Anthropologie zwischen Theologie und Naturwissenschaft bei Paul Tillich und Kurt Goldstein: Historische Grundlagen und systematische Perspektiven 7082190681, 9783767571433

Wie können Naturwissenschaften und Theologie jenseits aller Grabenkämpfe konstruktiv aufeinander bezogen werden? Dieser

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Anthropologie zwischen Theologie und Naturwissenschaft bei Paul Tillich und Kurt Goldstein: Historische Grundlagen und systematische Perspektiven
 7082190681, 9783767571433

Table of contents :
Cover
Title
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
I. Die Einheit der Wissenschaften – Paul Tillichs Wissenschaftskonzept
II. Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie
III. Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog
Die Methode und das Ganze – Rückblick und Ausblick
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie Begründet von Johannes Wirsching Herausgegeben von Jörg Lauster und Bernd Oberdorfer

Band 41

Katja Bruns Anthropologie zwischen Theologie und Naturwissenschaft bei Paul Tillich und Kurt Goldstein Historische Grundlagen und systematische Perspektiven

Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.

Die Umschlagabbildung ist eine bearbeitete Fotografie der »Smoo Cave« in Durness, Schottland. Das Originalbild stammt aus der Sammlung des Projekts »Geograph British Isles«. Das Urheberrecht dieses Bildes liegt bei »K A« und ist lizenziert unter der »CC BY-SA 2.0«-Lizenz. Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Smoo_Cave_-_geograph.org. uk_-_1635581.jpg (1.4.2011)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBook-Ausgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/7082190681. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2011 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Satz: Katja Bruns Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: klartext GmbH, Göttingen Druck: buch bücher.de GmbH, Birkach ISBN: 978-3-7675-7143-3

Inhaltsverzeichnis Vorwort ..................................................................................................7 Einleitung...............................................................................................8

I.

Die Einheit der Wissenschaften – Paul Tillichs Wissenschaftskonzept............................................ 15

1.

Einführung.........................................................................................................15

2.

Historische Einordnung .................................................................................17

3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2

Einheit in der Differenz – die Ebenen des Systems ................................24 Die Elemente der Einheit – Denken, Sein und Geist .............................26 Die Idee des Wissens und der Systemgedanke.........................................26 Die Elemente des Wissens .............................................................................37 Die Elemente der Differenz – Gestalt und Sinn ......................................81 Methoden und Konzeption der Seins- und Realwissenschaften..........81 Methoden und Konzeption der Geistes- und Normwissenschaften ...96

II.

Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie......................................... 115

1. 1.1 1.2 2. 2.1 2.2 2.3

Biographische Notizen..................................................................................115 Lebenslauf........................................................................................................117 Philosophische Ausgangspunkte................................................................134 Grundbegriffe der Organismustheorie Kurt Goldsteins .....................154 Das Spezifikum der Biologie .......................................................................154 Kurt Goldsteins Ansatz und seine Frontstellung...................................161 Ganzheit des Organismus – Basistheorie der Biologie des Menschen..................................................174 Theologie und Biologie – Voraussetzungen für den Dialog...............181

3.

III.

Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialolg.............................. 183

1. 1.1 1.2

Die Verwirklichung des Menschen – Angst, Furcht und Mut ...........183 Die Ausgangspunkte......................................................................................184 Die Ebene der differenten Beschreibung.................................................192

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Inhaltsverzeichnis

1.3 2. 2.1 2.2

Die Ebene der Integration ...........................................................................208 Die Integration von Geist und Materie im Menschen – Freiheit ......211 Sprache als Abstraktion – Kurt Goldsteins Freiheitsbegriff...............211 Endliche Freiheit als Telos des Lebens – Zu Paul Tillichs Freiheitsbegriff ................................................................223

Die Methode und das Ganze – Rückblick und Ausblick...................... 244

Literaturverzeichnis ........................................................................... 250

Register .............................................................................................. 264

Vorwort Bei der hier vorliegenden Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die im Sommersemester 2008 von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität in Göttingen unter dem Titel ‚Von der Freiheit des Organismus. Theologie und Naturwissenschaft im Dialog zwischen Paul Tillich und Kurt Goldstein‘ angenommen wurde. Das Erstgutachten hat Herr Prof. Dr. Reiner Anselm übernommen, der die Entstehung dieser Arbeit durch alle ihre Stadien hindurch mit konstruktivem Rat und freundschaftlicher Hilfe begleitet hat. Seinem engagierten Einsatz und seiner Geduld in Verbindung mit den großen Freiräumen, die er mir gewährt hat, haben es mir ermöglicht, dieser Arbeit über die Jahre hinweg ihr Gesicht zu geben. Dafür sei ihm herzlich gedankt! Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Frau Prof. Dr. Christine AxtPiscalar, die das Zweitgutachten erstellt hat. Das Rigorosum fand am 04. Juni 2008 in Göttingen statt. Im Rückblick habe ich vielen zu danken, denn Sie haben den Prozess der Entstehung dieser Arbeit in allen Phasen lebhaft mit ihrem Rat und ihrer Teilnahme begleitet: Corinna Hogefeld danke ich fürs Korrekturlesen, Katrin Hansen für die stete Begleitung und das Teilen einer ganz besonderen Lebensphase. Meinen Eltern bin ich für die stete Unterstützung auf allen Ebenen sehr dankbar. Für den steten Austausch, der die Fertigstellung dieser Arbeit vorangetrieben hat, danke ich Kathrin Stamm und Jan Prause-Stamm, Dennis Breitenwischer, Lucie AbelerDörner und Johannes Abeler, Anja Siebert, Christine Görgen, Pfn. Elisabeth Kühn und den KonfirmandInnen der Ev. Kirchengemeinde Waidmannslust. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei den MitarbeiterInnen der Staatsbibliothek zu Berlin, die mir immer wieder beim Suchen und Finden auch der abgelegensten Literatur behilflich waren. Ein herzlicher Dank geht auch an alle, die mir bei der Realisierung dieses Buches behilflich waren: Herrn Prof. Dr. Jörg Lauster und Herrn Prof. Dr. Bernd Oberdorfer, die die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe ‚Kontexte‘ unterstützt haben. Ein besonderer Dank gilt meinem Mann Joachim Willems. Er hat das Entstehen dieser Arbeit vom ersten bis zum letzten Tag begleitet. Dass aus einer Idee ein Thema wird, das es lohnt, weiter verfolgt zu werden, verdanke ich seiner steten Gesprächsbereitschaft und Unterstürzung. Er hat mich motiviert, gebremst, Phase der Stagnation genauso ertragen wie die des Übermuts. Und er hat beständig daran geglaubt, dass dieses Buch Wirklichkeit wird. Berlin, im März 2011

Katja Bruns

Einleitung Die Hochschultage von Davos sind vor allem wegen der dort vom 17.03.– 06.04.1929 stattfindenden Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer im Gedächtnis geblieben. Hier manifestierten sich in prägnanter Weise einige der Zerwürfnisse, die die weitere Geschichte – nicht nur die der Philosophie – des 20. Jh. auf verhängnisvolle Weise prägen sollten. Der von den relevanten Seiten als 1 missglückt beschriebene Auseinandersetzung – sowohl Heidegger als auch Cassirer äußerten hinterher ihre Unzufriedenheit mit dem Verlauf der Diskussion und wollten darin offenbar wenig mehr als eine, die alltägliche Arbeit nur kurz unter2 brechende Standortbestimmung sehen – ist gleichwohl von einigen der Zuhörer epochale Bedeutung zugeschrieben worden: Otto Bollnow etwa erinnert sich an „das erhebende Gefühl“ der Teilnehmer, „einer geschichtlichen Stunde beigewohnt zu haben, ganz ähnlich wie es Goethe in der Kampagne in Frankreich ausgesprochen hatte: ‚Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus‘ – in diesem Fall der Philosophiegeschichte – ‚und ihr könnt sagen, ihr seid 3 dabei gewesen.‘“ Der Veranstaltung, die im Jahr zuvor vom 18.03.–14.04. ebenfalls in Davos abgehalten wurde, ist dagegen bisher eher wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. Dabei war sie ähnlich hochkarätig besetzt wie die Nachfolgetagung, wobei man während der Planung allerdings auf die spektakuläre Inszenierung des Zusammentreffens zweier philosophischer Größen der Zeit, wie es im Jahr darauf mit der Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Cassirer der Fall war, weitgehend verzichtet hatte. Auch trug die zweite Tagung deutlich offiziellere, den rein aka4 demischen Rahmen überschreitende Züge. 1928 stand dagegen mehr das Mitein5 ander des Lernens von Lehrenden und Studierenden im Mittelpunkt. Dafür hatte 1

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So resümierter etwa die Neue Zürcher Zeitung: „Anstatt zwei Welten aufeinander prallen zu sehen, genoß man höchstens das Schauspiel, wie ein sehr netter Mensch und sein sehr heftiger Mensch, der sich aber auch furchtbar Mühe gab, nett zu sein, Monologe redeten.“ Ernst Howald, Betrachtungen zu den Davoser Hochschulkursen, in: Neue Zürcher Zeitung, 10.4.1929. Vgl. Die Reaktionen der Beteiligten sind zusammengefasst bei Dominic Kaegi, Davos und davor – Zur Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Cassirer, in: Dominic Kaegi/Enno Rudolph (Hg.), Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002, S. 66ff. Otto Friedrich Bollnow, Gespräche in Davos, in: Günther Neske (Hg.), Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen 1977, S. 28. Zur Bedeutung der II. Davoser Hochschultage vgl. Dominic Kaegi, Davos und davor – Zur Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Cassirer, in: Dominic Kaegi/Enno Rudolph, Cassierer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002; Thomas Meyer, Ernst Cassirer, Hamburg 2006, S. 154–179; Kurztitel: T. Meyer, Cassirer. Lagen Finanzierung und Organisation 1928 noch weitgehend in privaten bzw. akademischen Händen, so wurde die Durchführung der Hochschultage 1929 auch von politischer Seite aus unterstützt: Die Regierungen der Schweiz, Deutschlands und Frankreichs schickten offizielle Vertreter. Alle drei Regierungen vergaben zudem Reisestipendien, um Studierenden und Interessierten die Teilnahme zu erleichtern. Vgl. T. Meyer, Cassirer, S. 162. Hans Driesch prägte für die Arbeitsatmosphäre, die in Davos vorherrschte, das sich bald zum geflügelten Wort entwickelnde Diktum von der „Universität über Kreuz“. Vgl. Ebd., S. 160.

Einleitung

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man einige der führenden Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen eingeladen, die in den Abteilungen ‚Philosophie und Literaturwissenschaften‘ und 6 ‚Jurisprudenz und Sozialwissenschaften‘ , aktuelle Entwicklungen und Tendenzen der europäischen Wissenschaften diskutierten, die Studierenden in die Themen 7 einführten und so ein breites fachliches Spektrum abdeckten. Erstere Abteilung wurde noch einmal in die Bereiche ‚Philosophie und Logik‘, ‚Religionsphilosophie, Ethik, Erziehung und Kultur‘, ‚Psychologie und Soziologie‘ sowie ‚Literatur und Kunst‘ untergliedert. Dieser vom Primat der Philosophie bestimmten Abteilung stand die zweite Abteilung gegenüber, die politisch-ökonomische sowie juristische Themen behandelte. Im Anspruch ging die Veranstaltung weit über den Rahmen üblicher Sommer-Akademien hinaus: die Veranstalter wollten durch die Einladung von sowohl französisch- als auch deutschsprachigen Wissenschaftlern durch das persönliche Kennenlernen nicht nur den fachlichen Austausch voranbringen, vielmehr erhofften sie sich durch dieses Vorgehen auch einen wichtigen Beitrag 8 zur Völkerverständigung. Zudem beabsichtigte man durch das enge Zusammenleben über einen längeren Zeitraum, in dem auch kulturelle und sportliche Veran9 staltungen angeboten wurden , ein intensives Lern- und Arbeitsklima zu schaffen, 6

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Vom 19.03.–31.03. fanden die Veranstaltungen zum ersten Thema statt, vom 26.03.–14.04. die zum zweiten Thema. Vgl. zu den Angaben Friedrich Wilhelm Graf/Alf Christophersen, Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance. Paul Tillich und sein philosophischer Lehrer Fritz Medicus, in: Journal of the History of Modern Theology 11/1 (2004) Berlin u.a., S. 70.f; Kurztitel: F. W. Graf/A. Christophersen, Neukantianismus. Ca. 50 Hochschullehrer betreuten 364 eingetragene Studenten. Angaben zitiert nach T. Meyer, Cassirer, S. 160. So der einhellige Tenor der Grußworte die von Gottfried Salomon, Lucien Lévy-Bruhl und Hans Driesch kamen. Etwa bei Hans Driesch hieß es: „Sie [die Schweiz; K.B.] ist auch ein Vorbild dafür, was Europa werden wird. Wenn ich dabei an meine Freunde im fernen Osten und Westen denke, dann kann auch ein so geeintes Europa nur eine Teileinheit sein für die höchste Stufe, die Menschheit. Dafür ist uns die Schweiz Erzieher. Wir, die wir hier versammelt sind, sind homines bonae voluntatis, hoffen wir, dass die Zahl dieser Leute wachse und dass dieser Kongress nun selbst ein Erzieher werden möge für ein immer stärkeres Anwachsen der Zahl der Leute, die guten Willens sind.“ In: Davoser Revue, Zeitschrift für Literatur, Wissenschaft, Kunst und Sport, Nr. 7, Davos 1928, S. 10. Ähnlich äußerte sich auch Albert Einstein zu Beginn seines Vortrags. Er sagte: „Eine solche reine Freude ward mir zu Teil, als ich von den Davoser Hochschulkursen hörte. Da wird mit klugem Sinn und weiser Bescheidung ein Rettungswerk getan, dem eine ernste Not zugrunde liegt, wenn auch eine solche, die nicht jedem klar erkennbar daliegt. (…) Und doch ist mäßig geistige Arbeit der Gesundung im Allgemeinen nicht abträglich, ja sogar indirekt nützlich, ebenso wie mäßige körperliche Arbeit. In dieser Erkenntnis wurden die Hochschulkurse ins Leben gerufen, welche nicht nur beruflich vorbilden sondern überhaupt zu geistiger Betätigung anregen sollen. (…) Lasset uns auch nicht vergessen, dass dies Unternehmen in hervorragendem Masse dazu angetan ist, Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Nationen herzustellen, die der Erstarkung eines europäischen Gemeinschafts-Gefühls günstig ist.“ Zitiert nach T. Meyer, Cassirer, S. 160. Einstein und einige andere beteiligten sich mit musikalischen Beiträgen, durch die auch die Finanzierung der Hochschulkurse gesichert werden konnte. Der Davoser Skiklub bot für Dozenten und Studenten einen kostenlosen Skikurs an, der trotz schlechten Wetters durchgeführt werden konnte. Vgl. Davoser Revue, Ebd., S. 31f.

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Einleitung

das es den Lernenden und Lehrenden ermöglichen sollte, die interdisziplinären, internationalen und überkonfessionellen Elemente der Kurse für ihre eigenen Arbeiten fruchtbar zu machen und diese in einen größeren Zusammenhang einzu10 stellen. Die Hochschulkurse wurden am 18.03. durch Albert Einsteins im überfüllten Theatersaal des Kurhauses gehaltenen Vortrag ‚Über die Grundbergriffe der Physik und ihre Entwicklung‘ eröffnet. Unter den anderen der insgesamt 49 Dozenten 11 aus Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz , die im Verlauf der vier Wochen Beiträge lieferten, waren neben Tillich u.a. sein philosophischer Lehrer 12 Fritz Medicus , Jean Piaget, Hans Driesch, Lucien Lévy-Bruhl, Gottfried Salomon (der auch Präsident des Organisationskomitees der Tagung war), Erhard Branger, Theodor Litt, Arthur Liebert (er war zu diesem Zeitpunkt Geschäftsführer der Kant-Gesellschaft), sowie der Jesuit Erich Przywara, mit dem Tillich in eine lebhafte Diskussion zum Verständnis des Gnadenbegriffs einstieg, an der sich auch Gerhart Kuhlmann und Eberhard Grisebach über die Tagung hinausgehend be13 teiligten. Charakter und Dynamik dieser Diskussion galten als Impuls für die Idee, im folgenden Jahr Heidegger und Cassirer miteinander diskutieren zu las14 sen. Ebenfalls als Dozent und Vortragender eingeladen war der Mediziner und Neurologe Kurt Goldstein, der mit seinem Assistenten und engstem Mitarbeiter Adhémar Gelb angereist war. Er war mit seinen Beiträgen ebenfalls der ersten Abteilung zugeordnet worden. In der zweiten Abteilung sprachen u.a. Franz Oppenheimer, der ehemalige Reichsjustizminister Gustav Radbruch sowie Carl Schmitt. Für Tillich und Goldstein, die sich bereits vorher bei einem Vortrag der Kantgesellschaft kennen gelernt hatten, wurde die Begegnung in Davos sowohl der Beginn einer lebenslangen Freundschaft als auch Ausgangspunkt für das gegenseitige Interesse, das sie einander und den jeweiligen Gegenständen ihrer Arbeit entgegenbrachten. So jedenfalls beschrieb es Goldstein rückblickend in einem Brief anlässlich von Tillichs 70. Geburtstag: „Während ich mich niedersetze, Dir zu Deinem Geburtstag zu schreiben, geht mir so vieles in bezug auf unsere Freundschaft durch den Sinn: Erinnerungen, die ich zu den wirklich wertvollen meines Lebens betrachte. Wie ich Dir zuerst begegnete, an einem Kant-Kongress, ich glaube in Halle, wie ich mich freute, dass Du nach Frankfurt berufen wurdest, die schönen Tage in Davos, wie wir uns näher und nä10 Ebd., S. 5–10. 11 Ebd., S. 31. 12 Vgl. Zu Tillichs Verhältnis zu Medicus den kürzlich herausgegebenen Briefwechsel zwischen Tillich und Medicus in: Journal of the History of Modern Theology 11/1 (2004), S. 126–147, sowie den Aufsatz F. W. Graf/A. Christophersen, Neukantianismus, S. 52–78. 13 Zu dieser Diskussion und ihrem weiteren Verlauf vgl. T. Meyer, Cassirer, S. 161; F. W. Graf/A. Christophersen, Neukantianismus, S. 69f.; T. F. O’Meara, Paul Tillich and Erich Przywara at Davos, in: Gregorianum 87/2 (2006) Brüssel, S. 227–238. 14 Vgl. T. Meyer, Cassirer, S. 161.

Einleitung

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her kamen, nicht nur persönlich, sondern trotz der so verschiedenen Ausgangspunkte, auch sachlich, in den Grundanschauungen gegenüber dem Leben und dem menschlichen Dasein.“15

In Davos waren beide mit eigenen Vorträgen vertreten. Tillich sprach gleich zu Beginn der Tagung an zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Er war direkt von der 16 31. Christlichen Studententagung in Aarau aus nach Davos gekommen. Dort hielt er zunächst am 20.03. einen Vortrag zum Thema ‚Religion und Kultur‘, am 21.03 sprach er über ‚Die religiöse Erkenntnis‘, darüber hinaus nahm er noch an einer zusätzlichen Diskussionsveranstaltung teil. Goldstein referierte gemeinsam 17 mit Gelb über ‚Psychologie und Soziologie‘. Trotz der sehr unterschiedlichen Ausgangspunkte – Tillich als Philosoph und Theologe auf der einen Seite, Goldstein als Mediziner und Neurologe auf der anderen Seite – waren es offenbar nicht nur sie, die eine unerwartete Nähe ihrer beiden Ansätze bemerkten, denn auch die überregionale Presse nahm davon Notiz: „Erstaunliche Zusammenhänge mit der Religionsphilosophie Tillichs ergaben sich aus den Vorlesungen der sachlich eng miteinander verbundenen Frankfurter Psychologen Prof. Karl [gemeint ist sicher Kurt; K.B.] Goldstein und Prof. Adhémar Gelb. Es scheint, dass diese berufen sind, die moderne Psychologie einen entschei18 denden Schritt über die Psychoanalyse hinaus weiter zu führen.“

Tillich selbst beschrieb die Bedeutung, welche die Arbeiten Goldsteins für sein eigenes Denken hatten, in einem 1959 publizierten Aufsatz über ‚Die Bedeutung 19 Kurt Goldsteins für die Religionsphilosophie‘ , auf den noch ausführlicher zurückzukommen sein wird, folgendermaßen: Kurt Goldstein habe all jene „religiösen Symbole empirisch bestätigt, mit denen der Theologe und der Religionsphilosoph zu tun haben. Aber er hat uns mehr gegeben als eine bloße Bestätigung. Sein Beitrag betrifft die Sache selbst. Ich glaube nicht, dass heute jemand ein gewichtiges Wort über Religion sagen könnte, ohne sich an der Erörterung der Probleme zu beteiligen, mit denen sich Goldstein befasst hat. Jedenfalls ist das meine eigene Erfahrung. (…) Kurt Goldstein ist kein Religionsphilosoph, aber es gibt wenige Gelehrte, denen die Religionsphilosophie mehr verdankt als ihm.“20

Sowohl die beiden Akteure als auch einige der außenstehenden Beobachter und Berichterstatter waren sich offenbar einig: Trotz der unterschiedlichen Ausgangspunkte waren sich die beiden Wissenschaftler nicht nur persönlich nahe, sondern ihre Ansätze führten sie – ausgehend von ihren je eigenen Arbeitsgebieten – zu 15 P. Tillich, E V, S. 340. 16 Vgl. F. W. Graf/A. Christophersen, Ebd., S.71, Fußnote 66. 17 Auf die wichtige Rolle, die Adhémar Gelb für die Arbeiten Goldsteins spielte und die enge Freundschaft der zwei werde ich später noch ausführlicher zurückkommen. 18 Karl Naef, Davoser Hochschulkurse, in: NZZ, 23.3. 1928, Nr. 535, Morgenausgabe. 19 Paul Tillich, Die Bedeutung Kurt Goldsteins für die Religionsphilosophie, in: GW XII, S. 305– 309. 20 Ebd., S. 308f.

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Einleitung

ähnlichen Themen, die – wie sich im weiteren Fortgang der Arbeit noch zeigen wird – vor allem auf der Grenze zwischen philosophischer und theologischer Anthropologie lagen. Auf unerwartete Weise schienen sie sich, statt in die üblichen Grabenkämpfe zwischen Natur- und Geisteswissenschaften einzusteigen, für die Arbeit des anderen zu interessieren und die einander befruchtenden Elemente in den Vordergrund stellen zu können. Aufgabe dieser Arbeit wird es nun sein, der Frage nachzugehen, worin diese intellektuelle Beziehung, die bisher mit dem unspezifischen Begriff der ‚Nähe‘ umschrieben wurde, bestand und auf welchen strukturellen bzw. epistemologischen Voraussetzungen sie beruhte. Dazu ist das begriffliche und erkenntnistheoretische Instrumentarium, auf das beide Wissenschaftler in der Arbeit an den gemeinsamen Themen zurückgriffen, sowie ihre jeweilige Zielsetzung genauer in den Blick zu nehmen. Der wesentliche Fokus liegt dabei darauf, einen Einblick in ein spezielles intellektuelles Milieu mit seinen Themen und Begriffen zu gewinnen, vor dessen Hintergrund die Anthropologie Tillichs ihre spezifische Gestalt gewonnen hat. Auch die Frage nach wissenschaftlichen Trends und der Bedeutung des Zeitgeistes hat vor diesem Hintergrund ihre Berechtigung. Durch die gründliche Analyse der philosophischen Grundlagen sowie der verfolgten Ziele – bei Tillich könnte man diese mit dem Bemühen um eine angemessene Verortung der Theologie im Kontext der anderen Wissenschaften beschreiben, bei Goldstein steht dessen therapeutische Verpflichtung als Arzt im Vordergrund – werden sich dann auch im Austausch auftretende Missverständnisse sowie ungerechtfertigte Vereinnahmungen lokalisieren lassen. Ich möchte dabei im Wesentlichen systematisch vorgehen aber auch der Nachzeichnung der historischen Entwicklung dieser Arbeitsbeziehung und Freundschaft zumindest in ihren Grundzügen Raum geben, denn darin wird ein wichtiges Stück europäischer und amerikanischer Wissenschaftsgeschichte des 20. Jh. sichtbar. Zudem möchte ich damit auch der Versuch 21 unternehmen, zumindest einen der „diskursiven Kontexte“ , die für die Entfaltung von Tillichs theologischem System entscheidend war, näher zu beleuchten. Für die Fokussierung auf die systematischen Aspekte spricht im Wesentlichen ein sachliches Argument: Sowohl für Tillich als auch für Goldstein gilt, dass beide die wesentlichen Parameter, die für sie in der gemeinsamen Arbeit relevant wurden, schon sehr früh darlegt haben. Tillichs grundlegendes, wissenschaftstheoretischen Buch ,Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden‘ (im Folgenden SdW), von dem ich in dieser Untersuchung ausgehen werde, stammt von 1923. Der Darstellung seines wissenschaftstheoretischen Ansatzes, wie er dort entfaltet wird, ist das gesamte erste Kapitel dieser Arbeit gewidmet. Im Wesentlichen kommt Tillich – was ich im Verlauf der Arbeit zu zeigen möchte – immer wieder auf die dort entwickelten, grundlegenden Ansätze, etwa was die Ausfüh21 Friedrich Wilhelm Graf, Art.: Wie man das Chaos bändigt. Die Peitsche und der religiöse Sozialismus des Paul Tillich, Rezension zu: Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Paul Tillich. Leben, Werk, Wirkung, in: Süddeutsche Zeitung, 27.12.2007, S. 16.

Einleitung

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rungen zum ‚Leben‘ in der Systematischen Theologie (im Folgenden ST) betreffen – zumindest im Hinblick auf den dort implizit mitgeführten wissenschaftstheoretischen Standpunkt – zurück. Zwar kommt es im Einzelfall immer wieder zu minimalen Verschiebungen, die zum Teil dem veränderten systematischen Aufbau, zum Teil dem differenten thematischen Zugriff geschuldet sind. Diese bleiben aber häufig ohne die ursprünglich gemachten Aussagen, auf die sie zurückgehen und zu denen sie in der Differenz formuliert sind, unverständlich. Ähnliches gilt auch für Goldsteins Hauptwerke ‚Der Aufbau des Organismus‘ von 1934 und die Veröffentlichung seiner im Winter 1938/39 in Harvard gehaltenen William James Lec22 tures ‚Human Nature in the Light of Psychopathology‘ : beide sind mit 1934 und 1940 eher früh erschienen und sind, obwohl das eine auf der Flucht aus Deutschland zunächst in Holland, das andere nach mehreren Jahren im Exil in den USA entstanden ist, als späte Früchte der Arbeiten im klinischen und akademischen Bereich in Deutschland zu verstehen, deren Veröffentlichung durch Flucht und Emigration um einige Jahre verzögert wurde. Goldstein äußert sich in beiden Werken ausführlich zu seinen philosophischen und methodischen Voraussetzungen, er bettet seine experimentellen Ansätze in einen weiteren Horizont ein, der in den zahlreichen kürzeren Aufsätzen der späteren Zeit häufig nicht so eindeutig zum Tragen kommt. Für die Perspektive Tillichs auf Goldstein sind – neben einigen kleineren Aufsätzen – vor allem diese beiden Werke von besonderer Relevanz, so dass ich der Überzeugung bin, mich für die epistemologischen Grundlagen mit guten Gründen auf dieses frühe Stadium beschränken zu können. Um dem wissenschaftstheoretischen Konzept auf die Spur zu kommen, das sich sowohl in Tillichs Religionsbegriff sowie seinem Verstehen der Theologie als einer Wissenschaft, die sich als solche mit ihren fachspezifischen Eigenarten im Kontext der sie umgebenden anderen Wissenschaften zu rechtfertigen und zu bewähren hat, niederschlägt, werde ich diesen Gedanken anhand des SdW im ersten Kapitel herauszuarbeiten suchen. Von daher interessiert nicht so sehr das Ordnungsproblem der Wissenschaften, das für viele Schriften dieser Gattung entscheidend ist. Vielmehr baut die Darstellung auf der Unterscheidung zweier Ebenen des Systems auf: zum einen muss zunächst auf den Gedanken des Wissens und die von Tillich so benannten Elemente des Wissens – Denken, Sein und Geist – eingegangen werden, von denen aus die Einheit des Systems begründet wird. Darüber werde ich es unternehmen, erste Anhaltspunkte für die wissenschaftstheoretische Position Tillichs zu extrahieren und versuchen, diese innerhalb der zeitgenössischen Diskussion zu verorten. Zum anderen ist davon die zweite Ebene, die ich als die Ebene der Differenz bezeichnen möchte, zu unterscheiden. Dabei ist im besonderen Maße darauf einzugehen, wie das Ideal von Wissenschaftlichkeit, wie es in den Naturwissenschaften der Zeit wirksam war, in modifizierter Form Aus22 Vgl. Kurt Goldstein, Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrung am kranken Menschen, Den Haag 1934; Ders., Human Nature in the Light of Psychopathology, Cambridge 1940.

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Einleitung

wirkungen auf Konzeption und Ansprüche von Philosophie, Theologie aber auch der Psychologie hatte und vor allem über Rezeption und Ausarbeitung des Neukantianismus Eingang in die Diskussion gefunden hat. Das zweite Kapitel ist der Einführung Kurt Goldsteins als eines bedeutenden Gesprächspartners Tillichs gewidmet. Dieser Abschnitt setzt mit Überlegungen zur geistesgeschichtlichen Einordnung Goldsteins und der Darstellung seines Lebensweges ein, der an mehr als den bisher genannten Punkten – Davos, Frankfurt sowie dem Exil in Amerika – Parallelen und Berührungspunkte zur Entwicklung Tillichs aufweist. Den größten Umfang dieses Kapitels nimmt sodann die Klärung der philosophischen Hintergründe der Organismustheorie Goldsteins ein, um diese dann in ihrer Ausprägung und Struktur im Dialog mit Tillich weiterzuverfolgen. Als philosophische Hintergründe sind für Goldstein vor allem die erkenntnistheoretischen und naturphilosophischen Ansätze Immanuel Kants, sowie die naturwissenschaftliche Methodenlehre Johann Wolfgang von Goethes und Ernst Cassirers zu nennen. Ihre Darstellung mündet in die ausführliche Vorstellung der naturwissenschaftlichen Methode Goldsteins, die – wie dann darzulegen ist – an den entscheidenden Punkten nicht ohne ontologische Bestimmungen auskommt, so dass die Überführung der Methode in eine naturwissenschaftlich fundierte, philosophisch keinesfalls indifferente Anthropologie nahe liegt. In diesem Zusammenhang wird dann auch eingehend die Frage nach der Verortung des Theoriegebäudes Goldsteins im Kontext der Neuropsychologie seiner Zeit behandeln, auf die bereits im ersten Kapitel im Zusammenhang mit Tillichs Einordnung von Biologie und Neurologie ins System der Wissenschaften eingegangen wurde. Über dieses Vorgehen ist dann der Weg geebnet, um die Frage nach den Voraussetzungen, mit denen Goldstein in den wissenschaftlichen Austausch getreten ist, zu beantworten. Dieser Frage ist dann im III. Kapitel anhand der Themen Angst und Freiheit, die bei beiden Autoren zentrale Aspekte ihrer jeweiligen Anthropologie ausmachen, nachzugehen. Dabei ist auf die differenten Beschreibungsebenen und Möglichkeiten von Integration und Austausch beider wissenschaftlicher Beschreibungssprachen einzugehen. Mit großem Interesse wird hier die Frage verfolgt, wie beide Autoren Verbindungs- und Vermittlungsebenen zwischen Natur und Geist in ihre Konzeptionen einziehen: das geschieht etwa in den unterschiedlichen Überlegungen zum Wesen und Bedeutung der Sprache für die Anthropologie, der angemessenen Interpretation von Krankheit und Gesundheit auf der Basis der tragenden Konzepte, die sich bei Tillich in seinem Lebensbegriff, bei Goldstein in seinen Ausführungen zum Wesen des Organismus finden. Für Tillich ist es dafür nötig und möglich bis in sein Spätwerk hinein die Spuren seines intellektuellen Austausches mit Goldstein als Referenzrahmen für die Entwicklung seiner Anthropologie zu verfolgen. Die Arbeit schließt mit dem Versuch, aus dem Dialog zwischen Tillich und Goldstein einige allgemeine, bleibende Kriterien für den Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften zu extrahieren.

I. Die Einheit der Wissenschaften – Paul Tillichs Wissenschaftskonzept 1.

Einführung

Soll das Verhältnis, das Tillich in seinem Werk zwischen Naturwissenschaften und Theologie entwirft und davon ausgehend die Gestaltung des Modus der Zusammenarbeit mit Vertretern dieser Fächergruppe untersucht werden, kann sich die Darstellung dazu sowohl aus historischen als auch aus systematischen Gründen vor allem an seiner ersten großen Veröffentlichung nach dem ersten Weltkrieg orientieren, dem ‚System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden‘ 1 von 1923. Dieses Buch ist zunächst von großem werkgeschichtlichen Interesse, da es bereits zu Beginn des eigenständigen Arbeitens Tillichs den für seine weitere Entwicklung so charakteristischen Ansatz seines Denkens, sich nicht auf die theologische Binnenperspektive zurückzuziehen, sondern sich für eine Vielzahl wissenschaftlicher Themen und Probleme zu interessieren und diese auf ihre theologischphilosophische Anschlussfähigkeit hin in den Blick zu nehmen, entwickelt. Mit dem SdW liegt eine frühe Arbeit Tillichs vor, die sowohl in großem Umfang als auch systematischer Geschlossenheit über seine Arbeitsweise und den Ausgangspunkt seines Denkens Aufschluss geben kann. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist Tillichs Bemühungen somit in zweifacher Hinsicht nachzugehen: zum einen ist die geistesgeschichtliche Verortung Tillichs über die häufig nicht offen liegende, 2 umfangreiche Verarbeitung der Literaturstudien der frühen Jahre genauer in den Blick zu nehmen und zum anderen ist zu verfolgen, wie der in der steten Ausei1

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Das Werk ist sowohl in den Gesammelten Werken (Band I, S. 109–293), auf die ich mich in dieser Arbeit beziehen werde, als auch in den Hauptwerken/Main Works (Band I, S. 113–263) herausgegeben worden. Ein Blick in die Erstausgabe lohnt sich aber trotzdem, denn sie enthält ein Inhaltsverzeichnis, welches in die beiden neuen Ausgaben nicht übernommen worden ist, was die erste Orientierung in diesem recht kompliziert strukturierten gedanklichen Gebäude dieses Buches, erheblich erleichtert. Vgl. Paul Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden. Ein Entwurf, Göttingen 1923. Auf die Zufügung eines Literaturverzeichnisses wurde bei der Herausgabe der Erstausgabe verzichtet, es sei „unmöglich“ gewesen, „weil es unbegrenzte Ausmaße angenommen hätte.” Paul Tillich, SdW in: GW I, S. 112. Zu den geistesgeschichtlichen Hintergründen von Tillichs frühen Arbeiten, die über seine Beschäftigung mit Schelling und Schleiermacher hinausgehen, ist in letzter Zeit vermehrt gearbeitet worden. Vgl. u.a. etwa Ulrich Barth, Die sinntheoretische Grundlage des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, S. 89–123; Kurztitel: U. Barth, Sinntheorie; Tom Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth, Tübingen 2003; Kurztitel: T. Kleffmann, Lebensbegriff; Christian Danz (Hg.) Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004; Kurztitel: C. Danz, Theologie als Religionsphilosophie; Gunther Wenz, Tillich im Kontext. Theologiegeschichtliche Perspektiven, Münster 2000.

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Die Einheit der Wissenschaften – Paul Tillichs Wissenschaftskonzept

nandersetzung mit den zeitgenössischen Diskussionen gewonnene Standpunkt in eine Reihe von systematischen Grundentscheidungen überführt und integriert wird, die für Tillichs Denken von bleibender Bedeutung sind und sich im Rahmen 3 seiner Arbeit spezifisch entwickeln. Damit geht es der vorliegenden Studie primär um einen Blick in die ‚Werkstatt‘ des systematischen Denkens Tillichs, wobei der Schwerpunkt der Interpretation nicht so sehr auf den religionsphilosophischen bzw. theologischen Stellungnahmen des SdW selbst liegt, sondern auf deren Kontextualisierung zu den sie umgebenden Disziplinen. Tillichs Theologie wird so von vorn herein als ein – sich in Austausch und Dialog mit dem sie umgebenden wissenschaftlichen Feld – vollziehender Entwicklungsprozess verstanden, der – diese These gilt es im Verlauf dieser Arbeit zu begründen – weit jenseits der binnentheologischen Fragestellung ‚Natürliche Theologie bei Tillich – ja oder nein?‘ verläuft. Erst von diesen Überlegungen scheint es mir sinnvoll, überhaupt der Frage nach Möglichkeit und Gestaltung des interdisziplinären Austausches zwischen Naturwissenschaftlern bzw. Medizinern und Tillich sowohl auf materialer als auch methodischer Ebene stellen und beantworten zu können. Zur Verfolgung dieses Interesses ist die im SdW vorgenommene ‚Kartierung‘ der Wissenschaftssystematik von grundlegender Bedeutung, denn die Art, wie Tillich hier seine Idee von Wissen, seine metalogische Methode, sein Verständnis von Theologie und Religionsphilosophie, sowie die Beziehungen der unterschiedlichen Wissenschaftsgruppen zueinander entwirft, geben die wesentlichen Koordinaten an, die sein Denken im Fortgang des Buches leiten. Wie sich diese früh formulierten Ansätze weiter entwickeln, wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit zu klären sein. Zudem legt Tillich im SdW eine Metatheorie seines Denkens vor, die sich in vielen Schriften dieser Zeit wiederfinden lässt, dort aber nicht immer dezidiert und mit derselben Hingabe an das Detail entfaltet wird, wie das im SdW der 4 Fall ist. Der Ansatz des SdW ist diesbezüglich wesentlich grundsätzlicher und ist deshalb sowohl den genannten Schriften als auch der zweiten wichtigen Schrift 5 aus dieser Zeit, der ‚Religionsphilosophie‘ , vorzuziehen. Neben den bisher genannten Aspekte nimmt das SdW auch deshalb eine besondere Stellung unter den Frühwerken Tillichs ein, da es – neben der Offenlegung der Axiome des religionsphilosophischen Denkens Tillichs und seiner notwendigen Verknüpfung mit anderen Forschungsfeldern – beredete Auskunft über die Wissenschaftskultur gibt, in der es entstanden ist, von der es nicht zu trennen und ohne die es nicht zu verstehen ist. Die Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Wissenschaften, die als Hintergrund für das SdW noch genauer in Augenschein genommen werden wird 3

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So hat etwa Robert P. Scharlemann auf die Bezüge des Systemgedankens zwischen dem SdW und der Systematischen Theologie hingewiesen. Vgl. Robert P. Scharlemann, Der Begriff der Systematik bei Paul Tillich, in: NZSTh 8 (1966) Berlin, S. 242–254. Zu denken ist in diesem Zusammenhang besonders an ‚Über die Idee einer Theologie der Kultur‘ von 1919 in: Paul Tillich, ITK, in: GW IX, S. 13–31 und ‚Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie‘ von 1922 in: Paul Tillich, ÜRR, in: GW I, S. 365–388. Vgl. Paul Tillich, RP, in: GW I, S. 295–364.

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– hatte zu einem erheblichen Bedeutungsverlust der Philosophie – verglichen mit deren Stellung bis Mitte des 19. Jh. – geführt. Tillichs SdW lässt sich gut im Rahmen der darauf reagierenden Kompensationsversuche verstehen. Indem er es unternimmt, den Einzelwissenschaften ihren Raum lassend, diese aber aufgrund ihrer, durch das philosophisch begründete System offenkundig werdenden, impliziten Vorannahmen zurück unter die Deutungshoheit der Geisteswissenschaften, im Besonderen der Philosophie, zu holen, verfolgt er eine Strategie, die sich vor dem Hintergrund der Diskussion um Bedeutung und Aufgabe von Philosophie und Theologie in einer sich rasant verändernden, wissenschaftlichen Landschaft verstehen und einordnen lässt. Zudem ist die werkgeschichtliche Komponente von erheblicher Bedeutung: Nennenswerte Kontakte Tillichs zu Naturwissenschaftlern, die sich wesentlich auf seine Konzeption ausgewirkt haben, hat es bis Mitte der 6 20iger eigentlich nicht gegeben , was sich bekanntermaßen im Laufe der Zeit geändert hat. Wir haben es in diesem Buch somit mit dem Ausgangspunkt zu tun, dessen Veränderungen und Konstanzen zu verfolgen die wesentliche Aufgabe dieser Untersuchung ist.

2.

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Wie oben bereits erwähnt, gingen dem SdW lange und umfangreiche Vorarbeiten voraus. Tillich knüpfte große Erwartungen an dieses Buch: es sollte sein „großer 7 Wurf“ werden, der ihn „berufungsreif“ machen würde. Dass es Tillich neben den inhaltlichen Fragen auch um eine optimale Positionierung auf dem akademischen Markt ging, schmälert den Wert des Buches nicht wesentlich, sollte aber bei der Interpretation gelegentlich Berücksichtigung finden, denn der offensichtliche Profilierungswunsch schiebt sich hier und da vor das Bemühen um eine verständliche Darlegung komplizierter Sachverhalte. Als das Buch dann erschienen war, erfüllten sich diese in es gesetzten Hoffnungen zunächst nicht, denn das Echo fiel eher ambivalent bis verhalten aus. Später verhinderte es fast Tillichs Berufung auf den Lehrstuhl in Frankfurt am Main – wie bei Paul Kluke nachzulesen ist, der den 8 Frankfurter Philosophieprofessor Hans Cornelius , um dessen Nachfolge es in

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So ist es beispielsweise bezeichnend, dass Tillich sich für die Anregung zum Gestaltbegriff, den er zur zentralen Kategorie seiner Seins- und Realwissenschaften macht, bei Alexander Rüstow bedankt, der als Nationalökonom dem Kairos-Kreis in Berlin angehörte (Vgl. dazu P. Tillich, SdW in: GW I, S. 160 und den Text Paul Tillich‚ Die Umstellung der Debatte, in: E X, S. 328–334). Ausdrückliche Hinweise auf die Verwendung des Gestaltbegriffes, wie er etwa bei Max Wertheimer entwickelt worden ist, sind im Text nur sehr oberflächlich behandelt und auch an Stellen, an denen sich Verweise angeboten hätten, nicht nachzuweisen. Zitiert nach Renate Albrecht/Werner Schüßler (Hg.), Paul Tillich. Sein Werk, Düsseldorf 1986, S. 45; Kurztitel: R. Albrecht/W. Schüßler, Sein Werk. Cornelius hatte sich selbst an der Diskussion zum Thema der Wissenschaftssystematik beteiligt: Vgl. Hans Cornelius, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Leipzig 1897. Von daher kann sei-

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diesem Zusammenhang auch ging, und der sich stark darum bemühte, einen Nachfolger nach seinem Geschmack zu installieren, mit dessen Ansicht über Tillichs Buch zitiert: „Sein Hauptwerk über die Systematik der Wissenschaft zeigt von der Wissenschaft, deren System er geben wolle, sehr unzureichende Kenntnisse, das Buch stehe wissenschaftlich auf sehr niedrigem Niveau, enthalte Banalitäten 9 aller Art und kaum einen Satz, der nicht mit unklaren Begriffen arbeite.“ Neben dieser vernichtenden Kritik fanden sich aber auch Stimmen, deren Stellungnahmen wesentlich ausführlicher und teilweise auch wohlwollender ausgefallen sind. Drei von ihnen sollen zunächst kurz zu Wort kommen, um die Ausführungen Tillichs, welche die ‚wunden Punkte‘ der Diskussion, in die Tillich mit seinem Werk einzugreifen sucht, besser in den Blick zu bekommen. Zudem lassen sich über diese drei unterschiedlichen Zugänge zum SdW erste systematische Interpretationskategorien gewinnen, denn – wie wir sehen werden – lassen sich an Hand dieser ersten Reaktionen einige Grundlinien der Interpretation des SdW aufzeigen, die sich auch auf die gegenwärtige Diskussion um das Buch auswirken. Die erste Rezension stammt von August Dell, der, nachdem er 1914 mit einer 10 11 neutestamentlichen Arbeit promoviert wurde , 1923 Privatdozent in Gießen war. Dell fokussiert sich in seinem Text vor allem auf die Würdigung der mit dem Thema der Wissenschaftssystematik gegebenen Erschließung eines für die Theologie neuen Themenfeldes, das er in Tillichs Fassung der Theologie als einer theonomen Geisteswissenschaft begründet sieht und dessen Ausprägungen und prägnanten Veränderungen er in der Anordnung der Einzelwissenschaften zu erfassen sucht. Das Verdienst Tillichs bestehe vor allem darin, das Thema der Wissenschaftssystematik ausgehend von der Theologie lösen zu wollen. Allerdings liest er Tillich nicht so sehr von seinem Systementwurf her, sondern identifiziert als Hauptanliegen den Versuch der „Überwindung des statischen und Erarbeitung eines dynamischen Weltbildes, Streben nach Einigung von Autonomie und Theo12 nomie, Erfassen des dynamischen Wahrheitsgedankens.“ Diese Aufgabe, die er nem Diktum – obwohl es in der überlieferten Form einen eher undifferenzierten Eindruck macht – durchaus Fachkenntnis und nicht Unverständnis in der Sache unterstellt werden. 9 Paul Kluke, Die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main 1914–1932, Frankfurt/Main 1972, S. 539f. Dazu auch Ludwig von Friedeburg, Die Universität Frankfurt am Main – Wirkungsstätte auch für Außenseiter, in: Forschung Frankfurt, Wissenschaftsmagazin der Johann Wolfgang Goethe-Universität, (2000) Frankfurt/Main, S. 64–72. Zum Verlauf des Berufungsverfahren, das bereits 1925 begann, und zunächst mit der Berufung Max Schelers, der aber, noch bevor er die Stelle antreten konnte, im Mai 1928 starb, und dann in einem weiteren Anlauf auf die Berufung Tillichs hinauslief vgl. Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Teil 1, Berlin 2002, S. 243–248; Kurztitel: C. Tilitzki, Universitätsphilosophie I. 10 Der Titel seiner Dissertation lautete: ‚Matthäus 16, 17–19. Die Grundstelle von dem Primat des Petrus‘ und erschien in: Zeitschrift für die neutestamentlichen Wissenschaften, Jg. 15 (1914) Leipzig. 11 Vgl. August Dell, Der Charakter der Theologie in Tillichs System der Wissenschaften, in: Theologische Blätter 2 (1923) Marburg, Sp. 235–245; Kurztitel: A. Dell, Theologie. 12 Ebd., Sp. 243.

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quasi als Motor des gesamten Unternehmens versteht, umschreibt Dell wie folgt: „Dieses Grundproblem ist die Paradoxie des Ineinander und Geschiedenseins von 13 Wahrheit und Irrtum, Zeit und Ewigkeit, Gott und Welt.“ Tillichs Versuch, dieses Problem durch die Synthese der großen philosophischen Hauptrichtungen zu lösen – die in Anlehnung an Tillichs Terminologie als ‚idealistisch-methodisch‘, ‚realistisch-gegenständlich‘ und ‚metaphysisch-lebensphilosophisch‘ bezeichnet werden – befriedigt ihn wenig. Seine Kritik bezieht sich vor allem auf die Unklarheit der Begriffe im Einzelfall, durch die es in der Durchführung des Gesamtsystems zu erheblichen Mängeln käme. Bei Dell führt dieser Befund zur umfassenden Ablehnung des SdW. Er rezensiert Tillichs Arbeit vor allem vor dem philosophischen Hintergrund der Phänomenologie, die auch seine Kritik im Einzelfall bestimmt: Die Einwände beziehen sich vor allem auf Tillichs Konzept der Aktlehre, seine Auffassung von Wirklichkeit und Realität, die Fassung und Funktion des Unbedingten sowie den Symbolbegriff. In dieser Aufzählung ist das Arsenal der systemtragenden geisteswissenschaftlichen Begriffe nahezu vollständig enthalten, so dass Dell nicht nur einzelne Teile des Systems, sondern den Kern des Systems 14 selbst, auf dem die Konzeption des Ganzen ruht, ablehnt. Mag man auch die radikale Ablehnung Dells nicht teilen, so kommt man nicht darum herum festzustellen, dass Dell mit der Art des Einwandes einen Vorwurf erhoben hat, der in dieser Form ‚stilbildend‘ für die ihm nachfolgende TillichInterpretation und -kritik war: Immer wieder ist und wird noch immer auf die immensen Fähigkeiten Tillichs hingewiesen, die Theologie mit neuen Fragestellungen und innovativen Lösungsvorschlägen zu bereichern. Damit einhergehend wird – häufig im selben Atemzug – darauf hingewiesen, dass sich schnell eine Fülle an Problemen einstellt, die sich aus unklarer Begrifflichkeit und anderen inhaltlichen Schwierigkeiten ergeben. Dieses Problem ist uns bis heute erhalten geblieben, denn auch die historische Distanz und ein dreiviertel Jahrhundert Tillich-Interpretation haben nicht dazu geführt, dass sich das Werk Tillichs – und das SdW im Besonderen – leicht erschließen würde. Doch bleibt die Frage des Umgangs mit diesem Problem, denn Tillichs Position aufgrund der ihr inhärenten Schwierigkeiten generell abzutun, geht vollständig an der historischen Entwicklung und Wirkung seines Denkens vorbei und ignoriert das innovative Problemlö15 sungspotenzial, das Tillichs Denken sehr häufig eigen ist. Um bis auf diese Ebene vorzudringen, werde ich zu zeigen versuchen, dass – gegen Dell – nicht bei der Würdigung der Problemstellung durch Tillich stehen geblieben werden kann. Vielmehr scheint es mir notwendig, die Problemkonstellationen, die Tillich im 13 Ebd. 14 Ebd., Sp. 244f. 15 Dirk-Martin Grube hat von den begrifflichen Unklarheiten bei Tillich als von der „Kehrseite seiner Problemlösungskreativität“ gesprochen, die – interpretiert man sie so – den „Weg zu deren kritischer Rekonstruktion“ ermögliche. Vgl. Dirk-Martin Grube, Unbegründbarkeit Gottes? Tillichs und Barths Erkenntnistheorien im Horizont der gegenwärtigen Philosophie, Marburg 1998, S. 17; Kurztitel: D.-M. Grube, Unbegründbarkeit Gottes?

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SdW aufmacht, zunächst einmal auf ihre wesentlichen Züge zu reduzieren, um die Fokussierung auf die Unstimmigkeit einzelner Begriff zu vermeiden und die Frage und die möglichen Antworten, die Tillich in seinem System zu geben versucht, zunächst einmal zu eruieren. Ein weiterer Vorwurf, der bereits von Dell erhoben wurde und weiterhin in der Diskussion auftaucht, ist die Feststellung der Aufspaltung der Wissensgebiete: „So wirken sich bei der Scheidung der Theologie als theonomer Geisteswissenschaft von den Seinswissenschaften auch gegenüber ihren herkömmlichen Hilfswissenschaften Psychologie, Philologie und Historie alle die Schwierigkeiten aus, die sich dem Aufbau und der Gliederung der Seinswissenschaften in Gesetzes-, Gestalt- und Folgewissenschaften und der Abgrenzung und Beziehung zwischen Gestalt- und Folgewissenschaften einerseits und den Geisteswissenschaften andererseits entgegenstellen.“16

Dass Tillich die von ihm eigentlich intendierte Überwindung der Spaltung der Wissenschaftsbereiche nicht leiste, sondern letztlich nur „perpetuiert“, ist auch die These, die von Gunther Wenz vertreten wird, wenn er schreibt, „dass die intendierte Dialektik [von Denken und Sein; K.B.] letztlich doch einem aufteilenden 17 Auseinanderdividieren weicht.“ Zu untersuchen, inwieweit diese Analyse zutrifft, wird Aufgabe dieses Kapitels sein. 18 19 Im April 1926 äußerte sich Kurt Leese in der ‚Christlichen Welt‘ zum SdW wohlwollend, indem er den positiv-schöpferischen Charakter des Werkes hervorhob: „Es ist eine ungewollte, ganz objektiv sich vollziehende Wirkung, die das Tillich’sche Buch im Leser auslöst, da es nicht im Negativen der Kritik stecken 20 bleibt, sondern eine neue, schöpferische Setzung enthält.“ Von besonderem Interesse ist für ihn Tillichs Ausgangspunkt der Einheit von metaphysischen – repräsentiert in der Konzeption des Prinzips des Wissens als einer letzten Wirklichkeitsschau – und erkenntnistheoretischen – in der Konstitution des Prinzips des Wissens als Form der Selbstbesinnung – Elementen, deren Integration über Til21 lichs Explikation der systemtragenden Komponente der Metalogik läuft. Beson16 A. Dell, Theologie, Sp. 236. 17 Gunter Wenz, Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München 1979, S. 144; Kurztitel: G. Wenz, Subjekt. Bei seiner Einschätzung von Tillichs Ansatz bezieht er sich ausdrücklich auf den Text von Dell: Vgl. Ebd., S. 142. 18 Vgl. Paul Tillich, Lebenslauf von Kurt Leese (1887–1965), in: E VI, S. 299–302. 19 Kurt Leese (Rez.), Paul Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden. Göttingen 1923, in: Die Christliche Welt 40 (1926) Tübingen, Sp. 317–325, 371–375. Kurztitel: K. Leese, Rezension. Leese und Tillich kannten sich bereits aus Tillichs Zeit als Pfarrverweser in Lichtenrade 1909 und blieben einander in herzlicher Freundschaft bis zu Leeses Tod 1965 verbunden, obwohl sie sich in ihren politischen Ansichten im Laufe der Zeit stark auseinander entwickelten. Vgl. dazu R. Albrecht/W. Schüßler, Sein Leben, S. 30, 135. 20 K. Leese, Rezension, Sp. 318. 21 Vgl. Ebd., Sp. 321f. Dieses Motiv des Übergangs von transzendenten in metaphysische Elementen in der Erkenntnistheorie Tillichs ist zuletzt eindrücklich von D.-M. Grube, Unbegründbarkeit Gottes, S. 16–55 entfaltet worden.

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ders hebt er den Zusammenhang zwischen Tillichs Neukonzeption von Theologie und Kultur und seiner Wissenschaftssystematik hervor, die er als die Fortführung der ersten sieht: Wenn Religion nicht als eine Sinnsphäre neben anderen verstanden werden kann, sondern als Richtung auf das Unbedingte, das in jeder Sphäre der Wirklichkeit enthalten ist, dann wirkt sich das auch auf die die Wissenschaften tragende Erkenntnistheorie aus, so dass die Erkenntnis der Wahrheit ausschließlich über die „vollkommene Einheit von Theonomie und Autonomie“ als möglich 22 gedacht werden kann. Auch Leese beschreibt den synthetischen Ansatz des Buches, der „die kritisch-rationale-transzendentale Linie von Kant bis Hegel, und die seinshaftirrationale-schöpferische, als deren Repräsentanten Jakob Böhme, Schelling und auch Nietzsche, die Philosophen des ‚Abgrunds‘, am ehesten genannt werden dürfen“ 23

zusammenführe. Besonders interessant an Leeses Text ist seine Hervorhebung der Fassung von Tillichs Gestaltbegriff, dem er eine Brückenfunktion zwischen Seinsund Geisteswissenschaften zugesteht, die er im Konzept des Symbols vermittelt sieht: Indem die Theologie als Geisteswissenschaft versucht, das Unbedingte zur Sprache zu bringen, bedient sie sich „der Begriffssprache der Einzelwissenschaften“, da das Unbedingte nur mittelbar ausgedrückt werden kann, so dass die Möglichkeiten einer konstruktiven Bezugnahme zwischen Geistes- und Seinswissen24 schaften auf dieser Ebene stark hervorgehoben werden. Leese weist an dieser Stelle aber auch auf eine Schwierigkeit hin, die auch die vorliegende Arbeit im Folgenden beschäftigen wird: er deutet die Unklarheit an, die in Tillichs Fassung des Seinsbegriffes liegt, der einmal als systemtragender Gedanke als Element des Wissens eingeführt wird und den Rang einer metaphysisch gefassten Letztwirklichkeit einnimmt. Andererseits begegnet er als Grundbegriff der Seinswissenschaften wieder, der die Gegenständlichkeit der zu behandelnden Materie dieser Wissenschaftsgruppe beschreibe, ohne – so Leeses Vorwurf – dass diese beiden Ebenen des Begriffs in ihrem Verhältnis zueinander hinreichend bestimmt worden 25 wären. Diesem Einwand nachzugehen, wird Aufgabe dieser Arbeit sein. Die dritte zeitgenössische Rezension setzt einen vollkommen anderen Schwer26 punkt als die anderen beiden. Er stammt von Emmanuel Hirsch und ist 1926 in 22 K. Leese, Ebd., Sp. 371f. Der Zusammenhang zwischen den ersten Entwürfen Tillichs zum Verhältnis von Religion und Kultur und zum Religionsbegriff und deren grundlegender Bedeutung für die Ausarbeitung des SdW betont auch James Luther Adams, Paul Tillich’s Philosophy of Culture, Science and Religion, New York, 1970, S.121f; Kurztitel: J. L. Adams, Philosophy. 23 K. Leese, Rezension, Sp. 374. 24 Ebd., Sp. 324. 25 Vgl. Ebd., Sp. 322. 26 Hinzuweisen ist noch auf die kurze Rezension durch Friedrich Büchsel, Die Stellung der Theologie im System der Wissenschaften. Eine Auseinandersetzung mit P. Tillichs System der Wissenschaften, in: Zeitschrift für Systematische Theologie 3 (1923) Göttingen, S. 399–411, die aber ge-

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der Theologischen Literaturzeitung erschienen. Wie bereits die Bezeichnung 28 dieser Besprechung als ‚Religionsphilosophie‘ andeutet, interessiert sich Hirsch vor allem für den dritten Teil der Geistes- und Normwissenschaften und lässt den wissenschaftssystematischen Ansatz Tillichs weitestgehend außer Acht. Als tragendes Element und Ansatzpunkt seiner Kritik nennt er Tillichs Sinnphilosophie, die er als Versuch der Auflösung des Wahrheitsbegriffs versteht. Denn dadurch, dass Tillich das „Sinnwidrige, das Zerstörende als eine die Synthesis verneinende 29 Macht in sein Denken aufzunehmen“ versuche, gehe ihm die Möglichkeit verloren, die Antithese als einen Teil des ‚Begriffes‘, wie sie von Hegel im Rahmen seines, als sich selbst erzeugenden Systems gefasst wurde, zu verstehen. Die Synthese wird nun „als das Sinnhafte“ konzipiert, „das nur über den Sinnabgrunde schwebend sich vollzieht und von ihm wieder verschlungen wird, um sich in neuer 30 Gestalt aus ihm zu erheben.“ Der Sinn entspringt damit nicht dem selbsttätigen Streben des Systems in Richtung auf das Absolute, sondern „enthält ein nicht kontrollierbares Moment individueller Selbstherrlichkeit des Denkers“, das Hirsch im ‚Meta‘ der metalogischen Methode angesiedelt sieht, „um die Wahrheit unter 31 den Sinn herabzusetzen.“ Mit diesem grundlegenden Einwand verortet er Tillichs Arbeit ausschließlich im Rahmen der binnentheologischen Diskussion – zum einen sieht er sie im Kontext der entstehenden Dialektischen Theologie. Durch den im SdW entfalteten Ansatz sei „die Theologie K. Barths[…] als eine in sich 32 ungeklärte Halbheit herausgestellt“ , denn Tillich führe den Grundsatz des finitum non capax infiniti bis zu seiner letzten Konsequenz – dem Symbolbegriff als dem letzten Ausdruck der Theologie des Paradox – durch. Damit – so Hirsch – entstehe für die Dialektische Theologie eine Entscheidungssituation, denn entweder fasse sie ihren Offenbarungsbegriff nun – in der Opposition zu Tillichs Entwurf – in seiner Zugewandtheit zur Welt so weit, dass auf die Notwendigkeit, von

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genüber den drei vorgestellten Texten keinen wesentlich neuen Aspekte bringt und von daher hier unberücksichtigt bleiben kann. Vgl. Emanuel Hirsch, Tillichs Religionsphilosophie, in: Theologische Literaturzeitung 51 (1926) Leipzig, S. 97–103; Kurztitel: E. Hirsch, Religionsphilosophie. Hirsch weist darauf hin, dass eine Rezension von Tillichs Buch eigentlich schon viel früher hätte erscheinen sollen, doch seien ihm „zwei von mir nach einander betraute Rezensenten an der Schwierigkeit der Aufgabe zuschanden geworden“ (Sp. 97), so dass er sich der Aufgabe schließlich selbst – trotz der Bedenken, die er aufgrund seiner Freundschaft zu Tillich hegte – annehmen musste. Der Text ist in der Theologischen Literaturzeitung fälschlicherweise unter der Anzeige von Tillichs Religionsphilosophie, die 1925 als Resultat seiner Vorlesungstätigkeit in Berlin erschien und in unmittelbarer Nähe zum SdW gesehen wurde, angezeigt. Aus dem Text selbst geht aber – trotz der Fokussierung auf die religionsphilosophischen Elemente – eindeutig hervor, dass Hirsch sich auf das SdW bezieht. Dahingegen sind auch gelegentliche Fehler in der Sekundärliteratur sowie in der Quellenausgabe zu korrigieren: Etwa Paul Tillich, IV, 6 Brief Emanuel Hirsch an Paul Tillich, Anmerkung 3, in: E VI, S. 136 oder zuletzt bei U. Barth, Sinntheorie, S. 93. E. Hirsch, Religionsphilosophie, Sp. 98. Ebd. Ebd., Sp. 99. Ebd., Sp. 101.

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Paradoxie und Dialektik zu sprechen, verzichtet werden kann. Oder sie mache mit eben diesen Begriffen – im Tillich’schen Sinne – radikal ernst und gestehe ein, dass alles theologische und religiöse Reden letztlich nur Reden in den engen Grenzen des Symbolischen sei – unter ausdrücklichem Verzicht auf Wahrheitsan33 sprüche. Der zweite grundlegende Einwand, den Hirsch formuliert, hängt damit unmittelbar zusammen und setzt an der, seiner Meinung nach bei Tillich nicht existierenden Differenz der Begründungszusammenhänge von Religionsphilosophie und einer als christlich bestimmten Theologie ein. Denn, „wem der lebendige Gott kein Symbol ist, sondern der Urgrund alles Lebens selbst, – der wird T.s Religionsphilosophie als zentralen wissenschaftlichen Angriff auf den christlichen Glauben empfinden müssen.“34

Die Kritik müsse von daher an Tillichs Begriff des Unbedingten ansetzen, an dem sich der Übergang von Religionsphilosophie im Allgemeinen zu seiner Konzeption christlicher Theologie im Besonderen vollziehe. Denn insofern das Unbedingte keine Unterschiede mache zwischen dem Guten und dem Bösen, das als Abgrund in ihm enthalten ist, sei es doch besser – so der polemische Vorschlag Hirschs – 35 „für das Unbedingte den Beinamen des Bodenlosen“ einzuführen. Diese Schwierigkeiten sieht Hirsch allein durch das Festhalten am Wahrheitsgedanken vermeidbar, was er im Rahmen seiner Rezension aber nur sehr kurz andeutet und für unseren Zusammenhang zunächst außer Acht gelassen werden kann. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in diesen drei Stellungnahmen schon wesentliche Züge der Debatte um die Einordnung von Tillichs Wissenschaftstheorie vorliegen. Die wichtigsten Punkte seien hier noch einmal kurz gebündelt: Besondere Beachtung bei allen drei genannten Rezensenten verdient Tillichs Ansatz, von seiner Analyse des Begriffs des Wissens ausgehend, Wissenschaftssystematik als dezidiert theologisches Thema zu verstehen. Von allen wird dagegen in unterschiedlicher Form und Ausprägung die Durchführung wegen ihrer großen Unstimmigkeiten im Einzelnen kritisiert – der ‚Prototyp‘ dieser Form der Kritik liegt mit dem Text von August Dell vor, der Tillichs Arbeit aus phänomenologischer 36 Sicht zu kritisieren unternimmt. An Kurt Leeses Text wird dagegen deutlich, dass er Tillichs Buch als den Versuch einer Verhältnisbestimmung der verschiedenen Wissenschaftsgruppen zueinander – von einer besonderen theologischen Prämisse aus – liest. Damit verortet er den Text nicht so sehr im Kontext der innertheologischen bzw. -philosophischen Debatten, sondern vielmehr vor dem Hintergrund der sich zum Ende des 19. Jh. massiv ausdifferenzierenden Wissen33 34 35 36

Vgl. Ebd. Ebd., 102. Ebd. Zu dieser Gruppe gehören etwa Werner Schüßler, Die Berliner Jahre (1919–1924), in: W. Schüßler/R. Albrecht, Sein Werk, S.45–50; G. Wenz, Subjekt, S. 142–161, zur Kritik und generellen Einschätzung besonders 149f. wo es heißt: „Tillichs Anliegen bleibt ja – trotz der Aporien der Durchführung – höchst bemerkenswert.“

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schaftsdisziplinen und den daraus sowohl für die Philosophie als auch die Theologie entstehenden Probleme. Daneben wirkt die Rezension Hirschs, die wie erwähnt aus unterschiedlichen Gründen erst drei Jahre nach Erscheinen des Buches geschrieben ist, wie zu einem anderen Buch gehörig, denn der Bezugsrahmen ist für Hirsch die Diskussion um die Anfänge der dialektischen Theologie, wobei wissenschaftssystematische Fragen lediglich eine untergeordnete Rolle spielen. Der Symbolbegriff wird als Gegenbegriff zu dem der Wahrheit verstanden, der den Zielpunkt der dialektischen Scheidung von Gott und Welt verkörpert und letztlich das Ende jeglichen in der Struktur der Wirklichkeit verankerten Sprechens von Gott bedeutet. Weiter war zu beobachten, dass die im Rahmen dieser drei Texte benannten Kritikpunkte – man denke an die genannten Positionen von Wenz und Grube – zumindest in Grundlinien die Diskussion, wie sie auch in der Gegenwart in der Tillich-Forschung geführt wird, vorwegnehmen. Doch ist es nicht nur aus historischer, sondern besonders auch aus systematischer Sicht interessant, dass – stellt man die drei Rezensionen so nebeneinander – deutlich wird, dass das SdW seine Leser offenbar in eine gewisse Ratlosigkeit bezüglich der Bestimmung seiner Hauptthese gestürzt hat: jede der drei verortet Tillichs Buch in ganz unterschiedlichen Diskursen und beschreibt Verstehenshorizonte, die nicht allzu viel gemein haben. Dieser Umstand auf die mangelnde Übersicht der Rezensenten zu schieben, ist sicherlich unangemessen, denn einerseits ist das SdW ein extrem vielschichtiges Buch und Leese hat sicherlich Recht, wenn er schreibt, es sei nicht nur „die Abstraktheit, […; K.B.] sondern die in knappen Sätzen zusammengepresste reiche Fülle der fest 37 miteinander in Beziehung stehenden Gedanken“ , welche die Leser zur Auswahl einzelner Aspekte zwinge. Zusätzlich wird – ausgehend von Tillichs systematischem Ansatz – deutlich, dass der Versuch der Integration verschiedenster geistesgeschichtlicher Strömungen ein sehr unterschiedliches Echo hervorgerufen hat und die Auseinandersetzung mit diesem Ansatz auf verschiedenen Ebenen ansetzen konnte und immer noch kann. Um aber nun ein genaueres Bild der komplexen Inhalte, ihrer Verortung und Zusammenhänge zu gewinnen, ist es unumgänglich, den Text selbst einer genaueren Analyse zu unterziehen.

3.

Einheit in der Differenz – die Ebenen des Systems

Wissenschaften sind zugleich „Tatsachen“ und „Schöpfungen“, sie sind sowohl 38 „empirisch“ als auch „normierend.“ Mit diesem ‚sowohl – als auch‘ ist die grundlegende Bestimmung des Wissenschaftsbegriffs Tillichs als eines komplexen Beziehungsgeflechts, dessen Strukturen zu entwirren und darzustellen er in seiner Untersuchung anstrebt, in groben Zügen umrissen. Mit dieser Bestimmung ver37 K. Leese, Rezension, Sp. 318. 38 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 113.

