‘, der den Studenten eine ‚Vorübung in Weisheit‘ sein sollte. Mit seiner Unterrichtskonzeption zeigte er seinen Studenten somit zwei grundsätzliche Wege, wie sich der Mensch mit sich selbst bekannt machen kann. Seine Ausrichtung als Lehrer auf die Weisheit und somit auf die Verbindung von Philosophie als theoretischer Reflexion und ihrer tätigen Anwendung in der Welt spiegelt sich didaktisch in seiner markanten Fächerkombination wider: Der Kombination von theoretisch-abstrakten Disziplinen (Logik und Metaphysik) und empirisch-phänomenalen Disziplinen (Physische Geographie und Anthropologie). Er verband stets eine Disziplin der theoretischen Philosophie, die den Blick auf die gründliche und vollständige Vernunftwissenschaft richtete, mit je einer Disziplin der Weltkenntnis als ‚Vorübung der Weisheit‘, die als phänomenologische Beobachtungslehre den Blick in die Welt richtete. Die Weisheit, die Kant als Lehrer zu fördern beabsichtigte, bedarf des vernünftigen Selbstdenkens und der Weltkenntnis. Er versuchte dafür, seinen Studenten Orientierung zu geben: Für das Denken durch die Logik als Bedingung, um „aus dem Lande des Vorurteils und des Irrtums in das Gebiete der aufgeklärteren Vernunft und der Wissenschaften“ überzugehen (NEV, AA 02: 310) und für das Leben durch einen ‚Abriss‘ des zweifachen Feldes der Welt als dem Schauplatz seiner Bestimmung (vgl. VvRM, AA 02: 443). Die regulierende, vorbereitende und anregende Funktion des Lehrers ori­ entiert sich stets an etwas, das sowohl Schülern wie Lehrern übergeordnet ist: Der Natur, der Welt, der Vernunft. Die zetetische, kosmologische und kritische Methode sind Anwendungsversuche des eigenen Vernunftgebrauchs, sich versuchend und übend, über sich und Gegenstände der Natur zu orientieren. Der Einfluss des Lehrers, der beim Demonstrieren dieser Methoden als forschendes Ich in Welt und Vernunft selbst zum anschaulichen Beispiel wird, ist dabei immer sekundär. Seine Macht beschränkt sich auf das Zeigen, Regulieren und Vorbereiten. Das, was dabei direkt auf den Menschen wirkt und zu Regeln zwingt, ist die allgemeine Verbindlichkeit der Welt als ‚Schauplatz seiner Bestimmung‘, in der jeder Mensch steht und die Vernunft, die jedem zukommt und die deswegen der ‚Lehrer im Ideal‘ ist. Ein Lehrer der Aufklärung im Sinne Kants orientiert sich ausschließlich an allgemeinen Bedingungen, die für jedes Menschenleben gelten. Ein Lehrer kann auf den Begriff des an sich guten Willens und die mit ihm verbundene motivierende Kraft einer autonomen Gesetzgebung der Vernunft aufmerksam machen und zu einer Aufklärung anregen, die Leitfaden und Motivation zu an allgemeinen Zwecken ausgerichteten Handlungen verspricht. Allerdings ist er dabei selbst nicht das Allgemeine, was eine sichere Orientierung bieten kann und würde so etwas auch nie behaupten.

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In seinen philosophischen Schriften problematisiert Kant deswegen die Funktion des Lehrers als gutes Beispiel.47 Der Mensch kann seinen auf die Welt gerichteten Willen an Gesetzen der Vernunft orientieren, nach denen alles geschehen soll. Kant nennt dementsprechend „das gute Beispiel an dem Lehrer selbst (von exemplarischer Führung zu sein)“ als technisches „Mittel der Bildung zur Tugend“ (MS, AA 06: 479). Wenn ein Lehrer seine exemplarische Führung zeigt, demonstriert er damit jedoch weder das Moralgesetz selbst noch seine Autonomie. Er zeigt sich nicht als freies Wesen, denn als ein solches kann er sich nur selbst vom Standpunkt der Intelligenz aus denken. Diese innerliche Selbstbetrachtung muss anderen verschlossen bleiben. Aber er kann durch seine Person und seine Handlungen eine Anschauung für ein vernünftiges, in der Welt befindliches Wesen geben, das sich verpflichtet denkt und sich seine Zwecke demgemäß setzt. Indem sich der Lehrer mit der „Idee der Menschheit“, mit dem Gesetz, wie er sein soll, vergleicht, wird sein exemplarischer Wandel „zum Beweise der Thunlichkeit des Pflichtmäßigen“ (MS, AA 06: 480). Das gute Beispiel des Lehrers soll nicht einfach nachgeahmt werden, denn es ist selbst kein Maßstab für Sittlichkeit. Dennoch ist es von entscheidender Bedeutung, denn es kann die Vorteile demonstrieren, die es mit sich bringt, sich in seinen Handlungen nach Maximen der Vernunft zu richten: Festigkeit in den Grundsätzen zu haben (vgl. Anth, AA 07: 294) und frohen Mutes zu sein (vgl. MS, AA 06: 485). Diese Gründung des Charakters bedarf eines bewussten Entschlusses des jeweiligen denkenden Subjekts und kann somit nicht vom Lehrer initiiert werden. Aber er kann ein Beispiel dafür geben, dass ein Charakter als ‚praktische konsequente Denkungsart nach unveränderlichen Maximen‘ tatsächlich zum ‚Tunlichen‘ in der Welt führe. Die historische Untersuchung Kants als Lehrer zeigt, dass er es in Bezug auf die ‚Erzeugung, Ausbreitung und Stärkung moralischer Grundsätze‘ und der ‚Kultur nach wahren Principien der Erziehung zum Menschen und Bürger‘, die das letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der Menschengattung befördern könne, nicht bei einer theoretischen Forderung beließ. Die historische Rekonstruktion belegt seinen Einsatz für die von ihm adressierten Probleme, die Unterrichtspraxis an Schulen und Universitäten zu verbessern. Er verwirklichte seine ‚Idee eines nützlichen Unterrichts‘ und etablierte zwei Disziplinen, die das Angebot der Philosophie mit einem konkreten Blick in die Welt ergänzen. Er setzte sich im März 1776 und 1777 durch einen öffentlichen Aufruf in den Königsbergsche Gelehrte und Politische Zeitungen für Basedows 47

Als detaillierter Nachweis für die Relevanz und die Funktionen des Exempels bei Kant siehe Katharina Naumann (2020: 143-165) und Volker Gerhardt (2002: 295-360).

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Fazit

Philanthropin ein, in dem er einen möglichen Fortschritt für das Erziehungswesen und ein Vorbild für die Lehrerbildung erkannte. Eine der Natur angemessene Erziehung sei nun nicht mehr bloß eine schöne Idee, sondern zeige sich in tätigen und sichtbaren Beweisen ‚auf dem jederzeit veränderlichen Schauplatze der großen Welt‘. Neben diesem Einsatz für eine Verbesserung des Zustands der öffentlichen Schulen und der Lehrerbildung verfasste Kant in seiner Rolle als Dekan im Winter 1787/88 auf Anforderung einen Vorschlag zur Verbesserung der Prüfungspraxis, der in den Beschluss des Oberschulkollegiums einging. Kant belässt es als Lehrer und Philosoph nicht dabei, Grenzen festzustellen und Probleme zu adressieren, sondern konzentriert sich zudem auf die Möglichkeiten, sich betrachtend und tätig für einen Fortschritt zum Besseren in der Welt einzusetzen. Die Vergegenwärtigung Kants als Lehrer zeigt, dass es dafür notwendig ist, Ideen und Vorstellungen zu entwickeln, aber nicht hinreichend. Es müssen auch die Mittel aufgebracht werden, sie zu verwirklichen. Der gute Wille unterscheide sich von einem bloßen Wunsch genau darin, dass er alle verfügbaren Mittel für seine Absicht aufbiete. Kants Aufklärungs-Aufsatz, der mit dem Ausgang aus der Unmündigkeit Einzelner den Fortgang der Gattung verbindet, bildete den Startpunkt für die Untersuchung und die Frage, ob diese Aufklärung nicht selbst auf erzieherischen Voraussetzungen basiere. Das Paradoxe spielt in diesem Aufsatz ebenfalls eine Rolle, sei doch ein Grad weniger bürgerliche Freiheit für die Ausbreitung der Freiheit des Geistes vorteilhaft. Auch hier bleibt Kant nicht dabei stehen, das Paradox der beiden Freiheiten festzustellen, sondern zeigt auf, wie der Mensch als sinnlich-vernünftiges Gattungswesen sich selbst betrachten kann, um damit geregelt zu leben: In der funktionalen Trennung von Bürger und Gelehrten, von Legalität und Moralität. Als Teil der Maschine erhält er die Gesetze und Regeln der Gemeinschaft und in der Qualität des Gelehrten reflektiert er als Glied eines ganzen gemeinen Wesen, der Weltbürgergesellschaft, diese Gesetze und Regeln, um sie stetig zu verbessern. Um an Kants Mündigkeitskonzept und der damit verbundenen Möglichkeit eines intendierten, aktiven Beitrags zur Verbesserung von Mensch und Menschheit begründet festzuhalten, bedarf es einer bestimmten Haltung, mit der das Selbstdenken einhergeht. Zu einem mit und durch die Aufklärung beförderten moralischen Fortschritt für die Gattung der Menschheit kann es nur kommen, wenn die mutig und öffentlich geäußerte Verstandesleistung sich unter allgemeine Gesetze begibt, die für jeden gelten sollen. Damit das Räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht! zu einer moralischen Verbesserung führen kann, muss sich das Gehorchen nicht nur auf positive Gesetze, sondern die letzten Zwecke der Vernunft beziehen. Ohne die formale Zielvorstellung von Zwecken, die für alle gelten sollen, verläuft der öffentliche

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Austausch beim Vernunftgebrauch zu Geschicklichkeit und Klugheit, es kann aber zu keiner Nützlichkeit kommen. Die erzieherische Voraussetzung der Aufklärung liegt darin, die praktischen Konsequenzen aus seinem eigenen Vernunftvermögen zu ziehen: Das allgemeine Soll nicht nur zu erkennen, sondern zu versuchen, es zu verwirklichen. Beispiele für diese Versuche sind ebenfalls eine erzieherische Voraussetzung der Aufklärung, denn die Demonstration der Tunlichkeit des Pflichtmäßigen und der Hinweis auf die Möglichkeit durch die Vermehrung der guten Taten zum Fortschritt des Besseren beizutragen, bedeuten eine wichtige Motivation zum disziplinierenden Umgang mit der eigenen Vernunft. Jeder, der die Verbindlichkeit seiner Handlungszwecke und die Qualität seiner Handlungsmotivation kritisch an allgemein menschlichen Maßstäben prüft und den Mut hat, alles für die Annäherung an diese moralisch-guten Zwecke aufzubringen, wird durch diese Haltung in der Welt zum anschaulichen Beispiel: Zu einem Lehrer der Aufklärung, der zu ihrer Verwirklichung beiträgt.

Appendix zur Lehre von Philosophie-Professoren im 18. Jahrhundert Ein Panorama der Kompendien Kants und der didaktischen Annahmen ihrer Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 284 Christian Wolff (1679-1754): „Alle Fertigkeit kommet durch die Übung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 290 Alexander Baumgarten (1714-1762): „[D]enen Pflichten Genüge zu thun“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 292 Georg Friedrich Meier (1718-1777): „Man muss niemals zu lernen aufhören“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 297 Johann Peter Eberhard (1727-1779): „[W]ie es sein Gesichtspunkt mit sich bringt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 303 Johann G. H. Feder (1740-1821): „Beyspiele machen mehr Eindruck als Lehren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 305 Gottfried Achenwall (1719-1772): Das „ius educandi“ im natürlichen Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 308 Johan G. Wallerius (1709-1785): „Eines Mannes Fleiß und Alter ist nicht zureichend“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 310 J. C. P. Erxleben (1744-1777): Die „Nothwendigkeit und die Neugierde der Menschen“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 313 Johann Bernhard Basedow (1724-1790): „Nicht viel, aber mit Lust!“ . . . 1 317 Friedrich Samuel Bock (1716-1785): Es „verdienen vornehmlich die catechetische, tabellarische und Litteralmethode alle Empfehlung“ . . 1 321 Johann August Eberhard (1739-1809): Den „Wißbegierigen für die Wissenschaft intereßiren, und in seinem Gange leiten“ . . . . . . . . . . . . . 1 326 Wenceslaus J. Gustav Karsten (1732-1787): „[D]as Ganze seiner Wissenschaft kennen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 329 Ergebnisse des Panoramas: Eine historische Vergleichsfolie für die Untersuchung von Kant als Lehrer der Aufklärung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 332

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752692_007

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Ein Panorama der Kompendien Kants und der didaktischen Annahmen ihrer Autoren

Wie zu Beginn über die Aufklärung als pädagogisches Projekt aufgezeigt wurde, steht die Wahrnehmung des Zeitalters als philosophisches und pädagogisches Jahrhundert in Zusammenhang mit einer Veränderung des Philosophieverständnisses. Mit Blick auf die Funktionen der Vernunft und die Nützlichkeit des Wissens änderten sich die Probleme, Methoden und Organisationsformen von Philosophie und Wissenschaft (vgl. Stollberg-Rilinger 2017: 168-197). Was bedeutete es, ein philosophischer Lehrer zur Zeit der Aufklärung zu sein, in der sowohl Fach als auch pädagogisches Denken sich stetig selbst reflektierten und transformierten? In der auch die Universitäten einen starken Ausdifferenzierungsprozess durchliefen? Um diese Fragen zu beantworten und Kant als Lehrer der Aufklärung unter seinen Kollegen historisch zu situieren, stellt dieser Anhang die Autoren von Kants Kompendien, ihre Lehrinhalte und Reflexionen über die Lehrpraxis exemplarisch vor. Da für eine Darstellung Kants als Lehrer der Aufklärung seine Lehrpraxis und seine Lehrinhalte von Interesse sind, wird die Aufmerksamkeit notwendigerweise auf die von ihm genutzten Kompendien gelenkt. Denn obwohl es im Lauf des 18. Jahrhunderts immer üblicher wurde, dass Professoren selbstverfasste Lehrbücher ihren Vorlesungen zugrunde legten (vgl. Hammerstein 2005: 385), blieb Kant bei seiner bereits als Privatdozent gewählten Unterrichtsmethode und zog, abgesehen von den Vorlesungen über Physische Geographie und Anthropologie, für seine Lehre Kompendien anderer Autoren heran. In den meisten Fächern behielt er das einmal gewählte Lehrbuch jahrzehntelang bei. Da es bisher neben Auflistungen der Titel und Autoren und ihren Erwähnungen in Biographien noch keinen thematischen Gesamtüberblick der Kompendien gibt48, bildet ein solches Panorama über die Themen 48

Durch das wachsende Interesse an Kants Vorlesungen (vgl. Dörflinger u.a. 2015) werden einzelne Kompendien als Quellen für seine philosophischen Konzeptionen und Argumente bereits herangezogen. Die Forschung in den jeweiligen Themenbereichen bezieht sich dabei gesondert auf einzelne Autoren oder Werke. In Bezug auf die Rechtsphilosophie betonen etwa B. Sharon Byrd und Joachim Hruschka (2010: 15ff.) die Bedeutung Achenwalls als zentralen Einfluss, für Kants Kosmopolitismus verweist Cavallar (2015: 93) auf Basedow als Schlüsselautor und Courtney  D.  Fugate und John Hymers (2018) haben in einem Sammelband Beiträge kompiliert, um Kants Metaphysikverständnis mit Baumgartens zu vergleichen. Aber erst die Darstellung einer Gesamtschau der Themen von Kants Handbüchern zeigt neben einzelnen Einflüssen, die inhaltliche Vielfalt seines Unterrichts und ermöglicht eine historische Vorstellung des philosophischen Faches im 18. Jahrhundert. Dasselbe hat Robert Raikes Clewis (2015) mit Reading Kant’s Lectures versucht zu zeigen und zu allen Themen der Vorlesungen Aufsätze gesammelt,

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der Kompendien und der enthaltenen didaktischen Annahmen ihrer Autoren den Gegenstand dieses Anhangs. In Hinblick auf ihre zentrale Aussagekraft für Kants geistige Entwicklungsgeschichte, das Verständnis seiner im Nachlass gedruckten Reflexionen und der studentischen Nachschriften seiner Vorlesungen sowie für die hier im Vordergrund stehende Unterrichts- und Erziehungsauffassung ist es erstaunlich, wie vergleichsweise selten bisher die Handbücher als eigenständige Quelle der Forschung in den Blick genommen werden. Das kann unterstreichen, dass Kant zwar selbstverständlich die Rolle als Lehrer zugeschrieben wird, aber sein Lehrersein selbst nur selten im Fokus der Forschung liegt. Das Forschungsinteresse an Kants Kompendien steht zudem vor konkreten Schwierigkeiten auf sprachlicher, schriftlicher und biographisch-bibliographischer Ebene. Da mittlerweile Latein als internationale Gelehrtensprache durch das Englische ersetzt wurde, sind weder bei Forschern noch Studenten ausreichende Lateinkenntnisse vorauszusetzen, um sich die Werke Baumgartens und Achenwalls adäquat zu erschließen. Zudem sind die deutschsprachigen Handbücher zwar häufig digitalisiert49, jedoch nur in Frakturschrift zugänglich, was nicht nur ihre internationale Rezeption erschweren dürfte. Des Weiteren wird die Suche nach den Exemplaren, die Kant in seinem Unterricht verwendet hat, durch das Vorhandensein verschiedener Ausgaben erschwert. Nicht bei allen Auto­ ren sind Biographie und Bibliographie detailliert nachzuvollziehen. Diesem Umstand sind die unterschiedlich ausführlichen Darstellungen über die Autoren, ihre Werke und ihre Aufgaben als Lehrer geschuldet. Übersetzungsarbeiten, Neudrucke und historisch-systematische Einordnungen der Texte wie durch Gawlick und Kreimendahl (2011) für die Metaphysica, Aichele (2019) bei der Initia, Pozzo (2000) bei der Vernunftlehre und Kleingeld (2020) bei dem Iuris Naturalis sind für eine Registrierung und Einbeziehung der Handbücher als Quellen deswegen eine unverzichtbare Grundlagenarbeit.

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die sie in Verbindung mit Kants publizierten Werken zeigen sollen: Metaphysik, Logik, Moralphilosophie, Anthropologie, Pädagogik, Enzyklopädie, Naturrecht, natürliche Theologie, Mathematik, Physik und Physische Geographie. Clewis‘ Sammelband zeigt den Umfang Kants intellektueller Auseinandersetzung, die pädagogische, wissenschaftliche, politische wie religiöse Perspektiven umfasst. Das hier erarbeitete Panorama der kantischen Kompendien ergänzt den Überblick der Themenpalette von Kants Unterricht durch Aufschlüsse über das zeitgenössische Selbstverständnis philosophischer Lehrer und die Wahl ihrer Lehrmethoden, die eine historische Einordnung Kants als Lehrer ermöglichen soll. Eine Ausnahme bildet Eberhards Naturlehre von 1753, die zum Zeitpunkt der Untersuchung nur über Fernleihe als Mikrofiche zur Staatsbibliothek zu bestellen ist.

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Naragon, auf dessen Forschung die hier erstellte Kompendienschau aufbaut, hat bereits 2006 eine ausführliche Liste der Handbücher erstellt50. Zu den Klassikern, die Kant schon zu Beginn als Privatdozent heranzog und an denen er über die gesamte Dauer seiner Lehre festhielt, zählen Georg Friedrich Meiers Vernunftlehre und der kürzere und günstigere Auszug aus der Vernunftlehre für die Logik, Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysica für die Metaphysik51 und dessen Ethica philosophica und Initia philosophiae practicae primae acroamatice für die moralphilosophischen Vorlesungen, Gottfried Achenwalls Iuris naturalis pars posterior in usum auditorium für das Naturrecht und Johann Georg Heinrich Feders Grundriß der Philosophischen Wissenschaften nebst der nöthigen Geschichte, zum Gebrauch seiner Zuhörer für die Enzyklopädie. Über Mathematik und Mechanik hat er nur als Privatdozent Vorlesungen gegeben und dafür stets Christian Wolffs Anfangsgründe 50

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Für seine Liste verweist Naragon auf das Zirkular an Bibliotheken und Archive in den Kant-Studien  1 (1897:152-153). Die frühesten Forschungsarbeiten zu Kants Vorlesungen gehen zurück auf Emil Arnoldt (1828-1905) und Arthur Warda (1871-1929). Arnoldt hat erstmals ein Aktenstudium für die Zwecke der Biographie und Interpretation Kants nutzbar gemacht und ein Verzeichnis seiner Vorlesungen angefertigt, dessen Angaben auf den universitären Akten basieren. Heute finden sich diese in der XX. Hauptabteilung im GStAPK in Berlin Dahlem (vgl. Stark 1996/2005). Warda hat 1919 eine Bibliographie von Kants Druckschriften erstellt und 1922 einen Katalog seiner Bücher erarbeitet. In Bezug auf diesen Katalog führt Stark auf seiner Seite Immanuel Kant – Information Online neben den von Naragon genannten Kompendien noch weitere Handbücher für die Physische Geographie an, auf deren Darstellung die Gesamtschau verzichtet. Eine weitere wichtige Quelle sind mittlerweile die von Michael Oberhausen und Ricardo Pozzo (1999) herausgegebenen Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg 1720-1804. Nur sechs der originalen Handbücher konnten von Kant-Forschern über die Jahre ausgemacht werden, drei davon gingen im Zweiten Weltkrieg verloren. Zu den mittlerweile verlorenen Handbüchern zählen: Gottfried Achenwalls Iuris naturalis pars posterior in usum auditorium (1763), Johann August Eberhards Vorbereitung zur natürlichen Theologie zum Gebrauch akademischer Vorlesungen (1781) und Alexander Gottlieb Baumgartens Initia philosophiae practicae primae acroamatice (1760). Kants Notizen in diesen Büchern wurden erhalten und in Band  18 und 19 der Akademieausgabe abgedruckt. Die drei noch erhaltenen, originalen Textbücher sind die dritte (1750) und vierte (1757) Ausgabe von Baumgartens Metaphysica und Georg Friedrich Meiers Auszug aus der Vernunftlehre (1752). Kants Notizen zur 4. Ausgabe der Metaphysica sind in Band 17 und 18 der Akademieausgabe, die zur 3. Ausgabe wurden 2014 noch zur Veröffentlichung vorbereitet und die zu Meiers Vernunftlehre finden sich in Band 16 der Akademieausgabe. Wie es die Vorlesungsankündigungen der Sommer 1757 und 1758 angeben, hat Kant seine Metaphysikvorlesungen nicht ausschließlich nach Baumgarten gehalten, sondern auch nach Friedrich Christian Baumeisters Institutiones metaphysicae. Da Kant nur auf ausdrücklichen Wunsch seiner Studenten und selten zu Baumeister wechselte, wird von einer Analyse im Folgenden abgesehen. Sein Exemplar ist nicht erhalten und es ist nicht bekannt, welche Ausgabe er genutzt hat.

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aller mathematischen Wissenschaften verwendet, wie bei Meier in der kürzeren Vorlesungsversion, dem Auszug aus den Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften, Zu bequemerem Gebrauche der Anfänger, Auf Begehren verfertiget. Selbst für seine Vorlesungen in Physik blieb er als Privatdozent bei Johann Peter Eberhards Anfangsgründe der Naturlehre. Während Kant auch als ordentlicher Professor den meisten der genannten Kompendien weiterhin treu blieb, gibt es während den 1770er-Jahren drei Neuerungen zu verzeichnen52. Für seine einmalige Vorlesung in Mineralogie im Winter 1770/71 bezog sich Kant auf Johan Gottschalk Wallerius Mineralogie, oder Mineralreich, von ihm eingeteilt und beschrieben. Für seine Physikvorlesungen wechselte er von Eberhard im Winter 1772/73 zu Anfangsgründe der Naturlehre von Johann Christian Polykarp Erxleben. Und für seine erste Pädagogikvorlesung im Winter 1776/77 nutzte er Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker von Johann Bernhard Basedow. Laut Vorlesungsverzeichnis finden sich die letzten Aktualisierungen in den 1780erJahren. Im Sommer 1780 wechselte er zu Friedrich Samuel Bocks Lehrbuch der Erziehungskunst zum Gebrauch für christliche Eltern und künftige Jugendlehrer für die Pädagogik und im Sommer 1785 zu Wenceslaus Johann Gustav Karstens Anleitung zur gemeinnützlichen Kenntniß der Natur, besonders für angehende Aerzte, Cameralisten und Oeconomen für die Physik. Es gab noch eine weitere Vorlesung über rationale Theologie, die zwar nicht im Vorlesungsverzeichnis angekündigt wurde, aber die sich durch studentische Mitschriften belegen lässt. Die Benennung variiert zwischen „Philosophischer Religionslehre“, „Vernunft Theologie“ oder „Collegium naturale Theologicum“ (Naragon 2006f). Während Kant für diese Vorlesung 1774 zunächst den vierten Teil der Metaphysica von Baumgarten heranzog, nutzte er in den 1780er-Jahren das 1781 von Johann August Eberhard herausgegebene Lehrbuch Vorbereitung zur natürlichen Theologie zum Gebrauch akademischer Vorlesungen. Diese Vorlesungen hielt er gemäß Naragons Tabelle in den Wintern 1783/84 und 1785/86 sowie im Sommer 1787. Jachmann (1804: 31) meint, Kant wollte mit diesen Vorlesungen „zu einer vernünftigen Aufklärung in Sachen der Religion“ beitragen und insbesondere Theologie-Studenten mit ihnen erreichen. Da die Handbücher in Kants Unterrichtspraxis eine gestaltende Rolle einnehmen, sollen ihre Themen überblicksartig dargestellt werden, um die 52

Stark (2015: 7) betont in Hinblick auf Kants Vorlesungen und seine benutzten Lehrbücher, „dass Kant nur in der – schon in seiner Zeit – rasch voranschreitenden ‚Physik‘ das Buch aktualisiert“. Zur Entwicklung der Physik im Lehrbuch 1700-1850 siehe Gunter Lind (1992). In diesem Fach hat Kant tatsächlich zweimal zu einem aktuelleren Lehrbuch gegriffen. Allerdings lässt sich zumindest auch eine Aktualisierung für den ebenfalls von starken Fortschritten gezeichneten pädagogischen Bereich feststellen.

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inhaltliche Dimension von Kants akademischen Unterricht kennenzulernen. Neben eines Eindrucks über Kants Unterrichtspraxis zwischen 1755 und 1796 konkretisieren und veranschaulichen die skizzierten Autoren und ihre Lehrbücher die im 18. Jahrhundert kursierenden, didaktischen Überlegungen. Kants Kompendienautoren erlauben somit auch einen kleinen Einblick in die bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts im deutschen Bereich einsetzende Debatte um die Idee der Universität, denn einher mit ihren methodischen Überlegungen gehen Fragen nach Sinn und Zweck des Philosophiestudiums sowie der Definition des Faches. Regina Meyer (1995) hat mit Schwerpunkt auf die Gelehrten der philosophischen Fakultät in diesem Zusammenhang festgestellt, dass die im Rahmen der traditionellen hodegetischen Diskussion entwickelten Positionen die moderne Wissenschaftsbegründung reflektieren und in Teilen mitbegründen. Sie verortet Kants Schrift Der Streit der Fakultäten, die den Beginn einer großangelegten Universitätspublizistik markiert, in Bezug zu den ihr vorausgegangenen Überlegungen und zeigt unter anderem Parallelen zu Werken von Wolff, Meier und Baumgarten auf: „Die behandelten Positionen sind sich trotz aller Differenzen darin einig, daß der Philosophie die unbedingte Aufgabe zukommt, den anderen Wissenschaften, auch der Theologie, den richtigen Weg zur Erkenntnis der Wahrheit und Gewißheit der Dinge mittels der menschlichen Vernunft zu zeigen bzw. deren Kenntnisse richtig in den Gesamtzusammenhang einzuordnen. Sie alle haben dabei einen mehr oder weniger großen Beitrag im Prozeß der Verwissenschaftlichung der Philosophie und der Etablierung ihrer institutionalisierten Form geleistet. Diesen Prozeß leitete Wolff zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein. Kant führte ihn zu einem ersten Höhepunkt und für das bestehende Aufklärungszeitalter zu einem gewissen Abschluß. Zugleich bildet er den Anfangspunkt für eine qualitativ neue, durch den Neuhumanismus und Idealismus geprägte Diskussion um den Inhalt und Zweck der Universität.“ (Meyer 1995: 121f.)

Während der meisten Jahrzehnte im 18. Jahrhundert hatte die philosophische Fakultät ihre methodische Bedeutung als Hilfswissenschaft, den Charakter der älteren artistischen Fakultät beibehalten. Doch während die Philosophie als akademisches Fach „zu Beginn aufgeklärter Bestrebungen eine eher beiläufige Disziplin“ war, konnte sie zum Ende des 18. Jahrhunderts das beanspruchen, „was sie seit Christian Wolff eingefordert hatte –, ein eigenes Fach zu sein, ja das eigentliche vor den doch nur nützlichen der oberen Fakultäten“ (Hammerstein 2005: 383f.). Mit dem Wandel der philosophischen Fakultät vollzieht sich die Erneuerung der mittelalterlichen Universität von einer hierarchisch geordneten Lehr- und Erziehungsanstalt zu einer funktional differenzierten Bildungs- und Forschungseinrichtung (vgl. Meyer 1995; Hammerstein 2005; Füssel 2010). Vor der historischen Anerkennung des akademischen Einflusses

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auf die deutsche Aufklärung, wurde durch rückläufige Immatrikulationszahlen und wachsende Kritik an den Universitäten oftmals von einem allgemeinen Niedergang der Universität im 18. Jahrhundert ausgegangen (vgl. Füssel 2010: 48). Im Vergleich zu England oder Frankreich, wo Akademien zu Zentren der wachsenden naturwissenschaftlichen Forschung avancierten, fand die deutsche Aufklärung jedoch wesentlich an Hochschulen und Universitäten statt, die als „Garanten aller der Zeit wichtigen wissenschaftlichgeistigen Bemühungen“ galten (Hammerstein 2005: 371). Die Entwicklungsschritte der Philosophie als universitäres Fach im 18. Jahr­ hundert spiegeln sich in den didaktischen Überlegungen der Kompendie­ nautoren Kants wider. Die Vergegenwärtigung ihrer Themen und didaktischen Annahmen lässt einen Eindruck über das Selbstverständnis von Philosophielehrern, ihren Aufgaben und erklärten Absichten zur Zeit Kants entstehen. Das ergänzende Angebot des Panoramas erfüllt somit eine doppelte Funktion. Durch die gestaltende Rolle der Handbücher für Kants Unterrichtspraxis erschließt sich die inhaltliche Dimension von Kants akademischen Unterricht. Die Wahl der Methoden von Kants Kollegen erlaubt eine historische Einordnung seiner eigenen Unterrichtspraxis und theoretischen Reflexion, deren Rekonstruktion das Hauptthema der vorliegenden Untersuchung Kants als Lehrer der Aufklärung bildet. Gleichsam eröffnet sich über die Lehrbücher dieser Autoren eine Diskussion über die Entwicklung der Philosophie als akademisches Fach im 18. Jahrhundert. Es lässt sich beobachten, wie die „Gelehrsamkeit alten Stils“ als trockene und weltfremde „Scholastik“ verspottet wurde und sich stattdessen ein neuer Begriff von Philosophie entwickelte, der sich oberhalb einzelner Wissensbereiche situierte und sich als grundsätzlich und allgemein zuständig verstand: „im Deutschen nannte sie sich ‚Weltweisheit‘, d.h. Weisheit in der Welt und für die Welt“ (Stollberg-Rilinger 2017: 183). Der Begriff Weltweisheit wird meist synonym zum Begriff Philosophie verwendet, doch wurde in dem Ausdruck „immer wieder ein programmatisches Signal erblickt“, indem der erste Teil des Kompositums auf „das Weltlichwerden der Philosophie in der Aufklärung“ hindeutet und der zweite Teil „einen gesteigerten Kompetenzanspruch“ anzumelden scheint, der sich nicht mehr mit dem bloßen Streben nach oder der Liebe zur Weisheit begnügen möchte (Schröder 2004: 531f.). Dem Selbstverständnis, den Themen, Zielen und Methoden der Philosophielehrer spürt die folgende Darstellung von Kants Kompendien und deren Autoren nach. Der Überblick beginnt bei Wolff, Baumgarten, Meier, J. P. Eberhard, Feder und Achenwall, die Kant bereits als Privatdozent herangezogen hat und zieht dann in chronologischer Reihe die im weiteren Verlauf der Lehrtätigkeit genutzten Kompendien von Wallerius, Erxleben, Basedow, Bock, J. A. Eberhard und Karsten heran.

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Christian Wolff (1679-1754): „Alle Fertigkeit kommet durch die Übung“ Neben Wolffs umfangreicherem Werk der Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften ist sein kürzerer Auszug daraus das Mathematiklehrbuch, welches im 18. Jahrhundert im deutschen Raum am weitesten verbreitet war (vgl. Zenker 2009: 15). Der Auszug ging im selben Jahr wie die zweite Auflage der Anfangsgründe 1717 in den Druck. Bereits nach kurzer Zeit vergriffen, wurde sie 1724 verbessert und vermehrt erneut gedruckt. 1728 erschien die dritte nochmals von Wolff überarbeitete Auflage. Bis zu seinem Tod 1754 kam es zu zahlreichen weiteren Auflagen, allerdings ohne von Wolff vorgenommene Änderungen (vgl. ebd.). Wolff gab seit 1703 als Privatdozent in Leipzig Vorlesungen und wechselte ab 1706 nach Halle, wo er die neu eingerichtete ordentliche Professur für Mathematik erhielt. Er bekam sogleich großen Zuspruch für seine Vorlesungen über das Gesamtgebiet der Mathematik und ergänzte sie ab 1709 als Mitglied der philosophischen Fakultät mit Vorlesungen über Metaphysik, Logik und Moral: „Der große Zulauf und die begeisterte Zustimmung seiner Hörer und der freie Geist, der aus seinen Vorträgen und Veröffentlichungen sprach, erregten den sich steigernden Neid und Haß der Fachkollegen und führte schließlich zu der Katastrophe von 1723.“ (Hofmann 1965: XII)

Als Katastrophe wird hier die durch seine pietistischen Gegner bewirkte Aufgabe seines Amtes und die Verbannung aus Halle bezeichnet. Wolff polarisierte die ihn umgebende Gelehrtenwelt in verbitterte Gegner sowie verehrende Anhänger und erzeugte mit seiner Lehre bis zu seinem Tod und der einschneidenden Kritik am Wolffianismus eine weit über die deutschen Grenzen hinausreichende überwältigende Wirkung (vgl. Biller 2018: 6f.). Da seine Lehrbücher die euklidischen Elemente aus dem universitären Curriculum ablösten, ist Kants Entscheidung Mathematik nach Wolff zu lesen Ausdruck einer zeitgemäßen Entwicklungstendenz. In seiner Vorrede zum Auszug aus den Anfangsgründen aller mathematischen Wissenschaft53 zeigt sich, dass Wolff Mathematik als eingebettet in den umfas­ senderen Wissensbereich der Philosophie versteht. Er empfiehlt Mathematik wegen ihrer unvergleichlichen Ordnung, von der er sich eine gründliche Erkenntnis der Natur und Kunst sowie einen Nutzen im menschlichen Leben verspricht. Dabei richtet er den Fokus nicht auf das Kennenlernen mathematischer Erkenntnis als Selbstzweck, sondern auf die Ordnung als 53

Für die Analyse wurde der Auszug von 1728 in Frakturschrift herangezogen. Hier hat Wolff letztmalig verändernd eingegriffen. Sie ist inhaltsidentisch zu der Ausgabe von 1749, die Kant besessen hat.

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Mittel, durch das der Verstand des Menschen geändert werden könne: „[D]enn nicht die mathematische Wahrheit, sondern die Ordnung, in welcher sie gründlich erkandt wird, ist das Mittel, wodurch der Verstand des Menschen geändert wird.“ (Wolff 1728: 3v) Um die Fertigkeit zu erwerben, etwas deutlich begreifen und genau untersuchen zu können, ist für Wolff (1728: 3r) die Übung zentral: „Alle Fertigkeit kommet durch die Übung, nicht aber durch Erlernung der Regeln, die man in Acht nehmen muss.“ Über seine studentische Zielgruppe ist er sich beim Verfassen des Auszugs als Lehrbuch bewusst und gibt einen Grund an, warum er für Anfänger nicht ganz so scharf im Beweis zu sein brauche, wie in seiner lateinischen Schrift: „Nehmlich die Natur thut weder in der Seelen, noch in dem Cörper einen Sprung; sondern alle Veränderungen geschehen nach und nach.“ (Wolff 1728: 4r) Für einen Anfänger genüge es daher, ein „Bild der richtigen Ordnung“ im Verstande zu erblicken und „von der Gründlichkeit einigen Geschmack zu bekommen.“ (ebd.: 4v) Wolff sieht in der kürzeren und günstigeren Version des Auszugs seinen Beitrag, den Grad an Verstand und Tugend unter den Menschen zu erhöhen. Für das Gelingen gibt er Hinweise zum Gebrauch seines Lehrbuchs. So solle der Lehrer bei Übungen in Arithmetik, Geometrie und Trigonometrie stets fragen: „[W]arum sie dieses so und nicht anders machen, damit sie nicht allein den Grund der Rechnung einsehen und sie daher besser behalten, sondern auch angewöhnet werden, nichts ohne Grund von jemanden anzunehmen, ingleichen in allem, was sie sehen oder hören, um seinen Grund sich zu bekümmern: als welche Aufmunterung des Verstandes ein lehrbegieriges Gemüthe machet und zur Besserung des Verstandes mehr beyträget, als Unerfahrene glauben dörfften.“ (Wolff 1728: 5r f.)

Die eigenständige Selbstprüfung, zu welcher der Lehrer seine Schüler gemäß Wolff durch das Fragen nach den Gründen anleiten soll, hat eine doppelte Funktion: Das bessere Memorieren der mathematischen Lehrinhalte und die Übertragung einer hinterfragenden Grundhaltung für die Informationsaufnahme in anderen Lebensbereichen. Schüler sollen sich das Suchen und Finden von Gründen mittels mathematischer Übungen aneignen, um davon ausgehend diese prüfende Fähigkeit zu ihrer grundlegenden Geisteshaltung werden zu lassen. Da Wolff (1728: 7v) der Ansicht ist, „daß man als denn erst eine Sache recht begreiffe, wenn man verstehet, wie sie seyn kann“, nimmt er das eigenständige Nachdenken als Bedingung eines möglichen Lernerfolges mit in den Blick und ermuntert die Lehrer dazu, die Beweise in seinem Lehrbuch mit Fragen durchzugehen, „demonstratio mechanico“, und sie durch Experimente oder Versuche zu erläutern, „demonstratio“. Er betont, dass die Schüler selbst lernen sollen, zu unterscheiden, was sie deutlich und was sie

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undeutlich begriffen haben, welche Begriffe deutlich und welche undeutlich seien. Der Anfang dazu könne einfach gestaltet werden, müsse jedoch „auch ein Anfang seyn und nicht allein einer heissen“ (Wolff 1728: 5v). Es bedeutet bereits einige Veränderung im Verstande, den Anfang zur Vollkommenheit aus der Unvollkommenheit zu machen. Nach der Vorrede, die den Nutzen der Mathematik für die Wissenschaften und das Leben durch ihre Methode und Ordnung betont und für den gelungenen Gebrauch auf das eigene Hinterfragen des Gelernten seitens der Schüler sowie die dafür hilfreiche Unterstützung des Lehrers hinweist, folgt ein Kurzer Unterricht von der mathematischen Lehrart. Hier führt Wolff in 29 Paragraphen in die Erklärungen, Grundsätze, Lehrsätze und Aufgaben der Mathematik ein. Den folgenden Inhalt untergliedert er in 19 thematische Abschnitte: Arithmetik, Geometrie, Trigonometrie, Mechanik, Hydrostatik, Aerometrie, Hydraulik, Optik, Catoptrik, Dioptrik, Perspektiv, Astronomie, Geographie, Chronologie, Gnomonik, Artillerie, Fortifikation, Baukunst und Algebra. Doch hat Kant wahrscheinlich nicht über alle Gebiete regelmäßig Vorlesungen gehalten. Gottfried Martin hat zur Arithmetik und Kombinatorik bei Kant geforscht und versucht einen Überblick Kants mathematischer Vorlesungen zu geben. Er geht davon aus, dass „Kant  16 Semester lang eine zweisemestrige Vorlesung über Wolffs Auszug gehalten hat, im ersten Semester Arithmetik, Geometrie, Trigonometrie, im zweiten Semester Mechanik, Hydrostatik, Hydraulik, Aerometrie“ (Martin 1967: 62). Abgesehen davon, dass Kant in diesen Vorlesungen inhaltlich in die basalen Rechenoperationen und Raumbetrachtungen der Mathematik einführte, ist es wahrscheinlich, dass er mit Wolff darin übereinstimmte, diese Art des Unterrichts ob der Ordnung und Methode als philosophisch relevant zu erachten. Mittels mathematischer Ordnung ein Beispiel für gründliches Prüfen und Urteilen zu bieten, Schüler zum selbstständigen Hinterfragen des Gelernten anzuregen und die Bedeutung von Übung und Experiment für ein nachhaltiges Lernen können für Kant durchaus didaktische Anregungen aus Wolffs Lehrbuch gewesen sein. Alexander Baumgarten (1714-1762): „[D]enen Pflichten Genüge zu thun“ Der für Kants Metaphysik und Moralphilosophie wichtige Kompendienautor Baumgarten schreibt ebenfalls bewusst für seine studentische Zielgruppe, die Hörerschaft, wie je aus seinen Vorworten zu entnehmen ist. Er übernimmt dabei die Ziele Wolffs, Philosophie sowohl gewiss als auch nützlich zu machen, und dessen Methode, dafür klare Begriffe und Prinzipien bereitzustellen, die eine sichere Grundlage der Anwendung ermöglichen sollen (vgl. Gawlick/Kreimendahl 2011: 545f.). Es gibt keinen Hinweis darauf, dass der 35 Jahre jüngere Baumgarten der damaligen Philosophie-Ikone Wolff tatsächlich

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persönlich begegnet wäre. Jedoch verstand er sich als dessen Schüler und hatte die in Halle noch unter Verbot stehende Philosophie Wolffs bereits früh im Alter von 19 Jahren autodidaktisch studiert (vgl. ebd.: XXXII). Nur zwei Jahre später gibt er in Anlehnung an Wolffs Metaphysik eigene Vorlesungen, aus deren Diktaten nach dreijähriger Arbeit schließlich die Metaphysica entsteht, deren Autor zu jenem Zeitpunkt noch nicht einmal 25 Jahre alt war (ebd.: XXXIII). Dieses Lehrbuch, mit dem Kant wiederum seinen metaphysischen Unterricht gestaltete, erfuhr binnen vier Jahrzehnten zwischen 1739 und 1779 sieben Auflagen und zählt damit zu den einflussreichsten Metaphysik-Handbüchern des 18. Jahrhunderts im deutschen Raum (ebd.: VII). Mit seiner Entscheidung für Baumgarten als Autor philosophischer Handbücher folgte Kant damit einem als allgemein zu bezeichnenden Interesse. Obwohl bekannt ist, dass Kant während seiner gesamten akademischen Lehrtätigkeit seine Vorlesungen zur Metaphysik in Auseinandersetzung mit Baumgartens Lehrbuch gestaltete und dessen Metaphysik-Konzeption Aufschluss über die Entwicklungsschritte zwischen dem Wolffianismus und der kritischen Philosophie Kants erlauben dürfte, stand eine vollständige Übersetzung bis zur historisch-kritischen Edition von Gawlick und Kreimendahl (2011: VII) noch aus: „Doch obschon Baumgartens Metaphysica den Königsberger Philosophen so stark wie kein anderes philosophisches Werk in den verschiedenen Phasen seiner denkerischen Entwicklung begleitet und beeinflußt hat, ist die Aufarbeitung der philosophischen Entwicklung Kants im Lichte dieses für ihn zentralen metaphysischen Werks nach wie vor ein Desiderat.“

Dasselbe formuliert Clemens Schwaiger (2000: 247) für Baumgartens prak­ tische Philosophie als „missing link auf dem Weg der Ethik von Wolff zu Kant“. Er befürwortet eine gründliche Erforschung, da er in Kants täglicher Auseinandersetzung der praktischen Lehrbücher „die Keimzelle seiner kritischen Ethik“ vermutet (ebd.: 259). Ähnlich aussagekräftig dürfte ein Vergleich mit Baumgarten für die Entwicklung seines Unterrichts und der inhaltlichen sowie didaktischen Konzeption seiner Lehre sein, weswegen nun die Metaphysica, Ethica und Initia kurz vorgestellt werden. Alle drei Lehrbücher teilen den Aufbau in durchgängig nummerierte Paragraphen, die sich um präzise Definitionen der für die dargestellten Wissenschaften zentralen Begriffe bemühen und auf Beispiele, Vergleiche oder rhetorischen Schmuck weitestgehend verzichten. Die Metaphysica54 stellt 54

Analysiert wurde die 2011 edierte, vierte und letzte von Baumgarten 1757 herausgegebene Auflage mit deutscher Übersetzung. Daneben hatte Kant auch ein Exemplar der dritten Auflage von 1750.

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nach Vorwort und Inhaltsübersicht als Überblickswerk und Einstieg in die „Wissenschaft von den ersten Prinzipien der menschlichen Erkenntnis“ die vier Teilgebiete der Metaphysik nacheinander vor (Baumgarten 2011: 55). Der erste Teil behandelt die Ontologie als Wissenschaft der gemeinen oder abstrakten Prädikate eines Dinges (§§4-251), der zweite Teil die Kosmologie als Wissenschaft der Gattungen der Welt, abgeleitet entweder aus Erfahrung oder einem abstrakten Begriff (§§252-366). Teil drei ist die Psychologie als Wissenschaft der abstrakten Prädikate der Seele (§§367-598) und Teil vier die natürliche Theologie als Wissenschaft von Gott, insofern er ohne Glauben erkannt werden kann (§§599-743). Während Wolff durch seine programmatische Forderung einer allgemeinen praktischen Weltweisheit als Disziplin für Baumgartens moralphilosophische Grundlagenschrift von 1760, der Initia, Anknüpfungspunkte bot und er sich hierfür auf die Arbeit des Wolff-Schülers Heinrich Köhler stützen konnte, verfasste er in Ermangelung eines brauchbaren Ethikhandbuchs 1740 die Ethica55 rasch selbst (vgl. Schwaiger 2000: 249). Sie folgt dem bereits dargelegten Aufbau in Vorwort, Inhaltsverzeichnis und Prolegomena (§§1-10). Die philosophische Ethik kennzeichnet sich ebenso wie Metaphysik und praktische Philosophie dadurch aus, dass sie „sine fide“, ohne Glaube, und mittels einer „methodo scientia“, einer wissenschaftlichen Methode, gewonnen werden müsse (Baumgarten 1969: 5). Dazu erarbeitet er im ersten allgemeinen Teil den inneren und äußeren Gottesdienst, religio, (§§11-149), die Pflichten gegenüber sich selbst (§§150-300) und die Pflichten gegenüber anderen (§§301-399). Im zweiten Teil werden die spezifischen Pflichten gemäß der seit Aristoteles bekannten Gütertrennung in Bezug auf Seele (§§401-450), respectu animae, Körper, respectu corporis (§§451-470) und andere äußere Güter (§§471-500), respectu status externi, ausgeführt. Auch das Lehrbuch der Anfangsgründe der praktischen Metaphysik, die Initia56, ist ähnlich strukturiert. Für Baumgarten (2019: 11) ist sie „die praktische [Philosophie,] die Wissenschaft von den Verpflichtungen des Menschen, die ohne Glauben zu erkennen sind“. Mit den folgenden Paragraphen sollen die Grundlagen einer allgemeinen Moralphilosophie für Ethik und Recht bereitgestellt werden, wofür die Verpflichtungen, obligationes, den Kernbegriff darstellen. Nach kurzer Vorrede und Inhaltsverzeichnis, einer Prolegomena der praktischen Philosophie (§§1-5) und der allgemein praktischen Metaphysik 55 56

Analysiert wurde der in Frakturschrift belassene Nachdruck (1969) der dritten Auflage von 1763. Erstmals erschien die Ethica 1740, die zweite Auflage 1751. Kants Exemplar wurde nicht erhalten. Analysiert wurde die 2019 edierte Ausgabe von 1760 mit deutscher Übersetzung. Kants Original wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, seine Notizen sind in Band XVIII der Akademieausgabe erhalten.