Einheit in der Differenz – die Ebenen des Systems

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sucht Tillich den Brückenschlag zwischen dem Wissenschaftsideal, das bis zur Mitte des 19. Jh. vom Primat der Philosophie bestimmt war, und den modernen Entwicklungen, die sich vor dem Hintergrund des Verlustes der normierenden Kraft der Philosophie zunehmend ausdifferenzierte. Tillich sieht keine Alternative zu dem alten Modell, allerdings hält er grundlegende Umstrukturierungen für nötig, um den Autoritätsverlust der Geisteswissenschaften, im Besonderen den der Philosophie, auszugleichen und ihre normierende Funktion neu zu legitimieren. Es geht ihm in seinem System um eine den modernen Anforderungen angepasste Refundierung des alten Ideals, das von beiden Positionen Modulationen erfordert. Er versucht diese Versöhnung, indem er die moderne Entfaltung der Differenz bei gleichzeitiger Teilhabe an einem grundlegend einenden Element, das zugleich die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt enthält, als fundamental verbunden denkt, denn „erkannt ist, was als notwendiges Glied einem Zusam39 menhang eingeordnet ist.“ Mit dieser Bestimmung verortet sich Tillich in eine Konzeption von Wissenschaft, die sich – von Aristoteles bis Hegel – an den Kriterien von Allgemeinheit, Notwendigkeit und Wahrheit orientiert, und in der dasjenige als erkannt gilt, das durch die Anwendung gültiger Schlussregeln in einen systematischen Urteilszusammenhang durch Bezüge auf Allgemeinbegriffe und 40 oberste Prinzipien eingefügt werden kann. Gleichzeitig grenzt er sich gegen die einschlägigen positivistischen und empiristischen Strömungen seiner Zeit ab, von denen die Notwendigkeit, den Zusammenhang der Wissenschaften darzustellen und Normativität durch die Schaffung eines Systems zu erzeugen, entschieden bestritten wird. Dass dieser Versuch des Erweises der Einheit des Differenten durch Tillich als gelungen angesehen werden kann, ist – wie oben bereits deutlich geworden ist – in der Forschungs- und Rezeptionsgeschichte des öfteren bestritten worden. Trifft dieser Vorwurf zu, so ist das Buch von seinem systematischen Kern her ausgehebelt, denn dann liefe die gesamte Idee des SdW ins Leere. Von daher wird sich die Interpretation von Tillichs Intention diesem Kritikpunkt mit besonderer Sorgfalt widmen müssen. Es sei an dieser Stelle nur schon einmal darauf hingewiesen, dass sich die Kritik, die Spaltung der Wissenschaften werde von Tillich – gegen seine Intention – nicht aufgehoben, sondern nur noch vertieft, vor allem in Arbeiten findet, die sich zumeist ausschließlich Tillichs Fassung der Geisteswissenschaften zuwenden, ohne die Beziehungen sowohl zur systemtragenden Idee des Wissens als auch zu den anderen Wissenschaftsgruppen hinreichend herauszuarbeiten und 41 kritisch zu beleuchten. Es fehlt zudem zumeist eine angemessene Würdigung des Entwurfs Tillichs vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion. 39 Ebd. 40 Vgl. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt/Main 1983, S. 106. Kurztitel: H. Schnädelbach, Philosophie. 41 Zudem bleibt offen, was eigentlich unter der eingeforderten Verhältnisbestimmung zu verstehen sei, denn die Kritik von Tillichs Vorschlag impliziert doch eine gewisse normative Idee, die aller-

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Die Einheit der Wissenschaften – Paul Tillichs Wissenschaftskonzept

Soll im Folgenden die wissenschaftssystematische Grundidee Tillichs vorgestellt und vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion interpretiert werden, so ist diese Grundintention Tillichs innerhalb des Systems auf zwei Ebenen zu thematisieren, die ich als analytisches Instrumentarium an den Text herantragen und voneinander differenzieren möchte: Einmal die Ebene, auf der die Elemente anzusiedeln sind, welche die Einheit der im System verhandelten Wissenschaften verbürgen. M.E. ist hier vor allem an die Idee des Systems selbst und das es tragende Prinzip, sowie an die Elemente, welche die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Wissenschaftsgruppen markieren, zu denken. Auf der zweiten Ebene liegen die Elemente, in denen sich die Differenz – oder mit anderen Worten – die Eigengesetzlichkeit einzelner Wissenschaftsgruppen und Wissenschaften ausdrückt. Der genaueren Analyse dieser beiden Ebenen möchte ich mich nun zuwenden. Dabei wird zudem zu berücksichtigen sein, dass sich im SdW zudem – trotz seines abstrakten Charakters – viel über grundlegende Einschätzungen und Wahrnehmung des Wissenschaftsbetriebs der frühen 20iger Jahre durch Tillich offenbaren. Sein Selbstverständnis als Philosoph bzw. Theologe, der sich im Kontext einer sich verändernden wissenschaftlichen Umwelt bewegen und – in seinen Augen – bewähren muss, kommt darin ebenso zum Tragen wie sein Interesse an anderen Wissensgebieten, das weit über den Tellerrand seiner eigenen Wissenschaft hinausgeht. Tillich ist sich dabei – obwohl offenbar mit einem gesunden Selbstbewusstsein ausgestattet – der zwangsläufigen Begrenzung seines Vorhabens bewusst, legt es aber offensichtlich darauf an, zu Gunsten des systematischen Gedankens so manches Fehlurteil in Spezialfragen in Kauf zu nehmen. 3.1 3.1.1

Die Elemente der Einheit – Denken, Sein und Geist Die Idee des Wissens und der Systemgedanke

Als das erste und wichtigste Element auf der Ebene der die Einheit des Systems schaffenden Elemente steht das ‚Prinzip des Wissens‘ im Zentrum aller Ausführungen. Soll die Idee, ein System aller Wissenschaften zu entwerfen, dem Vorwurf entgehen, es handele sich bei diesem Unternehmen um die Installation eines rein 42 formalen, ordnenden Prinzips und nicht mehr , sondern den Anspruch erheben dings häufig nicht offengelegt wird, so dass die Feststellung, Tillichs Entwurf sei unangemessen, eher im Reich der unbegründeten Behauptungen angesiedelt werden sollte. Stellvertretend ist hier noch einmal auf die Arbeit von G. Wenz, Subjekt, bes. S. 142f. verweisen, die m.E. in anderen Fragen sehr verdienstvoll ist und sich vor allem um einen Gesamtüberblick bemüht. In der Frage der Wissenschaftssystematik urteilt er allerdings vorschnell. 42 Mit dieser Zielformulierung grenzt sich Tillich bewusst gegen die herkömmliche Art der Wissenschaftssystematik ab, die vor allem der Intention folgten, eine umfassende Nebeneinanderordnung aller Wissensgebiete herauszuarbeiten, ohne dabei spezifische Wertungen vorzunehmen. Vgl. Paul Ziche, Orientierungssuche im logischen Raum der Wissenschaften. Paul Tillichs System

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können, „der lebendige und darum jeweils wechselnde Ausdruck des wissenschaft43 lichen Gesamtbewusstseins seiner Zeit“ zu sein, dann ist es auf eine systematische Grundlage angewiesen, die Formen und Gehalte so zusammenbringt, dass sie beides leistet: Einerseits durch alle pragmatischen Gesichtspunkte hindurch die Struktur der Zusammenhänge und Verhältnisses der Fächer zueinander deutlich zu markieren und andererseits Veränderungen und Entwicklungen zuzulassen, abzubilden und – das ist bezeichnend für den Ansatz Tillichs – ggf. auch selbst voranzubringen. Diese Aufgabe kann ein System nur dann erfüllen, wenn sein formaler Ansatz nicht als Selbstzweck gedacht ist, sondern versucht, die Inhalte 44 und Gehalte , in ihrem systematischen Zusammenhang und ihrer Differenz aufzuweisen und diese durch die explizierten Formen hindurch zum Ausdruck zu bringen. Denn solange eine formale Bestimmung der Dimension des Gehalts fremd bleibt, entbehrt sie ihren Charakter als wahre Form, denn allein durch die Einheit von Gehalt und Form wird aus der ‚toten Form‘ durch diese Form hindurch ein ‚lebendiger Ausdruck‘, der die Wirklichkeit mit samt ihrer Tiefendimensionen abzubilden in der Lage ist. In Tillichs Worten: „Die lebendige Kraft eines Systems ist sein Gehalt, sein schöpferischer Standpunkt, seine Ur-Intuition. Jedes System lebt von dem Prinzip, auf das es gegründet und mit dem es erbaut ist. Jedes letzte Prinzip aber ist der Ausdruck einer letzten Wirklichkeitsschau, einer grundlegenden Lebenshaltung. So bricht durch das Formalsystem der Wissenschaften in jedem Augenblick ein Gehalt hindurch, der metaphysisch ist, d.h. der jenseits jeder einzelnen Form und aller Formen liegt und darum nie nach Art einer falschen Metaphysik selbst eine Form neben anderen sein kann. Das Metaphysische ist die lebendige Kraft, der Sinn und das Blut des Systems. In diesem Sinne – aber nur in diesem Sinne – ist das Formalsystem der Wissenschaften 45 metaphysisch.“

Dieses Prinzip, von dem das gesamte System ausgeht und von dem es lebt, findet 46 Tillich „in der Idee des Wissens selbst.“ Diese wird von Tillich im Kontext seiner 47 frühen Phänomenologie-Rezeption entworfen und auf eine einfache Grundbezie-

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der Wissenschaften und die Wissenschaftssystematik um 1900, in: C. Danz, Theologie als Religionsphilosophie, S. 49–68; Kurztitel: P. Ziche, Orientierungssuche. P. Tillich, SdW in: GW I, S. 116. Die Verhältnisbestimmung von Gehalt und Form hatte Tillich schon 1919 zu einem zentralen Aspekt seiner Vermittlungsbemühungen zwischen Unbedingten und Bedingten gemacht. Vgl. Paul Tillich, ITK, in: GW IX, S. 13–31. Dort hatte er mit Inhalt das bloße Sosein einer Sache oder eines Gegenstandes beschrieben, während „der Gehalt […] an einem Inhalt mittels der Form ergriffen und zum Ausdruck gebracht“ wird. Wobei „der Inhalt […] das Zufällige, der Gehalt […] das Wesentliche, die Form das Vermittelnde“ sei. Ebd., S. 20. P. Tillich, SdW in: GW I, S. 116f. Ebd., S. 117. Tillichs Bezüge zur Phänomenologie Edmund Husserls sind zuletzt ausführlich dargestellt worden bei: D.-M. Grube, Unbegründbarkeit Gottes? bes. S. 62–70. Grube betont, dass für Tillichs Phänomenologierezeption besonders die Aspekte der Phase von 1901–1916, in der Husserl in Göttingen lehrte, relevant sind. Er schreibt: „Diese Phase ist gekennzeichnet durch Husserls Ab-

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hung zurückgeführt, die „im Wesen des Wissens enthalten ist.“ Diese umfasst einmal den Akt des Wissens selbst und dasjenige, was gewusst wird. Beide Elemente dieser Grundbeziehung werden mit den Grundbegriffen, die der gesamten Aufteilung des Systems zu Grunde liegen, identifiziert. Im Folgenden möchte ich es unternehmen, die Struktur dieser Grundbeziehung, wie sie von Tillich gedacht wird (1), genauer in den Blick zu nehmen, um dann den geistesgeschichtlichen Kontext, in den hinein Tillich sein systemtragendes Element entwirft, vorzustellen (2). Zuletzt ist darauf einzugehen, wie diese Grundbeziehung als architektonisches Gerüst den Aufbaus des Systems bestimmt (3). (1) Wissen, wie Tillich es im SdW entwirft, ist ein Geschehen, das auf den relationalen und konnektiven Aspekten der in diese Beziehung eintretenden Elemente beruht. Diese Beziehung besteht aus den einfachen Elementen der im Akt des Erkennens enthaltenen Richtung des Denkens einerseits und dem, auf das sich das Denken richtet, andererseits. Tillich identifiziert die beiden Aspekte dieses einen Vorgangs zum einen als das „Denken“ selbst, und das, auf das es sich richtet, zum 49 anderen als das „Sein“. Die Betonung dieser fundamentalen Bezogenheit aufeinander ist dabei von herausragender Bedeutung für die Konstruktion des Wissenschaftssystems, da sie sich sowohl in seinen Makro- als auch in den Mikrostrukturen niederschlägt, denn „wir können […] das Denken gar nicht anders bestimmen, als dass wir es als den Akt definieren, der auf das Sein gerichtet ist und wir können das Sein nicht anders definieren, als das vom Denken gemeinte, das worauf der Denkakt gerichtet ist. Es ist völlig unmöglich, über diese Wechselbestimmung der Urbegriffe hinauszukommen […]. Es ist infolge dessen auch keine eigentliche Definition möglich, sondern nur ein wechselseitiges Anschauen des einen vom anderen her.“50

Diese Grundbeziehung kann in unterschiedlichen Varianten auftreten, wobei die differierende Art der Bezogenheit, in die Denken und Sein zueinander treten können, als entscheidendes Kriterium für die Zuordnung zu voneinander unterschiedenen Fächergruppen entworfen wird. Zunächst aber unterscheidet Tillich drei mögliche Grundstellungen von Denken und Sein. Einmal kann das Sein vollständig im Denken aufgehen und lediglich als Denkbestimmung in der Beziehung auftauchen: „der Satz des absoluten Denkens“. Im zweiten Grundverhältnis wird das Sein als das sich dem Denken Widersetzende verstanden, das sich jeder Erfassung durch das Denken erfolgreich widersetzt: „der Satz des absoluten Seins.“ Zu lehnung des Versuchs, die Psychologie zur Grundlage der als Paradigma allen Denkens fungierenden Logik zu machen. Gegenüber einem solchen, ursprünglich vor allem im englischsprachigen Bereich (Hume und Mill) beheimateten Psychologismus, der dann allerdings auch seine Anhänger auf dem Kontinent fand […], betont Husserl ab der Jahrhundertwende, dass, insofern sie empirisch und damit kontingent ist, die Psychologie nicht als Grundwissenschaft dienen kann.“ Ebd., S. 63f. 48 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 118. 49 Ebd. 50 Ebd.

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diesen beiden ersten Grundstellungen tritt die dritte hinzu, die besagt, dass das Denken sich nicht nur in unterschiedlicher Form auf das Sein richtet, sondern sich selbst zugleich zum Thema machen kann und so selbst zu etwas Seiendem wird: 51 „Das Denken ist selbst Sein (der Satz des Geistes).“ (2) Diese grundlegende Bedeutung, welche die Idee des Wissens sowohl für den Aufbau des Systems als auch für dessen Begründung als Wissenschaft hat, ist offensichtlich stark an idealistische Konzeptionen des 18. bzw. 19. Jh. angelehnt, die – wie so häufig bei Tillich – nur bedingt explizit gemacht werden. Sein Vorgehen, dem SdW grundlegende Überlegungen zum systemtragenden Prinzip voranzustel52 len, nimmt Bezug auf die Ansätze Reinholds und vor allem Fichtes , der den Begriff des Wissens ins Zentrum des philosophischen Interesses stellt, um die Philosophie als Wissenschaft auszuweisen: Dazu „haben [wir; Umstellung K.B.] den absolutesten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen. Beweisen, oder bestimmen lässt er sich 53 nicht, wenn er absolutester Grundsatz sein soll.“

Dieser erste Satz des Wissens fundiert alle anderen als Wissen gekennzeichneten Sätze, mit ihm steht und fällt alles andere Wissen, denn „er begleitet alles Wissen, 54 ist in allen Wissen enthalten, und alles Wissen setzt ihn voraus.“ Neben diesen Gemeinsamkeiten ist aber vor allem die Differenz bezüglich der Vorstellungen des Absoluten entscheidend für ein angemessenes Verständnis der Funktion von Tillichs Idee des Wissens. Für Tillich ist das Absolute, das in seiner Formulierung der Idee des Wissens virulent wird, nicht – wie für Fichte – das schlechthin Erste, das Unbedingte, das alles Nachfolgende, sowohl logisch als auch ontologisch, be55 stimmt, ohne selbst von etwas außer ihm liegendem bestimmt zu sein. Tillich fasst den Begriff des Absoluten mehr im Sinne der hegelschen Kritik an Fichte – angestoßen durch Nicolaus Cusanus und Giordano Bruno – im Sinne einer alles 51 Ebd., S. 118ff. Für die beiden ersten Sätze gilt, dass sie laut Tillich zusammengefasst werden können zu den „Sätze[n; K. B.] über die Einheit und über den Widerstreit von Denken und Sein.“, die „in jedem Bewusstseinsvorgang, im ganzen bewussten Lebensprozess enthalten“ sind. 52 Vgl. dazu Carl Leonhard Reinhold, Über das Fundament des philosophischen Wissens nebst einigen Erläuterungen über die Theorie des Vorstellungsvermögens, Jena 17911. Er hatte in diesem Buch die Notwendigkeit eines ersten, aus sich selbst heraus entstehenden Satzes, der selbst nicht mehr begründet werden muss, als Grundlage aller möglichen Aussagen über das Wissen postuliert. Dagegen wendete sich Gottlob Ernst Schulze ein Jahr später in seiner zunächst anonym veröffentlichten Schrift, die – von Fichte rezensiert und in wesentlichen Punkten abgelehnt – zu dessen Ausgangspunkt für seine eigenen Arbeiten zur Wissenschaftslehre wurde. Vgl. Gottlob Ernst Schulze, Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Verteidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik, Hamburg 1996. 53 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), Akademie-Ausgabe I/2, Stuttgart u.a. 1965, S. 255. 54 Ebd., S. 121. 55 Vgl. Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch, Leben – Werk – Schule, Weimar 2003, S. 111f.; Kurztitel: W. Jaeschke, Hegel.

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umfassenden, nichts außer sich habenden und in sich differenzierten Größe, die das Element des Widerspruchs, durch die dialektische Struktur der Vernunft, 56 bereits in sich enthält. Von dieser Bestimmung des Absoluten werden auch die drei Sätze, in die sich die Idee des Wissens ausdifferenziert, in ihrem Ineinander verständlich: ihr Verhältnis entspricht zunächst einmal der dialektischen Methode Hegels, die Tillich wie folgt zusammenfasst: „In diesem absoluten Geist ist lebendige Bewegung. Diese Bewegung geht aus von der Idee der ewigen logischen Form, die noch keinen Stoff in sich hat, sie geht weiter zur Natur, wo der Geist in sein Anderssein, in das ihm Fremde eintritt, und sie endigt in der Geschichte, wo der Geist sich als Geist erfaßt. Die Lehre von der ewigen Idee und ihrer Entfaltung ist die Logik. Die Lehre von der sich selbst entfremdeten Idee ist die Naturphilosophie. Die Lehre von der zu sich zurückgekehrten, Geist gewordenen Idee ist die Philosophie des Geistes. Diese Dreiheit von Ja, Nein und Ja, das das Nein in sich genommen hat, ist das methodische Prinzip, von dem aus Hegel in allen drei Teilen alles einzelne verstehen lehrt.“57

Die Ähnlichkeiten zur Bestimmung der absoluten Sätze des Denkens, Seins und des Geistes, wie Tillich sie im SdW entfaltet, sind zunächst einmal offenkundig, denn wie bei Hegel ist der Begriff der Dialektik nicht auf einen Bereich der Logik begrenzt, der – etwa wie noch bei Kant durch die Trennung von Ding an sich und Erscheinung – auf die Möglichkeit des fehlerhaften und unzureichenden Gebrauchs der Vernunft hinweist. Wie bei Hegel liegt die Dialektik in der Struktur der Wirklichkeit selbst und kann von daher auch als in sich selbst gründend Wissenschaft sein, die in der Lage ist, aus sich selbst heraus ein Prinzip zu entwickeln, das zugleich die methodisch Nachvollziehbarkeit regelt als auch ihre Bereiche 58 vollständig benennt und damit auch gegen andere klar abzugrenzen vermag. Hegel spricht in diesem Zusammenhang davon, dass „die Methode […] das Bewusstsein über die Form ihrer inneren Selbstbewegung“ ist, welche die Negativität 59 in sich aufzunehmen in der Lage sei. Damit ergibt sich auch die komplexe Einheit von Prinzip und System, deren Fehlen Hegel im Rahmen der Wissenschaftslehre Fichtes vermisst. Dieser Gedanke bereitet bei Tillich den Übergang von den Prolegomena des Systems zur Ausdifferenzierung des Aufbaus vor, denn die Un56 Zum Absoluten bei Hegel vgl. etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie in Beziehung auf Reinholds Beiträge zur leichtern Übersicht des Zustandes der Philosophie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, in: GW 4, Hamburg 1968, S. 34, wo er schreibt: „Aber das Absolute, weil es im Philosophieren von der Reflexion fürs Bewusstsein produziert wird, wird hierdurch eine objektive Totalität, ein Ganzes von Wissen, eine Organisation von Erkenntnissen; in dieser Organisation ist jeder Teil zugleich das Ganze, denn er besteht als Beziehung auf das Absolute; als Teil, der andere außer sich hat, ist er ein beschränktes und nur durch die anderen; isoliert als Beschränkung ist er mangelhaft, Sinn und Bedeutung hat er nur durch seinen Zusammenhang mit dem Ganzen.“ 57 Paul Tillich, Hegel und die Erfassung des Göttlichen im Denken, in: E X, S. 393. 58 Vgl. W. Jaeschke, Hegel, S. 227. 59 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I, Die objektive Logik, GW 11, Hamburg 1978, S. 24.

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terscheidung von einer logischen Form, die an eine von ihr differenten Wirklichkeit herangetragen wird, entfällt nun und an ihre Stelle tritt die Einheit von logischer Form und ontologischer Struktur der Wirklichkeit, wie Tillich sie bei Hegel entfaltet vorfindet. Diese deutlichen Bezüge führen für Tillich allerdings nicht dazu, dass er den Ansatz Hegels voll übernimmt. Besonders deutlich wird das an seiner Einordnung der Logik. Sie bekommt nicht den Status einer ersten, allen vorangehenden und alles begründenden Wissenschaft zugesprochen. Denn zwar „ist es möglich und notwendig, die logischen Gesetze metaphysisch zu deuten. Aber es ist nicht berechtigt, sie darauf [auf die metaphysisch-erkenntnistheoretische Grundanschauung im Sinne der Logik des Aristoteles; K.B.] zu gründen und darin aufzulösen.“60

In dem Verstehen der Logik als Metaphysik ist zwar einer ihrer wesentlichen Züge erfasst, ohne dass sie damit in ihrer Funktion für einen umfassenden Begriff des Wissens – und das ist die Kritik Tillichs m.E. sowohl an Hegel als auch an den 61 Neukantianern – schon hinreichend bestimmt wäre. Neben diesen offensichtlichen Aspekten der Rezeption Fichtes und Hegels gehen die tiefgreifendsten Auswirkungen auf die Konzeption von Tillichs Systems von dessen Rezeption der Philosophie Schellings aus. Wie Fichte und Hegel ist auch Schelling auf der Suche nach einem „letzten Grund der Realität alles Wissens […], an dem alles hängt, von dem aller Bestand und alle Form unsers Wissens ausgeht, der die Elemente scheidet und jedem den Kreis seiner fortgehenden Wirkung im Universum des Wissens beschreibt.“62

Diesen Punkt lokalisiert Schelling im absoluten Ich und der ihm eigenen Freiheit, die „als unbedingtes Setzen aller Realität in sich selbst durch absolute Selbst63 macht“ positiv bestimmbar ist. Um die Bedeutung dieses Ansatzes Schellings für Tillichs System angemessen in den Blick zu bekommen, ist ein kurzer Vorgriff auf die Grundzüge der Geisteswissenschaften, wie Tillich sie entwirft, nötig. Obwohl sie erst im dritten Teil des Systems entfaltet werden, bilden sie dessen Grundlage. Erst von daher kann das Prinzip des Wissens in seinem vollen Umfang verständlich werden und es fallen verschiedene Aspekte auf, die auf einer Interpretation der Position Schellings beruhen. Zunächst ist dabei an Tillichs Fassung des Geistes selbst zu denken: er ist 64 „Form des seienden Denkens.“ Der Geist ist somit Denken, das sich seiner selbst 60 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 129. Zwar wendet sich Tillichs Einwand an dieser Stelle eher gegen die Neukantianer und ist primär nicht als eine Kritik an der Position Hegels gemeint, doch ist er m.E. damit ebenso angesprochen. 61 Auf Tillichs Verständnis der neukantianischen Erkenntnistheorie werde ich im Abschnitt 2.1.2.1 ausführlicher zu sprechen kommen. 62 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vom Ich als Prinzip der Philosophie (1795), Hartmut Buchner/Jörg Jantzen (Hg.), Reihe I: Werke 2, Stuttgart 1980, S. 85. 63 Ebd., S. 104. 64 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 210.

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als ein Seiendes bewusst geworden ist. Dabei darf dieser Spezialfall des Denkens nicht als eine Form neben anderen Formen verstanden werden, sondern als die Form, die Denken und Sein in ihrer spannungsvoll-dynamischen Einheit in sich aufnimmt und beide umgreift. Somit wird das Phänomen des Geistes nicht als unabhängig von den beiden Elementen Denken und Sein vorgestellt. Zugleich versucht Tillich aber, sowohl Sein als auch Denken, wie sie in den Begriff des Geistes eingehen, zunächst von der Bestimmung durch seine „unmittelbare Ge65 bundenheit an […] endliche Form“ zu befreien. Werden Sein und Denken in bezug auf den Geist betrachtet, geht dagegen das Sein als „das Prinzip der ursprünglichen Setzung, des Unbedingt-Wirklichen“ und das Denken als „das 66 Prinzip der Form, des Unbedingt-Geltenden“ ein. Somit sucht Tillich, sie zumindest für den Akt der Betrachtung aus ihrer Bedingtheit durch die Richtung auf das Unbedingte zu lösen. Darin liegt auch die selbstsetzende Freiheit, die Tillichs Konzeption des Geistes eignet: der Geist ist schöpferisch, insofern er „die 67 Einheit von Intention auf das Allgemeine und Verwirklichung im Besonderen“ darstellt. Damit ist für Tillich implizit auch das Verhältnis des Geistes zur Wahrheit bestimmt: „Richtig und unrichtig ist nicht der Gegensatz, um den es sich im Geisti68 gen handelt, sondern schöpferisch und willkürlich.“ Schellings absolutes Ich und Tillichs Geist haben somit – bei allen Differenzen im Einzelnen – eine ähnliche Stoßrichtung: beide tragen das Element der selbstsetzenden Freiheit in sich, sie sind – mit Tillichs Worten – schöpferisch, beide haben ihre Existenz allein dadurch, dass sie denkbar sind und gedacht werden, und sind zuletzt – sofern sie unter diesem Aspekt betrachtet werden – mit Richtung auf das Unbedingte konzi69 piert. Diese etwas diffuse und selektive ausfallende Rezeption von Elementen des Deutschen Idealismus durch Tillich, ist m.E. nicht wesentlich über eine weitergehende Analyse des Einflusses von idealistischen Denkkonzepten auf Tillich zu erhellen. Vielmehr machen Verwendung und Konzeption des Systemgedankens auf Tillichs Teilhabe an der Krise aufmerksam, in die das idealistische Denken seit Beginn des 19. Jh. geraten war. Als die drei großen und wichtigen Gruppen, in denen sich spezifische Krisenbewältigungsstrategien ausbildeten, nennt etwa Köhnke erstens die deduktiv-apriorischen Systeme, wie sie bei Reinhold und Fichte vorliegen, zweitens den methodisch-enzyklopädischen Ansatz Hegels und drittens die romantische Fassung des Systemgedankens bei Schelling und Schleiermacher, bei denen der ursprüngliche Anspruch, durch die angemessene Bestimmung von Aufbau und zugrundeliegendem Prinzip zu einer endgültigen Form des Systems zu kommen, bereits zu verschwimmen beginnt, denn die Einheit wird durch 65 66 67 68 69

Ebd. Ebd., S. 212. Ebd., S. 214. Ebd., S. 215. Zur Strukturierung des Gottesgedankens Tillichs vom Begriff des Unbedingten her vgl. W. Schüßler, Gottesgedanke, S. 162–175, besonders § 13.

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die Berufung auf ein – mit rationalen Mittel nicht mehr erfassbares – göttliches 70 Prinzip zu gewährleisten versucht. Dass sich bei Tillich einzelne Aspekte dieser drei Grundtypen wiederfinden, ist offenkundig, eine eindeutige Einordnung in eine der drei Gruppen ist mithin unmöglich, obwohl sicherlich eine deutliche Affinität zur dritten Gruppe zu konstatieren ist. Das liegt offensichtlich vor allem daran, dass sich die Grundidee des SdW eben nicht mit Theoremen, welche die philosophische Diskussion des 19. Jh. bestimmten, erschöpfend erklären lässt. 71 Vielmehr spiegelt sich in der Fassung der ‚Allgemeinen Grundlegung‘ , wie sie dem SdW vorangestellt ist, zweierlei: Einerseits stellt Tillich seinen Entwurf in die aktuelle philosophische, vor allem an erkenntnistheoretischen Fragen interessierte Diskussion, die sich vor dem Hintergrund der sich dynamisch entwickelnden 72 Vormachtsansprüche der Naturwissenschaften abspielte. Zum anderen zeugt sie auch von dem gewandelten Bild der Wissenschaften in der Moderne, das u.a. mit den Stichworten Diversifikation, Temporalisierung, Empirisierung und Dynami73 sierung zu verbinden ist. War es zu Beginn des 19. Jh. einzelnen Wissenschaftlern wie Hegel oder Goethe noch möglich gewesen, sich in den wichtigsten wissenschaftlichen Gebieten weitestgehend auf der Höhe ihrer Zeit zu bewegen, gehörte dieser Zustand für Denker des beginnenden 20. Jh. bereits einer historischen Vergangenheit an. An Tillichs Zugriff wird dies deutlich: ein System kann nicht mit dem Ziel entworfen werden, ein enzyklopädisches Realsystem allen Wissens abbil74 den zu wollen , es kann das Wissen nicht abschließen, es in irgendeiner Form – wenn auch nur potenziell – vollständig enthalten. Für ihn hat das zur Konsequenz, dass ein System des Wissens, soll es der Faktizität moderner Wissenschaften gerecht werden, neue Entwicklungen sowohl in sich aufnehmen als auch hervorbringen können muss. Es bildet nicht ab, was ist, sondern es schafft die Möglichkeit, dass aus dem, was ist, etwas Neues werden kann, wenn sich der menschliche Geist denkend auf Sein hin in Bewegung setzt. Darin besteht die Einheit, die zwischen den einzelnen Wissensgebieten besteht und deren Zusammengehörigkeit als Wissenschaften gewährleistet und aufgezeigt werden soll. Darin sieht Tillich die primäre Aufgabe, die er durch den Rückgriff auf den Systemgedanken zu erfüllen sucht. Erst damit wird für ihn – unter Berufung auf Kant – „das System der Wissenschaften […] zum Ausdruck des Systems der Geistesfunktionen und der Aufbau des Geistes wird erkennbar aus den verschiedenen Richtungen, 75 in denen die Wissenschaften Gegenstände findet und abgrenzt.“

70 Vgl. Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/Main 1986, S. 31; Kurztitel: K. C. Köhnke, Neukantianismus. 71 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 113–123. 72 Vgl. Kap. I, 2.1.2 dieser Arbeit. 73 Vgl. H. Schnädelbach, Philosophie, S. 106–117. 74 Vgl. P. Tillich, SdW, GW I, S. 114. 75 Ebd., S. 115.

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Die Einheit der Wissenschaften – Paul Tillichs Wissenschaftskonzept

Die Einheit und ihre Ausdifferenzierungen, in denen sie im Gesamtkomplex der gegebenen Wissenschaften vorliegt, ist für Tillich somit Abbild der Struktur des Geistes und seiner Tätigkeit. Damit deutet er Kant vom Systembegriff her im Sinne neukantianischer Ansätze, etwa im Sinne Hermann Cohens, der schreibt: „Das System bedeutet bei Kant nicht einen geschlossenen Zusammenhang von Erkenntnissen, sondern den Zusammenhang von Erzeugungsweisen des Bewusstseins, deren jede für sich einen eigentümlichen Inhalt hervorbringt. Diese Inhalte müssen einander verwandt sein, weil die Erzeugungsweisen aller Inhalte, als Erzeugungs76 weisen des Bewusstseins verwandt sind.“

Somit ist der Primat des Geistes – etwa vor den Gegenständen – eingeführt, denn allein ihm ist es möglich „ein Formalsystem des Erkennens, in welchem das Reich, das der Geist beherrscht, die Gegenstände und die Art, wie es beherrscht, die Methoden, zum Bewusstsein gebracht werden, [zu schaffen; K.B.]. Es ist der Wille des Geistes zur lebendigen Einheit des Erkennens, der dieses anscheinend so formale und leere Gebäude des 77 Systems der Wissenschaften hervorbringt.“

(3) Wie bereits angedeutet, übernimmt Tillich die zunächst als Elemente des Wissens vorgestellten und analysierten Komponenten Denken, Sein und Geist als 78 systemtragende, konzeptionelle Begriffe. Damit sie dies werden können, verfolgt Tillichs Argumentationsstrategie im Wesentlichen zwei Richtungen, welche die unterschiedlichen Stoßrichtungen beider Elemente, sowie ihre Verbundenheit aufnimmt. Für beide gilt, dass sie für eine Betrachtung der aus ihnen abgeleiteten Wissenschaften nur insofern in Betracht kommen, als dass sie jeweils auf ihr komplementäres Gegenüber bezogen sind. In Tillich Verhältnisbestimmung der beiden Elemente geht es von daher einerseits darum, den „einfachen Gegensatz“ zwischen ihnen, der das eine Element vom anderen kategorial trennen würde, 79 aufzubrechen. Andererseits hebt Tillich den „fundamentalen Unterschied“ , der zwischen den beiden Elementen auch in ihrer Verbindung bestehen bleibt, hervor. Der Gegensatz wird insofern als aufgehoben konzipiert, als dass weder eine Wissenschaft vom reinen Denken als auch vom reinen Sein als möglich angesehen 80 wird. Hier kommt der Befund der notwendigen komplementären Bezogenheit der beiden Wissenselemente Denken und Sein aus der vorangehenden Analyse der Elemente des Wissens zum Tragen: 76 Hermann Cohen, Kants Begründung der Ästhetik, Berlin 1889, S. 94f. 77 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 114. 78 Wie oben erwähnt, setzte die Kritik Kurt Leeses an dieser Stelle ein. Er bemängelte den unklaren Übergang des Seinsbegriffs von einem Element des Wissens zu einem wissenschaftssystematischen Grundbegriff, auf dem die Einteilung der Wissenschaften beruht. Vgl. K. Leese, Rezension, S. 322. 79 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 120. 80 Von den Sonderfällen, die Tillich in der Logik bzw. Mathematik auftreten sieht, wird noch zu sprechen sein.

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„Natürlich kann man vom Denken nur eine Wissenschaft machen, wenn man das Denken meint, insofern es sich auf das Sein richtet; und umgekehrt kann man vom Sein nur wissenschaftlich reden, wenn man voraussetzt, dass es erfüllt ist mit 81 Denkbestimmungen.“

Durch diese Bestimmung soll aber der fundamentale Unterschied nicht eingeebnet werden. Er besteht in der unterschiedlichen Ausrichtung beider Wissenschaftsgruppen: während sich die Denkwissenschaften auf die formalen Aspekte des Denkens fokussieren, das sich auf Sein bezieht, wobei die konkrete Gestalt desjenigen Seins, auf welche das Denken bezogen ist, sich als zunächst unerheblich erweist. Es richtet sich „auf die allgemeinen Formen, denen sich jeder Inhalt fügen 82 muss.“ In den Seinswissenschaften dagegen herrscht der Primat des Seins: zwar können die Grenzen des Denkens nicht gesprengt werden, doch „stellen sich die 83 Inhalte ein und zwingen das Denken, sich ihnen zu fügen.“ Diese Unterscheidung wirkt sich in Tillichs System in der Abtrennung zweier Wissenschaften aus, die als die einzig möglichen Formen von Denk- bzw. Idealwissenschaften vorgestellt werden, aus: Sowohl der Logik als auch der Mathematik ist wesentlich, dass sie sich in dem, sich in ihnen vollziehenden Erkenntnisprozess auf „diejenigen Formen, die dem Denken wesentlich sind, abgesehen von seiner Verbindung mit dem Sein, wenn auch nicht ohne Beziehung auf die Möglichkeit dieser Verbin84 dung“ richten. An dieser Abtrennung wird Tillichs Ziel, Wissenschaft nicht vom Ideal der mathematisch-logischen Wissenschaften her zu verstehen, deutlich: er trennt hier die sich immer mehr an das mathematisch-rationale Wissenschaftsideal annähernden Wissenschaften wie etwa Biologie, Chemie oder Physik von ihrem direkten Bezug auf Mathematik und Logik und verlegt sie in die Seinswissenschaften, ohne dass diese dadurch für jene bedeutungslos würden. Vielmehr verfolgt Tillich durch diese Einteilung das Ziel, die Konzeptionen und Beziehungen der eben genannten Wissenschaften im Wesentlichen von dem, sich in ihnen ereignenden Verhältnis von Denken und Sein zueinander zu strukturieren und nicht allein dem ihnen – folgt man der Argumentation Tillichs – fremden Ideal der reinen Denkwissenschaften nachzustreben, das auf einer anderen Strukturierung dieser Grundbeziehung basiert. Wird dieses Kriterium aber als maßgebend angelegt, dann werden alle Wissenschaften einem ihnen fremden Maßstab unterworfen, der nicht aus den Denkwissenschaften selbst heraus erzeugt werden kann, sondern der aus den Geisteswissenschaften stammt, in Abhängigkeit zu denen damit alle Wissenschaftsgruppen konzipiert werden. Diese werden somit als diejenige Wissenschaftsgruppe implementiert, die den Denk- und Seinswissenschaften ihren Ort im Gesamtkomplex ‚Wissenschaft‘ zuweist. Dabei kann Tillich die von ihm hier entworfene Überlegenheit der Geisteswissenschaften gegenüber den anderen Wissen81 82 83 84

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 124.

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Die Einheit der Wissenschaften – Paul Tillichs Wissenschaftskonzept

schaftsgruppen aber nicht als gegeben voraussetzen, denn zunächst muss er einen Schritt zurücktreten und deren Eigenständigkeit als vollgültige Wissenschaften erweisen. Die Abgrenzungen, die Tillich zu diesem Zweck vornimmt – gegen die Einordnung der Geisteswissenschaften in die Seinswissenschaften mit Hilfe der Psychologie einerseits oder mit Hilfe der Logik als Denkwissenschaft andererseits – führen nun direkt in die wissenschaftssystematische und -theoretische Debatte des beginnenden 20. Jh., die angesichts des sich ausweitenden Anspruchs der sich stetig entwickelnden Naturwissenschaften entstanden war. Dabei versteht Tillich zu diesem Zeitpunkt den Konflikt nicht als eine Auseinandersetzung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, sondern als eine intern die Geisteswissenschaften betreffende Debatte, die zwischen Neukantianern auf der einen Seite und Phänomenologen auf der anderen Seite ausgetragen wird und sich vor allem an dem grundsätzlichen Verständnis der Zuordnung der Psychologie entzündet. Tillich verfolgt also primär keinen ausdrücklich interdisziplinären Ansatz, sein Zugriff auf die Seinswissenschaften erfolgt ausdrücklich ausgehend von seiner geisteswissenschaftlichen Perspektive und ist zunächst als innerphilosophischer Diskussionsbeitrag einzuordnen, der – schon aufgrund seines systematischen Ansatzes – weit über seinen primären Bereich ausstrahlt. Im Zentrum seines Ansatzes steht die Betonung des schöpferischen Charakters der Geisteswissenschaften: wenn der Geist die Form des seienden Denkens ist, dann ist er zwar ein Sein neben anderem, zugleich aber ist er qualitativ insofern von diesem zu unterscheiden, als dass er „nie bloß uninteressierter Zuschauer (…), sondern (…) immer zugleich Mitspieler [ist; K.B.]. Geisteswissenschaften sind produktiv. In ihnen ist das Den85 ken schöpferisch und gibt Gesetze.“ Mit diesem Verständnis der Geisteswissenschaften macht Tillich den Ausgangspunkt seiner Kritik deutlich: eine Ein- bzw. Unterordnung des Geistes als einer Funktion der Psychologie ist nicht akzeptabel, da sie auf einen fatalen Kategorienfehler hinausliefe. Ähnlich verläuft Tillichs Argumentation gegenüber den neukantianischen Versuchen der Auflösung des Geistes in Logik. Wer das versucht, der „übersieht dabei, dass das Kennzeichen des Geisteslebens gerade die inhaltsvolle Gebundenheit an das Sein ist, dass in jedem Akt wirklichen Geisteslebens keineswegs bloß eine logische Form verwirklicht wird, sondern eine allem Logischen zunächst fremde, irrationale Gegebenheit hervorbricht, die sich mit dem Logischen 86 vereint und dadurch Geist, aber niemals nur Denkform wird.“

Dieses Moment der Einheit von schöpferischem Sein und logischer Form wird von Tillich als der Normativität des Geistes unterstehend verstanden, so dass in den Geisteswissenschaften zwar etwas Neues gegenüber den Seins- und Denkwissenschaften entsteht, es mit diesen aber immer eng verknüpft bleibt, denn die Geisteswissenschaften stellen keinen neuen Bereich neben Denk- und Seinswissenschaf85 Ebd., S. 121. 86 Ebd.

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ten dar, sondern bilden lediglich ein anderes Verhältnis ab, in das Denken und Sein zueinander treten. Um das Verhältnis von Denken und Sein in den Seinwissenschaften sowie das von Geistes- und Seinswissenschaften herauszuarbeiten, ist es nun zunächst notwendig, die beiden Konzeptionen, die sich unter den Stichworten ‚Denken‘ und ‚Sein‘ verbergen, als Positionen der innerphilosophischen Debatte um die Stellung der Seinswissenschaften herauszuarbeiten, mit denen sich Tillich in seinem geisteswissenschaftlichen Entwurf auseinandersetzt und von denen er sich abzugrenzen sucht. Das soll im nun folgenden Abschnitts geschehen. 3.1.2

Die Elemente des Wissens

Die Begriffe Denken, Sein und Geist haben – wie oben gezeigt wurde – eine dreifache Funktion: einmal werden sie als Bestandteile des Prinzips des Wissens entfaltet, fungieren andererseits zur Charakterisierung der drei großen Wissenschaftsgruppen und über sie findet drittens – was im Folgenden zu zeigen sein wird – der Einstieg Tillichs in die zeitgenössische wissenschaftssystematische Diskussion statt. Diese soll nun in ihren, für die Entfaltung von Tillichs Entwurf relevanten Grundzügen rekonstruiert werden. Dabei tritt das immer wieder auftauchende Problem, dass Tillich selbst seine Diskussionspartner nicht explizit nennt und die Auseinandersetzung mit ihnen nur selten hinreichend kenntlich macht, mit aller Deutlichkeit und den damit einhergehenden Schwierigkeiten zu Tage. Denn da die Positionen, mit denen Tillich sich auseinandersetzt, durch die Einarbeitung in sein System eine stark typisierte Gestalt annehmen, im Rahmen dieses Prozesses terminologisch modifiziert und gelegentlich auch stark verzeichnet wer87 den, ist eine genaue Identifikation häufig schwierig. Diese dritte Ebene wird von Tillich unter dem Stichwort des „Kritischen Verstehens“ verhandelt. Diesen Begriff ist als Chiffre zu verstehen, unter der Tillich die für ihn relevanten Aspekte der zeitgenössischen philosophischen Debatte zusammenfasst. Er schreibt dazu: „Der Begriff des Kritischen Verstehens schließt zwei Gegensätze aus: die ‚Kritik‘ ohne ‚Verstehen‘ und das ‚Verstehen‘ ohne ‚Kritik‘. Das erste ist das Merkmal der reinen 88 kritischen Philosophie, das zweite ist das Merkmal der reinen Phänomenologie.“

Es ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit, eine umfassende Analyse der Diskussionen um den Neukantianismus sowie die Phänomenologie der 20iger Jahre des 20. Jh. zu bieten. Doch da sich diese philosophischen Richtungen – neben anderen Aspekten – eben auch in ihrer Reaktion auf die wachsenden Ansprüche der Natur87 Diese Arbeitsmethode der Ein- bzw. Unterordnung von philosophischen Materialien in bzw. unter das eigene systematische Denken, hat Tillich sein Leben lang angewandt. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür sind etwa die Überlegungen zu Inhalt und Bedeutung des Existentialismus, die er dem zweiten Band der Systematischen Theologie ‚Die Existenz und der Christus‘ voranstellt. Vgl. Paul Tillich, ST II, S. 25–35. 88 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 235.

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wissenschaften konstituierten, muss hier kurz auf die Grundzüge dieser Krisenbewältigungsstrategien eingegangen werden, insofern sie für Tillichs Entwurf relevant sind und von ihm diskutiert werden. Wegen der oben genannten Schwierigkeiten ist zu diesem Zweck zunächst auf die zu dieser Themenstellung in der Forschung bereits geleistete Arbeit zurückzugreifen, von der ausgehend dann das SdW besser in seinen zeitgenössischen Diskussionskontext eingeordnet werden 89 kann, zu dem es einen Beitrag liefern will. 3.1.2.1

Das Denken – Die Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus

Um das Element des Denkens im Kontext des Neukantianismus näher in den Blick zu bekommen, soll dabei so vorgegangen werden, dass zunächst (1) einige allgemeine Bemerkungen zur geistesgeschichtlichen Einordnung des Neukantianismus im Spannungsfeld von Deutschem Idealismus und Positivismus gemacht werden. Dann (2) möchte ich kurz auf die Debatte um die Stellung der Psychologie eingehen und abschließend (3) Tillichs Konzept von Denken im SdW entfalten. (1) Im ‚Jahrhundert der Wissenschaft‘ sah sich ein großer Teile der philosophischen Zunft mit dem Problem konfrontiert, dass ihr Fach, das lange als das Modell für Wissenschaftlichkeit überhaupt angesehen wurde, seinen Charakter als Wissenschaft im Gegenüber zu den stetig an Plausibilität gewinnenden Naturwissenschaften immer mehr unter Beweis zu stellen hatte, sollten Ansehen, privilegierte Stellung und universitäre Tradition nicht verloren gehen. Der mit dem sog. 90 ‚Zusammenbruch der idealistischen Philosophie‘ Anfang des 19. Jh. einsetzende Prozess der Neuorientierung der Philosophie, hatte sowohl die gesellschaftlich veränderten Rahmenbedingungen, unter denen Wissenschaft statt zu finden hat91 te , als auch die innerphilosophischen Begründungsdefizite, die durch die Anfragen von Seiten der Naturwissenschaften und der neuen Ausrichtung der Philosophie als Wissenschaft offenkundig geworden waren, zu verarbeiten. In diesem Kontext hatte sich die Philosophie als eine Disziplin unter vielen zu behaupten, 89 Bei der Darstellung der Debatte um den Neukantianismus habe ich mich hauptsächlich an folgenden drei Arbeiten orientiert: H. Schnädelbach, Philosophie; K. C. Köhnke, Neukantianismus; Ferdinand Fellmann (Hg.), Geschichte der Philosophie im 19. Jh. Positivismus, Linkshegelianismus, Existenzphilosophie, Neukantianismus, Lebensphilosophie, Reinbek 1996; Kurztitel: F. Fellmann, Philosophie im 19. Jh. 90 Die Epochenabgrenzung soll hier nicht weiter diskutiert werden. Selbstverständlich hat es sowohl vor 1830 Gegner des Idealismus im Namen Kants als auch nach dieser Jahreszahl Anhänger Hegels gegeben. Vgl. dazu H. Schnädelbach, Philosophie, S. 15f. Zur Vorgeschichte des Neukantianismus und seinen Bezügen zu Denkern der Romantik Vgl. K. C. Köhnke, Neukantianismus, S. 24–35. 91 Zu denken ist etwa an Faktoren wie die Ausdifferenzierung der Fächerstrukturen, die Verwissenschaftlichung des Alltags vieler Menschen im Rahmen einer sich rasant industrialisierenden Gesellschaft, die sich verändernden beruflichen Bedingungen von Wissenschaftlern vom romantischen Genieideal zum Verstehen der ‚Wissenschaft als Beruf‘ im Sinne Max Webers, etc. Vgl. H. Schnädelbach, Philosophie, S. 106–117.

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die – um Legitimität und Anspruch kämpfend – für sich ein eigenes, von anderen Fächern abgegrenztes Gebiet, reklamierte. Doch was nun dieses eigene Gebiet der Philosophie umfassen sollte und welche Standards darin Wissenschaftlichkeit zu sichern vermochten, war – das lag in der Natur der Sache – weitgehend umstrit92 ten. Ein Bereich, in dem sowohl dieser Bedeutungsverlust einerseits als auch die Strategien der Krisenbewältigung andererseits prägnant deutlich werden, ist sicherlich die Ausbildung der neukantianischen Programme, die bereits Anfang des 19. Jh. einsetzte, bis Ende des Jahrhunderts auf dem Höhepunkt ihrer Ausprägung stand und zu Beginn des 20. Jh. für kurze Zeit durch die Besetzung eines Großteiles der universitären Lehrstühle zur vorherrschenden schulphilosophischen Rich93 tung geworden war. Das Aufkommen des Neukantianismus ist insofern als ein Krisenphänomen zu verstehen, als dass er Teil der weit verbreiteten Renaissance von Philosophien der Vergangenheit war, wie sie etwa auch bei Neuaristoteliker, Neuthomisten, Neoleibnitzianer, Neufichteaner, Neuhegelianer oder Neomarxisten zu beobachten ist. Wie diese betrieben die Denker der neukantianischen Richtung die Restrukturierung der Philosophie als historisch-philologische Geisteswissenschaft und hatten damit Teil an dem allgemeinen wissenschaftlichen Trend, der auf die Abhängigkeit von historischen Bedingungen philosophischer Wahrheiten verwies. Andererseits erwies sich der Rückbezug auf Kant als erfolgreiche Strategie, denn durch die Weiterentwicklung der Kant’schen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und der über Kant hinausgehenden Einordnung dieser Frage in den Kontext von Wissenschaft als eines sich fortschreitend entwickelnden Prozesses konnte, mit der fundamentalen Unterscheidung zwischen apriorischen und psychologischen Formen des Denkens, ein eigenständiger Be-

92 Die verschiedenen Strategien, auf diese Identitätskrise des philosophischen Selbstverständnisses zu antworten, hat H. Schnädelbach typisierend so zusammengefasst: 1. Die Fokussierung auf hermeneutisch-historische Arbeit und der Konstituierung der Philosophie als Geisteswissenschaft; 2. Die Entfaltung der Philosophie als Szientismus durch die Umformulierung philosophischer in erfahrungswissenschaftliche Probleme, was langfristig auf das Ersetzen der Philosophie durch die Wissenschaften hinauslief; 3. Die Reorganisation der Philosophie als Kritik (zu denken ist etwa an Feuerbach, Marx, Engels, die in ihrer Kritik von Hegel ausgingen; Kierkegaards Übergang zum existenziellen Denken, sowie an Schopenhauer und Nietzsche, um nur die bekanntesten Vertreter zu nennen); 4. Die Rehabilitierung der Philosophie durch den Aufweiß eines eigenen Arbeitsgebiets (Ausarbeitung von philosophischer Erkenntnistheorie zuerst von naturwissenschaftlicher Seite, dagegen richten sich logischer Neukantianismus oder werttheoretische, phänomenologische, wissenschaftssynthetische Bereichswissenschaft). Vgl. Ebd., S. 118–136. 93 Entstehung, Entwicklung und Ausdifferenzierung des Neukantianismus kann hier selbstverständlich nicht in Einzelheiten thematisiert werden. Ich verweise dazu auf das hervorragende Buch von K. C. Köhnke, Neukantianismus, das viele der Geschichtsmythen, die die Rezeption und Einordnung des Neukantianismus umgeben und hauptsächlich auf die Akteure selbst zurückgehen, aufdeckt und der groben Gegenüberstellung Zusammenbruch des Idealismus – Rettung der Philosophie durch die Neukantianer ein historisch und systematisch differentes Bild entgegengesetzt.

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reich der Philosophie – die Erkenntnistheorie – umrissen werden. Neben dieser auf Abgrenzung und Eigenständigkeit zielenden Tendenz gingen die ersten Impulse zu einer Renaissance Kants zunächst von Naturwissenschaftlern aus, die versuchten, die Formen der Anschauung und die Kategorienlehre Kants sowohl in sinnesphysiologisch als auch wahrnehmungspsychologisch naturalisierte Kategorien zu überführen. Philosophische Problemstellung und empirisch-experimenteller Versuch wurden in Laufe dieses Prozesses häufig miteinander identifiziert, der transzendentalphilosophische Ansatz Kants wurde direkt in eine gemäßigte materialistische Philosophie überführt. Für die in dieser Richtung arbeitenden Naturwissenschaftler – zu nennen sind etwa Justus Liebig oder besonders Hermann Helmholz – leistete der Rückbezug auf Kant damit ein Doppeltes: einerseits konnte durch ihn das Bewusstsein eines philosophischen Defizits, das gegenüber der vulgär-materialistischen Programmatik empfunden wurde, ausgeglichen wer95 den. Andererseits bot sich durch dieses Vorgehen die Möglichkeit, dem eigenen philosophischen Programm durch die Bestätigung durch den ‚wichtigsten‘ modernen Philosophen, dessen Arbeit man durch seine eigenen Ansätze zu bestätigen meinte, zusätzliches Gewicht zu verleihen. (2) In besonderer Weise kristallisierte sich die Auseinandersetzung um die Eigenständigkeit der Philosophie an dem Streit um die universitäre Stellung der Psychologie im sog. Psychologismusstreit heraus. Der Versuch einer konsequenten Naturalisierung der erkenntnistheoretischen Kategorien Kants führte dazu, die Psychologie als die eine neue Grundwissenschaft, die jeder philosophischen Überlegung notwendig vorauszugehen hatte, zu etablieren. Dabei konnte zunächst auf philosophische Ansätze realistischer Kantianer wie etwa Herbart oder Lotze zurückgegriffen werden, die Kants Transzendentalphilosophie unter der Berücksichtigung empirischer Erkenntnisbedingungen untersuchten. Dabei wäre es falsch oder zumindest unbedacht, diese Ansätze als interdisziplinäre Bemühungen um Vermittlung zu kennzeichnen, denn die Trennung der Psychologie von der Philosophie vollzog sich auf institutioneller und ‚mentaler‘ Ebene eher schleppend. Seit Aristoteles in ‚De Anima‘ die Lehre von der Seele als philosophisches Thema etabliert hatte, war die Psychologie selbstverständlich Teil der Philosophie und viele Psychologen verstanden sich auch ausdrücklich als Philosophen. So blieb etwa Wilhelm Wundt, der Begründer der modernen experimentellen Psychologie, obwohl er bereits 1879 in Leipzig das erste psychologische Institut gegründet hatte, 94 Zur Entstehung der Disziplin Erkenntnistheorie vgl. K. C. Köhnke, Neukantianismus, bes. S. 58– 69. 95 Für die in Deutschland aus naturwissenschaftlicher Perspektive außerordentlich wichtige Epoche von 1866–1914 hat Thomas Nipperdey nachgewiesen, dass für viele der bedeutenden Naturwissenschaftler ein generelles Interesse an der philosophischen Verortung ihrer Ergebnisse und der Ausrichtung ihrer Fragerichtung hin auf ein größeres Ganzes – wenn auch häufig in der Ablehnung von bestimmten schulphilosophischen Richtungen – von herausragender Bedeutung war. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München² 1991, S. 602–618; Kurztitel: T. Nipperdey, Deutsche Geschichte I.

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selbst Professor für Philosophie und nannte die von ihm herausgegebene Schriftenreihe noch bis 1905 ‚Philosophische Studien‘, womit er unter Beweis stellen wollte, „dass diese neue Psychologie berechtigt war, ein Teilgebiet der Philosophie 96 zu sein.“ Viele der philosophischen Lehrstühle in Deutschland wurden mit Psychologen besetzt, was zu erheblichen hochschulpolitischen und wissenschaftstheo97 retischen Konflikten führte. Erst ab 1918 wurden die Fächer endgültig auch institutionell voneinander getrennt, nachdem es aus den Reihen der Philosophen erheblichen Widerstand gegen die Praxis der Besetzung von philosophischen 98 Lehrstühlen mit Psychologen gegeben hatte. Mit Friedrich Albert Langes ‚Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart‘, das in zwei Bänden 1866 und 1872 erschienen war, hatte die inhaltliche Auseinandersetzung schon lange zuvor begonnen. Unter Rückgriff auf Kant plädierte er für die Trennung von Weltanschauung und Wissenschaft, wobei er der ersten zugestand, Ausdruck des natürlichen menschlichen Strebens nach Einheit zu sein, das nicht notwendig im Widerspruch zu den Ergebnissen der empirisch arbeitenden Wissenschaften stehen muss und von dieser auch nicht widerlegt werden kann. Der anderen wies er – in ihrer materialistischen Ausprägung – Metaphysik nach, wobei er dies nicht in ablehnend-polemischer Absicht tat, sondern, um der „exakten 99 Forschung auf allen Gebieten die Bahn frei zu machen.“ Für seinen Ansatz ist bezeichnend, dass er um des Erhalts der Rechte sowohl der Wissenschaften als auch der Weltanschauung willen die Trennung zwischen beiden für notwendig hielt – was ihn aber nicht daran hinderte, seine Erkenntnistheorie als sinnesphysiologische Untersuchung von Kants Kategorienlehre zu konzipieren, während er unter Weltanschauung vor allem Kants ethische Konzeption verstand. Mit diesem Ansatz war Lange beides: einerseits wirkte sein Buch als Katalysator der Populari96 Wilhelm Wundt, Erlebtes und Erkanntes, Stuttgart 1920, S. 313. 97 Vgl. Matthias Rath, Der Psychologismusstreit – die Geschichte eines gescheiterten Rettungsversuchs, in: Angela Schorr, Ernst G. Wehner (Hg.), Psychologiegeschichte heute, Göttingen u.a. 1990, S. 112–127. 98 Vgl. T. Nipperdey, Deutsche Geschichte I, S. 630ff. Diese weitgehende Trennung führte allerdings nicht sofort dazu, dass keine Psychologen mehr für philosophische Lehrstühle vorgeschlagen wurden. Prominentes Beispiel ist u.a. Max Wertheimer, der neben anderen auch auf einer früheren Liste für die Besetzung der Nachfolge von Max Scheler in Frankfurt vorgeschlagen worden war – die Stelle, auf die Tillich dann 1930 berufen wurde. Vgl. C. Tilitzki, Universitätsphilosophie I, S. 243–248. Auch Edmund Husserl beklagte das Missverständnis: „Logik und Erkenntnistheorie, Ästhetik, Ethik und Pädagogik hätten durch sie [die experimentelle Psychologie; K.B.] endlich ihr wissenschaftliches Fundament gewonnen, ja sie seien schon im vollen Zuge, sich zu experimentellen Disziplinen umzubilden. Im übrigen sei die strenge Psychologie selbstverständlich die Grundlage aller Geisteswissenschaften und nicht minder auch der Metaphysik zu verstehen.“ Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, Husserliana Bd. XXV, Dodrecht 1987, S. 12; Kurztitel: E. Husserl, Philosophie. 99 Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, zitiert nach K. C. Köhnke, Neukantianismus, S. 254. K. C. Köhnke bietet zudem eine hervorragende Zusammenfassung des philosophischen Ansatzes Langes in: Ebd., S. 233–257, besonders S. 254f.

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sierung von Kants Philosophie und wird in diesem Sinne mit Recht als das den 100 Neukantianismus begründende Werk eingestuft. Andererseits stand sein philosophischer Ansatz in weitreichender Hinsicht im Gegensatz zu dem, was dann später etwa in den Entwürfen Hermann Cohens oder Paul Natorps entwickelt wurde, so dass sein antidogmatischer und ideologiekritischer Ansatz durchaus als 101 vorgezogene „Alternative zum Neukantianismus“ gelesen werden kann. Die von Langes Arbeit ausgehenden Impulse übten großen Einfluss auf die Ausbildung – 102 trotz oder gerade wegen aller Kritik an Langes Kantauslegung im Detail – des Marburger Neukantianismus aus, insbesondere auf Hermann Cohen, der in seinem ersten großen Werk über Kant ‚Kants Theorie der Erfahrung‘ das wichtige Theorem der Marburger Schule von der ‚Erzeugung der Gegenstände‘ entwarf und Kants Kritik der reinen Vernunft als Kritik der Erfahrung verstand: als Kritik 103 an Empirismus, Materialismus und Positivismus. Diese eigenwillige Interpretation des Erfahrungsbegriffs Kants durch Cohen ist für die Fragestellung dieser Studie von besonderer Relevanz, da sie die von Tillich abgelehnte, erkenntnistheoretische Engführung des Neukantianismus repräsentiert. War bei Kant der Begriff des Konstruierens das Element, an dem sich die Konzeptionen von Erfahrung im Kontext der Erkenntnisbildung, wie sie sich in der Mathematik einerseits und der Philosophie andererseits vollzog, unterschieden, so übertrug Cohens das Modell, das Kant für die Mathematik entworfen hatte, auf alle Formen von Erfahrung, insbesondere auf die der Naturwissenschaften. Bei Kant galt hingegen: „Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunfterkenntnis aus Begriffen, die mathematische aus der Konstruktion der Begriffe. Einen Begriff aber konstruieren heißt: die ihm 104 korrespondierende Anschauung a priori darstellen.“ 105

Eine Philosophie, die es zur Aufgabe hat, „das Besondere im Allgemeinen“ zu betrachten, hat es dagegen mit den Qualitäten der Dinge oder eines Einzeldinges zu tun, diese „aber lassen sich in keiner anderen als empirischen Anschauung darstellen.[…] Niemand [kann; K.B.] eine dem Begriff der Realität korrespondie100 Eine Vielzahl von philosophischen Kompendien und Lehrbüchern nennt Lange als Begründer des Neukantianismus. Vgl. etwa Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen15 1957, S. 554. 101 So etwa Hans Martin Sass. Zitiert nach K. C. Köhnke, Neukantianismus, S. 256. 102 Köhnke fasst die Kritik Cohens an Lange wie folgt zusammen: „Langes relative Wertschätzung des Materialismus (als Methode der Naturforschung), seine Sichtweise philosophiegeschichtlichen Fortschritts in einer Traditionslinie von Demokrit, Aristoteles über Bacon, Locke zum Materialismus des 18. Jahrhunderts und schließlich zu Kant sowie drittens das naturalistische Kantbild […], die schließlich alle in diesem einen zusammenliefen, dass Lange nicht vermocht habe, die praktische Philosophie in der theoretischen zu begründen.“ Ebd., S. 292. 103 Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin4 1925, S. 3ff.; Kurztitel: H. Cohen, Erfahrung. Zu den problematischen Aspekte von Cohens Kantinterpretation vgl. K. C. Köhnke, Neukantianismus, S. 273ff. 104 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, Stuttgart 1966, B 741. 105 Ebd., B 742.

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rende Anschauung anders woher, als aus der Erfahrung nehmen.“ Diese Einbeziehung des a posteriori in den Gang der Erkenntnis der Philosophie und – wie ergänzend hinzuzufügen ist – der Naturwissenschaften fällt bei Cohen nahezu vollständig aus. Für ihn ist das Modell, das Kant für die Mathematik entworfen hat, konstitutiv für alle Arten von Erfahrung – besonders für den Bereich der Naturwissenschaften. Denn „auch die Naturwissenschaft ist durch eine ähnliche Revolution der Denkart [wie die Mathematik; K.B.] in den sicheren Gang einer Naturwissenschaft gebracht worden: durch die Einführung des Experiments ging den Naturforschern ein Licht auf (…). Und so stellte sich heraus, dass diejenige Wissenschaft, welche sich am lautesten auf die Erfahrung beruft, dieselbe in Wahrheit erst hervorbringt und dass sie erst durch diese Hervorbringung der Erfahrung nach ihrem Entwurfe zu allgemeinen und notwendigen Erkenntnissen gelangen konnte.“107

Die Einsicht, dass bei Kant gilt: „Alle Erkenntnis ist erfahrende, in E.en fortschreitende Erkenntnis, aber die E. überhaupt ist nicht gegeben, sondern Verarbeitung 108 eines sinnlich Gegebenen durch apriorische Erkenntnisformen“ , hat sich Cohen nicht zueigen gemacht und so kommt es innerhalb seiner Konzeption dazu, „dass der Bereich des Aposteriorischen, das Gegebensein des Gegenstandes, nunmehr 109 gänzlich abhanden kommt.“ (3) Tillich hat sich mit seinem Entwurf innerhalb dieser Diskussion bewegt und sich in ihr positioniert. Dem Nachweis und der näheren Beschreibung dieses Umstandes möchte ich mich nun zuwenden. Dazu ist es nötig, die oben herausgearbeitete Differenzierung der Ebenen, auf denen der Begriff des Denkens verwendet wird, im Blick zu behalten. Auf der Ebene der Elemente des Wissens ist das Denken das Element, unter dessen Einwirkung im Prozess des Erkennens die Wirklichkeit zu einem vernetzten Gebilde „von Gesetzen, Begriffen und Zusam110 menhängen“ wird. Das Denken leuchtet jeden geheimen Winkel des Seins, auf das sich dieses Denken bezieht, aus „bis nichts Dunkles, Fremdes mehr übrig 111 bleibt.“ Zu dieser Vorstellung kann es kommen, da – um im Bild zu bleiben – das Licht, welches das Sein ausleuchtet, nicht von ihm selbst ausgeht, sondern den Begriffen und Gesetzen als Bestimmungen des Denkens, die nicht in der außer ihm liegenden Wirklichkeit vorhanden sind, sondern – und da findet sich M.E. ein Gedanke, in dem Tillich den Gedanken Kants in der neukantianischen Ausprägung im Sinne Hermann Cohens verwendet – vom Denken in die Bereiche hineingetragen werden, auf die es zugreift. Das führt für Tillich letzten Endes dazu, 106 Ebd., B 743. 107 H. Cohen, Erfahrung, S. 98. 108 Rudolf Eisler, Kant-Lexikon, Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften/Briefen und handschriftlichen Nachlass, Hildesheim 1964 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe Berlin 1930.), S. 123. 109 K. C. Köhnke, Neukantianismus, S. 277. 110 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 119. 111 Ebd.

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dass „sich die ganze Wirklichkeit in ein Netz von Denkbestimmungen auf[löst; K.B.], bis alles Sein übergegangen ist in die Einheit des Denkens und also das Sein 112 selbst aufgelöst ist in das Denken.“ So die Teildiagnose Tillichs, bei der aber nicht stehen geblieben werden darf, da hier nur eine der drei Ebenen, die der Begriff des Denkens im SdW umfasst, in den Blick genommen ist. Wird dieses Konzept auf der zweiten Ebene als ein eine bestimmte Gruppe von Wissenschaften bestimmendes Prinzip verstanden, liegt die Kritik Tillichs auf einer ähnlichen Linie: es droht die Ausbildung eines Formalismus, der als „bloßer 113 Logismus […] nicht zum Seinsgehalt“ kommt und so zwangsläufig am von ihm zu erkennenden Gegenstand vorbei geht. Dabei handelt es sich nicht nur um einen defizitären Begriff von Wissenschaft, vielmehr fokussiert Tillich sich in polemischer Absicht auf die Tendenzen, Philosophie als Denkwissenschaft einerseits in Logik aufzulösen oder nach dem Modell der Naturwissenschaften zu konzipieren, wie er sie im Neukantianismus erblickt: Werde deren Ansatz als Grundlage aller Wissenschaften verfolgt, dann müsse dieser „alle Wissenschaften von einem for114 mal-logischen Schema aus vergewaltigen.“ Damit wird deutlich, dass der Übergang von der zweiten zur dritten Ebene fließend ist: Das Programm, die Erkenntnistheorie vom Modell der Mathematik aus zu entwerfen, wie sie vor allem in den Teilen der Marburger Neukantianer gedacht wurde, wird von Tillich abgelehnt. 115 Weil Tillichs Begriff von Denken als „reiner Selbsterfassung“ , die potenziell auf Sein gerichtet ist, von jedem tatsächlichen „Akt des Erkennens“ unterschieden wird, kann er dem Denken seinen eigenen Bereich der Denk- und Realwissenschaften zuweisen. Besonders in seiner Konzeption der Logik und der Mathematik, die er in dieser Gruppe zusammenfasst, wird seine Opposition zu erkenntnistheoretischen Überlegungen neukantianischer Prägung deutlich. Gemeinsam mit den Neukantianern lehnt er die Ableitung der Logik aus psychischen Faktoren ab, aber ebenso stellt er sich kritisch gegen deren Tendenzen, die Logik als neue Me116 taphysik zu installieren. Die Art, wie Tillich diese metaphysische Deutung konzipiert, wird erst durch seine Entfaltung der Geisteswissenschaften und ihrer Methode, auf die später zurückzukommen ist, vollständig deutlich, doch möchte ich an dieser Stelle kurz darauf vorgreifen: Das zentrale Problem, wie sich Denken und Sein so aufeinander beziehen lassen, dass sie sich nicht gegenseitig zerstören – entweder durch die Auflösung des Seins in Denkbestimmungen oder durch die Fokussierung auf die undurchdringliche Fremdheit des Seins, welche das Denken „ins Unendliche nicht 117 aufnehmen kann“ – versucht Tillich, durch den Entwurf der ‚Metalogischen 112 Ebd. 113 Ebd., S. 122. 114 Ebd. 115 Ebd. 116 Vgl., S. 129. 117 Ebd., S. 122f.