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(§§6-9), folgt die Abhandlung in zwei Teilen. Im ersten Teil (§§10-59) widmet sich Baumgarten der Verpflichtung allgemein und als moralische Nötigung. Der zweite umfangreichere Teil (§§60-209), der stärker ausdifferenziert ist, beschreibt das Verpflichtende. Hierfür werden in 13 Abschnitten das Gesetz, die Rechtskunde, die Prinzipien des Rechts, der Gesetzgeber, die Belohnungen, die Strafen und die Zurechnung der Tat sowie der Urheber, die Grade der Zurechenbarkeit, die Zurechnung des Gesetzes, das Forum, das äusserliche Forum und das Gewissen behandelt. Sowohl in seiner Ethica als auch der Initia finden sich viele verbindende Verweise auf Argumente und Paragraphen der Metaphysica. Bereits das Urteil eines Zeitgenossen lässt Baumgartens Lehrbücher für einen lebendigen Philosophie-Unterricht als fragwürdiges Mittel erscheinen. Laut Herder würde die „tabellarische Methode“ von Baumgartens Kompendien zwar eine hilfreiche und klärende Begriffseinteilung bereitstellen, doch „den Vortrag monotonisch, unfruchtbar und gezwungen“ machen (Herder 1767, zitiert nach Gawlick/Kreimendahl 2011: XL). Anders als Struktur und Stil der Lehrbücher Baumgartens jedoch vermuten lassen würden, war er ein beliebter Lehrer, der sich in seiner Antrittsrede als ordentlicher Professor 1740 in Frankfurt, Vom vernünftigen Beyfall auf Academien, die didaktischen Anforderungen an akademische Lehrer zum Thema wählte. Um die Hörsäle zu füllen, müsse der mündliche Vortrag der Lehrer ihren Studenten gefallen und dazu brauche es eine besondere Fähigkeit seitens der Lehrer (vgl. Baumgarten 1740: 4). Neben dieser speziellen Fähigkeit sei jedoch für den Beifall das Urteil der Hörer ausschlaggebend, welches nicht allein im Einflussbereich des Lehrers läge. Dem Lehrer habe es demnach nicht um blinden Beifall zu gehen, sondern er solle sich um vernünftigen Beifall bemühen, der aus richtiger Erkenntnis des Vortrages resultiert (vgl. ebd.). Dem inhaltlichen Gedanken gesteht Baumgarten im akademischen Unterricht deswegen die zentrale Rolle zu, dem alles andere zu folgen habe: „Folglich wäre der vollkommenste mündliche Vortrag, der die besten Sachen in der geschicktesten Ordnung durch die bequemsten Worte, nach ihren auserlesensten Zusammenfügungen, mit einer schönstens harmonirenden Beredsamkeit des Leibes anderen beybrächte.“ (ebd.: 5)

Für Baumgarten ist das einzig erlaubte Mittel für Lehrer, sich Beifall zu erwerben, einen treuen Vortrag zu halten. Darunter versteht er die „anhaltende Bemühung so viel Kräffte bey seinem Vortrage zuzusetzen, als nöthig sind, denen Pflichten Genüge zu thun“, die der mündliche Unterricht anderer erfordert (ebd.: 6). Diese Treue zu den Pflichten beschreibt Baumgarten als die ausschlaggebende Fähigkeit eines guten Lehrers. Für einen treuen Vortrag

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habe der Lehrer seine Pflichten zu erfüllen und dabei sei die Frage, „Was ist Wahrheit?“, zentral (ebd.: 7). Es habe dem Lehrer im Zuge dessen um Klarheit, Gründlichkeit, Lebendigkeit und Nützlichkeit zu gehen. Zwar spielt Wahrheit die zentrale Rolle, aber es geht nicht um Wissen, um des Wissens willen: „Was wir lernen, muß nützlich seyn. Was nützlich seyn soll, muß gebraucht werden. Was gebraucht wird, hat in Thun und Laßen seinen Einfluß. Ein guter Vortrag ist nicht nur lebhafft, sondern auch rührend, reizend, bewegend, lebendig, der mehr, iener weniger, der näher, iener entfernter, aber allezeit practisch.“ (ebd.: 11)

Die von Baumgarten ausformulierte Treue des akademischen Lehrers als Mittel für Beifall, sei jedoch keine Garantie. Da nicht alles im Bereich freier Handlungen läge, wie etwa natürliches Unvermögen oder menschliche Obliegenheiten, können auch die Lesesäle eines treuen Lehrers leer bleiben. Was diese Antrittsrede verrät, ist Baumgartens Lehrerethos, sich der Verantwortung eines wahren, klaren, gewissen und lebendigen Unterrichts mit praktischem Nutzen zu vergewissern und sich stets darum zu bemühen. In den Beschreibungen über die speziellen Pflichten des Menschen in seiner Ethica handelt er auch über den Gelehrten und die Gelehrsamkeit. In den Paragraphen  422-425 formuliert er, dass der Gebildete, eruditus, den anderen gegenüber verpflichtet sei zur Wahrheit, veritatis, zum Licht oder Helligkeit, lucis, zur Festigkeit und Grundlage, firmitatis et fundamenti, und zu Leben und Begeisterung, vitae et ardoris (vgl. Baumgarten 1969). Zumindest über diesen Weg dürfte auch Kant auf Baumgartens Forderungen an den Lehrer aufmerksam geworden sein. Das ausdrückliche Bemühen um eine verständliche Lehrmethode im Sinne Wolffs findet sich auch in der ersten Vorrede der Metaphysica, die Kant mit Sicherheit geläufig war. Hier gibt Baumgarten die Regel an, der er folgen möchte, um in seiner Funktion als Lehrer den Lernenden zu helfen: „Alles, was man vorträgt, so einzurichten, daß ein Kopf von mittlerer Begabung, der mit den Lehren, die der vorgetragenen Lehre zu Recht vorausgeschickt werden müssen, einigermaßen vertraut ist und der an dem behandelten Gegenstand nur mittelmäßig interessiert ist, das Gemeinte klar und deutlich erkennen kann.“ (Baumgarten 2011: 3, 5)

Die Überschrift des Vorworts, An den geneigten Hörer, lässt erkennen, dass sich Baumgarten seiner Zielgruppe nicht nur bewusst war, sondern er seinen Hörer direkt anspricht: Der Text sei „nur für DICH geschrieben“ und die vorliegende Metaphysik „ja einzig DEINEM Nutzen zugedacht“ (Baumgarten 2011: 3). Er erkennt die Leistung des geneigten Hörers für das Gelingen des Lernprozesses

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an, bedient sich für die Deutlichmachung dessen sogar einer Metapher und nimmt Bezug auf die Personifikation der Metaphysik als Frau oder Königin der Wissenschaften: „Sobald Du kommst und nicht allein siehst, sondern auch hörst, werden dem Gerippe Nerven wachsen, Fleisch wird sich darum legen, Haut wird es bekleiden, und der guten Frau wird es wohl auch nicht an Farbe oder Leben fehlen […]“ (ebd.).

Auf solche erläuternde Metaphorik verzichtet Baumgarten in seinen Ausführungen der Metaphysik. Er habe seinen Schreibstil absichtlich ob der mathematischen Beweisart und der ordentlichen Verkettung der Argumente von rhetorischer Fülle befreit (vgl. ebd.). Vor dem Hintergrund seiner Vorrede, des von ihm als Antrittsrede geschilderten Lehrerethos und der Beliebtheit unter seinen Studenten, ist davon auszugehen, dass er seine Vorträge lebendiger gestaltete, als die ausformulierten Kompendien vermuten lassen würden. Allerdings hat sich Baumgarten oftmals nicht um allgemeine Verständlichkeit bemüht. Gawlick und Kreimendahl (2011: XLIII) geben zu bedenken, dass seine Einstellung, die Schwierigkeit eines Textes zur Aussortierung der besonders klugen und begabten Leser zu verwenden, alles andere als aufklärerisch im eigentlichen Sinne sei. Sie stellen zusammenfassend für Baumgartens didaktische Überlegungen fest: „Man wird daher bei Baumgarten eine kaum aufgelöste Spannung zwischen dem elitären Bewußtsein des um klare und deutliche Distinktionen bemühten Begriffsmetaphysikers und dem um adäquate Vermittlung der so gewonnenen Erkenntnisse bemühten Universitätslehrer konstatieren müssen.“ (Gawlick/ Kreimendahl 2011: XLIV)

Eine ähnliche Spannung lässt sich auch in Kants anfänglicher Lehrpraxis erkennen, da er ebenfalls Nützlichkeit über Leichtigkeit stellte und der Ansicht war, dass man in die Tiefe steigen müsse, um Perlen zu finden (vgl. TW, AA 01: 503). In den Lehrbücher Baumgartens fand Kant für seinen inhaltlich zu vermittelnden Lehrstoff notwendige klare, begriffliche Differenziertheit. Es ist naheliegend, dass er durch ihn darüber hinaus an das Lehrerethos der Verpflichtung zu Wahrheit, Klarheit, Gründlichkeit und Lebendigkeit erinnert wurde sowie an die Relevanz von praktischer Nützlichkeit. Georg Friedrich Meier (1718-1777): „Man muss niemals zu lernen aufhören“ Als Student hörte Meier ab 1735 die Vorlesungen seines Lehrers Baumgarten über Logik, Metaphysik, Naturrecht und philosophische Moral. Als Baumgarten

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1740 nach Frankfurt ging, übernahm der vier Jahre jüngere Meier dessen Lehrauftrag in Halle, wo er 1746 zum ordentlichen Professor ernannt wurde. Noch als Privatdozent hatte er ein Jahr zuvor die Abbildung eines wahren Weltweisen publiziert, die als „Selbstverständigungsschrift eines deutschen Aufklärungsphilosophen“ gelten kann und für ihn als Programm längerfristige Geltung erhoben hat (Grunert/Stiening 2015: 13). Hier schildert Meier den Philosophen nicht in seiner Rolle als akademischer Lehrer, sondern beschreibt ein Bild des wahren Weltweisen, der sich gerade durch sein Lehrersein auszeichnet: „Ein wahrer Weltweiser ist wie eine lebendige Quelle zu betrachten, die in hundert Flüsse ausbricht und ganze Länder durchströmt. Er sucht die Weltweisheit recht nützlich und fruchtbar zu machen. […] Er trägt die philosophischen Wahrheiten mündlich und schriftlich vor, nach allen den Regeln, so die Vernunftlehre, nebst der Rede- und Dichtkunst, an die Hand geben. Dergestalt wird ein wahrer Weltweiser ein Vater vieler andern Weltweisen, welcher diese seine Kinder auf eine solche Art erzieht, daß sie ihm und der Weltweisheit Ehre verursachen. Ein wahrer Weltweiser ist also ein grosser Lehrer der Weltweisheit, und ein vortreflicher Schriftsteller, so viel als ihm möglich ist.“ (Meier 1745: 196f.)

Im Laufe dieser Schrift konzentriert sich Meier auf den Charakter des Weltweisen. Damit adressiert er wie Baumgarten die innere Einstellung des Lehrers. Für einen gelungenen mündlichen Vortrag hat Baumgarten auf die Treue und das Lieben der Pflicht als innerliche Einstellung des Lehrers verwiesen, von der abhängt, ob die Kriterien der Wahrheit, Klarheit, Gründlichkeit und Lebendigkeit beachtet werden. Meier zeigt, was alles zur Schönheit des Charakters eines wahren Weltweisen gehört. Er appelliert dafür, sich nicht nur auf die oberen Erkenntnisvermögen, Vernunft und Verstand zu verlassen. Um es zur höchsten Klarheit der Erkenntnis zu bringen, müssen auch die unteren sinnlichen Vermögen aktiviert werden: „Ein wahrer Weltweiser erinnert sich daß er ein Mensch ist, und philosophirt als ein Mensch, unter Menschen, auf eine menschliche Art. Er verbessert alle seine untere Kräfte, durch die schönen Wissenschaften. Er ist ein Poet und Redner, wenigstens der Theorie nach, und versteht die schönen Wissenschaften. Er braucht seine, dergestalt verbesserten, sinnlichen Erkenntnißkräfte, in der Untersuchung und dem Vortrage der Weltweisheit. Dadurch wird seine Erkenntniß und Vortrag nicht nur gründlich, sondern auch schön, und gefält auf eine unendliche Art. Er verliehrt das starre und das rauhe, welches den bloß geistigen Weltweisen anhängt. Und wie wolte ich ietzt im Stande seyn, alle die Schönheiten zu erzehlen, die ein Weltweiser durch die Beobachtung dieser Regel in seinen Character bringt?“ (Meier 1745: 98f.)

Die Weltweisheit hat nicht nur um wahre Erkenntnis bemüht zu sein, sondern um Schönheit, Tugend und Nützlichkeit. Der Charakter des Weltweisen hat

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dabei einen entscheidenden Einfluss auf seine Erkenntnis und seinen Vortrag sowie andersherum diese auf seinen Charakter. Demgemäß ist der Weltweise stets im geistigen und charakterlichen Wachsen begriffen und zeichnet sich dadurch aus, sein Fach als engagierter, gründlicher und angenehmer Lehrer zu erweitern und zu verbreiten. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Meiers Vernunftlehre57 einen gänzlich anderen Stil als Wolffs oder Baumgartens Lehrbücher aufweist und er ein beliebter Lehrer war. Der Zeitgenosse Samuel Gotthold Lange berichtet, dass Meiers Vorlesungsstunden selten ohne einige hundert Zuhörer stattfanden (vgl. Pozzo 2000: 132). Riccardo Pozzo (2000: 132) hat Meiers Vernunftlehre historisch-systematisch untersucht und stellt einen scharfen Vergleich heraus: „Während der junge Meier die Hörsäle füllte, las der alte Wolff vor einem halben Dutzend Zuhörern.“ Verständlichkeit und deutschsprachige Begriffe sowie Lebendigkeit, Vergleiche, Beispiele und rhetorische wie lite­ rarische Fähigkeiten trafen offenbar den Geschmack der Studenten. Zwar ist Meier bemüht, präzise Definitionen zu geben und behält die durchgängige Unterteilung der Hauptteile und ihrer Unterabschnitte in Paragraphen bei, aber bereits seine anfängliche Definition verortet die „Vernunftlehre oder die Vernunftkunst (logica, philosophie instrumentalis, philosophia rationalis)“ als „Wissenschaft, welche die Regeln der gelehrten Erkenntiss und des gelehrten Vortrages abhandelt“, in rhetorischer Tradition (Meier 1752, AA 16: 5). Er verfasste sein Lehrbuch für Studenten, „zum Gebrauch in meinen Lesestunden“ (ebd.: 4). Doch wendet sich Meier zeitgleich an ein breiteres Publikum, trägt zur Popularisierung der Philosophie bei und verkörpert damit eine wesentliche Etappe in der Entwicklung der Aufklärungsphilosophie: „Bei ihm trat die mathematisch-wissenschaftlich ausgerichtete Wolffsche Methode in den Hintergrund zugunsten der Ausarbeitung von logischrhetorischen Argumentationsweisen, die in das Thomasische Programm einer Philosophie als Kunst der Weltklugheit hineinpassen.“ (Pozzo 2000: 132)

Der Auszug, den Kant seinen Logikvorlesungen zugrunde legte, beginnt nach kurzer Vorrede mit einer Einleitung (§§1-9) und gliedert sich dann in vier Hauptteile. Der erste Teil macht den Großteil des Lehrbuchs aus und erörtert in zehn Abschnitten die gelehrte Erkenntnis (§§10-413). Daran schließt sich Der andere Hauptteil Von der Lehrart der gelehrten Erkenntnis (§§414-438) an, der nicht weiter untergliedert ist. Der dritte Teil widmet sich dem gelehrten 57

Analysiert wurde der von Kant erhaltene Auszug aus der Vernunftlehre der ersten Auflage 1752, der in Band 16 der Akademieausgabe als Referenztext mit Kants Notizen abgedruckt wurde.

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Vortrage und wird unterteilt in den Gebrauch der Worte (§§439-463), die gelehrte Schreibart (§§464-478), die gelehrte Rede (§§479-517) und die gelehrten Schriften (§§518-526). Die Vernunftlehre schließt mit dem vierten Teil Von dem Charakter eines Gelehrten (§§527-563). Unter der „Lehrart (methodus)“ versteht Meier „eine merklichere oder grössere Ordnung der Gedanken“ und behandelt im Folgenden „die gelehrte Lehrart (methodus erudita, logica, philosophica)“ (Meier 1752, AA  16: 776f.). Diese befördere die Deutlichkeit der gelehrten Erkenntnis, die Wahrheit in einem Lehrgebäude und die Gründlichkeit, die Einheit und den durchgängigen Zusammenhang, die Vollkommenheit der gelehrten Erkenntnis sowie das Behalten der Wahrheiten durch das Gedächtnis (vgl. ebd.: 777). In Hinblick auf diese Kriterien diskutiert Meier in den folgenden Paragraphen verschiedene Lehrarten wie die demonstrativische oder scientifische, die synthetische oder analytische, die künstliche oder natürliche, die chronologische oder geographische. Neben der Methode behandelt er (ebd.: 814) auch die Wahl der Worte, „Regeln, die man beobachten muss, wenn man die gelehrte Erkenntniss auf eine geschickte Art bezeichnen will.“ Er schildert Kriterien für den gelehrten Ausdruck, der groß, wichtig, anständig, wahr, klar, verständlich und gewiss sein solle. Auch die Lebendigkeit und Begeisterung, die Baumgarten als Pflichten des Gelehrten schildert, die Überzeugung, dass ein guter Vortrag rühren und reizen müsse, findet sich in ähnlicher Gestalt in Meiers Paragraphen zur geschickten Wortwahl: „Der gelehrte Ausdruck muss so sehr gefallen, dass man dadurch gereizt werden kann, die unter ihm verborgen liegende Erkenntniss aus ihm zu erkennen.“ (ebd.: 825) Die Worte des Gelehrten haben nicht nur die Funktion einen Inhalt zu vermitteln, sondern sollen so gewählt werden, dass sie Lust darauf machen, diesen Inhalt entdecken zu wollen. Ähnliches gilt für die gelehrte Schreibart, die neben Deutlichkeit und Reinigkeit möglichst füglich, zierlich, wohlklingend und schicklich zu sein habe. Wer einen gelehrten Vortrag hält, ob mündlich oder schriftlich, der ist für Meier ein Lehrer (vgl. ebd.: 838). Seine Ausführungen über die gelehrte Rede enthalten stets Ratschläge, was Lehrer zu beachten oder zu vermeiden haben. Um deutlich und verständlich zu sein, müsse der Lehrer etwa mit Verstand reden, klare Worte und Wortfügungen verwenden, die Bedeutung seiner Worte erklären und eine deutliche Erkenntnis besitzen (vgl. ebd.: 842f.). Um überzeugend und gründlich zu sein, müsse er gewisse Beweise anbringen und seinen Schülern keinen blauen Dunst vormachen (vgl. ebd.: 843f.). Meier beschreibt zudem eine „Gabe des gelehrten Vortrages (donum didacticum)“ als „Inbegriff aller Fertigkeiten der Seele und des Körpers, ohne welchen kein vollkommener gelehrter Vortrag“ möglich sei und ohne die niemand ein Lehrer sein könne (ebd.: 844). Für

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den gelehrten Unterricht erarbeitet er Richtlinien, die je nach Beschaffenheit des Gegenstandes ein anderes Vorgehen verlangen (vgl. ebd.: 846f.). Im letzten Teil widmet sich Meier (1752, AA  16: 865ff.) dem „Charakter eines Gelehrten (character eruditi)“. Überwiegend gibt er hier Regeln für das Werden eines Gelehrten. Die Ratschläge betreffen insbesondere Übungen, mit denen die Anlagen des gelehrten Naturells, zu dem Mutterwitz, das Vernunft- und Verstandesvermögen oder das schöne Denken zählen, durch Fleiß ausgedehnt und gestärkt werden können (vgl. ebd.: 866). Dazu gibt es neben ganz allgemeinen Übungen auch spezielle, zu denen Meier die meisten Ausführungen macht, und worunter er das Studieren zählt, welches in allen Handlungen besteht, „wodurch die gelehrte Erkenntniss in demjenigen entsteht und verbessert wird, der diese Handlungen vornimmt“ (ebd.: 868). Das Studieren betrifft erstens das Lernen aus mündlichem Vortrag, zweitens das Lesen gelehrter Schriften, drittens das häufige Wiederholen des Gelernten, viertens das Nachforschen oder vernünftige Nachahmen eines Gelehrten, fünftens Anderen die Disziplinen vorzutragen und sechstens die Erfindung neuer Wahrheiten (vgl. ebd.: 868-871). Dem Meditieren, dem eigenen Durchdenken und logischem Urteil darüber, kommt dabei eine tragende Rolle zu. Während Meier zuvor die Aufgaben der Lernenden und der Lehrer getrennt hat, gibt seine Darstellung des gelehrten Charakters eine Skizze, wie aus einem Studenten ein Lehrer wird. Es klingt an, dass das Lernen einen andauernden Prozess darstellt: „Man muss niemals zu lernen aufhören, indem man entweder immer was Neues zulernt, oder das schon gelernte besser erkennen lernt.“ (ebd.: 872) Die letzte Regel, die den Fleiß des Gelehrten betrifft und mit der die Vernunftlehre endet, gibt einen Wink in Richtung praktischer Nutzen: „Man muss mit dem Studiren die tägliche Erfahrung, den Umgang mit der ehrbaren Welt, und den Gebrauch der Dinge selbst, über die man gelehrt meditirt, verknüpfen; damit man nicht als ein blosser gelehrter Wurm vom Schulstaube lebe, und platonische Republiken erträume.“ (ebd.)