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Methode‘ zu lösen. Sie bekommt die Aufgabe „das irrationale Element dieser 118 Funktionen in das Logische hinein[zu]schauen.“ Im Rahmen dieser Überlegungen bekommen die Wissenselemente ihre, für Tillichs Konzept eigentümliche ‚metalogische‘ Prägung. Für das Denken gilt, dass es zu „Form überhaupt“, als „Aus119 druck des rationalen, gestaltenden, formtragenden Elementes“ wird. In dieser metaphysikkritischen Stoßrichtung modifiziert, kann Tillich einige Elementen des Neukantianismus durchaus positive würdigen: Diese fasst er unter den Stichworten Rationalismus, Kritizismus und Idealismus zusammen. Mit Rationalismus verbindet Tillich die Eigenschaft des Neukantianismus, das einzelne formale Gebilde von seiner Beziehung auf die unbedingte Form, die in jeder Einzelform abgebildet wird, zu verstehen. Das Verdienst des Neukantianismus liege darin, dass er „die Beziehung der Sinnformen auf die Einheit der unbedingten Form zum 120 Prinzip der Deduktion macht und auf diese Weise alogistische Willkür meidet.“ Auf dieser Linie liegt auch der Aspekt des Kritizismus: durch klare Unterscheidung und Zuordnung von Form und Gegenstand hilft die ‚kritische Methode‘ – in der spezifischen Fassung, die Tillich ihr gibt – eine falsche Hypostasierung des formalen Elements zu verhindern: die „Form [ist; K.B] in den Sinnformen der 121 Dinge selbst zu finden.“ Tillichs Fassung des Begriffs macht seine deutliche Opposition zum deutschen Idealismus deutlich: „der Geist [steht; K. B.] zu den Dingen nicht in einem Abbildungsverhältnis, sondern in einem Verhältnis der Sinngebung“, so dass ihm die Aufgabe zukommt, „die sinngebende Bedeutung der 122 geistigen Akte zu erkennen.“ An diesen wichtigen Aspekten, die notwendige Bestandteile zum Verständnis von Tillichs Theorie des Erkennens beisteuern, werden gleichzeitig die damit einhergehenden ‚Schattenseiten‘ deutlich: durch die Konzentration auf die formalen Aspekte geht die Möglichkeit „den Gehalt der Einzelform zu verstehen“ verloren, Erkennen wird auf rein rationale Aspekte reduziert, „es werden sämtliche Funkti123 onen vom Erkennen aus erfasst, was etwas anderes ist als im Erkennen“ , womit Tillich die Einbeziehung der irrationalen Bestandteile der Erkenntnis meint, die durch die metalogische Methode ins Spiel gebracht werden und von ihr aus systematisiert werde sollen. Das Erfassen des Sinnes, der in der gegebenen Wirklichkeit der Dinge selbst liegt, und nach Tillich nicht als eine rein subjektive Komponente verstanden werden kann, ist dem logischen Verständnis des Neukantianismus fremd, so dass er „die Einheit von Subjekt und Objekt, von Gelten und Sein, wie 118 Ebd. Die ‚Metalogische Methode‘ ist eine Weiterentwicklung der Überlegungen, die Tillich in seinem Aufsatz ‚Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie‘ als Methode des Paradox als Versuch der Vermittlung von Form und Gehalt entworfen hatte. Vgl. P. Tillich, URR, in: GW I, S. 385ff. 119 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 123. 120 Ebd. S. 236. 121 Ebd. 122 Ebd. 123 Ebd. [Hervorhebung K. B.]

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sie in der schöpferischen Sinnerfüllung gegeben ist“ verliert. Diese identifizierten Defizite sucht Tillich im Rahmen seiner Konzeption in zweierlei Hinsicht auszugleichen: einmal auf der inhaltlichen Ebene des Elements des Seins, andererseits auf der konzeptionellen Ebene über die Struktur und Funktion der Geisteswissenschaften selbst, was in den beiden folgenden Abschnitte darzulegen ist. 3.1.2.2

Das Sein – Phänomenologierezeption und das Prinzip des Systems

Auch der Komplementärbegriff zum Denken, der Begriff des Seins, soll auf seine dreifache Funktion hin hier vorgestellt werden. Die Interpretation hat dabei die Schwierigkeit zu bewältigen, dass sich Tillich nicht in dem Maße auf eindeutig identifizierbare Gesprächspartner bezieht, wie das im Falle des Denkens herauszuarbeiten war. Hinzu kommt, dass der Seinsbegriff bei Tillich als ein hochgradiger Integrationsbegriff zu verstehen ist, in den unterschiedliche Elemente der vielschichtigen zeitgenössischen Strömungen einfließen, die in Ablehnung des im 19. Jh. vorherrschenden Rationalismus, auf die allem vorausliegenden irrationalen Elemente von ‚Sein‘ und ‚Leben‘ verwiesen und in den 20iger Jahren des 20. Jh. 125 eine erste Blütezeit erlebten. Eine genaue Identifikation ist auch deshalb schwierig, da in den unterschiedlichen Strömungen – etwa der Lebensphilosophie – selbst ein sehr komplexes, häufig widersprüchliches Spektrum an Positionen vertreten ist. Um trotz dieser Schwierigkeiten die Grundstruktur des Begriffs des Seins, wie er im SdW entworfen ist, herauszuarbeiten, werde ich so vorgehen, zunächst die Grundstruktur von Tillichs Begriff von Sein im SdW nachzuzeichnen (1), um dann auf die spezielle Rolle, die die Rezeption phänomenologischer Ansätze für den Seinsbegriff einnimmt, einzugehen (2), die m.E. vor allem in methodischer Hinsicht den wichtigsten Anknüpfungspunkt für Tillichs weiteres Vorgehen darstellt. Danach soll dann auf die Aspekte verwiesen werden, die Tillich aus seiner Kritik an der Phänomenologie entwickelt, wobei besonders auf seine kritische Einstellung bezüglich des Versuchs der Etablierung der Phänomenologie als einer ersten Grundwissenschaft einzugehen ist, die jeder anderen Form von Wissenschaft vorausgehen solle (3). Um diesen Abschnitt abzuschließen und den Horizont zu weiten, in dem der Seinsbegriff von Tillich systematisiert wird, soll dann der Blick auf eine andere der wesentlichen Frühschriften und der in ihr stattfindenden Etablierung des Seinsbegriffs als eine dogmatischer Grundbegriff in der sog. ‚Marburger 126 Dogmatik‘ gerichtet werden (4). 124 Ebd., S. 237. 125 Für die Lebensphilosophie findet sich eine zeitliche Einteilung bei Robert Josef Koziljani , Lebensphilosophie. Eine Einführung, Stuttgart 2004, S. 17–19. 126 Der Text der Marburger Dogmatik-Vorlesung, der 1986 unter diesem Titel erstmals herausgegeben wurde, ist kürzlich im Rahmen der ‚Ergänzungs- und Nachtragsbände zu den Gesammelten Werken‘ als Band 14 neu herausgegeben worden. Da Tillich diese Vorlesung in Marburg nicht vollständig gehalten hat, sondern den gesamten Text erst in Dresden 1925–27 gelesen hat, verzichten die Herausgeber darauf, die Vorlesung weiterhin mit dem Zusatz ‚Marburger’ zu verse-

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(1) Sein manifestiert sich für Tillich zunächst als „etwas, was jenseits jedes Denkprozesses liegt, etwas, das an sich, abgesehen von irgendwelchem Bewusstsein ‚ist‘, etwas, vor dem jedes Bewusstsein als vor etwas Unauflöslichen steht, das 127 es ins Unendliche nicht aufnehmen kann, das es einfach anerkennen muss.“ Es 128 wird von ihm zugleich aber auch als die „Mannigfaltigkeit des Individuellen“ in den Blick genommen. Mit dieser doppelten Fassung des Seinsbegriffs, der Sein einerseits als eine Struktur, die allen rationalen Bestimmungen vorausliegt und anderseits im Sinne des phänomenologisch beschreibbaren Daseinenden fasst, die im Kontext der Entfaltung der Seinswissenschaften wieder virulent werden wird, sind die beiden Ebenen des Seinsbegriffs umschrieben, deren Beziehung zueinander schon wie gesehen von Kurt Leese als ungeklärt kritisiert worden ist. Beiden Ebenen werden im weiteren Verlauf des Textes weder sprachlich noch konzeptionell dezidiert auseinandergehalten und gehen oft bruchlos ineinander über, was einerseits aus leicht nachvollziehbaren Gründen zu erheblichen Problemen in der Durchführung führt, andererseits aber auch in der Konzeption des SdW angelegt ist. Der Versuch der Vermittlung beider Ebenen liegt m.E. in dem Entwurf der metalogischen Methode vor: wird das Denken in diesem Kontext zum Inbegriff von Form, so wird „Sein (…) Ausdruck des irrationalen, lebendigen, unendlichen Elementes, der Tiefe und der Schöpferkraft alles Wirklichen.“ Sein und Denken 129 werden so zu „metalogische[n; K.B.] Kategorien.“ Denn weil Tillich sein System von den metalogischen Konnotationen der Begriffe Denken und Sein aus aufbaut, wird jedes Dasein, das in sein System eingeht, von seinem metalogischen ‚Mehrwert‘ her verstanden und eingeordnet. Der gedankliche Aufbau des SdW ist von daher mitnichten so strukturiert, dass Tillich sich die real existierenden Wissenschaften vornimmt, ordnet und dann in einem zweiten Schritt metaphysisch überhöht, indem er sie auf ihre theologisch-philosophischen Wert hin systematisiert. Vielmehr wächst jedem Dasein in seinem Sosein als individuelles Sein der spezifische Ort im System von seiner Teilhabe an den metalogischen Elementen sowohl des Seins als auch des Denkens her zu. Um es mit den Worten des späteren Tillich zu sagen: Das metalogische Sein ist die ‚Tiefe‘ jedes Daseins, das über dessen Status und Stellung im Zusammenhang der Wissenschaften und letztlich auch in der Wirklichkeit insgesamt entscheidet. Wie Tillich dies genauer konzipiert, werde ich im Kontext seiner Entfaltung der Sinnprinzipienlehre – wie die Philosophie im SdW genannt wird – genauer untersuchen.

hen. Vgl. P. Tillich, E XIV, V. Da der Text m.E. aber im Bewusstsein vieler Tillich-Interpreten und -Leser unter diesem Namen präsent ist und wahrscheinlich auch noch lange Zeit bleiben wird, werde ich im Folgenden dabei bleiben, die Vorlesung weiter Marburger DogmatikVorlesung zu nennen, aber die Literaturangaben nach der Neuausgabe zitieren. 127 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 119. 128 Ebd., S. 135. 129 Ebd., S. 123.

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(2) Zunächst soll aber ein kurzer Blick auf Tillichs Einordnung der Phänome130 nologie geworfen werden , denn seine Konzeption von Sein liegt auf einer Linie 131 mit dem Ansatz der „Forderung der Phänomenologie“ , die sich als die eine Grundlagenwissenschaft aller anderen Wissenschaften zu etablieren suchte. Diese Forderung wird von Tillich folgendermaßen zusammengefasst: „Die phänomenologische Richtung der Philosophie fordert als Grundlage aller übrigen Wissenschaft eine universale intuitive Erfassung der Gegenstandsformen und der darauf gerichteten Intentionen. Sie meint, dass die Dinge zur Einsichtigkeit gebracht werden können, genau wie die logischen und mathematischen Sätze, und das erst dann, wenn diese Wesensschau durchgeführt wäre, theoretische Wissenschaft die Frage nach der Existenz der Dinge stellen dürfe.“132 133

Er interpretiert den Ansatz der Phänomenologie als „,Mathematik‘ der Zeit“ , in der analog zu den mathematisch erfassbaren Regeln des Raumes die Gesetzmäßigkeiten und Qualitäten innerer Bewusstseinsvorgänge offengelegt werden sollen. Seine grundsätzliche Kritik dient nicht nur der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen phänomenologischen Positionen – ob diese sachgemäß ist oder nicht, kann in diesem Zusammenhang nicht näher geklärt werden und muss einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben – sondern ist primär vor dem Hintergrund der Indienstnahmen für den Aufbau des Systems zu verstehen. Die im Lauf der Zeit sich wandelnden, einzigartigen Qualitäten lassen sich nicht rationalisieren, weder durch naturalisierende Psychologie, noch mit den Mitteln der Phänomenologie. Tillich schreibt: „Der kontinuierliche Fluss der Zeit [ist; K.B] rational ebenso un134 auflöslich (…) wie die Qualitäten, die in ihm erlebt werden.“ Seine Ablehnung bezieht sich zunächst auf den Anspruch, mit dem die Phänomenologie auftritt: das was sie leisten will, kann sie nicht erreichen, weil sie den Charakter und die fundamentale Zugehörigkeit von Qualität und Zeit zur Sphäre des Seins verkennt, 135 die sich der Erfassung durch das rationale Element des Denkens entziehen. Da130 Auf die phänomenologischen Aspekte, die bei der Entfaltung von Tillichs Begriff des Wissens zum Tragen gekommen sind, wurde bereits hingewiesen. Zu Tillichs Phänomenologierezeption unter besonderer Berücksichtigung seines Spätwerkes vgl. D.-M. Grube, Unbegründbarkeit Gottes?, S. 63–71. 131 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 133. Tillich verweist damit u.a. auf Stellen wie dieser: „Sie [die naturalistisch denkende experimentelle Psychologie; K.B.] hat nicht erwogen, (…) welche ‚Forderung‘ das Sein im Sinne des Psychischen von sich aus an die Methode stellt.“ E. Husserl, Philosophie, S. 25. 132 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 132. 133 Ebd., S. 133. Das Anliegen der Phänomenologie als ‚Mathematik‘ der Zeit zu kennzeichnen, ist meines Wissens eine begriffliche Prägung Tillichs. Der Grund dafür ist vor allem darin zu finden, dass er die Thematisierung in den Abschnitt der ‚reinen‘ Denkwissenschaften unter der Fragestellung, ob in der Phänomenologie eine weitere – neben der Logik und der Mathematik – Denkwissenschaft zu sehen sei, behandelt. 134 Ebd. 135 Dass Tillich der Phänomenologie hier vorwirft, sie versuche die Rationalisierung des Nichtrationalisierbaren und an anderer Stelle, sie sei Verstehen ohne Kritik (GW I, 235), erklärt sich m.E.

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gegen teilt Tillich die grundlegende Kritik, welche die Phänomenologie an dem Modell moderner Wissenschaft, das sich an Aufbau und Methoden der am Ideal der Mathematik ausgerichteten Naturwissenschaften orientiert, vorgebracht hat: „Die Forderung der Phänomenologie ist (…) das Symbol einer Abwendung von dem technischen Geist der Wissenschaft und einer ehrfurchtsvollen Hinwendung zu der lebendigen Wirklichkeit selbst.“136

Von dieser Kritik getragen sieht er auch seine eigene Konzeption der sogenannten Gestaltwissenschaft mit dem Unterschied, dass, selbst wenn es primär um ein Erfassen des Wesens eines Dinges geht, dieses zumindest – wie Tillich schreibt – 137 „nicht möglich ohne seinswissenschaftliche Erfahrung“ sei, wobei allerdings auch klar ist, dass „sie [die empirischen Gestalten; K.B] behaftet mit den Relativitäten der empirischen Wahrnehmung [bleiben; K.B] und nicht die Unbedingtheit 138 der reinen Form [erreichen; K. B.].“ Offensichtlich ist bereits in diesem noch sehr frühen Stadium der Ausbildung des philosophisch-theologischen Ansatzes ein beachtliches Interesse an den empirischen Wissenschaften bei Tillich zu beobachten, das bezüglich seiner metalogischen Methode von einer komplementären Struktur gegenseitiger Abhängigkeit lebt: Keine Wissenschaft – weder die empirisch arbeitenden Naturwissenschaften noch die Phänomenologie allein – kann die Frage nach dem Wesen allein von ihren methodischen Voraussetzungen beantworten, denn beide blenden jeweils einseitig wesentliche Elemente aus. M.E. ist es erstaunlich, wie Tillich, dem in der Literatur gelegentlich „massiv essentialisti139 sche Ansprüche“ und „Anti-Relativismus“ attestiert wird, sich – zumindest in dieser Hinsicht – im Namen eben dieses Empirischen gegen die philosophischantinaturalistische Hauptströmung seiner Zeit stellt, an der er – das soll nicht 140 verschwiegen werden – gleichwohl erheblichen Anteil hat. In Tillichs Augen verwechselt die Phänomenologie das Prinzip, unter dessen Vorherrschaft ein Gegenstand betrachtet wird, mit dem Gegenstand selbst. Das ‚Wesen‘ der Wirklichkeit wird als in den Dingen selbst liegend verstanden und mit dem Prinzip als einer in den Dingen liegende Bewegung auf die „unbedingte Form“ hin, verwech141 selt. Im Folgenden will ich mich diesem Prinzip Tillichs genauer zuwenden. von daher, dass die letztgenannte Bemerkung die Phänomenologie dem Neukantianismus als Kritik ohne Verstehen gegenüberstellt. Letztlich ist Tillich m.E. jedoch der Ansicht, der Phänomenologie ginge es zwar um Verstehen, da sie aber durch Schwierigkeiten in ihrer Methodik (siehe oben) diesen Punkt nicht zu leisten vermag, scheitere sie auch in Hinsicht auf das Verstehen. 136 Ebd. 137 Ebd., S. 134. 138 Ebd. 139 D.-M. Grube, Unbegründbarkeit Gottes?, S. 49. 140 Wir werden im Zusammenhang der Untersuchung von Tillichs Sinnphilosophie als Basis seiner Entfaltung der Geisteswissenschaften noch differenzierter auf die Einflüsse phänomenlogischer Ansätze auf Tillich zu sprechen kommen. Insbesondere vgl. Kap. I, 2.2.2 dieser Arbeit. 141 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 237. Vor dem hier geschilderten Hintergrund ist die Interpretation Schüßlers, in Tillichs Augen entspreche die Phänomenologie „der Forderung des Verstehens in

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(3) Die Zustimmung Tillichs zu spezifischen Ansätzen der Phänomenologie war – wie wir gesehen haben – auf der hier angesprochenen Ebene recht verhalten ausgefallen. Das lag vor allem daran, dass er hinter dem Versuch, die Phänomenologie als neue, grundlegende Wissenschaft zu etablieren, einen weiteren Versuch vermutete, das ‚Sein‘ in hinter den Erscheinungen liegende Formen aufzulösen. Das unmittelbar in den Gegenständen selbst liegende Wesen werde als primäres Prinzip des Seins verstanden und nicht als sekundärer Ausdruck eines ihnen innewohnenden, aber prinzipiell außer ihnen liegenden Prinzips. So komme die Phänomenologie letztlich nicht über die Bestimmung der Wirklichkeit als Ausdruck starrer Formen hinaus, in der die Bedeutung des Individuellen, des Neuen, 142 des Werdenden nicht mehr zur Geltung kommen kann. Dieser Preis ist Tillich zu hoch. Seine Konzeption von Sein ist entschieden anders geprägt: „Wo dagegen gerade in dem Individuellen und schöpferisch Werdenden das Wesen erkannt wird, da zerbricht das System der geschlossenen Formen, und es wird der lebendige Widerspruch von Denken und Sein zum Prinzip der Seinswissenschaften. An Stelle des statischen tritt das dynamische Weltbild in Gegenständen und Me143 thoden.“

Der Widerspruch besteht dabei für Tillich nicht zwischen durch Denkbestimmungen bereits erfasstem Sein einerseits und vollständig ungeformtem Sein auf der anderen Seite. So verstandenes Sein wäre „dem Denken und seinen Bestimmun144 gen völlig preisgegeben, hätte keinerlei Widerstandsmöglichkeiten.“ Widerstand kann aber nur entstehen, wenn Sein sich von anderem Sein unterscheidet, wenn Sein als bereits durch Denkbestimmungen strukturiert vorgestellt wird. Dabei kommt es aber darauf an – und das ist der entscheidende Punkt –, dass das Sein „sich als Einzelnes gefüllt hätte, das heißt, allen Denkbestimmungen seine individuelle Färbung, seinen eigentümlichen, jeder Bestimmung widerstrebenden Seins145 charakter gegeben hätte.“ Als solches ist es prinzipiell unendlich, denn es geht nun nicht mehr darum – es kann gar nicht mehr darum gehen – einen Grundstock an formalen Bestimmungen der Wirklichkeit auszuarbeiten und zum Maßstab für die Zuordnung von Gegenständen und Methoden zu machen. Eine Ord146 nung der „Mannigfaltigkeit des Individuellen“ gewinnen die Seinswissenschaften dagegen anhand der Zuordnung zu „einer typischen Grundstellung“, die Denken 147 und Sein zueinander einnehmen können. Ihren höchsten Ausdruck findet dieser Ansatz für Tillich in der Explikation seiner Gestalttheorie, in der er beide Elemengenügender Weise“ nicht vollständig nachvollziehbar, denn der Einwand Tillichs ist doch grundsätzlicher Art. Vgl. W. Schüßler, Gottesgedanke, S. 22f. 142 Vgl. Ebd., S. 237. 143 Ebd., S. 134. 144 Ebd., S. 135. 145 Ebd., S. 136. [Hervorhebung K.B.] 146 Ebd., S. 135. 147 Vgl. Ebd., S. 136.

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te – sowohl das Element der Allgemeinheit als auch der Individualität – in höchst möglichen Maße aufgenommen und verbunden sieht. Ich werde später im Zusammenhang der näheren Beschreibung der Seinswissenschaften darauf zurückkommen. Die kämpferische Metaphorik und der gedankliche Grundstock der Idee, auf die Tillich zurückgreift, – er spricht etwa vom „Götterkampf“ zwischen Denken und Sein, davon, dass sich das Denken auf das Sein „stürzt“, um es zu „verzeh148 ren“, sowie vom „Widerstreit zwischen Denken und Sein“ – um den ‚dynamischlebendigen‘ Charakter des Seins deutlich zu machen, entlehnt er aus einer ganzen Reihe von Vordenkern, deren Ansätze er für seinen wissenschaftssystematischen Ansatz fruchtbar zu machen sucht. Durch eben diese Einarbeitung in den systematischen Gedanken des SdW werden aber sowohl Wortwahl als auch die inhaltliche Ausformung so spezifisch, dass es schwer fällt, einzelne Elemente klar umrissen zu extrahieren. So muss an dieser Stelle der Hinweis darauf genügen, dass Tillich sich sowohl auf mystische Traditionen als auch auf lebensphilosophische Theoreme seiner Zeitgenossen beruft. Auf Seiten der Mystik wäre in erster Linie an das Werk Jakob Böhmes zu denken, das Tillich sehr geschätzt hat und dessen 149 Einflüsse nicht zu gering angesetzt werden dürfen. Er selbst hat die Faszination, die Böhme auf ihn ausgeübt habe, wie folgt charakterisiert: es sei zwar „often difficult to uncover the rational element in this mixture [of speculative vision, mystical experience, psychological insight and alchemist traditions; K.B], but it is there 150 and it had an astonishing influence on the history of Western philosophy.“ In Weiterführung des Denkens Böhmes geht es ihm bei seinem Konzept des Seins – sowohl im SdW als auch später bei der Ausarbeitung der ontologischen Elemente 151 Dynamik und Form im Rahmen der Systematischen Theologie – um den Versuch einer rationalen Annäherung an das Irrationale mit den Mitteln der Sprache des Symbols, ohne dabei das Wesen des Irrationalen als Irrationales zu zerstören. Wird als das bestimmende Charakteristikum des Seins eben dieses Element des dynamischen Werdens als das Irrationale hervorgehoben, indem darüber das Denken des Nichts als des noch-nicht-Seienden integriert wird, wie Tillich das an dieser Stelle tut, dann ist darauf hinzuweisen, dass eine erstaunliche Kontinuität

148 Ebd., 119; 135 149 Zur Zusammenstellung einiger Aspekte der Theologie Tillichs, in der er Anregungen von Böhme weiterentwickelt– etwa der Trinitätslehre, der Pneumatologie, der Schöpfungslehre und Geschichtsphilosophie sowie der Eschatologie – vgl. John P. Dourly, A Critical Evaluation of Paul Tillich’s Appropriation of Jakob Boehme, in: Gerd Hummel/Doris Lax (Hg.), Mystisches Erbe in Tillichs philosophischer Theologie/Mystical Heritage in Tillich’s Philosophical Theology: Beiträge des VIII. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums Frankfurt/Main u.a. 2000, S. 191–206. 150 John Joseph Stoudt, Sunrise to Eternity. Jacob Boehme: His Life and Thought, with a Forword from Paul Tillich, Pennsylvania 1957, S. 7 151 Vgl. P. Tillich, ST I, S. 210–214.

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zwischen der Fassung des Seins, wie es hier im SdW entfaltet wird, und der Rolle, 152 die es später in der ST spielt, besteht. (4) Neben diesen Hinweisen auf mystische Aspekte in der Konzeption des Seinsbegriffes muss noch einen Schritt weiter gegangen werden, um den Zusammenhang zwischen den beiden Ebenen des Seinsbegriffs, wie sie für die frühen Werke Tillichs typisch sind, darzustellen. Dazu ist es m.E. notwendig, die engen Grenzen des SdW zu überschreiten, und zunächst die Marburger DogmatikVorlesung (im Folgenden: MDV) von 1925 mit in die Betrachtung einzubeziehen, denn auch dort wird diese Thematik unter der Überschrift ‚Das UnbedingtSeiende als Ursprung des Seienden‘ (Die Macht Gottes: Die Gottheit Gottes und 153 die Stufen des Seins) in ihrer wechselseitigen Beziehung zueinander verhandelt. Dabei sind zunächst zwei grundlegende Gedanken vorauszuschicken: einmal überschreitet Tillich in der MDV den engeren Kontext der Religionsphilosophie, wie er für den Rahmen des SdW kennzeichnend ist, in Richtung auf die materialen Fragen der Theologie, indem er den Seinsbegriff als dogmatischen Grundbegriff einführt – ohne dabei die philosophische von der theologischen Frage trennen 154 zu wollen. Die Thematik der doppelten Struktur des Seinsbegriffes, wie wir sie im SdW vorgefunden haben, wird in der MDV unter den Stichworten des ‚Tragenden‘ als des ‚Unbedingt-Seienden‘ als Gotteslehre einerseits und des ‚Getragenen‘ als des ‚Seienden‘ im Sinne des Kreatürlichen andererseits verhandelt. Dabei kommt es Tillich hauptsächlich auf die Art der Zuordnung dieser beiden Ebenen an, denn die Aussage, dass „jedes Seiende […] als solches ein Sein in sich, ein 155 Selbstsein, auf Grund dessen ihm die Qualität des Seienden zukommt“ hat, das sich in der Summe des Seienden zum „Weltsein [… als dem; K.B.] universalen Ort 156 des Selbstseins der Dinge“ ausformt, erfasst den vollen Umfang dessen, was Tillich in seinen Begriff von Sein integriert, nicht. Ihm fehlt das Element der grundlegenden Erschütterung, das als Durchbruch des Unbedingten in seine Theorie eingeführt wird, wobei das „unbedingt Angehende in ihr [der Welt; K.B.] 157 zur Erscheinung kommt.“ So kommt Tillich zu dem Schluss „dass im Ding wesensmäßig dieses beides enthalten ist, insofern nämlich die Offenbarungskorrelation wesensmäßig ist und die weltliche Korrelation eine Möglichkeit der Isolie158 rung“ darstellt. Die Perspektive, aus der Tillich in der MDV argumentiert, ist somit klar: ihm geht es primär darum, das Sein in der Offenbarungskorrelation in den Blick zu bekommen, ein Absehen von dieser Perspektive ist zwar grundsätz152 Ebd., S. 220f. 153 Vgl. P. Tillich, MDV, in: E XIV, S. 148–176. 154 Ich werde im Kontext von Kap. I, 2.1.3 und 2.2.2 dieser Arbeit bei der Thematisierung des Elementes des Geistes und seiner Ausdifferenzierung als Geisteswissenschaften näher darauf eingehen, wie sich der Religionsbegriff auf diese im Einzelnen auswirkt. 155 P. Tillich, MDV, in: E XIV, S. 126. 156 Ebd. 157 Ebd., S. 19. 158 Ebd., S. 127.

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lich denkbar , kann aber letztlich nur dahin führen, dass – etwa in einer Erkenntnisbeziehung – „das Eindringen auf das Sein der Dinge im Sinne des sie Aufnehmens (…) zu dem Punkt [treibt; K.B.], wo die Unerfülltheit ihres Seins mit zulänglichem Seinsgehalt offenbar wird, wo die Weltlichkeit das Selbstsein der 160 Dinge über sich hinaustreibt.“ Der zweite wichtige Aspekt, der aller Betrachtung – sowohl des Unbedingt-Seienden als auch des Bedingten – zu Grunde und voraus liegt, ist die genaue Kennzeichnung der Perspektive, von der her das Denken einsetzt, die keinesfalls aufgegeben werden kann und darf, wie er etwa im Rahmen 161 der Behandlung der rationalistischen Fassung der Gottesbeweise vorführt. Diese grundlegende Perspektive ist die Perspektive des Getragenen auf das Tragende, des Kreatürlichen auf den Grund seines Seins, das es umfasst und in seinem SoSein erschüttert: „Der Stand der Kreatürlichkeit ist (…) nicht Stand der Weltlichkeit. Er ist Erschütterung der Weltlichkeit. (…) er ist zugleich Hinwendung zu dem 162 die Weltlichkeit unbedingt tragenden Sein.“ Dem Stand des Kreatürlichen ist eigen, dass es gleichzeitig unter einem Ja und unter einem Nein steht: Die prinzipielle Verschiedenheit des Kreatürlichen vom Unbedingt-Seienden, das „Anders163 sein ist (…) der Möglichkeitsgrund des Selbstseins und Weltseins.“ Zugleich eignet dem Kreatürlichen – eben durch sein Kreatursein als eines Seins, das sich als vom ihm kategorial Fremden, Unterschiedenen her versteht – die „Verneinung des 164 Welt- und Selbstseins.“ Mit diesen beiden Punkten – der Wahrung der eigenständigen Kreatürlichkeit einerseits und der grundsätzlichen Bezogenheit dieser Kreatürlichkeit auf den Durchbruch der Offenbarung – sind die wesentlichen Aspekte genannt, so dass man mit T. Kleffmann sagen kann, „dass sich hier die (…) Hauptintention der Marburger Dogmatik entfaltet, schöpferische Selbstbe165 stimmung und Hinwendung zu Gott zusammenzudenken.“ Soll im Folgenden dargestellt werden, wie Tillich das kreatürliche Sein näher bestimmt, dann ist zunächst zu beachten, dass wir uns hier auf der Ebene des von Tillich so benannten ‚reinen Seins‘ befinden, d.h. das Sein wird betrachtet unter Absehung des Zweideutigwerdens des Seins unter den Bedingungen der Existenz, die der Sünde und Schuld unterworfen ist. Dies entspricht durchaus der Konzepti159 Tillich hält es faktisch für möglich, „weil unsere Lage [dem; K.B] entspricht und schon das Wort Offenbarung auf diese Lage hindeutet.“ Ebd. 160 Ebd., S. 127f. 161 „Es wird zur Zeit der Gottesbeweis in höherem Maße als Ausdruck der Gottlosigkeit betrachtet als die Gottesleugnung. Das ist richtig, wenn ein Beweis im rationalen Sinn gemeint ist. Es ist unrichtig, wenn der eigentliche Sinn der sogenannten Beweise verstanden wird. Denn dann sind sie Ausdruck dafür, dass Welterkennen keine Stätte ist, auf die man sich vor Gott flüchten könnte, sondern dass die Erschütterung, die von ihm ausgeht, auch das Denken betrifft.“ Ebd., S. 148. 162 Ebd., S. 130. 163 Ebd., S. 139. 164 Ebd. 165 T. Kleffmann, Lebensbegriff, S. 441. In diesem Aspekt sieht Kleffmann allerdings nicht nur das Hauptthema der Marburger Dogmatik, sondern auch die Fassung der Rezeption des Lebensbegriffs Nietzsches bei Tillich zusammengefasst, worauf hier nicht weiter eingegangen werden kann.

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on, wie sie der Entfaltung des Seins im SdW zu Grunde liegt, da das Thema von Sünde und schuldhafter Verstrickung in die Zweideutigkeiten des Seins dort weitestgehend unbeachtet bleibt. Deshalb soll es nun unternommen werden, das oben beschriebene ‚Prinzip des Seins‘, das vor allem durch seine schöpferischen Eigenschaften ausgezeichnet ist, da es – wenn auch in modifizierter Form – auch für Tillichs Konzept der Seinswissenschaften entscheidend ist, zu untersuchen. Kreatürliches Sein wird dabei von Tillich unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten in den Blick genommen: einmal werden mit ‚Mut‘ und ‚Schwermut‘ zunächst die metaphysischen Qualitäten des Seienden untersucht. Zum anderen wird die Entsprechung dieser metaphysischen Qualitäten in der Innerlichkeit des kreatürlich Seienden, die für Tillich in der ursprünglichen Einheit von Lust und Schmerz ihren vollkommenen Ausdruck in der Einheit von Todesschmerz und Schöpfungslust findet, entworfen. Diesen Ansätzen entspricht es nun, wenn Tillich im Anschluss daran die ursprüngliche Perspektive, die vom Kreatürlichen zum Unbedingten verläuft, umkehrt und nun vom Unbedingt-Seienden aus seinen Blick auf das Kreatürliche wendet, um seine Gotteslehre zu entfalten. Schwermut und Mut werden zunächst als zwei aufs Engste miteinander verknüpfte Qualitäten alles Seienden verstanden. Da das kreatürliche Sein einerseits durch „die Uner166 fülltheit (…) mit Seinsgehalt und Lebensgehalt“ gekennzeichnet ist, wird es mit seinem defizitären Weltsein konfrontiert und erfährt darin seine Erschütterung vom Unbedingten her. In diesem Element der Erschütterung findet aber gleichzeitig auch die Hinwendung zu dem das Bedingte unbedingt Erschütternde selbst 167 statt. Letztlich handelt es sich um das Anerkennen des eigenen Getragenseins im Gegenüber zum Tragenden, das in diesem Anerkennen bejaht wird, was Tillich 168 als Mut bezeichnet. Die in dem Weltsein der Dinge liegende Schwermut schlägt somit automatisch um in den Mut, so dass mit der Entfaltung des Begriffes der Schwermut in der Interpretation, die Tillich ihm gibt, zwangsläufig auf die des Mutes verwiesen ist. Dieser metaphysisch-qualitativen Ebene entspricht die Betrachtung dieses Vorgangs auf der Ebene der Innerlichkeit des kreatürlich Seienden: Tillich beschreibt dies als die ursprüngliche Einheit von Lust und Schmerz, die er „als Ausdruck der reinen Kreatürlichkeit, des Urstandes, des eindeutigen

166 P. Tillich, MDV, in: E XVI, S. 128. Vgl. zur Nietzsche-Rezeption der Begriffe Schwermut und Mut durch Tillich bei T. Kleffmann, Lebensbegriff, S. 453–457. 167 Über die Art der Erschütterung teilt Tillich wenig mit. Mit Kleffmann, Lebensbegriff, S. 457: „Das theologische Problem ist (…), dass Tillich eine solche Unmittelbarkeit nicht als in einer Kommunikation von Gott und Mensch vermittelt denkt, sondern mit einem Moment der Identität beider bloß voraussetzt. So ist bei Tillich auch letztlich der Unterschied, dass es sich bei dem Mut der Selbstbejahung um eine Möglichkeit des Gottesverhältnisses handelt, statt dass sich das Subjekt als Schöpfer der Seins- und Lebensfülle selbst als unbedingt setzt, nur postuliert. “ 168 „Es ist ein Mut in allem Lebendigen und allem Seienden überhaupt, der Mut, dieses ihr bedingtes Sein, ihren Mangel an Seins- und Lebensfülle zu bejahen als Getragenes von der unbedingten Seins- und Lebensfülle.“ P. Tillich, MDV, in: E XIV, S. 129.

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Ja“ auffasst. Sie ist „jederzeit erfahrbar in der Tiefe unseres unmittelbaren Le170 bens“ , durch die lustvolle Zuwendung zu einer Sache, mit der gleichzeitig das Versagen derselben Zuwendung zu anderen gleichwertigen Dingen einhergeht. Jeder Aspekt der Lust trägt gleichzeitig den „der Mühe, der Hingabe, des Op171 fers“ in sich, durch den die Lust als schmerzhafte Lust erfahren wird. Zu seinem höchsten Ausdruck kommt dieser Zusammenhang „in der Einheit aus Todes172 schmerz und Schöpfungslust“ , denn solange „der Mut des Seins lebendig [ist; 173 K.B.], so ist der Tod Schmerz.“ Die so beschriebene fundmentale Einheit dieser beiden Elemente sieht Tillich in der Fassung des ‚Dionysischen‘ gegeben, wie 174 175 Nietzsche es in seinem Spätwerk entworfen hat. Mit der Aufnahme dieses Motivs in die Dogmatik wird für Tillich die von Nietzsche kolportierte Gegenüberstellung von Dionysischem und dem Gekreuzigten hinfällig, denn er interpretiert „das im Dionysos-Symbol Gemeinte, die Einheit von Todesschmerz und schöpferi176 scher Lust“ als den „tatsächliche[n; K.B.] Ausdruck der reinen Kreatürlichkeit.“ Tod, Schmerz und Leiden sind bei ihm nicht als Folge der Sünde verstanden, vielmehr gehören sie zum urständlichen Sein hinzu. Erst unter den Bedingungen der Existenz bekommen sie ihren Charakter der Zweideutigkeit, in dem die ursprünglich unverzerrte Einheit aber weiter lebendig bleibt. Das hat zur Folge, dass Tillich Schöpfung nicht als einen in oder vor der Zeit liegenden Akt beschreibt, der sich in kreatürlichen Kategorien etwa der Zeit, der Substanz oder Kausalität 169 Ebd., S. 132. Dass diese beiden als einander widersprechend verstanden werden, führt er ebenfalls auf ihre postlapsarischen Status in der Existenz zurück. Ebd., S. 133. 170 Ebd. 171 Ebd. 172 Ebd., S. 134. Vgl. zur Nietzsche-Rezeption der Polarität von Todesschmerz und Schöpfungslust bei Tillich: T. Kleffmann, Lebensbegriff, S. 462–464. 173 P. Tillich, MDV in: E XIV, S. 136. 174 Das Verhältnis von Tillich zu Nietzsche unter besonderen Berücksichtigung des Lebensbegriffs ist kürzlich ausführlich behandelt worden bei: T. Kleffmann, Lebensbegriff, besonders S. 410– 499. 175 Eine der Stellen, auf die Tillich sich hier bezieht, ist sicher in den Nachgelassenen Fragmenten zu finden, wo es heißt: „Dionysos gegen den ‚Gekreuzigten‘: da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums, - nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung… im anderen Fall gilt das Leiden, der ‚Gekreuzigte als der Unschuldige‘, als Einwand gegen das Leben, als Formel seiner Verurteilung. Man errät: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn… Im ersten Falle soll es der Weg sein zu einem seligen Sein, im letzteren gilt das Sein als selig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen (…)‚ der Gott am Kreuz‘ ist ein Fluch auf Leben, ein Fingerzeig sich von ihm zu lösen.“ Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1888, Kritische Gesamtausgabe 8/3, Berlin u.a. 1972, S. 58 Fragment 14 [89]. 176 P. Tillich, MDV, in: E XIV, S. 136. Tom Kleffmann hat die von Tillich aus Nietzsches Philosophie übernommenen Elemente unter dem Stichwort der ‚autonomen Lebensimmanenz‘ zusammengefasst, die von Tillich durch die systematische Überführung in seine Begrifflichkeit in den MDV weitestgehend ontologisiert werde. Dem schließe ich mich an. Vgl. Tom Kleffmann, Lebensbegriff, S. 423f. Zum Dionysischen: Ebd. S. 464ff.

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erfassen ließe. Vielmehr handelt es sich bei Schöpfung „um das die kategorialen 178 Beziehungen erschütternde Verhältnis“ überhaupt, so dass das Symbol ‚Schöpfung‘ als Ausdruck „für eine bestimmte, in der Offenbarung erfasste ständige 179 Qualifiziertheit des Seienden“ zu deuten ist. Diese Qualität des kreatürlich Seienden drückt sich im Verhältnis zum Unbedingt-Seienden jenseits der kreatürlichen Kategorien in der Einheit von Freiheit und Schicksal aus: Freiheit wird in diesem Zusammenhang „als unser Stehen als Selbst im Unbedingten, unser 180 Schicksal als Stehen in Verbundenheit des Konkreten bezeichnet.“ Über das Unbedingt-Seienden als des Tragenden können vom Standpunkt der Kreatürlichkeit für Tillich in symbolischer Form einige qualitative Merkmale angedeutet werden. Der Gedanke der Aseität Gottes wird von Tillich im Gegensatz zur Konzeption des actus purus mit dem Begriff der Unerschöpflichkeit ausgelegt, die sich einerseits in ein Element „der Gottheit Gottes gegenüber aller Kreatur“ 181 und andererseits „der Gottheit Gottes in Beziehung zur Kreatur“ gliedert. Unter den die unüberbrückbare Distanz ausdrückenden Symbolen sind für unsere Fragestellung die Symbole der Klarheit und Verschlossenheit, auf Seiten der die fundamentale Bezogenheit auf das Kreatürliche ausdrückenden Symbole die der Tiefe und Offenheit Gottes entscheidend. Klarheit und Verschlossenheit sichern dabei einerseits die eindeutige Unterscheidbarkeit Gottes von jeder Kreatur: „Wir könne dieses religiös auch so ausdrücken, dass, wenn wir in der Offenbarung das uns unbedingt Angehende erfahren, wir es mit keiner kreatürlichen Beimischung erfahren, dass, wenn wir zu Gott kommen, wir der Dunkelheit des Endlichen schlechthin entgangen sind oder der Sphäre des Tragischen durchaus enthoben sind. Der Satz der Klarheit Gottes ist der eigentliche Sieg über das Dämonische der Religionen.“182

Verschlossenheit wird andererseits „im Sinne der nicht-Bedürftigkeit eines anderen“ verstanden: „nur wenn Gott diese Verschlossenheit gegen uns hat, ist [er] der 183 uns unbedingt Angehende.“ Dem gegenüber stehen die Elemente, welche die Überwindung der Schwermut und die Aufnahme der aus ihr resultierenden Verzweiflung durch den Mut erst ermöglichen: die Tiefe und die Offenheit Gottes in seiner Verbundenheit zur Kreatur. Mit der Tiefe wird der „Sinnabgrund, die Un184 erschöpflichkeit“ in das Gottesbild hineingenommen, die verhindert, dass Gott und die Welt in einen abgeschlossenen Sinnzusammenhang aufgelöst werden können. Die Tiefe sorgt im Inneren des Unbedingt-Seienden dafür, dass die Klar177 Vgl. P. Tillich, MDV, in: E XIV, S. 142. 178 Ebd. 179 Ebd. 180 Ebd., S. 154. 181 Ebd., S. 153. 182 Ebd., S. 150. 183 Ebd., S. 153. 184 Ebd., S. 151.

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heit nicht zur Leere wird, denn in ihr „liegt die Möglichkeit der Kreatur.“ Ergänzend steht die Offenheit dafür, „dass seine [Gottes; K.B.] Geschlossenheit nicht 186 Ausschließung, sondern Setzung von Kreatur ist.“ Diese Eigenschaften bilden den Grundstock für den Versuch, „die eigentliche 187 göttliche Gestalt, sein Bild“ zu entwerfen. Tillich tut dies unter der Verwendung 188 der drei Symbole Leben, Person und Wesen , wobei jedes für das UnbedingtSeiende gewählte Symbol das Kriterium erfüllen muss, der vollkommene Ausdruck seiner Entsprechung auf der Seite des Kreatürlichen zu sein. Ansonsten könnte es seinen Anspruch, Ausdruck des das Kreatürliche Tragende zu sein, nicht erfüllen. Das erste Symbol, das Tillich an dieser Stelle einführt, ist das Sym189 bol ‚Leben‘ als „die Vollkommenheit des unmittelbar Seienden.“ Bei der Entfaltung dieses Aspekts trennt Tillich zwischen dem Organischen und dem Anorganischen: „Während das Organische in seiner Durch-sich-Selbstheit immer ein stiller 190 Hinweis auf die Klarheit Gottes ist“ , bemüht er sich in Bezug auf das Anorganische zu verdeutlichen, dass es sich dabei nicht um ein widergöttliches Prinzip handelt, sondern dass und auch wie es zur reinen Kreatürlichkeit hinzugehört. Das Anorganische wird dabei dem Element der Tiefe zugeordnet: es trägt die Möglichkeit der Entwicklung auf eine höhere Stufe – etwa des Organischen – in sich und damit zeugt es „von dem Emporringen des Lebendigen in der Kreatur aus dem Unlebendigen und von der Notwendigkeit des Lebendigen, zurückzukeh191 ren zum Unlebendigen.“ Es ist somit also der Hinweis auf die Endlichkeit des organischen Lebens, der die Hineinnahme des Anorganischen in die Deutung des Kreatürlichen erfordert. Denn als solches kann es „in eminenten Maße Symbol 192 des Seienden als Sein“ werden. Mit dieser Integration des Irrationalen über den Begriff des Dionysischen in seine Konzeption des Seins positioniert sich Tillich eindeutig gegenüber den Naturwissenschaften im Sinne lebensphilosophischer Ansätze: er versteht „die ma193 thematische Abstraktion als das zweite, abgeleitete [Recht; K.B.].“ Dem intuitiv194 unmittelbaren Zugang als „Weg in die Tiefe des Lebendigen“ wird der Vorrang vor dem Experiment gegeben. Denn wird die eigene Lebenswirklichkeit zum Ausgangspunkt genommen, dann „kann es nicht ausbleiben, dass sich der Sinngrund 185 Ebd., S. 155. [Umstellung im Text K.B.] 186 Ebd. Neben den Paaren Klarheit – Tiefe und Offenheit – Abgeschlossenheit thematisiert Tillich noch das Niedrigkeit – Herrlichkeit in ihrer Bezogenheit. Vgl. Ebd., S. 155f. 187 Ebd., S. 165. 188 Ich möchte im Rahmen dieses Abschnitts lediglich kurz auf das Symbol des Lebens eingehen. Es wird im weiteren Verlauf der Arbeit darauf zurückzukommen. 189 Ebd., 166. Zur Nietzsche-Rezeption des Begriffes des Lebendigen bei Tillich vgl. T. Kleffmann, Lebensbegriff, S. 490–495. 190 P. Tillich, MDV, in: E XIV, S. 166. 191 Ebd. 192 Ebd., S. 167. 193 P. Tillich, RLG in: GW X, S. 21. 194 Ebd.

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der Dinge, wo er wirklich angerührt wird, als ihre Ewigkeitsbeziehung, als ihr 195 religiöser Gehalt offenbart.“ Zudem ist neben dem irrationalen Element auch das Faktum des Individuellen, das Tillich im SdW als zur Grundstruktur des Seins gehörig gekennzeichnet hatte, eingeholt. Diese Betonung sowohl des Irrationalen als auch des Individuellen hat erhebliche Konsequenzen für Tillichs Konzept der Seinswissenschaften, die er als von der zentralen Kategorie der Gestalt getragen sieht, in der diese beiden Elemente in ihrer vollen Ausprägung erscheinen. 3.1.2.3

Der Geist und die Metalogik

Tillich verfolgt in seinem SdW – wie schon gezeigt werden konnte – offensichtlich nicht den Anspruch, als quasi Universalgelehrter aufzutreten, der mit seinem Projekt angetreten ist, alle vorhandenen und möglichen Formen des Wissens in ihren Abhängigkeiten darzustellen. Vielmehr stellt es den Versuch dar, eine Idee von Wissen zu entwickeln, die auch Wege zwischen den einzelnen Disziplinen aufweist, aber vor allem deren Abhängigkeit von der Konzeption der Geisteswissenschaften aufzuzeigen und diese als normierende Kraft zu etablieren. Dieser Umstand war bereits bei der Darstellung der beiden Elemente des Wissens Denken und Sein deutlich geworden. Welches Verstehen von Geist nun Tillichs geisteswissenschaftlichen Ansatz zu Grunde liegt und wie er es unternimmt, seinem Projekt von daher Legitimität zu verleihen, dies darzustellen soll Aufgabe des folgenden Abschnittes sein. Zunächst ist auf Tillichs grundsätzliche Erwägungen zum Geist und seinem Verhältnis zu Denken und Sein zusammen mit den Grundlagen der Geisteswissenschaften im SdW einzugehen (1). Im zweiten Schritt möchte ich Tillichs Konzeption mit den Positionen, die Wilhelm Dilthey und Heinrich Rickert in der Diskussion um die Stellung und Ausarbeitung der Geisteswissenschaften vertreten haben (2). Vor diesem Hintergrund werde ich dann auf Tillichs Konzept des Unbedingten, das für die weitere Ausarbeitung der Geisteswissenschaften entscheidend ist, eingehen. Dazu möchte ich Tillichs Fassung des Unbedingten mit der Konzeption des Übergegensätzlichen bei Emil Lask konfrontieren. (3) Abschließend soll noch ein Ausblick auf die ‚zweideutige Einheit von wesensfremden und wesengemäßen Elementen im Geist‘ geworfen werden, wie sie von Tillich in den MDV entfaltet wird (4). (1) Der Geist wird von Tillich zunächst als zweierlei beschrieben: einmal ist er ein abgeleitetes Phänomen, denn sein Verstehen ist abhängig von der „metalogischen Erfassung der beiden Grundelemente des Wissens. Das Wesen des Geistes, seine innere Spannung, sein dynamischer Charakter, beruht auf dem unendlichen 196 Widerspruch von Denken und Sein.“ Andererseits darf Geist aber nicht als eine an logische oder psychologische Phänomene angeschlossene Folge missverstanden werden, denn wegen der betonten Abhängigkeiten von der metalogischen Fassung 195 Ebd. 196 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 210.

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von Denken und Sein verkörpert er etwas eigenes, das jenseits der grundsätzlichen Bezogenheit von Denken und Sein aufeinander steht, das ihn vor jedem anderen Sein auszeichnet: der Geist „ist Selbstbestimmung des Denkens im Sein. (…) Geist 197 ist Form des seienden Denkens.“ Die Frage nach der Verortung des Geistes macht Tillich zudem im Anschluss seiner Ausführungen zum Seinsbegriff deutlich: Dort hatte er die für die Identifikation eines bestimmten Seins bestehende Notwendigkeit der Anfüllung des Seins mit Denkbestimmungen betont, die in ihrer ausgeprägtesten Form in das Sein der ‚geisttragenden Gestalt‘ gipfelte, in der 198 „das Denken als Denken, als gültige Form verwirklicht wird.“ Diese Voraussetzung für die Verwirklichung des Geistes ist dann erfüllt, wenn es zur „vollkommene[n; K.B.] Loslösung eines Seienden von der unmittelbaren Gebundenheit an seine endliche Form“ und zu Hinwendung zu etwas außer ihm Liegenden, kommt 199 – was Tillich als die Verwirklichung von „Freiheit“ versteht. Nur durch die Lösung der Bindung an die unmittelbaren Gegebenheiten des Seins entsteht die Freiheit der geisttragenden Gestalt, so dass das Denken durch seine Freiheit von der Unmittelbarkeit des Seins zur freiheitlichen Hinwendung zu den unbedingten Forderungen des Geltenden, das dem Seienden gegenübertritt, ohne sich von ihm zu trennen und damit seine Elemente Individualität und Fülle zu verlieren, über200 gehen kann. Dabei denkt Tillich diesen Vorgang nicht als feste Qualität in dem Sinne, als dass von einem Seienden als von einem ‚Geist Habenden‘ gesprochen 201 werden könnte. Vielmehr wird Geist als ein Geschehen verstanden. Geist hat 197 Ebd. 198 Ebd. Tillichs Gestaltbegriff wird im Rahmen der Explikation der Methoden und Konzepte der Seinswissenschaften genauer zur Sprache kommen. Vgl. Kap. I, 2.2.1 dieser Arbeit. 199 Ebd. Der sich hier andeutende Übergang zwischen den Dingen des Seins zum Phänomen der Freiheit wird später für die Diskussion der Anthropologie zwischen Tillich und Goldstein von herausragender Bedeutung sein. Vgl. Kap. III, 2. dieser Arbeit. 200 Tillich verwendet für die Beschreibung dieses Vorgangs den Begriff Akt. In diesem Aspekt berührt sich seine Konzeption stark mit dem Ansatz Max Schelers. Dieser hatte den Begriff ‚Akt‘ zur Markierung einer Sphäre, die von der psychophysischen zwar wesentlich unterschieden ist, aber trotzdem mit ihr in enger Verbindung steht, verwendet. Dabei differenziert er zwischen Akten und Funktionen: „Akte entspringen aus der Person in die Zeit hinein; Funktionen sind Tatsachen in der phänomenalen Zeitsphäre und indirekt durch Zuordnung ihrer phänomenalen Zeitverhältnisse auf die messbaren Zeitdauern der in ihnen gegebenen Erscheinungen selbst messbar. Zu den Funktionen gehören z.B. das Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, alle Arten des Aufmerkens, Bemerkens, Beachtens (…), des vitalen Fühlens usw. – nicht aber echte Akte, in denen etwas ‚gemeint‘ wird, und die untereinander einen unmittelbaren Sinnzusammenhang besitzen.“ Funktionen können dabei „Gegenstände von Akten sein, wie z.B. wenn ich mir mein Sehen selbst zu anschaulicher Gegebenheit zu bringen suche.“ Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, München u.a. 1966, GW II, S. 387; Kurztitel: M. Scheler, Personalismus. 201 Dieser Aspekt von Tillichs Konzept des Geistes steht offensichtlich ebenfalls in Korrespondenz zu Schelers Entwurf der Aktlehre: hatte dieser den Akt als das schlechthin Nicht-Gegenständliche verstanden, so nahm er für „alles, was das Wesen von Akt, Intentionalität und Sinnerfülltheit hat – wo immer es sich finden mag (…) den Terminus Geist in Anspruch.“ M. Scheler, Ebd., S. 388f. Ähnlich funktional ist auch Tillichs Verständnis von Wahrheit, das er in unmittelbarer Abhän-

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man nicht, Geist ereignet sich und zwar immer wieder neu: „Jeder geistige Akt [ist; K.B.] ein Durchbruch durch die Grenze des unmittelbar Gestalthaften; ein 202 Durchbruch, aber kein Zerbrechen.“ Das impliziert zudem, dass es bei der Verwirklichung von Geist nicht um die Vernichtung oder Ausschaltung des Seins geht, vielmehr versucht Tillich mit seiner Konzeption „die Verbundenheit des Geistes 203 mit dem Sein“ deutlich zu machen. Die Art und Weise, wie Tillich diese Verbundenheit von Sein und Geist beschreibt, trägt nun die Pointe des Geistbegriffes: Letztlich geht es Tillich mit seinem Konzept des Geistes um die spezifische Fassung der Verbindung von Allgemeinem und Besonderen, von „Konkretheit und Fül204 le, seiner Individualität und Unendlichkeit“ , die nur in Verbindung mit und an dem empirischen Sein zutage tritt. Die Freiheit der geisttragenden Gestalt macht sie sowohl zu etwas grundsätzlich Eigenständigem, das aber immer und insofern, als dass das Denken als reine Form unabhängig vom Sein vorgestellt wird, gleichzeitig auf das Allgemeine ausgerichtet ist, das dieses stets in seiner individuelle 205 Prägung aufnimmt. Dieses Verständnis von Geist in Verbindung mit Gestalt entwickelt Tillich unter dem Stichwort der Schöpfung weiter, unter dem er jeden geistigen Akt zusammenfasst: zunächst lehnt er das Verständnis von Schöpfung als eines einmaligen, in der Vergangenheit liegenden, das Dasein der Dinge konstituierenden Aktes ab, denn dieses Verständnis scheidet den Begriff des Schöpferischen letztlich aus dem Versuch des Verstehens der Wirklichkeit aus. Dagegen versucht er, den Begriff der Schöpfung durch seine Entfaltung der Lehre von Geist und Gestalt als „eine[r] bewusste[n; K.B.] Rückwendung zu der schöpferisch206 urständlichen Weltauffassung“ zu entwickeln. Dafür unternimmt er den Versuch, die äquivalenten Kausalität, die „mit Gesetz und Notwenigkeit an dem Schöpferi-

gigkeit dazu entfaltet: sie wird nicht als System abstrakter Gültigkeiten“ verstanden, sondern als „eine Funktion, die sich nur konkret verwirklicht und die sich in jeder Schöpfung richtig verwirklicht.“ P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 215. 202 Ebd., S. 211. In diesem Zusammenhang zitiert Tillich später in der ST Nietzsche: „Geist ist Leben, das selbst ins Leben schneidet; an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen.“ Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Von den berühmten Weisen, Kritische Gesamtausgabe 6/1, S. 134, 3f., Berlin 1968. Bei Tillich vgl. ST III, S. 39. 203 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 211. 204 Ebd. 205 Vgl. Ebd. Die Struktur von Tillichs Überlegungen stehen auch in diesem Punkt Schelers Analyse des Personbegriffs sehr nahe, wo es etwa heißt: „Jedes (…) Erleben aber (…) enthält also immer innere und äußere Wahrnehmungen, Leibbewusstsein, ein Lieben und Hassen, ein Fühlen und Vorziehen, ein Wollen und Nichtwollen, ein Urteilen, Erinnern, Vorstellen usw. Alle diese Scheidungen (…) geben (…) nur abstakte Züge am konkreten Personakt wieder. So wenig die Person als ein bloßer Zusammenhang ihrer Akte zu verstehen ist, so wenig auch ein konkreter Personakt als die bloße Summe oder der bloße Aufbau solcher abstrakter Aktwesen. Vielmehr ist es die Person selbst, die in jedem ihrer Akte lebend, auch jeden voll mit ihrer Eigenart durchdringt.“ M. Scheler, Personalismus, in: GW II, S. 385. 206 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 212.

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schen vorbeigeht“ , durch sein Konzept der „produktive Kausalität, [die; K.B.] 208 Individualität und Freiheit“ zu integrieren sucht, für ein umfassenderes Verständnis der Wirklichkeit einzuholen als er es im traditionellen Ideal der Naturwissenschaften vorliegen sieht. Dazu verweist er auf die Notwendigkeit, im schöpferischen Akt des Geistes die Elemente des Wissens in ihrer metalogischen Fassung – als das Unbedingt-Wirkliche und das Unbedingt-Geltende – zu integrieren, so dass diese „Einheit von Intention auf das Allgemeine und Verwirklichung 209 im Besonderen [als; K.B.] Schöpfung und Geist“ interpretiert werden kann. Die bis hier beschriebene Struktur bildet für Tillich auch die Grundlage für die Konzeption der Geisteswissenschaften, deren wichtigste Charakteristika mit Produktivität und Normativität benannt werden. Es besteht darin, dass sie es „nie mit einem gegebenen Objekt zu tun [hat; K. B.], das sie betrachten und in sich aufnehmen kann – ganz gleich, ob intuitiv oder wahrnehmend oder einfühlend. Sie 210 ist immer an der Setzung des Objekts beteiligt, das sie erkennen will.“

Damit geht einher, dass Tillich die Geisteswissenschaften nicht als ein abgegrenztes Wissensgebiet neben anderen versteht, der eine relativ klar umrissene Zahl von Gegenständen zugeordnet werden kann. Vielmehr gehört das Suchen und Konstruieren der geisteswissenschaftlichen Objekte in Form der Formulierung von Fragestellung und Methode zum primären Geschäft der Geisteswissenschaften. In dieser beschriebenen Doppelstruktur von gleichzeitiger Loslösung und Verbundenheit von bzw. mit dem Sein entsteht eine – von Tillich so benannte – „geistige Bewusstheit“, die zwar selbst noch keine Wissenschaft ist, deren Bestandteile „Sich-selbst-Zuschauen und Sich-selbst-Bestimmen des Denkens“ aber für jedes geisteswissenschaftliche Arbeiten unverzichtbar sind und sich zu einer „geisteswis207 Ebd. Das Konzept der äquivalenten Kausalität hatte Tillich in Rahmen der Kategorien und Methoden der Seinswissenschaften für die Sphäre der mathematischen Physik entfaltet, wo es heißt: „Die Kausalität in der physikalischen Sphäre ist quantitativ und steht unter dem Gesetz der Äquivalenz: In der Wirkung ist nicht mehr als in der Ursache.“ Ebd., S. 148. 208 Ebd., S. 212. 209 Ebd., S. 214. Weiter schreibt Tillich – was im Rahmen seiner Konzeption aber zunächst ohne direkte Folge bleibt – : „Auch hier hat die religiöse Sprache ein Symbol geprägt, wenn sie im Gegensatz zur Gesetzlichkeit einerseits, zur Gesetzlosigkeit andererseits das Begnadetsein als den gotterfüllten Zustand verkündigt. Geistige Schöpfung ist ‚Gnade‘.“ Mit dieser Konzeption von Geist und Schöpfung lehnt Tillich zudem zweierlei ab: einmal kann es zwar zu einer besonderen Ausprägung von geistigem Schöpfertum in Form des Genies kommen, doch dabei handelt es sich lediglich um einen graduellen Unterschied – begründet durch die Verbundenheit mit der Gemeinschaft der anderen Gestalten – und nicht um eine prinzipielle Verschiedenheit, die dem Genie, wie es ab der ersten Hälfte des 18. Jh. im Anschluss an Cusanus und Shaftsbury in Deutschland entworfen wurde, in Form seiner Gleichstellung mit einem zweiten Gott, der eine ästhetische Welt erschafft, häufig zugeschrieben wurde. Zum Anderen lehnt Tillich – im Namen seiner Hinwendung zum Individuellen, das der einzig vorstellbare Ort der Verwirklichung des Allgemeinen ist – die Vorstellung eines Weltgeistes, wie er bei Herder und Hegel entwickelt wurde, ab. Vgl. Hermann Timm, Gott und die Freiheit. Studien zur Religion der Goethezeit 1: Die Spinozarenaissance, Frankfurt/Main, 1974, S. 200ff. 210 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 218.

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senschaftlichen Bewusstheit“ weiterentwickeln können. Ist das der Fall und es kommt zu einer produktiven geisteswissenschaftlichen Schöpfung, dann „schafft es [das geisteswissenschaftliches System; K. B.] nicht das Allgemeine, das es formuliert, sondern es wirkt mit an individuellen Schöpfungen, die sich ihm dann als neue Objekte des systematischen Verstehens darbieten und zu neuen wissen212 schaftsschöpferischen Formulierungen des Allgemeinen führen.“

Damit ist gleichzeitig der normative Charakter der Geisteswissenschaften gegeben: im geisteswissenschaftlichen Erkenntnisprozess werden Normen formuliert, allerdings werden diese Normen von Tillich nicht als die materialisierte Form des Allgemeinen verstanden. Vielmehr drückt sich in der für die Geisteswissenschaften kennzeichnenden Normativität die Richtung auf die „Unbedingtheit der reinen Form“ 213 aus, wobei zu beachten ist, dass „das Unbedingte (…) nicht selbst eine Form“ ist. Als Motiv, das die Verbindung des formlosen Unbedingten mit der bedingten Form leistet, lehnt Tillich die Vorstellung der Gehorsam einfordernden Herrschaft des Unbedingten über das Bedingte ab. Vielmehr sei es „der Eros des Geistes, der sich ihm [dem Unbedingten; K. B.] zuwendet, die Sehnsucht aller bedingten Form 214 nach dem Unbedingten“ , die dafür sorge, dass die von den Geisteswissenschaften aufgestellten Normen nicht in Willkür umschlagen. (2) Tillichs Ausführungen zum Geist, die der Idee seiner Konzeption der Geisteswissenschaften zu Grunde liegen, zielen – das dürfte nach dem bis hierher gesagten deutlich geworden sein – im Wesentlichen auf zweierlei: zum einen versucht er zu zeigen, dass die Geisteswissenschaften sich ihren Zuständigkeitsbereich selbst entwickeln, ohne auf den Gebrauch von psychologisch-psychologistischen oder anderen, aus den Naturwissenschaften entlehnte Kategorien zurückgreifen zu müssen. Zum anderen benennt Tillich das Hauptanliegen, das darausfolgend zur Hauptaufgabe der Geisteswissenschaften werden soll: die Vermittlung des Allgemeinen mit dem Besonderen, was für ihn notwendig mit der Erschließung der Kategorie des ‚Sinnes‘ verbunden ist, auf die in Abschnitt 3 gesondert eingegangen werde soll. Um Tillichs Ansatz der Geisteswissenschaften besser einzuordnen, sollen nun, nachdem die erste Ebene des Geistbegriffs Tillichs hervorgehoben wurde, die zweiten und dritte Ebene – die Einstellung in den Kontext der zeitgenössischen Diskussion sowie deren Auswirkung auf die Systematik der Geisteswissenschaften im SdW thematisiert werden. Dazu ist kurz auf die geisteswissenschaftliche Kon-

211 Ebd., S. 219. 212 Ebd. 213 Ebd., S. 221. Dort heißt es auch: „Sie [die Normen; K. B.] sind individuell, wenn sie vom schöpferischen Prozess gesetzt werden, und sie vertreten das Allgemeine, wenn das Schaffen sich auf sie richtet. Das Allgemeine selbst aber existiert nicht.“ 214 Ebd.

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zeption Wilhelm Diltheys einzugehen, wie er sie wiederholt an verschiedenen 216 Orten seines Werkes dargestellt hat. Dilthey geht zunächst von der grundlegenden Unterscheidung von äußerer Wahrnehmung bzw. Erfahrung einerseits, die er als ein „Vorgang, in welchem die in den Sinnen auftretenden Eindrücke zu einem von dem Selbst unterschiedenen Ganzen verbunden werden“, die durch „diskursives Denken […] in einen solchen Zusammenhang gebracht werden, dass diese Wahrnehmung dadurch zu besserem Verständnis erhoben und die Erkenntnis der Außenwelt dadurch erweitert 217 218 wird“ , versteht und andererseits von „inneren Vorgängen oder Zuständen“ aus, zu denen er Gefühl, Denken und Wollen rechnet. In dem Moment, da diese inne219 ren Vorgänge bewusst werden, „entsteht die innere Wahrnehmung“ , die zu innerer Erfahrung wird, wenn sie „durch das diskursive Denken (…) in einen solchen Zusammenhang gebracht werden, dass diese geistigen Tatsachen dadurch zu besserem Verständnis erhoben und unsere Erkenntnisse der inneren Welt dadurch 220 erweitert werden.“ Innere und äußere Erfahrung werden von Dilthey also strukturell analog verstanden. Neben diesen beiden Grundstrukturen sieht Dilthey aber noch eine „dritte Klasse, [… die; K.B.] unser Wissen über den Zusammenhang des 221 Seelenlebens über den Horizont der inneren Erfahrung hinaus“ erweitert. Diese dritte Klasse von Erfahrungen entsteht dann, wenn in die beschriebenen inneren Erfahrungen Vorstellungen von bestimmten äußeren Objekten aufgenommen

215 Selbstverständlich ist es im Rahmen dieser Arbeit weder möglich, eine umfassende Darstellung und Interpretation von Diltheys geisteswissenschaftlicher Konzeption und ihrer erkenntnistheoretischer Implikationen zu geben, noch diese in angemessener Form in den zeitgeschichtlichen Kontext einzuordnen und zu würdigen. Dafür ist auf die einschlägige Literatur zu verweisen. Hier können lediglich Grundzüge herausgestellt werden, die sich als für das Verständnis von Tillichs SdW als hilfreich erwiesen haben. Vgl. dazu den kurzen Aufsatz von Robert P. Scharlemann, Tillich on Geisteswissenschaften: As Compared with Dilthey and Heidegger, in: Ders., Religion and Reflection, Essays on Paul Tillich’s Theology, Münster 2004, S. 145–155, indem er die Vergleichbarkeit Tillichs mit Dilthey für wenig fruchtbar erachtet und Tillichs Konzept der Geisteswissenschaften eher an Heidegger Begriffs des Daseins, wie er es in ‚Sein und Zeit‘ entfaltet, angelehnt sieht. Scharlemann argumentiert dabei hauptsächlich von der Annahme aus, das Geschichtskonzept Tillichs und Diltheys sei zu verschieden, und konstatiert dann, Tillich antizipiere Heideggers Konzept von Dasein. M.E. gibt es allerdings durchaus Elemente im Kontext der wissenschaftssystematischen Fragestellung, wo ein der Hinweis auf Tillichs Anknüpfen an Dilthey offenkundig ist, worauf ich im Folgenden hinweisen möchte. 216 Ich werde mich im Folgenden hauptsächlich auf den Text ‚Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften‘ von (1895/96) aus Band V der Gesammelten Schriften Diltheys, Stuttgart u.a.³ 1957 beziehen. Ebenfalls heranziehen werde ich Teile aus dem Werk ‚Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‘ aus Band VII der gesammelten Schriften Leipzig u.a. 1942. 217 W. Dilthey, GS V, S. 243. 218 Ebd. 219 Ebd., S. 244. 220 Ebd., S. 245. 221 Ebd., S. 247.