Wie die studentischen Logik-Nachschriften belegen, dürfte Kant gerade in Auseinandersetzung mit dem dritten und vierten Hauptteil Meiers, die sich auf den Vortrag der Philosophie konzentrieren, didaktische Anregungen für seinen Unterricht gefunden und reflektiert haben. Kants Notizen in seinem Handbuch belegen, dass er nicht nur über Meiers Vernunftlehre gelesen hat, sondern sich in einem regen Dialog mit den aufgeführten Unterscheidungen, Regeln und Lehrmethoden befand. Als Beispiel kann  §430 herangezogen werden. Hier unterscheidet Meier die „sokratische Lehrart (methodus socratica)“ als eine durch Frage und Antwort strukturierte Gedankenfolge

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von der „platonischen Lehrart (methodus platonica)“, die die Gedanken wie in einer freien Rede aufeinander folgen lässt, „ohne dass man förmliche und offenbare Schlüsse mache“ (Meier 1752, AA 16: 803). Mit Bezug darauf notiert sich Kant: „Ein Colloqvium ist 1, catechetisch, mechanisch (s auswendig lernen) oder iudiciös: Lehrer gegen Lehrling. (g epistolar Lehrart.) 2, dialogisch, wo man die Gedanken aus dem andern auslokt und sich wechselsweise prüfen läßt.“ (Refl, AA 16: 806)58

Das weist daraufhin, dass Kant die grundsätzliche Unterscheidung zwischen einer einseitigen und einer wechselseitigen Ausrichtung der Lehrsituation weiter differenziert. Er widerspricht jedoch Meier, der die sokratische Lehrart als Gespräch bezeichnet: „Der socratische dialog ist kein Gespräch, weil immer einer als Lehrer betrachtet wird. Im Gespräch ist keiner Lehrer oder Schüler, sondern sie sind in commercio der Gedanken.“ (Refl, AA 16: 808) Für Kant beziehen sich die Fragen des Lehrers auf Gedächtnissachen und deswegen könne der Schüler dem Lehrer keine Einsichten eröffnen (vgl. ebd.: 807). Insofern unterscheidet sich der durch Frage und Antwort strukturierte Lehrer-Schüler-Dialog von einem ‚echten‘ Gespräch. Kant erkennt durchaus den Vorzug der sokratischen Lehrart in der Funktion der Frage: „Der socratische Dialog lehrt durch Fragen, indem er den Lehrling seine eigene Vernunftprincipien kennen lehrt und ihm die Aufmerksamkeit darauf schärft.“ (ebd.: 808) Aber seine Reflexionen deuten in Auseinandersetzung mit Meiers Darstellungen daraufhin, dass die Unterrichtssituation ob ihrer sie kennzeichnenden, funktionalen Hierarchie von Lehrer und Schüler, dem für beide Seiten lehrreichen Gespräch deutlich nachzustehen scheint. Zwar weisen die „catechetische“ und „socratische“ Lehrart eine dialogische Struktur auf, doch in der ersten Befragung handelt es sich laut Kant um „Gedächtniswerk“ und nicht um die eigenen Gedanken des Schülers und bei der zweiten könne der Schüler den Lehrer fragen, was ihm dabei helfe, Begriffe zu entwickeln, jedoch dem Lehrer keine Einsichten eröffnen (Refl, AA 16: 807). „Endlich dialog ist: wenn sie sich unterreden und raisonniren“, „also nicht in frag und antwort“ (ebd.). Diese Notiz, von Adickes auf den Zeitraum 1776-1789 datiert, unterstreicht, dass Kant seinen Unterricht als Mittel zum Zweck für die intellektuelle Selbstständigkeit seiner Studenten verstand, dem immer etwas mechanisches 58

Adickes datiert die Notiz auf den Zeitraum 1772-1777, das hochgestellte ‚s‘ weist daraufhin, dass es sich bei dem Inhalt in den Klammern um einen späteren Zusatz handelt, das hochgestellte ‚g‘ weist auf einen Zusatz aus etwa derselben Zeit hin.

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anhaftet. Denn der ‚methodische Dialog‘ der Lehrpraxis kann kein Substitut für, sondern lediglich eine Vorbereitung auf die tatsächlichen Gespräche, das Unterreden und Räsonieren in commercio sein. Festhalten lässt sich durch den Überblick von Inhalt und didaktischen Anregungen, dass Kant durch Meiers Handbuch neben der mathematischen Lehrmethode von Wolff und Baumgarten die Vorzüge einer rhetorisch ori­ entierten Vortragsweise kennenlernte. Er wird darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Lehrer durch einen Charakter auszeichnet, der sich aus natürlichen Komponenten, gezielten Übungen und andauernden Fleiß zusammensetzt. Durch die Gegenüberstellung verschiedener Lehrarten erhält Kant einen Anreiz, über die Vor- und Nachteile didaktischer Methoden nachzudenken. Johann Peter Eberhard (1727-1779): „[W]ie es sein Gesichtspunkt mit sich bringt“ Johann Peter Eberhard, nach dessen Kompendium Kant seine Physikvorlesungen als Privatdozent gab, war drei Jahre jünger als Kant. Bereits mit 14 Jahren immatrikulierte er sich in Gießen, promovierte 1749 in Halle und begann dort 1753 mit seinen Vorlesungen über Physik und Mathematik nach Wolff. Im selben Jahr erschien sein Physiklehrbuch Erste Gründe der Naturlehre59, nach dem er seine experimentell-physikalischen Vorlesungen hielt. Infolge seines deutlichen wie verständlichen Vortrags schätzte man ihn als Lehrer, der als Aufklärer höchst fortschrittlich wirkte und die Physik vom Geheimnisvollen und Übernatürlichen befreite (vgl. Zaunick 1950: 239f.). Seine Vorrede verwendet er zur Angabe der Gründe, Absicht und Ordnung seiner Erzählung. Er habe das Buch „zum Nutzen der Akademischen Jugend geschrieben“ und die Naturlehre erklärt, indem er Theorien und Versuche verbindet (Eberhard 1753: Vorrede). Er hielt es für ratsam, seine eigenen Gedanken zugrunde zu legen, statt die Gedanken anderer zu erklären und begründet dies mit einer Frage: „Ist nicht die Naturlehre eine Wissenschaft, darin es einem jeden frei steht so zu denken, wie es sein Gesichtspunkt mit sich bringt, aus welchem er die Welt betrachtet? Und kann nicht ein jeder seine Gedanken so vortragen, wie es dieser Gesichtspunkt mit sich bringt?“ (ebd.)

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Analysiert wurde die erste Auflage von 1753 in Frakturschrift, denn Kant las ab dem ersten Semester Physik und kündigte bereits für das Sommersemester 1756 namentlich Eberhard an. Kants Exemplar wurde nicht erhalten. Es ist möglich, dass er zu den je neueren Auflagen wechselte, die zweite Auflage war 1759, die dritte 1767.

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Zwar dürfe er in Hinsicht auf seine Zielgruppe nicht zu viel Geometrie oder Algebra voraussetzen, jedoch sei eine Physik ohne Geometrie wie ein Körper ohne Seele. Er habe nur die nützlichsten Experimente ausgewählt und das Lehrbuch so eingerichtet, „daß es dem größten Theil der Leser nützlich sein möge“ (ebd.). Versuche seien genauso wichtig wie die Geometrie, um die Zuhörer nicht zweifelhaft zu hinterlassen, „ob man ihnen etwas von der würklich vorhandenen Welt, oder nur von einer möglichen vorgesagt habe“ (ebd.). Dabei legt er genau wie bereits Wolff auf das Anleiten zu einer selbstständigen Prüfung der Studenten wert. Deswegen möchte er nicht zu viele Versuche zeigen, sondern sie aus der Theorie so erklären, dass die Lernenden in den Stand gesetzt werden, andere Versuche künftig selbst zu beurteilen. Auf die Vorrede folgt ein Inhaltsverzeichnis als graphischer Entwurf des gesamten Buches, der es erlauben soll, den Zusammenhang der Inhalte einzusehen und ein alphabetisches Verzeichnis bisheriger physikalischer Schriften. Eberhards Lehrbuch ist mittels durchgängiger Paragraphenzählung strukturiert und gliedert sich in zwei Hauptteile, die je weiter in Kapitel und feingliedrigere Abschnitte unterteilt werden. Der erste Teil behandelt die allgemeinen Eigenschaften der Körper (§§1-121) wie Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Teilbarkeit, Beweglichkeit und Kraft. Der zweite und längere Teil widmet sich der näheren Betrachtung vorhandener Körper (§§122-599) wie Flüssigkeit, Feuer, Licht, kaltmachende, elektrische und magnetische Materie sowie dem Wasser, Mineralien, Pflanzen, Planeten und Kometen. Diesen Ausführungen fügt er ein ausführliches Tabellenverzeichnis mit den erklärenden Figuren zu den Versuchen bei. In §7 äußert sich Eberhard über die Lehrart und stellt dabei fest, alle Erkenntnis könne entweder aus den ersten Gründen, a priori, durch richtige Schlüsse oder durch die Sinne aus der Erfahrung, a posteriori, bestimmt werden. Zur philosophischen Naturlehre gehören sowohl Theorien als wahrscheinliche Erklärungen sowie Erfahrungen und Versuche als historische Erklärungen (vgl. Eberhard 1753: §9). Am besten sei es daher, erstens teils aus Erfahrung, teils a priori zu lernen, zweitens Versuche mit diesen und aus diesen Gründen anzustellen, drittens Gesetze der Körperwelt herzuleiten, auf welche man hernach, viertens durch richtige Schlüsse bauen und die besonderen Erscheinungen herleiten könne, ohne etwas anzunehmen, das nicht durch Erfahrung erwiesen werden könne oder ihr wenigstens nicht widerspreche und deswegen fünftens, möglichst neue Versuche anzustellen. Mit der Entscheidung für Eberhards Kompendium kann Kant nicht nur einen physikalisch als forschungsaktuell zu bezeichnenden Physikunterricht anbieten, sondern er wird durch dessen Lehrart ein weiteres Mal auf die Bedeutung einer Kombination von Theorie mit praktischer Übung aufmerksam gemacht. Zudem ermuntert Eberhard

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nicht nur zum selbstständigen Durchdenken und dem Anstellen neuer Versuche, sondern gibt, dadurch dass er seinen eigenen Standpunkt methodisch zur Grundlage seiner wissenschaftlichen Lehre erhebt, ein demonstratives Beispiel dieses Lernziels. Johann G. H. Feder (1740-1821): „Beyspiele machen mehr Eindruck als Lehren“ Zum Ende seiner Privatdozentenzeit in den späten 1760er-Jahren beginnt Kant Johann Georg Heinrich Feders Grundriß der Philosophischen Wissenschaften nebst der nöthigen Geschichte, zum Gebrauch seiner Zuhörer für die Enzyklopädie und Gottfried Achenwalls Iuris naturalis pars posterior in usum auditorium für seine Naturrechtvorlesung heranzuziehen. Laut Hans-Peter Nowitzki (2018: 368) hielt Feders Lehrbuch durch Kants Vorlesung ab 1770 Einzug in die Königsberger Universität. Naragons (2006a) Tabelle und Verweis auf Emil Arnoldt (1908/1909) belegt, dass Kant bereits kurz nach Erscheinen der ersten Auflage 1767 für das Wintersemester 1767/68 eine Enzyklopädievorlesung nach Feder im offiziellen Lehrkatalog ankündigte. Kant zeigt sich mit diesem Lehrbuch um einen forschungsaktuellen wie verständlichen Unterricht bemüht. Zudem zeugt der Griff zu Feder von einem durchaus als innovativ, offen und vorurteilsfrei zu beschreibenden Zug in Kants Lehrbuchauswahl. Feder war nicht nur erheblich jünger – er wurde geboren als Kant bereits als Zweitbester seines Jahrgangs die Schule beendet hatte – sondern er hatte, als sich Kant für sein Lehrbuch entschied, diesem bereits einiges an Bekanntheit und akademischen Renommee voraus. Nach seiner Dissertation 1765 in Erlangen, in der er sich mit Rousseau auseinandersetzte, übernahm er in Coburg eine Professur für Metaphysik, Moral und Logik und folgte drei Jahre später einem Ruf nach Göttingen. Im selben Jahr 1768 erscheint sein erster Band von Der Neue Emil oder von der Erziehung nach bewährten Grundsätzen. Jutta Heinz (2018) hat Feders pädagogische Arbeit mit einer Gegenüberstellung zu den von ihm selbst angegebenen Erziehungsautoritäten John Locke, JeanJacques Rousseau und Johann Peter Miller verglichen. Die Gemeinsamkeiten der Positionen überwiegen durch die Ähnlichkeit des adressierten Gegners, der gegenwärtigen Erziehungsrealitität und Schulwirklichkeit, die einen hohen Reformbedarf aufwiesen (vgl. Heinz 2018: 298). Zweierlei stellt Heinz (2018: 315) für Feders frühe pädagogische Arbeiten heraus: Zum einen skizziere er nicht einen idealen Erzieher, sondern verschiedene Erzieherpersönlichkeiten und zum anderen erweise er sich im Vergleich zu den anderen Erziehungsmethoden, -inhalten und -prinzipien als entschiedener Eklektizist. Belegt durch eine autobiographische Erinnerung, bezeichnet sie Feders Synkretismus oder Eklektizismus als eine für ihn „angemessene pädagogische Haltung im Dienst der Erziehung zum Selbstdenken“ (ebd.). Mit Kants früher Entscheidung

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für Feders Grundriß erwies er pädagogisches Gespür und Interesse, denn der Autor war zu dieser Zeit nicht nur ordentlicher Professor für Philosophie, sondern auch ein früher pädagogischer Reformdenker der institutionalisierten Erziehung. Feders Grundriß60 erschien in zwei Auflagen 1767 und 1769, von denen die zweite Auflage ein inhaltsidentischer, wenn auch nicht autorisierter Neusatz der ersten Auflage darstellt (vgl. Nowitzki 2018: 374, F 56). Das Lehrbuch gliedert sich in drei Abteilungen. Die Einleitung zur philosophischen Historie (§§1-59) benennt Strömungen und Väter der Philosophie, darunter Thales, Sokrates, die Skeptiker sowie Thomas Hobbes, Descartes oder Thomasius und skizziert kurz deren Charakter und Urteil. Die zweite Abteilung, Grundriss der vornehmsten Theile der Weltweisheit, ist die längste und gliedert sich in fünf Kapitel, die je mit einer neuen Paragraphenzählung beginnen. Sie handeln Von dem Begrif des Worts Philosophie, dem Unterschied und Zusammenhang der philosophischen Wissenschaften (§§1-6), Von der Logik (§§1-26) und dem Anhang zu ihrer Geschichte (§§1-12), Von der Metaphysik (§§1-50) und dem Anhang zu ihrer Geschichte (§§1-12), Von der Physik oder Naturlehre (§§1-65) und deren Geschichte (§§1-9), und dem Grundriß der praktischen Philosophie (§§1-78), der das Allgemeine, das Recht der Natur, die Tugendlehre und die Politik oder Klugheitslehre aufführt sowie die Geschichte der praktischen Weltweisheit (§§1-7). Die dritte Abteilung nennt sich Beytrag zur philosophischen Bücherkenntniß (§§1-7), versteht sich als Entwurf einer philosophischen Bibliothek und listet historische, vermischte, logische, metaphysische und praktische Philosophie-Schriften auf. Gleich im ersten Kapitel der zweiten Abteilung wirft Feder (1769: 50) die Frage auf: „Soll man Philosophie lernen?“ Er antwortet entschieden positiv, denn würde die Philosophie verdammt werden, so mit ihr die menschliche Vernunft. Für ihn habe der „Lehrer der Weltweisheit“ die schönen Wissenschaften zu achten, solle dabei aber aufpassen, nicht zum „philosophischen Petitmaitre“ zu werden (Feder 1769: 51). Im nächsten Kapitel gibt er verschiedene Regeln an, die für alle Denkenden gelten, wie etwa Regeln, um Irrtümer zu vermeiden, Regeln, wenn man von anderen lernen wolle und auch spezielle Regeln für den Lehrer. Um andere zu lehren, müsse man das, was man lehren wolle, in seinem ganzen Zusammenhang wohl durchdacht haben, bemerken, wie diese Ideen nach und nach entstanden und verbunden worden sind, sich an die Stelle desjenigen versetzen, welchen man lehren wolle und sich mit seinen Begriffen und seiner Denkungsart bekannt machen (vgl. ebd.: 74f.). Mit Bezug auf die 60

Analysiert wurde die zweite Auflage von 1769 in Frakturschrift. Kants Exemplar ist unbekannt.

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Tugendlehre reflektiert Feder den besonderen Unterricht zur Tugend und wirft die Grundsatzfrage auf, wie das ursprünglich Natürliche von dem zu unterscheiden sei, was Erziehung und Nachdenken erzeugt haben (ebd.: 291). Die Selbstliebe als Grund der Tugend könne durch unmittelbare Empfindung von Unangenehmen und Angenehmen oder die vernünftige Betrachtung des Nützlichen bewegt werden (vgl. ebd.). Daraus leitet Feder (1769: 292) drei Regeln der Tugendlehre ab, die er als „Imperative“ formuliert: „1) Regiere deine Selbstliebe nach vernünftigen Bewegungsgründen; suche dein Bestes mit Vernunft. 2) Mache den Gedanken von einem höchsten Wesen und seinen Eigenschaften so stark in dir, daß er sich zu allen deinen Neigungen, Entschliessungen und Handlungen geselle. 3) Suche alle besondere Antriebe zu Handlungen deren Rechtmäßigkeit deine Vernunft dich lehret, zu erwecken, zu erhalten, zu stärken; erwirb dir unter der Prüfung der Vernunft ein richtiges Gefühl des moralischen Schönen und Guten.“

Des Weiteren hält er fest, dass das Wachstum der Tugend als tätige Neigung auf den Willen angewendet, eine Fertigkeit sei, „welche durch Uebung zu einer grösseren Vollkommenheit gebracht werden“ könne (ebd.: 298). Dafür gebe die Vernunft Vorschriften, die Feder im Folgenden auflistet, und bei denen eine Formulierung in Hinsicht auf Kant besonders auffällt: „Betrachte das Laster oft in seiner innern Abscheulichkeit, die Tugend in ihrer innern Schönheit, wenn beyde vor dem Richterstuhl der ruhigen Vernunft erscheinen; und stärke dich oft durch jeden besondern Bewegungsgrund, diesem Richter zu gehorchen.“ (ebd.)

Obwohl Feder den Grund der Tugend in der Selbstliebe verortet, erhält die Vernunft die zentrale Rolle des Richters, wenn es darum geht, Beweggründe in Hinsicht auf tugendgemäßes Handeln zu prüfen. Die mit Hilfe der Vernunft entdeckten Regeln für den Willen, werden von ihm als Imperative formuliert. Er gibt darüber hinaus noch konkretere Empfehlungen. So solle man das eigene Tugendbemühen prüfen und dafür gemäß der goldenen Lehre des Pythagoras die Handlungen des Tages untersuchen (vgl. ebd.: 308). Außerdem solle man nicht nur sich selbst, sondern andere zu Tugend und Weisheit führen, wozu Feder noch einmal einen Satz imperativischer Regeln formuliert (vgl. ebd.: 316f.). Erstens solle man selbst weise und tugendhaft sein, denn „Beyspiele machen mehr Eindruck als Lehren“ (ebd.). Zweitens solle man die Schüler durch Taten davon überzeugen, dass man ihr Bestes suche. Drittens müsse man die rechte Art und Weise finden, zu ermahnen und zu strafen, wozu es

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ratsam ist, einen geeigneten Zeitpunkt zu wählen und die Vorstellungen der Denkungsart des andern zu gebrauchen. Viertens solle man darauf achten, nicht auf bloße Überredung zu bauen, sondern sichere und unüberwindliche Gründe für die Überzeugung zu geben. Mit dem Lehrbuch von Feder entschied sich Kant früh für ein Werk, das sich durch Wortwahl, Struktur und Methode grundlegend von herkömmlichen Lehrbüchern dieser Zeit unterscheidet. „Offenheit, Unentschiedenheit, eklektische Zugriffsfreudigkeit und Unbeschwertheit“ sind Kriterien, mit denen Feders Grundriß „innerhalb der Gattung der philosophischen Lehrwerke den Prototyp der popularphilosophischen Kompendien allererst geschaffen“ habe (Nowitzki 2018: 384). Während Wolff mittels seinem Auszug Anfängern ein Bild der mathematischen Ordnung zu vermitteln versucht, erstreckt sich das aufklärerische Bemühen um einen verständlichen Einblick für Studienanfänger in Feders Grundriß auf die gesamte Disziplin der Philosophie. Durch dieses Lehrbuch erhält Kant Anregungen zu praktischen Regeln für den Unterricht aus der Erfahrung eines geübten Erziehers und leidenschaftlichen Lehrers, wird auf die Geschichte als prägenden Faktor für die philosophische Disziplin und ihre Lehre hingewiesen und darauf, dass Übung und Beispiel auch im Bereich der Tugend und praktischen Philosophie für das Lernen eine wesentliche Rolle einnehmen. Gottfried Achenwall (1719-1772): Das „ius educandi“ im natürlichen Gesellschaftsrecht Nach einer etwa vierjährigen Erziehertätigkeit als Hauslehrer erwarb Gottfried Achenwall 1746 in Leipzig die philosophische Magisterwürde und begann im Anschluss erste staatswissenschaftliche Vorlesungen in Marburg zu geben. Zwei Jahre später wurde er zunächst außerordentlicher Professor, erhielt schließlich 1753 eine ordentliche Professur an der philosophischen Fakultät in Göttingen und wurde 1761 ordentlicher Professor an der Juristenfakultät (vgl. Schröder 1995: 348). Bereits in den späten 1740er-Jahren fasste er mit seinem Freund Johann Stephan Pütter den Plan, gemeinsam ein Lehrbuch über die Wissenschaften vom Staat, der Staatskunde und -geschichte sowie Politik, Naturrecht und natürliches Staatsrecht zu verfassen (vgl. ebd.: 333). Das Ergebnis waren die Elementa iuris naturae in usum auditorium adornata, die erstmals 1750 erschienen. Das Handbuch, welches Kant seinen naturrechtlichen Vorlesungen zugrunde gelegt hat, ist von Achenwall allein verfasst worden und trägt den Titel Iuris naturalis pars posterior in usum auditorium61. Erstmals 61

Analysiert wurde der Auszug der Ausgabe 1763, der als Referenzwerk in der Akademieausgabe Band 19 enthalten ist.