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werden. Für diese dritte Klasse der Erfahrung wählt Dilthey die Bezeichnung 223 der „transzendentalen Erfahrung“ , in deren Rahmen erst ein „seelischer Zu224 sammenhang erfasst werden“ kann, der die Grundlage der Konzeption der Geisteswissenschaften bildet. Sie hat die Aufgabe „auf der Grundlage der Naturwissenschaften die an den Sinnesobjekten auftretenden geistigen Tatsachen und ihren 225 Zusammenhang untereinander wie den mit den physischen Tatsachen“ zu untersuchen. Der Aufgabenbereich der Naturwissenschaften wird davon abhängend negativ bestimmt: wo keine Notwendigkeit besteht „das eigene Selbst oder ein 226 Analogon desselben in sie [die Objekte; K.B.]“ zu verlegen und trotzdem Zusammenhänge erkennbar sind, ist der Aufgabenbereich der Naturwissenschaften abzugrenzen. Die Geisteswissenschaften suchen die Möglichkeiten einer Transposition des eigenen Selbst dagegen auszuschöpfen: „Geisteswissenschaften [entstehen; K.B.], weil wir genötigt sind, in tierische und menschliche Organismen ein 227 seelisches Geschehen zu verlegen.“ Zumindest für den Bereich der Übertragung auf menschliche Organismen besteht weitestgehend die Möglichkeit der interpersonalen Kommunikation über das Wesen der inneren Erfahrungen, so dass „Allgemeingültigkeit der Denkprozesse, Übertragbarkeit der Gefühle, logisches Ineinandergreifen von Zweckhandlungen (…) den Zusammenhang dieser inneren 228 Vorgänge in einer gesellschaftlichen und geschichtlichen Welt“ , die Dilthey als eine geistige versteht, ermöglichen. Dieser Zweischritt aus primär innerer Erfahrung und Transposition in andere menschliche Wesen schafft die Voraussetzung 229 eines „Zusammenhang[s; K.B] einer geistigen Welt“ , die – ergänzt durch den 230 erkenntnistheoretischen Dreischritt aus „Leben, Ausdruck und Verstehen“ , Auf231 gabe und Inhalt der Geisteswissenschaften strukturiert. Der wesentliche Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften besteht dabei wie bei Tillich also nicht in den Gegenständen und Methoden selbst, sondern in dem Modus der Konstruktion der Gegenstände: „Dort [im Kontext der Geisteswissenschaften;

222 Diese Integration der Objektvorstellungen in die innere Erfahrung identifiziert Dilthey mit Kants Begriff von Transzendentalität und setzt ihn mit Begriffen „der Psychologie und Psychophysik“ seiner Zeit in Beziehung. Ebd., S. 246. 223 Ebd., S. 247. 224 Ebd., S. 248. 225 Ebd. 226 Ebd. 227 Ebd., S. 249. 228 Ebd. 229 Ebd., S. 250. 230 W. Dilthey, GS VII, S. 87. 231 So definiert Dilthey an anderer Stelle weiter: „Und überall lässt sich an (…) Geisteswissenschaften das Zusammenwirken von äußerer Erfahrung, innerer Erfahrung, transzendentaler Methode und Transposition der inneren Erfahrung in Objekte auf der Grundlage der Gleichartigkeit des geistigen Lebens nachweisen.“ W. Dilthey, GS V, S. 251.

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K.B.] entsteht im Verstehen ein geistiges Objekt, hier [im Zusammenhang der 232 Naturwissenschaften; K.B.] im Erkennen der physische Gegenstand.“ Neben dieser erkenntnistheoretischen Grundlegung haben die Geisteswissenschaften bei Dilthey zudem einen praktischen Aspekt: sie haben auch „die Leitung 233 des individuellen und geschichtlichen Lebens zum Zweck“ , denn ihr Arbeitsbereich umfasst – unterschieden von dem Bereich der Natur – zudem sowohl „die 234 Werte, welche sich hier im Gefühl entwickeln“ , die nach logischen Gesichtspunkten zweckmäßig geordnet werden müssen. Zudem leben die Geisteswissen235 schaften von dem „Bewusstsein der Souveränität des Willens“ , so dass der gesamte Bereich einer voluntaristisch konzipierten Ethik zu ihren Aufgaben gehört. Neben diesen genannten Unterscheidungen ist Dilthey aber stets bemüht, die Widersprüche zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nicht zu groß werden zu lassen: Der beschriebene Unterschied liege lediglich in der Konstruktion der Erkenntnisgegenstände. Natürliche und geistige Tatsachen sind zwar „unvergleich236 bar, [können aber; K.B.] (…) als regelmäßig physisch koexistierend“ aufeinander aufbauend verstanden werden, denn „historisch und systematisch [sind; K.B.] die 237 Naturwissenschaften Voraussetzung und Grundlage der Geisteswissenschaften.“ So ist etwa die Psychologie für Dilthey das Paradebeispiel dafür, dass die Tren238 nung des Physischen von dem Psychischen letztlich sekundär ist. Ihr geht der 239 „lebendiger Zusammenhang beider“ voraus – ein Gedanke, der sich in ähnlicher Form auch im Rahmen von Tillichs Entfaltung der Seinswissenschaften findet. Wer beide Bereiche trennt, der muss sich dessen bewusst sein, dass er dabei „mit 240 Abstraktionen arbeitet [im Original arbeiten; K.B.], nicht mit Entitäten.“ Zudem gerate man in große Schwierigkeiten, wenn von der Windelband’schen Voraussetzung ausgegangen wird, es gehe den Naturwissenschaften darum, „allgemeine 241 Gesetzmäßigkeiten zu verstehen,“ während es Aufgabe der Geisteswissenschaften sei „ein einzelnes, mehr oder minder ausgedehntes Geschehen von einmaliger, in der Zeit begrenzter Wirklichkeit zu voller und erschöpfender Darstellung zu

232 W. Dilthey, GS VII, S. 86. 233 W. Dilthey, GS V, S. 251. 234 Ebd. 235 Ebd. Neben diesen derart benannten geisteswissenschaftlichen Bereichen nennt Dilthey auch noch den Bereich der Fantasie, der bloß vorgestellten geistigen Realitäten. Vgl. Ebd., S. 254. 236 Ebd., S. 252. 237 Ebd. 238 Gegen Windelband. Vgl. Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rektorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg, Strassburg 1904, S. 9f. 239 W. Dilthey, GS VII, S. 80. 240 Ebd., S. 81, wo es heißt: „Beide Begriffe [das Physische und das Psychische; K.B.] können nur angewandt werden, wenn wir uns dabei bewusst bleiben, dass sie nur aus der Tatsache Mensch abstrahiert sind. Sie bezeichnen nicht volle Wirklichkeiten, sondern nur legitim gebildete Abstraktionen.“ 241 Ebd., S. 10.

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bringen.“ Denn bei genauerem Hinsehen gebe es viele Streitfälle auch im Lager der gemeinhin als unumstrittenen zu den Naturwissenschaften zählenden Diszip243 linen. Zudem weist Dilthey auf verschiedene strukturelle Ähnlichkeiten von Psychologie und Geschichtswissenschaften hin. So sei etwa „Wertung des Individuums, Deskription des Singularen, Vergleichung des Verwandten, schließlich auch die auf Singularität, Abstufung und Verwandtschaften gerichtete Kausalbetrachtung (…) augenscheinlich der vergleichenden Psychologie mit der Geschichte 244 gemeinsam.“ Diese hier nachgezeichneten engen Beziehungen bei deutlicher Differenz von Natur- und Geisteswissenschaften fasst Dilthey wie folgt zusammen: „Es ist so; eben in der Verbindung des Generellen und der Individuation besteht die eigenste Natur der systematischen Geisteswissenschaften“, was er im Folgenden weiter als das geschlossene Ganze aus einer „Verbindung von Gleichförmigkeit als Grundlage und auf ihr erwachsener Individuation und sonach die von 245 generellen Theorien und vergleichender Betrachtung“ beschreibt. Diese hier von Dilthey aufgezeigten Schwierigkeiten der Zuordnung einzelner Wissenschaften zu ihren Großgruppen hat Tillich ebenfalls gesehen, und im Rahmen des SdW versucht, eine von der systematischen Ordnung der Methoden ausgehende Lösung zu präsentieren. Das Problem liegt s.E. darin, dass Methoden in dem Bereich ihre volle Berechtigung haben, in dem sie in der Lage sind, den Gegenständen, auf die sie angewendet werden, voll gerecht zu werden, da sie alle Ebenen dieses Gegenstandes zu können. Häufig werden sie aber auch auf Gegenstände angewandt, in denen das nicht oder nur begrenzt der Fall ist, so dass die Methode dem Gegenstand nicht in vollem Maße gerecht werden kann. Zu diesem 246 „Imperialismus der Methoden“ kann es nach Tillichs Auffassung deshalb kommen, da in jedem Erkenntnisakt „ein allgemeines und ein individuelles Element enthal247 ten ist.“ Handelt es sich bei dem zu erkennenden Objekt eher um einen denkwissenschaftlichen Gegenstand, dann überwiegt das allgemeine Element, handelt es sich dagegen um ein Objekt aus dem Bereich der Seins- oder Geisteswissenschaften, dann wird in unterschiedlichem Maße das individuelle Element – verbunden mit verschiedenen Abstufungen an Anteilen des allgemeinen Elements – vorherrschen. Mit diesen stufenlosen Übergängen, die das Spannungsverhältnis zwischen Denken und Sein widerspiegeln, ist der Umstand verbunden, dass jede Methode, die einem Objekt oder einer Gruppe von Objekten adäquat ist, versucht, ihre engen, auf dieses Objekt bezogenen Grenzen zu sprengen und auch auf andere Be242 Ebd., S. 10f. 243 Dilthey weist etwa auf die Astronomie hin, die es s.E. ständig mit der Beschreibung von Singulärem – etwa bei der wissenschaftlichen Untersuchung des Mondes – zu tun habe, ohne dass ihre Zugehörigkeit zu den Naturwissenschaften in irgendeiner Form bestritten würde. Vgl. Ebd., S. 255. 244 W. Dilthey, GS V, S. 256. 245 Ebd., S. 258. 246 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 140. 247 Ebd., S. 218.

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reiche anwendbar zu sein. Solange eine Methode in ihrem primären Gebiet verwendet wird, versteht Tillich sie als in diesem Gebiet autogen. Dagegen sind Methoden „heterogen, sobald sie in Fremdgebiete übergreifen und nur einem Ele249 ment der Objekte adäquat, dem Objekt als Ganzem aber inadäquat sind.“ Zudem formuliert Tillich das Problem der engen Zusammengehörigkeit und Bezogenheit von Geistes- und Seinswissenschaften von den Gegenständen aus: In seiner Systematik der Seinswissenschaften nimmt die Gruppe der Gestaltwissenschaften den zentralen Platz ein. Zu ihr gehören im Zentrum die Biologie, die Psychologie und die Soziologie. Die Gestaltwissenschaften werden gerahmt von den Gesetzeswissenschaften auf der einen Seite, zu denen Physik, Chemie und die Geologie gehören, und den Folgewissenschaften auf der anderen Seite, deren wichtigste Wissenschaft die Geschichte ist. Für diese Systematik ist nun entscheidend, dass die wichtigste, weil erste, allem anderen vorausgehende Kategorie die der Gestalt ist, wobei die Kategorien Gesetz und Folge lediglich Versuche darstellen, 250 einzelne Elemente, die der Gestalt eigen sind, zu isolieren. Vor dem Hintergrund dieser Diagnose wird deutlich, dass Tillich das Thema der engen Verwobenheit von Individuellem und Allgemeinem in nahezu jeder Wissenschaft finden kann, ohne dass das für ihn zu einem systematischen Problem im Sinne der oben ge251 nannten Fragestellung Windelbands werden könnte. Denn entscheidend für die Geisteswissenschaften in der Konzeption Tillichs ist die spezifische Zuordnung von Allgemeinem und Besonderen, die er miteinander zu etwas Neuem – dem Geist – zu verbinden sucht. (3) Als grundlegend für die Überlegungen zum Sein – und darauf aufbauend zum Geist – hat sich Tillichs Konzept des Unbedingten erwiesen, auf das er immer wieder zurückgreift und das sowohl für seine Früh- als auch für seine Spätwerke von herausragender Bedeutung ist. Im Folgenden will ich es unternehmen, die Frage nach Struktur und Funktion dieses Begriffs, wie es im SdW begegnet, auf seine Bedeutung für die Frage nach der Wissenschaftssystematik hin zu interpretieren. Man kann dafür auf verschiedenen Ebenen ansetzen und dieses Prob252 lem in sehr unterschiedlichen Horizonten entfalten. Stellvertretend möchte ich 248 Vgl. Ebd., S. 140. 249 Ebd., S. 141. 250 Vgl. Ebd., S. 140.142f. Bei diesem Befund kann getrost die der Geisteswissenschaften bei Tillich zu Grunde liegende, geisttragende Gestalt eingeschlossen werden, auch wenn er diese Problematik zunächst nur im Kontext der Seinswissenschaften entfaltet. 251 So kann Tillich etwa das von Dilthey bezüglich der Astronomie aufgeworfene Problem dahingehend lösen, dass er innerhalb der physikalischen Wissenschaften eine generalisierende Reihe von Wissenschaften, in der die gesetzlichen Elemente vorherrschen und eine individualisierende Reihe, in der neben die gesetzlichen auch strukturelle Elemente der Gestaltwissenschaften treten. In diesen Kontext ordnet er Astronomie, Geologie und Geographie ein. Vgl. Ebd., S. 142. 252 Stellvertretend seien hier etwa genannt: W. Schüßler, Gottesgedanke, S. 58–61; Falk Wagner, Absolute Positivität. Das Grundthema der Theologie Paul Tillichs, in: NZSTh 15/2 (1973) Göttingen, S. 172–191; Kurztitel: F. Wagner, Absolute Positivität; Hannelore Jahr, Theologie als Gestaltmetaphysik. Die Vermittlung von Gott und Welt im Frühwerk Paul Tillichs, Berlin u.a. 1989;

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hier auf die beiden Interpretationsansätze von Falk Wagner und Dirk-Martin Grube eingehen, denn ihre jeweiligen Diskussionsbeiträge bieten beides: einerseits geben beide eine eigenständige Interpretation von Tillichs Konzept des Unbedingten und zeigen sodann auf, wie diese Konzeption als eine Grundstruktur den wei253 teren Aufbau des theologischen Denkens Tillichs prägt. 254 Wagner hat sich zu diesem Thema zweimal an prägnanter Stelle geäußert. Mit der Analyse von Funktion und Struktur des Begriffs des Unbedingten ver255 sucht er, „die Frage nach dem Grundthema“ bzw. nach „eine[r; K.B] Grammatik 256 der Theologie Tillichs“ zu beantworten. Mit dem Unbedingten werde bei Tillich „das immer schon in Anspruch genommene Gegebensein von Sinn themati257 siert“ , wobei Wagner hervorhebt, dass dessen „Verifizierung (…) als die im Unbedingten gründende Sinnhaftigkeit (…) an die Entfaltung von Sinn, also an den 258 tätigen Umgang mit Sinnfunktionen“ gebunden ist. Vor diesem Hintergrund wird klar, was der Bezug auf das Unbedingte für die Theologie und – im Anschluss daran – für die restlichen Wissenschaften bedeutet: Aufgabe der Theologie ist es zunächst „die freie und konstruktive Tätigkeit des selbstbestimmten Den259 kens auf das unbedingte Sein hin [zu; K.B.] überschreiten.“ Tut sie das, dann kann sie nicht als ein Wissensbereich mit von seinen Nachbarwissenschaften klar abgegrenzten Gegenständen neben anderen verstanden werden, denn „die Denkform kann der Fundierung im unbedingten Gehalt nicht entraten und umgekehrt 260 kann der unbedingte Gehalt nur vermittels der Denkform entwickelt werden.“ Das bedeutet für die Theologie zweierlei: einerseits wird es zu ihrer primären Auf261 gabe, die „Realisierung der Selbsttätigkeit“ der Autonomie in richtige Bahnen zu lenken, indem sie zu verhindern sucht, dass die autonome Geisteshaltung das Kurztitel: H. Jahr, Gestaltmetaphysik, S. 145–165; D.-M. Grube, Unbegründbarkeit Gottes?, S. 20–54. 253 Damit gehen beide wesentlich weiter als etwa Werner Schüßler, dessen Ausführungen dabei stehen bleiben, das Unbedingte „als eine Qualität und nicht als ein Wesen“ zu verstehen. Tillich komme mit seinen Ausführungen zum Unbedingten letztlich nicht über den Ansatz der Negativen Theologie hinaus. Vgl. W. Schüßler, Gottesgedanke, S. 58ff. 254 Zunächst erschien 1973 der oben genannte Aufsatz, der eine überarbeitete Version von Wagners Antrittsvorlesung in München 1972 bietet. Zudem widmete er sich Tillichs Begriff des Unbedingten erneut in seinem Buch ‚Was ist Religion?‘ Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, S. 379–385; Kurztitel: F. Wagner, Religion. 255 F. Wagner, Absolute Positivität, S. 172. 256 Ebd., S. 191, A 34. Diese oben beschriebene Struktur der ‚Grammatik der Theologie Tillichs‘ findet Wagner in der Systematische Theologie sowohl im Rahmen der Entfaltung der Korrelationsmethode, der Christologie als auch der Lehre von der Koinzidenz von Schöpfung und Fall wieder und bescheinigt ihr damit eine herausragende und beständige Bedeutung für das Denken Tillichs. F. Wagner, Ebd., S. 184f., 187ff. 257 Ebd., S. 174. 258 Ebd., S. 175. 259 Ebd., S. 177. 260 Ebd. 261 Ebd.

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Unbedingte nicht durch die ihr eigene autonomen Formen hindurch, sondern in 262 ihnen selbst zu suchen beginnt. Andererseits wird durch die Tatsache deutlich, dass „autonome Sinnschöpfung (…) immer schon erfolgen [muss; K.B], um der 263 Unbedingtheit von Sinn, nämlich seines Gegebenseins ansichtig zu werden“ , so dass diese nicht von autonomen Sinnschöpfungen abhängig sind, denn das Verhältnis ist in Wagners Augen grundsätzlich asymmetrisch konzipiert: „Der vorausgesetzte Sinngehalt soll durch keine Sinnform eingeholt werden können, weil 264 der Unbedingtheit des Sinngehalts keine unbedingte Form korrespondiert.“ Diese Differenz zwischen Bedingten und Unbedingten kann nur innerhalb der Theologie aufgehoben werden, obwohl auch sie – wie die anderen autonomen Wissenschaften – keinen unmittelbaren Zugriff auf das Unbedingte hat. Sie kann diese Differenz aber insofern in sich aufnehmen, als dass sie „das Unbedingte zwar auch als ein Bedingtes [begreift; K.B.], aber als ein solches Bedingtes, das nur 265 durch sich selbst bedingt ist.“ Damit nun habe „die Theologie mit der Selbstgegebenheit des Unbedingten das Sich-Gegebensein autonomer Selbsttätigkeit und 266 Sinnleistung unter den Bedingungen der Endlichkeit zum Thema.“ So sei für Tillich in der Beziehung von Autonomie und Theonomie beides enthalten: einmal 267 die Forderung nach einer „produktiven Gestaltung der Wirklichkeit“ als auch ihre Kritik aus der Perspektive des Unbedingten, denn „die Selbstgegebenheit erweist sich aufgrund ihrer absoluten Positivität immer zugleich als Negativität 268 jeder bestimmten positiven Gestaltung“ und geht ihr strukturell immer voraus, so dass ein asymmetrisches Verhältnis entsteht, das den dynamischen Prozess der ‚Protestantischen Gestaltung‘ in Gang setzt. Mit diesem Konzept verweigere Tillich allerdings die Bewahrheitung des ontologisch gefassten Begriffes des Unbedingten. Wagner wirft ihm vor, darauf zu bestehen, „dass die Frage nach der 269 Wahrheit der Religion schon durch ihre Wesensbestimmung beantwortet sei.“ Der Versuch Tillichs, das Unbedingte unabhängig vom religiösen Bewusstsein zu konzipieren und für sein religionsphilosophisches Gesamtkonzept fruchtbar zu machen, laufe letztlich ins Leere, denn sie führe im Kern „auf die tautologische 270 Versicherung hinaus, dass das Unbedingte ist, weil es ist.“

262 Vgl. Ebd., S. 176. Mit anderen Worten an anderer Stelle drückt Wagner das Ganze folgender Maßen aus: „Vielmehr wird mit der Theologie der produktive Umgang mit der Autonomie, der zur Gestaltung befreit, thematisiert.“ Ebd., S. 179. 263 Ebd., S. 178. 264 F. Wagner, Religion, S. 381. 265 F. Wagner, Absolute Positivität, S. 178. 266 Ebd. 267 Ebd., S. 180. 268 Ebd. Als ebendieses Element der positiven Gestaltung, die der Kritik vom Unbedingten aus unterworfen ist, da dieses durch keine Gestaltung einholbar ist, identifiziert Wagner die Gestalt als „sich realisierende Autonomie.“ Ebd., S. 181. 269 F. Wagner, Religion, S. 384. 270 Ebd.

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Mit dieser Gedankenfigur hat sich zuletzt eingehend Dirk-Martin Grube unter der Fragestellung nach einer Erkenntnistheorie bei Tillich auseinandergesetzt. Er diagnostiziert in dem Zusammenfallen von Wesens- und Wahrheitsfragen nicht den „Ausdruck eines Begründungsdefizits, sondern eine Konsequenz der metalogischen Be271 stimmung des Wesens von Religion.“ Wird Religion im Sinne Tillichs metalogisch als Richtung auf das Unbedingte in allen Sinnsphären postuliert, lässt sich von ihr die Frage nach der Wahrheit nicht mehr trennen, so dass Wesens- und Wahrheitsfrage 272 nach Grube in diesem Fall sehr wohl zusammenfallen können. Den Grund dafür findet er in dem besonderen Status transzendentaler Begriffe, zu denen er den Begriff des Unbedingten zählt. In dieser speziellen Begriffsklasse werde „nach den allgemeinsten Bedingungen, die notwendig angenommen werden müssen, um 273 überhaupt Erfahrungen machen zu können“ , gesucht. Für diese Klasse der notwendig jeder Erkenntnistheorie vorausgehenden Postulate nimmt er unter Rück274 griff sprachanalytischer Argumente Strouds das Prädikat ‚self-guaranteeing‘ auf. Für den Begriff des Unbedingten bedeutet dies, dass er „das unhintergehbare Fundament der Möglichkeit des Zweifels [ist, denn; K.B.] jede Frage nach der Existenz des Unbedingten setzt immer schon das Postulat der unbedingten Sinnhaf275 tigkeit der Erkenntnissphäre, des unbedingten Seins, voraus.“ Damit weist Grube auf den engen Zusammenhang von Epistemologie und Metaphysik bei Tillich hin: „Wie metaphysische Größen zur Lösung epistemologischer Probleme beitragen, trägt umgekehrt auch die Epistemologie zur Lösung metaphysische Probleme 276 bei.“ Mit diesem Umschlag der Epistemologie in Metaphysik werde deutlich, auf welche Grenze Tillich mit seiner Erkenntnistheorie zustrebe: Der Satz ‚alle Erkenntnis ist zweideutig‘ impliziere, dass die Aussage, es könne „Unbedingte Ein277 deutigkeit (…) nicht im Bereich des Bedingten“ geben, nur dann möglich ist, 278 wenn „auf der epistemologischen Metaebene (…) unbedingte Eindeutigkeit“ herrsche. Grube fasst seine Interpretation von Tillichs frühem philosophisch-theologischem Ansatz wie folgt zusammen:

271 D.-M. Grube, Unbegründbarkeit Gottes? S. 24. 272 Eine ganz ähnliche Struktur der Argumentation begegnet innerhalb von Kurt Goldsteins Entwurf einer biologischen Methode, wie er im zweiten Teil dieser Studie näher untersucht werden wird. Vgl. Kap. II, 2.1. 273 Ebd., S. 10. 274 Stroud, zitiert nach D.-M. Grube, Unbegründbarkeit Gottes?, S. 10f. 275 Ebd., S. 24f. Im Folgenden fasst er seine Widerlegung des Vorwurfes Wagners – das Unbedingte sei, weil es sei – so zusammen: „Das Unbedingte ist, weil es unmöglich ist, zu denken, dass es nicht ist.“ Eine andere Interpretation des Zweifels bietet Jörg Dierken, Gewissheit und Zweifel. Über die religiöse Bedeutung skeptischer Reflexion bei Paul Tillich, in: Christian Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie, Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004, S. 107–133. 276 D.-M. Grube, Unbegründbarkeit Gottes?, S. 27. 277 Ebd., S. 29. 278 Ebd.

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„Insofern epistemologische Größen wie die ‚Gewissheit um das Unbedingte‘ Letztbegründungen für die entsprechenden epistemologischen Folgehandlungen darstellen, sind sie notwendig zu postulieren; als notwendig zu postulierende werden sie metaphysisch qualifiziert; die auf diese Weise letztbegründeten metaphysischen Größen besitzen im obigen Sinne einen ‚self-guaranteeing‘ Status; insofern sie einen derartigen Status besitzen, können sie realistische Ansprüche stellen. Kurzum, eine wichtige Funktion von Tillichs einschlägigen epistemologischen Überlegungen dieser Zeit besteht in einer transzendentalen Absicherung von Transzendenz.“279

Damit kommt auch Grube zu dem Schluss, Tillich konstruiere das Verhältnis des Bedingten zum Unbedingten letztlich vom Unbedingten her asymmetrisch: Um überhaupt ein Kriterium für das Denken von Gewissheiten zu gewinnen, müsse dieses „jenseits aller geschichtlichen, also kontingenter, Ansprüche (…) formuliert 280 sein.“ Beide – sowohl Wagner als auch Grube – sind sich somit in einem wesentlichen Punkt einig: Sie sehen die Verhältnisbestimmung Tillichs streng vom Unbedingten aus strukturiert und lassen dabei unbeachtet, wie Tillich Rolle und Funktion des Bedingten innerhalb seines Konzepts zur Sprache bringt. Für Grubes Interpretationsansatz bleibt noch anzumerken, dass er stark darum bemüht ist, die Bedeutung Tillichs für und seine Anschlussfähigkeit an die vor allem im amerikanischen Raum geführte, vor allem sprachanalytisch vorgehende Diskussion herauszuarbeiten. Ich möchte diesem Versuch der Einstellung Tillichs in die epistemologische Diskussion mit sprachanalytisch arbeitenden Autoren des späten 20. Jh. eine weitere Facette zu Seite stellen, die mehr an der Genese des religionsphilosophischen Ansatzes Tillichs in den frühen 20iger Jahren im Kontext der in Deutschland stattfindenden Diskussion interessiert ist. Dafür ist es nötig, zunächst die Grundstrukturen der Funktion des Unbedingten bei Tillich herausarbeiten und dieses 281 dann dem Konzept des Übergegensätzlichen bei Emil Lask gegenüberstellen. 282 Als Emil Lask, der – 1875 geboren – als Rickert-Schüler seit 1913 in Heidelberg die Nachfolge von Kuno Fischer angetreten hatte, sich 1914 als Freiwilliger meldete und bereits 1915 in Galizien fiel, galt er vielen aus dem Kreis der deutschen 283 Philosophen als eine der großen Zukunftshoffnung. Nach seinem Tod sind seine 279 Ebd., S. 31. 280 Ebd., S. 53. 281 Die Bezüge Tillichs zu Emil Lask sind meines Wissens noch nicht genauer untersucht worden. Ich verdanke den Hinweis auf Lask dem Aufsatz von U. Barth, Sinntheorie, S. 89–123, in dem er im Anschluss an eine Liste der Autoren, die Tillich nach seinem Wiedereinstieg in die Wissenschaft noch an der Front zu lesen beabsichtigt bzw. bereits bearbeitet hat, für die Hintergründe von Tillichs philosophischen Denkansatz fruchtbar macht. Vgl. P. Tillich, Brief an Emmanuel Hirsch, in: E VI, S. 99. 282 Zu Lasks Biographie: Vgl. Uwe B. Glatz, Emil Lask. Philosophie im Verhältnis zu Weltanschauung, Leben und Erkenntnis, Würzburg 2001, S. 12–19. Kurztitel: U. Glatz, Lask. 283 Vgl. etwa das persönliche Geleitwort zum ersten Band der Gesammelten Schriften von Heinrich Rickert. Emil Lask, GS I, III–XVI. In diese Richtung gehen auch die Äußerungen G. Lukács und

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Gesammelten Schriften bereits 1923 in drei Bänden von seinem Schüler Eugen Herriegel herausgegeben worden. In seiner im zweiten Band der Gesammelten Schriften abgedruckten Schrift ‚Die Lehre vom Urteil‘, die zuerst 1912 erschienen war, geht es Lask primär darum, zu verdeutlichen, welche Veränderungen sich für die Metaphysik durch die sich im Anschluss an Kant weiterentwickelnde Transzendentalphilosophie ergeben. Im Gegensatz zum ‚vorkopernikanischen‘ Denken, 284 das theoretische Modelle „als Werkzeuge der Gegenstandserfassung“ versteht, die Allgemeinheit und damit die Ausrichtung auf Wahrheit sichern sollen und Gegenstand und Theorie unmittelbar konfrontieren, betont Lask für das ‚nachkopernikanische‘ Denken dessen veränderten erkenntnistheoretischen Zugang. Das Theoretische greife nicht mehr unmittelbar auf das Gegenständliche zu, sondern jetzt ständen sich Theorie und Gegenstand als grundsätzlich von einander geschiedene Regionen der einen Sphäre des ins Urbildliche und Abbildliche Gespaltene des Theoretischen dar, das „als gegenständlich- oder urbildlich-theoretische 285 und als nichtgegenständliche- oder nachbildlich-theoretische“ verstanden wird. Damit werden beide auf einer Ebene angesiedelt, dem Gegenstand tritt nicht mehr mit dem formalen Element der Theorie die unmittelbar aus der Metaphysik abgeleitete Wahrheit entgegen, vielmehr hat auch die Theorie Nachbildcharakter, denn sie unterliegt den Beschränkungen der Subjektivität, „der ein Erfassen des ganzen und unzerstückelten gegenständlichen Sachverhalts nicht vergönnt ist, die sich vielmehr das, was ihr als Fertiges nicht gegeben ist, überall erst aus den isolierten 286 Teilen stückweise aufbauen muss.“ Von dieser Basis aus beschäftigen Lask im Wesentlichen zwei Fragen: einmal sucht er nach einem Kriterium zur innertheoretischen Differenzierung zwischen ur- und nachbildlicher Ebene. Zum anderen steht die Frage im Mittelpunkt, worin eigentlich die „Künstlichkeit der nachbil287 denden Region“ besteht. Besonderes Augenmerk legt Lask dabei auf die Unterscheidung, die Region des Urteils als eine Region zu verstehen, die es nicht unternimmt, die Wahrheit in Form gültiger Urteile abzubilden, sondern als nachbildende Region aufzufassen. Dabei verhalten sich gegenständliche und ur288 bildliche Ebene zueinander wie ein Messbares zur Ebene des Maßstabes. Die nachbildliche Region ist in diesem Zusammenhang für Lask gekennzeichnet durch in „Gegensätzlichkeit gegliederte Ganzheiten und d.h. im Zusammengehö-

L. Marcuses: „Heute ist ein sich Gegenwärtigmachen seines Werkes das ‚Aktuellste‘, was sich nur denken lässt“ schrieb etwa Georg Lukács 1922 und Ludwig Marcuse meinte: „Lask ist das philosophische Gewissen der Zeit: er ist Kritizist und Metaphysiker und beides nicht, da er beides ist.“ Zitiert nach Thomas Rentsch, Art.: Emil Lask, in: Bernd Lutz (Hg.), Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen, Stuttgart³ u.a. 2003, S. 395. 284 E. Lask, GS II, S. 355. 285 Ebd., S. 356. 286 Ebd., S. 362. 287 Ebd., S. 365. 288 Vgl., Ebd., S. 357.

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ren und Nichtzusammengehören von Elementen.“ Diese derartige Gestaltung der nachbildlichen Region kann als solche überhaupt erst ontologisch in dieser Weise bestimmt werden, da sie „auf einen Maßstab hinausweist und also diese 290 gegensätzliche Region zu einer nachbildlichen stempelt.“ Für diesen jenseits der Gegensätzlichkeit liegende Maßstab kann es die Unterschiedenheit, die die nachbildliche Region bestimmt, nicht geben, denn ansonsten könnte dieser Maßstab seine Funktion als relationsstiftendes Element gegenüber der nachbildlichen Sphäre nicht erfüllen. Insofern ist die Distanz zwischen der urbildlichen und der nachbildlichen Region absolut: „Auch das übereinstimmende Gefüge ist nicht ein bloßes wiederholendes Abbild des Gegenstandes, sondern eben ein bloßes ‚Nachbild‘, mit einem Phänomen belastet, das im Urbild kein Original hat. Es steht darum die Positivität genau auf demselben Boden der Künstlichkeit wie die Negativität. Die Region der Nachbildlichkeit als s o l c h e und nicht etwa bloß die Negativität ist vom Unzerstückelten und Unverkünstelten der Gegenstände durch eine Distanz geschieden.“291

Die Region des Urbildlichen, die Lask als vollständig jenseits der nachbildlichen Region bestimmt hatte, steht aber nicht unverbunden über der nachbildlichen Region. Das Verhältnis zwischen beiden Regionen kann insofern als aufeinander bezogen beschrieben werden, als dass jeder der nachbildlichen Region angehörende Gegenstand immer in den von der urbildlichen Region vorgegebenen Strukturen und Relationen steht. Lask spricht davon, dass die „gegenständliche Urstruktur (…) sich jetzt als das schlichte, durch keinerlei Zerreißung hindurchgegangenes 292 Stehen der dortigen Elemente (…) in der sie umspannenden Relation“ erweise. Die urbildliche Region steht mit der nachbildlichen also insofern in Beziehung, als diese auf jene hinweist, wodurch jeder nachbildliche Gegenstand von seiner Be293 troffenheit durch das Urbildliche gekennzeichnet ist. Die Gestaltung der Beziehung zwischen beiden Regionen wird von Lask im Bereich der Geltung zudem von der Bedeutung, die für den Bereich der Gegenstände beschrieben wurde, un294 terschieden. Denn der Bereich des Geltens wird von Lask dynamisch verstanden: Die Ausrichtung „am gegensatzlosen Urbild der Wahrheit, des Geltens und des 295 Wertes“ führt dazu, dass auch im Bereich der Gegensätzlichkeit in der Sphäre 289 Ebd., S. 356. 290 Ebd., S. 358. 291 Ebd., S. 363. 292 Ebd., S. 365. 293 Vgl. Ebd., S. 372. 294 Glatz hat in diesem Zusammenhang von Lasks „zweiweltentheoretischen Dualismus“ gesprochen, auf dem dessen „gesamtes philosophisches System basiert.“ Es bestände im Wesentlichen aus „einer Logik der Seinskategorien und einer Logik der geltungsphilosophischen Kategorien.“ U. Glatz, Lask, S. 51. Zudem nimmt Lask mit den beiden Grundbegriffen Sein und Gelten die Unterscheidung Hermann Lotzes auf, die für die für große Teile der neukantianische Theoriebildung von entscheidender Bedeutung gewesen ist. Vgl. H. Schnädelbach, Philosophie, S. 198–231. 295 E. Lask, Ebd., S. 388.

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des Geltens durch die Ausrichtung auf einen jenseits aller Gegensätze stehendes ‚Übergegensätzliches‘ eine Überwindung dieses Zustandes angestrebt werden kann, so dass insofern das Ineinanderfallen von Maßstab und Gegenstand, das Lask als das zentrale Kennzeichen der ‚vorkopernikanischen‘ Theoriebildung 296 verstanden hatte, in dieser modifizierten Form aufrecht erhalten werden kann. So finden sich dann auch in jedem entfalteten Begriff des Geltens „innerhalb des 297 Nichtnegativen das Positive und das Übergegensätzliche vermengt“ , denn einen unvermischten, unmittelbaren Zugang zum Übergegensätzlichen kann es nicht geben. Es liegt „vor der Differenzierung in die Gegensätze; der gegensatzlose Wert im Sinne der vox media ist die nachträgliche und nivellierende Abstraktion aus 298 den bereits gegensätzlichen gespaltenen Phänomenen.“ Dabei wird die Gegenstandsjenseitigkeit im Sinne eines Umfassens aller Gegensätze verstanden. Diese Überlegungen Lasks, die hier in notwendiger Kürze dargestellt wur299 den , können für die Interpretation von Tillichs Konzeption des Unbedingten im Rahmen seiner Entfaltung der Geisteswissenschaften an unterschiedlichen Punkten in Anspruch genommen werden. Zum einen scheint mir in der Trennung, die Lask zwischen dem Übergegensätzlichen und der nachbildlichen Region macht, die ihn dazu führt, die unterschiedlichen Modi der Annäherung an diese Region auf eine Ebene zu stellen, von Tillich durch die qualitative Unterschiedenheit des 300 Bedingten und des Unbedingten funktional äquivalent aufgenommen. Analog zur Funktion, die das Unbedingte bei Tillich einnimmt, das gleichzeitig als Grund und Abgrund alles Bedingten fungiert, versteht Lask das Übergegensätzliche als den normierenden Maßstab der nachbildlichen Region, von der aus sowohl das negative Element der Gegensätzlichkeit als auch das entsprechende der Nichtge301 gensätzlichkeit verstehbar wird. Auf ähnliche funktional-logische Entsprechungen stößt man, wenn neben der als unüberbrückbar beschriebenen Distanz beider Ebenen, beide Autoren mögliche Verbindungen, die dieser Form von Distanz inhärent sind, zu konstruieren versuchen. Hatte Lask diese Art der Verbindung durch die fundamentale Betroffenheit der nachbildlichen Region durch die urbildliche beschrieben, in der gleichzeitig der Hinweischarakter der nachbildlichen Region auf die urbildliche liege, so findet sich dieser Zusammenhang bei Tillich in modifizierter Form wieder: so fundiert das Unbedingte alles Bedingte und in die296 Vgl. Ebd., S. 390. 297 Ebd., S. 391. 298 Ebd., S. 403. 299 Die Rückholung Lasks als einer entscheidenden Figur der Philosophiegeschichte des frühen 20igsten Jahrhunderts steckt erst in den Anfängen, was diesem herausragenden Denker nicht gerecht wird. Ein Anfang ist mit dem sehr informativen und hilfreichen Buch von U. Glatz gemacht. 300 So heißt es etwa bei Tillich: „Insofern die geistige Welt Welt ist, steht sie in gleicher Distanz zum Unbedingten wie jede Welt.“ P. Tillich, MDV, in: E XIV, S. 257. 301 Dabei besteht M.E. zwischen dem Gegensätzlichen der nachbildlichen Region bei Lask und dem abgründigen des Unbedingten bei Tillich ein wesentlicher Unterschied, auf den im Rahmen der Erörterungen zum Sinnbegriff zurückzukommen ist.

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ser Fundierung, indem sich das Bedingte als Bedingtes begreift, weist es gleichzeitig über sich selbst hinaus auf die Region des es Bedingenden, so dass das Unbedingte letztlich nicht als ein Bereich neben anderen verstanden werden kann, sondern eine – nämlich die tragende – Dimension aller Gegenstände ist, wobei dieser 302 Bereich als der einzig mögliche Ort seiner Existenz zu verstehen ist. Bei beiden Autoren ist die Frage nach Gültigem der Ort, an dem diese Verbindung ansichtig werden kann. Dabei besteht für Tillich der Unterschied zwischen dem Bereich der theonomen Geisteswissenschaften und dem autonomen Bereich lediglich in der Haltung gegenüber den Gegenständen. Die theonome Geisteshaltung ist für Tillich geprägt durch den Willen, das „Unbedingte[n; K.B.] um des Unbedingten 303 willen“ zu erfassen, während die autonome Geisteshaltung „sich auf das Beding304 te richtet und auf das Unbedingte nur, um das Bedingte zu fundieren.“ Als für Tillich anschlussfähig erweist sich auch Lasks Unterscheidung zwischen der Region der Gegenstände, in der durch den Bezug auf das Übergegensätzliche Unterscheidbarkeit, Abgrenzung aber auch Zusammengehörigkeit entsteht, indem letztlich die formale Autonomie einzelner Gegenstände und Bereiche sichtbar gemacht wird. Neben diesem Bereich, in dem der Hinweischarakter auf das Unbedingte/bzw. Übergegensätzliche in Vereinzelung und – wie Lask schreibt – „Zerstückelung“ besteht, trägt in der Region der Geltungen und Werte die Ausrichtung auf das Urbildliche nicht zur Diversifizierung der Gegenstände bei, sondern hat synthetische Kraft: Mit der Ausrichtung auf das Eine und dem Willen, das Eine als Gültiges anzuerkennen, ist die Möglichkeit theonomer Erkenntnis gegeben, deren Gewissheit nicht mit Evidenz und Wahrscheinlichkeit zu beschreiben ist, sondern 305 sowohl von Tillich als auch von Lask als Überzeugung charakterisiert wird. Diese Art des Erkennens ist sich darüber im Klaren, dass „Erkennen in diesem (…) Sinne heißt: das kategorial Unbetroffene in die Gewalt der logischen Kategorial306 formen bringen.“ 307 Diese transzendentale Begründungsfigur setzt erkenntnistheoretisch bei dem Element des Zweifels ein und findet sich in ähnlicher Form in Heinrich Rickerts 308 ‚Der Gegenstand der Erkenntnis‘. Auch Rickert hatte nach einer letzten Begründungsinstanz gefragt, die als „wissenschaftlich unvermeidlich oder notwendige 309 Voraussetzung“ alles Erkennen auf den Weg bringen könne. Dabei zieht er den 302 Diese Gedankenfigur ist letztlich die Grundlage für Tillichs Auffassung des Verhältnisses von Religion und Kultur, seiner Symboltheorie sowie der Korrelationsmethode. 303 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 271. 304 Ebd. Autonome und theonome Geisteswissenschaften haben somit keine unterschiedenen Gegenstände, die sie untersuchen, vielmehr ist die Art ihres Zugriffs auf ihren identischen Gegenstand unterschieden. 305 Vgl. Ebd., S. 226. 306 E. Lask, GS II, S. 383. 307 In diesem Punkt teile ich die oben entfaltete Ansicht Grubes. 308 Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie, Tübingen6 1928. 309 H. Rickert, Ebd., S. 237.

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Zweifel heran, der „nicht nur [seine; K.B.] zerstörende, sondern auch [seine; K.B.] aufbauende Kraft zu entfalten hat (…), mit der wir vordringen wollen zu den unbe310 zweifelbaren Grundlagen und Voraussetzungen alles Erkennens“ . Rickert stellt die Frage wie folgt: „Kann man es mit einer logisch sinnvollen Behauptung eventuell auch verneinen, dass das vom Urteilen anerkannte urteilsjenseitig gilt und somit auf einen transzendenten Wert hinweist (…), ohne dass man dabei zugleich die Möglichkeit 311 des Urteilens überhaupt leugnet?“ Allein in diesem Verfahren sieht Rickert die Mög312 lichkeit, überhaupt eine Letztbegründungsinstanz zu gewinnen. Eine Ableitung dieser Ebene der Erkenntnistheorie sei grundsätzlich nicht möglich, vielmehr könne man „nur zeigen wollen, dass sie unbezweifelbar in sich ruhen, weil auch der 313 Zweifel als Verneinungsversuch ihrer Geltung sie nicht entbehren kann.“ Neben 314 diesen offensichtlichen Bezügen , sind aber auch spezifische Unterschiede in Ansatz und Weiterführung festzustellen. Rickert geht es allein um die Region des Urteils, ohne dass er daraus die weitreichenden Konsequenzen bezüglich der 315 Struktur des Seins ziehen würde. Diese nehmen bei Tillich eine zentrale Stellung ein: angesichts der logischen Probleme, wie sie bei der Analyse der Struktur des Zweifels offenbar werden, leitet Tillich von den Wesens- zu den Wahrheitsfragen über. (4) Angesichts der notwenigen Klärung des Verhältnisses von Geist und Geisteswissenschaften ist der Rahmen des SdW zu überschreiten und ein kurzer Ausblick auf die Marburger Dogmatik-Vorlesung sinnvoll. Tillich stellt in dieser frühen Vorlesung das Verhältnis von Bedingten und Unbedingten im Rahmen des Teils C vor, der mit ‚Das Seiende im Zusammenhang von Wesensgemäßem und Wesenswidrigem in der vollkommenen Offenbarung (Von Gott und Welt in dem 316 Zusammensein von Getrenntheit und Verbundenheit)‘ überschrieben ist. Hier sind einige der grundlegenden Elemente der Verhältnisbestimmung dargelegt, wie

310 Ebd. 311 Ebd. 312 Vgl., Ebd., S. 238. 313 Ebd. 314 So schreibt Tillich etwa über die Metaphysik: „Sie fragt nicht, ob das Unbedingte existiert. Die Frage ist sinnlos, da sie als Sinnzusammenhang schon das Unbedingte des Sinnes voraussetzt… Das Unbedingte kann nicht erwiesen, sondern nur aufgewiesen werden als der alle Sinnerfüllung fundierende Sinn.“ P. Tillich, SdW in: GW I, S. 230. Oder in der Religionsphilosophie: „Die Frage, ob das Unbedingte ist, setzt schon die unbedingte Sinnhaftigkeit der Erkenntnissphäre, das unbedingt Seiende voraus. Die Gewissheit des Unbedingten ist die fundierende Gewissheit von der aller Zweifel ausgehen kann, die aber selbst nie Gegenstand des Zweifels sein kann. Darum ist der Gegenstand der Religion nicht nur real, sondern er ist die Voraussetzung aller Realitätssetzung.“ P. Tillich, RP, in: GW I, S. 140. 315 Zwar spricht auch Rickert davon, dass „das transzendente Sollen (…) sich (…) als vom Begriff der Wahrheit und ihrer Erkenntnis überhaupt [als; K.B.] untrennbar“ erweise. Aber der Zusammenhang, in den er diese Aussage stellt macht deutlich dass sein Wahrheitsbegriff streng erkenntnistheoretisch und nicht in dem Maße ontologisch weitergeführt wird wie das bei Tillich der Fall ist. 316 P. Tillich, MDV in: E XIV, S. 223–267.

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sie nicht nur für das SdW wichtig sind, sondern auch für den späteren Austausch Tillichs mit Kurt Goldstein. Dieser dritte Teil thematisiert den „eigentümlichen Zwischenzustand zwischen Verderbnis und Heil“, in dem „von Vorsehung, Schicksal, Naturgesetz, unmittel317 barem Erlebnis des Lebenssinnes“ die Rede ist. Diese zwischen den abstrakten Zuständen von wesensgemäßem und wesenswidrigen Sein stehende Realität fasst Tillich so, dass er sie zwar als im Wesensgemäßen gründend, aber in seiner realen aktuellen Erscheinung als ohne diese radikale Bezogenheit sich darstellende Erscheinung versteht. Das hat für die wissenschaftliche Beschäftigung jedweder Provenienz mit dieser Realität zur Folge, dass zweierlei Arten der Betrachtung von vornherein ausgeschlossen sind: weder kann das Sein allein von seinen wesengemäßen Strukturen noch ausschließlich von den zerstörerischen betrachtet werden, denn stets kommt es durch den Eintritt des Seins in die Existenz zu einem neuen Verhältnis der „tragend, formschaffend[en; K.B.]“ und „auflösend, formzerstö318 rend[en; K.B]“ Strukturen. Für die Naturwissenschaften stellt sich für Tillich die Frage, auf welche Ebene sie eigentlich mit ihrer Ausrichtung auf die Darstellung von Naturgesetzen zielen: können Naturgesetze als Ausdruck der wesenseigenen Strukturen des Seins verstanden werden oder spiegeln sich in ihnen vielmehr die von ihrem eigentlichen Wesen entfremdeten Formen wider? Tillich hat diese Frage wie folgt beantwortet: „Die Erkenntnis des Existierenden in seinem Sosein ist nicht Erkenntnis der Idee in ihrer Reinheit. In jedem Naturgesetz, in jeder typischen, seelischen oder gattungsmäßigen Gestalt ist Wesensform enthalten und erkannt. Aber es ist immer zugleich ein Sich-Auswirken der Wesensform da, was sie in ihrer Eigentlichkeit verhüllt.“319

Vor diesem Hintergrund bestreitet Tillich den Anspruch der „unbedingten Gül320 tigkeit irgendeines von uns erkannten Naturgesetzes“ , denn kein denkbarer na321 turwissenschaftlicher Versuchsaufbau kann die „Wesensverhüllung“ durchbrechen, die im Eintritt in die Existenz besteht. So verstanden werden Naturgesetzte eben auch als Strukturen, welche die Wesenswidrigkeit des aktuellen Seins zum Ausdruck bringen verstanden, die damit – von der Warte der anthropologischen Betrachtung aus – das Symbol der Klarheit Gottes zerstörten: sie können zu einem 322 Ausdruck der „Gesamtdämonisierung des Wirklichen“ werden. Tillich hat das 317 Ebd., S. 223. 318 Ebd., S. 225. 319 Ebd., S. 253. Dort heißt es weiter: „Jede chemische Formel hat dieses Doppelte in sich: Wesenerkenntnis der einfachsten Elemente der anorganischen Materie zu sein. Sie hat aber zugleich dieses in sich, das in diesem Augenblick mögliche, durch die tatsächliche Weltkonstellation, durch die Fortgeschrittenheit des Atomzerfalls gewisser Elemente, durch die Verteilung der Kraftfelder etc. bedingte Gesetz auszudrücken. D.h. jede chemische Formel ist auch Geschichtserkenntnis, in der sich Einsicht über diesen Moment des Weltzusammenhangs findet.“ 320 Ebd., S. 254. 321 Ebd. 322 Ebd., S. 227.

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so beschriebene Sein für das betrachtende und teilhabende Subjekt unter dem Stichwort der Zweideutigkeit zusammenzufassen versucht. Diese zeige sich besonders in Natur und Geist: zum einen „in den großen Formen der anorganischen und organischen Natur, die in unlöslicher Verbindung mit den vital-schöpferi323 schen Kräften (…) zugleich die Zerstörung in sich tragen.“ Zum anderen wird dieses Ineinander in verschiedenen Ausprägungen und Betätigungsfeldern des Geistes deutlich: Tragende Einheit, die aller möglichen Zerspaltung durch Krankheit oder Nichtintegration des Ich durch widerstrebende Kräfte des Unterbewuss324 ten vorausgeht, ist „die Ich-Synthesis“. Neben diesen Vorgängen, die zunächst die Konstituierung des Geistes betreffen, kommt es in jedem Akt des Geisteslebens zu beidem: zunächst zu der primären Schöpfung und dann zu deren Negation in demselben Vorgang. Besondere Aufmerksamkeit widmet Tillich in diesem Zusammenhang dem Erkennen: „Hier [im Erkennen, in der Anschauung, dem Gemeinschaftsleben; K.B] erheben sich zwingende Gestaltungen, die alles geistige und gesellschaftliche Leben tragen und doch, indem sie es tragen, Geist und Gesellschaft zerstören. So die rationale Form des Erkennens, die den Eros mit den Dingen zerstört und sie vergegenständli325 chend vergewaltigt.“

Das zweideutige Sein offenbart den dämonische Charakter der Realität vollends in der Art seiner Ausrichtung auf das Unbedingte: als Bedingtes sucht es sich als in sich selbst gründend zu verstehen, wodurch auch die religiöse Frage als der Ausrichtung auf das Unbedingte isoliert wird. Die Frage, warum trotz der offensichtlichen Herrschaft des Dämonischen überhaupt etwas existiert, trägt ihre Antwort 326 bereits in sich, denn „das Sein zeugt für sich“ : so gespalten es auch zwischen Wesenseigenem und Wesenswidrigem gedacht wird, so sehr erfordere der Gedanke dieser Spaltung das vorausliegende Postulat einer unzerbrochenen Ganzheit, 327 „denn nur das Wesensmäßige hat Existenzmöglichkeit.“ Es bleibt aber die Frage danach, ob die Zerspaltung des Seins in ihrer existenziellen Ausformung die Struktur des Sinnvollen, die im Stande der unzerspalteten Kreatürlichkeit in der „Erfassung der unbedingten Seinsfülle auf dem Boden der Selbstheit und Selbstmächtigkeit steht“ und darum – in ihrer Einheit – „die Polarität zwischen Selbst323 Ebd., S. 225. Als Beispiele nennt Tillich an dieser Stelle das Ineinander positiv-tragender und zerstörerischer Kräfte in Licht, Feuer, Meer, Wüste, Gebirge, giftige Pflanzen sowie giftige bzw. fleischfressende Tiere. Allerdings weist er auch darauf hin, dass die Identifikation der wesenswidrigen Elemente nicht unbedingt eindeutig zu identifizieren sein müssen, denn „es ist für uns kaum möglich, kreatürliche Begrenztheit und dämonische Wesenswidrigkeit zu unterscheiden infolge der Entfremdung der Natur und infolge der falschen Tendenz, unseren subjektiv-sinnlichen Nutzen zum Maßstab der Wesensmäßigkeit der Natur zu machen.“ 324 Ebd., S. 226. 325 Ebd. 326 Ebd., S. 230. 327 Ebd. Dieser Gedanke scheint mir stark an den transzendentalen Überlegungen Emil Lasks angeknüpft zu sein, die wir im vorausgehenden Abschnitt in ihren Grundzügen vorgestellt haben.

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heit und Unbedingtheit, zwischen Weltsein und Transzendentsein“ umfasst, grundsätzlich in Frage stellen kann. Seine Antwort entwirft Tillich überaus anschaulich: zu den Strukturen, welche die durch die Zerspaltung des Seins hervorgerufene Sinnlosigkeit repräsentieren, zählt er es etwa, „wenn das Anorganische mit seiner inneren Mächtigkeit, der dynamischen Spannung, sich in Ohnmacht 329 spannungsloser Verbreitung im Weltraum auflöst (Entropie).“ Ebenso versucht Tillich, die von ihm so benannten ‚Sackgassen der Evolution‘, als die er Entwicklungsstörungen in einzelnen Individuen, psychische Krankheiten, das Nichtausschöpfen geistiger Potenziale sowie das Unbeachtet- und Folgenlosbleiben geistiger Schöpfungen zusammenfasst, als von der Zerspaltung des Seins herrührend zu 330 verstehen. Im Rahmen dieser Aufzählung zeigt sich, wie Tillich seinen philosophisch-theologisch motivierten Ansatz an aktuelle naturwissenschaftliche Diskussionen anzuschließen versucht, um diese im Rahmen seiner eigenen Konzeption nutzbar zu machen: Dabei geht es ihm nicht darum, eine detaillierte Darstellung eines Problems zu geben und er bleibt – wenn es etwa um die Entropie oder die Evolutionslehre geht – zwangsläufig an der Oberfläche eines naturwissenschaftlichen Sachverhaltes, aber er bemüht sich darum, eine naturwissenschaftliche Theorie in seine philosophisch-theologische Sprache zu übersetzen – in diesem Fall das Problem der Sinnlosigkeit. Damit wird den Erscheinungen, die Gegenstand der Reflexion der Naturwissenschaften sind, die Rolle zugestanden, auf der Basis der Analyse ihrer ontologischen Einordnung in die Dynamik des Seins, wesentliche Anfragen an die Theologie zu formulieren, die deren Rückzug auf traditionelle Antworten unmöglich macht: „Der Lebenssinn ist nicht erfahrbar in der Selbstheit, auch nicht in der mit dem Opfergedanken verbundenen erweiterten 331 Selbstheit, auch nicht in der kosmischen Selbstheit.“ Sinn kann für Tillich nur dann glaubhaft werden, wenn das Selbst seine Selbstmächtigkeit in der Teilhabe an der unbedingten Seinsfülle übersteigt. Um das damit in Verbindung stehende theologische Problem der Vorsehung neu in den Griff zu bekommen, muss für Tillich die „platonisch-statische Auffassung des Kosmos als eines [im Original: 332 einem; K.B.] geschlossenen System[s; K.B.] der Zwecke und Formen“ aufgegeben werden. Die daraus resultierende rationalistisch-individualistische Fassung des 328 Ebd., S. 232. 329 Ebd. Auf die Entropie und nach den daraus entstehenden Rückfragen an die in der Wirklichkeit zum Tragen kommenden Strukturen des Seins geht Tillich auch im SdW ein: „Es ist nicht möglich, diesen Fragen gegenüber [der Entropie; K.B.] bloß mit Gesetzesbegriffen auszukommen. Entweder muss ein bestimmter Zustand des Universums als Anfangszustand vorausgesetzt werden, oder es muss in jedem Augenblick mit schöpferischer Entstehung von Neuem gerechnet werden. Das Moment der bloßen Gegebenheit des reinen Seins mag noch so weit an den Anfang hinausgeschoben werden, irgendwie macht es sich in jedem Augenblick bemerkbar und gibt immer wieder Anlass zu der Frage nach einer produktiven Folgereihe, zu der Idee einer Geschichte der Kräfte und Stoffe.“ P. Tillich, SdW in: GW I, S. 153f. 330 P. Tillich, MDV in: E XIV, S. 232. 331 Ebd., S. 233. 332 Ebd.

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Vorsehungsgedankens ist angesichts von persönlicher Schuld und mutwillig herbeigeführter Zerstörungen nicht mehr haltbar – deutlich stehen Tillichs Erfahrungen aus dem 1. Weltkrieg und die daraus entstehenden Anfragen im Hintergrund seiner Überlegungen. Das Dämonische kann aber gleichzeitig auch nicht als vom Sein in moralistisch-individualistischer Weise getrennt konzipiert werden: es muss zugleich als durch die Tiefe des Unbedingten Getragenes und als in dieser Tiefe Überwundenes gedacht werden. Vor dieser als paradox beschriebenen Interpretation wird nun der platonisch gefasste Vorsehungsgedanken dahingehend modifiziert, dass von Sinn nur als etwas gesprochen werden kann, das „sich in 333 jedem Augenblick (…) neu konstituiert.“ Als einen Beleg für seine Überlegung, die eine anti-individualistisch-moralistische Stoßrichtung hat, führt Tillich die sich im Leiden offenbarende tiefere Schicht, „die ins Transzendente weist, ohne dass 334 moralisch etwas von dieser Bedeutung sichtbar werden kann“ an, für die er sowohl die „Psychologie des Unterbewussten wie die Einsicht in die Bluts- und Ver335 erbungszusammenhänge“ als Belege ansieht. Strukturen, die in den Naturwissenschaften zum Tragen kommen, werden von Tillich also in zweifacher Hinsicht benutzt: einmal bilden sie Beispiele für die Wirkungsweise des wesenswidrigen Seins gleichzeitig können sie auch Hinweischarakter haben auf die Ebene der Transzendenz der unbedingten Sinnerfüllung. Wenn sich aus diesen Überlegungen auch noch kein umfassendes Bild gewinnen lässt, so können zumindest einige wichtige Bausteine des theologischen Gedankens festgehalten werden, der für Tillichs Zugriff auf und seinen späteren Dialog mit den Naturwissenschaften von Bedeutung ist. Der wichtigste Baustein, der in diesem Abschnitt gewonnen werden konnte, scheint mir die Identifikation des Bedingten Seins mit dem Schauplatz – mithin des letztlich einzigen Schauplatzes – an dem eine Verhältnisbestimmung zwischen Bedingtem und Unbedingtem zu lokalisieren und zu systematisieren ist. Wie aus Tillichs Äußerungen zur Entropie zu ersehen war, geht es ihm letztlich nicht um eine theologische Stellungnahme zu dem Phänomen selbst, sondern um den in ihnen zu Tage tretenden Konflikt, der aus tieferen Sphären des Seins stammt. Diese bilden sich – und das ist sicherlich das entscheidende Motiv für Tillichs Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen – in der Art ihres Erscheinens strukturell in den Erscheinungen ab. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive sind für die Fragestellung dieser Studie sicherlich vom Sinnbegriff her in seiner weiteren Ausdifferenzierung der geisteswissenschaftlichen Methode die entscheidenden Komponenten für Tillichs Auseinandersetzung mit der Art der Erkenntnis, wie sie in den Naturwissenschaften vorherrschen, zu erwarten. Von daher wird er im Kontext der weiteren Beschäftigung mit Tillichs SdW im Kontext der Untersuchung seines Konzepts der Geisteswissenschaften im Mittelpunkt stehen. 333 Ebd., S. 233. 334 Ebd., S. 234. 335 Ebd.

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3.2

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Die Elemente der Differenz – Gestalt und Sinn

In diesem zweiten Teil möchte ich mich nun den Elementen zuwenden, die als Kriterien für die Differenzierung einzelner Wissenschaften bzw. Wissenschaftsgruppen in Frage kommen: dazu zählen ihre Gegenstände und die ihnen eigenen Methoden. In dieser genaueren Untersuchung der Aufgaben und Ziele einzelner Wissenschaften wird zum einen deutlich, wie Tillich sich dem Betrieb ‚Wissenschaft‘ in seinen Untergliederungen und Arbeitsteilungen deskriptiv nähert, denn unbestreitbar transportiert das SdW zunächst Tillichs Wahrnehmung des Gesamtkomplexes ‚Wissenschaft‘, wie er es in seiner Zeit erlebt hat und dessen Teil er war. Daneben formuliert er mit seinem systematischen Ansatz auch eine Reihe von normativen Ansprüchen. Ich möchte mich dabei auf die beiden großen Gruppen der Seins- bzw. Gestaltwissenschaften und der Geistes- bzw. Normwissenschaften beschränken und die Denkwissenschaften innerhalb dieser Teile mit verhandeln. Tillich strukturiert die beiden Bereiche der Seins- bzw. Geisteswissenschaften jeweils über einen Kernbegriff, in dem sich die Konstellation von Denken und Sein genauer spezifiziert. Für die Seinswissenschaften übernimmt diese Funktion der Gestaltbegriff, während die Geisteswissenschaften vom Sinnbegriff her entworfen werden. 3.2.1

Methoden und Konzeption der Seins- und Realwissenschaften

Im Folgenden wird zunächst (1) der Aufbau der Seinswissenschaften und die besondere Ausgestaltung der sie kennzeichnenden Methode vorgestellt, um dann (2) Tillichs Gestaltbegriff genauer zu klären. Danach ist auf seine Auswirkungen auf die beiden für die Fragestellung der Arbeit besonders relevanten Wissenschaften der Biologie (3) und der Psychologie (4) einzugehen. (1) Zunächst möchte ich mich den grundlegenden Aspekten der in den wissenschaftlichen Großgruppen jeweils zur Anwendung kommenden Methode sowie den von Tillich kurz entfalteten Kategorien Kausalität und Substanz zuwenden, denn in ihnen kommen grundlegende Zuordnungen und Abgrenzungen sowie der Begründungszusammenhang in den Blick, von dem ausgehend die seinswissenschaftliche Systematik Tillichs entfaltet ist. 336 Die Methode ist „eine bestimmte Haltung des erkennenden Subjekts“ gegenüber seinem Gegenstand. Diese Haltung differenziert Tillich in vier Aspekte, die entsprechend ihrer Ausrichtung auf das bestimmte Wissensgebiet spezifischen Veränderungen unterzogen sind, wonach die Feingliederung der Wissenschaftssystematik ausgerichtet wird. Diese vier Aspekte beschreibt Tillich folgendermaßen: „1. Das Ziel des Erkennens: die Art der Begriffsbildung in jeder Erkenntnisgruppe.

336 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 124.

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Die Einheit der Wissenschaften – Paul Tillichs Wissenschaftskonzept 2. Die Stellung der Erkennens: Das Verhältnis des erkennenden Subjekts zum erkannten Objekt. 3. Der Weg des Erkennens: Die Arbeitsweise oder die Methode im engeren Sinn. 4. Der Grad des Erkennens: Die Art der Gewissheit, die auf einem bestimmten We337 ge erworben werden kann.“

Dasselbe Grundmuster, das Tillich der Grobgliederung der Wissenschaften in Denk-, Seins- und Geisteswissenschaften zu Grunde gelegt hatte, bildet auch das Gerüst für die Gliederung der seinswissenschaftlichen Gruppe in ihren feineren Verästelungen. Die Makrostruktur fundamentalen Bezogenheit von Denken, Sein und Geist, dass die Makrostruktur wirkt sich auch in den einzelnen Wissenschaftsgruppen aus. Für die erste, den Seinswissenschaften zugeordnete Gruppe – die Tillich als die Gruppe der Gesetzeswissenschaften zusammenfasst, zu denen er die mechanischen, dynamischen und chemischen Wissenschaften zählt – ist entscheidend, dass das Denken in ihnen, während es sich der Einzelwirklichkeit zuwendet, „in seinen allgemeinen Formen das Sein restlos zu bestimmen, also die Mannigfaltigkeit und 338 Einzelheit auszulöschen“ sucht. Die Anlehnung an die Konzeption der Denkwissenschaften Logik und Mathematik ist deutlich, mit dem wesentlichen Unterschied, dass diese sich allein auf sich selbst als der Form richten und nur mit der Möglichkeit ausgestattet sind, sich auf Sein zu richten. Machen sie von dieser Möglichkeit Gebrauch, dann gehen sie über in die Gruppe der Gesetzeswissenschaften und werden den Seinswissenschaften zugeordnet. Als deren Ziel gibt 339 Tillich die Aufhebung „des Einzelnen (…) im Allgemeinen“ an. Auch die sog. Folgewissenschaften haben als Ziel die Einordnung eines Einzelnen in einen größeren Zusammenhang, doch geht es bei diesem Vorgang in den Folgewissenschaften nicht um die Aufhebung der Bedeutung von Individualität, sondern gerade um deren Sichtbarwerden als Einzelnes. Verbunden mit dem Faktor Zeit, der als „Form des Schöpferischen“ verstanden wird, „entringt sich das Sein der Herr340 schaft des Denkens“ und zeigt eine deutliche Affinität zu den Ansätzen der Geisteswissenschaften. Entscheidend für Tillichs Konzeption ist nun aber, dass Gesetzes- und Folgewissenschaften lediglich als abstrakte Formen der Bezogenheit von Denken und Sein aufeinander vorstellbar sind. Im Zentrum der Systematik stehen die Gestaltwissenschaften, zu denen Tillich vor allem Biologie, Psychologie und Soziologie zählt. In ihnen sieht er das Problem der Bezogenheit von Allgemeinem und Individuellem, das in den beiden anderen Gruppen unverbunden entweder zugunsten der Allgemeinheit oder der Individualität stehen bleibt, integriert, denn „jede Gestalt grenzt sich ab durch ihren individuellen Charakter (…) und ist zu337 Ebd., S. 125. 338 Ebd., S. 136. 339 Ebd. 340 Ebd., S. 137.

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zugleich durch ihre Gestaltgesetze maßgeblich für alle gleichartigen Gestalten.“ Damit nehmen die Gestaltwissenschaften eine vermittelnde Zwischenstellung im Kontext der Seinswissenschaften ein, welche die Grundlage für die Abstraktion der beiden anderen Gruppen bildet, denn sowohl Gesetzesstrukturen als auch 342 historische Folgen können sich nur an primären Gestalten vollziehen. Tillich intendiert mit diesem offensiven Rückgriff auf den Gestaltbegriff die beziehungslose Gegenüberstellung der individualisierenden und generalisierenden Wissenschaften zu überbrücken, die er besonders in den Werken Heinrich Rickerts repräsentiert sieht, die er für die fatale Trennung von einzelnen Wissensgebiete und für die Marginalisierung der Geisteswissenschaften verantwortlich macht: „Die Wirklichkeit ist reicher, als dass sich zwei Methoden in sie teilen könnten und gerade die Methode der Gestalten, die im Streit um die Methoden vergessen wurde, ist die zentrale und konkrete Methode: Die Methode, die der denkgeformten Wirklichkeit gemäß ist und die darum allein im Stande ist, das Problem der Methode zu 343 lösen.“

Mit dieser Grundentscheidung bezüglich der Stellung des Gestaltbegriffs im Hintergrund entfaltet Tillich die vier Aspekte der in den Seinswissenschaften vorherrschenden Methode: Die Erkenntnishaltung wird als grundverschieden zu der der Denkwissenschaften gesehen. Hatte diese sich selbst ihre Strukturen durch rational-intuitive Hinwendung zu sich selbst offen legen können, hat es das Denken in den Seinswissenschaften mit der „Wahrnehmung“ des ‚Anderen‘ zu tun, die zu „Erkenntnis [wird; K.B.], wenn durch die Ratio Zusammenhänge hergestellt wer344 den.“ Zudem kann sich in den Seinswissenschaften auch ein geisteswissenschaftliches Element finden: wendet sich die Erkenntnis Formen zu, in denen das Sein durch seine Ausrichtung auf das Unbedingte gekennzeichnet ist, dann bekommen es auch die Seinswissenschaften mit den irrational-unendlichen Elementen des Seins und damit mit den schöpferischen Elementen des Seins zu tun, dem sie ein345 fühlend und verstehend zu begegnen hat. Allerdings werden die Seinswissenschaften nicht selbst schöpferisch, sondern ihre Haltung gegenüber den Objekten 346 beinhaltet ein „nachschaffend[es; K.B.], wahrnehmendes Verstehen.“ Der methodische Weg, den die Erkenntnis in den Seinswissenschaften zu gehen hat, orientiert sich an diesen drei Elementen: primär ist die Wahrnehmung, die durch rationale Beschreibung zu Erkenntnis wird. Sie spielt sowohl in der gesetzeswissenschaftlichen Gruppe eine Rolle, die gekennzeichnet ist durch das Experiment, „der methodischen Frage an das Sein“, die als „eigentümliche Einheit von Deduktion

341 Ebd. 342 Vgl. Ebd., S. 141. 343 Ebd., S. 138. 344 Ebd., S. 144. 345 Vgl. Ebd., S. 145. 346 Ebd.

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und Induktion“ verstanden wird. Ebenso spielt die Wahrnehmung im Kontext der Geschichtswissenschaft eine grundlegende Rolle, auf der die nachschaffende, beschreibende Konstruktion beruht. Der Erkenntnisgrad, der in den Seinswissenschaften erreicht werden kann, ist der der Wahrscheinlichkeit, deren „Grade (…) dem unendlichen Annäherungsverhältnis, in dem alles Erkennen zum Sein steht“ 348 , der durch das rational-deduktive Element des Denkens bestimmt wird, entspricht. In der historischen Gruppe kommt zudem noch die spezifische Gewissheitsart der Geisteswissenschaften zum Tragen: „Überzeugung“ ist dagegen 349 „maßgeblich für die gesamte Normwissenschaft.“ Um die Darstellung der Gliederung der Seinswissenschaften abzuschließen, muss nun noch ein kurzer Blick auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen dieses Modells geworfen werden, die Tillich unter der Überschrift ‚Kategorien und Methoden‘ entfaltet. Als die zentrale Frage stellt sich ihm das Verhältnis von Methoden und Gegenständen, das er unter den beiden Kategorien Kausalität und Substanz zusammenfasst. Dabei ist ein Zweifaches entscheidend: einmal haben auch die von ihm an dieser Stelle genannten Kategorien teil an seiner metalogischen Auffassung der Wirklichkeit, die aus der Grundspannung zwischen Denken und Sein entsteht. Das impliziert, dass die Kategorie der Kausalität zum einen aus ihrer logistisch-empiristischen Engführung befreit werden muss, denn sie umfasst mehr als die „formale Bestimmung einer ‚notwendigen Folge in der Zeit nach 350 einer Regel‘“ oder die „subjektive Gewöhnung an häufig eintretende Folgen.“ Auch die irrationalen Elemente, die aus dem Sein stammen, sind in ihr enthalten und erst durch ihre Einbeziehung – sie umfassen die schon bekannten Elemente der Individualität durch Abgrenzung von anderem Sein und die Teilhabe an einer 351 „gemeinsamen Seinswurzel“ – kann die Struktur der Dinge, die ebenfalls auch irrational-seinshaftes umfasst, mit der Kategorie der Kausalität erfassbar werden. Zum anderen wird das notwendige Entsprechungsverhältnis von Erkenntnistheorie und metaphysischen Bestimmungen an der These Tillichs deutlich, die er seinen Überlegungen zu den Kategorien voranstellt: „Nur was gedacht ist, kann 352 nachgedacht werden.“ Wirklichkeit wird als ein durch die Funktionen des Geistes geformtes Konstrukt verstanden, das sich in der Erscheinungswelt konstituiert. In dieser neuplatonisch-idealistischen Zuordnung liegt für Tillich die Möglichkeit 353 der Erkenntnis überhaupt begründet. Außerordentlich wichtig scheint mir an Tillichs erweitertem Verständnis von Kausalität zu sein, dass es ihm offensichtlich nicht um die Ausschaltung des rein rationalen Kausalitätsbegriffs geht. Vielmehr versucht er, mit Hilfe der Wissenschaftssystematik Kriterien zu entwickeln, die in 347 Ebd. 348 Ebd., S. 146. 349 Ebd. 350 Ebd., S. 147. 351 Ebd. 352 Ebd. 353 Ebd.

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der Lage sind, den Ort auszuweisen, an dem das Spannungsverhältnis von Form 354 und Gehalt eine Wirklichkeit, die weitestgehend durch „äquivalente Kausalität“ geprägt ist, hat entstehen lassen. In diesem Bereich hat dann das etwa für die Physik kennzeichnende, abstrakt-quantitative Denken seinen angemessenen Raum. Wo hingegen die Qualität im Vordergrund steht – wie etwa in der historischen Sphäre – hat die Kausalität „das Gesetz der Produktion [zu berücksichtigen; K.B.]: In der Wirkung ist etwas Neues gegenüber der Ursache, und der Zusammenhang 355 zwischen Ursache und Wirkung ist keine Regel, sondern eine Sinnfolge.“ Analog zu seiner vom Modell der Metalogik her entworfenen Struktur der Kausalität entwirft Tillich auch die zweite Kategorie der Substanz. Sie sei mitnichten „das dinggewordene Substrat der quantitativen Relationen unter Ausschluss 356 aller Qualitäten.“ Vielmehr muss ihr metalogischer Charakter, die „seinshaft 357 verwurzelte lebendige Form des Dinges“ , die nicht mit einer wie auch immer gearteten Vorstellung ungeformter Materie verwechselt werden darf, in die Reflexion einbezogen werden. Die Kategorien der Kausalität und der Substanz verbindet Tillich über den Begriff des Telos, in dem er in sich abgeschlossene Endlichkeiten zusammenfasst: Eine in sich abgeschlossene Kausalität eint in sich äquivalente und produktive Kausalität, so dass beide verbunden und unverbunden aus dieser geschlossenen Kausalität hervorgehen und in Beziehung zu anderen Gestalten bzw. geschlossenen Kausalitäten treten können. Analoges gilt auch für die Substanz: sie bildet eine in sich geschlossene Gestalt, die ebenfalls – je nach Art der methodischen Frage an sie – sowohl rein von ihrer Materie her als auch metalogisch – also von ihrem dynamischen Seinsgrund her – verstanden werden kann. Neben diesen auf die Erfassung ontologischer Strukturen zielenden Kategorien öffnet Tillich im Rahmen der Erörterung der Einzelwissenschaften den 358 Raum für eine ‚pragmatische‘ Kategorienlehre , die „von der Beziehung des Le354 Ebd., S. 148. Darunter versteht Tillich folgendes: „In der Wirkung ist nicht mehr als in der Ursache.“ 355 Ebd. 356 Ebd. 357 Ebd. 358 Tillich verwendet den Begriff des Pragmatismus hier in bewusster Abgrenzung zum philosophischen Pragmatismus, gegen den sich die Polemik im Rahmen des SdW noch in Grenzen hält. Deutlicher wird Tillich an anderer Stelle: „Obgleich ihre [die der pragmatischen Methode; K.B.] geistvollsten Formulierungen auf deutschem Boden gegeben sind, in Nietzsches ‚Willen zur Macht‘ und Vaihingers ‚Philosophie des Als-Ob‘, ist es zur geistigen Herrschaft doch nur in der amerikanischen Philosophie gelangt. Sie verzichtet auf eine Wahrheit an sich und erklärt für wahr diejenigen Begriffe oder Fiktionen, die lebensnotwendig und lebensstärkend sind. Ein Wahrheitswert, der ihnen abgesehen von dieser Lebensfunktion zukäme, ist nicht feststellbar. (…) Freilich zeigen diese Gedanken die völlige Andersartigkeit der amerikanischen Geisteslage gegenüber der europäisch-kontinentalen. Sie zeigen ihren vorkritischen, aber im Grunde auch vorgeistigen Charakter. Von einer Wende, wie sie namentlich in Mitteleuropa offenkundig ist, kann hier keine Rede sein. Dafür fehlen die negativen wie die positiven Vorbedingungen.“ P. Tillich, RLG in: GW X, S. 30. Zu Tillich und seiner Einschätzung des Pragmatismus vgl. W. Schüßler, Religionsphilosophie, S. 23ff. Detaillierter auf die Bedeutung des Pragmatismus auf das Spätwerk Tillich geht

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bendigen zu den Dingen her gebildet“ wird, die in jedem Wissensgebiet zum Tragen kommen, die Tillich als die natürliche „Grenze des menschlichen Er360 kenntnisstandpunktes“ bezeichnet. Die Begrenzungen, denen der Mensch als lebendiges Wesen unterliegt, bestimmen danach auch die Grenzen seiner Erkenntnis: „Erkenntnisobjekt wird tatsächlich nur, was in irgendeiner Weise in den menschlichen Lebenszusammenhang eintreten kann, sei es durch Nutzen, sei es durch Gemütswirkungen, sei es durch Beziehung zu geistigen Werten.“361

Zwar nimmt dieser Aspekt in Tillichs erkenntnistheoretischer Konzeption keine dem abstrakten Spannungsverhältnis von Denken und Sein ebenbürtige Position ein, wie es wohl wünschenswert gewesen wäre. Doch tritt dieser Aspekt in der tatsächlich stattfindenden Erkenntnis in Auswahl und Zuordnung bestimmter Erkenntnisobjekte in Verbindung mit den abstrakten Kategorien immer deutlich zutage. Dabei bestimmen die pragmatischen Kategorien als ‚metalogische‘ Kriterien durch ihre Herkunft aus dem Lebenszusammenhang des erkennenden Subjekts weitgehend die Art des Zugriffs auf die zu erkennenden Objekte. (2) Der Gestaltbegriff lässt sich als einer der wesentlichen Fundamentalbegriff der Systematik Tillichs unmöglich unter einem einzigen Gesichtspunkt zusammenfassen, denn er behält in der gesamten Darstellung etwas schillerndes und strahlt in viele verschiedene Richtungen aus. Zudem transportiert und trägt auch Tillichs Gebrauch des Gestaltbegriffs die umfassende Geschichte seiner Verwen362 dung mit sich , die – erwartungsgemäß – weitestgehend unausgesprochen bleibt. Aber auch für Tillich gilt letztlich, was Annette Simonis generell für die Verwendung des Gestaltbegriffs konstatiert hat: „Wer in der deutschsprachigen Literatur über ‚Gestalt‘ oder ‚Gestalten‘ geschrieben hat – und das gilt noch bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts – der suggeriert dem Leser stillschweigend meist mehr, als die Rede über bloße Formen oder Strukturen. Es gibt, mit anderen Worten, ein Ensemble zumeist unausgesprochener Leitannahmen, die sich an den Gestaltbegriff knüpfen, ein Gewebe von impliziten Vorstellungen, die aufs engste mit ihm verflochten sind.“363 D.-M. Grube ein: ‚Tillich und die anglo-amerikanische Philosophie. Seine Auseinandersetzung mit dem Erfahrungsbegriff‘ in: C. Danz, Theologie als Religionsphilosophie, S. 225–229. 359 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 158. 360 Ebd., S. 156. 361 Ebd. 362 Auf die Bedeutungsverschiebung, die der Gestaltbegriff in der Zeit zwischen dem Deutschen Idealismus und dem beginnenden 20. Jh. durchgemacht hat, hat Evelin Kohl hingewiesen. Sie arbeitet zudem die Tendenz heraus, dass der Begriff sich weg von kategorial-prädikativen Konnotationen hin zu – bis heute vorherrschenden – vorwiegend anthropomorphen Bedeutung entwickelt hat. Vgl. Evelin Kohl, „Gestalt“ Untersuchung zu einem Grundbegriff in Hegels Phänomenologie des Geistes, München 2003, S. 8ff. 363 Annette Simonis, Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur, Köln u.a. 2001, S. 4; Kurztitel: A. Simonis, Gestalttheorie.

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Unter Berücksichtigung dieses Umstandes lässt sich die Funktion und Struktur von Tillichs Gestaltbegriff unter vier Gesichtspunkten zusammenfassen: Zunächst ist der Gestaltbegriff ein Integrationsbegriff, über den Tillich versucht, die diversen und umstrittenen Frontstellungen, die für die Wissenschaftssystematik seiner Zeit kennzeichnend waren, aufzubrechen und sich gleichzeitig in dieser Diskussion zu positionieren. Die Gestalt ist für ihn der Punkt in der Wirklichkeit, in dem Individualität – dasjenige Element der Gestalt, durch die sich die einzeln abgegrenzte Entität von allen anderen Entitäten als unterschieden erweist – und Allgemeinheit – das ebendieser Umstand der Individualität eine der Gesetzmäßigkeiten darstellt, die allen Gestalten gleichermaßen eignet – zusammen364 fließen. Zum Zweiten versteht Tillich unter einer Gestalt ein geschlossenes System, das – bezeichnet durch den Telosgedanken – eine sowohl kausal als auch substantiell abgeschlossene Endlichkeit darstellt. Dieser Gedanke, der die Gestalt 365 von ihrem ihr immanenten Telos her bestimmt , führt direkt zu Tillichs Auffassung, die jedes Teil durch seine Zugehörigkeit zu einem Ganzen wesentlich strukturiert sein lässt, selbst wenn diese Zusammengehörigkeit – etwa durch das Abtrennen eines Teils vom Ganzen – nur noch ideell behauptet werden kann. Die Gestalt ist das erkenntnistheoretische Instrument, das im Gegensatz zum mathematisch-rationalen Erkenntnisweg der Denkwissenschaften nicht die quantitativ erfassbaren Elemente in den Fokus des Erkennens stellt, sondern seinen Ausgangspunkt beim Sein als eines „allseitig qualitativ bestimmte[n; K.B.] Sein[s; 366 K.B], dessen Teile nicht Quantitäten sondern Qualitäten, nämlich Glieder sind“ , hat. Damit kommt drittens eine für Tillichs Verständnis der Seinwissenschaften fundamentale Unterscheidung in den Blick: die Gestalt ist das primäre, sie geht allen Gesetzen und Folgen voraus, die sich sekundär an Gestalten vollziehen, diese 367 aber nicht konstituieren können. Die Kategorien, die die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Gesetzes- und Folgewissenschaften darstellen, werden letztlich als abstrakte Rekonstruktions- und Annäherungsversuche an eine ursprünglich gestalthafte, in sich das spannungsvolle Ineinander von Form und Gehalt tragende Wirklichkeit verstanden. Von daher wird es notwendig, dass sie aus unterschiedli364 Vgl. Ebd., S. 137. 365 Tillichs Einführung des Telosgedankens greift in diesem Zusammenhang auf Kants Beurteilungsprinzips der Naturzwecke zurück, das einen Naturzweck als „ein organisiertes Produkt der Natur“ versteht, „in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.“ Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Mit einer Einleitung und Bibliographie herausgegeben von Heiner F. Klemme, Hamburg 2001, S. 378 §66. Vgl. dazu Kap. II, 1.2 (1) dieser Studie. 366 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 139. Der Begriff der Gestaltqualitäten, den Tillich hier verwendet, geht auf Christian von Ehrenfels zurück. Vgl. dazu Anne Harrington, Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis zur New-AgeBewegung, Reinbek 2002, S. 207ff; Kurztitel: A. Harrington, Ganzheit. 367 Vgl., Ebd. S. 142. Deutlich steht hier Goethes Vorstellung einer ‚Urpflanze‘ im Hintergrund, die für das Verständnis und die Einordnung aller mit empirischer Methodik erforschten Pflanzen konstitutiv sein soll und so von vornherein die Interpretationsparameter vorgibt. Vgl. etwa Johann Wolfgang von Goethe, Briefe, HA II, S. 66f.

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chen Perspektiven und mit verschiedener Zielrichtungen Objekte wissenschaftlicher Forschung werden. Für Tillich zielt dieses wissenschaftliche Grundsatzprogramm auf eine möglichst umfassende Erkenntnis der Wirklichkeit, die die verschiedenen Dimensionen derselben verstehend aufzunehmen versucht. Diese an Goethe und Schelling orientierte erkenntnistheoretische Grundentscheidung ist für Tillichs Verständnis der Naturwissenschaften von herausragender Bedeutung und entscheidet wesentlich über seine Bewertungen, die bei der Systematisierung 368 der Fächer eine erhebliche Rolle spielt. Mit dieser Verbindung zu den Gesetzen und Folgen ist der vierte und letzte Punkt gegeben, der der Konzeption Tillichs ihre eigenartige Prägung verleiht: die als geschlossen gedachte Kausalität der Gestalt wird immer wieder durch Gesetze und Folgen, die als offene Kausalitäten bezeichnet werden, in ihrer Eigenständig369 370 keit bedroht und durchkreuzt. Die „schöpferisch-urständliche Weltauffassung“ , deren Ausdruck der Rückgriff auf die Gestalt ist, ist methodisch und kategorial eng mit der mathematisch-rationalen Auffassung der traditionellen Naturwissenschaften verbunden und kann nur um den Preis des Selbstverlustes von ihr getrennt werden, obwohl mit diesem Zugriff gleichzeitig die deutliche Kritik Tillichs 371 an dem Wissenschaftlichkeitsideal der rein empirisch arbeitenden Wissenschaften enthalten ist. Der Anspruch, alleiniges Erklärungsmodell für eine, als rein stofflich verstandene Wirklichkeit, deren Kausalität allein auf Ursache und Wirkung beruht, bieten zu wollen, ohne dabei die gehaltlichen Elemente des Seins zu berücksichtigen, wird von Tillich streng abgelehnt. Von diesen Hauptlinien her ist nun deutlich, warum für Tillich beides nur zusammen denkbar ist: Einerseits ist bei ihm zwar eine strenge Überordnung der geisteswissenschaftlichen Methode über jeden seinswissenschaftlichen Ansatz zu beobachten, denn in den Geisteswissenschaften allein werden die Faktoren reflektiert, die implizit in jedem seinswissenschaftlichen Zugang zur Wirklichkeit enthalten sind, die damit die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt erst darstellen. Zum anderen spielt sich auch in den seinswissenschaftlichen Gegenständen und Methoden das Drama zwischen Denken und Sein ab, so dass die grundlegende Weltauffassung, die Gestalt und Geist in den Mittelpunkt stellt, zwar als unterschieden, aber niemals als getrennt von dieser gedacht werden kann. Wird dies nicht im rechten Maße beachtet, dann haben nicht nur die Geisteswissenschaften eine durch den von seinswissenschaftlicher Seite beanspruchten Herrschaftsanspruch hervorgerufene Krise zu 368 In dieser Richtung ist A. Harrington Recht zu geben, wenn sie konstatiert, dass Tillichs Gestaltbegriff im SdW nicht so sehr von den Diskussionen der Gestaltpsychologen um Wertheimer und Köhler angeregt ist, sondern eher vor dem Hintergrund der philosophisch-ästhetischen Richtung Goethes und Schillers zu verstehen ist. Vgl. A. Harrington, Ganzheit, S. 425 Anm. 117. 369 Vgl. P. Tillich, SdW in: GW I, S. 149. 370 Ebd., S. 212. 371 Als Gradmesser für die Wissenschaftlichkeit einer Wissenschaft gilt vielmehr das Maß, in dem „in ihnen Allgemeinheit – verstanden als schöpferisch tätiges Unbedingtes – und Individuelles vermittelt sind.“ Vgl. P. Ziche, Orientierungssuche, S. 61.

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bewältigen, sondern der Anspruch mit den Mitteln wissenschaftlicher Methodik eine adäquate Erkenntnis der Wirklichkeit erarbeiten zu können, wird in beide Wissenschaftsgruppen verfehlt, weil die Seinswissenschaften sich den Bedingungen, unter denen sie zu Erkenntnissen kommen, nicht im angemessenen Maße bewusst sind. (3) Was dieser Ansatz nun im Einzelnen für Tillichs Verständnis der unterschiedlichen Seinswissenschaften bedeutet, soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Dabei werde ich mich auf die Bereiche der Biologie und der Psychologie beschränken, denn diese beiden Wissenschaften nehmen durch die besondere Beachtung, die Tillich ihnen sowohl im SdW als auch in seinen späteren Arbeiten einräumt, eine herausragende Stellung ein. Zudem liegen hier schon einige der wesentlichen Parameter vor, die für sein anthropologisches Denken der späteren Zeit ausschlaggebend sind. Des weiteren ist in Tillichs Ausführung zu Biologie und Psychologie auch möglich, einen Einblick in seine Wahrnehmung der Konflikte, die diese Disziplinen zu Beginn des 20. Jh. prägten, zu gewinnen, die auch aktuelle Problemkonstellationen berühren. Welche Auswirkungen die bis hierher dargestellten und analysierten erkenntnistheoretischen Grundlagen auf die Einordnung und Strukturierung dieser beiden Fächer hat, soll zunächst für beide Wissenschaften gemeinsam untersucht werden. Dann wird für beide im Einzelnen gezeigt, welche grundlegenden Probleme sich in ihnen stellen und aus welcher Perspektive Tillich Lösungen zu formulieren sucht. Dabei kann es primär nicht so sehr darum gehen, nachzuweisen, ob Tillich die betreffenden Gebiete zutreffend wahrnimmt, oder ob sich in der Darstellung eklatante Lücken bezüglich eines Wissensgebiets zeigen, was bei der Fülle des einbezogenen Materials kaum aus372 bleiben kann. Vielmehr soll dem nachgegangen werden, welchen Ort in dem erkenntnistheoretischen Gesamtgefüge des SdW den Seinswissenschaften zugewiesen wird, und wie er diese konzipiert. Die mittlere Gruppe der Seinswissenschaften – bestehend aus Biologie, Psychologie und Soziologie – wird durch den Gestaltbegriff zusammengehalten. Diese drei Wissenschaften werden als drei unterschiedliche Perspektiven auf die eine Gestalt verstanden: „Die Gestaltwissenschaft ist im Grunde eine einzige. Sie betrachtet die lebendige Gestalt, erstens unter dem Gesichtspunkt ihres individuell-Äußeren, zweitens unter dem Gesichtspunkt ihres individuell-Inneren und drittens unter dem Gesichtspunkt ihres sozial-Äußeren und -Inneren.“373

372 Vgl. Ebd., S. 64f. 373 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 161. Der Terminus ‚lebendige Gestalt‘ geht auf Friedrich Schiller zurück, den er zur Umschreibung des ästhetischen Phänomens der Schönheit in die Diskussion gebracht hatte. Tillich benutzt diesen Begriff zusammen mit der Feststellung, dass es sich bei einer lebendigen Gestalt um eine allseitig qualitativ bestimmte Entität handelt, als einen Kampfbegriff, mit dem er sich nahtlos in die Reihe naturphilosophisch orientierter Ganzheitstheoretiker einreiht, die im Anschluss an Goethe eine Verbindung von Ästhetik und Naturwissenschaften an-

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Tillich hat bei dem Entwurf seines Konzeptes der Gestaltwissenschaften zwei unterschiedliche Debatten im Blick, für deren Probleme er in seinem Ansatz eine Lösung vorzulegen meint. Zum einen will er die Frontstellung, die durch die Rickert’sche Unterscheidung zwischen der erklärenden Begriffsbildung der Naturwissenschaften einerseits und der verstehenden der historischen Wissenschaften entstanden ist, durch seine gestaltwissenschaftliche Gruppe auflösen. Zum anderen beabsichtigt Tillich, „den Kartesianischen Dualismus, der auf der Entgeistigung der mechanisierten Natur beruhte, zurückzudrängen und das LebendigSchöpferische – die ursprüngliche Seinsgestalt – zum Prius aller Wirklichkeitser374 kenntnis zu machen.“ Das versucht er zunächst auf dem Weg einer Neuordnung der Gegenstände, die mit der Implementierung des Gestaltbegriffs einhergeht: als Unterscheidungskriterium, nach dem die Gegenstände den einzelnen Wissenschaften zugeordnet werden, soll nun nicht mehr der vermeintliche Gegensatz zwischen Geist und Natur eingeführt werden. Sinn der umfangreichen Bestimmungen des Gestaltbegriffs war es m.E., diesen Graben auf Seiten der Gegenstände in zweierlei Richtungen zu verschieben: Einmal betont Tillich durch die Einordnung der historischen Wissenschaft unter die Seinswissenschaften, die Zusammengehörigkeit beider Bereiche von der ähnlichen Struktur der Stellung, die Denken und Sein zueinander einnehmen, aus. Die andere Verschiebung sieht Tillich darin, dass der wesentlich relevantere Unterschied zwischen dem Anorganischen und dem Organischen liege, der in der Unterscheidung von Gesetzes- und Gestaltwissenschaft und in der Ausarbeitung unterschiedlicher Methodiken auf375 genommen ist. Zwar sind die Gesetzeswissenschaften ähnlich von den Gestaltwissenschaften unterschieden wie die Folgewissenschaften, bezeichnend sei aber, dass es „schlechterdings nicht gelungen [ist; K.B.] das ‚Leben‘ im biologischen Sinne zu einem rein gegenständlichen Objekt äußerer Wahrnehmung zu machen wie die physikalischen Dinge. Das Wesen des Lebendigen kann zwar in einer Reihe von abgrenzenden Merkmalen gegenüber dem Physikalischen formuliert, aber es kann so nie wirklich erfasst werden. Es gibt keinen Weg vom Physikalisch-Gegenständlichen zum Organisch-Lebendigen, wohl aber kann man umgekehrt vom Lebendigen her das Anorganische erfassen als Resultat einer Vergegenständlichung der quantitativen Elemente des Organischen. Das Lebendige erfordert einen Akt der Selbsterfassung, des Verstehens."376

strebte und gegen das Weltbild, das sich im Anschluss an die Newton’sche Physik herausbildete, aussprachen. 374 Ebd. 375 Vgl. Ebd., S. 160. Der Unterschied „zwischen Stein und Pflanze“ wird von Tillich in diesem Zusammenhang als wesentlich eklatanter aufgefasst als der Übergang vom nicht-geistigen Leben zum geistigen. Dieses Problem beschäftigt ihn auch in ST III, wo er es unternimmt, auch das Anorganische in den Begriff des Lebens einzuholen. Vgl. P. Tillich, ST III, S. 28ff. 376 Ebd. Es ist zu vermuten, dass diese systematische Grundentscheidung Tillichs als Reaktion der Versuche organischer Physiker – zu denen etwa Hermann von Helmholtz, Emil Du Bois-

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Verstehen kann – gegen Rickert – für Tillich somit nicht auf die Sphäre des geschichtlichen bzw. geistigen beschränkt werden, denn – von Tillichs metalogischen Verständnis der Wirklichkeit als einer schöpferisch-dynamischen aus – enthält jedes Lebendige eine Ausrichtung auf die Dimension des Unbedingten, die nicht erklärt, sondern nur – durch die Berücksichtigung ihrer irrationalen Elemente – verstanden werden kann. Biologie und Psychologie sind für Tillich damit wesentlich enger aufeinander bezogen als Physik und Biologie. Als wesentliches Unterscheidungskriterium führt Tillich dabei die Perspektive an, von der aus das erkennende Subjekt auf das Lebendige zugreift: immer ist es ein lebendiges Subjekt, das in seinem Forschungsobjekt ein Stück von sich selbst erkennt, und von daher das Anorganische nur als Abstraktion im Unterschied zum Lebendigen abgrenzen und als solches erkennen kann. Diese Entscheidung hat wesentlich Auswirkungen auch auf die Sphäre des Psychischen: das Leib-Seele Problem kann nicht so verstanden werden, dass die Seele als eine dem materiellen Leib eingepflanzte, immaterielle Instanz vorgestellt wird, ohne die der Leib tote Materie wäre. Die Dualität Leib-Seele wird von Tillich in die beiden funktionalen Teile ‚Seele‘ und ‚Leben‘ überführt, die für ihn nicht zwei von einander getrennte Entitäten, sondern ledig377 lich zwei unterschiedliche „teleologische Einheitspunkt[e; K.B.]“ bilden, die die äußeren und inneren Bestandteile der einen Gestalt zusammenfassen. Diese werden zwar funktional als deutlich von einander unterschieden, aber niemals als kategorial voneinander getrennt verstanden, womit Tillichs holistischer Grundansatz, der seiner Systematik von Biologie und Psychologie zu Grunde liegt, in ersten Grundzügen umschrieben ist. Diese integrative Grundausrichtung der Gestaltwissenschaften wirkt sich auch auf die Einordnung der Biologie aus. Tillich sieht in dem Fach und seiner Geschichte den ständigen Austragungsort eines letztlich philosophischen Konfliktes: Die methodische Frage der Biologie nach dem grundsätzlichen Herangehen an das Lebendige – entweder von mechanisch-dynamischen Kategorien aus oder durch das Konstatieren „besondere[r; K.B] Lebenskräfte, die den biologischen 378 Prozess leiten sollen“ – stellt für ihn eine Camouflage eines tief liegenden philosophischen Grundproblems dar. Beide Ansätze haben für sich genommen ihren Platz in der Systematik des Faches: Der Vitalismus sei Ausdruck einer grundlegenden Voraussetzung, auf der letztlich jede biologische Begriffsbildung basiere: Reymond, Ernst Brücke oder Karl Ludwig zu rechnen sind – alles Organische umfassend und vollständig in anorganische Kategorien aufzulösen, was sich etwa in dem 1847 veröffentlichten Manifest dieser Wissenschaftlergruppe niederschlug, wo es heißt: „Keine anderen Kräfte als die allgemeinen physisch-chemischen können innerhalb des Organismus tätig sein. In den Fälle, die nicht mit diesen Kräften erklärt werden können, muss man die besondere Art oder Form ihrer Beschaffenheit entweder mit Hilfe physisch-mathematischer Methoden erklären oder neue Kräfte annehmen, die den chemisch-physischen Kräften der Materie gleichrangig sind, die auf die Kraft der Anziehung und Abstoßung zurückführbar sind.“ Zitiert nach A. Harrington, Ganzheit, S. 38. 377 Ebd., S. 161. 378 Ebd., S. 162.

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In nahezu jedem „Satz in der Biologie“ spiele „direkt oder indirekt die teleologi379 sche Beziehung aller Organe und Funktionen auf die Lebenseinheit“ eine fundierende Rolle, die den Eintritt in eine Erkenntnisbeziehung erst ermögliche. Dagegen könnten die Mechanisten zu Recht reklamieren, „dass die Teleologie 380 nirgends als Ersatz für die Kausalität“ verstanden werden darf. Der Begriff des Zweckes wird von Tillich damit spezifisch weit gefasst: Zweck wird als die erste, Einheit stiftende Instanz verstanden, die zunächst frei von normativ-wertenden Konnotationen lediglich als in sich geschlossene Endlichkeit Sein hat. Diesen Zweckgedanken sieht Tillich auch jedem mechanistisch orientierten Ansatz vorausliegend, denn auch „die strengsten Anhänger der quanitativ-kausalen Methode sprechen nicht von beliebigen Kausalreihen, die aus dem Unendlichen kommen und ins Unendliche gehen und sich etwa im lebendigen Organismus schneiden, sondern sich suchen nach Kausalität innerhalb der lebendigen Gestalt.“381

Allerdings stellt sich Tillich dem seines Erachtens nach falschen Gebrauch des Zweckgedankens in vitalistischen Ansätzen entgegen. Der Versuch, den Zweckgedanken biologistisch zu naturalisieren und „das Lebensprinzip (…) zu einer äquiva382 lent-kausalen Wirklichkeit zu machen“ , wie es etwa in den Arbeiten Hans 383 Drieschs oder Constantin Monakows geschieht, lehnt er ab, denn daraus entstehe letztlich eine neue Form der materialistischen Erklärungsversuche des Lebendigen, der den herkömmlichen materialistischen Ansätzen an Plausibilität unterlegen ist. Der Vitalismus liefert einzig und allein das zu Grunde liegende Konzept des Primären der Gestalt gegenüber dem dagegen Nachrangigen der quantitativäquivalenten Kausalität der Gesetzeswissenschaften. Deren Alleinzuständigkeitsanspruch weist Tillich entschieden zurück, andererseits will er sie in ihrer Arbeitsweise nicht einschränken, obwohl er etwa in der Hinwendung zum Individuellen, wie er sie in der Phänomenologie vertreten sieht, bessere Voraussetzungen zur Erfassung der biologischen Wirklichkeit sieht als in der Biologie selbst, denn grundlegend ist ihm doch die Betonung des Widerstandes des Individuellen gegen das Allgemeine. Dieser Umstand macht auf den Ort, an dem die äquivalente Kausalität der Gesetzeswissenschaften ihr Recht hat, aufmerksam: „Das Einzelne leistet einen Widerstand, der den Allgemeinbegriff zwingt, eine Reihe von Eigenschaften als unwesentlich zu bezeichnen, d.h. von einer Rationalisie384 rung auszuschließen.“

379 Ebd. 380 Ebd. 381 Ebd. 382 Ebd. 383 Zu Driesch vgl. A. Harrington, Ganzheit, S. 337. Zu Monakow: Ebd., S. 145–196. 384 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 163.

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Sehen die in den Gesetzeswissenschaften Tätigen den dieser Art einerseits begrenzten und andererseits über sich selbst hinausweisenden Charakter ihres Ansatzes ein, dann sollte es eigentlich – so die m.E. zu optimistische Einschätzung Tillichs – zu keinerlei Konflikten zwischen Seins- und Geisteswissenschaften 385 kommen können. Diese Einschätzung Tillichs macht natürlich sehr deutlich, wie stark sein Ansatz davon geprägt ist, einerseits den Primat der Geisteswissenschaften auch in der Systematik der Seinswissenschaften zu verankern. Das gesamte Konzept der Gestalt läuft letztlich auf die transzendentale Begründung der Möglichkeit von Erkenntnis in der mittleren Wissenschaftsgruppe hinaus: die Geisteswissenschaften formulieren den Rahmen, in dem – werden die Grenzen respektiert – jeder in Ruhe und ungestört arbeiten kann. Ambivalent bleibt aber der Versuch, den Konflikt zwischen Vitalismus und Materialismus zu lösen, denn selbst wenn Tillich durch rhetorische Mittel den Anschein erweckt, aus beiden die wesentlichen Elemente zu extrahieren, die synthetisch zu einer Lösung geführt werden können, so 386 bleibt sein Vorschlag doch eigenartig in der Schwebe. Denn einerseits wäre es bei dem Ansatz Tillichs sicherlich angemessener von einer spezifischen Form von Vitalismus zu sprechen, denn einige ausgewiesen vitalistische Merkmale werden 387 beibehalten. So nimmt er etwa die epistemologischen und methodologischen Einwände, die von vitalistischer Seite vorgebracht wurden auf, wenn er reklamiert, eine rein rationalistisch-mechanische Erklärung sei dem Lebendigen nicht angemessen und stelle letztlich nicht ein umfassendes erkenntnissicherndes Instrumentarium zur Verfügung. Gleichzeitig werden diese vitalistischen Elemente durch, auf metalogischer Anschauung beruhende, ontologische Aussagen gestützt, womit Tillich sich einerseits gegen die naturalistischen Begründungszusammenhänge vitalistischer Autoren wendet. Andererseits öffnet sich dadurch paradoxerweise 385 Diesen hier vorgetragenen Ansatz hat Tillich an anderer Stelle wie folgt noch einmal zusammengefasst: „Auch der fachwissenschaftlichen Bewegung kam diese Richtung [die Lebensphilosophie; K.B.] entgegen. Der alte Kampf, der in der Biologie um die Frage geht, ob das Lebendige verstanden werden kann aus dem Unlebendigen, den Atomen und ihrer Zusammensetzung, oder ob ein eigenes Gebiet des Lebendigen, eine Lebenskraft oder dgl. angenommen werden müsse, entschied sich immer mehr zugunsten der zweiten Auffassung. Man begriff, (…) dass die lebendige Gestalt das erst ist und die physikalisch-chemischen Prozesse das zweite sind. Nicht um eine Einschränkung der physikalisch-chemischen Analyse handelt es sich – das Prinzip des Lebendigen ist kein Prinzip der Einzelerklärung –, sondern um eine Schau des Lebendigen als der Voraussetzung aller Prozesse, die an ihm vor sich gehen. Es handelt sich um die Einsicht, dass eine lebendige Gestalt nicht zusammengesetzt werden, sondern nur aus urschöpferischer Tiefe hervorwachsen kann.“ P. Tillich, RLG, in: GW X, S. 22. 386 Hier wird m.E. eindrücklich deutlich, dass Tillich zu diesem Zeitpunkt seiner Entwicklung noch nicht auf allzu viele interdisziplinäre Kontakte mit Naturwissenschaftlern zurückgreifen konnte. Zumindest scheint sein Synthesekonzept 1923 noch keinem Praxistest unterzogen worden zu sein. 387 Ich beziehe mich im Folgenden auf die Kriterien, die Wolters in seinem Lexikonartikel als allgemeine Kennzeichen des Vitalismus aufführt. Vgl. Gereon Wolters, Art.: Vitalismus in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (Band 4), Stuttgart u.a. 1996, S. 551f.

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der Raum für mechanistische Naturwissenschaften, weil die Ontologie zwar in die seinswissenschaftlich zu erforschenden Gegenständen als diese tragende Instanz ausstrahlt, diese wird aber gleichzeitig nie identisch mit einer der materiellen Sub388 stanzen. Die paradoxe Struktur, der sich vordem schon im Verhältnis des Unbedingten zum Bedingten gezeigt hatte, wiederholt sich somit erwartungsgemäß auch in der materialen Durchführung der Einzelwissenschaften. Abschließend widmet sich Tillich noch kurz und wenig detailliert der Bedeutung, die die Evolutionslehre für die Biologie innerhalb seiner Systematik ein389 nimmt. Sie verkörpert interessanterweise beides: das „heterogene Eindringen der 390 Gesetzes- und Folgemethoden in die biologische Sphäre“ zu gleichen Teilen. Einerseits versteht Tillich sie als den „Versuch des rational-mechanischen Denkens“, das Lebendige zu erfassen, was in Tillichs Augen nicht gelingen kann, denn „dem Lebendigen gegenüber ist eine rein gegenständliche Haltung unzureichend. Das schöpferische Element, das jede Gestalt offenbart, ist nur nachschaffend zu 391 erfassen durch einfühlendes Verstehen.“ Zum anderen bringt die Evolutionslehre auch ein Element der Individualisierung in das Biologische, denn mit der Ab392 folge von Arten sei sie letztlich „Natur-Geschichte“ , die allerdings keine echten individuellen Gestalten hervorbringt, da sie die Kriterien, eine echte Folgewissenschaft zu sein, nicht erfüllen kann. Diese Interpretation der Evolutionslehre durch Tillich kann nicht anders als eigenwillig bezeichnet werden: Zum einen hat gerade diese eine nachhaltige Zurückweisung sowohl des Gestaltbegriffs, wie er von Goethe und Schiller entworfen worden war, für die Biologie gebracht, als auch den Begriff der Naturgeschichte aus dieser Wissenschaft weitgehend und nachhaltig 393 ausgeschieden.

388 Dieser Gedanke findet sich in ähnlicher Form bezogen auf das in der Gestalt enthaltene Konzept der Schönheit bei Friedrich Schiller „Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken gleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben.“ Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen, Stuttgart 1965, S. 59. 389 An einer Stelle wie dieser wird wiederum sehr deutlich, dass man den Anspruch Tillichs interpretatorische nicht überstrapazieren darf und im Einzelfall nicht zu viel von seiner Arbeit erwarten kann. Es geht ihm primär um die Frage der Einordnung in seine Systematik und erst sekundär werden daraus Einschätzungen und Positionierungen deutlich, die häufig nicht einmal explizit gemacht werden. Zudem drängt sich gelegentlich der Eindruck auf, der durch die Systematik und strenge Form selbstauferlegte Zwang führe dazu, dass die Vollständigkeit der Gründlichkeit vorgeordnet wird. 390 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 164. 391 Ebd. 392 Ebd., S. 165. 393 Vgl. A. Simonis, Gestalt, S. 73ff., die sehr instruktiv auf diskursanalytischer Basis die diskursive Verschiebungen des Gestaltbegriffs weg von seiner naturwissenschaftlich-naturphilosophischen Konnotation im 18. Jh., wo er nach Darwin keine nachhaltigen Überlebenschancen mehr hat, und dagegen frei wird, in ästhetischen Konzeptionen des 19. und beginnenden 20. Jh. eine wichtige Rolle zu spielen, nachzeichnet.

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(4) Fragen wir nun abschließend nach Tillichs Konzeption der Psychologie, so treffen wir erwartungsgemäß auf bereits bekannte Strukturen. Tillich führt zur Begründung seiner holistischen These von der Gestalt, in der das Biologische die äußere, während das Psychische die innere Seite darstellt, das Unbewusste an, von dem aus schlechthin kein Dualismus mehr zu denken möglich sei, denn „individu394 elle Gestaltungskraft und unbewusstes Seelenleben“ sind beide Ausdruck des kategorialen Urkonflikts von Denken und Sein. Beide sind darum nicht als gegenständlich fassbare, von einander geschiedene Entitäten verstehbar, sondern werden als Formationen verstanden, die diesen Urkonflikt aus der ihnen je eigenen Perspekti395 ve repräsentieren und haben dadurch wechselseitig aneinander Anteil. Dieser Umstand reproduziert sich auch in der methodischen Ausarbeitung der Psychologie: der wesentliche Unterschied besteht vor allem in der differenten Art der Gegebenheit des Gegenstandes, nicht so sehr in der Art der Begriffsbildung. Zwar arbeite die Psychologie augenscheinlicher als die Biologie auf der Basis der aufeinander aufbauenden Eigen- und Fremdwahrnehmung, doch trete auch hier „der psychische Vorgang (…) unter die volle Objektivität (…). Subjekt und Objekt sind 396 hier ebenso auseinander wie in der Biologie.“ Von diesem Ansatz aus verschiebt sich auch die Frontstellungen des Leib-Seele-Problems: da beide als zwei unterschiedliche Seiten der einen Gestalt erscheinen, die nach einheitlichen Gestaltgesetzen geformt sind, und nicht als zwei unterschiedene Gegenstände verstanden werden, die unter rätselhaften Umständen geeint sind und unterschiedlichen Gesetzen ihre Genese verdanken, entfällt die durch das metaphysische Verständnis der Seele bedingte Überordnung der Seele über die leiblichen Anteile an der Existenz. Daraus ergibt sich dann auch der enge Raum, der Methodik und Ziel der Assoziationspsychologie eingeräumt wird: weil das qualitative Elemente durch seine untrennbare Verbindung mit einer individuellen Gestalt erheblich in den Vordergrund tritt, kann der Anspruch der Assoziationspsychologie nach lückenloser Erklärung der psychischen Vorgänge auf überindividueller Ebene nur zurückgewiesen werden. Hier geht Tillich wesentlich rigoroser vor als im Rahmen der Biologie, was durch seine Bestimmung des Begriffs der Seele bedingt ist: Die Seele stelle zwar ein Einheitsprinzip dar, sei als solches aber nicht zu naturalisieren, denn sie sei zwar „Substanz im metalogischen Sinne [… die aber; K.B.] in nichts

394 Vgl. Ebd. 395 Vgl. Ebd. Dazu vgl. auch Hermann Ebbinghaus Konzeption von Gehirn und Seele, das ebenfalls versucht, den Konflikt zwischen Materialismus und Spiritualismus durch die Parallelisierung von Psyche und Physis aufzuheben, wobei sein Konzept von Seele aber lediglich in funktionaler Hinsicht als Einheit stiftendes Element mit Tillichs Ansatz vergleichbar ist: „Seele ist dieser reichhaltige Verband, so wie er sich gibt und sich darstellt für seine eigene Glieder, für die ihm angehörenden Teilrealitäten; Gehirn ist derselbe Verband, so wie er sich anderen analog gebauten Verbänden darstellt, wenn er von diesen – menschlich ausgedrückt – gesehen und getastet wird.“ Hermann Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie, Band I, Leipzig4 1919, S. 46. 396 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 166.

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anderem als in der lebendigen psychischen Gestalt“ bestehe, so dass in diesem Fall erst recht nicht die Abstraktionen der gesetzeswissenschaftlichen Methoden dem Gegenstand gegenüber als angemessen aufgefasst werden können. 3.2.2

Methoden und Konzeption der Geistes- und Normwissenschaften

Das von Tillich im SdW vorgestellte Konzept der Geisteswissenschaften ist bereits häufig unter unterschiedlichen Aspekten untersucht worden. Dabei stand zumeist 398 das Interesse an Tillichs religionsphilosophischem Ansatz unter der Perspektive 399 seiner kulturtheologischen Einbettung sowie an der Entwicklung dieses Ansatzes 400 im Hinblick auf die Systematische Theologie im Vordergrund. Es ist von daher möglich, an dieser Stelle zu großen Anteilen auf die bereits vorliegenden Arbeiten zurückzugreifen. Darüber hinaus ist es für die Fragestellung dieser Studie von herausragender Bedeutung, die Perspektive in den Blick zu bekommen, unter der Tillich die Geisteswissenschaft im Rahmen ihrer fundamentalen Bezogenheit auf die Seinwissenschaften behandelt. Damit wird Wissenschaft als systematischer Zugang zur Wirklichkeit als umfassende Instanz in Anspruch genommen, die sowohl den Versuch der Abbildung und Erfassung der Wirklichkeit unternimmt, als auch Anteil am Entstehen dieser Wirklichkeit hat, indem sie die Strukturen bereitstellt, mit denen und an denen als Kriterium Wirklichkeit interpretiert wird. In diesem Kontext ist im Laufe der Untersuchung bereits eine deutliche Vor- und Überordnung der Geisteswissenschaften zu Tage getreten, die zum einen auf deren Möglichkeiten beruhte, transzendentale Begründungsstrukturen bereitzustellen, die von den Seinswissenschaften immer schon – ohne dass diese explizit gemacht werden – in Anspruch genommen werden. Zum anderen hatte Tillich auf die Möglichkeiten der Geisteswissenschaften hingewiesen, die in deren Potenzial liegen, die metalogische Struktur der Wirklichkeit zu erfassen und zu reformulieren, was im Besonderen in seiner Fassung der Religionsphilosophie und Theologie zum Tragen kommt. In diesem Abschnitt, mit dem das gesamte erste Kapitel schließt, wird zunächst kurz der grobe Aufbau und die Methoden der Geisteswissenschaften vorgestellt (1), um dann dem Zentralbegriff des Sinnes die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Dabei soll der Versuch unternommen werden, Tillichs Ausführungen zum Sinnbegriff zumindest in groben Zügen in die zeitgenössische philosophische

397 Ebd., S. 168. 398 W. Schüßler, Gottesgedanke, S. 10–67; J. L. Adams, Philosophy, S. 116–182; J. Heinrichs, Metaphysik; G. Wenz, Subjekt, S. 142–161. H. Jahr, Gestaltmetaphysik, S. 166–219; C. Danz, Freiheitsbewußtsein, S. 306–312. 399 Peter Haigis, Im Horizont der Zeit. Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur, Marburg 1998, S. 70–92. 400 Robert P. Scharlemann, Der Begriff der Systematik bei Paul Tillich, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 8 (1966) Göttingen, S. 242–254

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Debatte einzuzeichnen (2). Dann ist auf Tillichs Konzept einer, aus der bereits vorgestellten metalogischen Struktur der Wirklichkeit folgenden metalogischen Geisteswissenschaft, die in die Religionsphilosophie mündet, einzugehen (3), um dann kurz auf die Auswirkungen, die dieser Ansatz für die Theologie im Besonderen hat, hinzuweisen (4). Der Abschnitt schließt mit einer kurzen Bündelung der in diesem Teil gesammelten Ergebnisse unter den Stichworten Sein und Sinn (5). (1) Die Konzeption der Geisteswissenschaften stellt Tillich anhand des bereits aus der Systematik der Seinswissenschaften bekannten Viererschrittes aus Erkenntnisziel, -haltung, -weg sowie des Charakters des in dieser Wissenschaftsgruppe erreichten Grades der Gewissheit dar. Bezüglich des Erkenntnisziels bildet „in 402 den Geisteswissenschaften der Sinnzusammenhang“ das funktionale Äquivalent zu den Gebilden in den Denkwissenschaften und den Gestalten in den Seinswissenschaften, in den jede geisttragende Gestalt in zweierlei Hinsicht eintritt: einerseits integriert sie durch dieses Eintreten fremde Strukturen in sich und andererseits prägt sie sich in ihrem So-Sein in diese fremden, sie umgebenden Strukturen 403 ein und verändert sie diese stetig. Selbst und Welt werden somit allein im stetigen, diskursiven Kontakt und Austausch vor diesem Hintergrund verstehbar und es müssen immer wieder neue Verstehensversuche unternommen werden, da beide im Prozess des Verstehens ständigen Veränderungen unterworfen sind, die sich gegenseitig bedingen. In diesem steten Austausch ist für Tillich eines der wesentlichen Merkmale aller Gestalten gegeben: in ihm steht „das Leben der individuellen 404 Gestalt.“ Wie auch der Geist selbst als eine sich ereignende Realität verstanden wird, ist auch der Sinnzusammenhang nicht als etwas statisch Gegebenes zu sehen, vielmehr erfasst Tillich ihn als einen sich vollziehender Akt, der ereignishaften Charakter hat, in dem es zu einem Überschreiten der Sphäre des Seins in die des Sinnes kommt, indem dieser Akt des In-Beziehung-treten „unter die Forde405 rung der unbedingten Form“ gestellt wird. Damit werden diese Akte zu sinngebenden Akten bzw. zu sinnerfüllenden Akten, denn „der dem Seienden in all seinen Formen innewohnende Sinn kommt in den geistigen Akten zu sich selbst, der 406 Sinn der Wirklichkeit verwirklicht sich im Geistigen.“ Innerhalb der sinnerfüll401 Die Versuche in diese Richtung fallen in der Forschung bisher eher zurückhaltend aus: zwar stellt W. Schüßler den Sinnbegriff durchaus ins Zentrum seiner Darstellung, allerdings bettet er ihn nicht in die zeitgenössische Debatte ein. Ulrich Barth dagegen hat zuletzt darauf hingewiesen, dass das Verständnis von Tillichs Sinnbegriff vor dem Hintergrund seiner Teilnahme an der Diskussion um den Sinnbegriff der 20iger Jahre noch aussteht. Vgl. U. Barth, Sinntheorie, S. 89–123. 402 P. Tillich, SdW in: GW I, S. 222. 403 Ebd. Tillich nennt diese beiden Vorgänge, insofern sie sinnerfüllende Akte sind, theoretisch und praktisch. Theoretisch wird in diesem Zusammenhang verstanden als die Aufnahme eines Dinges durch eine individuelle Gestalt unter eine gültige Norm. Praktisch ist dieser Akt, wenn die geisttragende Gestalt neben der Aufnahme zur Gestaltung von Seinsbeziehungen übergeht. Vgl. Ebd., S. 229. 404 Ebd., S. 222. 405 Ebd. 406 Ebd.

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Die Einheit der Wissenschaften – Paul Tillichs Wissenschaftskonzept

ten Struktur der Wirklichkeit Erkenntnis zu erlangen, ist demnach nur dem Geist möglich. Dies rührt nicht von der Fähigkeit des Geistes her, diese hervorzurufen, sondern liegt in seiner Ausrichtung auf die unbedingte Form begründet, so dass 407 im Geist „das Unbedingte als Unbedingtes, als Geltung erfasst“ wird. Dabei fungiert die unbedingte Form als unmittelbar geltende Voraussetzung jeder Sinner408 füllung und hat ihren Ort „in der idealen Sphäre.“ Somit zerlegt Tillichs Sinntheorie die Wirklichkeit nicht in ein Gefüge aus objektiven Sinnbezügen, die es im Rahmen der Geisteswissenschaften zu ergründen und in ein festes System zu bringen gilt. Sinn entsteht im konkreten Moment, indem zwischen unterschiedlichen Objekten ein unmittelbarer Bezug des Geltens hergestellt wird und zwar insbesondere dann, wenn dieser Bezug „keinen anderen Existenzgrund hat als den 409 geistigen Akt, durch den [er; K.B.] gesetzt ist.“ Diese Struktur bildet den das 410 gesamte systematische Gefüge des SDW tragenden Gedanken. Jedes geisteswissenschaftliche Arbeiten setzt einen systematischen Sinnzusammenhang bereits voraus: „Geisteswissenschaftliche Sätze sind nicht Sätze von Systemen, sondern 411 Sätze in Systemen.“ Dieser spezifische geisteswissenschaftliche Ansatz vollzieht sich nun im Spannungsfeld zwischen dem Prinzip und dem Material, das im systematischen Gedanken zu einem Sinngefüge zusammengeführt wird. Tillichs Konzeption der Geisteswissenschaften ruht dabei auf diesen drei Säulen: „Die Sinnprinzipienlehre betrachten wir (…) unter dem Namen der Philosophie und verstehen darunter die geistige Funktionen- und Kategorienlehre. Die Sinnmateriallehre ist identisch mit der Geistesgeschichte (…). Als drittes folgt dann die Systematik, in welcher das Verhältnis der drei Elemente zueinander zur Klarheit gebracht wird.“412

407 Ebd. 408 Ebd. 409 Ebd., S. 223. 410 Damit lehnt Tillich den Gedanken der Identität von Denken und Sein, wie er im Deutschen Idealismus vorherrschte, deutlich ab, obwohl er einzelne Strukturmerkmale – etwa die Funktion des Prinzips – für den Aufbau seines Systems – wie zu beobachten war – durchaus in Anspruch nimmt. 411 Ebd., S. 223. Tillich stellt an dieser Stelle seinen geisteswissenschaftlichen Ansatz dem denkwissenschaftlichen und seinswissenschaftlichen gegenüber, die zwar in Analogie zum systematischen Denken der Geisteswissenschaften darzustellen möglich sind, „aber ein denk- oder seinswissenschaftliches System wird in jedem Augenblick überholt durch neue Findung und Entdeckung. Es ist eine Zusammenstellung nach einheitlichen Gesichtspunkten, aber es ist kein echtes System. Das geisteswissenschaftliche System ist abgeschlossen, es ist eine einmalige schöpferische Setzung, die nicht durchbrochen, sondern nur abgelöst werden kann.“ 412 Ebd., S. 224. Dass sich hier in einer Mikrostruktur die makrostrukturellen Bezogenheit der Elemente von Denken, Sein und Geist wiederholt, ist offensichtlich. Zudem ist durch die wichtige Rolle, die Tillich der Sinnmateriallehre für die Geisteswissenschaften einräumt, die Zuweisung der Geschichte zu den Seinswissenschaften erheblich relativiert. Der wesentliche Unterschied zwischen den historischen Wissenschaften im Rahmen der Seinswissenschaften und der Sinnmateriallehre ist die Perspektive, von der aus und auf die hin auf Historisches zugegriffen wird, wobei in der Praxis eine strikte Trennung nur schwerlich möglich sein dürfte.

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Der Versuch Tillichs, für Geisteswissenschaften eine jenseits der von der naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftssystematik entworfenen Erkenntnisbeziehung von Subjekt und Objekt zu erarbeiten, wird damit deutlich: die Vorstellung eines festen Sinngefüges, das es zu erkennen und darzustellen gelte, wird zugunsten eines sich im Prozess des Erkennens dynamisch verändernden Bildes von Wirklichkeit aufgegeben. Das Element der normativen Ausrichtung auf das Unbedingte soll die Geisteswissenschaften in diesem Zusammenhang vor dem Vorwurf der Beliebigkeit bewahren und enthält durch diese Ausrichtung auf ein außerhalb von Selbst und Welt liegendes Prinzip ein selbst- sowie ideologiekritisches Element, das Aufgabe und Anspruch der Geisteswissenschaften im Kontext der Alleinerklärungsbemühungen der Naturwissenschaften sichern soll. Die Erkenntnishaltung der Geisteswissenschaften ist das synthetische Produkt des kritischen Verstehens, das in der Philosophie als der Sinnprinzipienlehre vorherrscht, und des rezeptiven Verstehens, das für das Element der Geistesgeschich413 te kennzeichnend ist. Tillich bezeichnet diese Haltung als „produktives Verstehen“ , in der „sowohl ein Element der rationalen Intuition als auch (…) der rationalen 414 Wahrnehmung enthalten ist“ , die aber durch den bewussten Prozess der Herstellung eines Sinnzusammenhangs zu etwas völlig Neuem gegenüber der Erkenntnishaltung der Denk- bzw. Seinswissenschaften werden. Der Weg, den die Erkenntnis geht, ist in der Systematik der der synthetischen 415 „Konstruktion“ , verstanden als die dem Charakter des Geistes entsprechende 416 „Darstellung von Sinnzusammenhängen unter einem normativen Prinzip.“ Sie setzt sich zusammen aus dem eher gruppierenden Arbeiten der Geistesgeschichte 417 und dem analytischen Vorgehen der Philosophie. Die Art der Gewissheit, die in den Geisteswissenschaften erreicht wird, enthält die Gewissheitsarten der Denkwissenschaften – Evidenz – und der Seinwissenschaften – Wahrscheinlichkeit – zu einer Synthese der Überzeugung zusammengefasst. Die Überzeugung enthält dabei beides: sowohl das Element der subjektiven Setzung als auch den Hinweis, dass „der Geistesprozess über jede individuelle Setzung hinausgeht und das Willkürelement in sich dem Gericht der Geschichte 418 unterwirft.“ Geisteswissenschaftliches Arbeiten soll so nach zwei Seiten hin einerseits gegen den Vorwurf, sie könne lediglich subjektiv-willkürliche Meinungen produzieren und andererseits gegen den Versuch ihrer Auflösung in vermeintliche Evidenz wie es in idealistischer Philosophie versucht worden ist, abgesichert werden. Dabei weist Tillich auf die Einflüsse hin, die sich von dieser Konzeption für andere Wissenschaften ergeben: in einigen – etwa den Geschichtswissenschaften, 413 Ebd., S. 225. 414 Ebd., S. 224f. 415 Ebd., S. 225. 416 Ebd. 417 Ebd., S. 226. 418 Ebd.

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die Tillich ja zunächst nicht als Geistes- sondern als Seinswissenschaften eingeord419 net hatte – wirken sich diese direkt aus, denn die Darstellung von geschichtlichen Ereignissen ist ohne ein gewisses Maß an Konstruktion von Sinnzusammenhängen nur schwerlich denkbar. In andere Bereiche wirkt sich die Art der Gewissheit vor allem sekundär durch die Gesamtkonzeption von Fragestellungen 420 und den nachträglichen geisteswissenschaftlichen Interpretationsrahmen aus. Die weitere Erläuterung der Struktur des Gesamtkomplexes Geisteswissen421 schaft erfolgt anhand des folgenden Schaubildes , an dem sich die nachstehenden Ausführungen orientieren:

419 Auf die Schwierigkeiten der Unterscheidung von seinswissenschaftlicher Geschichtswissenschaft und geisteswissenschaftlicher Sinnmateriallehre und deren grundsätzlicher Bezogenheit aufeinander ist oben bereits hingewiesen worden. M.E. sieht Tillich den Unterschied vor allen in der unterschiedlichen Haltung, die den einzelnen Gegenständen entgegengebracht wird und nicht so sehr in den Gegenständen selbst. 420 Ebd. 421 Es sind mehrfach Versuche unternommen worden, Tillichs geisteswissenschaftliches Konzept schaubildlich darzustellen. Vgl. J. Heinrichs, Metaphysik, S. 254. G. Wenz, Subjekt und Sein, S. 148. Das ganze System hat Paul Ziche in ein Schaubild zu übertragen. Vgl. P. Ziche, Orientierungssuche, S. 59.

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Sinnprinzipienlehre Sinnmateriallehre Methodisches (Philosophie im enge- (Geistesgeschichte) Prinzip: Elemente der GW ren Sinne) Funktionen und Kategorien konstituieren die Objekte

Autonomie

theoretisch

praktisch

praktisch

für beide (theonom)

formbestimmt

gehaltbestimmt

für beide (theonom)

Metaphysik

Recht

Gemeinschaft

Ethik

theoretisch

fundierend

Frömmigkeit

gehaltbestimmt Kunst

fundierend fundiert fundierend

formbestimmt

fundiert

Theonomie

Wissenschaft

Sachliches Prinzip: Anordnung und Strukturierung der Gegenstände

Sinnnormenlehre (Systematik)

Mythen- und Dogmenbildung

Metaphysisches Prinzip: Geisteshaltung

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Tillichs Aufbau der Geisteswissenschaften wird von drei Prinzipien getragen: das methodische Prinzip stellt mit Prinzip, Material und Norm und ihre Zueinanderordnung zueinander die drei grundlegenden Elemente zur Verfügung. Das metaphysische Prinzip entscheidet über die Haltung, die der Geist gegenüber dem Unbedingten einnimmt: Versucht der Geist das Unbedingte „durch die Formen 422 und ihren Geltungscharakter hindurch“ zu erfassen, dann ist die Haltung, die der Geist diesem Gegenstand gegenüber einnimmt, autonom. Im Rahmen der theonomen Haltung unternimmt der Geist dagegen gegenüber dem Unbedingten 423 den Versuch, es „unmittelbar [zu; K.B.] erfassen“ ohne den Umweg über die Frage nach der Angemessenheit der Form zu gehen. Das sachliche Prinzip ordnet die Gegenstände nach ihrer praktischen bzw. theoretischen Ausrichtung im oben genannten Sinne. Dabei unterscheidet Tillich zwischen fundierenden und fundierten, sowie bei den fundierten zwischen gehalts- bzw. formbestimmten Gegen422 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 227. 423 Ebd.

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standsgruppen. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass im Bereich der durch die autonome Geisteshaltung bestimmten fundierten Gegenstandsgruppe mit den sie fundierenden Wissenschaften Metaphysik und Ethik theonome Bestandteile immer schon enthalten sind, die in diese Gruppe hineinwirken. Damit ist auch die in diesem Schema auffällig fehlende Sphäre der Religion eingeholt: die Richtung auf das Unbedingte ist kein Sonderbereich neben anderen, sondern eine Funktion innerhalb der Geisteswissenschaften, die durch die notwendige Inanspruchnahme der fundierenden Wissenschaften in die Gegenstandsgebiete, die der autonomen 424 Geisteshaltung zugeordnet sind, bedingt ist. (2) In diesem zweiten Abschnitt ist nun auf einige der Aspekte von Tillichs Sinnbegriff einzugehen, von denen erheblicher Einfluss auf fundamentale Elemen425 te seines theologisch-philosophischen Denkens ausgehen und diese kurz in den Kontext der zeitgenössischen Diskussion um den Sinnbegriff einstellen. Der Umstand, dass dabei auf wichtige Aspekte, die nicht primär mit der Themenstellung dieser Studie korrespondieren, nicht in den Blick genommen werden können, 426 muss dabei in Kauf genommen werden , aber es soll zumindest der Versuch unternommen werden, den Eindruck zu vermeiden, „Tillichs Sinntheorie sei gleich427 sam vom Himmel gefallen.“ Geist war von Tillich als die Funktionseinheit einer Gestalt verstanden worden, in der die das Bewusstsein ausmachenden Strukturen gebündelt werden, und in der gleichzeitig ein Bewusstsein dieses Vorgangs und damit ein Heraustreten aus der das Sein bestimmenden Strukturgesetzlichkeit und Eintreten in die Sphäre des Sinns gegeben ist. Geist war zudem als ein Beziehungsgeschehen zwischen der Gestalt und der sie umgebenden Welt entworfen worden, deren Sinnzusammenhänge durch die Ausrichtung des Geistes formuliert werden, und in die hinein er wirkt. Für Tillich erweist sich Geist damit als identisch mit diesem relationalen Geschehen, das er als die theoretischen und praktischen Akte der Sinnerfüllung 428 versteht. Damit arbeitet er ein sinntheoretisches Theorem, das von Edmund Husserl zunächst in sprachphilosophischer Perspektive formuliert wurde, in seine Analyse der Wirklichkeit als eines Spannungsfeldes von Denken, Sein und Geist 424 Weitere Ausführungen zu dem Schaubild sind im den folgenden Abschnitten zu finden. 425 So urteilt etwa U. Barth über die Bedeutung des Sinnbegriffs für das Frühwerk Tillichs: „Die großen Aufsätze und Monographien der Berliner, Marburger, und Dresdener Jahre fußen allesamt auf der durch den Sinnbegriff ermöglichten Verschränkung von Geistphilosophie und Kulturtheologie, Religionsphilosophie und Wissenschaftstheorie.“ U. Barth, Sinntheorie, S. 93. 426 Besonders ist in diesem Zusammenhang auf die Bezüge Emil Lasks zu Tillich hinzuweisen, die im Rahmen dieser Arbeit schon kurz zur Sprache gekommen sind und hier im Bezug auf den Sinnbegriff eigentlich noch eingehend vertieft werden müssten. Da dafür aber zunächst eine eingehenden Analyse der Arbeiten Lasks, die hier nicht geleistet werden kann, notwendig wäre, auf deren Basis dann u. U. eine Neuinterpretation des Verhältnisses von Gehalt, Form und Sinn bei Tillich möglich wäre, muss hier darauf leider verzichtet werden. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Ansatzpunkte bietet U. Barth, Sinntheorie, S. 112–121. 427 Ebd., S. 95. 428 Vgl. P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 229.

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ein. Husserl hatte Intentionalität als einen logischen Begriff reklamiert, der eine 429 430 primär „mentale Leistung apriorischer Art“ darstellt. Bedeutung oder Sinn wird auch hier nicht als Eigenschaft eines Gegenstandes oder als notwendig mit 431 einem sprachlichen Ausdruck verbunden verstanden. Vielmehr entsteht die Bedeutungen von Ausdrücken als Ergebnis eines logischen Aktes des Bewusstseins. Die Frage nach dem Sinn wird somit zu der Frage nach der „Art des Gegeben432 seins“ und betrifft – bei Gottlob Frege, auf den Husserl sich in weiten Teilen bezieht, wie letztlich auch bei Tillich – sowohl die Modalitäten des Gegebenseins einer Bezeichnung selbst als auch die Perspektive, in der eine Bezeichnung unter der Berücksichtigung anderer, sie umgebender Bezeichnungen durch das Bewusst433 sein entsteht. Für Tillichs Konzeption ist weiter das Verhältnis, in das Sinn und Normativität zu einander treten, von herausragender Bedeutung. Es hat sich gezeigt, dass Tillich seine Sinntheorie als unabhängig sowohl von subjektiven Setzungen als auch der natürlichen Gesetzlichkeit der Gegenstände zu erweisen sucht. Mit dem Eintritt in die Sphäre des Sinnes unterstellt sich die geisttragende Gestalt einer nicht durch sie selbst begründeten Norm, die ihre Autorität von ihrem Bezug auf das Unbedingte erhält, an der sich die in den Geisteswissenschaften aufgestellten Normen orientieren müssen, sollen diese ihr Existenzrecht als Wissenschaften nicht verlieren. Diese Verbindung von Sinn und Normativität hat schon Gottlob 434 Frege zu begründen gesucht, als er ein „drittes Reich“ neben subjektiven Vorstel435 lungen und objektiven Gegenständen postulierte. Neben Freges Ansatz ist für die Frage nach dem Verhältnis von Normativität und Sinn bei Tillich auch die neukantianische Theoriebildung v.a. Heinrich Rickerts von herausragender Be429 U. Barth, Sinntheorie, S. 99. 430 Husserl schreibt: „Bedeutung gilt uns ferner als gleichbedeutend mit Sinn.“ Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana Bd. 19/1, Den Haag 1984, S. 52. 431 Husserl teilt diese Akte in zwei unterschiedliche Aspekte: die wichtigsten Bestandteile eines Ausdruck bilden „diejenigen, die dem Ausdruck wesentlich sind, wofern er überhaupt noch Ausdruck, d.i. sinnbelebter Wortlaut, sein soll.“ (Ebd. S. 38) Diese Akte nennt er „bedeutungsverleihende Akte oder auch Bedeutungsintentionen.“ (Ebd.) Daneben steht die zweite Gruppe der „bedeutungserfüllenden Akte“ (Ebd.), die den Bezug von Gegenstand und Ausdruck leisten, und die damit – obwohl sie nicht ausschließlich dem Ausdruck eigene Faktoren enthalten – primär „in der logisch fundamentalen Beziehung zu ihm stehen.“ (Ebd.) Soll es zu einem umfassenden Erfassen von Sinn bzw. Bedeutung kommen, in der Sinngebung und -füllung zusammenfallen, dann müssen diese beiden Aktgruppen zur Deckung gebracht werden. (Ebd., S. 39ff.) 432 So die Formulierung bei Gottlob Frege, Über Sinn und Bedeutung, in: Ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, Göttingen4 1975, S. 41. 433 Vgl. U. Barth, Sinntheorie, S. 106. 434 Gottlob Frege, Logische Untersuchungen, Göttingen 1966, S. 43. 435 Deren Hauptbestandteil ist ein zunächst wertneutraler Gedanke, der zwar subjektiv gefasst wird, aber immer intersubjektiv vermittelbar bleiben muss, um seinen objektiven Status zu sichern, ohne dabei eine ontologisch begründete Vorstellung von objektiver Wahrheit für sich in Anspruch nehmen zu können. Erst durch ihr Eintreten in ein komplexes Gefüge von Aussagen und Beziehungen zu Sinnzusammenhängen wächst Gedanken werthafter Charakter zu. Vgl. U. Barth, Sinntheorie, S. 108f.