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erschien dieses Lehrbuch 1756. Da Achenwall es als dritte Auflage der früheren Elementa verstand, stehen die beiden Lehrbücher entwicklungsgeschichtlich, thematisch und editorisch in engem Zusammenhang. Dennoch handelt es sich um unterschiedliche Texte. Kant verwandte die dritte Auflage des Iuris naturalis von 1763, und damit die fünfte Auflage der Elementa (vgl. Guyer 2020: XVII). Während die Elementa seit 1995 in deutscher Sprache vorliegen, ist ein Auszug von Kants Lehrbuch im lateinischen Original als Referenztext innerhalb der Akademieausgabe vorhanden, doch bis zu der englischen Übersetzung Natural Law: A Translation of the Textbook for Kant’s Lectures on Legal and Political Philosophy herausgegeben von Pauline Kleingeld im Jahr 2020 noch in keiner modernen Sprache verfügbar gemacht worden. Das von Kant im Unterricht benutzte Lehrbuch Achenwalls teilt sich nach einem Inhaltsverzeichnis und einer Einleitung (§§1-60) über die Quellen, allgemeinen Prinzipien und grundlegenden Unterscheidungen des Naturrechts in vier Bücher. Das erste Buch mit dem Titel Ius Naturale strictissime dictum unterteilt sich in drei Sektionen über das absolute (§§63-108) und hypothetische Naturrecht (§§109-257) sowie das natürliche Kriegsrecht (§§258-286). Das zweite Buch Ius Sociale Universale speciatim Ius Societatum Domesticarum Universale gliedert sich in eine allgemeine Sektion über das Gesellschaftsrecht (§§1-40) und eine zweite, die speziell das häusliche Recht (§§41-84) behandelt, Ehe, Elternschaft und Familie. Im dritten Buch widmet sich Achenwall dem Ius Civitatis Universale specialim Ius Publicum Universale, das er zunächst begrifflich klärt (§§85-87) und dann in vier Sektionen unterteilt. Die erste behandelt das öffentliche Recht in genere (§§88-111), um die Charakteristika der Bürgerschaft und ihre Grundlagen zu erklären. Die zweite absolutum (§§112-147), widmet sich den Kräften des Staates, den gesetzgebenden, ausführenden und untersuchenden. In der dritten Sektion hypotheticum (§§148-190) erklärt Achenwall die unterschiedlichen Staatsformen Monarchie, Republik sowie deren Mischformen und die vierte Sektion behandelt die verschiedenen Arten des Besitzrechtes (§§191-208). Im vierten Buch wird das Ius gentium Universale, das allgemeine Völkerrecht vorgestellt. Dieses Buch beginnt nicht mit einer separaten Paragraphenzählung, sondern schließt an das dritte Buch an. Es unterteilt sich ebenfalls in vier Sektionen. Die ersten folgen Achenwalls Unterscheidung in allgemein (§§209-213), absolut (§§214-223) und hypothetisch (§§224-258). Die vierte Sektion schließt mit einer Abhandlung des Völkerkriegsrechts (§§259-288). In Hinblick auf die Lehrmethode und die Darstellung seiner Lehrinhalte zu Natur-, Gesellschafts-, Staats- und Völkerrecht ähnelt Achenwalls Vorgehen dem von Wolff und Baumgarten. Inhaltlich ist in Hinblick auf Kants Erziehungsdenken erwähnenswert, dass dieses Lehrbuch Erziehung in rechtlicher Sicht

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diskutiert. Über diese Stellen finden sich Reflexionen Kants, die bereits auf das Jahr 1769 datiert werden. Er diskutiert dabei rechtliche Fragen, wie etwa „Es frägt sich, wem gehören die Kinder?“ (Refl, AA 19: 462), „warum der Kindermord nicht erlaubt sey?“ (ebd.: 468) oder „Ob Eltern von den Kindern in der Folge noch die Bezahlung ihrer Erziehung fordern können?“ (ebd.: 469). Er reflektiert den Status des Kindes, ob es bereits als Person im rechtlichen Sinne angesehen werden könne (vgl. ebd.: 468) und darauf bezogen seine Entwicklung, die dafür sorgt, dass es nicht als eine Sache angesehen werden könne, sondern als eine potentielle Person gelte (vgl. ebd.). In diesen frühen Reflexionen sieht Kant die Eltern in der Pflicht, für die von ihnen in die Welt gesetzten Kinder zu sorgen. Er nennt dies sogar „Zwangspflicht“, doch sei es darüber hinaus „eine Pflicht, die eine Erkenntlichkeit verdient, weil die Erziehungsart nicht kan erzwungen werden“ (Refl, AA 19: 470). Festhalten lässt sich, dass Achenwalls Lehrbuch durch seinen Aufbau in Paragraphen und dem Abhandeln verschiedener Definitionen dem KompendienPanorama nicht unbedingt eine weitere, didaktische Anregung hinzufügt. Jedoch dürften seine Erziehungsdefinition, für das Gedeihen eines Menschen zu sorgen, der sich durch sein Alter noch nicht selbst vervollkommnen kann (vgl. Achenwall 1763, AA 19: 348) und seine Ausführungen über das ius educandi (ebd.: 352f.) Kant Anlass gegeben haben, über den rechtlichen Aspekt von Erziehung und der natürlichen Grundlage dafür nachzudenken. Johan G. Wallerius (1709-1785): „Eines Mannes Fleiß und Alter ist nicht zureichend“ Den Anlass für die Mineralogievorlesung gab ein Edikt der preußischen Regierung. Es sah vor, dass dieses Fach nicht nur aus einer historischen und praktischen Perspektive gelehrt werden sollte, sondern in Hinblick auf die Vorschriften des Bergbaus (Naragon 2006f). Kant hatte bereits mit seinem Angebot der Physischen Geographie Interesse an der Beschaffenheit der Erde, ihrer Gestalten und verschiedenen Materien gezeigt. Jachmann (1804: 13) berichtet, Kant habe 1766 die zweite Inspektorenstelle bei der königlichen Schlossbibliothek erhalten und mit ihr die Aufsicht über das Naturalien- und Kunstkabinett, „welches ihm zum Studium der Mineralogie Veranlassung gab“. Wie Stark (2014b: 37-40) jedoch feststellt, finden sich außer diesem Hinweis von Jachmann keine Belege, dass Kant wirklich zeitweilig die Aufsicht über das Naturalienkabinett des Königsberger Kommerzienrats Friedrich Franz Saturgus hatte. Der Autor des Kompendiums war ein schwedischer Chemiker und Mineraloge. An der Universität Uppsala wurde Wallerius der erste Professor

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für Chemie und trug durch seine Arbeit im Bereich der Metallurgie sowie der Klassifikation von Mineralien nach Farben dazu bei, der praktischen Chemie als Wissenschaft mehr akademisches Ansehen zu verleihen (vgl. Frängsmyr 1974: 35). Das auf Schwedisch verfasste Handbuch zur Mineralogie wurde 1747 veröffentlicht, erschien in deutscher Übersetzung erstmals 1749 und auf Französisch 1753. Dadurch erfuhr die Mineralogie von Wallerius in Europa Verbreitung und breites Ansehen (vgl. Goebel 1875: 118). Kant verwandte für dieses Kollegium die zweite und vermehrte Auflage der deutschen Übersetzung von Johann Daniel Denso 176362. Der Übersetzer verfasste zu den beiden deutschen Auflagen je eine kurze Vorrede. In der ersten macht er auf die Leistungen des schwedischen Volkes im Gebiete der Naturforschung aufmerksam und rechtfertigt seine Übersetzung mit dem Wunsch, das Naturreich richtig abgeleitet und beschrieben zu sehen. Er sei dafür zehn Jahre mit Wallerius in Briefkontakt gewesen. Die Vorrede zur zweiten Auflage gibt an, man habe nicht durch zu viele Anmerkungen den Umfang vergrößern, sondern die Gestalt eines Handbuches beibehalten wollen. Auf die beiden Vorreden des Übersetzers folgt die des Autors, der sie an den geneigten Leser und Bergmann richtet. Er beginnt, indem er die bisherigen Forscher auf dem Gebiet namentlich vorstellt und ihre Verdienste beschreibt. Sie alle haben den Weg zu der vorliegenden mineralischen Arbeit gebahnt. Daneben gibt er noch eine weitere Quelle des Kompendiums an, indem er feststellt, er habe „allen Fleiß angewandt, des meisten Teils der Erd- und Steinarten Eigenschaften und Natur durchs Feuer und Wasser, zu erforschen“ (Wallerius 1763: Vorrede). Sein Wunsch sei es, dass andere im Bergwesen versierte Männer, ihn auf gleiche Art beehren mögen, damit die mineralische Arbeit „durch deren Erfahrenheit und Versuche, mit der Zeit, ein grösseres Licht kriegen möge“ (ebd.). Wallerius situiert seine Forschung in der Geschichte der bisherigen Leistungen, erweitert die so gewonnenen Erkenntnisse durch eigene Forschung und Versuche und erarbeitet eine Klassifikation, um künftige Forschungsarbeit voranzutreiben. Er präsentiert seine Forschung in der Mineralogie als Generationen und Nationen übergreifendes Gemeinschaftsprojekt: „Eines Mannes Fleiß und Alter ist nicht zureichend, alle mineralische Körper zu untersuchen: sie sind auch nicht alle auf einer Stelle zu finden.“ (ebd.) Die Wahl der Sprache und Schreibart wird von ihm reflektiert und begründet. Weder habe er versucht die Redensart der Bergmänner zu gebrauchen, noch eine zu hohe Schreibart zu wählen: 62

Analysiert wurde diese Auflage von 1763 in Frakturschrift.

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Appendix „Ich bin, so viel möglich gewesen ist, die Mittelstrasse gegangen, damit die Wahrheit von allen, ohne Zweideutigkeit, in ihrer Einfalt begriffen werden könte, und ich habe mein Absehen viel mehr auf die Sache und Wahrheit, als deren Ausschmückung, gerichtet.“ (Wallerius 1763: Vorrede)

Abschließend wünscht er sich, dass diese Mineralogie zu der Ehre des Namen Gottes sei und seinen Landsleuten sowie dem Vaterland Nutzen und Vorteil bringen möge. Das Kompendium zeigt im Vergleich zu den anderen Handbüchern Kants noch stärker den Charakter eines Nachschlagewerks, das auf seinen Nutzen zur praktischen Anwendung hinweist. Eine Gedächtnistafel eröffnet im Anschluss an die Vorreden das Handbuch und bietet einen Überblick der vier Klassen der Mineralien und Fossilien, die Erdarten, Steinarten, Erzarten und Versteinerungen. Diese werden je durch vier Ordnungen weiter untergliedert und mit römischen Zahlen versehen, die die folgenden Abteilungen darstellen. Es findet sich noch eine weitere Rubrik über fremde Mineralien, die mit und durch Kunst zubereitet seien. An diese orientierende Tafel schließt sich das detaillierte 26 Seiten fassende Inhaltsverzeichnis an. Hier werden die deutschen durch die lateinischen Begriffe der Ordnungen ergänzt, die Seitenzahl der deutschen Übersetzung sowie die Seitenzahl des schwedischen Originals als auch die Zahl der Spezies, welche unter die jeweilige Ordnung fallen, angegeben. Nach dem Inhaltsverzeichnis setzen die Seitenzählung und die Paragraphenstruktur ein. Die Beschreibungen aller Klassen und Ordnungen, die Beschaffenheit der jeweiligen Stoffe und ihre Eigenschaften füllen 529 Seiten, die in 153 Paragraphen unterteilt sind. Es schließt sich der etwa 70-seitige Appendix über die fremden Materialien an, der eine eigene Paragraphenzählung hat und sich in 23 Paragraphen strukturiert. Das Handbuch endet mit einem 30 Seiten starken, alphabetischen Verzeichnis der im Mineralreich vorkommenden Wörter von ‚Abdrücke im Stein‘ bis ‚Zwitter‘ und gibt an, auf welcher Seite diese zu finden sind. Abseits von der Gedächtnistafel, die Schülern einen orientierenden Überblick des Mineralreichs bietet, scheinen sich die Ausführungen eher an Forscher und Praktiker zu richten, die sich fragen, welches Gestein oder welche Erdart sie vor sich haben. Das Nachschlagen wird durch die Klassifizierung nach Farben erleichtert, wie etwa schwarze oder rote Stauberde, weiße oder grüne Kreide, bleichgelbes oder grünliches Kupfererz. Ohne Anschauungsmaterial ist ein Unterricht nach diesem Handbuch schwer vorstellbar. Die Ankündigung im Vorlesungskatalog zeigt, dass Kant mit dieser Vorlesung wohl einen experimentell-anschauenden Unterricht angeboten hat: „Mineralogiam universam exhibendo ipsa fossilim exemplaria docuit“ (Oberhausen/Pozzo

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1999: 311). Das Kompendium von Wallerius stellt ein Beispiel dar, wie ein neues Forschungsfeld architektonisch und systematisch, nachvollziehbar und praktisch strukturiert werden kann, um durch die Lehre aktuelle und folgende Forschung als Gemeinschaftsprojekt über Generationen und Länder hinweg in einfacher Sprache voranzutreiben und zu ermöglichen. J. C. P. Erxleben (1744-1777): Die „Nothwendigkeit und die Neugierde der Menschen“ Erxleben, dessen Mutter Dorothea Christiane die erste promovierte deutsche Ärztin und Pionierin des Frauenstudiums war, reichte seine zoologische Magisterarbeit 1767 an der philosophischen Fakultät in Göttingen ein. Damit war auch er Pionier, denn es handelte sich um die erste und lange Zeit einzige zoologische Dissertation an dieser Universität (vgl. Beaucamp 1994: 21). Mit 23 Jahren begann er im Sommersemester mit seinen Vorlesungen, in denen er eine naturwissenschaftliche Vielfalt anbot. Mit Botanik, Physik, allgemeiner Naturgeschichte, Berg- und Hüttenwesen, metallurgischer Chemie sowie Landwirtschaft und Bergwerkswissenschaften verlegte sich der ursprüngliche Mediziner ganz auf die Naturwissenschaften (vgl. ebd.: 22). Durch das Redigieren eines Buches wurde er auf die Vieharzneikunst aufmerksam und widmete einen Großteil seiner Forschungen diesem Gebiet. Er gründete das tierärztliche Institut der Georg-August-Universität Göttingen, die erste veterinärmedizinische universitäre Bildungsstätte Deutschlands und setzte sich für die Anerkennung dieser Disziplin als Wissenschaft ein. Nach seiner Habilitation erhielt er 1775 eine Professur für Physik und Tierheilkunde. Bereits 1769 verfasste er eine Einleitung in die Vieharzneikunst sowie eine kleine Abhandlung Betrachtungen über das Studium der Vieharzneykunst. Mit diesen Schriften wollte er dem Landmanne ein Nachschlagewerk und seinen Studenten ein Kompendium für die Vorlesungen bieten (vgl. ebd.: 24). Nach den ersten Erfolgen als Kompendienautor über Tierheilkunde und Naturgeschichte gab er 1772 das vielbeachtete Physiklehrbuch Anfangsgründe der Naturlehre heraus (vgl. ebd.: 39). Mit seinen Lehrbüchern und Publikationen wurde er der wissenschaftlichen Welt schnell bekannt, wurde 1773 Mitglied der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin und 1774 Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Nach Erxlebens frühen Tod im Alter von 33 Jahren, führte Georg Christoph Lichtenberg dessen Vorlesungen über Experimentalphysik fort. Lichtenberg gab auch die dritte bis sechste Auflage der Anfangsgründe der Naturlehre mit Erweiterungen heraus. Gemäß dem offiziellen Vorlesungskatalog bot Kant erstmals im Winter 1772/73 theoretische Physik nach Erxleben an und somit bereits im Erschei­ nungsjahr des Handbuchs, was sein starkes Interesse an diesem Gebiet und

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sein Bemühen um einen forschungsaktuellen Unterricht in diesem Fach erneut unterstreicht. Dieses Kollegium kam jedoch nicht zu Stande, so dass er seine erste Vorlesung nach diesem Kompendium erstmals im Sommer 1776 und dann wieder im Sommer 1779 hielt. In den 80er-Jahren las er, wenn auch nicht ausschließlich, weiterhin Physik nach Erxleben. Die Anfangsgründe der Naturlehre63 beginnen mit einer Dankesrede Erxlebens an seinen geschätzten Lehrer und Hofrat Abraham Gotthelf Kästner. Dieser habe ihm den ersten und immer wichtigen Unterricht in der Naturlehre erteilt und deswegen lege er dieses Buch nun seinem teuersten Lehrer vor: „Wenn mein Buch brauchbar gefunden wird, so wird es einen neuen Beweis davon abgeben, daß Jemandes Beschäftigung mit einer Wissenschaft immer um desto besser gelingt, ie gründlicher der Unterricht gewesen ist, den er zuerst darin genossen hat.“ (Erxleben 1772: Widmung)

In seiner anschließenden Vorrede gibt Erxleben an, ein Handbuch über die gesamte Naturlehre, ihre Anfangsgründe, Geschichte und Bücherkenntnis vorlegen zu wollen, das es in dieser Form noch nicht gebe. Er habe sich bemüht, die Pflichten eines Kompendienschreibers zu erfüllen, „die Lehren der Wissenschaft selbst so vollständig, als es die engen Gränzen eines Handbuches erlauben, in einer zusammenhängenden Ordnung und in der nöthigen und doch deutlichen Kürze vorzutragen“ (Erxleben 1772: Vorrede). In Rücksicht auf seine Zielgruppe, der studentischen Hörer des Naturlehre-Kollegiums, habe er nur die leichtesten mathematischen Lehren zum Erweis der physikalischen gebraucht. So könne denjenigen ohne mathematische Kenntnisse dennoch eine Menge Nützliches beigebracht werden, allerdings ohne von der Richtigkeit der ganzen Wissenschaft und dem Erweis verschiedener Sätze wirklich überzeugt zu sein. Die Sätze, die sie deswegen nicht selbstständig prüfen könnten, müssen sie nun glauben. Er selbst sei dem Vortrage seines Lehrers fast Fuß auf Fuß gefolgt und rechtfertigt dies mit einer Frage: „[W]ie konnte ich anders, wenn ich die Sachen gründlich und dabey doch kurz und deutlich vortragen wollte?“ (ebd.) Systematisch sieht er die Anfangsgründe der Naturlehre in Zusammenhang mit seinem früheren Lehrbuch über die Naturgeschichte von 1768. Sie stellen „gewissermaassen ein Ganzes, ein Handbuch über die sämtlichen physikalischen Wissenschaften“ dar (ebd.). Ferner bemerkt er, dass ein Kompendium mehr sei als ein bloßes Register. Klassen, Ordnungen, Geschlechter und Arten der natürlichen Körper geben nur einen Leitfaden, um sich in der Weitläufigkeit dieser Wissenschaft nicht zu verirren. Erxleben 63

Analysiert wurde die erste Auflage von 1772 in Frakturschrift.

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möchte den Anfängern den Weg zur Erlernung der Wissenschaft bahnen. In der Vorrede wird er nicht explizit, was das Kompendium über das Register hinaus, für diesen Zweck zu erfüllen habe. Doch in §11 seiner Einleitung beschreibt er die „bequemste Weise die Naturlehre andern beyzubringen“, als das unmittelbare Verbinden von Bemerkungen und Schlüssen und das beständige Durchweben der Theorie mit den beweisenden, einfachsten Versuchen (Erxleben 1772: 8). Künstliche Versuche haben dabei den Nutzen, Anfänger aufmerksamer zu machen und sie darin zu üben, „zusammengesetztern und verwickeltern Naturbegebenheiten gehörig nachzudenken und die etwas mehr versteckten Ursachen davon aufzusuchen“ (ebd.). Zuvor gibt Erxleben (1772: 7) eine Beschreibung des Naturforschers, als demjenigen, „der alles so genau als möglich beobachtet, was zur Entdeckung der Naturgesetze und zur Erweiterung der Naturlehre dienen kann, dienliche Versuche mit der gehörigen Vorsicht anstellt, und daraus durch richtige Schlüsse die Natur der Körper in unserer Welt herleitet und die Naturgesetze entwickelt“. Der von ihm beschriebene Naturforscher scheint das Leitbild für Lehrer als auch Schüler der Naturlehre zu sein. Er stellt fest: „Die Nothwendigkeit und die Neugierde der Menschen haben zur Erfindung und weitern Bearbeitung der Naturlehre vielleicht gleich viel beygetragen.“ (ebd.: 10) In Zusammenhang mit seiner Reflexion über den Einfluss seines Lehrers auf sein eigenes wissenschaftliches Bemühen lässt sich schließen, dass für Erxleben ein Unterricht wohl eben diese Notwendigkeit aufdecken und die Neugierde wecken solle. Ein Register kann demnach dem angehenden Forscher zwar Orientierung stiften, aber darüber hinaus braucht es Gründe für die Notwendigkeit der Wissenschaft und Anregungen, die die Neugierde wecken, sie selbst durch eigene Versuche und Schlüsse zu erforschen und deren Kenntnis fortzuführen. Zu dieser Lesart passend, eröffnet Erxleben seine Einleitung, ähnlich wie Wolff es für die Mathematik versucht, mit einem nachvollziehbaren Grund für das Studium der Körper. Da wir als Menschen von Körpern umgeben sind, die mannigfaltig auf uns wirken, ihr Gebrauch uns das Leben angenehm und bequemer machen könne, sie uns aber auch gefährlich werden können, so habe die Kenntnis der Körper auf unser Wohl unstreitig einen großen Einfluss (vgl. Erxleben 1772: 1f.). Die Naturlehre oder Physik als Wissenschaft von den Eigenschaften und Kräften der Körper sei deswegen eine der allernützlichsten Wissenschaften. Im weiteren Verlauf der Einleitung erfahren die Schüler, dass so lange eine gewisse Erklärung über die beobachteten Naturbegebenheiten, den phaenomena oder apparentia, noch nicht gegeben werden könne, es dieser Wissenschaft darum ginge, Hypothesen zu formulieren. Diese haben einen „nicht unbeträchtlichen Werth und Nutzen zur Erforschung der

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Natur“, denn hätte „man niemahls Hypothesen gemacht, so würde die Naturlehre bey weitem noch nicht die Vollkommenheit erlangt haben, zu der sie wirklich gebracht worden ist“ (ebd.: 6). Das Fach wird von Erxleben als ein unabgeschlossenes Forschungsfeld dargestellt, das sich im Prozess befindet. Statt übermäßiger „Liebe zum System“ erfordere es insbesondere einen erweckten „Beobachtungstrieb“ in Verbindung mit Mathematik (ebd.: 11). Der Schüler wird durch Erxlebens Einleitung nicht mit etwas Abgeschlossenem konfrontiert, sondern auf die noch zu leistende Arbeit aufmerksam gemacht. Es leuchtet ein, dass eine solche Darstellung eher in der Lage ist Forscherneugierde wecken zu können, als ein bloßes Register. Doch ist die Einleitung in die Naturlehre (§§1-18) nur der erste von insgesamt 13 Abschnitten. Der zweite behandelt einige allgemeine Untersuchungen über die Körper überhaupt (§§19-27), der dritte die Bewegung (§§28-80) und der vierte die Schwere (§§81-137). Im fünften Abschnitt geht es um die Untersuchung der Körper in Hinsicht auf den Zusammenhang ihrer Teile (§§138-157), im sechsten um die nähere Betrachtung der flüssigen Körper (§§158-219). Der siebte Abschnitt handelt von der Luft (§§220-300), der achte vom Licht (§§301-418), der neunte von der Wärme und der Kälte (§§419-490), der zehnte von der Elektrizität (§§491-536) und der elfte von der magnetischen Kraft (§§537-562). Die beiden letzten Abschnitte verorten die Aussagen zum einen in Hinblick auf das Weltgebäude und die Erde überhaupt (§§563-661). Hier werden unter anderem die ersten Gründe der Astronomie und Geographie gegeben, auf Jahreszeiten, die Sonne, die Bahnen der himmlischen Körper und die Planetenbewegungen eingegangen. Der letzte Abschnitt handelt von der Erde insbesondere (§§662-763), ihrer Oberfläche, dem Luftreich, den Gewässern, Meeren und Witterungen. Im Anschluss finden sich die nummerierten Figuren für den Aufbau der Versuche, auf die sich Erxleben an den bestimmten Stellen der Abhandlung bezieht. So zeigt etwa Figur 1 mit der Zeichnung eines Parallelogramms, wie sich ein Körper bewegt auf den zwei Kräfte wirken. Durch Erxlebens Kompendium ermöglicht Kant seinen Studenten einen forschungsaktuellen Physikunterricht mit einfachen Versuchen. Eine didakti­ sche Anregung ist, die Schüler auf den Nutzen und die Notwendigkeit der Wissenschaft sowie auf das Offene in ihr zu Beginn aufmerksam zu machen, um die Neugierde am Forschen und Beobachten zu wecken und zu einer weiteren Auseinandersetzung zu motivieren. In seiner Vorrede spricht er zudem ein Charakteristikum des Wissenschaftsprozesses an. Soll der Schüler weitergehen als der Lehrer und mit einem kurzen Handbuch in das Wichtigste eingeführt werden, ist das mit einem Glauben verbunden. Ein Glaube an die Richtigkeit des vom Lehrer dargelegten, ohne es selbst bis ins allerletzte Detail

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geprüft zu haben. Für die verkürzte Vorstellung der Lehre wird auf das vom Lehrer Erarbeitete aufgebaut und sich auf die Gründlichkeit dessen verlassen. Der Fortschritt in dem über die Lehrer-Schüler-Beziehung sich vollziehenden Wissenschaftsprozess beinhaltet einen Glauben an die Gründlichkeit der Lehre des Lehrers. Johann Bernhard Basedow (1724-1790): „Nicht viel, aber mit Lust!“ Da Basedow zu den Wegbereitern der Pädagogikreform in Deutschland zählt und Gründer der bekannten Modellschule, des Philanthropins in Dessau ist, sind seine Biographie und Bibliographie erforscht und gerade in pädagogischen Überblickswerken häufig zu finden. In Bezug auf Kants Kosmopolitismus, seine Pädagogik und Erziehung wurde mittlerweile neben Rousseau auch Basedow als zentraler Einfluss untersucht (vgl. Lausberg 2009; Louden 2012; Cavallar 2015). Der folgende Überblick beschränkt sich wie bei den anderen Kompendien, auf eine kurze Vorstellung des Autors als Lehrer sowie die inhaltlichen und didaktischen Aspekte des von Kant genutzten Lehrbuchs. Basedow wurde im selben Jahr wie Kant geboren und war ebenfalls einige Jahre als Hauslehrer tätig, bevor er sich 1752 in Theologie zum Magister promovierte. Das Dissertationsthema beinhaltete die Unterrichtsmethode, die er selbst als Erzieher zur Anwendung gebracht hatte. Eine ausführliche Beschreibung der Entwicklung des pädagogischen Denkens Basedows vor der Gründung des Dessauischen Philanthropins hat Jürgen Overhoff in Die Frühgeschichte des Philanthropismus chronologisch anhand seiner Biographie erarbeitet. Durch seinen „außerordentlich erfolgreich praktizierten Unterricht“ als Privaterzieher, erhielt Basedow ein Jahr nach seiner Magisterarbeit die Professur für Moralphilosophie an der dänischen Ritterakademie in Soroe (Overhoff 2004: 89). In dieser frühen Phase wurden seine Publikationen, die in Zusammenarbeit mit Johann Andreas Cramer und dem Einfluss vieler gleichgesinnter Vordenker entstanden, als „neuartige, wegweisende und zukunftsträchtige Erziehungslehre“ zu Menschenfreundschaft und religiöser Toleranz wahrgenommen (ebd.: 139). Dabei nahm er nicht nur die Rolle des originellen Anregers ein, sondern zeigte „die echte Bereitschaft, von sinnvollen pädagogischen Reformvorschlägen seiner Lehrer, Freunde und Kollegen zu lernen, um diese in sein in den 1750er-Jahren entwickeltes pädagogisches System zu integrieren“ (ebd.: 216). Da dieses pädagogische System in den wesentlichen Punkten mit der ab 1774 als philanthropisch bezeichneten Pädagogik übereinstimmt, schließt Overhoff (ebd.), dass „die philanthropische Pädagogik schon lange vor und deshalb auch eindeutig unbeeinflußt von JeanJacques Rousseaus Emil konzipiert wurde.“

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Nach Basedows Versetzung an das Gymnasium in Altona verfasste er 1768 die Schrift Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen und Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfahrt. In ihr kritisierte er das Schulwesen und die Universitäten und stellte seinen Plan einer umfassenden, zu schaffenden Schulbibliothek dar, dessen Grundbestandteil das Elementarbuch sein sollte. Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker, welches 1770 erstmals erschien, versteht sich als ausführliche Einführung in das im selben Jahr erschienene Elementarbuch für die Jugend und für ihre Freunde in gesitteten Ständen. Letzteres erhielt 1774 seine endgültige Form unter dem Titel Elementarwerk. Mit der Gründung des Dessauischen Philanthropins 1774 strebte er nach einer Umsetzung seiner jahrelangen, durch erzieherische Erfahrungen angereicherten, theoretischen Arbeit. Durch diese Musterschule sollten sich die philanthropischen Erziehungsprinzipien nach und nach ausbreiten. Statt lateinischer Gelehrsamkeit wurden lebensnahe, anwendbare und weltoffene Inhalte unterrichtet, „muttersprachlicher Unterricht, moderne Sprachen, Geographie, Geschichte, Zeichnen, Mathematik und Naturkunde wurden neben handwerklich-praktischer Unterweisung, Gartenarbeit, Wandern und Turnen als Unterrichtsinhalte propagiert“ (Schmitt 2005: 264f.). Anschauungsmaterial wie Naturaliensammlungen oder Kupfertafeln als wichtiger Teil des Elementarbuches sollten den Unterricht versinnlichen, Konzentration auf die Lust und das Spiel die Lernbereitschaft erhöhen und das hierarchische Lehrer-Schüler-Verhältnis freundschaftlicher werden (vgl. ebd.: 265). Den Anlass zu den auch von Kant gehaltenen Pädagogikvorlesungen bot eine Anordnung der preußischen Regierung. Am 13. Juni 1774 erging ein Reskript an die Universität, zur Verbesserung des Schulwesens ein „Collegium Scholastica Practicum“ zu Stande zu bringen, das die ordentlichen Professoren der philosophischen Fakultät semesterweise abwechselnd anbieten sollten (Stark 2000: 95). Insgesamt kam Kant vier Mal an die Reihe. Seine erste Pädagogikvorlesung hielt er im Winter 1776/77 und benutzte dafür Basedows Methodenbuch64. Da Kant die Bemühungen des Philanthropins im selben Jahr 64

Kants Originalexemplar wurde nicht aufgefunden, es ist unklar, welche der bis zu diesem Zeitpunkt erschienenen Auflagen er verwendet hat. Analysiert wurde die dritte Auflage von 1773 in Frakturschrift. Laut Basedow sei in dieser, wie bereits in der zweiten Auflage von 1772, das Stück über die Erziehung des Prinzen weggefallen, da er dafür eine eigene Schrift, den Agathokrator verfasst habe. Die meisten anderen Veränderungen seien Kürzungen. Die Zusätze oder Umarbeitungen waren gesondert verkäuflich, damit die Besitzer der ersten Auflage nicht die zweite oder dritte erwerben mussten (Basedow 1773: 3r).

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ausdrücklich unterstützte und mit den Pädagogen in Dessau Briefkontakt hatte, scheint diese Wahl naheliegend. Als Zielgruppe seines Methodenbuchs adressiert Basedow (1773: Vorrede, 4r) jedoch nicht speziell die studentische Hörerschaft und auch nicht die Jugend, sondern ihre Eltern und Lehrer sowie Staatsmänner und Menschenfreunde. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine institutionelle Professur für Pädagogik, eine solche wurde erstmals 1778 in Halle geschaffen. Dies kann neben der sich noch entwickelnden und im Prozess befindenden Ausgestaltung von Basedows pädagogischen Projekt, den programmatischen Ton und skizzenartigen Aufbau des Buches erklären, das sich gerade durch seine Struktur von den anderen Handbüchern Kants unterscheidet. Das nach der Vorrede anschließende Inhaltsverzeichnis bietet nicht mehr als einen groben Überblick, denn eine Seitenangabe fehlt. Die Nummerierung der Hauptteile und ihrer Unterthemen weisen Unregelmäßigkeiten auf, wohingegen die Ausführung eine korrekte Nummernfolge zeigt. Eine durchgängige Unterteilung in Paragraphen ist nicht vorhanden. Insgesamt gibt es zehn thematische Stücke, die sich in zwei Abschnitte teilen, was dem Verzeichnis nicht zu entnehmen ist. Der erste Abschnitt richtet sich an Eltern und Lehrer und beinhaltet acht Stücke. Hier wird zunächst das ganze Vorhaben (S. 3-10) und der Plan des Elementarwerks (S. 10-13) vorgestellt, bevor das Verhältnis weltlicher Schulen gegen die Kirchen geschildert wird (S. 14-24). Der vierte Teil widmet sich der Erziehung in gesitteten Ständen (S. 24-84) und enthält etwa Ratschläge zur Beförderung der Aufrichtigkeit, des Fleißes, der Ordnung und Reinlichkeit, der Wohltätigkeit und Dienstfertigkeit. Der fünfte Teil versteht sich als Fortsetzung und behandelt den Unterricht (S.  125-156), etwa die beste Art des Memorierens oder das Heranziehen von Bildern- und Kupfertafeln. Es folgt ein gesondertes Stück über den Unterricht in Sprachen (S. 157-181) und über die Religion der Jugend (S. 182-250). Den Schluss des ersten Abschnittes bildet die unterschiedliche Erziehung der Söhne und Töchter (S. 251-304). Der zweite Abschnitt richtet sich an Väter, Mütter sowie Ratgeber der Völker und der gelehrten Welt und beinhaltet die beiden letzten Stücke zur Staatsaufsicht über Moralität, Erziehung, Schulen und Wissenschaften (S. 307354) und die Enzyklopädie zum Unterrichte und für Leser (S. 354-384). Es wird in diesem Buch keine systematische Geschichte der bisherigen Forschungen auf dem Gebiet geboten, kein Register über wichtige Begriffe, keine Angaben über bisherige Schriften. Dadurch und durch die bekundeten Reformabsichten setzt sich dieses Buch von den übrigen Handbüchern, ihrer Struktur, Ordnung und Absicht nach ab. Basedow (1773: Vorrede, 4r) selbst gibt als Quellen seiner Arbeit das Nachdenken und seine Erfahrungen sowie fremde Belehrungen an und verkündet deren weitere Entwicklungen werden einen zweiten Teil des

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Methodenbuches, ein praktisches Methodenbuch, nötig machen. Stärker als die anderen Lehrbücher ist diese Schrift durch einen provisorischen Charakter gekennzeichnet. Nach dem Verweis auf den bisherigen Zuspruch an seiner Arbeit eröffnet Basedow (1773: 5) sein Methodenbuch damit, dass der Stand der Gelehrten schuld sei an der Gefahr und Abnahme der Sittlichkeit und Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts. Das läge an den gängigen Methoden und Lehrbüchern, die weder mit den Elementen des Verstandes der Kinder noch mit ihrem graduellen, natürlichen Wachstum übereinstimmen. Vielmehr habe man zum Schaden des Verstandes und Willens die wenig nützliche Wörterkenntnis mit Unlust und Zwangsmittel befördert: „Ich berufe mich auf den Abscheu und Ekel, welchen so viele verständige Männer empfinden, wenn sie an ihre ersten Schuljahre, und an die unnöthige Trübsal derselben bey dem Anblicke ihrer Schulbücher zurück denken.“ (ebd.: 6)

Sein Plan einer Schulbibliothek solle Abhilfe schaffen und umfasse zwei Fächer, das Elementarwerk für Jugendliche bis 15 Jahre und die Lehrbücher der Wissenschaften für Studierende bis an das akademische Alter (vgl. Basedow 1773: 10). Er ist überzeugt, dass „die Verbesserung des menschlichen Geschlechts, so fern dieselbe von dem Unterricht abhängt“, bei einer solchen aufeinander aufbauenden „Kette von Schulbüchern“ anfange (ebd.: 8). Nur dadurch sei eine wahrhafte, dauerhafte, freiwillige und staatsfreundliche Verbesserung der Schulen, der Gymnasien und Universitäten möglich (vgl. ebd.: 9). Basedow (1773: 41) bringt zum Ausdruck, dass Erziehung das Wichtigste im ganzen Leben sei. Den Hauptzweck der Erziehung sieht er darin, „Kinder zu einem gemeinnützigen patriotischen und glücklichen Leben vorzubereiten“ (ebd.: 24). Da die Glückseligkeit des Staates von der Glückseligkeit der Bewohner nicht unterschieden werden könne, gilt ihm das Wesen der Schulen und Studien als brauchbarstes und sicherstes Werkzeug, den Staat glücklich zu machen oder zu erhalten (ebd.: 308). Der Unterricht sei dazu ein wichtiger Teil, aber im Vergleich mit „der Bildung des Herzens zur Tugend, welche auch ohne förmlichen Unterricht geschehen“ könne, „nur der geringste Teil der Erziehung“ (ebd.: 125f.). Unter dem Motto, „Nicht viel, aber mit Lust!“, solle man in elementarischer Ordnung vom Leichteren zum Schweren fortschreiten und allezeit Nützliches unterrichten (ebd.: 128). Von allem Zwang, den Schulfleiß zu befördern, rät er ab. Im 27. Unterpunkt des neunten Stückes kommt er ausdrücklich auf die Vorlesungen der Professoren zu sprechen. Er kritisiert das Diktieren als unverantwortliche Form des öffentlichen Unterrichts und das Verfassen eigener

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Lehrbücher einzig aus Gründen, sich den Unterricht durch die je eigene Denkart und Ordnung leichter zu machen, als Pedanterie (vgl. ebd.: 351f.). Noch schlimmer als das Diktieren sei die „Mode vieler Zuhörer, Alles oder das Meiste nachzuschreiben“ (ebd.: 352). Stattdessen sollen die Lehrer durch die Vortragsgestaltung ihre Schüler dazu ermuntern, nur wenige Stichworte zu notieren, um sie im Anschluss zuhause zu wiederholen und sich den Zusammenhang zu merken. Diese Übung sei so nützlich, dass die Lehrer zu ihr anleiten sollen (ebd.: 352f.). Professoren sollten vermeiden in einem fort alleine vorzutragen, „wobey ich oft auch die fleißigsten Zuhörer habe einschlafen sehn“ (ebd.: 353). Er empfiehlt das gemeinsame Lesen des zugrunde gelegten Buches und eine anschließende Diskussion. Zudem solle der Lehrer Aufgaben formulieren, was die Schüler zuhause tun können, um aus dem Unterricht allen Nutzen zu ziehen: „Kurz, der Unterricht muß eine Unterredung seyn, an welcher die Zuhörer eben so vielen Antheil haben müssen, als die Lehrer: dieses wird die beyderseitige Bemühung sowohl lebhafter, als nützlicher machen, und den Zuhörern die nöthige Uebung und Zuversicht des lehrreichen Wortwechsels geben.“ (ebd.: 354)

Durch die allgemeinen Aussagen über Erziehung und die besondere Beschrei­ bung der Vorlesungen von Professoren, dürfte sich Kant durch Basedow weitestgehend in seiner Methodik bestätigt gesehen haben. Er nutzte von Anfang an ein Lehrbuch in seinem Unterricht und munterte zum eigenständigen Nachdenken und Memorieren auf. Darüber hinaus regt Basedow den Einbezug von anschaubaren Lehrmaterial an und schlägt vor, die Vorlesungen als Gespräch zwischen Lehrern und Schülern mit ähnlichem Redeanteil zu strukturieren. Friedrich Samuel Bock (1716-1785): Es „verdienen vornehmlich die catechetische, tabellarische und Litteralmethode alle Empfehlung“ Friedrich Samuel Bock war acht Jahre älter als Kant und bereits ordentlicher Professor für Theologie und griechische Sprache, als Kant seine Lehrtätigkeit als Privatdozent aufnahm. Bereits vor dem Reskript der Regierung an die Universität 1774, das die Einrichtung eines Collegium Scholastica Practicum zur Verbesserung des Schulwesens anordnete, hatte Bock im Sommersemester 1769 eine pädagogische Vorlesung angeboten. Wie Kant zwei Jahre später seine erste Kritik, widmete Bock sein Lehrbuch der Erziehungskunst, zum Gebrauch für christliche Eltern und künftige Jugendlehrer65 dem Minister von Zedlitz. Kant 65

Für die Analyse wurde die erste und einzige Auflage von 1780 in Frakturschrift herangezogen.

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erklärt den Grund seiner Widmung damit, dass er durch seine Beförderung des Wachstums der Wissenschaften an Zedlitz’ Interesse arbeite und in ihm einen aufgeklärten Richter vermute, der den großen obzwar weit entfernten Nutzen seiner Bemühungen zu erkennen in der Lage sei. Bock (1780: Widmung) widmet seinen Beitrag „zur zweckmäßigen Erziehung des künftigen Bürgers“ Zedlitz als Minister, „der jedes zur beßern Erziehung der Jugend abzweckende Unternehmen, als den wichtigsten Dienst“ für den Staat anerkenne. Wie der auf die Widmung folgenden Vorrede zu entnehmen ist, hat Bock in seiner ersten Lebenshälfte in der Unterweisung kleiner Kinder und erwachsener Knaben Erfahrungen gesammelt. Zudem habe er seit 30 Jahren auf der Akademie pädagogische Vorlesungen für die studierende Jugend gehalten, als Vorbereitung für künftige Hauslehrer und Schulmänner, „damit durch diese der Zuwachs christlicher Weltbürger zur eigenen Glückseligkeit und des Staats nützlichen Diensten geschickt gemacht werden möge“ (Bock 1780: Vorrede). Von denselben könne sich eine „gesegnete Frucht für die Zukunft auswickeln“, wenn zusätzlich noch andere zur Erreichung dieser Absicht nötige Veranstaltungen dazu wirken (ebd.). Es könne nichts gemeinnütziger sein, als ein Wissen über die Erziehung zu hören, zu lesen, zu lernen und zu üben. Deswegen gebe es zahlreiche Schriften über Erziehung, aber nur wenige für pädagogische Vorlesungen geeignete Lehrbücher. Er zählt fünf Werke66 auf, die er als hilfreich ansieht, erklärt ihre Vorzüge und Nachteile und folgert: „Bey solcher Bewandniß, sahe mich genöthigt, aus meinen im letztern halben Jahr gehaltenen pädagogischen Vorlesungen, einen etwas ausführlichen Auszug zu machen, wobey ich sowohl ein steifes und trocknes Ansehen, so eine tabellarische Kürze hat, zu vermeiden, als auch jenen für die verständlich und nützlich zu machen suchte, die keine Vorlesungen darüber hören können.“ (ebd.)

Einerseits achtet er auf eine übersichtliche Struktur und prägnante Kürze, andererseits möchte er ausführlich und verständlich genug formulieren, um ein Selbststudium dieses Buches, unabhängig von seinen ergänzenden Ausführungen in den Vorlesungen, zu ermöglichen. Da sich „diese erste und 66

Grundriß eines Unterrichts für besondere Lehrer und Hofmeister (1760) von Anton Friedrich Büsching, Grundsätze einer weisen und christlichen Erziehungskunst (1769) von Johann Peter Miller, Die Erziehung des Bürgers: zum Gebrauch des gesunden Verstandes und zur gemeinnützigen Geschäfftigkeit (1773) von Friedrich Gabriel Resewitz, Versuch über den Kinder-Unterricht (1771) von Ludwig Renatus de Caradeuc de la Chalotais und Kurtze Anweisung zu leichter und gründlicher Information der Kinder (1731) von Johann David Kypke. Ulrich Herrmann (2005: 115) bestätigt, dass Bock mit seinem Buch, das erste akademische Lehrbuch für Erziehungskunst vorlegte.

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nothwendigste unter allen Künsten, Menschen zu erziehen, noch in ihrer Kindheit“ befinde, sei sein Entwurf nicht vollkommen, doch als Grundlage für akademische Vorlesungen ein nützlicher Beitrag zu diesem Projekt (Bock 1780: Vorrede). Er schildert seine Einteilung des Lehrbuchs, macht darauf aufmerksam, strukturell zwischen ‚Erziehung‘ und ‚Unterricht‘ zu unterscheiden und lässt keinen Zweifel daran, dass gerade die frühe Erziehung ganz wesentlich sei: „Die öffentliche Erziehung in Schulen kan nur selten beßern, was bey der häuslichen im Ganzen verdorben ist.“ (ebd.) Um sie zu ändern, sei ein umfassendes Vorgehen notwendig: „Die ganze sittliche Beschaffenheit der Menschen müßte verbeßert, Väter, Mütter, Ammen, und alle, die mit Säuglingen umgehen, müßten nicht nur unterrichtet werden, wie sie mit denselben vernünftig zu verfahren; sondern es müßte auch bey ihnen Wille, Vorsatz und Redlichkeit seyn, solche Anweisungen zu befolgen.“ (ebd.)

Für eine gute Erziehung reiche das Wissen allein nicht aus, es bedarf eines Entschlusses und Willens, der auf Rechtschaffenheit der erziehenden Person beruht. Selbst wenn solch tiefgreifende Änderungen unmöglich erscheinen, müsse doch etwas in dieser Hinsicht unternommen werden. Laut Bock können Vorlesungen dazu einen Beitrag leisten, da von ihnen, in Verbindung mit eigens eingerichteten Seminarien, rechtschaffene Lehrer zu erwarten seien, durch welche zumindest die öffentliche Erziehung verbessert werden könne. Die pädagogische Vorlesung müsse durch ein Seminarium, in welchem das Gelernte zur wirklichen Ausübung kommen könne, fruchtbar gemacht werden. Er merkt an, dass es bei der häuslichen Erziehung „mehr auf den vesten Entschluß“ ankomme, „als auf ein sonderbares Geschick, so nur Gelehrte haben könnten“ (Bock 1780: Vorrede). Sein Fokus auf das Praktische wird deutlich: „Da diese [= pädagogische Vorlesungen] auf thätige Anwendung bey dem Erziehungswerk abzielen: so habe dies Lehrbuch überall pracktisch abgefaßet, und nichts empfohlen, was nicht ausgeübet und durch die Erfahrung bestätigt werden kan, auch wirklich irgendwo ausgeübet wird.“ (ebd.)

Er bietet neben Grundsätzen, Theorien und Lehrarten auch Handgriffe, Maximen und Anweisungen zur Ausübung und Anwendung. Mit dem letzten Teil seines Lehrbuches, dem Entwurf von der Weltklugheit, gibt Bock einen konkreten Vorschlag zur Verbesserung der Erziehungspraxis. Er wolle nur einige Proben dieses Unterrichts geben, den er für eine Wiederholungsklasse vor dem Universitätseintritt empfiehlt, als „Mittelstand zwischen Schulzwang und akademischer Freyheit“ (Bock 1780: Vorrede). Hier solle die Jugend die

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erlernten Schulwissenschaften wiederholen und Proben darüber ablegen, „wie sie ihr künftiges Leben zu führen gedächte“ (ebd.). Um diesen „Unterricht in der Klugheit zu leben“ zu realisieren, brauche es Unterstützung seitens der gesetzgebenden Macht, von der „alle Plane zu einer beßern Erziehung in Häusern und Schulen“ abhänge (ebd.). Sein Inhaltsverzeichnis ist klar und übersichtlich strukturiert, die sys­ tematische Darstellung folgt thematisch-ersichtlichen Unterschieden. Die in Teile, Hauptstücke und Kapitel unterteilten Themen folgen einer durchgehenden Paragraphenzählung, wobei jeder Sinnabschnitt einen eigenen Paragraphen darstellt. In einer kurzen Einleitung werden die grundlegenden Begriffe ‚Erziehungskunst‘, ‚Pädagogik‘ und ‚Didaktik‘ definiert (§1) sowie die Notwendigkeit der Erziehung in Hinsicht auf Eltern und Erziehungslehrer erklärt (§2). Es folgt der erste Teil über die anfängliche Erziehung im Hause der Eltern, die diätetisch (§§3-4), sittlich zur Bildung des Herzens und Willens (§§5-15) und wissenschaftlich zur Aufklärung des Verstandes (§§16-24) sein solle. Daran knüpft ein Abschnitt über die Erziehung der Töchter (§25) und ein differenzierter über die der Söhne (§§26-29) an, bevor der zweite Teil über die sittliche und wissenschaftliche Erziehung der Jugend in Schulen oder Erziehungsanstalten beginnt. Dieser Teil ist umfangreicher und setzt sich aus drei Hauptstücken zusammen. Das erste Hauptstück beschreibt die Gaben, Vollkommenheiten und die Lehrart eines rechtschaffenen Erziehungslehrers. Hierbei zeigt Bock erst die Grenzen dieses Einflusses auf (§30), dann die Naturgaben (§31), die durch Fleiß und Erfahrung zu erlangende Tüchtigkeit (§32), die religiösen Gaben (§33) und die Fertigkeiten, welche durch Übung in einem Seminarium erlernt werden können (§§34-42), wobei er nochmal zwischen allgemeinen didaktischen Vorschriften und besonderen Lehrmethoden unterscheidet. Das zweite Hauptstück handelt von der Bearbeitung des Verstandes (§§43-48) und der Bildung des Herzens (§§49-55). Der Verstandesteil zeigt auf, wie alle Seelenteile zugleich beschäftigt, wie zur eigenen Tätigkeit im Nachdenken aufgeheitert oder der Verstand auf praktische und bürgerliche Klugheit angewendet werden könne. Die Besserung und Bildung des Herzens beschäftigt sich etwa damit, wie durch das eigene Beispiel sittliches Verhalten zu lenken oder eine Willensbesserung durch Religionsanwendung zu erreichen sei. Das dritte Hauptstück handelt vom Schulunterricht in Wissenschaften und Sprachen sowie der Klugheit zu leben und unterteilt sich in den Schulunterricht für nicht studierende Knaben (§§56-72) und sich dem gelehrten Stand Widmende (§§73-85). Bereits der Einstieg seines Lehrbuchs belegt den wissenschaftlichen Umgang mit dem pädagogischen Gegenstand und wie sich die pädagogische Diskussion bis zu diesem Zeitpunkt intensiviert und systematisiert hat:

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„Die Erziehungskunst ist eine durch Fleiß und Uebung erlangte Fertigkeit, nach der auf Vernunft, Religion und Erfahrung gegründeten Erkenntniß, die Fähigkeiten und Kräfte der Kindern nach Seele und Leib, durch die besten Mittel zum rechtmäßigen Gebrauch, und folglich zu einem tugendhaften und gemeinnützigen Leben geschickt zu machen. Die Anweisung dazu, in ihrem ganzen Umfange, wird die Pädagogik, und der besondre Theil, welcher die Mittel und Lehrart zur Entwickelung des Verstandes vorträget, die Didaktik genannt. Jene zeiget im Ganzen die vortheilhafteste Art, wie nicht nur Gesundheit, Wachsthum und Stärke des Leibes bey den jungen Weltbürgern zu befördern, sondern auch wie ihr Verstand mit nützlichen Kenntnißen zu bereichern, und der Wille aufs zweckmäßigste zu lenken, damit sie zu ihrer zeitlichen und ewigen Glückseligkeit, wozu Gott die Menschen bestimmet, und ihnen einen natürlichen Trieb eingepflanzet hat, vorbereitet werden.“ (Bock 1780: 3)

Gott und der christliche Glaube sind für den evangelischen Theologen Bock in der Erziehungskunst neben der praktischen Philosophie und Staatskunde zentral. Die Erziehungskunst wird von ihm vorgestellt als eine durch praktisches Üben zu erlangende Fähigkeit, die auf Erfahrungen und Kenntnissen basiert. Ihr Zweck besteht darin, durch die Einwirkung auf Seele und Leib der Kinder, sie zu einem tugendhaften und gemeinnützigen Leben anzuleiten. Mit Gott als Ursache dieser Zwecksetzung verspricht sich Bock von dieser Erziehung sowohl zeitliche als auch ewige Glückseligkeit. Für einen gelungenen Unterricht lassen sich gewisse Grundsätze und Methoden anführen. Seine allgemeinen didaktischen Vorschriften gehen von dem Grundsatz aus, dass Lehren eine Handlung und Gelehrtwerden ein Leiden sei (vgl. Bock 1780: 118). Der Schüler habe demnach aufmerksam zu sein, der Lehrer alles einfach und Schritt für Schritt ihm vorzuführen. In der Abwägung seiner Mittel, müsse sich der Lehrer neben den Naturgaben wie Fähigkeit, Kraft und Alter auf die zuvor erfahrene Erziehung und den künftigen Zweck der Ausbildung beziehen. Zu einer guten Methode gehöre, dass der Unterricht elementarisch erfolge, „vom Leichtern zum Schwereren fortgeschritten werde“, „von pracktischen Uebungen zur Theorie“ hinaufgestiegen werde und das Vorige der Grund des Folgenden sei (ebd.: 122). Zu dieser praktischen Schulklugheit müsse der Lehrer durch Erfahrungen und Übungen seine Methode verbessern. Er nennt die Wiederholung „die Mutter aller Wißenschaften und des Studierens“ (ebd.: 125). Zu einer nützlichen Wiederholung sei es sinnvoll, verschiedene Lektionen miteinander zu verbinden. Eine gute Lehrmethode hinge von den etwaigen Umständen ab, doch empfehle die Erfahrung „vornehmlich die catechetische, tabellarische und Litteralmethode“ für eine kurze, gründliche und angenehme Unterweisung (ebd.: 126). Unter der catechetischen Lehrart versteht Bock die Lehrart durch Fragen und Antworten, der sich bereits Sokrates bediente:

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Appendix „Die Lehrlinge werden dadurch in beständiger Aufmerksamkeit erhalten, zum eigenen Nachdenken gewöhnet, zum Ausdruck ihrer Gedanken ermuntert, und der Lehrer kan dabey am zuverläßigsten erkennen, was sie gefaßet, und woran es ihnen noch fehle.“ (ebd.)