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deutung, welche die Fragen nach Wert und Urteil in den Sinnbegriff integriert hat. Besonders der Begriff der Geltung, der auch in Tillichs Sinnbegriff eine entscheidende Rolle spielt, wird von Rickert in die Sinntheorie eingeholt. Für Rickert hat die Frage nach dem Sinn ihren Ort in der Erkenntnistheorie, deren „Problem (…) 436 die Erkenntnis der Wahrheit“ ist. Dabei geht es ihm um den Versuch, ein transsubjetives Konzept von Wahrheit, das über das bloße Übereinstimmen von Meinen und Verstehen hinausgeht und das „Was (…) dieses ‚objektiven‘ Urteilsgehal437 tes“ in den Mittelpunkt stellt, zu erarbeiten, das jenseits der psychischsubjektiver Seite der Urteile liegt. Dieses ‚Was‘ der objektiven Urteilsgehalte wird dabei als in den Bedeutungen von Sätzen selbst liegend gedacht, was Rickert als den transzendenten Sinn versteht. Das entscheidende an diesem transzendenten Sinn ist, dass „er nicht nur einem Individuum allein angehört (…) sondern von vielen gemeinsam als dasselbe verstanden wird, [und; K.B.] dass er wegen seiner Zeitlosigkeit überhaupt keine empirische Realität besitzt, also als etwas ‚Unwirkliches‘ bezeichnet (…) werden muss.“438

Trotz dieses engen Bezuges ist der transzendente Sinn aber nicht identisch mit der Bedeutung eines Satzes. Der Unterschied besteht in Rickerts Argumentation darin, dass „die Bedeutung eines Satzes (…), die wahr sein kann, stets [als der; K.B.] Sinn oder das Sinngebilde, im Gegensatz zur bloßen Wortbedeutung, die zwar zum Bestandteil eines logischen Sinnes zu werden, für sich allein aber weder wahr 439 noch falsch zu sein vermag“ , benannt werden muss. Dabei konzipiert Rickert seine Sinntheorie in Richtung auf seine Vorstellung von Wahrheit als einer Einheit, die prinzipiell über die Summe an Bedeutungen der Einzeldinge hinausgeht: „Der Sinn besteht nämlich nicht etwa in der Weise aus den einzelnen Bedeutungen der Worte, dass er sich zu ihnen nur wie das Ganze zu seinen Teilen verhält. Das Ganze ist hier nicht allein mehr als die Teile, sondern (…) etwas prinzipiell anderes, und das folgt wieder daraus, dass allein der Sinn, nicht schon die bloßen Wortbedeutungen wahr sein können. Der Sinn als Wahrheit lässt sich nicht so wie ein reales Gebilde in seine Teile zerlegen, denn sobald man ihn zerlegt, hört er auf, wahr, also Sinn zu sein.“440

Damit ist auch die Frage nach dem Modus der Existenz des Sinnes gestellt, denn wenn Sinn nicht als immanente Wirklichkeit gedacht werden kann, dann bleibt lediglich sein transzendenter Charakter, der jeder Feststellung der Existenz von 436 Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie, Tübingen6 1928, S. 251; Kurztitel: H. Rickert, Erkenntnis. 437 Ebd., S. 252. [Hervorhebung K.B.] 438 Ebd., S. 253f. 439 Ebd., S. 256. 440 Ebd., S. 256f. Dieser Gedanke findet sich bei Rickert u.a. auch in: Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen5 1929, S. 546; Kurztitel: H. Rickert, Grenzen.

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etwas vorausgeht: „Ist der Sinn des Existentialsatzes nicht wahr, dann existiert überhaupt nichts. Also kann der Sinn nicht zum Existierenden gerechnet werden, son441 dern muss ihm begrifflich vorausgehen.“ Diesen Gedanken finden wir – wie wir oben bereits gesehen haben – auch bei Tillich. Der Modus des Nichtexistierens, den Rickert für den Sinn parallel zu dem des Wertes entwickelt, ist der des Geltens. Als Kriterium zieht er die Negation heran: Wird ein Existenzbegriff negiert, folgt daraus ein eindeutiges Ergebnis, nämlich das Nichts, während die Negation eines Wertbegriffs zu einem zweideutigen Ergebnis führt: Dem Wert steht der 442 Unwert, dem Sinn der Unsinn gegenüber. Dabei ist es durchaus möglich, den selben Begriff einmal als Existenzbegriff und einmal als Wertbegriff zu verwenden, ein Umstand, der für das Verständnis des betont geisteswissenschaftlichen Zugriffs auf naturwissenschaftliche Theoreme durch Tillich von herausragender Bedeutung ist. So kann etwa – so das Beispiel Rickerts – der Begriff ‚menschlich‘ als Existenzbegriff in seiner Negation nur Nichts bedeuten, während er als Wertbegriff mit ‚unmenschlich‘ als seine Negation eine positive Setzung nach sich zieht: „Das ‚Unmenschliche‘ ist dann das Wertfeindliche, der negative Wert, der ‚Unmensch‘ ist das, was nicht sein soll, und das ‚Menschliche‘ bedeutet im Gegensatz dazu ein positives Wertprädikat, so dass ‚Mensch‘ zum Ideal wird, zum Vorbild, das wir zu erstreben haben.“443

Der Sinnbegriff modifiziert sich bei Tillich aber nicht – wie bei Rickert – zu ei444 nem reinen Formproblem. Sein Konzept entfaltet sich eher in der Richtung, dass der Begriff des Sinnes die komplexen Einheiten von Form und Gehalt in ihrer 445 unlösbaren Verbindung bereits umfasst. So betont Tillich auch die grundlegende Bedeutung, die die Dynamik des Seins für die Explikation seines Sinnbegriffes hat: Zwar gibt es gewisse strukturelle Parallelen zwischen denkwissenschaftlichen 446 Gebilden und dem Sinn, insofern beide „in der idealen Sphäre“ gedacht sind. Aber im Gegensatz zu den denkwissenschaftlichen Gebilden versteht Tillich Sinnzusammenhänge nur als konkret sich vollziehende Schöpfungen des Geistes: „Die geistigen Sinnzusammenhänge (…) haben keine abstrakte Existenz. Sie verwirkli441 H. Rickert, Erkenntnis, S. 260. 442 Vgl. Ebd., S. 261. Zu den umfassenden Möglichkeiten des Missverstehens des Begriffs ‚Negation‘ vgl. Ebd., S. 261–266. Vgl. dazu auch Tillichs Argumentation zu den Sinnfunktionen in SdW, in: GW I, S. 233. 443 H. Rickert, Erkenntnis, S. 264f. 444 Ebd., S. 268. 445 Damit erinnert sein Konzept eher an die Variante, die Emil Lask formuliert hat: „Der Sinn unterscheidet sich von der bloßen Form dadurch, dass er die inhaltliche Füllung mitenthält, die in der Form andeutungsweise bereits gefordert ist. (…) Das Ineinander die Verklammerung von Form und Material, das Ganze, in dem die für sich leere und ergänzungsbedürftige Form mitsamt ihrer inhaltlichen Erfüllung auftritt, soll der Sinn bezeichnet werden.“ E. Lask, Logik der Philosophie II, S. 34. 446 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 222f.

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chen sich in der konkreten Fülle der Erscheinungen. (…) Sinnzusammenhänge 447 sind keine Gebilde, sondern Einheiten sinnerfüllender Akte.“ So eng sich Tillichs Sinntheorie in der Terminologie und dem Grundansatz sowohl mit phänomenologischen als auch neukantianischen Autoren berührt, so sehr bemüht er sich, am Verhältnis von Normativität die Unterschiede seiner eigenen Vorstellungen darzulegen, die vom Konzept der Metalogik getragen sind, auf die anschließend einzugehen ist. (3) Aus dem Grundsatz, der aus der Struktur des Geistes abgleitet worden war, dass sich die geisteswissenschaftliche Systematik ihre Gegenstände im Laufe des Erkenntnisprozesses selbst zu geben hat, stellt sich zunächst zwangsläufig die Frage nach den Modalitäten der Konstitution dieser Gegenstände. Diese ist – wie so häufig im SdW – als ein Dreischritt zu verstehen, in dem Tillich versucht, sowohl die subjektiven Konstitutionsbedingungen und die Möglichkeiten der Ableitung objektiver Geltungen in ein Konzept zu integrieren. Die drei Elemente der Geisteswissenschaften Sinnprinzipienlehre, Sinnmateriallehre und Sinnnormenlehre versteht Tillich dabei als aufeinander aufbauende Elemente, in deren Spannungsfeld sich die geisteswissenschaftlichen Gegenstände konstituieren und es zu Erkenntnis kommen kann. Das grundlegende Element bildet zunächst die Sinnprinzipienlehre. Sie um448 fasst „die Lehre von den geistigen Funktionen und Kategorien“ , die Tillich im engeren Sinne als Philosophie versteht. Jedes geisteswissenschaftlich konstituierte Objekt enthält diese beiden Aspekte notwendig: Während die Sinnfunktionen Sinngebiete voneinander abgrenzen und diese damit zu von anderen getrennten, sinnvollen Einheiten zusammenfassen, indem „die geisttragende Gestalt ihr Wirklichkeitsverhältnis in gültiger Weise vollzieht und dadurch eine sinnvolle Wirklichkeit auf449 baut“ , in der sich das grundlegende Spannungsverhältnis von Denken und Sein ausdrückt, werden die Gegenstände in den unterschiedlichen Sinngebieten durch die Sinnkategorien geformt: in ihnen gründet „die Sinnwirklichkeit mit ihren Gegenständen.“ Im Zusammenspiel dieser beiden Aspekte – und nur in ihnen – kann es zu Sinnerfüllung kommen, die niemals den Charakter der Evidenz, sondern nur den einer „unmittelbaren Lebensgewissheit, die eine geisttragende Gestalt von 450 sich selbst hat“ , annehmen kann. Tillich begründet dies damit, dass die Sinnfunktionen und -kategorien in den Elementen des Sinnes – Denken und Sein 451 – selbst gründen, und intentional immer auf diese bezogen sind. Mit der 447 Ebd., S. 223. Vgl. dazu auch Ebd., S. 233, wo es heißt: „Wir haben das Verhältnis von Dingen und Sinnformen bestimmt als Sinnerfüllung. Der Begriff besagt, dass die Dinge in der Richtung auf die unbedingte Form stehen und das diese Richtung ihre Erfüllung findet in den geistigen Schöpfungen. Nicht ideale Normen, die jenseits des Seins stehen, aber auch nicht eine dem Geist gegenüberstehende sinngeformte Wirklichkeit ist Trägerin des Sinnes. Der Sinn ist überhaupt nicht gegeben, weder real noch ideal, sondern er ist intendiert, und er kommt im Geiste zur Erfüllung.“ 448 Ebd., S. 231. 449 Ebd., S. 232. 450 Ebd., S. 232.

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selbst gründen, und intentional immer auf diese bezogen sind. Mit der Ausarbeitung der Sinnkategorien versucht Tillich zudem die Frage nach dem Verhältnis von Sinn und Wirklichkeit sowie deren Charakter zu beantworten: „Wirklichkeit bezeichnet das metalogische Grundelement alles Sinnes, das Sein. (…) Alle Sinngebungen [beziehen sich; K.B.] auf die eine Wirklichkeit, auf das Seiende, das im Sinn zur Erfüllung kommt.“452

Wenn also ein erkenntnistheoretische Annäherung an die in metalogischer Weise verstandene Wirklichkeit nur insofern denkbar ist, als sie sich durch eine geisttragenden Gestalt in Sinnkategorien und -funktionen konstituiert, dann ist für die Geisteswissenschaften ein Prinzip gewonnen, das beides in sich trägt: einerseits die Hinwendung zu den Gehalten der Wirklichkeit, die für Tillich auf geistige Erfüllung ausgerichtet sind. Andererseits wird diese Hinwendung aber auch unter die Kritik des Rationalen gestellt, so dass subjektive und objektive Geltung bzw. Normativität in ein spannungsvolles Verhältnis zueinander treten, in dem sich die 453 Spannung von Denken und Sein, die das gesamte System trägt, wiederspiegelt. Dieser Grundsatz ist für die Geisteswissenschaften kennzeichnend und schlägt sich in ihrer Methodik nieder. Für den interdisziplinären Austausch, wie er sich später zwischen Tillich und Goldstein vollzieht, ist dieses Spannungsverhältnis von herausragender Bedeutung. In der Mitte der geisteswissenschaftlichen Systematik steht die Sinnmateriallehre. Sie wendet sich den in der Geschichte erscheinenden Sinnerfüllungen zu, die immer wieder – aufgrund des schöpferischen Charakters der Wirklichkeit – neue Sinnerfüllungen aus sich selbst heraus setzen. Darin verbinden sich das Allgemeine und das Besondere: „Die Richtung auf die unbedingte Form, die Intention auf das Allgemeine, geht in jedem geistigen Akt durch die bedingten Formen, 454 das in der Geschichte verwirklichte Besondere.“ Die spezifische Aufgabe der Sinnmateriallehre besteht darin, einerseits die sich im geschichtlichen Prozess entwickelnden konkreten Normen von den Sinnprinzipien her zu verstehen und diese „der Normenlehre [als; K.B.] Material für die normative Entscheidung dar455 zubieten.“ Ihr wesentlicher Unterschied zur Geschichtswissenschaft besteht darin, dass sie Sinnwirklichkeiten unter Absehung von ihrer Anbindung an bestimmte Personen, Gruppen, Räume oder Zeiten gruppierend anordnet. Dabei kann sie zwar in Arbeitsgemeinschaft mit den Kulturwissenschaften treten, bleibt in ihrem Erkenntnisziel aber grundverschieden: Der Hinweis auf historische Zusammenhänge oder Personen kann die geisteswissenschaftliche Gewissheit nie ersetzen und kann höchstens zum Mittel aber niemals zum Ziel selbst werden. Dabei besteht diese gruppierende Aufgabe darin, den Ausgleich zwischen der in der Sinn451 Vgl. Ebd., S. 234. 452 Ebd. 453 Vgl. Ebd., S. 237f. 454 Ebd., S. 238. 455 Ebd., S. 239.

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funktion liegenden Spannung von Denken und Sein, der idealen Synthese beider in der Norm und der Ausrichtung des Geistes auf das Erreichen dieser Norm zu schaffen. Als solche ist die Sinnmateriallehre immer auf die Systematik ausgerich456 tet. Neben diesem hohen Anspruch, der darauf zielt, die Geistesgeschichte von persönlichen und historischen Komponenten freizuhalten, macht Tillich eine wichtige Einschränkung: es ist der Systematiker selbst, der durch seinen zeitlich gebundenen Standpunkt eine spezifische Perspektive auf die geisteswissenschaftliche Entwicklung hat. Der Systematiker muss sich dessen immer bewusst sein, dass ihm aus zeitgeschichtlichen Gründen bestimmte Sinnmaterialien näher sind als andere, er muss seine Perspektive als eine solche verstehen und von daher vermei457 den, die eigene Perspektive metaphysisch zu überhöhen. Tillichs dreistufiges Modell kommt mit der Sinnnormenlehre bzw. Systematik zum Abschluss: „Die Sinnnorm ist hindurchgegangen durch die Geschichte, ist geboren an einem bestimmten historischen Ort und hat darum die Konkretheit 458 und Besonderheit der individuellen geistigen Schöpfung.“ Sie stellt die konkretnormative Sinnerfüllung einer bestimmten Wirklichkeit dar, die sich durch den Anspruch von den abstrakten Sinnprinzipien unterscheidet, „die richtige, gültige Lösung […zu; K.B.] sein für die Probleme, die die Geistesgeschichte auf Grund der 459 Spannung der Sinnelemente hervortreibt.“ Auf dieser Linie liegt folgerichtig auch Tillichs Unterscheidung von Religionsphilosophie und Theologie: Während die Religionsphilosophie als theonome Sinnprinzipienlehre bestrebt ist, „auf das Allgemeine, von dem aus jede Erscheinung verstanden und jede konkrete Norm in ihrer Bedingtheit“ gerichtet zu sein, das „das kritische, beweglich dem Denken 460 und der Ratio zugewandte Element“ ausmacht, wird in der theonomen Sinn461 normenlehre – der Theologie – der „konkret praktische Geltungsanspruch“ formuliert: „Sie ist das positive, fixierte, dem Sein und der Lebenswirklichkeit zuge462 wandte Element.“ Beide stehen aber nicht in einem Verhältnis des Widerspruchs zueinander, denn sie sind aufeinander angewiesen: so übernimmt etwa die Systematik aus der Prinzipienlehre die kritischen Maßstäbe für eine begründete Auswahl aus der Vielzahl an potenziellen Sinnverwirklichungen, während die abstrakte Sinnprinzipienlehre beständig auf positiv gegebene, normative Formulierungen 463 angewiesen bleibt. Geht dieser fundamentale Bezug verloren, wird die Normenlehre durch den Verlust ihres Bezugs auf das Allgemeine zur „historischen Selbstdar456 Ebd., S. 240. 457 Ebd. Tillich formuliert damit eine deutliche Absage an ein geisteswissenschaftliches Selbstverständnis im Sinne Hegels. 458 Ebd., S. 241. 459 Ebd. 460 Ebd., S. 242. 461 Ebd. 462 Ebd. 463 Vgl. Ebd.

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stellung oder [zum; K.B.] Bekenntnis“ , Philosophie dagegen wird ohne Bezug auf die spannungsvolle Wirklichkeit zur rein formalen Angelegenheit: „sie verliert die lebendige Wirklichkeitsbeziehung und bekommt den Charakter eines allgemeinen 465 Schemas.“ (4) In dieses Spannungsfeld, das aus der metalogischen Bestimmung von Denken und Sein hervorgeht und in die Theorie von Geist und Sinn mündet, stellt Tillich nun auch die Theologie ein, die er im gedanklichen Anschluss an den besonderen Status erörtert, den die Metaphysik im Rahmen der Wissenschaftssystematik einnimmt. Tillich setzt bei der Bestimmung des Status der Metaphysik mit der Frage nach dem wissenschaftlichen Charakters der Metaphysik ein: als wissenschaftliche Disziplin bewegt sie sich auf ‚dünnem Eis‘: einerseits steht sie mit ihren Gegenständen jenseits einer methodisch kontrollierten Wirklichkeitserfassung, andererseits gründen in ihr die Parameter der Wirklichkeitsdeutung, die sowohl Auswirkungen auf die Bildung weiterführender Fragestellungen haben und als auch synthetische Hypothesen über das Allgemeine enthalten, die mit rationalen Mit466 teln nicht immer abzusichern sind. Aus dieser Schwierigkeit, die im Besonderen die Einordnung der Metaphysik in den gesamtwissenschaftlichen Kontext betreffen, kann aber für Tillich keine generelle Ablehnung der Metaphysik folgen. Vielmehr sieht er ihre faktischen Auswirkungen in vielen Bereichen deutlich hervortreten: sowohl Neukantianismus und Phänomenologie, die er in Bewegung hin auf eine neue Ontologie sieht, als auch die Frage nach der Deutung der Geschichte versteht er als moderne Ausprägungen der Metaphysik, denn „überall da, wo sich gegenüber der rationalen Form das Seinselement in den Dingen bemerkbar macht, 467 sind Antriebe zur Metaphysik gegeben.“ Die Metaphysik ist auf die Erfassung des Unbedingten gerichtet, was aber nur durch die Formen des Bedingten hindurch versucht werden kann, soll das Unbedingte nicht zu etwas Bedingten neben anderem Bedingten gemacht werden. Der Versuch, dieses Paradox begrifflich zu ratio468 nalisieren, bildet den Ausgangspunkt für Tillichs Symboltheorie. Symbolbegriffe haben Ausdruckscharakter, dabei zählt Tillich nur diejenigen 469 Begriffe zu den metaphysischen Symbolen, die den „Gehalt schlechthin“ auszudrücken suchen. Als wichtigstes Symbol für das Unbedingte steht das – für Til464 Ebd., S. 243. 465 Ebd. 466 Vgl. Ebd., S. 252. 467 Ebd. 468 Ich kann an dieser Stelle nicht auf die komplexe Entfaltung von Tillichs Symbolbegriff eingehen, da das den Umfang dieser Arbeit sprengen würde. Die unterschiedlichen Richtungen, in die sich die Forschung in diesem Bereich entwickelt, sind zusammengefasst in: Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm (Hg.), Das Symbol als Sprache der Religion, Internationales Jahrbuch der Tillich-Forschung Bd. 2, Berlin 2007. Diesem Band sind auch weitere Literaturangaben zu entnehmen. 469 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 254.

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Die Einheit der Wissenschaften – Paul Tillichs Wissenschaftskonzept

lichs gesamtes System grundlegende – Symbol der „Einheit des Wirklichen 470 selbst“ im Zentrum des Aufbaus der metaphysischen Symbole. Metaphysische Begriffsbildung darf aber in Tillichs Augen nicht dem Vorwurf der subjektiven Willkür ausgesetzt werden: Denn sie erhebt den Anspruch, „der adäquate Ausdruck dessen zu sein, was als Wesen des Unbedingten durch sie dargestellt werden soll, und die metaphysische Haltung selbst hat einen Gewissheitscharakter, der der 471 Unbedingtheit ihres Gegenstandes entspricht.“ Dabei bleiben sie immer auf die Begriffsbildung der übrigen Wissenschaften, die sie tragen und umgeben, angewiesen. Dass es dabei im Prozess der parallel ablaufenden wissenschaftlichgeltenden und metaphysisch-ausdrückenden Begriffsbildung zu Missverständnissen in Form heteronomer Einflüsse von Seiten der Metaphysik kommen kann, stellt das zentrale Problem dar. Wo diese innerhalb des theologischen Diskurses gerechtfertig, ja vielleicht sogar geboten sein können, ohne die naturwissenschaftlichen Erklärungsmuster zu zerstören, stellt eines der zentralen Anliegen des SdW dar. Hatte Tillich die Metaphysik zunächst in ihrer fundierenden Funktion für die theoretische Reihe der Gegenständen – wozu er die die autonome Geisteshaltung 472 verkörpernden Bereiche der Wissenschaft und der Kunst gezählt hatte – behandelt, kommt sie im Fortgang der Untersuchung auch unter den veränderten Vorzeichen der theonomen Grundhaltung zum Tragen. Autonomie und Theonomie sind dabei nicht als einander entgegengesetzte Richtung derselben Funktion zu verstehen, vielmehr entwickelt Tillich ihr Verhältnis in Abhängigkeit vom Verhältnis von Denken und Sein: die Haltung der Theonomie wird expliziert als „Richtung auf das Sein als reinen Gehalt, als Abgrund jeder Denkform“ und die Autonomie als „Richtung auf das Denken als Träger der Formen und ihrer Gül473 tigkeit“ verstanden. Wie aber die Elemente Denken und Sein immer schon über sich selbst hinaus auf das jeweils andere Element hinweisen, was in der metalogischen Anschauung des Geistes realisiert wird, verhalten sich auch Theonomie und Autonomie zueinander. So stellt Tillich fest, „dass nur in der Einheit beider Richtungen alle Sinnerfüllung möglich ist: Autonomie für sich treibt zu der leeren gehaltlosen Form, Theonomie für sich zum formlosen Gehalt. (…) Die lebendige Sinnwirklichkeit stellt unendliche Übergänge zwischen den Sinnelementen dar, und der ideale Sinn alles Sinnes ist die Einheit beider Elemente.“474

Diese in der idealen Sphäre liegende Einheit von Theo- und Autonomie führt Tillich zu der zeitkritischen Diagnose, dass die zweistellige Betrachtung der Geisteswissenschaft, die er vorzunehmen sich gezwungen sieht, als Ausdruck „der 470 Ebd. 471 P. Tillich, Ebd. 472 Siehe Schaubild oben unter (1) dieses Abschnitts. 473 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 272. 474 Ebd.

Einheit in der Differenz – die Ebenen des Systems

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tatsächlichen Lage“ als Folge eines „noch nicht gelösten Kulturkonfliktes“ zu verstehen ist, dessen Lösung und Weiterbestehen beide in der Natur des Geistes ange475 legt sind. Aufgabe der theonomen Sinnprinzipienlehre kann es von daher nur sein, „das Verhältnis von Theonomie und Autonomie festzustellen, im allgemei476 nen und bei den einzelnen Sinnfunktionen und Kategorien“ und sich in der Erfüllung dieser Aufgabe als selbständige Größe neben der autonomen Philoso477 phie aufzulösen und beide ineinander in die „eine richtige Sinnprinzipienlehre“ zu überführen. In dieses gedankliche Modell ordnet Tillich auch die Theologie als theonome Sinnnormenlehre ein und formuliert damit die Pointe, auf die das gesamte SdW abzielt: die wesentliche Aufgabe der Theologie ist es, sich selbst als separate Wissenschaft aufzulösen „und in Einheit mit der autonomen Systematik 478 normative Geisteswissenschaft überhaupt“ zu sein. Als Ziel für die Theologie formuliert Tillich das so: „Die Theologie müsste sich also als praktische Arbeitsgemeinschaft für Probleme der Religion im allgemeinen und des Christentums im besonderen konstituieren, 479 würde damit aber als selbständige Wissenschaft aufgehört haben zu existieren.“

(5) Mit diesem Konzept stellt Tillich einerseits – aus der Perspektive der Theologie – die Frage nach ihrem Selbstverständnis in radikaler Weise neu zur Diskussion. Andererseits – aus der Perspektive der übrigen Wissenschaften – impliziert diese Umstrukturierung der theologischen Aufgabe und den sich daraus verschiebenden Zuständigkeitsansprüchen auch die Frage nach den die Einheit der Wissenschaft verbürgenden Faktoren und ihren Auswirkungen auf die Einzelwissenschaften. Denn wenn die Theologie über die Systematik der Geisteswissenschaften als ein notwendig immer schon vorhandener Faktor, der jeder Erfassung von Sinn in allen Bereichen der Wirklichkeit vorausgeht, verstanden wird, der sich letztlich nur durch die differente Erkenntnishaltung abgrenzen lässt, dann tritt die Frage nach der Art der Bezüge von Seins- und Geisteswissenschaften neu in den Vordergrund: Für Tillich kann dann „alle Wissenschaft (…) zum Dienst am Unbedingten werden, sie kann der Wille werden, in jedem Einzelnen das Unbedingte zu schau480 en.“ Dabei konstatiert Tillich zwar den wesentlichen Unterschied zwischen Geistes- und Seinswissenschaften, aber auch den Modus des gegenseitigen Bezuges: zwar werden die biologischen und psychologischen Strukturen, die die geisttragende Gestalt ausmachen, nicht als inhaltlich bestimmend für die Erfassung von Sinnbezügen verstanden. Doch bilden sie gleichzeitig die Strukturen, in denen

475 Ebd., S. 273. 476 Ebd. 477 Ebd., S. 274. 478 Ebd., S. 276. 479 Ebd., S. 275. 480 Ebd., S. 292.

112

Die Einheit der Wissenschaften – Paul Tillichs Wissenschaftskonzept 481

und durch die hindurch sich die Sinnerfüllung im Geist vollziehen kann. Wie Tillich dieses Vorgehen, dessen Strukturen er im SdW bereits angelegt hat, in der weiteren Entwicklung seines Denkens ausbaut und zunehmend konkretisiert, wird Aufgabe der Darstellung des gesamten zweiten Teils dieser Studie sein. Dass es dabei nicht um die Einebnung der Differenz zwischen Metaphysik und empirischen Wissenschaften geht, dürfte deutlich geworden sein. Vielmehr geht mit dem Ansatz Tillichs eine theologische Selbstverpflichtung einher: wenn die genaue Analyse und die Gestaltung dieser Differenz im Mittelpunkt steht, dann erwächst daraus die Notwendigkeit einer wachsamen Kenntnisnahme der Themen und Entwicklungen innerhalb der Bezugswissenschaften. Dieses Konzept trägt in sich die Forderung nach genauer Trennschärfe zwischen deskriptiven Elementen der Wahrnehmung, der Frage nach dem Modus der Überführung in normgebende Systeme wie sie in der Philosophie und Theologie vorherrschen und ihrer Gestalt innerhalb dieser Systeme. Es ist auch deutlich geworden, dass nicht die Aufgabe der Theologie sein kann, das Unbedingte im von den empirisch arbeitenden Wissenschaften zum Gegenstand gemachten Sein zu erweisen, vielmehr muss sie 482 „vom Sinn her das Unbedingte erfassen wollen.“ Das tut sie, indem sie sucht, die Elemente des Seins in den Mittelpunkt zu stellen, in denen der unbedingte Sinn symbolisch zum Ausdruck kommen kann und versucht aufzuweisen, „in welcher Weise das Sein als Ganzes, als universale Gestalt, ein Symbol für den unbedingten 483 Sinn ist.“ In dieser Hinsicht versteht Tillich Seinsmetaphysik bzw. Ontologie nicht als die Fortführung des platonischen Gedankens, ein eigentliches Sein hinter den Erscheinungen aufzuweisen. Sie hat vielmehr „die Aufgabe, den Aufbau alles Seienden und seine Einheit als Ausdruck des reinen Sinnes zur Darstellung zu 484 bringen.“ Letztes Ziel der Seinsmetaphysik ist es somit, die ideale Einheit von Sein und Sinn als Verweisungszusammenhang zu verstehen. Diese Zielorientierung hat weitreichende Auswirkungen auf Tillichs Verständnis von Wissenschaft insgesamt und führt zu dem vorgestellten Ansatz, die Geisteswissenschaften als Inbegriff von Wissenschaft überhaupt zu etablieren. Das wirkt sich auch auf die Wahrheitskonzeptionen aller Wissenschaften aus: Aus dem schöpferischen Charakter der Geisteswissenschaften folgt, „dass die Wissenschaft als Ganzes Überzeugungscharakter hat, also abhängig ist von der Gewissheitsform der Geisteswis485 senschaften.“ Dabei konkretisiert sich der Einfluss der Geisteswissenschaften ist jeweils unterschiedlich: während er in den Denkwissenschaften hauptsächlich im 486 Prozess „der Auffindung des Gegenstandes“ zum Tragen kommt, sind die Aus481 Ebd., S. 245. Tillich schreibt dort: „Geist ist wesensmäßig Durchbrechung der Strukturgesetze; er zerbricht sie nicht, sondern er setzt in ihnen etwas Neues, was weder negativ noch positiv aus ihnen abzuleiten ist.“ 482 P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 255. 483 Ebd. 484 Ebd. 485 Ebd., S. 284. 486 Ebd., S. 285.

Einheit in der Differenz – die Ebenen des Systems

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wirkungen in den Seinswissenschaften anderer Art und beziehen sich auch auf den Gegenstand selbst: Wahrnehmendes Verstehen als Erkenntnishaltung und nachschaffende Beschreibung als Erkenntnisweg, die von Tillich als die entscheidenden Elemente der Seinswissenschaften vorgestellt worden waren, tragen bereits Bestandteile in sich, die aus der geisteswissenschaftlichen Erkenntnisbildung entliehen sind. Durch diesen beiden Elementen wird der schöpferische Charakter der Geisteswissenschaften auch in die Seinswissenschaften hereingetragen. Gestalterkenntnis beruht für Tillich nicht allein auf empirischem Material, sondern ist in 487 der geisteswissenschaftlichen Kategorienlehre begründet. Für die Seinswissenschaft gilt von daher bei Tillich, dass „in jeder Gestalterkenntnis (…) also zwei Elemente unterschieden werden [müssen; K.B.]: die Wahrnehmung, die Aufnahme der Erscheinungen, und das Verstehen, die Erfassung des Wesens.“488

Diese beiden Elemente können für Tillich aber nicht grundsätzlich getrennt werden, denn „das Wesen besteht nicht aus der Summe der Erscheinungen, aber das Wesen kann auch nicht erschaut werden abgesehen von seiner Erscheinung; sondern in den Erscheinungen und durch die Erscheinungen hindurch wird mittels der Sinnprinzipien das Wesen erschaut.“489

Diese grundsätzliche Bestimmung eines wesentlichen Unterschieds ohne einer damit einhergehenden Trennung von empirisch Wahrgenommenen und wesensmäßig Verstandenen macht sich auch bei der Einschätzung der Bedeutung des empirischen Materials durch Tillich bemerkbar: selbstverständlich verändert eine Neuentdeckung oder die Aufdeckung eines Irrtums das Verständnis des Seins, auf das unmittelbare und ausschließliche Verständnis des Wesens hat es primär keinen Einfluss, „denn ein Urteil darüber, was wesentlich ist und was nicht, hängt (…) ab 490 von der geisteswissenschaftlichen Überzeugung.“ In der Kombination mit und unter der Maßgabe geisteswissenschaftlicher Prinzipien übt das empirische Material aber sehr wohl Einfluss auf die geisteswissenschaftliche Wesenserfassung aus. Das Verhältnis wird letztlich als ein im steten Austausch sich vollziehender Prozess verstanden: „Nur durch die Gesamthaltung wirkt die Metaphysik auf die Wissenschaft und nur durch die Darbietung von Symbolen die Wissenschaft auf die Metaphysik. Das ist der wahre, mit der Autonomie vereinte theonome Lebenssinn der Wissenschaft.“491

487 Vgl. Ebd., S. 286. 488 Ebd. 489 Ebd. 490 Ebd., S. 288. 491 Ebd.

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Die Einheit der Wissenschaften – Paul Tillichs Wissenschaftskonzept

Damit ist die Auswertung von Tillichs Verhältnisbestimmung von Geistes- und Seinswissenschaften, wie sie in seinem Frühwerk entfaltet ist, abzuschließen. Bereits in dieser frühen Phase sind somit wichtige Hinweise darauf zu lokalisieren, wie eine Konkretisierung des theoretischen Ansatzes Tillichs im praktischen Austausch aussehen könnte. Diese Fährte gilt es nun im zweiten Teil dieser Studie im Austausch Tillichs mit dem Mediziner und Neurologen Kurt Goldstein aufzunehmen.

II. Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie 1.

Biographische Notizen

Bevor auf die Entfaltung der Bezüge der anthropologischen Ansätze Tillichs und Goldsteins zueinander eingegangen werden kann (Kapitel III), soll in diesem zweiten Kapitels analog zum Vorgehen im ersten Kapitel der Frage nachgegangen werden, wie Kurt Goldstein in seinen Arbeiten seine erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundlagen entfaltet. Diese bilden die Grundlage, von der aus er in den Austausch mit Tillich treten konnte. Es ist von daher das Ziel zu verfolgen, Kurt Goldstein als einen Wissenschaftler mit eigenständigen philosophischen Interessen vorzustellen und seine Arbeiten zunächst unabhängig von seinem Eintreten in den Dialog mit Tillich darzustellen und entsprechend zu würdigen. Nur so scheint mir die Frage nach den Gründen und Motivationen für dieses Eintreten in den Austausch befriedigend beantwortbar zu sein. Dazu werde ich zunächst den Lebenslauf Kurt Goldsteins (1.1) vorstellen. Dabei wird immer wieder die Frage begegnen, welcher Fachrichtung Goldstein eigentlich zuzurechnen ist. Vor dem Hintergrund seiner Leistungen und Interessen in unterschiedlichsten Bereichen wird die Relevanz dieses Problems deutlich, denn in ihm wird gleichzeitig die Frage nach einer angemessenen Würdigung der Forschungsleistung Goldsteins aufgeworfen. Dass sich bisher keine einheitliche Antwort auf diesen Fragenkomplex gefunden hat, ist verständlich und die unterschiedlichen Richtungen, in denen die Rezeption Goldsteins verläuft, gibt beredet Auskunft über die Schwierigkeiten, die sich dem stellen, der versucht, Goldsteins Namen mit einer Berufsbezeichnung zu versehen. Ist sein Lebenswerk vor dem Hintergrund der vielschichtigen Entwicklung zu verstehen, welche die Psychologie im 20. Jh. genommen hat und diese schließlich zu einer eigenständigen Wissenschaft 1 gemacht hat? Oder qualifizieren seine herausragenden Forschungen auf dem Gebiet der Aphasie ihn primär als die Grundlagenforschung voranbringenden Neurologen, der auch seine therapeutischen Verpflichtungen mit großer Gewissenhaf-

1

So etwa Marianne L. Simmel, The Reach of Mind. Essays in Memory of Kurt Goldstein, S. Vff.; Kurztitel: M. L. Simmel (Hg.) Reach of Mind. Mit Marianne Simmels Arbeiten haben wir den wirkmächtigsten Rezeptionsstrang vor uns. Simmel war Psychologieprofessorin an der Brandeis University in Massachusetts, wo auch Goldstein bis zu seinem Lebensende einen Lehrauftrag hatte. Nahezu alle nachfolgenden Publikationen beziehen sich auf den von ihr herausgegebenen Band, der m.E. wesentliche Teile von Goldsteins Arbeit unberücksichtig lässt und sich vor allem auf die psychologischen Aspekte seiner Arbeit fokussiert. Zudem verzichtet der Band recht weitgehend auf wissenschaftliche Distanz, die Grundhaltung nahezu aller Beiträge ist die der freundschaftlichen Verbundenheit. Das schmälert leider die eigentlich angestrebte Würdigung der wissenschaftlichen Leistungen Goldsteins erheblich.

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Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie 2

tigkeit nachging? Oder ist seine Arbeit nicht unter diesen beiden Stichworten zu bündeln, sondern sollte Goldstein vor allem als Begründer der neuen Disziplin der Neuropsychologie angesehen werden, der – kombiniert mit vor allem philosophisch orientierten Überlegungen – zur theoretischen Absicherung der noch jun3 gen Disziplin ganzheitlicher Medizin einen entscheidenden Beitrag geleistet hat? Diese Schwierigkeit einer angemessenen Einordnung Goldsteins lässt sich weiter dadurch illustrieren, dass das Interesse an Goldsteins Arbeiten sich zwischen den Fachgrenzen des öfteren verschoben hat: Anlässlich seines 70. Geburtstags brachte die neurologische Zeitschrift ‚Confinia Neurologica‘ eine ihm gewidmete Nummer heraus, in der namhafte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Bedeutung der Arbeiten Goldsteins für aktuelle Probleme der Neurologie herausstellten. Zu seinem 80. hingegen schien das Hauptinteressen an Goldstein in die Bereiche der Psychologie abgewandert zu sein, denn es gaben gleich drei unterschiedliche psychologische Zeitschriften, nämlich das ‚American Journal of Psychoanalysis‘, das ‚American Journal of Psychotherapy‘ sowie das ‚Journal of indi4 vidual Psychotherapy‘ Goldstein zu Ehren Sonderbeiträge heraus. Anlässlich seines Todes 1965 ehrte dann die Zeitschrift ‚Neuropsychologia‘ sein Lebenswerk 5 mit einer Reihe von Aufsätzen. Die Frage nach der fachlichen Einordnung Goldsteins und den Bereichen, in denen er eine nachhaltige Wirkung entfalten konnte, ist also zunächst durch den Hinweis auf die Breite seines Wirkens zu beantworten. Ähnlich wie Tillich, in dessen Ausführungen im SdW sich die klassische Rolle der Theologie zunehmend auflöst und damit auch die Verortung des Theologen als Ausleger von Schrift und Bekenntnis im Kontext der ihn umgebenden Kultur fraglich wird, ist Goldstein nur schwer innerhalb enger Fächergrenzen zu verorten. Denn auch bei Goldstein handelt es sich um einen Wissenschaftler, dessen fächerübergreifende Interessen offenkundig sind und ihn nach vielen Seiten hin anschlussfähig und interessant machen. Wie Tillich sucht auch er nach der angemessenen Verortung seiner Arbeiten in einer sich im steten Wandel befindenden intellektuellen Landschaft. Im ersten Kapitel dieser Studie konnte anhand der Analyse des SdW und einiger Rezensionen dargestellt werden, mit welchen Schwierigkeiten sich Tillich einerseits bei der Verortung der Theologie im Kontext der Wissenschaften konfrontiert sieht und wie zum anderen seine Rezensenten um eine angemessene Einordnung seines Ansatzes ringen. Bei der Darstellung von 2 3

4

5

Vgl. Ria de Bleser, Kurt Goldstein, in: Paul Eling (Hg.), Reader in the History of Aphasia, S. 320– 347; Kurztitel: R. de Bleser, Goldstein. Vgl. A. Harrington, Ganzheit, S. 259–317; Gerald Kreft, „… weil man es in Deutschland einfach verschwiegen hat…“ Kurt Goldstein (1878–1965), Begründer der Neuropsychologie in Frankfurt am Main, Forschung Frankfurt, Wissenschaftsmagazin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt/Main 2000, S. 166–177; Kurztitel: G. Kreft, Goldstein. Vgl. Confinia Neurologica, , Nr. 9 (1949) Basel u.a., S. 1–272; American Journal of Psychoanalysis, Nr. 19 (1959) New York, S. 143–164; American Journal of Psychotherapy, Nr. 13 (1959) New York, S. 537–613; Journal of individual Psychology, Nr. 15 (1959) Washington DC. Vgl. Neuropsychologia, Nr.4 (1966) Oxford, S. 297–363.

Biographische Notizen

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Goldsteins Lebenslauf wird sich zeigen, dass man es mit ganz ähnlich gelagerten Problemen zu tun bekommt. Im Anschluss an den nun folgenden Durchgang durch die Lebensgeschichte Goldsteins (1.1) werde ich die durch familiäre Bindung und den Gang seiner Ausbildung bedingten philosophischen Ausgangspunkte (1.2) des Denkens Goldsteins bei Immanuel Kant (1), Johann Wolfgang von Goethe (2) und Ernst Cassirer (3) kurz vorstellen, um mich dann den wesentlichen Aspekten seiner Hauptwerke zuzuwenden. 1.1

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Lebenslauf

Ein Jahr nach seinem Tod 1965 gab Marianne L. Simmel, Psychologieprofessorin an der Brandeis University in Massachusetts, wo Goldstein bis zum Ende seines Lebens einen Lehrauftrag hatte, einen Gedenkband zur Erinnerung an ihren verstorbenen Kollegen heraus. Einer der Memorianden, der Psychologe Gardner Murphy schrieb in seinem Beitrag: ‘I think of Kurt Goldstein as a presence; a genial and generous paternal figure; a prophetic figure; the realization of an ideal; or, in Aristotelian guise, a form working through an unstructured medium and giving it meaning; the embodiment of a way conceiving the individual organism, and through it the life process upon the face of 6

Die Darstellung von Kurt Goldsteins Leben stützt sich auf die in folgenden Texten gemachten biographischen Angaben: Ria de Bleser, Goldstein., S. 319–347; Gerhard Danzer (Hg.), Wolfram Belz, Andreas Eisenblätter, Axel Schulz, Vom Konkreten zum Abstrakten. Leben und Werk Kurt Goldsteins (1878–1965), Frankfurt/Main 2006; Kurztitel: G. Danzer, Leben und Werk Kurt Goldsteins; I. S. Freiman, Kurt Goldstein – An Appreciation, in: American Journal of Psychotherapy, Vol. VIII/1 (1954) New York, S. 3–10; A. Harrington, Ganzheit, S. 259–318; Susanne Heine, Grundlagen der Religionspsychologie. Modelle und Methoden, Göttingen 2005, S. 341ff.; Bernd Holdorff, Zwischen Hirnforschung, Neuropsychiatrie und Emanzipation zur klinischen Neurologie, in: Bernd Holdorff/Rolf Winau, Geschichte der Neurologie in Berlin, Berlin u.a. 1999, S. 157– 175; Harold Kelman, Kurt Goldstein’s Influence on Psychoanalytic Thought, in: The American Journal of Psychoanalysis, Nr. 19/2 (1959) New York, S. 149–156; Gerald Kreft, Goldstein, S. 166–177; Michael Laier, Der Neurologe Kurt Goldstein (1878–1965) und seine Beziehung zu Gestaltpsychologie und Psychoanalyse in Frankfurt am Main. Zerstörte Anfänge, Wiederannäherung, Entwicklungen, in: Das Frankfurter Psychoanalytische Institut: 1929–1933; Anfänge der Psychoanalyse in Frankfurt am Main, Tübingen 1996, S. 235–253; Uta Noppeney, Abstrakte Haltung. Kurt Goldstein im Spannungsfeld von Neurologie, Psychologie und Philosophie, Würzburg 2000, S. 15–25; Kurztitel: U. Noppeney, Abstrakte Haltung; Mechthilde Kütemeyer/Ulrich Schultz, Kurt Goldstein (1878–1965): Begründer einer psychosomatischen Neurologie?, in: Christian Pross/Rolf Winau (Hg.), nicht mißhandeln, Das Krankenhaus Moabit; 1920–1933 ein Zentrum jüdischer Ärzte in Berlin 1933–1945 Verfolgung, Widerstand, Zerstörung, Berlin 1984, S. 133–139; Kurztitel: M. Kütemeyer/U. Schultz, Kurt Goldstein; Gardner Murphy, Personal Impressions of Kurt Goldstein, in: M. L. Simmel (Hg.), Reach of Mind, S. 31–37; Kurztitel: G. Murphy, Personal Impressions; David Shakow, Kurt Goldstein: 1878–1965, in: The American Journal of Psychology, Vol. 79/1 (1966) New York, S. 150–154; Marianne L. Simmel, Kurt Goldstein 1878–1965, in: Dies. (Hg.), Reach of Mind, S. 3–13; Robert Ulich, Kurt Goldstein, in: M. L. Simmel (Hg.), Reach of Mind, S. 13–16; Frederick A. Weiss, Kurt Goldstein and his Concept of Human Nature, in: The American Journal of Psychoanalysis, Vol. XIX/2 (1959) New York, S. 143–148.

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Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie

the earth. One needs the whole of Kurt Goldstein’s life to see the entelechy, the selfactualization, the dialectic stages in the progress of achiving full meaning.”7

Dass Goldstein am Ende seines Lebens nicht mehr primär wegen seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistungen geachtet wurde, sondern vor allem wegen des Charismas seiner Persönlichkeit verehrt wurde, das viele Zeitgenossen nur 8 durch den Hinweis auf den alternden Goethe in angemessener Weise glaubten würdigen zu können, verstellt gelegentlich den Blick auf die bewegten Umstände, die Goldstein zu dieser herausragenden Persönlichkeit hatten reifen lassen. Die verklärende Deutung seines Lebens ebnet häufig gerade die Brüche, Grenzerfahrungen und -überschreitungen ein, die sein Denken zu einem herausragenden geistesgeschichtlichen Zeugnis des 20. Jh. gemacht haben. Denn dass Kurt Goldstein, der als Mediziner mit neurologischer Spezialisierung und besonderem Interesse an Pathologie seine Karriere begann, am Ende seines Lebens nahezu zu 9 einer Ikone ganzheitlich orientierter Psychologie geworden war , lässt sich m.E. nicht so leicht durch den einfachen Fortgang von „dialectic stages in the process of 10 achieving full meaning“ erklären. Die Umstände, die dazu geführt haben, liegen m.E. nicht in einem geheimnisumwehten, metaphysischen Dunkel eines dialektischen Prozesses, sondern sind in einer Mischung aus historischen Bedingen, persönlichen Voraussetzungen und Entscheidungen zu suchen. In welchem Maße und in welcher Gewichtung der Lebensweg Goldsteins von den strukturellen Bedingungen zu verstehen ist, die seine berufliche Karriere und seine persönliche Entwicklung geprägt haben, soll hier herausgearbeitet werden. Dabei sehe ich im Wesentlichen drei Fixpunkte, die immer wieder in unterschiedlicher Weise und Ausprägung zum Tragen kommen: Zum Ersten ist Goldsteins außergewöhnliche intellektuelle Begabung zu nennen, die sich früh im Interesse an sehr unterschiedlichen Bereichen zeigte, und die – wie seine Zeitgenossen berichten – mit einer großen Sturheit und Ernsthaftigkeit einherging. Dass er sich lange nicht entscheiden konnte, ob er statt Medizin nicht lieber Literatur und bzw. oder Philosophie studieren sollte, ist ein Indiz dafür. Als er sich schließlich doch endgültig für eine naturwissenschaftliche Ausbildung entschied, ließ dieses Interesse mitnichten nach. Sein lebenslanges Bemühen um eine angemessene philosophische Deutung seiner Forschungen liegt ganz auf dieser Linie. Als zweiten Fixpunkt möchte ich auf die offene Situation hinweisen, welche die Wissenschaften auszeichnete, die sich in der Weimarer Zeit und davor mit Fragen von Wahrnehmung, Bewusstsein, Geist und Gehirn beschäftigten, in die Goldsteins Studium und erste berufliche Erfahrungen fielen. Mit der Abgrenzung der Neurologie als 7 8 9

G. Murphy, Personal Impressions, S. 31. Vgl. A. Harrington, Ganzheit, S. 315ff. Zu der Bewunderung, die Goldstein in seinen späten Jahren vor allem von Wissenschaftlern entgegengebracht wurde, die sich ganzheitlichen Psychologiekonzepten verpflichtet fühlten vgl. A. Harrington, Ganzheit, S. 312ff. 10 G. Murphy, Personal Impressions, S. 31.

Biographische Notizen

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einer eigenständigen Disziplin verschoben sich die Zuständigkeitsbereiche zwischen Philosophie, Medizin, Biologie und Psychologie an vielen wichtigen Punkten und mussten neu abgesteckt werden. In diesem Prozess formierten sich wesentliche Paradigmen, die für die Diskussion um eine moderne Sicht auf den Menschen und das Leben insgesamt bis heute relevant sind. Wie sich Goldstein in diesem diskursiven Prozess bewegte, welche Probleme er sah und welche Grenzlinien er aus welchen Gründen überschritt, soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Als letzten Fixpunkt möchte ich Goldsteins jüdische Identität anführen, von 11 der er selbst sagte, er habe sie mehr als „destiny than a mission“ empfunden. In der Tat sind nahezu alle größeren Schicksalsschläge, die ihn trafen, mehr oder weniger deutlich mit seiner jüdischen Identität verknüpft. Dabei brachte ihn als einem überzeugten Humanisten der menschengemachte Charakter dieses ‚Schicksals‘ an die Grenzen seiner Vorstellungskraft, so dass er schließlich dazu überging, bei seinen deutschen Landsleuten 1936 eine kollektive Hirnpathologie zu diagnostizieren. Anders sei die bereitwillige Aufgabe freiheitlicher Prinzipien nicht zu erklären, zumindest erinnerten ihn viele der Verhaltensweisen, die eine überwältigende Mehrheit der Deutschen an den Tag legte, an Symptomatiken, die er bei 12 seinen Patienten beobachten konnte. Vor dem Hintergrund dieses Spannungsfeldes dieser drei Fixpunkte möchte ich im Folgenden Goldsteins Lebensweg genauer in den Blick nehmen. Kurt Goldstein wurde am 06.11.1878 im oberschlesischen Kattowitz als siebtes von neun Kindern geboren. Der Vater, Abraham Goldstein, war ein wohlhabender Holzhändler und Sägewerkbesitzer. Die Mutter, Rosalie Cassirer, war eine Tante Ernst Cassirers. Der Vater fühlte sich dem traditionellen jüdischen Bildungsideal sehr verbunden, obwohl er selbst nur eine geringe Schulbildung erhalten hatte. In der optimalen Ausbildung seiner Kinder sah er die Möglichkeit des sozialen Aufstieges, die es unbedingt wahrzunehmen galt. Der Sohn Kurt fiel schon sehr früh aufgrund seiner vorwiegend im philosophisch-literarischen Bereich liegenden Interessen auf. Für den Besuch des humanistischen Gymnasiums zog die Familie nach Breslau um, wo Goldstein in der Schule den Spitznamen ‚Professor‘ erhielt, weil er 11 Robert Ulich, Kurt Goldstein, in: M. L. Simmel (Hg.), Reach of Mind, S. 13. 12 Vgl. Kurt Goldstein, Bemerkungen über die Bedeutung der Biologie für die Soziologie anlässlich des Autoritätsproblems, in: Max Horckheimer (Hg.), Studien über Autorität und Familie, Paris 1936, S. 656–668. Goldstein schreibt dort: „In unserer Schilderung des in Unsicherheit lebenden Kranken lässt sich ein Spiegelbild all der Eigentümlichkeiten erkennen, die wir vornehmlich bei bestimmten Schichten des Mittelstandes finden. Wir konstatieren die Enge und Starrheit der Welt dieser Menschen, ihre Kritiklosigkeit gegenüber allen Angriffen auf die eingewurzelte Haltung, richtiger gesagt: die Blindheit gegenüber solcher Kritik, das starre Festhalten an Lebensformen und Idealen vergangener Zeiten, die Unzugänglichkeit für Neuerungen, besonders wenn sie Unsicherheit mit sich bringen könnten (…); die Bekämpfung anderer Meinungen und Menschen mit fanatischer Leidenschaft und Grausamkeit, den Mangel an Mut in Verbindung mit der Neigung zur Tollkühnheit besonders unter dem Schutz eines ‚Großen‘(…); die Autorität muss zum absoluten Wert werden (…). Schließlich sei noch erwähnt der Mangel an echter Beschaulichkeit, der beinahe unmenschliche Ernst, der Mangel an Humor und Ironie.“ Ebd., S. 665.

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Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie

– neben seiner auffälligen Ernsthaftigkeit – immer ein Buch bei sich trug, in dem er auch zumeist las. Die Familie pflegte einen regen Kontakt zur den Verwandten mütterlicherseits, so dass es Goldstein häufig möglich war, mit seinem vier Jahre älteren Cousin philosophische Fragen zu diskutieren. Diese Gespräche scheinen den Berufswunsch Goldsteins wesentlich geprägt zu haben: er wollte Philosophie und Literatur studieren, was der Vater ihm aber als brotlose Kunst zunächst ver13 weigerte. Erst 1899 , nachdem Goldstein einige Zeit im Geschäft eines Bekannten des Vaters gearbeitet hatte, setzt er sich schließlich durch und studierte in Breslau und Heidelberg die gewünschte Fächerkombination. Dort kam er in Kontakt mit der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus und hört u.a. Vorlesungen bei Kuno Fischer. Nach einem Jahr kehrt er nach Breslau zurück und wechselt in die Medizin, ein gängiger Weg für einen jungen, begabten Juden im Deutschen Reich, dem andere akademische Karrierewege in Administration und Militär verschlossen waren. Goldstein selbst schrieb später über seine Entscheidung: „In deciding on natural science, I was certain that I would use it only as a basis for becoming a physician. Medicine alone appeared suited to my inclination – to deal with human 14 beings.” Nach seiner Rückkehr nach Breslau führte sein Interesse an Fragen der Anthropologie Goldstein zu den besonderen Problemen der Nerven- und Geisteskrankheiten. Anne Harrington stellt die m.E. zutreffende Vermutung an, dass die Frage nach einer angemessenen Verhältnisbestimmung von Materie und Geist, die sich in dem noch jungen Fach der Neurologie in immer wieder neuer Form stellte, Goldsteins auf die Anthropologie ausgerichteten, philosophischen Interesse sehr 15 entgegen gekommen sein dürften, so dass er sich in diesem Bereich spezialisierte. In Breslau arbeitete er im Labor von Alfred Schaper, der v.a. die embryonale Entwicklung des Nervensystems erforschte. Hier entwickelt Goldstein ein besonderes Interesse an neuroanatomischen Fragen, so dass er 1903 mit einer Arbeit über ‚Die Zusammensetzung der Hirnstränge. Anatomische Beiträge und kritische Übersicht‘ bei Schaper promovierte. In diese Zeit fallen auch Goldsteins erste Kontakte zu Carl Wernicke, dem führenden Vertreter lokalisationstheoretisch orientierter Psychiatrie, der nahezu als Urbild des mechanistischen Naturwissenschaftlers anzusehen ist. Mit ihm begegnet Goldstein einem seiner wichtigsten Lehrer und – so konträr ihre Ansätze sich im Weiteren auch entwickelten – es war Wernicke, der durch seine Arbeiten Goldsteins Interesse an den Zusammenhän-

13 Dieses Datum scheint nicht ganz gesichert zu sein. Die meisten geben als Beginn von Goldsteins Studium 1899 an, gelegentlich kann man in der Literatur aber auch 1897 finden, was aber auf einer offensichtlichen Unachtsamkeit beruht. Vgl. etwa M. Kütemeyer/U. Schultz, Kurt Goldstein, S. 139. 14 K. Goldstein, SP, S. 1. 15 Vgl. A. Harrington, Ganzheit, S. 261.

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gen von Psychologie und Neurologie weckte. Das psychologische Verstehen von Symptomen in Kombination mit physiologischer Grundlagenforschung wurde zu einem der Hauptinteressensgebiete Goldsteins. Im Oktober 1903 wechselte Goldstein für ein Jahr als Assistent nach Frankfurt/Main an das Senkenbergische Neurologische Institut zu Ludwig Edinger. Diesem Institut bleibt er bis 1930 eng verbunden. In Edinger fand Goldstein den optimalen Lehrer: beide gingen in ihren Arbeiten von ähnlichen philosophischen Voraussetzungen – etwa von Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ und der dort beschriebenen Sonderrolle der Biologie sowie dem Gestalt- und Naturverständnis Goethes – aus und versuchten, den Horizont der Neurologie durch diese Hinwendung zu philosophischen Fragen ständig zu 17 erweitern. Für den Zeitraum vom 18.10.1904–23.09.1905 wechselte Goldstein für eine As18 sistenz bei Alfred Hoche an die Psychiatrische Klinik nach Freiburg, dem sich ein halbes Jahr als Assistent bei Hermann Oppenheim in der privaten Poliklinik für Nervenkrankheiten in Berlin anschloss. Im April 1906 wechselte Goldstein an die Universitätsklinik in Königsberg, wo eine Reihe von Publikationen zu Halluzinationen veröffentlichte, darunter auch seine Habilitationsschrift ‚Über das Realitätsurteil halluzinatorischer Wahrnehmungen‘. Bis 1914 blieb er in Königsberg. Diese Zeit bekam für die Entwicklung seines therapeutischen Ansatzes herausragende Bedeutung: die Psychiatrie, der er in Königsberg begegnete, war weitestgehend durch die Theorien des Münchner Psychiaters Emil Kraepelin bestimmt. Dieser konzentrierte sich vor allem auf die erblichen Faktoren psychiatrischer Krankheitsbilder, die er von daher als nicht-heilbar einstufte. Das Interesse an therapeutischen Konzepten war dementsprechend gering, was Goldstein zutiefst abstieß. Zudem störte ihn das Bild vom Gehirn, das Kraepelin seinen Arbeiten zugrunde legte: „Der unübersehbar verwickelte Bau des Gehirns und namentlich der Hirnrinde, die Tatsachen der Entwicklungsgeschichte und der vergleichenden Hirnanatomie, die Erfahrung bei herdartigen Hirnschädigungen und Missbildungen, endlich der 16 Wernicke arbeitete damals daran, die Symptome von Psychosen im Gehirn zu lokalisieren und diese pathologischen Veränderungen in sein lokalisationstheoretisches Modell zu integrieren. Vgl. U. Noppendey, Abstrakte Haltung, S. 17f. 17 Auf diesen Punkt werden ich später noch zurückkommen. Vgl. auch Kap. I, 1.2 dieser Studie. Zur Person Edingers und seiner Bedeutung für die Entwicklung der Neurologie in Deutschland vgl. G. Danzer (Hg.), Leben und Werk Kurt Goldsteins, S. 17–22. 18 Alfred Hoche errang später zweifelhafte Popularität, als er 1920 gemeinsam mit Karl Binding die für die Entwicklung und Popularisierung von eugenischen und rassenhygienischen Gedankengut in der Weimarer Zeit einflussreiche Schrift ‚Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form‘ schrieb. Zwar wurde das Buch zunächst in weiten Teilen der Gesellschaft abgelehnt, doch steht außer Frage, dass sie durch ihre menschenverachtende und brutale Sprache den gesellschaftlichen Tabubruch der Nationalsozialisten mit vorbereitet hat. Vgl. Heiner Fangerau/Thorsten Noak, Rassenhygiene in Deutschland und Medizin im Nationalsozialismus, in: Stefan Schulz/Klaus Steigleder/Heiner Fangerau/Norbert W. Paul, Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Eine Einführung, Frankfurt/Main 2006, S. 237f.

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Tierversuch weisen mit wachsender Bestimmtheit darauf hin, dass auch im Hirn den Verschiedenheiten des Baus der einzelnen Teile und ihrer Anordnung Verschiedenheiten in der Verrichtung entsprechen müssen. Mit anderen Worten: wir haben allen Grund anzunehmen, dass sich das Gehirn aus einer Unzahl von Einzelwerkzeugen und -maschinen zusammensetzt, die alle ihre bestimmte Bedeutung für das Zustandekommen der Gesamtleistung besitzen. Höchst wahrscheinlich sind dabei vielfache Sicherungen in der Weise gegeben, dass derselbe Zweck auf mehrere, voneinander unabhängigen Wegen, mit verschiedenen Mitteln erreicht werden kann, ohne dass darum etwa im strengen Sinne, wie man früher annahm, ein Teil der Leistung eines anderen zu übernehmen imstande wäre.“19

Diese Semantik, die die Vorstellung des Gehirns als eines in sich fragmentierten, mechanischen Organs impliziert, das mit Hilfe von ‚Werkzeugen‘, ‚Maschinen‘ und ‚Sicherungen‘ seine Leistungen vollbringt, hielt Goldstein aufgrund seiner klinischen Befunde und seiner philosophischen Ansätze für sehr fraglich. Daneben herrschte auch in Königsberg ein allgemeiner therapeutischer Nihilismus vor, der – neben Kraepelin – im Wesentlichen auf den Einfluss der Wiener Schule um Carl von Rokitansky und Josef Skoda zurückging. Beide Ärzte hatten die pathologische Anatomie post mortem als wichtigstes und nahezu einziges ernstzunehmendes diagnostisches Werkzeug propagiert und jeden therapeutischen Ansatz als Ein20 griff, der die Ordnung der Natur nur stören könnte, abgelehnt. Goldstein empfand diese Praxis, die allein an der Stellung einer korrekten Diagnose, nicht aber einer wirksamen Therapie interessiert war, als unzureichend und begann damit, sich Gedanken über Auswege zu machen. Ein Zwischenergebnis dieser Überlegungen dürfte die 1913 herausgegebene, auf in der Klinik in Königsberg gehaltene Vorträge zurückgehende Schrift ‚Über Rassenhygiene‘ gewesen sein. Goldstein setzt sich hier mit den von Kraepelin propagierten, erblichen Voraussetzungen 21 psychiatrischer Krankheitsbilder auseinander. Goldstein, der sich bald (1934) vom Grundansatz dieser Schrift sowie aller ‚rassehygienischen‘ Gedanken insgesamt distanziert hat, konnte für viele der von Kraepelin als erblich angesehene Krankheiten, die s.E. nur durch eine strenge Regulation der Fortpflanzung auszurotten seien, lediglich soziale Bedingungen feststellen, für deren Verbesserung er politisch-gesellschaftliche Kräfte verantwortlich zu machen sucht. Damit widerspricht er dem allgemeinen Trend, sozialstrukturelle Krisenphänomene wie etwa Alkoholismus, Prostitution und der damit einhergehenden Syphilisepidemie mit

19 Emil Kraepelin, Ziele und Wege der psychiatrischen Forschung, Berlin 1918, S. 11. 20 Zum therapeutischen Nihilismus Wiener Prägung vgl. William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien u.a. 1972, S. 230–236. 21 Eine zusammenfassende Darstellung und Interpretation dieser Schrift findet sich bei A. Harrington, Ganzheit, S. 262–267.

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Hilfe psychiatrischer Verwissenschaftlichung zu pathologisieren, der seit dem letz22 ten Drittel des 19. Jh. nachweisbar ist. 1912 wurde Goldstein in Königsberg Titularprofessor, ein Jahr darauf Oberarzt an der Psychiatrischen Nervenklinik und Nervenpoliklinik. Im Dezember 1914 kehrte er nach Frankfurt zurück und wurde dort Vorsteher der Neuropathologischen Abteilung am Neurologischen Institut der Universität Frankfurt und Edingers Oberassistent. Im September 1915 bestimmte Edinger Goldstein zu seinem Nachfolger als Direktor des Instituts, dessen Schwerpunkt der Versuch eines interdisziplinären Brückenschlages zwischen Hirnforschung und Psychologie war. Edinger stellte Goldstein bald von der Arbeit im Labor frei, denn dieser sah seine eigene Begabung und Schwerpunktsetzung mehr im klinischen Bereich. Mit den Erfahrungen aus der Zeit in Königsberg im Rücken nahm Goldstein die Aufgabe, ein Krankenhaus mit angeschlossener Forschungsabteilung zu organisieren, das sich der Diagnose, Therapie und Rehabilitation hirnverletzter Soldaten widmen sollte, gern und mit großem Elan an. Ab 1916 leitete er zunächst zwei Reservelazarette in der Nähe von Frankfurt, die später in das ‚Institut zur Erforschung der Folgeerscheinung von Hirnverletzungen‘ überführt wurden, das ab 1918 als eigen23 ständige Abteilung zum Neurologischen Institut der Universität gehörte. Dieses Institut setzt sich für ein interdisziplinäres, vor allem therapeutisch orientiertes Rehabilitationsprogramm ein, an dem Mediziner, Psychologen und Pädagogen beteiligt waren. Die Ziele des Instituts standen im Gegensatz zum allgemein Üblichen: den jungen Soldaten sollte nach Möglichkeit bei der Rückkehr in ihr früheres ziviles (Berufs-)Leben geholfen werden und damit ging einher, dass auf Betreiben Goldsteins möglichst keiner seiner Patienten, die eine Schädelschussverletzung erlitten hatten, wieder zurück an die Front geschickt wurde, selbst wenn sie über einen längeren Zeitraum keine Symptomatiken mehr entwickelten. Darüber schrieb er: „Schon allein die Betrachtung der Schädelschüsse unter dem Gesichtspunkte der Gefahren, die der Militärdienst für sie mit sich bringt, führt uns, wenn wir es recht betrachten, zu dem Resultat, dass wir eigentlich jeden nicht ganz sicher reinen Weichteilschuss nur mit größten Bedenken ins Feld schicken können, also lieber ganz davon absehen, da ja über den definitiven Ausgang erst nach Jahren etwas gesagt werden kann.“24 22 Vgl. Doris Kaufmann, ‚Widerstandsfähige Gehirne‘ und ‚kampfunlustige Seelen‘. Zur Mentalitätsund Wissenschaftsgeschichte des I. Weltkriegs, in: Michael Hagner (Hg.), Ecce Cortex. Beiträge zur Geschichte des modernen Gehirns, Göttingen 1999, S. 212; Kurztitel: D. Kaufmann, Gehirne. 23 Besonders im ersten Jahren des Krieges kam es zu sehr vielen schwerwiegenden Kopfverletzungen, die Zahlen gingen mit der Einführung des Stahlhelms seit der Schlacht von Verdun im Mai 1916 zumindest im Bereich der durch kleinere Geschosse bzw. Geschosssplitter verursachten Verletzungen leicht zurück. Vgl. Sanitätsbericht über das Deutsche Feld- und Besatzungsheer im Weltkriege 1914/1918, Bd. III: Die Krankenbewegung bei dem Deutschen Feld- und Besatzungsheer im Weltkriege 1914/1918, Berlin 1934, S. 76. 24 K. Goldstein, BFB, S. 195.

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Zudem plädierte Goldstein in vielen Fällen an den Staat, den derartig Verletzten 25 hohe Pensionen und andere Kompensationsleistungen zu leisten. Er lehnte die weitverbreitete Praxis ab, bei Hirnverletzten zwar eine spezifische Arbeitsfähigkeit zu konstatieren, die aber häufig außerhalb des vom Patienten erlernten Berufsfel26 des lag, ohne gleichzeitig eine angemessene Umschulung bereitzustellen. Um den Kranken, die durchaus noch in der Lage waren zu arbeiten, ohne zugleich den Ansprüchen des freien Arbeitsmarktes genügen zu können, die Gelegenheit in einer für sie sichereren Umgebung auf freiwilliger Basis einer ihnen möglichen Arbeit nachzugehen zu geben, regte Goldstein die „Schaffung ländlicher Arbeits27 kolonien auf genossenschaftlicher Grundlage“ an. Die statistischen Zahlen, die Goldstein hinsichtlich des Erreichens seiner therapeutischen Ziele vorzuweisen hatte, waren vor dem Hintergrund, dass aus Friedenszeiten nahezu keine Erfahrungen mit Therapie und Prognose bei derartigen Schussverletzungen im Schädelbereich vorlagen, bemerkenswert. Er teilte die Patienten in vier Gruppen ein: 20% fielen in die erste Gruppe der Patienten, die noch fast voll arbeitsfähig waren. Zu der Gruppe, die etwa zu 2/3 arbeitsfähig war, gehörten 32%, ebenfalls 32% wurden als nur zu leichter Arbeit mit besonderer Schonung verwendbar eingestuft. 16% gehörten der vierten Gruppe an, die als vollständig arbeitsunfähig galt. Besonders gute Erfolge konnten Goldstein und seine Kollegen bei der Therapie allgemeiner nervöser Störungen sowie Sprach- und 28 Sehstörungen vorweisen. In seiner Zeit als Lazarettarzt in Frankfurt hatte Goldstein auch mit einer Rei29 he von sog. ‚Kriegsneurotikern‘ zu tun. Über die Ursachen der beschriebenen Fälle von Erblinden, Ertauben, Zittern, Schütteln, Anfällen und Lähmungen bei gleichzeitiger – so weit nachweisbar – völliger organischer Gesundheit und der angemessenen Therapiemethoden war ein heftiger Streit zwischen Neurologen, 25 Vgl. K. Goldstein, RFH, S. 93–120. 26 So schreibt er etwa: „Wichtig ist auch, dass unseren Rentenfestsetzungen die Arbeitsleistungsprüfungen zugrunde liegen, nachdem der Verletzte in dem neuen Beruf eingelernt ist. Wollten wir unsere Rentenfestsetzung ohne diese mehr fürsorglichen Maßnahmen vornehmen und eventuell nur ein Urteil über die Geeignetheit für einen neuen Beruf der Abschätzung zugrunde legen, das Neulernen aber dem Verletzten selbst überlassen, so würden wir ihm bitter Unrecht tun, weil er gar nicht imstande wäre, die ihm nach unseren Schätzungen verbliebene Arbeitskraft zu verwerten. Die fürsorglichen Maßnahmen gehören unbedingt zur Heilbehandlung, nach der erst die Rentenfestsetzung stattfinden soll. Wir würden ohne sie die Renten in sehr vielen Fällen außerordentlich viel höher ansetzen müssen.“ K. Goldstein, BFB, S.204. 27 Ebd., S. 212f. Vor allem der militärische und krankenhaushafte Charakter sei bei der Ausgestaltung dieser Kolonien zu vermeiden. 28 Vgl. K. Goldstein, BFB, S. 185–188. 29 Obwohl Hirnverletzte und als Kriegsneurotiker eingestufte Soldaten streng voneinander getrennt untergebracht werden sollten, da die Kriegsneurose in dem Ruf stand, sowohl wehrkraftzersetzend als auch anstreckend zu sein, berichtet Goldstein auch solche Patienten in dem von ihm geleiteten Lazarett behandelt zu haben. Die aus anderen Krankenhäusern berichteten Schwierigkeiten scheinen in Frankfurt nicht so stark zu beobachten gewesen sein. Vgl. K. Goldstein, RFH, S. 93–120. Dazu auch G. Danzer (Hg.), Leben und Werk Kurt Goldsteins, S. 147f.