Die vornehmsten Eigenschaften eines Catecheten, der die dialogische Lehrart verfolgt, seien Lebhaftigkeit, Deutlichkeit, Ordnung und Gründlichkeit. Bei der tabellarischen Lehrart werden die zu behandelnden Teile an der Tafel vorgestellt, was „von großem Nutzen für den Verstand und das Gedächtiß“ sei (ebd.: 128). Die Tabellen würden den Umriss des Gegenstandes sinnlich vermitteln, was helfe, sich den Zusammenhang anschaulich vorzustellen. Die Buchstabenlehre, die Bock ganz ausdrücklich empfiehlt, kommt einem Lernspiel nahe: „Nachdem der Lehrer erzählet hat, was für fruchtbare Sachen er ihnen jedesmal beybringen wolle, und dadurch Lust und Neugierde gereizet, so auch Stille und Aufmerksamkeit befördert hat: so schreibet er die Worte, welche die Sache ausdrücken, nur mit den Anfangsbuchstaben, jedoch ganz genau und in richtiger Folge an die Tafel; oder er zeichnet auf gleiche Weise mit solchen Buchstaben einen Plan, der das Ganze mit seinen Haupt- und Nebentheilen vorstellet, und jenen leicht und lebhaft übersehen laßt.“ (Bock 1780: 131f.)

Der Lehrer soll dann den Zusammenhang der Worte beschreiben und cate­ chetisch überprüfen, ob seine Ausführungen verstanden wurden. Im Anschluss wird das Tafelbild gelöscht und ein Schüler malt es mit Hilfe der anderen aus seinem Gedächtnis erneut. Durch die Mischung der beiden vorherigen Methoden und dem spielerischen Einbezug der Schüler verspricht sich Bock, die Lernenden „wißbegierig, aufmerksam, geschäftig, munter und vergnügt“ zu stimmen und dafür zu sorgen, dass sie die Schule gerne besuchen (ebd.: 133). Mit Bocks Lehrbuch hat Kant für seine Vorlesungen eine systematische Grundlage mit Definitionen und Anregungen für künftige Lehrer gewählt. Durch dieses Kompendium verschafft er sich und seinen Studenten einen forschungsaktuellen Überblick der pädagogischen Disziplin, der Vor- und Nachteile möglicher Lehrarten und wird auf Probleme des Erziehungsunternehmens aufmerksam gemacht, die sowohl die praktische Umsetzung als auch die argumentativ-strategische Grundlage einer Erziehungstheorie betreffen. Johann August Eberhard (1739-1809): Den „Wißbegierigen für die Wissenschaft intereßiren, und in seinem Gange leiten“ Nach seinem Studium der Philosophie und Theologie in Halle war Johann August Eberhard zunächst als Konrektor eines Gymnasiums und Prediger tätig. Durch den großen Erfolg seiner publizierten Schriften erhielt er 1778 einen Ruf

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als Professor für Philosophie an die Universität in Halle. Er übernahm dort den Lehrstuhl von Meier, Kants Kompendienautor für Logik. Wie sein Freund Friedrich Nicolai (1810: 32f.) in dessen Gedächtnisschrift auf Johann August Eberhard angibt, hatte Eberhard wenig Neigung zum Universitätsleben: „Er war vom Anfang an zu wissenschaftlichen Vorträgen an Studirende gar nicht geneigt, und gab sich wider Willen dazu hin. Von der ersten Zeit an, da er zu denken anfing, hatte er sich durch Umgang mit Personen von ungefähr gleicher oder höherer Geistesfähigkeit, durch Gedankenwechsel gebildet, und es war ihm ganz fremd die Anfangsgründe wissenschaftlicher Gegenstände einer Versammlung von Jünglingen vorzutragen, die er erst zu sich heraufziehen sollte, und noch dazu bloß nach der Folge einer systematischen Ordnung.“

Im Predigen fiel ihm das leicht, doch mit seinen Vorlesungen soll er wenig Beifall erzielt haben. Er habe oft den Faden verloren, sei seinen eigenen Ideen gefolgt und dabei ins Stocken geraten (vgl. ebd.: 35). Mit Studenten von besonderer Fähigkeit hingegen, habe er einen guten philosophischen Austausch gehabt. Nicolai betont, dass Eberhard sich dennoch mit Treue um das Lehramt kümmerte und als Kompendienautor versuchte, seinen Hörern lehrreich zu sein (vgl. ebd.: 36). Neben der von Kant genutzten Vorbereitung zur natürlichen Theologie zum Gebrauch akademischer Vorlesungen67 verfasste er weitere Lehrbücher zur Sittenlehre der Vernunft, der Theorie der schönen Wissenschaften, der Geschichte der Philosophie und einem Abriss der Metaphysik. In dem kurzen Vorbericht, den Eberhard seiner Vorbereitung voranstellt, gibt er an, dieses Buch sei zu öffentlichen Vorlesungen bestimmt, um angehende Liebhaber der philosophischen Wissenschaften auf die natürliche Theologie als Teil dieses Studiums vorzubereiten: „Daher ist alles darin zusammengetragen, wovon man erwarten kann, daß es Wißbegierigen für die Wissenschaft intereßiren, und in seinem Gange leiten könne.“ (Eberhard 1781: Vorbericht, 2r) Die erste dieser Absichten, das Interesse der Studierenden zu wecken, versucht er durch die Abhandlung von den Irrtümern der rationalen Theologie zu erreichen. Die zweite, sie in ihren Auseinandersetzungen anzuleiten, durch eine reine Darstellung der Begriffe, die zur Erkenntnis Gottes gehören. Er habe die Schriften anderer Weltweiser zu beurteilen und ihren Nutzen zu bestimmen versucht. Um die Studenten „in den Stand zu setzen, hierüber selbst zu urtheilen“ und ihnen ein Hilfsmittel zu geben, ihre eigene Kenntnis zu erweitern, habe er „gelegentlich etwas von der Literatur dieser 67

Analysiert wurde die erste Auflage von 1781 in Frakturschrift. Kants Exemplar wurde während des Zweiten Weltkriegs zerstört, seine Anmerkungen in der Akademieausgabe (AA 18: 489-606) erhalten.

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Wissenschaft hinzugefügt“ (ebd.: 2v). Er sieht in den vorhandenen Arbeiten einen Leitfaden, um durch das eigene Nachdenken in der natürlichen Theologie weiterzugehen. Nach Eberhard müsse dieses Fach von der Metaphysik getrennt behandelt werden, da es zum einen der Reichtum der Sachen und die Kürze der Zeit erforderlich machen und zum anderen habe er selbst die Erfahrung gemacht, dass die Studenten, welche nach einer Gotteserkenntnis verlangen, von dem Nutzen der ontologischen, kosmologischen und psychologischen Wahrheiten nicht sonderlich überzeugt schienen und „daher bey dem Vortrage dieser Wahrheiten ihre Aufmerksamkeit ruhen lassen“ (ebd.: 3v). Er habe beschlossen, statt dagegen zu eifern, dem Bedürfnis der Anfänger entgegenzugehen. Dabei hielt er es für geraten, sie „den Nutzen der reinsten Zergliederung der Begriffe fühlen zu lassen“, und die außersinnlichen Begriffe, „welche den Stoff der Erkenntniß Gottes ausmachen, der Theologie näher zu bringen, und mit ihnen, gleichsam als in einer Vernunftlehre der Theologie, diese Zergliederung da vorzunehmen“, wo sie die interessierten Studenten unmittelbar brauchen (ebd.: 4r). Eberhard wendet sich nicht an allgemeine Anfänger, sondern betont an diejenigen, die bereits ein genuines Interesse am Gegenstand mitbringen. Auf deren Bedürfnisse möchte er gezielt eingehen, für ihre Gedanken unmittelbar interessante Begriffszergliederungen bieten. Im Anschluss beginnt er seine Abhandlung mit einer Einleitung (S. 1-13), in der er den Begriff der natürlichen Theologie, ihre Erfordernisse, ihren Nutzen und ihre Notwendigkeit erklärt und einen kurzen Abriss der Abhandlung gibt. Auf ein Inhaltsverzeichnis, das die Seiten angibt und die Struktur vor Augen führt, verzichtet er. Er kündigt zwei Hauptstücke, ein theoretisches und ein praktisches an, wobei der erste Teil viel differenzierter und ausführlicher dargestellt wird. Dieser handelt von der Bildung des Begriffes von Gott, sowohl von der inneren Realität des Begriffes als auch von den Beweisen der äußeren Realität oder Wirklichkeit Gottes (S. 13-62). Es folgt ein Abschnitt über die Irrtümer, die der wahren Religion entgegenstehen. Hier behandelt Eberhard den Atheismus, die Vielgötterei und den Aberglauben (S. 61-102). Das erste Hauptstück schließt mit einer kurzen Ausführung über die Geschichte der Religion (S. 103104). Das zweite Hauptstück von der Mitteilung der Religionserkenntnis setzt sich aus lediglich zwei Punkten, der sinnlichen und der vernünftigen Mitteilungsart zusammen (S.  105-108). Der Text folgt nicht ganz der Einteilung, die im kurzen Abriss der Einleitung angekündigt wird, und durch das Fehlen eines Inhaltsverzeichnisses entsteht kein Überblick der Struktur. Zwar verzichtet Eberhard auf Paragraphen, doch arbeitet er stattdessen mit einer durchgängigen Nummerierung seiner Themen. Jeder Themenpunkt bekommt eine Nummer und eine eigene Überschrift, wodurch der Text strukturiert wird. Insgesamt gliedert sich seine Vorbereitung in 74 Unterpunkte.

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Eberhards Kompendium ist das kürzeste Handbuch in Kants Repertoire. Seine didaktische Herangehensweise setzt an dem bereits vorhandenen Interesse der Studenten an, welches für sie den Anlass zum Besuch der Vorlesungen gibt. Er vertritt den Standpunkt, dass es sich für einen erfolgreichen Unterricht lohnen könne, auf die Fragen der Studenten unmittelbar einzugehen, ohne sie durch vielleicht nützliche, jedoch schwierige Grundlagen oder Weiterführungen zu langweilen. Vor dem Hintergrund, dass Kant sich mit seinen Vorlesungen in rationaler Theologie vorsätzlich an ein theologisches Publikum wenden wollte, um sie hinsichtlich einer vernünftigen Religion aufzuklären, ist es wahrscheinlich, dass er Eberhards Argumentationen als Anregung zu einer Diskussion und Prüfung von kursierenden Gottesbeweisen nutzte. Die erhaltenen studentischen Nachschriften und die Notizen Kants zeigen eine Konzentration auf die Idee Gottes als Streben der Vernunft nach Vollkommenheit, Vollständigkeit oder Totalität. Wenceslaus J. Gustav Karsten (1732-1787): „[D]as Ganze seiner Wissenschaft kennen“ Nach seinem Studium der Mathematik und Theologie in Rostock und Jena erhielt Karsten bereits drei Jahre nach seiner Magisterwürde eine Logikprofessur. An der 1760 gegründeten Universität in Bützow lehrte er 18 Jahre, bevor er einem Ruf nach Halle folgte und sich auf die mathematischen Wissenschaften konzentrierte. Mit seinen Publikationen widmete er sich sowohl dem theologischen, dem mathematischen als auch dem sich immer weiter aufsteigenden naturwissenschaftlichen Gebiet (vgl. Günther 1882). Karsten (1783: III) eröffnet seine Vorrede der Anleitung zur gemeinnützlichen Kenntniß der Natur, besonders für angehende Aerzte, Cameralisten und Oeconomen68 mit der Feststellung, dass eine „mehr zweckmäßige Abfassung solcher Lehrbücher“ über Naturlehre immer notwendiger werde. Damit meint er seinen vorgelegten Versuch einer gemeinnützlichen Kenntnis der Natur, für den es in seinen Augen notwendig sei, die bisher getrennten Disziplinen Naturgeschichte, Chemie und Physik zu verbinden. Statt sich der Chemie als wirklichen Teil der Naturlehre zu widmen, habe man sie bisher aufgrund ihrer Weitläufigkeit „wie ein Glied von dem Körper abgesondert“, zu dem sie eigentlich gehöre (ebd.: IV). Wissenschaftlich bezieht er die Position, dass die allgemeine Naturlehre gegenüber den besonderen Teilen der Naturgeschichte der Mineralien oder der Anwendung von Chemie in der Arzneikunde, sich so verhalten müsse, wie „die Universalhistorie gegen die besondre Geschichtskunde einzelner Reiche und Staaten“ (ebd.: X). Die bisherige Trennung von 68

Analysiert wurde die Ausgabe von 1783 in Frakturschrift.

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Physik, Naturgeschichte und Chemie möchte er durch seinen Plan in ihre natürliche Verbindung bringen. Damit verbunden sei ein didaktisch anderer Zugang zu der Naturkenntnis, als er in bisherigen spezialisierten Lehrbüchern über bestimmte Naturgeschichte oder ausübende Chemie gegeben werde. Anstelle detaillierter Einzelkenntnisse müsse der Naturkenner „die Gründe von den mancherley Abtheilungen der in den dreyen Naturreichen vorhandenen Körper, auch von den physischen Versuchen und chemischen Processen kennen, und die am brauchbaren, so wie die ihm zu besondern Untersuchungen dienlichen Versuche selbst anzustellen wissen“, eben „das Ganze seiner Wissenschaft kennen“ (ebd.: XVIIf.). Karsten sieht sich deswegen nicht in Konkurrenz zu den speziellen Lehrbüchern, sondern in Ergänzung. Dadurch, dass er alles in Verbindung darstellt, was bisher durch drei Rahmen voneinander getrennt wurde, werden „dergleichen besondre Lehrbücher mit desto mehr Nutzen“ studiert und „Vorlesungen über specielle Naturgeschichte und ausübende Chemie mit desto größern Nutzen“ besucht werden (ebd.: XVIII). Die Lehrer der Spezialwissenschaften würden sich dadurch künftig weitläufige Erklärungen über Grundlagen sparen können. Um seine Position, die Lücken der Physik nicht nur durch angewandte Mathematik, sondern durch Chemie zu füllen, gibt er „Proben von der Zustimmung mehrerer Kenner“ (ebd.: VIII). Er zitiert aus erhaltenen Briefen Zustimmung zu einer solchen Reform, die Form der Physik umzuschmelzen zu einer mathematisch-chemischen Physik. Im Vorfeld hat er sein Lehrbuch von Freunden Probelesen lassen, um Fehler zu vermeiden. Da seine Wissenschaft auf Erfahrung beruhe, seien diese jedoch nicht gänzlich zu umgehen. Karsten räumt die Möglichkeit ein, in manchen Teilen unrichtige oder seltsame Beschreibungen zu verwenden und bittet „Kenner und Liebhaber der Wissenschaft“ um Rückmeldung darüber (ebd.: XXf.). Er positioniert seine Arbeit als Teil eines Erkenntnisprozesses der Natur durch Erfahrungen, den er durch eine die bisherige wissenschaftliche Unterteilung aufhebende Gesamtschau, voranzutreiben versucht. Seine Konzentration auf „die allgemeinen Gründe dieser Wissenschaften im Zusammenhange, soweit sie als Theile des Ganzen zur Naturwissenschaft gehören“ eröffne der Forschung eine neue Perspektive und trage dazu bei, die künftige Lehre dieser Wissenschaften zweckmäßiger und gründlicher gestalten zu können (ebd.: XXIII). Die Betonung auf Zweckmäßigkeit und Gründlichkeit spiegelt sich in der auf die Vorrede folgenden Angabe eines detaillierten Inhaltsverzeichnisses wider. Dieses solle dem Kenner dazu dienen, „kurz übersehen“ zu können, wie Karsten sich bemüht hat, „die Wissenschaft nach dem eben beschriebenen Plan auszuführen“ (ebd.: XIX). Es zählt 16 Seiten, ist untergliedert in 28 Abschnitte, die jeweils mit durchgängigen Paragraphen über die zusätzlich angegebenen

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Themenfelder führen. Mit seinen knapp 800 Seiten verfügt dieses Lehrbuch über einen ähnlichen Umfang wie Kants andere Physik-Kompendien, der Naturlehre von Eberhard und der Anfangsgründe von Erxleben. Nach einer Einleitung über Endzweck, Umfang und Erkenntnisgründe der Naturwissenschaft (§§1-14), folgt eine vorläufige Betrachtung der allgemeinsten in der Natur verbreiteten Stoffe (§§15-28), wie Licht, Feuer, Luft, Wasser, Wärme und Kälte. Der dritte Abschnitt handelt über einige Wirkungen der Schwere auf feste und flüssige Massen (§§29-42), der vierte ist eine Erzählung einiger Erfolge, die man sich als Wirkungen anziehender Kräfte vorstellt (§§43-52). Es folgen Beschreibungen über die Wirkungen des Luftdrucks und der Luftpumpe (§§53-65) sowie der Schwere, wenn sie Bewegungen beschleunigt oder verzögert (§§66-85). Der siebte Abschnitt widmet sich der Lehre vom Schall und den Tönen (§§86-100), der achte handelt über die Ausbreitung des Lichts und die Farbendarstellung (§§101-113). Weiter geht es mit elektrischen Erscheinungen und der für Versuche benötigten Geräte (§§114-132), einer näheren Beschreibung der Grundstoffe in der Natur, soweit man sie bisher kennt (§§133-163) und den allgemeinen chemischen Grundsätzen von Zerlegung und neuen Zusammensetzungen (§§164-180). Der zwölfte Abschnitt beschreibt die Wirkung des Wassers und Weingeistes bei der Auflösung und Kristallisierung von Salzen (§§181-197), der dreizehnte die Anwendung des Feuers und der Luft bei chemischen Prozessen (§§198-210) und der vierzehnte die Zerlegung des Wassers (§§211-218). Des Weiteren gibt das Lehrbuch Auskunft über die Grundmischung des Schwefels (§§219-235), die merkwürdigsten Erfahrungen von luftförmigen Stoffen (§§236-261), die naturbewirkte Zerlegung und Erzeugung durch Gärung und Fäulnis (§§262-277) sowie Untersuchungen über Pflanzenstoffe und tierische Körper (§§278-313). Der  19. Abschnitt handelt von der Grundmischung der zusammengesetzten Erden und Steine (§§314-331), der 20. von den natürlichen Metallen und Erzen (§§323-367), der 21. vom Magnetismus (§§368-388). Es folgen die Gründe der Zerlegung metallischer Mineralien und ihrer Anwendung zur Erzeugung neuer Natur- und Kunstprodukte (§§389-405) sowie auch der Salze und Erden (§§406-428). Säuren und Auflösungsmittel werden vorgestellt (§§429-449), die Prozesse der Verglasung erklärt (§§450-463) und Mutmaßungen über die Natur des Feuers und die Ursache der elektrischen Erscheinungen gegeben (§§464502). Der vorletzte Abschnitt präsentiert einige Lehren vom Weltgebäude und der Erdkugel (§§503-531) und der letzte beschreibt die Lufterscheinungen und einige andere Begebenheiten, welche in der Natur im Großen und Ganzen vorgehen (§§532-550). Das Lehrbuch behandelt überwiegend chemische Themen und versucht sie einem jeden Naturforscher zugänglich zu machen. Karsten (1783: 14) geht

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davon aus, dass Chemie nichts anderes als ausübende oder angewandte Naturlehre sei. Der Chemiker sei unter den Naturforschern, was der auf der Sternwarte beobachtende Astronom unter den Mathematikern ist: „Der Chemist muß dem wissenschaftlichen Naturforscher die nöthigen Erfah­ rungen liefern, damit demselben immer mehr Licht aufgehe, wenn er bemühet ist, die Geheimnisse der Natur zu erforschen, die Gesetze, nach welchen die Natur auch im Grossen wirkt, immer vollständiger zu entwickeln, und alle zur gesammten Naturwissenschaft gehörige Lehren in genauere Verbindung zu bringen.“ (Karsten 1783: 15)

Die Verwendung von Karstens Lehrbuch zeigt, dass sich Kant weiterhin um einen forschungsaktuellen Physikunterricht bemühte69. Durch die von Karsten vorgeschlagene Perspektive wird er inhaltlich auf die Rolle der Chemie in den Naturwissenschaften aufmerksam gemacht und didaktisch auf die vorbereitende und grundlegende Bedeutung einer Darstellung des Ganzen. Sowohl für das Vorantreiben der Naturwissenschaften als auch für die Lehre dieses Faches, weist Karstens Lehrbuch auf die orientierende Funktion hin, das Augenmerk auf die Verbindungen der einzelnen thematischen Spezialfelder in ihrem Gesamtzusammenhang zu richten.

Ergebnisse des Panoramas: Eine historische Vergleichsfolie für die Untersuchung von Kant als Lehrer der Aufklärung

Zum Abschluss der vorgestellten Autoren und ihrer Lehrbücher sollen die Ergebnisse der Beobachtungen zusammengefasst werden. Zunächst stellt sich durch das Eintauchen in die Kompendien von Kants philosophischen Unterricht sowohl durch die sich eröffnenden Themenwelten und zeitgenössischen, wissenschaftlichen Fragestellungen als auch dem damals gängigen Vokabular eine Sensibilisierung für den historischen Kontext von Kants Unterricht und Philosophie ein. Begriffe, die für heutige Philosophen und Philosophinnen einen kantischen Klang haben, zeigen sich als Ausdrücke der Zeit. J. P. Eberhard bezeichnet 1753 die Erkenntnis aus den ersten Gründen als a priori 69

Kant erneuerte laut Vorlesungsverzeichnis sein Physik-Kompendium noch einmal mit der von Lichtenberg vermehrten dritten Auflage von Erxlebens Naturlehre 1784, welches unter seinen Handbüchern das aktuellste ist, es gibt kein anderes mit einem jüngeren Datum. Durch die Analyse von Erxlebens Ausgabe wurde von einer Behandlung dieses Kompendiums abgesehen. Zur Geschichte der Physik und ihrer Didaktik im 18. Jahrhundert siehe Lind 1992.

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und unterscheidet sie von der Erkenntnis aus Erfahrung durch die Sinne a posteriori. Baumgarten unterscheidet 1763 die ‚Pflichten gegenüber sich selbst‘ von den ‚Pflichten gegenüber anderen‘. Feder rät 1769 dazu, die Tugend vor dem ‚Richterstuhl der Vernunft‘ zu prüfen. Diesem Richter zu gehorchen, solle der ‚Bewegungsgrund‘ für das tugendhafte Handeln sein, für das er ‚Imperative‘ als Anweisungen formuliert. Bock spricht in seiner Widmung 1779 von der ‚Denkungsart‘ und dem ‚Weltbürger‘ – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Darstellung der Notizen zu Meiers Lehrmethode und J. A. Eberhards Gottesbegriff zeigen exemplarisch, wie sich Kants philosophischer Unterricht in Diskussion und Auseinandersetzung mit seinen Kollegen gestaltet. Seine theoretischen Leistungen erscheinen durch diese historische Kontextualisierung als Ergebnis und Ausdruck eines interessierten und engagierten Dialogs. In Hinsicht auf die Wahl der Autoren lässt sich festhalten, dass Kant sich an den allgemeinen Entwicklungstendenzen des akademischen Philosophieunterrichts orientierte und auf bereits bekannte Lehrbücher zurückgriff, wie etwa Wolffs Auszug oder Baumgartens Metaphysica und Ethica. Darüber hinaus zeigte seine frühe Entscheidung für Meier, J.  P.  Eberhard, Feder, Erxleben, Basedow, Bock und Karsten, dass er sich auch für neuere noch nicht etablierte Werke entschied, was seinen Unterricht forschungsaktuell und interessant gemacht haben dürfte. Das ist auch ein Hinweis darauf, dass er seinen Unterricht gemäß der forschenden Methode nutzte, um seinen eigenen wissenschaftlichen Interessen nachzukommen und dass er stets ein ausgeprägtes und vielfältiges Forschungsinteresse hatte. In Bezug auf seine Autoren ist zudem bemerkenswert, wie sie selbst miteinander in Verbindung stehen. Baumgarten sah sich klar als Schüler von Wolff, Meier war tatsächlicher Schüler von Baumgarten. Für den Lehrer Kant lag dieser aufeinander bezogene, chronologisch nachgeordnete Entwicklungsgang, Wolff, Baumgarten, Meier, nebeneinander und zeitgleich auf dem Katheder: Die von Wolff entwickelte mathematisch-demonstrativische Methode, die tabellarischen Lehrbücher von Baumgarten, die diese Methode gewissermaßen inhaliert haben und auf Ordnung und Systematik setzen sowie das Lehrbuch von Meier, der als Baumgartens Schüler wiederum die Bedeutung von Ästhetik hervorhob, zu einer rhetorisch-orientierten Darstellung griff und auf die Gesamtheit der Erkenntnisvermögen hinwies. Ergänzt werden diese unterschiedlichen Lehrarten durch den Griff zu Feder, mit dem sich Kant für einen sehr jungen Autor entschied, der ein ausgeprägtes pädagogisches Interesse vorwies und eine neue Stilrichtung philosophischer Lehrbücher einläutete: Keine durchgängige Paragraphenzählung, offen, unentschieden, eklektisch, ansprechend

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verfasst und an ein breites Publikum adressiert. Durch seine Lehrbücher kam Kant mit einem breiten Angebot unterschiedlicher Lehrarten in Berührung und lernte die Vor- und Nachteile durch seine eigene Arbeit als Lehrer kennen. Das Selbstverständnis von Kants Kollegen als Lehrer und Verfasser von Lehrbüchern zeigt, dass sie von der Wichtigkeit ihrer Funktion und Aufgabe überzeugt waren. Kants Kompendienautoren konzentrierten sich insgesamt auf einen Nutzen, den sie mit ihrer Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihren Erfahrungen zu vermehren suchten und betonten unisono die Nützlichkeit ihrer Werke. Wolff (1728: 3) erhoffte sich Nutzen im menschlichen Leben, Baumgarten (2011: 3) widmete sein Lehrbuch dem Nutzen seines Hörers. Meier (1752, AA 16: 73) sah einen dreifachen Nutzen seiner Vernunftlehre in ihrem Beitrag zur Erlernung und Ausbreitung der Wissenschaften, für die Verbesserung von Verstand und Vernunft um Wahrheit zu erkennen und der Beförderung der gesamten Tugend durch die Verbesserung des freien Willens. J. P. Eberhard (1753: Widmung) erklärte, er habe sein Lehrbuch zum Nutzen der akademischen Jugend geschrieben, Feder (1769: Vorrede) hoffte, dass Anfänger durch sein Lehrbuch die Weltweisheit mit größerem Nutzen erlernen können. Wallerius (1763: Vorrede) erhoffte sich einen Nutzen für seine Landsmänner und sein Vaterland. Erxleben (1772: 2) betonte, sein Lehrbuch widme sich der allernützlichsten Wissenschaft, da sich die Naturlehre mit Körpern und ihren Wirkungen beschäftige und ihr ordentlicher Gebrauch unser Leben angenehmer und bequemer machen könne. Basedow (1773: 10) machte im Methodenbuch auf seine Schulbibliothek zum Nutzen der Jugend aufmerksam. Bock (1780: Vorrede) betonte in seinem Lehrbuch, dass nichts gemeinnütziger sei als die Verbreitung von Erziehungswissen und dass er sich bemüht habe, auch Lesern, die seine Vorlesungen nicht hören können, nützlich zu werden. J. A. Eberhard (1781: Vorrede, 2v) hatte die Versuche anderer Weltweiser in Hinsicht auf ihren Nutzen beurteilt, um den wissbegierigen Studenten in seinem Gange in dieser Wissenschaft zu leiten. Karsten bestimmte sein Lehrbuch sogar durch den Titel in Hinsicht auf seine Nützlichkeit: Anleitung zur gemeinnützlichen Kenntniß der Natur. Die Überzeugung, zu einem Nutzen beizutragen, beschränkte sich nicht auf diese eine Formulierungsweise, sondern wurde zudem durch andere Ausdrücke betont wie ‚Brauchbarkeit‘, ‚Verbesserung‘ oder ‚Zweckmäßigkeit‘. Wird der Nutzen näher betrachtet, den sich die Lehrer von ihren Werken versprachen, lässt er sich mittels drei unterschiedlich weiten Extensionen beschreiben. Die Nützlichkeit bezog sich in einem engen Sinn direkt auf die Zielgruppe und ihre Bedürfnisse. Die Lehrer reflektierten ihre Zielgruppe und wählten ihre Darstellung der Inhalte in Abstimmung auf sie. Während sich Wolff und Baumgarten dezidiert an die studentischen Hörer richteten,

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adressierten Meier und Feder bereits einen größeren Leserkreis. Wallerius, Erxleben, Basedow, Bock und Karsten gingen ebenfalls über die Grenzen der akademischen Hörsäle hinaus und wandten sich an Praktiker, sei es im naturwissenschaftlichen, pädagogischen, politischen oder ökonomischen Bereich. Studenten erhielten einen verständlichen Zugang für ihren Anfang in der jeweiligen Wissenschaft, Praktiker ein informatives Nachschlagewerk, das ihre Arbeit erleichtern sollte. Die Nützlichkeit bezog sich in einem weiteren Sinn auf die Beförderung der Wissenschaft selbst. Lücken sollten geschlossen, neue Disziplinen gegründet, weiterführende Versuche gewagt werden. Einerseits wuchsen die Wissenschaften durch den je neu präsentierten Wissensstand der Lehrbücher, andererseits mittel- und langfristig mit der durch sie erzielten Verbesserung der Ausbildung künftiger Wissenschaftler. So reflektierte etwa Erxleben sein eigenes Schülerverhältnis zu Kästner und stellte fest, dass eine Wissenschaft umso besser gelinge, je gründlicher der vorherige Unterricht gewesen sei. In einem umfassenden dritten Sinn zielte die Nützlichkeit somit auf eine Verbesserung der gesellschaftlichen Situation insgesamt ab, zu der die Wissenschaften beitrugen. Bergmänner konnten durch das Handbuch von Wallerius effektiver und sicherer arbeiten, Staatsmänner erhielten durch Basedows Methodenbuch eine Richtschnur in Sachen Schul- und Erziehungswesen und Karstens Lehrbuch sollte angehende Naturwissenschaftler, Ärzte und Ökonomen auf das für ihre Tätigkeit hilfreiche chemische Grundlagenwissen aufmerksam machen. Von der Verbreitung ihrer Kenntnisse versprachen sich die Lehrer der Aufklärung einen konkreten Nutzen in der Welt. Als Lehrer und Forscher verfolgten sie somit eine wichtige Aufgabe für die einzelnen Studenten, die Wissenschaften und die menschliche Gesellschaft. Wie Wallerius feststellte, reicht dafür ‚eines Mannes Alter‘ nicht aus, sondern es muss generationsübergreifend zusammengearbeitet werden. Die LehrerSchüler-Beziehung ist insofern von zentraler Bedeutung und die Autoren waren sich ihrer Wirkung und Einflussnahme auf die Zielgruppe bewusst. Sie sprachen davon, ‚beizubringen‘, ‚zu unterweisen‘ und ‚zu unterrichten‘. Sie wollten etwas ‚bekannt machen‘, ‚nützlich machen‘, ‚zur Anwendung bringen‘ sowie ‚vorbereiten‘, ‚zubereiten‘ und ‚leiten‘. Ihre Ziele waren hochgesteckt: Wolff möchte mit seinem Lehrbuch zur Verbreitung von Verstand und Tugend beitragen, von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit führen. Baumgarten übernahm das Bemühen der Philosophie um Gewissheit und Nützlichkeit und verwies auf den Zusammenhang von Wahrheit und Pflicht in Hinblick auf die Philosophie und ihren Lehrer. Meier erachtete den Philosophen als Lehrer, dessen Charakter in stetigem Wachsen begriffen sei und der dafür alle Fertigkeiten von Seele und Körper zu nutzen habe. Feder betonte, dass man nicht nur sich selbst, sondern auch andere zu Tugend und Weisheit führen

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müsse. Darin zeigt sich ein Philosophieverständnis, das sich von einer abstraktgeistigen Auffassung dieser Disziplin distanziert, sich in der praktischen Welt situiert und die mit dieser Rolle verbundene Verantwortung reflektiert. Die akademischen Lehrer des 18. Jahrhunderts waren sich ihrer Verantwortung in Hinblick auf ihre bedeutungsvolle Aufgabe eines generationsübergreifenden Aufklärungsprozesses bewusst und wussten, dass Kenntnisse allein für ein Gelingen der Lehre nicht genügen. Sie zielten auf die Entwicklung und Beförderung der Tugend, auf die Anerkennung der Pflichten eines Gelehrten, da sie durch ihre eigene Tätigkeit wussten: Neben einer gründlichen Einsicht braucht es eine geeignete Einstellung. Sowohl Baumgarten als auch Meier verwiesen neben der gelehrten Erkenntnis für die gelungene Lehre eines Lehrers auf dessen innere Einstellung. Bei Baumgarten war es die ‚Treue zur Pflicht‘, die den Gelehrten kennzeichnet, bei Meier der ‚Charakter‘, für den der Gelehrte durch sein stetiges Üben und seinen Fleiß zu einem großen Teil verantwortlich ist. Will man andere zu Weisheit und Tugend anleiten, müsse man selbst weise und tugendhaft sein oder wie Feder es ausdrückte: ‚Beispiele machen mehr Eindruck als Lehren‘. Was die Autoren von Kants Handbücher verbindet, ist ein stets deklariertes, aufklärerisches Bemühen um die Verbreitung von Kenntnissen und Wahrheit, das in einem engen Zusammenhang mit einer inneren, moralischen Einstellung steht. Die Autoren wussten nicht nur um den Einfluss auf ihre Schüler, sondern auch um dessen Grenze. Das belegen Baumgartens Überlegungen zum Beifall auf Akademien, der von dem Urteil der Schüler abhängt, die selbst allerdings erst zum richtigen Urteilen als vernünftiges Urteilen angeleitet werden müssen sowie Meiers Ausführung der Regeln, welche der Schüler für sein Studium zu beachten habe, zu denen aber auch die Wahl eines geeigneten Lehrers zählt. Und schon Wolff betonte, dass der Anfang aus der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit bereits eine erste Initiative seitens der Schüler darstelle. Das Konzept der von ihnen angestrebten, nützlichen Weltweisheit bedarf dem Zusammenspiel von Lehrer und Schüler, interessante Vorträge müssen auf interessierte Hörer stoßen. Auf der Suche nach einer Richtschnur konzentrierten sich die Lehrer dabei auf die vernünftigen Gründe, die sie zu ihrer Erkenntnis führen und versuchten ihren Schülern das Suchen und Finden von Gründen, das eigenständige Nachdenken und Urteilen beizubringen. Wolff appellierte an die Anleitung zur eigenständigen Selbstprüfung für besseres Memorieren des Gelernten und die Angewöhnung einer nützlichen, kritischen Grundhaltung. Meier räumte dem Meditieren als eigenem Durchdenken und logischen Urteilen beim Studium eine tragende Rolle ein. J.P. Eberhard betonte, die Naturlehre müsse vom eigenen Gesichtspunkt aus selbstständig durchdacht werden und gab mit seinem Lehrbuch dafür ein

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demonstratives Beispiel. Die Aktivierung des eigenen Denkens des Schülers verstanden die Philosophielehrer als zentral für das Weiterführen ihrer Wissenschaft, die sie, wie es etwa bei Feder deutlich wird, mit der menschlichen Vernunft überhaupt gleichsetzten. Die Lehrer des 18. Jahrhunderts versuchten das Interesse der nachfolgenden Lehrer- und Forschergeneration zum eigenständigen Beobachten, Schließen, Beurteilen und Denken zu wecken. Wie Meier feststellte, leben die Wissenschaften durch ihre Gelehrten und es ist ein Kriterium der Gelehrten, dass sie niemals aufhören zu lernen. Sie wussten sich selbst nicht nur in der Rolle eines Lehrers, sondern setzten diese Rolle als Kriterium für ihre Tätigkeit als Weltweise. Denn auch sie waren in den Prozess des Suchens nach vernünftigen Gründen, des Erforschens der Wahrheit eingebunden. Das wird etwa deutlich, wenn Erxleben vorläufige Hypothesen dadurch rechtfertigte, dass ohne sie sich die Wissenschaft nicht weiterentwickeln könne. Viele der Kompendienautoren beschrieben die Geschichte ihrer Wissenschaft. Erxleben sah seine Naturlehre in Zusammenhang mit seiner zuvor publizierten Naturgeschichte und betonte, sie ergeben zusammen ein Ganzes. Wallerius situierte seine Forschung in der Geschichte der bisherigen Leistungen, die er durch die namentliche Nennung seiner Kollegen skizzierte. Bei Feder wurde der Status der Wissenschaftsgeschichte bereits als nötig für einen Grundriss der philosophischen Wissenschaften im Titel angeführt. Er begann sein Lehrbuch mit einer Historie über die Strömungen der Philosophie und behandelte dabei die Personen, von denen diese getragen wurden: Sowohl deren Urteil als auch Charakter. Die Lehrer verorteten sich selbst und ihre Leistung in einer personengetragenen Wissenschaftsgeschichte. Schüler werden durch ihre Lehrer Teil dieses Prozesses und werden wiederum als Lehrer ihrer Schüler diesen Prozess weiterführen. Davon versprach man sich einen praktischen Nutzen, den die philosophischen Lehrer durch ihre Tätigkeit befördern und verbreiten wollten, und der mit einer Verbesserung des menschlichen Verhaltens verbunden war: Einerseits als Bedingung des Prozesses, wie es die Hinweise auf das Lehrerethos zeigen und andererseits als Ergebnis des Prozesses, wie es die Nutzenüberlegungen um die Zunahme von Verstand und Tugend belegen. Durch das Panorama der Lehrbücher und der Vorstellung ihrer Autoren als Lehrer hat sich ein Bild über das Selbstverständnis philosophischer Lehrer des 18. Jahrhunderts ergeben. Sie bemühten sich darum, dass ihre Schüler eigenständiges Denken durch Übung und Versuche erlernten, bedienten sich dafür klaren und gründlichen Darlegungen und entdeckten die Vorzüge eines lebendigen Unterrichts. Ihre Motivation bestand in der Verbreitung und Verbesserung der Wissenschaften und zeigte den angestrebten praktischen Nutzen

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für die Gesellschaft in Verschränkung mit der Beförderung der Tugend. Die Welt zeigt sich als Korrektiv der Wissenschaften und als Ort ihrer Anwendung. Die bisherige Geschichte der Forschung rückte als Kriterium der Wissenschaft in das Bewusstsein: Die Lehrer erkannten sich als Teil dieser und richteten ihr eigenes Bemühen darauf, sie gemäß der eigenen Kriterien von Gewissheit und Nützlichkeit fortzuschreiben. Die Lehre wurde mit der eigenen Forschung verbunden. Der Fokus auf Welt und Geschichte sowie Gewissheit und Nützlichkeit führte dabei zu der inhaltlichen Breite der philosophischen Kompendien. Als Privatdozent erklärte Kant im selben Semester seinen Studenten mit Wolff die Eigenschaften von Winkeln, Triangeln und Zirkeln, mit Eberhard die Eigenschaften konkreter Körper, ihre Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Teilbarkeit, Beweglichkeit und Kraft, mit Meier das Zustandekommen einer gelehrten Erkenntnis und mit Baumgarten die abstrakten Prädikabilien der Dinge sowie moralphilosophisch die Verbindlichkeiten zu anderen und deren Grundsätze. Physik, Chemie und Naturgeschichte sind in der Folge eigene Disziplinen geworden, genau wie Anthropologie, Pädagogik und Rechtswissenschaften. Da die späteren Grenzen zu den angesprochenen Einzeldisziplinen jedoch noch nicht gezogen waren, entwickelte sich das Philosophieverständnis als Weltweisheit in einem inhaltlich und methodisch offenen Versuchen und Ausprobieren: „Die Offenheit der Forschung war Ausdruck einer Übergangsphase, in der das alte institutionelle Wissenssystem angegriffen, ein neues aber noch nicht fest etabliert war.“ (Stollberg-Rilinger 2017: 185). Über diese Versuche gewann die Philosophie als akademisches Fach an Profil und Selbstständigkeit. Sie verstand sich als grundlegend, für den in allen Wissenschaften notwendigen, selbstständigen Verstandesgebrauch sowie die ebenfalls notwendige, moralisch zu nennende Einstellung von Lehrern und Forschern. Die Kompendien veranschaulichen, in welchen didaktischen Herangehensweisen sich das Selbstverständnis der Lehrer der Aufklärung ausdrückt und welche Anregungen Kant durch seine Kompendien thematisch aber auch methodisch für seinen Unterricht erhalten hatte. Die so erarbeitete Vergleichsfolie, erlaubt Kant als Lehrer der Aufklärung historisch einzuordnen und seinen Unterricht auf individuelle Züge hin zu befragen.

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Siglen- und Abbildungsverzeichnis

Siglenverzeichnis

AA Akademieausgabe Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA 07) Anth AP Aufsätze, das Philanthropin betreffend (AA 02) Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins BDG Gottes (AA 02) Briefe (AA 10-13) Br Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren erwiesen DfS (AA 02) EACG Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie (AA 02) Eigene Darstellung ED Die Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erwogen (AA 01) FEV Fußnote FN GAJFF Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Herrn Johann F. von Funk (AA 02) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA 04) GMS GSE Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (AA 02) Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (AA 01) GSK Handschriftlicher Nachlass (AA 14-23) HN Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (AA 08) IaG Kritik der praktischen Vernunft (AA 05) KpV Kritik der reinen Vernunft (zu zitieren nach Originalpaginierung A/B) KrV Kritik der Urteilskraft (AA 05) KU MAM Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (AA 08) Die Metaphysik der Sitten (AA 06) MS De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (AA 02) MSI Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem NEV Winterhalbenjahre von 1765-1766 (AA 02) NLBR Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe und der damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Naturwissenschaft (AA 02) Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (AA 01) NTH Päd Pädagogik (AA 09) Physische Geographie (AA 09) PG Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA 04) Prol

354 Refl RGV SF TP TW UFE

VT VvRM WA WDO

Siglen- und Abbildungsverzeichnis Reflexion (AA 14-19) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 06) Der Streit der Fakultäten (AA 07) Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA 08) Neue Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde (AA 01) Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse, wodurch sie die Abwechselung des Tages und der Nacht hervorbringt, einige Veränderung seit den ersten Zeiten ihres Ursprungs erlitten habe (AA 01) Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (AA 08) Von den verschiedenen Racen der Menschen (AA 02) Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (AA 08) Was heißt: Sich im Denken orientiren? (AA 08)

Die Siglen, mit denen auf die Schriften Kants Bezug genommen wird und deren Zitationsweise richtet sich nach den Formangaben der Kant-Studien. Jedoch wurde aufgrund der zahlreichen Zitate auf eine zusätzliche Zeilenangabe verzichtet, wodurch sich folgende Form ergibt: Siglum, AA (Bd.-Nr.): Seite[n]; Beispiel: WA, AA 08: 35. Zugrunde liegt die Akademieausgabe der Werke Kants, auf die im digitalen Medium Kant im Kontext III, Komplettausgabe, 4. Auflage von 2017, herausgegeben von Karsten Worm und Susanne Boeck zugegriffen wurde: Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften Hrsg.: Bd.  1-22 Preussische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1900ff.



Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Historische Stimmen zu Kants pietistischer Erziehung [ED] . . . . . . . . . . 1 104 Abb. 2: Naragon, Steve (2006): „Overview of Kant’s Lecturing Activity“ in: Kant in the classroom Materials to aid the study of Kant’s lectures, Kant’s Lectures, [online] https://users.manchester.edu/FacStaff/ SSNaragon/Kant/Lectures/lecturesIntro.htm [18.05.2021] . . . . . . . . . . . . . 1 108 Abb. 3: Historische Stimmen zu Kants Unterrichtspraxis 1755/56-1769/70 [ED]  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 133

Siglen- und Abbildungsverzeichnis

355

Abb. 4: Historische Stimmen zu Kants Unterrichtspraxis 1770-1779/80 [ED] . . . 1 Abb. 5: Historische Stimmen zu Kants Unterrichtspraxis 1780-1796 [ED] . . . . . . 1 Abb. 6: Kants Hinweise auf die selbstverantwortliche Bildungsfähigkeit des Menschen [ED] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Abb. 7: Kants Hinweise auf den Zweck an sich selbst als Erziehungsnorm [ED]  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

160 188 227 270