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Psychiatern und Psychoanalytikern entbrannt. Die Beschwerden wurden oftmals als psychogen eingestuft, die Behandlung umfasste Aversionstherapien in verschiedenen Varianten: mit Ekelkuren, Dunkelarresten, Scheinoperationen sowie der häufigen Anwendung starker Ströme bei Lähmungserscheinungen sollte den Soldaten der Aufenthalt im Lazarett als erstrebenswerter Alternative zur Front verleidet werden. Die sich unter diesen Umständen immer mehr verstärkende Atmosphäre des Hasses zwischen den Ärzten, die ihre Foltermethoden nur mühsam und notdürftig als von wissenschaftlichen Kriterien geleitetes Handeln tarnten, und den gequälten Soldaten, führte nach dem Ende des Krieges u.a. dazu, dass einige Mitglieder der Soldatenräte sich als eine der ersten Aktionen auf den Weg machten, ihre gefangenen Kameraden aus geschlossenen Anstalten zu befreien. 31 Auch von einzelnen Racheakten an den ehemaligen Peinigern wird berichtet. Goldstein gehörte dagegen zu den wenigen seiner Zunft, die sich schon früh und eindeutig von dieser Praxis distanzierten: wegen der während der Behandlung mit starken Strömen aufgetretenen Todesfälle verbat er den Einsatz solcher Therapieansätze, die als ‚Kaufmannsche Kuren‘ bekannt geworden waren. Zudem war Goldstein mit den Therapiezielen seiner Kollegen, die mit einer erfolgreichen Therapie zumeist eine wiederhergestellte Kriegsverwendbarkeit meinten, nicht einverstanden. Er sieht es dagegen als entscheidend an, „dass man den Kranken sagt, dass sie trotz Heilung nicht mehr ins Feld kommen, was nach meiner Auffassung auch wissenschaftlich und praktisch das richtige Verfahren ist, da ja die größte Wahrscheinlichkeit vorliegt, dass diese Kranken den Anforderungen des Felddienstes nicht gewachsen sind und bei jeder besonderen Situation versagen und ihre frühere oder ähnliche Störung wieder bekommen würden.“32

Natürlich darf für die Einordnung von Goldsteins Ansätzen nicht vergessen werden, dass es sich auch bei dem Krankenhaus in Frankfurt um ein der militärischen Befehlsgewalt unterstehendes Lazarett handelte, in dem aber – im Gegensatz zu anderen Einrichtungen, die ihre Patienten aufgrund der möglichen defätistischen Wirkung auf Heimat und Front wegsperrten – großer Wert auf berufliche Umorientierung mit Blick auf eine Zukunft außerhalb der Armee gelegt 33 wurde. 30 Zu den Kriegsneurotikern vgl. Karl Heinz Roth, Die Modernisierung der Folter in den beiden Weltkriegen: Der Konflikt der Psychotherapeuten und Schulpsychiater um die deutschen ‚Kriegsneurotiker‘ 1915–1945, in: 1999 Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Nr. 2/3 (1987) Bern u.a., S. 8–75, besonders mit den Entwicklungen im Ersten Weltkrieg beschäftigen sich die S. 11–33. 31 Vgl. D. Kaufmann, Gehirne, 213ff. 32 K. Goldstein, Über die Behandlung der ‚monosymptomatischen‘ Hysterie bei Soldaten, Neurologisches Centralblatt 35 (1916) Leipzig, S. 846. 33 Zu einem normalen Tagesablauf in den Lazaretten speziell für Nervengeschädigte, die offensichtlich die baldige Wiedereingliederung der Patienten in den Militärdienst zum Ziel hatten vgl. Sanitätsbericht, Ebd., S. 149, wo es heißt: „Das Hauptbestreben des behandelnden Arztes war, den Nervenkranken die innere Ruhe, Zuversicht und das Vertrauen auf die eigene Kraft zu geben. Sie

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In die Zeit in Frankfurt fiel auch der Beginn der intensiven Zusammenarbeit mit dem Psychologen des Psychologischen Instituts der Universität Frankfurt Ad34 hémar Gelb , einem Schüler Carl Stumpfs, mit dem Goldstein auch in Davos gemeinsam auftrat. Aus der Zusammenarbeit mit ihm gehen die beiden wichtigsten Publikationen dieser Jahre hervor: Zunächst erschien der oben bereits zitierte Band ‚Die Behandlung, Fürsorge und Begutachtung der Hirnverletzten‘, in dem der therapeutische Ansatz des Krankenhauses näher erläutert und erste Ergebnisse evaluiert wurden. Die zweite wichtige Publikation, die 1920 erschien, war die 35 Aufsatzsammlung ‚Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle‘ , die sich 36 hauptsächlich der Vorstellung des Falles des Patienten Schneider widmeten, der seit 1915 bei Gelb und Goldstein in Behandlung war. Sie dokumentieren darin den Krankheitsverlauf des 24jährigen Patienten, der 1915 mit zwei Verletzungen durch Minensplitter im Schädelbereich nach Frankfurt ins Krankenhaus kam und dort langfristig behandelt wurde. Der Patient Schneider wurde dabei für Goldsteins Theoriebildung aus mehreren Gründen wichtig: die ausgedehnte intensive Beobachtung Schneiders verschob Goldsteins und Gelbs Verständnis einiger der wesentlichen Begriffe der Medizin und führte sie zu einer Reihe von Überlegungen, die allgemein-anthropologische Themen betrafen, die ihre Arbeiten u.a. auch für Tillich enorm interessant machten. Einen wichtigen Ausgangspunkt stellten dabei Goldsteins Überlegungen zu der Frage der Phänomenologie der Symptome dar, die ihn nach und nach zu einer erheblichen Skepsis gegenüber herkömmlicher naturwissenschaftlicher Theoriebildung brachten. Am Patienten Schneider beobachteten Goldstein und Gelb zunächst, nachdem seine offenen Wunden am Schädel verheilt waren, auf den ersten Blick keine wesentlich eingeschränkte Lesefähigkeit. Überhaupt konnte sich der Patient relativ selbstständig bewegen und war wurde deshalb in den Genesungsheimen und Nervenstationen ihrem Beruf entsprechend beschäftigt. In den Genesungsheimen fand man es am vorteilhaftesten, die Kranken nur einen halben Tag beruflich arbeiten zu lassen und der anderen Tageshälfte einen militärischen Inhalt zu geben. Der Tag begann um 8 Uhr morgens mit einem Appell, damit das Hindämmern im Schlaf des Morgens vermieden wurde, dann folgte Arbeit in der Küche, Kammer, Garten und Landwirtschaft. Nach dem Mittagessen war 1 ½ Stunden Ruhe angesetzt, und der Nachmittag war mit militärischen Spaziergängen, mit Gymnastik (Turnspielen, Wettlauf), Entfernungsschätzen, Bajonettieren usw. ausgefüllt.“ 34 Goldstein und Gelb arbeiteten bis zu Goldsteins Flucht aus Deutschland 1933 zusammen. Auch Gelb, der wie Goldstein Jude war, wollte Deutschland gen Amerika verlassen. Auch er hatte ein Stipendium der Rockefeller Foundation, doch wurde ihm sein Visum zu lange verweigert. Gelbs Gesundheit hatte immer Grund zur Sorge gegeben, die Anspannung, unter der er zuletzt gelitten hatte, führte zu einer weiteren Verschlechterung seines Zustandes, so dass er kurz vor einer möglichen Ausreise 1935 oder 1936 – das Datum ist nicht ganz geklärt – noch in Deutschland starb. Vgl. A. Harrington, Ganzheit, S. 269, besonders Fußnote 26. 35 Vgl. Kurt Goldstein/Adhémar Gelb (Hg.), Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle, Leipzig 1928. 36 Dem Patient Schneider widmete Goldstein sich intensiv: neben den wichtigen Publikationen der 20iger Jahre hatte Goldstein auch nach dem Krieg bei einer Reise nach Deutschland 1954 Gelegenheit, ihn zu untersuchen. Vgl. G. Danzer, Leben und Werk Kurt Goldsteins, S. 65f.

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auch in der Lage, seinen Alltag weitestgehend eigenständig zu bewältigen, obwohl er – wie sich im Laufe der Untersuchungen herausstellte – unter einer massiven Einschränkung der Wahrnehmung litt. Erst bei genaueren Beobachtungen wurde klar, dass Schneider beim Lesen seinen Kopf ständig bewegte. Er fuhr – ohne dass es ihm bewusst war – die zu lesenden Zeichen mit minimalen Kopfbewegungen nach. Wurde er aufgefordert, diese Bewegungen zu unterlassen oder an ihnen gehindert, war er nicht mehr in der Lage, das eben noch Erkannte zu entziffern. Diese Beobachtung, die schon weit jenseits der mit lokalisationstheoretischen Paradigmen im Sinne Wernickes erklärbaren Phänomene lag – nach denen ein Symptom bzw. ein Ausfall einer bestimmten Fähigkeit einer klar abgrenzbaren Hirnregion entsprach –, regte Goldstein und Gelb zu weitergehenden Untersuchungen und Tests an, in denen sich eine neue Sicht auf das Gehirn und auf den Menschen insgesamt herauszubilden begann. Goldstein und Gelb konnten das Gehirn nicht mehr als in Regionen geordnetes, in einzelne Maschinenteile zerlegbares Ganzes sehen, bei dem die Beschädigung eines Teils, zum Verlust bzw. der Störung einer bestimmten Fähigkeit führte. Bei Schneider und vielen anderen, so die Hypothese Goldsteins und Gelbs, lag offenbar eine Störung der Fähigkeit des Gehirns vor, die unterschiedlichen Stimuli zu einem Ganzen zu organisieren. Die Fähigkeit, von einer konkreten Situation zu abstrahieren, war offenbar nicht mehr intakt. Strukturen konnten zwar weiterhin in ihren Einzelelementen aufgenommen werden, aber nicht mehr in ihrer Zusammengehörigkeit zu einem Ganzen erfasst 37 werden. Gleichzeitig zeigte der Patient eine Reihe von Kompensationsmechanismen, die es ihm ermöglichten, sich trotz seiner Einschränkungen in seiner Außenwelt zu orientieren, die ihm zum größten Teil in ihrer Unterschiedlichkeit zum gesunden Menschen nicht bewusst waren. Aus diesen hier nur kurz angedeuteten Befunden leiteten Goldstein und Gelb eine Reihe von Folgen, die u.a. das Verständnis von Gesundheit und Krankheit, die Funktion von Symptomen, existenzieller Angst und der Umstände, unter denen es im Leben eines Menschen zur Verwirklichung von Freiheit kommen kann, betrafen, ab, die die klinische Neurologie sehr weitgehend revolutionierten. Das Jahr 1918 brachte für Goldstein einschneidende Veränderungen. Sein langjähriger Lehrer, Vorgesetzter und Freund Ludwig Edinger starb unerwartet. Goldstein, der auch eng mit der Familie befreundet war, hielt die Grabrede für ihn und bleibt den Edingers, die später zu großen Teilen ebenfalls zur Emigration 38 gezwungen wurden, über lange Zeit eng verbunden. Goldstein wurde zunächst 37 Goldstein und Gelb lehnten sich in ihren Versuchsaufbauten und Deutungskategorien in dieser Zeit weitgehend an auf Max Wertheimer zurückgehende, gestalttheoretische Aspekte an. 38 Zu den Verhältnis Goldsteins zur Familie Edingers besonders zu Tilly Edinger, der Begründerin der vergleichenden Paläoneurologie vgl. Rolf Kohring/Gerald Kreft (Hg.), Tilly Edinger. Leben und Werk einer jüdischen Wissenschaftlerin, Stuttgart 2003. Goldstein beteiligte sich wie viele seiner Kollegen in dieser Zeit an der sog. Elitegehirnforschung und untersuchte nach dessen Tod zusammen mit Walter Riese das Gehirn Edingers. Vgl. Jürgen Peiffer, Neurologie in Berlin, in: Bernd Holdorff/Rolf Winau (Hg.), Geschichte der Neurologie in Berlin, Berlin u.a., S. 44.

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zum kommissarischen Leiter des Instituts bestimmt, bis er 1922 zu dessen Direktor und außerordentlichem Professor der Universität ernannt wurde. 1923 erhielt er einen Ruf zum ordentlichen Professor für Neurologie der Universität Frankfurt und pflegte in dieser Position rege wissenschaftliche Kontakte in unterschiedliche Fachrichtungen u.a. zu seinem Cousin Ernst Cassirer, mit dem er ausgiebig über 39 gemeinsame Themen kommunizierte , Aron Gurwitsch, Max Horckheimer, Siegmund Heinrich Fuchs, Fritz Perls, Frieda Fromm-Reichmann und Walter Riese. Im Februar 1920 begleitete er die Gründung des ‚Frankfurter Psychoanalytischen Instituts‘, die er mitinitiiert hatte, mit großem Interesse und arbeitet auch mit seinen psychoanalytisch ausgerichteten Kollegen wie etwa Karl Landauer und 40 Clara Happel zusammen. 1921 gründete Goldstein gemeinsam mit Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und Hans Gruhle die Zeitschrift ‚Psycho41 logische Forschung‘ , deren Ziel es war, „der Psychologie in ihrem ganzen Ausdehnungsbereich [zu; K.B.] dienen, auch den Arbeitsbeziehungen, die die 42 Psychologie zu anderen Wissenschaften hat oder haben müsste.“ Das Konzept der Zeitschrift erwies sich als langfristig sehr erfolgreich, der Anspruch, ein weites Spektrum psychologischer Forschung zu repräsentieren und die Fächergrenzen zu überschreiten, konnte weitestgehend eingelöst werden, auch wenn der Schwer43 punkt auf Publikationen zu wahrnehmungspsychologischen Themen lag. Im weiteren Verlauf der 20iger Jahre zeigte sich die zunehmende Anerkennung, die Goldsteins akademischer Karriere entgegengebracht wurde. Neben einer stattlichen Anzahl von Vorträgen, zu denen er eingeladen wurde, die sich in einer hohen 44 Veröffentlichungsfrequenz niederschlug , wurde er immer öfter aufgefordert, für 45 renommierte Hand- und Lehrbücher Beiträge zu liefern. Darin vertrat er seine 39 Vgl. A. Harrington, Ganzheit, S. 273f. Aus den Arbeiten Cassirers geht hervor, dass er Goldstein offenbar mehrfach in der Frankfurter Klinik besuchte und sich von ihm einzelne Versuche vorführen ließ. Vgl. Kap. II, 1.2 (3). 40 Goldstein war zusätzlich noch Mitglied im Herausgebergremium der Zeitschrift ‚Der Nervenarzt‘. Zudem gehörte dem Vorstand der ‚Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie‘ und der ‚Gesellschaft deutscher Nervenärzte‘ an. 1927 war er einer der Mitbegründer der ‚Internationalen Gesellschaft für Psychotherapie‘. 41 Zur Geschichte der Zeitschrift vgl. Mitchell G. Ash, Ein Institut und eine Zeitschrift. Zur Geschichte des Berliner Psychologischen Instituts und der Zeitschrift ‚Psychologische Forschung‘ vor und nach 1933, in: Carl Friedrich Graumann (Hg.) Psychologie im Nationalsozialismus, Berlin u.a. 1985, S. 113–137; Kurztitel: M. G. Ash, Psychologische Forschung. 42 Psychologische Forschung, Nr. 1 (1921) Berlin, S. 1. 43 Vgl. dazu M. G. Ash, Psychologische Forschung, S. 119f. 44 Vgl. dazu Goldsteins Bibliographie, die bis zu seinem Tod deutlich über 300 Veröffentlichungen zählt: M. L. Simmel, Reach of Mind, S. 271–293. 45 Vgl. u.a. Adolf Wallenberg/Kurt Goldstein (Hg.), Einführung in die Lehre vom Bau und den Verrichtungen des Nervensystems, Leipzig³ 1921; Emil Abderhalden (Hg.), Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Bd. 6, Berlin 1922, S. 477–546; Rudolf Cassirer/Max Nonne/B. Pfeiffer/Kurt Goldstein/Hermann Oppenheim (Hg.), Lehrbuch der Nervenkrankheiten für Ärzte und Studierende, Berlin7 1923; Friedrich Kraus/Theodor Brugsch (Hg.), Spezielle Pathologie und Therapie innerer Krankheiten, Berlin u.a. 1924, S. 1–98; Leo Mohr/Rudolf Stähelin (Hg.), Hand-

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Ablehnung einer strikten lokalisationstheoretischen Zuordnung psychischer und physischer Fähigkeiten. Zwar hielt er an empirisch ermittelten Beziehungen zwischen einzelnen Fähigkeiten und festgelegten Hirnregionen fest, wie sie die klassischen Lokalisationstheorie nach Wernicke vorsah, aber er sah diese als Teil einer ganzheitlichen Funktion und Leistung des Gehirns an, so dass jede Läsion je nach Lage eine unterschiedliche Symptomatik hervorruft, zugleich aber immer als Beeinträchtigung der Gesamtfunktion des Gehirns verstanden und behandelt werden 46 muss. Daneben fällt in Goldsteins Frankfurter Jahre auch die weitere Vertiefung seines Ansatzes: es ging ihm weiter um die Klärung von strukturellen und funktionalen Übereinstimmungen von psychischen und organischen Krankheiten. Darin ergänzte er sich hervorragend mit Max Wertheimer, der von 1929–1933 die Lei47 tung des ‚Psychologischen Instituts‘ innehat. Überhaupt bildete sich mit dem von gestalttheoretischen Prämissen ausgehenden Forscherkreis um Wertheimer – zu nennen sind hier etwa Kurt Koffka, Wolfgang Köhler oder Kurt Lewin – in Frankfurt ein Zentrum für naturwissenschaftliche Theoriebildung heraus, das sich als dezidierte Gegenbewegung zum elementaristisch-materialistischen Denken in den Naturwissenschaften des 19. Jh. verstand, dessen erkenntnisleitendes Paradigma die Analogie zwischen lebendigem Körper und der Maschine darstellte. Ein zusammenfassendes Ergebnis der Arbeit, die Goldstein nach seiner Rückkehr nach Frankfurt beschäftigt hatte, war die Vorlesung im Wintersemester 1929/30, die er an der medizinischen Fakultät in Frankfurt über die ‚Grundprobleme einer medizinischen Psychologie (Psychisches und Somatisches, Bewusstes und Unbewusstes, Psychoanalyse etc.)‘ hielt. Zu ebendiesem Wintersemester kam Tillich als Professor für Philosophie nach Frank48 furt an die philosophische Fakultät. Die gemeinsame Zeit in Frankfurt, die auch für Tillich der Höhepunkt seiner Karriere in Deutschland darstellte, währte aber nur kurz: Zum 07.05.1930 wechselte Goldstein an das Lehrkrankenhaus nach Berlin/Moabit als Leiter der neueröffneten Abteilung für Neurologie und erhielt eine Honorarprofessur in der Universität, das unter der Leitung seines Direktors Georg Klemperer zu einem Zentrum psychosomatisch orientierter, sozial verantworteter

buch der inneren Medizin, Bd. 5, Berlin² 1925, S. 147–363; Albrecht Theodor Bethe (Hg.), Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie, Bd. 10, Berlin 1927, S. 600–824. 46 Vgl. Heinz A. F. Schulze, Hirnlokalisationsforschung in Berlin, in: Bernd Holdorff/Rolf Winau (Hg.), Geschichte der Hirnforschung in Berlin, Berlin u.a. 1999, S. 59. 47 Das Verhältnis zu Wertheimer trübte sich später durch einen Streit über Urheberschaft merklich und anhaltend ein. Vgl. dazu A. Harrington, Ganzheit, S. 280, Anm. 54. 48 Die gemeinsamen Lehrveranstaltungen, die vielfach in der Literatur erwähnt werden, sind für die Zeit in Frankfurt zumindest aus dem Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1929/30 nicht zu verifizieren. Allerdings pflegten Tillich und Goldstein die rege Teilnahme an außerhalb des normalen Lehrbetrieb abgehaltenen Veranstaltungen im privaten Rahmen. Dass sie sich in diesem Rahmen begegnet sind, ist sehr wahrscheinlich, zumal sie einander – wie oben dargelegt – bereits länger kannten und sich nachweislich für die Arbeit des jeweils anderen interessierten.

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Medizin geworden war. In seiner Zeit in Berlin verfestigten sich Goldsteins Ansätze dahingehend, dass er versuchte, seine grundlegenden Ansichten zum LeibSeele-Problem, die aus seinen Arbeiten zu hirnpathologischen Themen resultierten, und ihre philosophischen Ausgangspunkte und Konsequenzen, in die Diskussion um Themen der Arzt-Patient-Beziehung einfließen zu lassen. So schrieb er eine Reihe programmatischer Aufsätze, die das Problem der psychosomatischen Verhältnisbestimmung ins Zentrum der Betrachtung stellte, etwa den 1931 veröffentlichten Text ‚Das psycho-physische Problem in seiner Bedeutung für ärztliches 50 Handeln‘. Bemerkenswert ist weiterhin Goldsteins Teilnahme an einer 1932 in Marienbad abgehaltenen Konferenz, deren Ergebnisse ein Jahr später unter dem Titel ‚Einheitsbestrebungen in der Medizin‘ zusammengetragen und von Theodor Brugsch, einem der führenden Vertreter psychosomatischer Ansätze in der inne51 ren Medizin, herausgegeben wurden. Die Konferenz sollte dazu dienen, verbindliche Kriterien – sowohl für die Forschung als auch für den Umgang mit Patienten – für alle medizinischen Fächer festzulegen, um der in allen gesellschaftlichen Bereichen ausgerufenen Krise zumindest in der Medizin zu begegnen. Goldstein referierte auf diesem Kongress über ‚Die ganzheitliche Betrachtung in der Medi52 zin‘. In Berlin setzte sich Goldstein weiter für den Ausbau und die Weiterentwicklung des Krankenhauses ein: noch im Herbst 1932 schrieb er zusammen mit seinem neurochirurgischen Kollegen Moritz Borchard einen Brief an die zuständige Behörde mit der Bitte um die Erweiterung des Krankenhauses um eine neurochi53 rurgische Abteilung. Ein Ansinnen, dem aus politischen Gründen nicht mehr entsprochen wurde, denn 1933 verschlechterte sich für Goldstein und viele seiner Kollegen die Situation erheblich. Neben seiner Mitgliedschaft in der SPD war er im ‚Verein sozialistischer Ärzte‘ engagiert, der im Frühjahr 1933 verboten wurde. 49 Das Krankenhaus in Moabit war das einzige städtische Krankenhaus mit Universitätsrang seit 1920 und damit in Berlin das zweitwichtigste Krankenhaus nach der Charité. Für das Krankenhaus war es ein großer Erfolg, einen herausragenden und angesehenen Mediziner wie Goldstein aus einer für ihn mit viel Prestige verbundenen Stelle wie der Professur in Frankfurt heraus verpflichten zu können. Vgl. Christian Pross/Rolf Winau (Hg.), nicht mißhandeln. Das Krankenhaus Moabit; 1920–1933 ein Zentrum jüdischer Ärzte in Berlin 1933–1945 Verfolgung, Widerstand, Zerstörung, Berlin 1984, S.133; Bernd Holdorff, Zwischen Hirnforschung, Neuropsychiatrie und Emanzipation zur klinischen Neurologie, in: Bernd Holdorff/Rolf Winau (Hg.), Geschichte der Neurologie in Berlin u.a. 1999, S. 166; G. Danzer, Leben und Werk Kurt Goldsteins, S. 41ff. 50 Kurt Goldstein, Das psycho-physische Problem in seiner Bedeutung für ärztliches Handeln, in: Therapie der Gegenwart, (1/1931) Berlin, S. 1–11. 51 Vgl. zu der Konferenz A. Harrington, Ganzheit, S. 298–300. 52 Kurt Goldstein, Die ganzheitliche Betrachtung in der Medizin, in: Theodor Brugsch (Hg.) Einheitsbestrebungen in der Medizin. Kongreß zur Förderung medizinischer Synthese und ärztlicher Weltanschauung. Verhandlungsbericht der zweiten zwischenstaatlichen Tagung in Marienbad 14.–17. September 1932, Dresden u.a. 1933, S. 143–158. 53 Vgl. Bernd Holdorff, Zwischen Hirnforschung, Neuropsychiatrie und Emanzipation zur klinischen Neurologie bis 1933, in: Bernd Holdorff/Rolf Winau (Hg.), Geschichte der Neurologie in Berlin, Berlin u.a. 1999, S. 146.

Biographische Notizen

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Das Krankenhaus in Moabit galt den Nationalsozialisten als ‚rot‘ und ‚jüdisch‘ und war aus diesen Gründen gleich zu Beginn der Diktatur erheblich gefährdet. Am 21.03.1933 erschien im ‚Völkischen Beobachter‘ ein Artikel, der den Anteil der als jüdisch identifizierten Ärzte mit 70%, den der Gewerkschaftsmitglieder mit 10% der Angestellten bezifferte. In dem Artikel wurden zudem die Namen aller 54 jüdischen Angestellten – darunter auch der Goldsteins – genannt. Für ihn kam hinzu, dass er offenbar wegen seiner Mitgliedschaft und Mitarbeit im ‚Verein sozialistischer Ärzte‘, der nach seinem Verbot im Untergrund weiter zu arbeiten versuchte, denunziert wurde. Am 01.04.1933, am sog. ‚Tag des allgemeinen Judenboykotts‘, wurde er bei einer Razzia der SA im Krankenhaus von seinem Arbeitsplatz weg verhaftet, ins Gefängnis in der General-Pape-Straße verschleppt und 55 dort misshandelt. Eine Woche lang blieb er in Haft, bis seine spätere Frau, die Psychiaterin Eva Rothmann, sich bei Matthias Göring, dem Direktor des ‚Deutschen Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie‘ und Vetter Hermann Görings, erfolgreich für seine Freilassung unter der Auflage, Deutschland für immer zu verlassen, einsetzen konnte. Goldstein floh dann über die Schweiz, wo er an der Gründung der ‚Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft‘ beteiligt war, nach Amsterdam. Dort wartete er ein Jahr mit einem Stipendium der Rockefeller Stiftung auf ein Visum für die Einreise in die USA. Seine Freunde hatten ihm eine Stelle am pharmakologischen Institut der Universität organisiert, so dass er in der Zeit des Wartens auf die Ausreise zumindest in Ansätzen arbeiten konnte. Er nutzte die Zeit für die Konzeption und Niederschrift seines Hauptwerkes ‚Der Aufbau des Organismus‘, das 1934 zunächst weitestgehend unbeachtet in deutscher Sprache erschien. An deutschsprachigen Rezensionen erscheinen im Wesentlichen zwei grundverschiedene Texte: Tillich schrieb in der Zeitschrift für Sozialforschung einen kurzen Literaturbericht, der Rezension zu nennen eine 56 Übertreibung wäre. Aber immerhin – Tillich hat das Buch als einer der Ersten überhaupt zur Kenntnis genommen und vor allem auf seine über die Grenzen der Biologie, Psychologie und Medizin hinausgehende Relevanz in Hinblick auf Fragen der Anthropologie verwiesen: „Wenn ein Nicht-Mediziner und Nicht-Biologe über ein Buch wie das Goldstein’sche berichten soll, so ist vorausgesetzt, dass dieses Buch Dinge enthält, die von übergreifendem Interesse sind und auch für den Philosophen und Soziologen Bedeutung haben. Diese Voraussetzung wird durch die Lektüre des Buches in wachsendem Maße bestätigt. Was G. an methodischen Einsichten ausspricht, sowie das Bild vom Menschen, das er umreißt, sind Material für jede philosophische und soziologische 54 Vgl. Völkischer Beobachter 21.03.1933. Vgl. auch A. Harrington, Ganzheit, S. 301f. 55 Zu den genauren Umständen seiner Verhaftung siehe auch A. Harrington, Ganzheit, S. 300–309; Christian Pross/Rolf Wienau, Nicht mißhandeln, Das Krankenhaus Moabit. 1920–1933 Ein Zentrum jüdischer Ärzte in Berlin 1933–1945 Verfolgung, Widerstand, Zerstörung, Berlin 1984, S. 182ff. 56 Paul Tillich, - Rez.: Kurt Goldstein, Der Aufbau des Organismus, in: Zeitschrift für Sozialforschung, V. Jg., Paris 1936, S. 111–113.

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Anthropologie. G. gehört zu derjenigen Gruppe moderner Denker, denen die Frage nach dem Menschen zum Mittelpunkt alles übrigen Fragens geworden ist.“57

Der zweite Text erschien ungefähr zeitgleich in der von Siegmund Freud herausgegebenen Zeitschrift ‚Imago‘. Der Psychologe Siegmund Heinrich Fuchs schrieb eine ausführliche Rezension, in der er die Lektüre dringend empfahl, denn „wenn die Berührung mit den Gedanken und der Persönlichkeit des Autors zu einem kleinen Teil den lebendigen Kontakt ersetzen kann, so wird sich solche Lektüre reichlich lohnen. Seien wir nicht zu kritisch, sondern willig und offen, auf uns einwirken zu lassen; denn was hier ruft, ist die Stimme des Lebens, was hier färbt, ist 58 die Farbe der Liebe!“

Goldstein spezifiziert darin seinen ganzheitlichen Ansatz in zweierlei Weise: ‚ganzheitlich‘ bedeutete Goldstein zum einen das stete Zusammendenken von somatischen und psychischen Elementen. Ihm war es stets wichtig zu betonen, dass der Arzt niemals einer kranken Leber oder einem verletzten Gehirn gegenüber sitzt, sondern einer erkrankten Person, die sich als Ganze zu ihrem Defekt verhält und von daher als solche von medizinischer Seite betrachtet werden muss. Zum anderen setzt Goldstein zwar für seine Aussagen zur Anthropologie bei seinen Forschungsergebnissen mit Hirnverletzten an, doch sieht er den Menschen nicht als identisch mit seinen Hirnfunktionen an: zu einem ganzheitlichen psychosomatischen Ansatz gehört die Perspektive auf die Gesamtheit des Organismus. Auf diesen Zusammenhang wird im Weiteren noch ausführlich zu Sprechen zu kommen sein. Internationale Beachtung erfuhren das Werk und sein Autor erst 59 mit der 1939 erscheinenden amerikanischen Übersetzung. 1935 kam Goldstein in New York an und gehörte dort zum weiterten Kreis des ‚Frankfurter Instituts für Sozialforschung‘. Er eröffnete ein Praxis für Psychotherapie und Neuropsychiatrie, die er bis zu seinem Lebensende führte. Immer wieder hatte er mit ernsten Geldsorgen zu kämpfen, da er sich häufig weigerte, von 57 Ebd., S. 111. 58 Siegmund Heinrich Fuchs, Zum Stand der heutigen Biologie. Dargestellt an Kurt Goldstein: ‚Der Aufbau des Organismus‘, in: Imago. Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen, Nr. 22 (1936) Wien, S. 241. 59 In Amerika widerfährt dem Buch bis heute eine bedeutende Wertschätzung, was u.a. auch daraus abzuleiten ist, dass es Oliver Sacks erst kürzlich unternommen hat, eine Neuübersetzung und ausgabe herauszugeben, die 2000 in New York erschien. Zu der Wirkung des Buches vgl. auch das Vorwort Sacks in dem er zur Motivation seiner Neuherausgabe schreibt: „Much that Goldstein recorded, pondered, and described for us with minute care and detail lies at the very heart of medicine and neurology and can now, perhaps be understood – at least reapproached and reconcieved – with the more powerful tools and concepts of our own time. It is fitting, therefore, to revive the observation and thoughts of this remarkable man, who saw and described so much in his own time, to see what resonance they will have for us now.” (S. 14). Herausragende Beachtung widerfuhr dem Buch auch in Frankreich: Maurice Merleau-Ponty übersetzte es ins Französische und gab es gemeinsam mit Jean-Paul Sartre in der Reihe phänomenologischer Arbeiten in der Bibliothèque Philosophique als zweiten Band auf die Übersetzung der ‚Logischen Untersuchungen‘ Edmund Husserls folgend heraus. Vgl. A. Harrington, Ganzheit, S. 289ff.

Biographische Notizen

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seinen Patienten Honorare anzunehmen. 1936 erhielt er eine unbezahlte Gastprofessur an der Columbia University in New York. Im Wintersemester 1938/39 hielt er auf Empfehlung von Karl Lesley die William James Lectures in Harvard, die 1940 unter dem Titel ‚Human Nature in the Light of Psychopathology‘ herauskamen, in denen Goldstein seine naturwissenschaftlich begründete Anthropologie ausführlich darlegte. Zudem arbeitete er im klinischen Labor am Montefori Hospital in New York zusammen mit Martin Scheerer, mit dem er 1936 die bedeutende Untersuchung ‚Abstract and Concrete Behavior: An Experimental Study with Special Tests‘ herausgab. 1940 wurde Goldsteins Existenz zumindest in finanzieller Hinsicht auf solidere Füße gestellt: er erhielt für fünf Jahre ein Stipendium der Rockefeller Foundation als Professor für Neurologie am Tufts College Medical School in Boston und wurde zudem im selben Jahr amerikanischer Staatsbürger. Bis zum Ende des Stipendiums erschienen eine Reihe von wichtigen Publikationen, die Goldstein zum größten Teil in Zusammenarbeit mit Martin Scheerer 60 erarbeitete. Nach dem Ende dieses Stipendiums kehrte er wieder nach New York zurück und führte dort seine private Praxis weiter und erfüllte verschiedene Lehrverpflichtungen u.a. an der Brandeis University/Massachusetts und an der New School for Social Research. Finanzielle Unterstützung erhielt er in dieser Zeit durch die jungianisch ausgerichteten Bollinger Foundation. 1948 erschien mit ‚Language and Language Disturbance‘ eine seiner letzten großen Veröffentlichung. Die Zeitschrift ‚Confinia Neurologica‘ veröffentlichte zu Goldsteins 70. Geburtstag eine ihm gewidmete Sondernummer. 1958 wurde Goldstein anlässlich seines 80igsten Geburtstages die Ehrenmitgliedschaft der Hebrew University in Jerusalem überreicht. Zusätzlich erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Frankfurt/Main, die nahezu einzige offizielle Würdigung seiner Arbeit in Deutschland, denn weder nach seinem Tod 1965 noch anlässlich seines 100sten Geburtstages gab es von offizieller Seite öffentliche Aufmerksamkeit in seiner alten Heimat, in die Goldstein nach seiner Emigration nie zurückgekehrte, obwohl er häufig unter heftigen Heimwehattacken litt. In den USA ist er bis zu seinem 61 Tode offenbar nie richtig heimisch geworden. Nach dem Tod seiner Frau 1960, die sich nach langer, depressiver Erkrankung das Leben nahm, zog Goldstein sich immer mehr aus dem öffentlichen Leben zurück, ohne das Arbeiten in seiner Praxis gänzlich aufzugeben. Am 19.09.1965 starb er an den Folgen eines drei Wochen zuvor erlittenen Schlaganfalls in New York. Zu den zahlreichen Gästen seiner Trauerfeier gehörte auch Paul Tillich, der selbst einen guten Monat später am 22. Oktober desselben Jahres seinem Herzleiden erlag.

60 Darunter sind vor allem die Veröffentlichung ‚After-effects of Brain Injuries in War: Their Evaluation and Treatment‘; ‘Case Lanuti: Extrem Concretization of Behavior Due to Damage of the Brain Cortex.’ 61 Vgl. A. Harrington, Ganzheit, S. 308ff.

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1.2

Philosophische Ausgangspunkte

Dass Kurt Goldstein in seinen medizinischen Forschungen immer auch einen Beitrag zu Debatte um die philosophisch argumentierende Anthropologie sah, ist im vorausgehenden Abschnitt schon angedeutet worden. Kurz sind auch die philosophischen Wurzeln seines Denkens zur Sprache gekommen, ohne dabei jedoch tiefer auf die jeweiligen Impulse, die Goldstein von einzelnen Denkern empfing, in seiner Arbeit integrierte und seine eigenen Bedürfnissen anpasste, einzugehen. Dies soll jetzt nachgeholt werden, indem zunächst Goldsteins Ausgangspunkt bei der Erkenntnistheorie Kants (1) vorgestellt wird, der auf die besondere Bedeutung von Freiheit und dem Gedanken des Telos in der Natur in besonderer Weise eingeht. Dann sollen (2) die Elemente von Goldsteins lebenslangen Bewunderung für Goethe und die Art seiner Orientierung an dessen naturwissenschaftlicher Methodik darlegt wird. Abschließend (3) soll auf die für Goldsteins Auffassung des Organismus und sein Verständnis des Status naturwissenschaftlicher Begriffsbildung entscheidenden denkerischen Anleihen bei der Symboltheorie Ernst Cassirers hingewiesen werden, in der er den Versuch der Integration von Kants und Goethes Ansätzen vorfand, die für sein Denken als prägend angesehen werden kann. (1) Wie so viele andere philosophische und naturwissenschaftliche Denker seiner Zeit orientierte sich auch Kurt Goldstein bei der Wahl seines philosophischen Ansatzpunktes weitgehend an der Philosophie Immanuel Kants. Damit hatte auch er Anteil an dem Versuch der Restrukturierung des Profils der Philosophie als einer eigenständigen Wissenschaft. Auch Goldstein setzte bei Kants in der Vorrede zur zweiten Auflage der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ beschriebenen ‚kopernikanische Wende‘ in der Erkenntnistheorie an, die es dieser ermöglichen sollte, „den 62 sicheren Gang einer Wissenschaft“ zu gehen. Besondere Bedeutung für das Interesse Goldsteins dabei dürfte die von Kant entworfene Analogie zu den Naturwissenschaften gehabt haben: Gleich diesen, namentlich der Mathematik und der Physik, die „begriffen, dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, dass sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln [zu; K.B.] lassen“63,

müssten auch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis in den verschiedenen Bereichen der Vernunft gestellt werden. Gleich Kopernikus, der 64 „die Sterne in Ruhe“ lassend, die Bewegung der Erde um die Sonne als Grundlage der neuzeitlichen Kosmologie postulierte, demonstrierte Kant den grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsel. Er verneinte die Möglichkeit, aus den Eigenschaften und Beschaffenheiten der betrachteten Gegenstände Er62 I. Kant, KrV, B VII. 63 Ebd., B XIII. 64 Ebd., B XVI.

Biographische Notizen

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kenntnis durch Vernunft zu erreichen. Vielmehr sei Erkenntnis allein dadurch zu erlangen, dass „wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.“65

Erkenntnis im Bereich der reinen Vernunft spielt – so Kant – formal nach den gleichen Regeln, die auch im Experiment der Naturwissenschaften gelten, der Unterschied liege lediglich in der differenten Art des Gegebenseins der zu erkennenden Gegenstände. Diese unterscheiden sich auf zweierlei Hinsicht: einmal als „Gegenstände der Sinne und des Verstandes für die Erfahrung, andererseits aber doch als Gegenstände, die man bloß denkt, allenfalls für die isolierte und über Erfahrungsgrenze hinausstrebende Vernunft.“66

In diesem letzteren Bereich kann der Status der Erkenntnis den einer möglichen nicht überschreiten, weil Erkenntnis in diesem Fall über das sinnlich Erfahrbare hinausgetrieben und auf die Ebene des Unbedingten verwiesen wird, die nicht als Bündelung und Überhöhung der empirischen Tatsachen zu verstehen ist, sondern als die Ebene der Gegenstände, die der Erkenntnis grundsätzlich – im Sinne einer aus empirischen Elementen abgeleiteten – verschlossen bliebt, aber zweifelsohne im Denken – im Sinne einer notwendig widerspruchslosen Denkbarkeit – er67 schlossen werden kann. Diese doppelte Bedeutung – zum einen der Dinge als Erscheinung, zum anderen der Dinge an sich selbst – führt Kant in Richtung auf eine grundlegende Unterscheidung weiter, die für die Rezeption seines Ansatzes durch Goldstein bedeutsam war. Erkenntnis eines Gegenstandes kann es laut Kant von daher nur insofern geben, als dass sie sich auf den Gegenstand als Erscheinung beziehen muss. Daneben stehen all diejenigen Bereiche, deren Möglichkeit zu sein nicht zweifelsfrei bewiesen werden kann, deren potenzielle Erkenntnis allein im Denken möglich ist. Kant verdeutlicht diesen Gedanken an folgendem Beispiel: „Von eben demselben Wesen also, z.B. der menschlichen Seele, würde ich nicht sagen können, ihr Wille sei frei, und er sei doch zugleich der Naturnotwendigkeit unterworfen, d. i. nicht frei, ohne in einen offenbaren Widerspruch zu geraten, weil ich die Seele in beiden Sätzen in eben derselben Bedeutung, nämlich als Ding überhaupt (…) genommen habe (…). Wenn aber die Kritik nicht geirrt hat, da sie das Objekt in zweierlei Bedeutung nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich selbst; wenn die Deduktion ihrer Verstandesbegriffe richtig ist, (…) so wird eben derselbe Wille in der Erscheinung (…) als dem Naturgesetze notwendig gemäß und so fern nicht frei, und doch andererseits, als einem Ding an sich selbst angehörig, je-

65 Ebd. 66 Ebd., B XVII Anm. 67 Vgl. Ebd., B XX.

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Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie nem nicht unterworfen, mithin als frei gedacht, ohne das hierbei ein Widerspruch vorgeht.“68

In seiner dritten Kritik, der ‚Kritik der Urteilskraft‘ von 1790, führt Kant diese grundlegende Unterscheidung weiter. Die beiden Bereiche werden in die theoretische Naturphilosophie auf der einen und die praktischen Moralphilosophie auf der anderen Seite voneinander differenziert. Die zentrale Frage, der Kant hier nachgeht, ist die Frage nach der Möglichkeit einer Verbindung zwischen beiden Bereichen und dem dafür notwendig zu postulierenden Prinzip. Die Aussagen, die Kant in diesem Zusammenhang zum Verhältnis von Metaphysik und Biologie macht, haben für Goldsteins Herangehen an die Biologie und ihrer Verhältnisbestimmung zu seinen philosophischen Ansätzen herausragende Bedeutung gewonnen. Sie sollen hier kurz vorgestellt werden. Kant beschreibt die beiden Bereiche als den der theoretischen Naturerkenntnis einerseits, der durch seinen ausschließlich rezeptiven Charakter, der lediglich in der Lage ist, „(als gesetzeskundig vermittels des Verstandes) aus gegebenen Geset69 zen durch Schlüsse Folgerungen zu ziehen“ , und der praktischen Freiheitsbegriffe andererseits, die immer als ausschließlich selbst gesetzgebend gedacht werden, zunächst getrennt und schließt eine Verbindung aufgrund dieses grundlegenden Unterschiedes aus: „Denn so wenig der Naturbegriff auf die Gesetzgebung durch den Freiheitsbegriff Einfluß hat, ebenso wenig stört dieser die Gesetzgebung der 70 Natur.“ Beide können widerspruchsfrei als zugleich in demselben Subjekt vorhanden gedacht werden, weil sie sich – wie oben bereits dargelegt – im Modus ihres Gegebenseins zwar wesentlich unterscheiden, aber sich durch diese Unterscheidung auch nicht widersprechend überschneiden: Freiheitsbegriffe liegen nur 71 als Dinge an sich, Naturbegriff nur als Erscheinungen vor. Neben dieser Trennung postuliert Kant aber auch die Notwendigkeit der Verbindung beider Bereiche: „so soll doch diese [die Welt der Freiheitsbegriffe; K.B.] auf jene [die Welt der Naturbegriffe; K.B.] einen Einfluss haben; nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen, und die Natur muss folglich auch so gedacht werden können, dass die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.“72

Diese Verbindung sieht Kant in der Urteilskraft gegeben, die zwar kein drittes Gebiet neben Freiheits- und Naturbegriffen darstellt, aber wie Verstand und Vernunft 68 69 70 71 72

Ebd., B XXVII f. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Hamburg 2001, B XVII. Ebd., B XVIII. Vgl. Ebd. Ebd., B XIXf.

Biographische Notizen

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„doch ein ihr eigenes Prinzip nach Gesetzen zu suchen, allenfalls ein bloß subjektives, a priori in sich enthalten dürfte; welches, wenn ihm gleich kein Feld der Gegenstände als sein Gebiet zustände, doch irgend einen Boden haben kann und eine gewissen Beschaffenheit desselben, wofür gerade nur dieses Prinzip geltend sein 73 kann.“

Für die genauere Bestimmung der Urteilskraft, die Kant als „das Vermögen, das 74 Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ definiert, ist es vor allem entscheidend, das transzendentale Prinzip a priori zu bestimmen, durch welches sie – als reflektierende Urteilskraft – die Unterordnung verschiedener Besonderheiten unter ein Allgemeines zu leisten im Stande sein soll. Dieses Prinzip muss aus ihr selbst genommen sein und darf nicht von den subsumierten empirischen Prinzipien abgeleitet sein, soll es als das Prinzip der selbstgesetzgebenden, reflektierenden Urteilskraft verstanden werden. Von daher „kann dieses Prinzip kein anderes sein, als dass, da allgemeine Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstande haben, der sie in der Natur (…) vorschreibt, die besonderen empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte.“75

Mit dieser materialen Bestimmung des Prinzips gibt sich das Erkenntnisvermögen selbst eine erkenntnisleitende Regel, mit der nichts – Kant betont diesen Aspekt mehrfach – über die Eigenschaft der Natur – nach seinen eigenen denkerischen Voraussetzungen wäre dies auch ein absurder Vorgang – an sich ausgesagt ist. Dieses Prinzip, das die teleologische Organisation der Natur aus erkenntnistheoretischer Perspektive postuliert, stellt für Kant die Voraussetzung dafür dar, dass der Naturbegriff als solcher überhaupt von anderem abgegrenzt und ein Gegenstand 76 der Erfahrung werden kann. Dieses Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur steht damit zwischen den Natur- und Freiheitsbegriffen als ein Drittes, das zwar in engem Kontakt zu den beiden anderen konzipiert, aber vor allem wegen der Subjektivität seiner Anwendungen deutlich von ihnen getrennt ist. Es ist gerade dieser Bereich des ‚Zwischen‘, dem man bei der Untersuchung des Austausches zwischen Tillich und Goldstein immer wieder begegnet, wie im weiteren Verlauf dieser Studie noch zu beobachten sein wird. Kant fasst die Implikationen seines Ansatzes noch einmal deutlich zusammen, wenn er schreibt: 73 Ebd., B XXIf. 74 Ebd., B XXVf. Kant differenziert die Urteilskraft nach der von ihr eingenommenen Perspektive folgendermaßen: sie sei bestimmend, wenn sie unter einem gegebenen Allgemeinen das Besondere subsumiere. Hingegen versteht Kant sie als reflektierend, wenn sie aufgrund des Gegebenen Besonderen auf ein allgemeines Prinzip zu schließen unternimmt. 75 Ebd., B XXVII. 76 Vgl. Ebd., B XXXII.

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„Die Urteilskraft hat also auch ein Prinzip a priori für die Möglichkeit der Natur, aber nur in subjektiver Rücksicht, in sich, wodurch sie nicht der Natur (als Autonomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) für die Reflexion über jene ein Gesetz vorschreibt, welches man das Gesetz der Spezifikation der Natur in Ansehung ihrer empirischen Gesetze nennen könnte, das sie a priori an ihr nicht erkennt, sondern zum Behuf einer für unseren Verstand erkennbaren Ordnung derselben in der Einteilung, die sie von ihren allgemeinen Gesetzen macht, annimmt, wenn sie diesen eine Mannigfaltigkeit der besonderen unterordnen will.“77

Den Grund des Übergangs der Freiheits- zu den Naturbegriffen beschreibt Kant auch noch in einer anderen Hinsicht: Der letzten Konsequenz des Freiheitsbegriffes, die in der Forderung eines Endzwecks liegt, entspricht auf der Seite der Natur die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Existenz der menschlichen Subjektivität. Denn indem der Mensch als mit Sinnen ausgestattetes Naturwesen in sich die Forderung der Freiheit erkennen kann, wird allein die Bedingung erfüllt, dass „die Natur (…) auch so gedacht werden [kann; K.B.], dass die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.“78

Mit diesem Vorlauf wendet sich Kant nun der Biologie, der er im Kontext der Naturwissenschaften eine Sonderrolle zugesteht, zu. Dabei gliedert er seine Argumentation in drei Schritte: Zunächst untersucht er die spezifische Art der Teleologie des Organischen (§§ 61–68), dann stellt er die sich gegenseitig dialektisch ergänzenden teleologischen und kausalen Aussagen im Bereich des Lebendigen dar (§§ 69-78), um abschließend die Teleologie der Natur und die Existenz einer Welt im Rahmen der Methodenlehre aufeinander zu beziehen (§§ 79-91). Ich will es jetzt unternehmen, die Grundlinien seiner Argumentation in der gebotenen Kürze darzulegen. Zunächst ist die Teleologie der lebendigen Objekte für Kant insofern als objektiv zu beschreiben, als dass sie als Analogie zur Kausalität in den nicht mit Lebendigem befassten Naturwissenschaften benutzt wird, um die Gegenstände „unter Prinzipien der Beobachtung und Anschauung zu bringen, ohne sich 79 anzumaßen, sie danach zu erklären.“ Teleologische Organisation in den Erkenntnisobjekten vorauszusetzen, wird so zum Ausgangspunkt dafür, mit den Mitteln der reflektierenden Urteilskraft Lebendiges durch Beobachtung und Anschauung 80 zu erkennen und ist insofern als objektiv zu verstehen. Sie ist zudem real oder material und geht über die intellektuell-formale Zweckmäßigkeiten etwa der Geometrie hinaus, weil sie in existierenden Gegenständen der Erfahrung angetroffen wird und nicht nur in einer allein im erkennenden Subjekt liegenden Vorstellung 77 78 79 80

Ebd., B XXXVII. Ebd., B XX. Ebd., B 269. Vgl. Ebd., B 270.

Biographische Notizen

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der Zweckmäßigkeit. Zuletzt können organische Prozesse dann als zweckmäßig verstanden werden, wenn ihre Zweckmäßigkeit als eine ihnen innere – im Gegensatz zu einer relativen – gedacht wird, die Ursachen und Wirkungen in sich selbst trägt, ohne die Nutzbarkeit für andere Geschöpfe zu berücksichtigen: „Ein Ding 82 existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst (…) Ursache und Wirkung ist.“ Selbstorganisation des Ganzen durch die Organisation der Teile sowie die Reproduktion aus sich selbst heraus sind Kennzeichen organisierter Wesen, die sie von Maschinen – Kant wählt als Inbegriff des Mechanischen das Beispiel der Uhr – unterscheiden: „Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine, denn die hat lediglich bewegende Kraft, sondern es besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (…), also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (…) nicht erklärt werden 83 kann.“

Nachdem Kant diese drei Merkmale der Zweckmäßigkeit erklärt hat, wendet er sich dem vermeintlichen Widerspruch zwischen kausal-mechanischen und teleologischen Naturerklärungen zu. Er versteht diesen Konflikt als eine in der Beschaffenheit der Urteilskraft liegende Antinomie, die auf zwei, in ihr zum Tragen kommenden, unterschiedlichen Maximen beruht: Auf der einen Seite kann die Urteilskraft, insofern sie es mit der Erkenntnis der Natur und ihren Zusammenhängen zu tun bekommt, auf die ihr durch den Verstand a priori vorgegebenen Gesetze zurückgreifen. In dieser Form ist sie bestimmende Urteilskraft. Hat sie es aber auf der anderen Seite mit Bereichen der Natur zu tun, die sich allein der Erfahrung erschließen, dann fehlt dieses objektive Prinzip, und sie ist darauf angewiesen, sich selbst reflektierend ein erkenntnisleitendes Prinzip zu geben, das dann notwendig subjektiv ist und letztlich auf die Idee der Natur als eines Sys84 tems, das auf einen Endzweck zuläuft, hinzuwirken. Kant steuert die Lösung dieser Antinomie durch den Hinweis auf den unterschiedlichen Ursprung der beiden Maximen an: 81 Vgl. Ebd., B 275. 82 Ebd., B 286. Kant führt diesen Gedanken an anderer Stelle weiter aus, wenn er schreibt: „In einem solchen Produkt der Natur wird ein jeder Teil, so wie er nur durch alle übrigen da ist, auch als um der anderen und des Ganzen willen existierend, d.i. als Werkzeug (…) gedacht: welches aber nicht genug ist (…), sondern als ein die anderen Teile (…) hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (…) liefernden Natur sein kann; und nur dann und darum wird ein solches Produkt als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen ein Naturzweck genannt werden können.“ Ebd., B 292f. 83 Ebd., B 292f. 84 Ebd., B 312ff. Kant formuliert das so „Die erste Maxime (…) ist der Satz: Alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen muss als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden. Die zweite Maxime ist der Gegensatz: Einige Produkte der materiellen Natur können nicht als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden (ihre Beurteilung erfordert ein ganz anderes Gesetze der Kausalität, nämlich das der Endursachen.“ Ebd., B 314.

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„Aller Anschein einer Antinomie zwischen den Maximen der eigentlich physischen (…) und der teleologischen (…) Erklärungsart beruht also darauf: dass man einen Grundsatz der reflektierenden Urteilskraft mit dem der bestimmenden, und die Autonomie der ersteren (die bloß subjektiv für unseren Vernunftgebrauch in Ansehung der besonderen Erfahrungsgesetze gilt) mit der Heteronomie der anderen, welche sich nach den von dem Verstande gegebenen (allgemeinen oder besonderen) Gesetzen richten muss, verwechselt.“85

Während also die erste Maxime darauf abzielt, aufgrund von Verstandesbegriffen ein gegebenes Objekt durch die Unterordnung seiner ihm spezifischen Erscheinungen unter allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu konstituieren und damit etwas Überprüfbares über dieses Objekt auszusagen, ist die zweite Aussage im Reich des bloß Denkbaren angesiedelt, die eine mögliche Aussage aufgrund der offengeleg86 ten erkenntnistheoretischen Prinzipien versucht, widerspruchsfrei darzulegen. Damit bildet die Teleologie in der Natur lediglich ein regulatives Prinzip, dessen Bedeutung darin liegt, dass es für die menschliche Urteilskraft in Anwendung auf die Natur zwar einerseits notwendig zum Tragen kommt und damit den Status eines quasi objektiven Prinzips erhält, ohne dabei andererseits aber auf der Ebene 87 der die Objekte konstituierenden Begriffe Einfluss nehmen zu können. Vielmehr stellt es in seinem zu dem mechanischen Verstehen der Natur Hinzu-Gedacht-Sein ein heuristisches Prinzip dar, das es erst ermöglicht, nach dem Grund der Möglichkeit derselben zu fragen. Es berechtigt die reflektierende Urteilskraft, aufgrund der gesetzgebenden Rolle des menschlichen Verstandes im Bezug auf die Kausalität im Analogieschluss auf einen, das System der Zwecke verursachenden außer88 halb desselben liegenden Verstand zu verweisen. Besonders der erste Teil dieses Arguments ist für Goldsteins Kant-Rezeption von herausragender Bedeutung. Der sich für Kant an der zweiten Hälfte entspinnenden religionsphilosophischen Frage ist er nicht gesondert nachgegangen. An dieser Stelle könnte aber ein Ansatzpunkt für die Offenheit seines Denkens für religiöse Anfragen zu finden sein, die Tillich bei Goldstein gesehen hat. Es wird später darauf zurückzukommen sein. Gemäß dieser letzten Konsequenz ordnet Kant im Rahmen der Methodenlehre die Teleologie weder den Naturwissenschaften noch der Theologie zu. Sie ist das Ergebnis einer Interpretation der Art des Zugriffs der Vernunft auf die Gegens85 Ebd., B 318f. 86 Vgl. Ebd., B 335, wo es heißt: „Im ersteren Fall will ich etwas über das Objekt ausmachen und bin verbunden, die objektive Realität eines angenommenen Begriffs darzutun; im zweiten bestimmt die Vernunft nur den Gebrauch meiner Erkenntnisvermögen angemessen ihrer Eigentümlichkeit und den wesentlichen Bedingungen ihres Umfangs sowohl als ihrer Schranken.“ 87 Vgl., Ebd., B 344. 88 Vgl., Ebd., B 355. Der Erweis der Zweckmäßigkeit erfüllt lediglich die Kriterien eines Beweises κατ´ ανθρωπον, da er durch die Anwendung der reflektierenden Urteilskraft erhoben wird und damit nach den Vernunftprinzipien fragt, die für die Existenz eines Gegenstandes bzw. einer mit Bezug auf den Menschen notwendig erfüllt sein müssen. Ein Beweis κατ´ αληθειαν hätte dagegen nach den notwendigen Bedingungen der Existenz eines Gegenstandes an sich zu fragen. Vgl. zu dieser Unterscheidung Ebd., B 446.

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tände der Natur und gehört somit zur „Kritik des Erkenntnisvermögens [und; 89 K.B.] (…) also zu gar keiner Doktrin.“ Dass nun aber teleologisches Denken mit mechanischem zusammen zu denken möglich ist, dafür führt Kant zunächst die Notwendigkeit an, da die rein mechanische Naturbetrachtung zwar grundsätzlich 90 legitim, dem menschlichen Verstand aber offenbar nicht ausreichend ist. Dafür führt er zwei Gründe an: zum einen weist der Umstand, dass jeder, der sich mit Naturbetrachtung beschäftigt, es mit der oben charakterisierten Art der Zweckmäßigkeit, die ein natürliches Wesen als abgeschlossene, sich selbst organisierende Einheit vor sich hat, erkennt, hin auf die Vorstellung einer Natur als System von Zwecken. Zum anderen erhebt sich die Frage nach einem möglichen Endzweck der Natur, den Kant in der sich im Menschen verwirklichenden Freiheit zu finden 91 glaubt. Darin sieht er die Möglichkeit beide Prinzipien – das der Idee und das der Natur – zusammendenken. Sie liege in dem „übersinnlichen Substrat der Natur, wovon wir nichts bejahend bestimmen können, als dass es das Wesen an sich sei, von welchem wir bloß die Erscheinung kennen. Aber das Prinzip: Alles, was wir als zu dieser Natur (phaenomenon) gehörig und als Produkt derselben annehmen, auch nach mechanischen Gesetzen mit ihr verknüpft denken müssen, bleibt nichtsdestoweniger in seiner Kraft, weil ohne diese Art von Kausalität organisierte Wesen, als Zwecke der Natur, doch keine Naturprodukte sein würden.“92

Damit sind die beiden wesentlichen Punkte – den Status der Freiheit des Menschen, sowie die Denkbarkeit der teleologischen Strukturen in der Natur – der Argumentation Kants in ihren Grundzügen und die Art ihrer Zuordnung zueinander vorgestellt. Genau diese Struktur, die den Modus der Verbindung zwischen den drei in der aus erkenntnistheoretischer Sicht möglichen Elementen der Natur – die Freiheit, die Teleologie und der Mechanismus – entwirft, wird sich auch für Goldsteins Denken als herausragender Ansatz erweisen. In Verbindung mit den methodischen Anregungen Goethes, auf die im Folgenden einzugehen ist, sind diese Theoreme Kants entscheidend für Goldsteins Neuformulierung seiner Theorie des Organischen, die er durch die Vermittlung Cassirers in den Kontext der die Moderne bestimmende philosophische Debatte einstellen kann. (2) Neben Kant ist für die Methodenkritik Goldsteins und seiner Entwicklung eines eigenen methodischen Ansatzes die Beschäftigung mit Johann Wolfgang von 89 Ebd., B 366. 90 Ebd., B 366f., wo es heißt: „Die Befugnis, auf eine bloß mechanische Erklärungsart aller Naturprodukte auszugehen, ist an sich ganz unbeschränkt; aber das Vermögen, damit allein auszulangen, ist nach der Beschaffenheit unseres Verstandes, sofern er es mit Dingen als Naturzwecken zu tun hat, nicht allein sehr beschränkt, sondern auch deutlich begrenzt; nämlich so, dass nach einem Prinzip der Urteilskraft durch das erstere Verfahren allein zur Erklärung der letzteren gar nichts ausgerichtet werden könne, mithin die Beurteilung solcher Produkte jederzeit von uns zugleich einem teleologischen Prinzip untergeordnet werden müsse.“ 91 Vgl. B 396ff. 92 Ebd., B 374f.; B 387.

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Goethe von entscheidender Bedeutung gewesen. Goldstein ist damit Teil einer Rezeptionsgeschichte, die unter Naturwissenschaftlern seiner Generation weit 93 verbreitet war. Bei Goethe ist in diesem Zusammenhang zweierlei zu unterschei94 den: Zunächst ist auf einige der Grundlinien seiner Naturauffassung einzugehen, die für die Rezeption durch Goldstein entscheidend sind. Zum anderen müssen einige der allgemeinen methodischen Ansätze Goethes vorgestellt werden, deren Spuren sich bei Goldstein in Form seiner ins Auge fallenden Skepsis gegenüber naturwissenschaftlicher Methodik im Allgemeinen und lokalisationstheoretischen Ansätzen in der Hirnforschung im Besonderen, auf die später detailliert einzugehen ist, wiederfinden. Diese beiden Punkte sind – wie gleich deutlich werden wird – bei Goethe immer eng miteinander verknüpft, weil die Frage nach dem Wesen der Natur nicht von der Frage nach dem Weg, Wissen über dieses Wesen zu erwerben, zu trennen ist. Goethes Naturauffassung entsteht im Wesentlichen in der Auseinandersetzung mit den am physikalisch-mathematischen Ideal Newtons orientierten, modernen Naturwissenschaften und in enger Verknüpfung mit seinen eigenen ästhetischen 95 Konzeptionen, die in seinem literarischen Werk zum Tragen kommen. Für Goethe ist Natur letztlich nicht in quantitativ bestimmbare Relationen zu zerlegen und in die ihr fremde Sprache der Mathematik zu übersetzen. Zwar gibt es Bereiche – etwa die Physik – in denen dies im begrenzten Maße möglich ist, doch vor allem 93 Beispiele dazu finden sich im weiteren Verlauf der Darstellung. 94 Von einer einheitlichen Naturauffassung bzw. -philosophie Goethes kann sicherlich nicht die Rede sein. Seine umfangreichen Äußerungen zum Thema hat er aus der Überzeugung heraus, dass es sich bei der Natur um etwas handelt, das sich grundsätzlich einer abschließenden Definition und Systematisierung entzieht, nie in die geordnete Form eines Schemas bringen wollen. Zudem umfasst Goethes Beschäftigung mit der Natur sowohl einen langen Zeitraum, in dem sich Schwerpunktsetzungen und Parameter immer wieder verschieben, als auch eine sehr vielfältige Zahl von Gegenständen, so dass es nötig ist, sich an dieser Stelle auf die wesentlich erscheinenden Elemente zu beschränken. Zu Goethes Naturauffassung Vgl. Alfred Schmidt/Klaus-Jürgen Grün (Hg.) Durchgeistete Natur. Ihre Präsenz in Goethes Dichtung, Wissenschaft und Philosophie, Frankfurt/Main 2000; Horst Albert Glaser (Hg.), Goethe und die Natur. Referate des Triestiner Kongresses, Frankfurt/Main 1986. Albert Jungmann, Goethes Naturphilosophie zwischen Spinoza und Nietzsche. Studien zur Entwicklung von Goethes Naturphilosophie bis zur Aufnahme von Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, Frankfurt/Main 1989. Alfred Schmidt, Goethes herrlich leuchtende Natur. Philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung, München u.a. 1984. 95 Dass das Werk Goethes nicht – wie es in der Forschung lange getan wurde – in einen naturwissenschaftlichen und einen literarischen Teil zu zerlegen sei, wobei das naturwissenschaftliche Werk als dilettantische Nebentätigkeit des Dichters bei der Würdigung seines Werks weitestgehend auszuklammern sei, kann man inzwischen als einen Konsens der Forschung bezeichnen. Das Naturdenken Goethes wurde im 20. Jh. laut A. Schmidt vielmehr als „Schlüssel (…) zum Verständnis seiner intellektuellen Biographie wie seines literarischen Werkes“ verstanden. Vgl. Art: Natur, in: Goethe Handbuch, Bd. 4/2, Stuttgart u.a. 1998, S.757; Manfred Wenzel, Art: Naturwissenschaften, in: Goethe Handbuch, Bd. 4/2, Stuttgart u.a. 1998, S. 781–797. Bereits 1932 hat Ernst Cassirer diesen Umstand in seinem Aufsatz ‚Der Naturforscher Goethe‘ eingehend beschrieben. In: Aufsätze und kleine Schriften (1932–1935), in: ECW 18, Hamburg 2004, S. 437– 441.

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im Bereich der Biologie hat sich der Naturforscher dessen bewusst zu sein, dass er das der Natur Wesentliche damit nicht erfassen kann. Goethe wirft den an einem mathematischen Paradigma orientierten Wissenschaftlern vor, den Versuch zu unternehmen, in „der messbaren und zählbaren Welt die unmessbare mitzube96 greifen. Nun erscheint ihm alles greifbar, fasslich und mechanisch.“ In diesem materialistischen Ansatz, den er etwa in d’Holbachs ‚Système de la nature‘ in seiner Reinform vorliegen sieht, erkennt Goethe die Gefahr des Atheismus, der „das Unmessbarste, welches wir Gott nennen, (…) mitzuerfassen glaubt und daher des97 sen (…) vorzügliches Dasein aufzugeben scheint.“ Seinem Erkenntnismodell der Natur, das mit dem Dreischritt aus naiver Anschauung und Betrachtung sowie dem intuitiven Nachdenken der Natur zu umschreiben ist, entspricht eine Vorstellung der Natur als einer mit dem betrachtenden Subjekt letztlich verbundenen AllEinheit, die vor allem über die empirische – nicht die spekulative – Wahrnehmung ihrer Qualitäten angemessen bestimmbar ist. Die Welt der mechanischen Objekte, die Newtons Erkenntnismodell zugrunde liegt, wird bei Goethe zum lebendigen Allsubjekt, das durch die Erkenntnisbestrebungen des Menschen in den Prozess einer Selbsterkenntnis übergeht. Eine rein nach mechanischen Gesetzen passiv ausgedehnte Materie wäre für Goethe nie in der Lage, die sich ihm darstellende Welt hervorzubringen. Spinozas ‚deus sive natura‘, das sowohl die Vergöttlichung der Natur als auch die Naturalisierung Gottes in ihren unterschiedlichen Ausprägungen bedeuten kann, wird von Goethe in immer neuen Varianten – auch in seinem literarischen Werk – durchgespielt. Dabei betont er aber – gegen Spinoza, dem in Goethes Augen ein angemessener Begriff des Werdens fehlt – stets die dynamische Eigenart der Natur als eines Gesamtprozesses, der die schärfsten Widersprüche in sich vereint und allein um seiner selbst Willen existiert. Diesem Prozess sieht Goethe den Mensch ohne Aussicht auf Schonung durch eine irgendwie geartete Sonderstellung schutzlos ausgeliefert: „Was wir von Natur sehen, ist Kraft, die Kraft verschlingt, nichts gegenwärtig, alles vorübergehend, tausend Keime zertretend, jeden Augenblick tausend geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und hässlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte neben einander existierend.“98

In der Zeit nach dem Beginn seiner systematischen Naturstudien um 1780 entwickelt Goethe seinen intuitiven Zugang zur Natur zu einem empirischen Realismus weiter, indem er sich auf die ihn unmittelbar umgebenden, sichtbaren, irdischen Dinge fokussiert, deren genauer Beobachtung und Beschreibung er sich in immer neuen Anläufen widmet. Dabei bleibt Goethe auf der Ebene der Explikation, während er „die Frage nach den verursachenden Kräften und der materiellen Konsti96 Johann Wolfgang. von Goethe, Maximen und Reflexionen, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens Münchner Ausgabe Bd. 17, München u.a. 1991, 1286. 97 Ebd. 98 J. W. v. Goethe, WA I, 37, S. 210.

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tution der Körper nicht in das Gefüge der erklärenden Sätze“ einbezieht, wie es die Theorie Newtons versucht. Einen wesentlichen Schwerpunkt bildete dabei die Suche nach den Urphänomenen bzw. den Gestalten, die aus seiner typologischmorphologischen Arbeit resultierte, in denen er die der Natur zugrundeliegenden wenigen Grundformen sah, aus denen sämtliche differenzierte Erscheinungen der 100 Natur zusammengesetzt seien. Die Verbindung der beiden bis hierhin vorgestellten Aspekte – das pantheistische Element und die Entwicklung des empirischen Rationalismus – führte Goethe in der Folge dazu, in der Natur immer beides zu sehen: „erscheinendes Wesen 101 [und; K.B] wesentliche Erscheinung.“ Damit unterscheidet er zwar Geist und Materie als zwei grundverschiedene Sphären, die aber durch ihre Eigenschaften untrennbar und als wesentlich aufeinander bezogen zu verstehen sind: „Die Erfüllung aber, (…), ist die Anschauung der zwei großen Triebräder aller Natur: der Begriff von Polarität und Steigerung, jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig; jene ist im immerwährenden Anziehen und Abstoßen, diese im immerstrebenden Aufsteigen. Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sichs der Geist nicht nehmen lässt, anzuziehen und abzustoßen.“102

Mit dieser grundsätzlichen Bemerkungen zur Naturauffassung Goethes sind die wesentlichen Elemente von Goethes wissenschaftstheoretischen Ansatz bereits gegeben: Wichtigstes methodisches Mittel der Erkenntnis ist für Goethe die unmittelbare Anschauung. Zeit seines Lebens lehnte er den Einsatz technischer Apparate für seine Arbeiten weitgehend ab. Die Verwirrung, die durch diese angerichtet 103 würde, überstiege ihren Nutzen bei Weitem. Ein besonderes Augenmerk legte Goethe auf Überlegungen zur Funktion und Leistungsfähigkeit von Versuchen. Dabei distanzierte er sich von der s.E. voreiligen Prämisse Newton’scher Prägung, die mit Einzelversuchen zu viel meinte, beweisen zu können. Für Goethe hatte der Aufbau von Versuchen dagegen das Ziel zu verfolgen, der komplexen Struktur der Natur zu entsprechen. Seinen Wert zeigt ein Versuch letztlich nur, wenn er in Verbindung mit anderen Versuchsaufbauten den ständigen Perspektivenwechsel auf ein Phänomen zu vollziehen in der Lage ist und dadurch die in der lebendigen 99 Walter G. Salzer, Goethe – Naturwissenschaft, Kunst und Welterleben komplementär, in: Alfred Schmidt/Hans-Jürgen Grün, Durchgeistete Natur. Ihre Präsenz in Goethes Dichtung, Wissenschaft und Philosophie, Frankfurt/Main 2000, S. 263. 100 Seiner Grundmaxime der vergleichenden Naturlehre, die u.a. auf George-Louis Leclerc de Buffon zurückgeht, zufolge liegt der Gestalt aller Lebewesen (insbesondere widmete sich Goethe bekanntlich den Pflanzen, bei denen er das Blatt als den Urbestandteil aller Pflanzenteile verstand) ein ihnen allen gemeinsamer Bauplan zugrunde, der sich ihren spezifischen Bedürfnissen gemäß, verschieden ausdifferenziert hat. Vgl. J. W. v. Goethe, WA II/7, S. 184. 101 Alfred Schmidt, Art: Natur, in: in: Goethe Handbuch, Bd. 4/2, Stuttgart u.a. 1998, S. 770. 102 J. W. v. Goethe, Brief an Kanzler v. Müller 1828, in: HA 13, S. 48. 103 Vgl. J. W. v. Goethe, LA I/11, S. 348.

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Natur vorliegenden Verbindungen sichtbar zu machen. In diesen Versuchsreihen geht es darum, die bleibenden, reproduzierbaren Aspekte von akzidentiellen Anteilen einer Erscheinung zu sondern: „Die Phänomene, die wir anderen auch wohl Facta nennen, sind gewiss und bestimmt ihrer Natur nach, hingegen oft unbestimmt und schwankend, insofern sie erscheinen. Der Naturforscher sucht das Bestimmte der Erscheinungen zu fassen und festzuhalten, er ist in einzelnen Fällen aufmerksam nicht allein, wie die Phänomene erscheinen, sondern auch, wie sie erscheinen sollten. Es gibt (…) viele empirische Brüche, die man wegwerfen muss um ein reines konstantes Phänomen zu erhalten; allein sobald ich mir das erlaube, so stelle ich schon eine Art Ideal auf.“104

Von einem Naturgesetz meint Goethe dann sprechen zu können, wenn „ich die Konstanz und Konsequenz der Phänomene bis auf einen gewissen Grad, erfahren habe, so ziehe ich daraus ein empirisches Gesetz und schreibe es den künftigen 105 Erscheinungen vor.“ Für Goethe stellt sich naturwissenschaftliche Methodik damit als Vorgehen in einem Dreischritt dar: „Was wir also von unserer Arbeit vorzuweisen hätten, wäre: 1. Das empirische Phänomen, das jeder Mensch in der Natur gewahr wird, und das nachher 2. zum wissenschaftlichen Phänomen durch Versuche erhoben wird, indem man es unter anderen Umständen und Bedingungen, als es zuerst bekannt gewesen, und in einer mehr oder weniger glücklichen Folge darstellt. 3. Das reine Phänomen steht nun zuletzt als Resultat aller Erfahrung und Versuche da. Es kann niemals isoliert sein, sondern es zeigt sich in einer stetigen Folge der Erscheinungen. Um es darzustellen bestimmt der menschliche Geist das empirisch 106 Wankende, entwickelt das Verworrene, ja entdeckt das Unbekannte.“

Diese reinen bzw. Urphänomene bilden die Grenze der Erkenntnis, sie gehören zwar der realen Welt an, deuten aber über sie hinaus in einen Bereich, in dem lediglich Verehrung der Erhabenheit und nicht mehr Erkenntnis mit Hilfe der Vernunft möglich ist. Zu dem Sehen mit dem Auge tritt das Sehen mit dem Geist 107 hinzu. Wesentliches Element ist dabei die enge Verbindung, die diese Art, Wissenschaft zu treiben, für das Verhältnis von erkannten Objekten und erkennendem Subjekt annimmt: die Distanz wird weitestgehend aufgehoben, so dass Goethe letztlich davon sprechen kann, dass sich der menschliche Geist in der Wissenschaft 108 mit den Allgemeinheiten amalgamiert. In diesem Umstand sieht die Forschung häufig die Möglichkeit der engen Verknüpfung von wissenschaftlichen und litera104 J. W. v. Goethe, HA 13, S. 23f. 105 Ebd., S. 24. 106 Ebd., S. 25. 107 Vgl. Manfred Wenzel, Art: Naturwissenschaft, in: Goethe Handbuch, Bd. 4/2, Stuttgart u.a. 1998, S. 794. 108 Vgl. J. W. v. Goethe, HA 13, S. 24.

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rischen Arbeiten im Werk Goethes. Dieser Versuch der Überwindung der Distanz von Erkennendem und Erkannten durch die Aufgabe des in Goethes Augen reduktiven Suchens nach Ursachen zugunsten eines empathischen Beschreibens der Bedingungen unter denen bestimmte Phänomene dem Betrachter erscheinen und sich mit ihm vereinen, hat sich für Goldstein und einige seiner Kollegen in 110 Frankfurt als immens wichtiger methodischer Leitfaden erwiesen. In Frankfurt hatte Ludwig Edinger, Goldsteins langjähriger Vorgesetzter und Freund, seiner Goethe-Verehrung Ausdruck verliehen, indem er im Institut einen Vers Goethes 111 aufhängen ließ , der auch in Goldsteins Werk immer wieder als Motto herangezogen wird: „Willst Du ins Unendliche schreiten, /Geh’ nur im Endlichen nach allen Sei112 ten.“ Besonders der eben bereits erwähnte Ansatz Goethes, der sich einem schnellen Schluss auf die Ursache eines Phänomens verweigerte, sondern stattdessen zunächst den vielfach im Versuch vollzogenen Perspektivenwechsel für eine angemessene Wahrnehmung desselben forderte, ist für die methodische Programmatik Goldsteins entscheidend geworden. Er hat diese Forderung vor allem im diagnostischen Bereich für die ausdifferenzierte Kategorisierung von Symptomen und Kompensationserscheinungen bei Hirnverletzungen benutzt. Bei diesen speziellen, zunächst die Hirnpathologie betreffenden Befunden ist er aber nicht stehen geblieben, sondern hat den Schritt zu allgemeinen, hirnphysiologischen Wesensbestimmungen unternommen, die er dann auf das Organische im Allgemeinen anzuwenden versucht hat. Mit seinem Ausgangspunkt beim menschlichen Gehirn hat sich Goldstein s.E. am Dreh- und Angelpunkt des Übergangs von Geist und Materie bewegt, so dass er sich berufen fühlte, aus den in seinem Bereich sich ergebenden Befunden allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen, auf die später noch einmal vertiefend eingegangen werden soll. Goethes Schauen mit Auge und Geist wird bei Goldstein mit Blick auf das menschliche Gehirn zu einem Prozess von sich dialektisch fortbewegender Erfahrung, in dem sich das Wesen des Orga113 nischen, das in seinen Teilen über sich selbst hinausweist, erschließen kann. Als Kliniker, dem der direkte Umgang mit Patienten der wichtigste Bestandteil seiner Arbeit war, blieb Goethes naturwissenschaftlicher Ansatz in vielerlei Hinsicht 109 Vgl. dazu besonders die bereits genannten Arbeiten von Alfred Schmidt, Manfred Wenzel und Albert Jungmann. 110 Der Schwerpunkt liegt dabei sicherlich auf Goethes methodischen Überlegungen, die materialen Ergebnisse seiner Arbeit spielten eine eher untergeordnete Rolle, wie wir später sehen werden. 111 Vgl. Gerald Kreft, Ornament und Programm: Zur Ästhetik der Goethe-Zitation bei jüdischen Neurowissenschaftlern in Frankfurt am Main, in: Alfred Schmidt/Hans-Jürgen Grün, Durchgeistete Natur. Ihre Präsenz in Goethes Dichtung, Wissenschaft und Philosophie, Frankfurt/Main 2000, S. 144. 112 J. W. v. Goethe, HA I, S. 304. 113 Vgl. K. Goldstein, AO, S. 241.

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praxisleitend für Goldstein. Dabei geht es ihm aber – im Gegensatz zu Goethe – um die Materialisierung dieses Transzendenten: In den Reaktionen und Aktionen, die ein Organismus im Austausch mit seiner Umwelt zeigt, offenbaren sich Anteile des Individuellen, Einzigartigen eines Organismus, dem sich die Wissenschaft nur in immer neuen komplexen Versuchsaufbauten und letztlich nur in symbolischen 114 Formen, denen sie sich bewusst zu werden hat, annähern kann. Diese Art des Erkenntnisgewinns zielt nicht primär auf die exakte Ausforschung möglichst vieler einen Organismus konstituierender Faktoren, sondern besteht für Goldstein in einem dem Organismus adäquaten Handeln, was den Übergang auch zu den ethischen Überlegungen markiert, die sein ärztliches Handeln geprägt haben und die 115 er immer wieder auch bei seinen Kollegen eingefordert hat. Dieser methodischontologischer Komplex wird uns bei der Analyse der beiden Hauptwerke Gold116 steins noch einmal genauer in seinen einzelnen Bestandteilen beschäftigen. Das Stichwort des Symbols, das eben in seiner Bedeutung für Goldsteins Ansatz kurz eingeführt wurde, lenkt den Blick mit Ernst Cassirer auf den dritten Denker, dessen Konzeption für Goldsteins Arbeit – wie oben schon angedeutet – von philosophischem Interesse ist. Auf ihn ist nun kurz näher einzugehen. (3) Ernst Cassirer ist durch seine Zugehörigkeit zur jüdischen Kultusgemeinde im Deutschland des beginnenden 20. Jh. – wie Kurt Goldstein und dessen Lehrer 117 und Freund Ludwig Edinger auch – zu den „Deutschen von Goethes Gnaden“ zu rechnen. Diese Gnade währte für Cassirer und Goldstein nur bis 1933, ihre Beschäftigung mit Goethe hielt darüber hinaus an. Für Cassirer bildete Goethes Werk einen Fixpunkt seines Arbeitens, auf den er immer wieder in unterschiedli118 chen Kontexten zurückgekommen ist. Seine Anfänge im Marburger Neukantianismus bei seinen Lehrern Hermann Cohen und Paul Natorp hat er dagegen recht

114 Ebd., S. 251. 115 Vgl. Ebd., S. 349. 116 Vgl. Siegmund Heinrich Fuchs, Zum Stand der heutigen Biologie. Dargestellt an Kurt Goldstein: „Der Aufbau des Organismus“, in: Imago. Zeitschrift für Psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen, Bd. 22 (1936) Wien, S. 210–241. Zu Goldsteins besonderer Beziehung zu Goethes Naturwissenschaft schreibt er hier (S. 213): „Man könnte Goethes gesamte naturwissenschaftliche Schriften zitieren. Viele Sätze davon könnte Goldstein geschrieben haben, fast alle würde er, so glaube ich, unterschreiben. So sehr ist die (…) vertretene Naturauffassung mit der Goethes verwandt.“ 117 Wolfgang Benz, Von der Emanzipation zur Emigration, in: Wolfgang Benz/Marion Neiss (Hg.), Deutsch-jüdisches Exil: das Ende der Assimilation? Identitätsprobleme deutscher Juden in der Emigration, Berlin 1994, S. 8. 118 Die Bedeutung Goethes für Cassirer darf nicht unterschätzt werden, denn Cassirer hielt im Laufe seiner universitären Laufbahn eine Reihe von Vorlesungen über Goethe und veröffentlichte zahlreiche kleinere Aufsätze über dessen naturwissenschaftlichen und literarischen Werke. In seinen großen Monographien finden sich immer wieder große, systematisch bedeutsame Abschnitte, die sich mit der Arbeit Goethes auseinandersetzen. Die große Weimarer Goethe Ausgabe, die ihm und seiner Frau Toni Bondy von Verwandten zur Hochzeit geschenkt worden war, bildete den Kern seiner Privatbibliothek und war offenbar sein ganzer Stolz. Vgl. T. Meyer, Cassirer, S. 44.

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bald hinter sich gelassen. Mit diesen Ausgangspunkten u.a. bei Goethe und Kant führte ihn sein intellektueller Weg von erkenntnistheoretischen Arbeiten, die sich zunächst in besonderem Maße der inneren Dynamik der naturwissenschaftlichen Erkenntnisbildung widmeten, zur Weiterentwicklung dieses Ansatzes zu seiner Philosophie der symbolischen Formen, die seinem Denken seine spezifisch kulturphilosophische Prägung gab und sowohl seinen anthropologischen als auch sozial120 philosophischen Arbeiten der späteren Zeit zugrunde lag. Die Kontakte mit den Arbeiten Goldsteins sind für die Ausarbeitung von Cassirers Ansatz in vielerlei Hinsicht und unterschiedlicher Richtung bedeutsam. Beide scheinen sich zunächst über Fragen der Eigenschaften wissenschaftlicher Begriffe und die Wege ihrer Gewinnung ausgetauscht zu haben, denn in dieser Hinsicht lassen sich einige Ähnlichkeiten und Berührungspunkte finden. Cassirers Ansatz, mit naturwissenschaftlicher Methodik erhobene Daten nicht länger als Substanzbegriffe im aristotelischen Sinne zu verstehen, sondern in ihre Bedeutung als Funktionsbegriffe zu überführen, hat Goldsteins Arbeiten und die Interpretation seiner Ergebnisse stark geprägt. In diesem Punkt einer antiaristotelischen Grundorientierung konnten sich beide an Grundgedanken Kants anschließen. Zum anderen stützte sich Cassirer für seine Philosophie der Sprache, mit der er den Übergang zu kulturphilosophischen und anthropologischen Fragestellungen vollzog, neben seinen spezifisch neuen Bezugspunkten in Ethnologie, Literaturwissenschaft und Linguistik 121 auf Forschungsergebnisse Goldsteins. Wie Goldstein nutzt auch er dessen Ausgangspunkt bei der Pathologie, um grundlegende anthropologische Überlegungen daran anzuschließen – etwa im dritten Teil der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ in dem Teilabschnitt ‚Zur Pathologie des Symbolbewusstseins‘, in dem 122 Goldsteins Ergebnisse zur Aphasieforschung umfangreich vorgestellt werden. Im Folgenden möchte ich näher auf diese beiden Aspekte eingehen, um sie dann spä119 Cassirers intellektuelle Wurzeln sind neben Kant und Goethe vor allem bei Leibniz, Humboldt, Hölderlin, Husserl, Hertz, Helmholtz und Einstein zu finden. Vgl. Hans Jörg Sandkühler/Detlev Pätzold (Hg.), Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart 2003, S. 11. 120 Vgl. Heinz Paetzold, Ernst Cassirer zur Einführung, Hamburg² 2002, S. 13f. 121 So schrieb Cassirer an Goldstein im Frühjahr 1925: „Der Normale verhält sich – was meiner Ansicht nach viel zu wenig beachtet zu werden pflegt – nicht nur in seinem Denken, sondern in seinem Verhalten und Wahrnehmen, ja auch in seinem Handeln, in hohem Grade ‚symbolisch‘. Für ihn tritt das ‚Dasein‘ der einzelnen sinnlichen Gegebenheiten ganz hinter dem, was sie ihm ‚bedeuten‘ zurück. Daher vollzieht er auch fort und fort den Schritt ins ‚Ideelle‘ – er formt die gegebene ‚Wirklichkeit‘ der Sinnenreize ins bloß ‚Mögliche‘ um. Auf dieser Umsetzung ins Mögliche beruht nicht nur der größte Teil seines Denkens (…), sondern auch – und das zeigen Eure Fälle so ganz besonders schön – der größte Teil seines Wahrnehmens (…). [Der Normale; K.B.] behandelt das Präsente repräsentativ, das Repräsentative als präsent. Beim ‚Seelenblinden‘ aber ist, wenn ich recht sehe, eben diese Umsetzung gestört (…). So kann er nur auf die präsenten Reize hin handeln – aber eben Bewegungen, die ihm vorgemacht werden, stückweise nachmachen, ein Glied bewegen, wenn er dauernd darauf hinsieht.“ Zitiert nach A. Harrington, Ganzheit, S. 274. 122 Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, III. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ECW 13, Hamburg 2002, S. 234–323; Kurztitel: E. Cassirer, PsF III, in: ECW 13.

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ter auf ihre Bedeutung für Goldsteins Ausarbeitungen zum Thema zu untersu123 chen. 1910 erschien mit dem Buch ‚Substanzbegriff und Funktionsbegriff‘ Cassirers erster, über den Theorierahmen des Neukantianismus hinausgehender, eigenständiger Entwurf im Bereich der Erkenntnistheorie. Seine Lehrer Hermann Cohen und Paul Natorp waren entrüstet und vor allem Cohen drängte auf Umarbeitungen, die Cassirer aber nicht vorzunehmen bereit war, so dass die Forschung mit ‚Substanzbegriff und Funktionsbegriff‘ die Lösung Cassirers vom Marburger 124 Neukantianismus als bereits in weiten Teilen vollzogen ansieht. Paul Natorp jedenfalls gab als Reaktion auf das Erscheinen des Buchs mit nicht zu überhörendem kritischen Unterton zu verstehen, dass er den Berufungsbemühungen Cassirers – zumindest wegen seiner intellektuellen Herkunft aus dem Neukantianismus – nun nichts mehr im Wege stehen sah, „denn die Schulangehörigkeit kann ihm jetzt nicht mehr schaden, so glücklich hat er in seinem letzten Buch es verstanden 125 sie im Hintergrund zu halten.“ Ausgangspunkt für seinen Neuansatz bildet Cassirers Auseinandersetzung mit der aristotelischen Metaphysik und Logik. Deren Kernpunkt – der die adäquate Entsprechung zwischen Begriff und Gegenstand behauptende Begriffsrealismus – wird von Cassirer abgelehnt. Die metaphysische Bestimmung der Substanz habe letztlich auch die Ausarbeitung der Logik und Kategorienlehre negativ beein126 flusst. Die Ordnung des Seins werde lediglich im Modus der „Abstufungen der sachlichen Ähnlichkeiten, die sich durch die Einzeldinge hindurchziehen [begriffen; K.B.]. Die wesentlichen Funktionen, die das Denken hierbei betätigt, sind also lediglich die des Vergleichens und Unterscheidens gegebener sinnlicher Mannigfaltigkeiten.“127

Der Endpunkt, auf den diese Art der Erkenntnis zuläuft, bildet die durch abstrakte Reflexion erreichte, genau abgegrenzte Fassung der Begriffe, in denen Gattungen zusammengefasst und Arten voneinander differenziert werden, und die so vorgeben, eine mehr oder weniger exakte Widerspiegelung der Welt zu sein, aus der sie entnommen wurden. Dabei nimmt die spezifische Bestimmtheit der Begriff in dem Maße ab, in dem sie zu Allgemeinbegriffen werden. Die Spitze der ‚Begriffspyramide‘

123 Zur Bedeutung Cassirers für die Entwicklung von Goldsteins Denken vgl. auch G. Danzer (Hg.), Leben und Werk Kurt Goldsteins, S. 183ff. 124 Vgl. T. Meyer, Cassirer, S. 58. 125 Brief Paul Natorp an Albert Görland. Zitiert nach T. Meyer, Ebd. 126 Vgl. Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (19101), ECW Bd. 6, Hamburg 2000, S. 9; Kurztitel: E. Cassirer, SuF, in: ECW 6. 127 Ebd., S. 5f.

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„endet nach oben hin in der abstrakten Vorstellung des ‚Etwas‘, einer Vorstellung, die eben in ihrem allumfassenden Sein, kraft dessen jeglicher beliebige Denkinhalt unter sie fällt, zugleich von jeder spezifischen Bedeutung gänzlich entleert ist.“128

Diese letztendliche Bedeutungsleere der Begriffe in Verbindung mit dem Umstand, dass sich bei einer Fülle von Erscheinungen die Übereinstimmung mit dem Begriff lediglich durch die Negation einer Reihe ihrer Bestandteilen erreichen lässt, so dass von einer der Erkenntnis ursprünglich vorgegebenen Ganzheit nicht mehr die Rede sein kann, deutet für Cassirer auf die logische Inkonsistenz dieses Ansatzes hin. Sein Gegenentwurf basiert auf einem Konzept, das die wissenschaftlichen Begriffe als Funktionsbegriffe zu verstehen sucht. In der aristotelischen Metaphysik und Logik sei der Blick für die Relationen, in die Begriffe im Prozess der Wahrnehmung zueinander gebracht werden, durch die Konzentration auf die Substanzbegriffe gänzlich verloren gegangen. Diesem Mangel gilt es, entschieden abzuhelfen. Als Modell für dieses Unternehmen gilt ihm das Vorgehen der modernen Mathematik, die er als ein Denken versteht, das nicht von der Beschaffenheit der Gegenstände her strukturiert wird, sondern in der im Vorgang des Denkens selbst erst die Gegenstände konstituiert werden: „Die mathematischen Begriffe, die durch genetische Definition, durch die gedankliche Feststellung eines konstruktiven Zusammenhangs entsteht, scheiden sich von den empirischen, die lediglich die Nachbildung irgendwelcher tatsächlicher Züge der gegebenen Wirklichkeit der Dinge sein wollen. Wenn im letzteren Fall die Mannigfaltigkeit der Dinge an und für sich vorhanden ist und nur auf einen abgekürzten, sprachlichen oder begrifflichen Ausdruck zusammengezogen werden soll, so handelt es sich im ersteren umgekehrt darum, die Mannigfaltigkeit, die den Gegenstand der Betrachtung bildet, erst zu schaffen, indem aus einem einfachen Akt der Setzung durch fortschreitende Synthese eine systematische Verknüpfung von Denkgebilden hervorgebracht wird. Der bloßen ‚Abstraktion‘ tritt daher hier ein eigener Akt des Denkens, eine freie Produktion bestimmter Relationszusammenhänge gegenüber.“129

Die in diesem Vorgang sich ereignende Erkenntnis der Wirklichkeit ist identisch mit dem aktiven Vorgang der Wirklichkeitsgestaltung, den es bewusst zu vollzie130 hen gilt. Die sich im Prozess des Erkennens konstituierenden Gegenstände sind als Funktionen der Aktivitäten des menschlichen Verstandes zu verstehen und treten nicht von Außen als gegebene Objekte zur Erkenntnis hinzu, womit die Verbindung von Cassirers Antiaristotelismus mit dem Kants deutlich wird. Wird Erkenntnis so gedacht, ist auch der zweite Einwand, den Cassirer gegen das aristotelische Erkenntnismodell vorgebracht hatte, aufgehoben: Die an der mathemati128 Ebd., S. 7. 129 Ebd., S. 15. 130 Vgl. Hans Jörg Sandkühler, ‚Ex analogica hominis‘ – Theorie der Erkenntnis und des Wissens, in: Hans Jörg Sandkühler/Detlev Pätzold, Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart 2003, S. 77.

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schen Begriffsbildung orientierte Vorstellung von Erkenntnis muss das Besondere nicht aus dem Erkenntnisprozess ausscheiden, um sie übergeordneten Begriffs131 merkmalen unterordnen zu können. Das Kriterium der Wahrheit der so erreichten Wirklichkeitserkenntnis wird nicht mehr über eine möglichst genaue Entsprechung von Begriff und Objekt zu erfüllen gesucht, sondern liegt jetzt in der inneren Kohärenz, die in einer Reihe von Begriffen, die auf eine bestimmten Region der Wirklichkeit angewandt wird, vorliegt. Wirklichkeitserfassung geschieht für Cassirer durch die Bildung von Reihen von vernetzten, interpendenten Begriffen, an denen der menschliche Verstand sich der spezifischen Regel, unter die er 132 sie selbst gestellt hat, bewusst wird. Verstehen und Erkennen werden so aus ihrer passiven Konzeption des Aufnehmens und Vergleichens, zu aktiven, freien Tätigkeiten des Geistes transformiert. Von daher ist es nur logisch, dass der Fall eintreten kann, dass eine Aussage als einem Bereich kohärent zugehörig gedacht werden kann, während sie damit zu der Wirklichkeitserkenntnis eines anderen Bereichs im Widerspruch steht, ohne das dies zwangsläufig der Fall sein muss und ohne einem der wesentlichen Ziele von Wissenschaft – nämlich die Wahrheitserkenntnis – zu widersprechen. Dieses Phänomen umschreibt Cassirer als Mehrdimensionalität in der geistigen Welt, welche die Bedeutung eines Gegenstandes nur für einen spezifischen Bereich von funktionalen Reihenbegriffen – die er später in das Konzept seiner symbolischen Formen überführen wird – kontextuell bestimmen 133 kann. Diese freie Tätigkeit des Geistes in ihren Strukturen offen zu legen, die Prinzipien zu formulieren, nach denen der Geist in dieser Richtung arbeitet, ist der Grundansatz von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Unter einer symbolischen Form versteht er „jede Energie des Geistes (…), durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und die134 sem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“ Mit dem Hinweis auf Goethes Differenzierungen zwischen Nachahmung, Manier und Stil bezieht Cassirer die wissenschaftliche Erkenntnis als eine spezifisch ausgebildete, symbolischen Form mit in

131 Vgl. E. Cassirer, SuF, in : ECW 6, S. 25, wo es heißt: „Der echte Begriff lässt die Eigentümlichkeiten und Besonderheiten der Inhalte, die er unter sich fasst, nicht achtlos beiseite, sondern er sucht das Auftreten und den Zusammenhang ebendieser Besonderheiten als notwendig zu erweisen. Was er gibt, ist eine universelle Regel für die Verknüpfung des Besonderen selbst.“ 132 Vgl. Ebd., S. 22. 133 Vgl. Ebd., S. 327. Der Begriff der Mehrdimensionalität findet sich später bei Tillich an prominenter Stelle im Rahmen seiner Entfaltung des Lebensbegriffes wieder. Er verwendet ihn allerdings nicht wie Cassirer direkt als erkenntnistheoretische Kategorie, sondern wendet ihn ontologisch, wenn er von der vieldimensionalen Einheit des Lebens spricht. Allerdings geht es auch Tillich darum, ein theoretisches Konstrukt zu schaffen, dass die Erkenntnis des Differenten unter einem Prinzip zu ermöglichen. 134 Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), ECW 16, Hamburg 2003, S. 15.

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seine Überlegungen ein. In jeder Binnendifferenzierung einer Einzelwissenschaft in neue Teildisziplinen, mit jeder sich ergebenden neuen Komplexitätsstufe bildet die Wissenschaft – bzw. sie sollte es – ein Bewusstsein ihrer selbst als eines Relationsgeflechts von intellektuellen Symbolen im Austausch mit ihren Objekten aus. Zwar steht am Anfang – wie im Bereich des Ästhetischen – der Ausgangspunkt bei der Anschauung der Dingwelt, doch bewegt sich moderne Wissenschaft – als Paradebeispiel zieht Cassirer die Relativitätstheorie heran – jenseits des Versuchs, Natur lediglich abzubilden oder spezifische charakteristische Elemente herauszuheben. Sie ist somit gezwungen, sich selbst ein kohärentes Bild zu schaffen, auf deren Grundlage sie weiterzuarbeiten in der Lage ist: „Also auch hier tritt an Stelle des äußeren Abdrucks der Gegenstände ihr ‚inneres Scheinbild‘, ihr mathematisch-physikalisches Symbol – und die Forderung, die wir an die Symbole der Physik stellen, ist nicht, dass sie ein einzelnes sinnlich aufzeigbares Dasein abbilden, sondern dass sie untereinander in einer derartigen Verknüpfung stehen, dass wir kraft dieser Verknüpfung, kraft der denknotwendigen Folgen der Bilder, die Gesamtheit unserer Erfahrung systematisch ordnen und beherrschen können.“136

Es ist für Cassirer vor allem diese veränderte Verhältnisbestimmung von Geist und Dingwelt, die kennzeichnend für die moderne Wissenschaft ist. Darin – und nicht so sehr etwa in der die Kategorie der Kausalität – sieht er sie als von mythischen Welterklärungsversuchen differenziert, womit er sicherlich nicht nur die mythischen Modelle vergangener Zeiten, sondern auch die Arbeit all jener Wissenschaftler zu treffen hofft, die Wissenschaft weiter im Sinne eines aristotelischen 137 Begriffsrealismus glauben betreiben zu können. Für die detailliertere Formulierungen seines Modells der symbolischen Formen, dessen Kernpunkt die Überlegungen zur durch Sprache strukturierten Wahrnehmungs- und Anschauungswelt ist, greift Cassirer in großem Umfang auf 138 die Arbeiten Goldsteins und Gelbs zurück. Die einzelnen Elemente können hier nicht im Detail dargestellt werden, Cassirer referiert in langen Passagen aus den 135 Das Goethe-Zitat, in dem Überlegungen zu Stil und Erkenntnis einander zugeordnet werden, auf das sich Cassirer hier bezieht, lautet: „Wie die einfache Nachahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen Gegenwart beruht, die Manier eine Erscheinung mit einem leichten fähigen Gemüt ergreift, so ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, in so fern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.“ Johann Wolfgang von Goethe, Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil, in: WA 1/XLVII, S. 80. 136 E. Cassirer, Ebd., S. 26. 137 Vgl. Ebd., 31f. 138 Nach Cassirers Auskunft hat er Goldstein im Frankfurter Krankenhaus mehrfach besucht und sich von ihm in seine Arbeit mit seinen Patienten einführen lassen. Aus seinen Anmerkungen geht auch hervor, dass Goldstein ihn offenbar einige der Versuche, über die auch er ausführlich berichtet und aus denen er weitreichende Schlussfolgerungen zieht, selbst hat wiederholen lassen. So berichtet Cassirer ausführlich seine Eindrücke seiner Begegnung mit dem Patienten Schneider. Vgl. E. Cassirer, PsF III, in: ECW 13, S. 244 Fußnote 155; S. 251 Fußnote 169; S. 255; S. 274ff. besonders S. 276.

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bis 1929 erschienen Arbeiten Goldsteins, die oben bereits mit ihren Hauptthemen kurz vorgestellt wurden und auf die im Folgenden noch detailliert eingegangen werden soll. Wichtiger als die vielen Einzelheiten scheint mir ein wesentlicher Zug der Rezeption Goldsteins durch Cassirer zu sein. Wie Goldstein sieht auch Cassirer in der Wahl des Ansatzpunkts bei der Pathologie der Sprache erhebliches Potenzial für allgemeine anthropologische Bestimmungen: „Es scheint, dass der eigentliche innere Konnex zwischen der Sprachwelt einerseits, der Wahrnehmungs- und Anschauungswelt andererseits, sich erst dann in voller Deutlichkeit erfassen lässt, wenn das Band, das beide miteinander verknüpft, sich aufgrund besonderer Bedingungen zu lockern beginnt (…). Die Momente, die im normalen Bewusstsein nur in nächster Vereinigung, nur in einer Art von ‚Konkreszenz‘ gegeben sind, beginnen in der Krankheit sozusagen auseinander zu treten und sich in ihrer unterschiedlichen Bedeutung gegeneinander abzusetzen. Und damit erweist sich erst ganz, wie sehr nicht nur unser Denken der Welt, sondern wie schon die anschauliche Gestalt, in welcher für uns die Wirklichkeit ‚vorhanden‘ ist, unter dem Gesetz und unter der Herrschaft der symbolischen Formung steht.“139

In den umfangreichen Untersuchungen Goldsteins und seiner Kollegen, die wie dieser gegen ein lokalisationstheoretisches Verstehen des Hirns und seiner Physiologie eintreten, sieht Cassirer einen Prozess in seinen Einzelaspekten beschrieben, der in jedem Akt des Sprechens, in jedem Sehen und Handeln auch des Gesunden abläuft. Cassirer ist nun aber nicht auf der Suche nach der empirischen Bestätigung seiner Theorie der symbolischen Formen, vielmehr bemüht er sich darum, 140 die Lösung für „ein allgemeines kulturphilosophisches Problem“ zu formulieren. Die Befunde der Sprachpathologie deutet er im Sinne einer stufenweise von einander abgetrennten, dichotomischen Welt: Auf der ersten Stufe sieht er die Welt der unmittelbaren Lebensvorgänge, wie sie für die Tierwelt kennzeichnend sind. Die Weltwahrnehmung der Tiere bildet für ihn das Modell, die Wahrnehmung der Kranken zu verstehen: wie ein Tier sind die hirnverletzten Patienten Goldsteins offenbar nicht in der Lage, sich von konkret gegebenen Umständen ihres Lebens zu distanzieren. Die zweite Stufe bildet die Welt des Geistes, die sich dadurch auszeichnet, „dass das Ich die Welt von sich abrückt, dass es, im Betrachten wie im Tun, eine bestimmte ‚Distanz‘ zu ihr gewinnt (…). Diese Gewinnung der ‚Welt als Vorstellung‘ ist (…) das Ziel und der Ertrag der symbolischen Formen – das Resultat der Sprache, des Mythos, der Religion, der Kunst und der theoretischen Erkenntnis. “141

Damit zieht Cassirer seine Schlussfolgerungen – trotz einiger Akzentverschiebungen im Detail – durchaus im Sinne Goldsteins, dessen Überlegungen in ähnliche Richtungen gehen, wie sich im Folgenden zeigen wird. Einige der von Goldstein 139 Ebd., S. 241f. 140 Ebd., S. 320. 141 Ebd., S. 321.

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Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie

aufgeworfenen Problemfelder, die für seine eigenen anthropologischen Entwürfe von entscheidender Bedeutung sind – etwa seine Erörterungen zu den Komplexen der Angst oder der Freiheit – sind dagegen bei Cassirer nur am Rande berührt worden. Diese Aspekte werden später für den Dialog mit Tillich von herausragender Bedeutung sein.

2.

Grundbegriffe der Organismustheorie Kurt Goldsteins

Sowenig die philosophischen Elemente von Kurt Goldsteins auf naturwissenschaftlicher Basis gewonnener Anthropologie ausschließlich im Dialog mit Tillich relevant geworden sind – was ich im vorausgehenden Kapitel zu zeigen unternommen habe – sowenig ist auch Tillichs theologische Anthropologie in ihrer Bezugnahme auf naturwissenschaftliche Elemente allein aus seiner Rezeption von Arbeiten Goldsteins zu verstehen. Aber – und das ist bis hierhin deutlich geworden – offenbar konnten beide durch ihre Interessen, ihre Ausbildung und die spezifische Sicht auf ihr eigenes Forschungsgebiet, auf einen ähnlichen wissenschaftstheoretischen und philosophischen Hintergrund zurückgreifen, der offensichtlich dazu führte, dass sich ihre Auffassungen in einigen Teilbereichen ihrer Theorien eng berührten. Im Folgenden möchte ich diese Berührungspunkte, wie sie im Einzelnen zu fassen sind, näher untersuchen. Dafür ist es zunächst notwendig, vertiefend auf die von Goldstein in seinen beiden Hauptwerken gemachten Aussagen einzugehen. Dann soll nach der Art gefragt werden, wie diese mit Tillichs Argumentationsmustern ins Gespräch gebracht werden können. Um sich den methodologischen Grundlagen der Biologie, wie sie Goldstein entfaltet, zu nähern, ist es sinnvoll, in vier Schritten vorzugehen. Dazu wird zunächst (2.1) das Spezifische der Biologie in Abgrenzung zum naturwissenschaftlichen Ideal der Physik und Chemie des 19. Jh. auf der einen Seite und vitalistischen Biologieauffassungen auf der anderen Seite, sowie die für Goldstein eigentümliche Verhältnisbestimmung zwischen Gegenstand und Methode der Biologie herauszuarbeiten sein. Der zweite Schritt (2.2) wendet sich dann den Motiven der Ablehnung von Reflextheorie, Assoziationspsychologie sowie der Psychoanalyse durch Goldstein zu. Dann (2.3) werde ich zeigen, wie sich die methodischen Prämissen, die sich aus den ersten beiden Schritten ergeben haben, bei Goldstein zu einer Theorie der Ganzheit zusammenfügen. Zuletzt (3.) soll anhand eines Vergleiches des Verständnisses der Biologie bei Goldstein und Tillich die Frage nach den Bedingungen und Gestaltungen der gegenseitigen Bezugnahme geklärt werden. 2.1

Das Spezifikum der Biologie

Dass die Biologie im Zusammenhang der Wissenschaften, die sich mit Gegenständen der Natur beschäftigen, in Abgrenzung zur Physik und der Chemie einen

Grundbegriffe der Organismustheorie Kurt Goldsteins

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Sonderfall darstellt, da sie es mit der Systematisierung lebendiger Wesen zu tun hat und dass sich daraus die Forderung nach einer besonderen Gestaltung der Methodik ableitet, die diesem Spezifikum Rechnung trägt, bildet das Hauptanliegen von Goldsteins im Exil in Amsterdam 1934 erschienenen Hauptwerk ‚Der Aufbau des Organismus‘. In diesem Buch, dem man die Eile, in der es entstanden ist – Goldstein diktierte die gut 350 Seiten in nur sechs Wochen, in denen er seine Schreibkraft oft bis zur Erschöpfung belastete – wegen vieler Rechtschreibfehler und der häufig nachlässigen bzw. fehlerhaften Behandlung der Literatur durchaus 142 anmerkt , müht sich Goldstein besonders um die Klärung von fachsystematischen und methodologischen Aspekten. In dieser starken Konzentration auf die wissenschaftstheoretischen Grundlagen seiner Konzeption liegen viele der Ansatzpunkte für den Austausch mit den wissenschaftstheoretischen Ansätzen Tillichs. An Goldsteins Ausführungen wird zudem die historische Situation deutlich, in die hinein er seinen Ansatz stellt und an der er teilhat: Zum einen ist seine Konzeption als eine der vielen Wegmarken hin zu einem modernen Begriff der Biologie zu verstehen, wie er sich ab den 50iger Jahren des 20. Jh. durch die konzeptionelle Integration von molekularer Genetik und Evolutionstheorie herausbilden konnte. 143 Zum anderen hat Goldstein mit seiner Kritik der Erfahrungsferne der modernen Naturwissenschaft und Medizin Anteil an der Theoriebildung holistischen Denkens, das bei ihm aber nicht – wie bei vielen anderen seiner Zeitgenossen – mit 144 der Forderung nach romantisierender Entdifferenzierung verbunden war . Seine Überlegungen belegen dagegen deutlich die Schwierigkeiten des Versuchs der Suche nach einem die lebendigen Phänomene umfassenden, wissenschaftstheoretisch fruchtbaren Prinzip, das die Teile, die im modernen Sinne unter dem Dach der Biologie zusammengefasst werden, integrieren konnte. So wurden bis weit ins 19. Jh. hinein etwa Botanik und Zoologie weitgehend der Naturgeschichte zugeschlagen, während Anatomie und Physiologie des Menschen unter dem Dach der medizinischen Fakultäten ansässig waren, was ihre Unterordnung unter die jeweiligen Forschungslogiken und methodischen Ansprüche dieser Wissenschaften zur Folge hatte. Die Forschung an der menschlicher Biologie und der von Fauna und Flora nach wissenschaftlich einheitlichen Maßstäben war so erheblich erschwert 145 bis unmöglich gemacht. In Goldsteins Konzeption wird von daher die Frage nach dem die Biologie einenden Prinzip zur Existenzfrage der Biologie überhaupt: Nur wenn sich ein solches Prinzip finden lässt, kann die Autonomie der Biologie als einer eigenständigen Wissenschaft begründet werden. Goldsteins Stellungnah142 So zitiert er selbst seine eigenen Arbeiten gelegentlich nachlässig. Ein Literaturverzeichnis ist der deutschen Originalausgabe leider nicht beigegeben worden. 143 Vgl. K. Goldstein, PPP, S. 1f. 144 Zu Goldsteins Kritik an der Gegenüberstellung von Geist und Leben im Sinne Ludwig Klages, die den Geist als ein sekundäres Phänomen gegenüber der unmittelbaren Kraft des sich an und im Leben ausdrückenden Gefühls versteht. Vgl. K. Goldstein, AO, S. 219. 145 Vgl. Gereon Wolters, Art.: Biologie, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, (Band 1), Stuttgart² u.a. 2005, S. 474.

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Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie

me ist im Rahmen dieser Diskussionen um Mechanismus, Vitalismus und Orga146 nizismus zu verstehen. Goldstein sieht den Ansatzpunkt, von dem aus eine spezifisch biologische Erkenntnis gewonnen werden kann, nicht darin, in möglichst enger Anlehnung an physikalische und chemische Versuchsanordnungen eine weitest mögliche Durchdringung isolierter Phänomene zu erreichen, von denen ausgehend dann auf der Basis der Annahme einer Analogie zwischen einfachen und komplexen Vorgängen per Deduktion eine Hypothese für die Funktion in anderen Lebewesen formuliert 147 werden kann. Die Vorstellung, dass höhere Lebewesen als eine lediglich quantitativ komplexere Variante ihrer einfacher gebauten Verwandten zu verstehen sind, lehnt er ab. Er wählt dagegen seinen Ausgangspunkt beim Menschen „und ver148 sucht von da aus das Verhalten der anderen Lebewesen zu begreifen.“ Für dieses Vorgehen gibt Goldstein zwei Gründe an: zum einen weist er auf die Problematik 149 des „Begriff[s; K.B.] der Einfachheit“ hin, der zur Rechtfertigung dieses Vorgehens herangezogen wird: zwar habe dieser intuitiv einiges für sich, doch stelle er bei näherem Hinsehen häufig eine durch den Beobachter künstlich in einen Vorgang oder ein Lebewesen hineingetragene Abstraktion dar, die keinerlei über sich 150 selbst hinausgehende Aussagekraft haben könne. Ebenfalls von der kritischen Revision des Begriffs des Einfachheit geht für Goldstein der zweite Punkt der Begründung seines Ansatzes beim Menschen aus: Komplexität bzw. Einfachheit sind als relative Größen zu verstehen, die je nach Perspektive stark variieren können. Was sich für einen Organismus als einfach bzw. komplex darstelle, lasse sich nur aus der Perspektive des Organismus selbst und nicht von außen bestimmen, so dass Goldstein die Schlussfolgerung zieht, „dass es uns noch am besten gelingen wird, wenn wir uns zunächst an den uns am besten bekannten Menschen hal151 ten. Wie hilflos stehen wir doch dem Verhalten der Tiere gegenüber!“ Nur auf diese Art sind Anzahl und Qualität der theoretischen Vorannahmen in kontrollierbaren Grenzen zu halten. Neben dieser Begründung seines anthropozentrischen Ansatzes ist ein zweiter Aspekt für Goldsteins Vorgehen charakteristisch: für die Bearbeitung des zentralen Problems seiner Darstellung, das er als „das Problem der eindeutigen Beschrei152 bung der besonderen Wesenheiten der einzelnen Organismen“ , zusammenfasst, setzt er bei der Pathologie ein. Die Orientierung an pathologischen Vorgängen, die als 153 „gesetzmäßige Abwandlungen normaler Vorgänge“ verstanden werden, bieten eine Reihe von Vorteilen: Es handelt sich zum einen um klarer abgrenzbare Ab146 Ebd., S. 476. 147 Vgl. K. Goldstein, AO, S. 81f. 148 Ebd., S. 1. 149 Ebd., S. 2. 150 Vgl. Ebd. 151 Ebd., S. 3. 152 Ebd., S. 2. 153 Ebd., S. 4.

Grundbegriffe der Organismustheorie Kurt Goldsteins

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läufe , was die Scheidung in zugehörige und zu vernachlässigende Faktoren erleichtert und zum anderen – dieser Punkt wiegt deutlich schwerer als der erste – ist durch den Ausgang bei der Pathologie ein Zustand am lebendigen Objekt zu beobachten, der ansonsten nur – das sieht Goldstein durch seine Arbeit bestätigt – durch einen von Außen vorgenommenen Eingriff im Experiment hervorzurufen ist: „in beiden Fällen handelt es sich um Beobachtung bei Schädigung des Sub155 strates.“ Von da aus nähert er sich dem schwierigen methodischen und konzeptionellen Problem der Hirnforschung am Menschen: der Frage nach dem Wie der Forschung am lebenden menschlichen Hirn und der Interpretation der klinisch gewonnenen Ergebnisse. Da von vielen Formen des Experimentierens, die zur Erforschung der Spezifika des menschlichen Gehirns als notwendig erachtet wurden, in den meisten Epochen der Forschung aufgrund ethischer Bedenken Ab156 stand genommen wurde , stand man in der Geschichte des Faches immer wieder vor einem Dilemma: Aus Mangel an Material griff man häufig auf umstrittene Tierexperimente zurück, deren Aussagekraft aber gerade in den Bereichen, von denen man sich Auskunft zu den Besonderheiten des menschlichen Bewusstseins und Geistes erhoffte – zu denken ist hier etwa an die Sprache oder die Fähigkeit zum abstrakten Denken – außerordentlich umstritten war. Zu dem kam, dass mit der zweiten vorherrschenden Methode, die aus einer nach dem Tod eines Patienten vorgenommenen hirnpathologischen Untersuchung bestand, große diagnostische Unsicherheiten einhergingen, da sich viele Krankheitsbilder nicht mehr klar systematisieren ließen.

154 Auf neurologischer Ebene besteht diese Abgrenzung darin, dass durch die Schädigung eines Substrats die Isolierung von einzelnen Ganglienzellen vom Rest des Nervensystems eintritt, so dass es zu spezifischen Veränderungen der Vorgänge kommt, die vor der Verletzung bzw. Erkrankung durch die Einschaltung dieser Ganglienzellen gesteuert wurden. Goldstein fasst diese wesentliche Veränderungen so zusammen: „So wird es zu einer Erschwerung, Verlangsamung des Erregungsablaufes, einer Entdifferenzierung des strukturellen Aufbaus, schließlich einem mangelhaften Ausgleich kommen.“ Ebd., S. 87. Zur weiteren Beschreibung dieser Vorgänge Vgl. K. Goldstein, AO, S. 88–103. 155 Ebd., S. 4. 156 Was nicht heißt, dass es in der Geschichte der Hirnforschung nicht auch zu grausamen Experimenten am lebenden Menschen gekommen wäre, die aber spätestens seit dem 18. Jh. von sich immer stärker entwickelnden und artikulierenden ethischen Vorbehalten begleitet waren. Als Beispiel sei hier nur auf die Debatte hingewiesen, die besonders im nachrevolutionären Frankreich zur Frage der Zulässigkeit der Forschung an den Köpfen Frischguillotinierter geführt wurde, nachdem durch ebendiese Experimente gezeigt werden konnte, dass auch noch einige Zeit nach der Hinrichtung noch Reste neuronaler Aktivität vorhanden waren. Diese Befunde fachten nicht nur die Diskussion um Zulässigkeit der Forschung an diesen Schädeln an, sondern stellte die ganze Praxis des Guillotinierens als vermeintlich humane Art der Hinrichtung in Frage. Einige der in dieser Debatte relevanten Aspekte, etwa das der Frage nach der Möglichkeit der Festlegung der Grenze zwischen Leben und Tod, kann als historischer Vorläufer der modernen Diskussion um das Hirntodkriterium verstanden werden. Vgl. Erhard Oeser, Geschichte der Hirnforschung. Von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 2002, S. 98f., 260; Kurztitel: E. Oeser, Hirnforschung.

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Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie

Mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges veränderte sich die Lage in dieser Hinsicht radikal. Der Krieg, zynischerweise von einigen Hirnforschern als Form der 157 „natürliche[n; K.B.] Vivisektion“ am Menschen bezeichnet, brachte für Goldstein und seine Kollegen hohe Fallzahlen an jungen Männern in guter körperlicher Verfassung, die sich in einem engmaschigen Betreuungsnetz befanden, so dass viele der in Tierexperimenten gewonnenen Theorien dem Praxistest der Übertragung auf den Menschen unterzogen werden konnten. Doch muss vor der pauschalen These gewarnt werden, der Krieg hätte für die Hirnforschung im Besonderen und für die medizinische Forschung im Allgemeinen an sich schon einen großen Schub bedeutet. Große Teile der wissenschaftlichen Forschung standen unter dem Primat der Politik, deren Forderungen – vor allem die Kriegsverwendbarkeit der Soldaten schnellstmöglich wiederherzustellen – die Arbeit der Wissenschaftler weitgehend bestimmte. Ein eindrückliches Beispiel dafür dürfte der in dieser Arbeit früher schon thematisierte Umgang mit sog. ‚Kriegsneurotikern‘ gewesen 158 sein. Forschung, die einen gewichtigen Beitrag hin zu einer allgemeinen Theorie der Biologie des Menschen zu leisten in der Lage war, in dem sie den Kriterien wissenschaftlicher Standards genügte, war eigentlich nur da zu erwarten, wo es die umfangreiche und detaillierte Dokumentation der Fälle erlaubte, eine spätere Auswertung des Materials vorzunehmen, was wegen der hohen Fallzahlen in den Lazaretten häufig nicht gewährleistet werden konnte. Daneben weist Goldstein noch auf eine weitere, die Forschungslogik der Naturwissenschaften betreffende Pointe hin: wenn seine These von der für die Wissenschaft bestehenden Identität von im Experiment künstlich herbeigeführten und den pathologischen Erscheinungen eine zutreffende Beschreibung darstellte, dann verschoben sich die Parameter, von denen aus man von naturwissenschaftlicher Seite Gesundheit und Krankheit, Norm und Abweichung ins Verhältnis zu setzen 159 hatte. Die Aussagekraft des Experiments wird vor diesem Hintergrund bezüglich des Zustands der Normalität, aufgrund der in ihm vorgenommenen Trennun160 gen und Abgrenzungen, als erheblich eingeschränkt verstanden. Daraus ergibt sich für Goldstein die Forderung nach der theoretischen Neufundierung naturwissenschaftlicher Begriffsbildung, die s.E. viel stärker das Gesamtbild des Organismus zu berücksichtigen hat, um überhaupt zu differenzierten Aussagen bezüglich 161 der Krankheit bzw. Gesundheit eines Organismus kommen zu können.

157 Ebd. S. 13. 158 Vgl. dazu Kap. II, 1.1. dieser Arbeit. 159 So schreibt Goldstein etwa: „There are innumerable facts which demonstrate how the functioning of a field is changed by its isolation. If we want to use the results of such experiments for understandig the activity of the organism in normal life (…), we must know in what way the condition of isolation modifies the functioning, and we must take these modifications into account.” K. Goldstein, HN, S. 10. 160 Vgl. K. Goldstein, AO, S. 4. 161 Auf dieser Linie liegt auch die Begründung seines Ansatzes bei der Neurologie, wenn er schreibt:

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Dafür setzt Goldsteins bei den Voraussetzungen der Einordnung der Biologie in den gesamtwissenschaftlichen Kontext ein. Er orientiert sich dabei stark an den von Hans Driesch in seiner ‚Philosophie des Organischen‘ formulierten Parame162 tern. Wie dieser suspendiert Goldstein die Frage nach einer Definition des Lebendigen zunächst. Sehr deutlich wird zudem, dass sich Goldstein nicht direkt in der sich im Streit um den Vitalismus äußernden Auseinandersetzung um die Deutungshoheit bezüglich des Lebendigen zwischen Philosophie und Naturwissenschaften offen positionieren will. Offenbar geht ihm die Debatte an dem sich eigentlich stellenden Problem vorbei: Weder habe sich im Verlauf der Diskussion ein allgemein verständlicher und anerkannter Begriff des Lebendigen herausgebildet, noch leiste die abstrakte, spekulative Arbeit am Begriff einen Beitrag zur Er163 kenntnis der die lebendige Welt umfassenden Wesen. Sinnvoll wird die Frage nach dem Wesen des Lebendigen erst am Ende des Prozesses der Erkenntnis der lebendigen Wesen gestellt und beantwortet werden können. Goldstein schreibt: „Die Frage, wodurch unterscheidet sich das Lebendige vom Unlebendigen setzt voraus, dass wir beides schon geschieden haben. Wir stehen einer Vielgestaltigkeit wissenschaftlich ungeformten Materials gegenüber. Dieses Material ist einfach die Welt um uns, aus der sich gewisse Erscheinungen als lebendig unmittelbar absondern, ohne dass wir uns zunächst darüber Rechenschaft geben wodurch, und darüber Rechenschaft zu geben brauchen, warum wir sie als lebendig bezeichnen. Das Lebendige tritt uns entgegen in den lebendigen Wesen. Diese sind so zum mindesten zunächst der Gegenstand unserer Betrachtung und nicht das Wesen des Lebendigen, das sich uns um so klarer von selbst herausstellen dürfte, je mehr der lebendigen Wesen sich uns in ihrer Eigenart offenbart haben werden. Dann wird auch erst die Frage nach der Grenze des Lebendigen und auch nach einem Unterschied von Lebendigen und Unlebendigen ernsthaft gestellt und eventuell beantwortet werden können.“164

In diesen Formulierungen ist beides enthalten: zum einen lehnt sich Goldstein eng an die Konzeption von Hans Driesch an, denn auch dieser hatte in seiner Einlei165 tung die Biologie als „die Wissenschaft vom Leben“ bestimmt und zudem darauf hingewiesen, dass „eine Definition [des Lebensbegriffes; K.B.] (…) ans Ende und

„Ich glaube aber, dass es offenbar werden wird, dass meine auf Grund dieses Materials [des nervösen Geschehens; K.B.] gezogenen Schlussfolgerungen eine Verallgemeinerung in Hinsicht auf die Vorgänge im Organismus überhaupt gestatten. Für uns ist ja ein einzelnes Organ nicht ein System mit besonderen Funktionen, sondern nur ein künstlich aus dem Ganzen des Organismus herausgehobener Teil, an dem wir die Leistung des Organismus studieren.“ K. Goldstein, AO, S. 5. 162 Vgl. Hans Driesch, Philosophie des Organischen, Leipzig4 1928, S. 1–11; Kurztitel: H. Driesch, Philosophie. 163 Vgl. K. Goldstein, AO, S.5. Der kritische Ton gegenüber Driesch ist an dieser Stelle nicht zu überhören. 164 Vgl. Ebd., S. 6. 165 H. Driesch, Philosophie, S. 1.

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Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie 166

nicht an den Anfang einer Wissenschaft [gehört; K.B.].“ Zum anderen geht Goldstein dann aber einen anderen, von der Konzeption Drieschs abweichenden Weg: Hatte dieser in Ermangelung eines brauchbaren Lebensbegriffs sich darauf zurückgezogen „die Worte individueller Körper und Leben in der üblichen popu167 lären Weise zu verstehen“ und in diesem Zusammenhang dann als Merkmale jedes lebendigen Wesens seine spezifische Morphologie, seinen Stoffwechsel sowie die aus ihnen selbst heraus kommende Bewegung der Organismen angeführt und diese Stichworte für das Grundgerüst seiner Gliederung genutzt, so lehnt Goldstein dieses Vorgehens ab. Zwar muss auch er zunächst mit einem mehr oder weniger intuitiv gegebenen Begriff des Wesens des Lebendigen hantieren, doch treibt ihn – wie das oben angeführte Zitat deutlich zeigt – die Skepsis gegenüber diesem Begriff zur Vertiefung der Frage nach einer der Biologie angemessenen Methode. Damit werden Grundbestimmungen zum Lebensbegriff zunächst zugunsten der genauen Formulierung der Aufgabe der Biologie suspendiert: „So erscheint es uns als die zum mindesten erste Aufgabe der Biologie die lebenden Wesen in systematischer Weise in ihrem jeweiligen So-Sein so eindeutig zu beschreiben, dass wir sie in ihrer Besonderheit erfassen, dass wir sie wiedererkennen, unterscheiden, ‚erkennen‘, dass wir entscheiden können, ob und wie sie miteinander vergleichbar sind und in irgendeiner Beziehung zu einander stehen, die wir Abstammung voneinander etc. nennen können.“168

Die sich aus diesem Ansatz ergebende primäre Forderungen an die Methodik umfasst zunächst lediglich einen einzigen Punkt: die Methode muss der so formu169 lierten Aufgabe der Biologie fruchtbar zuzuarbeiten in der Lage sein. Damit formuliert Goldstein einen wesentlichen Anspruch an seine Theorie der Biologie: Methode und Gegenstand stehen in einem engen Entsprechungsverhältnis. Wie der Gegenstand der Biologie im Prozess der Erforschung lebender Wesen nach und nach erkennbar wird, so zeigt sich auch die angemessene Methode erst suk170 zessive im Verlauf ihrer Anwendung. Diesen Prozess, in dem dieses Entsprechungsverhältnis von Gegenstand und Methode immer klarer hervortritt, werde ich später im Abschnitt 3 dieses Teils darstellen. Zunächst ist es aber notwendig, auf die neurologischen Paradigmen und biologischen Theorien einzugehen, die für Goldsteins Verortung wichtig sind,

166 Ebd., S. 2. 167 Ebd., S. 7. 168 K. Goldstein, AO, S. 6. 169 Vgl. Ebd., S. 7. Dort ist zugleich Goldsteins Unbehagen gegenüber der prinzipiellen Indifferenz zwischen physikalisch-chemischen Methoden und der Methode, die auf biologische Gegenstände anzuwenden ist, angedeutet, wenn er schreibt: „Diese Methode [die zergliedernde Methode der Physik; K.B.] ist irgendwie nicht ausreichend.“ Dagegen setzt Goldstein die dort noch sehr vage gehaltene Selbstaufforderung: „Versuchen wir in fruchtbarer Weise die lebendigen Wesen zu erkennen!“ 170 Vgl. Ebd.

Grundbegriffe der Organismustheorie Kurt Goldsteins

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denn erst vor dem Hintergrund dieser Frontstellung kann sein methodischer Ansatz verständlich werden. 2.2

Kurt Goldsteins Ansatz und seine Frontstellung

Soll das Spezifische an Goldsteins Ansatz verständlich werden, dann muss zunächst auf seine Positionierung innerhalb der naturwissenschaftlichen Theoriebildung eingegangen werden. Zu nennen sind an dieser Stelle seine Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der Reflextheorie (1), der Assoziationspsychologie, wie sie vor allem in der Generation seiner Lehrer entwickelt worden war (2), und der Psychoanalyse Siegmund Freuds (3). Für die vorliegende Arbeit ist dabei vor allem der methodische Zugang Goldsteins von Interesse, denn hier zeigt sich, wie Goldstein die Relation von naturwissenschaftlichem Experiment und Wirklichkeit, von Methode und Ontologie strukturiert. Diese Relation soll anhand des zentralen Kritikpunkts gegenüber den drei angesprochenen Ansätzen besprochen werden, der darin besteht, dass Goldstein in jeder dieser Theorien die Tendenz enthalten sieht, an einzelnen Teilaspekten gewonnene Erkenntnisse als konstitutiv für Aussagen zum Wesen des Ganzen des Organismus zu verstehen, ohne dabei diesen Ganzheitsbezug theoretisch zu reflektieren. 171 (1) Sein Unbehagen an der Reflextheorie und den mit ihr einhergehenden Erklärungsansprüchen bezüglich der allgemeinen Natur des Lebendigen umschreibt Goldstein an folgendem Beispiel: „Wenn wir bei einem Menschen den Pupillenreflex prüfen und bei Belichtung des Augenhintergrunds eine relativ konstante Zusammenziehung der Iris bekommen, so dies nur dadurch, dass der betreffende Mensch das Auge uns gewissermaßen überlässt, vom gewöhnlichen Sehen d.h. vom Erfassen eines Stücks Umwelt vermöge des optischen Sinnes völlig absieht. Gewiss wird auch beim wirklichen Sehen die Pupille bei Wechsel von Licht und Schatten in den gesehenen Gegenständen eine verschiedene Weite haben, aber es ist gewiss nicht richtig, dass dieselbe Lichtstärke auf das isolierte Organ einwirkend die gleiche Zusammenziehung hervorbringt wie 171 Unter Reflextheorie soll im Folgenden „die automatische (unmittelbare u. unwillkürliche), im allgemeinen regelmäßig reproduzierbare, über das Nervensystem erfolgende (‚neurogene‘) Antwort eines Organgewebes (Muskel, Drüse) auf einen Reiz, dessen Aufnahme (= Perzeption; im allgemeinen durch einen Rezeptor) über einen Reflexbogen zur Reflexauslösung im Erfolgsorgan (Effektor) führt, d.h. – über die motorische Endplatte – am Muskel bzw. an der Drüsenzelle“ verstanden werden. Dagobert Tutsch/Norbert Bosch (Hg.), Lexikon Medizin, München u.a. 1997, S. 1456. Für Goldsteins Verständnis des Reflexbegriffs ist zudem noch von entscheidender Bedeutung, dass dieser Reiz-Reaktions-Mechanismus jeweils als unabhängig vom Rest des Organismus verstanden wird. Goldstein selbst nennt als den wichtigsten Vertreter, dessen Theorie er als Negativfolie stellvertretend für viele im Sinn hat im Gegenüber zu seinem eigenen Entwurf, Charles Scott Sherrington, der den Organismus als einen komplexen, aus verschiedenen von einander differenzierten Reflexapparaten versteht, ohne diese Theorie allerdings einmal deutlich zusammenzufassen, so dass an dieser Stelle auf die oben stehenden Definition als zusammenfassender Hintergrund zurückgegriffen werden muss. Vgl. dazu K. Goldstein, AO, S. 59f.

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Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie

sie auftritt, wenn der betreffende Mensch ein Objekt betrachtet und psychisch verarbeitet. Es ist nicht ganz leicht, dies experimentell zu beweisen, aber man braucht nur die Pupillen eines Menschen zu betrachten, der einen hell erleuchteten Gegenstand wissentlich und interessiert betrachtet und das Auge isoliert mit etwa der gleichen Lichtstärke zu belichten, so fällt die Differenz in der Pupilleninnervation sofort auf.“172

Goldstein artikuliert hier seine Vorbehalte gegenüber der Interpretation von Ergebnissen aus der herkömmlichen Praxis naturwissenschaftlicher Experimente. In der Künstlichkeit der Situation einerseits sowie der durch das Experiment vorgenommenen Abtrennung eines einzelnen Vorgangs von der Gesamtsituation des Organismus andererseits sieht er die Hauptprobleme. Zudem bleiben ihm die Wirkung des Experimentators auf das Verhalten der Probanden in seiner Rolle als eines wissenschaftlich ein Phänomen Betrachtenden sowie Einstellung und Motivation des Probanden selbst unberücksichtigt. Er führt das vor allem darauf zurück, dass ein Großteil der Forschungen am Nervensystem von Tieren vorgenommen wurde, in denen die Arbeit am Detail mehr im Vordergrund stand als der Organismus im Ganzen, wie es für seinen am Menschen orientierten, medizinischen Ansatz zentral ist. Dieser ist bemüht, das komplexe Zusammenwirken von Vorgängen im Organismus in Verbindung mit den bewussten Interessen und Zielen des Untersuchten, die immer in der Auseinandersetzung mit der ihn umgebenen Umwelt stehen, sowie die spezifischen Interessen des Untersuchers zu berücksichtigen. Dabei sind diese Aspekte gleichzeitig klar voneinander zu differenzieren und im steten Bezug aufeinander zu halten. Dieses Anforderungsprofil kann die Reflextheorie nicht erfüllen, ohne das Goldstein deren Erklärungspotenziale generell ablehnt. Im Bereich der medizinischen Praxis bleibt „die außerordentliche Bedeutung der Reflexe und ihrer Veränderungen durch Krankheit (…) für die Diag173 nose spez. etwa die Lokaldiagnose bei Nervenkrankheiten unberührt.“ Die problematischen Faktoren der Reflextheorie sieht er eher in dem spezifischen Bild, das sie im Bezug auf den Aufbau und die Funktion des gesamten Organismus vermittelt. Wird der Organismus als die Zusammenfassung von voneinander isolierten, reflektorischen Apparaten verstanden, die auf jeden konstanten Reiz mit einer konstanten Reaktion antworten, dann kann das Ziel der Wissenschaft letztlich nur darin bestehen, diese Zusammenfassung auf dem Weg des isolierenden Experi174 ments in ihre Teilvorgänge zu zerlegen. Die sich darin ausdrückende, methodische Entdifferenzierung zwischen im Versuch beobachteten und sich im normalen Leben des Organismus zeigenden Phänomenen führt – so Goldstein – zu einer reduktionistischen Sicht des Organismus und des Lebens insgesamt. Goldstein beklagt die s.E. offensichtlichen, sich in den Versuchsaufbauten der Experimentatoren ausdrückende, theoretische Voreingenommenheiten, die die Qualität der 172 K. Goldstein, AO, S. 116. Dazu auch Ebd., S. 112. 173 Vgl. Ebd., S. 117. 174 Vgl. Ebd., S. 44.

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gewonnenen Daten schon von vornherein weitgehend bestimmen. Das Problem sieht er aber nicht in der fehlenden philosophischen Aufgeschlossenheit der Naturwissenschaftler liegen, sondern in „eine[r; K.B.] mangelhafte[n; K.B.] Empi175 rie“ begründet. Er geht dabei so weit zu behaupten, dass sich in diesem Mechanismus zeige, „wie der Reflexbegriff den Fortschritt der Erkenntnis aufs schwerste 176 hemmen kann.“ Für Goldstein handelt es sich also um ein methodisches Problem, das innernaturwissenschaftlich zu bearbeiten und auch von daher einer Lösung zuzuführen ist. Als Kritikpunkte nennt er etwa die Variabilität der rezeptiven Felder, die abhängig von Tagesform, Einstellung gegenüber dem Experiment sowie der Art der 177 Reizung sind. Sodann betont er die Möglichkeit des Eintretens von umgekehrten Wirkungen auf den selben Reiz: bei unterschiedlicher Lagerung des zu einem Reflex gereizten Körperteils treten u.a. Beuge- statt der zu erwartenden Streckbewegungen auf, auch die Einwirkung von Medikamenten oder Ermüdung kann die 178 Reflexbewegung abschwächen bzw. umkehren. Zudem ist zu beobachten, dass sich im Fall der gleichzeitigen Auslösung zweier Reflexe nur einer der beiden durchsetzt, es aber nicht notwendig derjenige ist, der durch einen intensiveren 179 Reiz ausgelöst wurde. Abschließend weist Goldstein noch auf die vielfältig auch in seinen eigenen Arbeiten beobachteten, wechselseitigen Wirkungen zwischen vegetativen, somatischen und psychischen Faktoren hin: so berichtet er von bei seinen hirnverletzten Patienten häufig auftretenden „Veränderungen des Blut180 drucks, des Pulses, der Trophik, des Blutbildes, der Pupilleninnervation“ , die er als durch die Verletzung des Gehirns hervorgerufen einstuft. Die Pointe, die Goldstein zu setzen versucht, geht in zwei Richtungen: zum einen impliziert diese Aufzählung die Notwenigkeit eines qualitativen Elements, das die Reflexabläufe in noch zu spezifizierender Weise steuert bzw. koordiniert, da Auslösung, Intensität und Art reflexiver Vorgänge im Organismus unter modifizierten Bedingungen eine große Varianz aufweisen können. Zum anderen sieht Goldstein in den genannten Befunden die Auflösung des Reflexbegriffs als eines nützlichen Erklärungsmodells des Organismus: Angesichts der vielen Varianten und Abweichungen, in denen der ‚normale‘ Verlauf häufig nur noch schwer zu erkennen ist, wird der Reflex in seiner Reinform zu einem außergewöhnlichen, nur unter hochgradig künstlichen Bedingungen herbeizuführenden Phänomen, dessen Aussagekraft bezüglich des Normalzustandes des Organismus in Goldsteins Augen gegen Null geht:

175 Ebd., S. 55. 176 Ebd., S. 56. 177 Vgl. Ebd., S. 46f. 178 Vgl. Ebd., S. 48f. 179 Vgl. Ebd., S. 47f. 180 Ebd., S. 51.

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Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie „Dabei ist gar nicht einzusehen, woher die Berechtigung kommt von einer Erscheinung als dem normalen Reflex zu sprechen – es sei denn aus der theoretischen Voreingenommenheit, die den bei möglichst lebensfremder Untersuchung aufgedeckten Reflex als den normalen betrachtet.“181

Das zentrale methodische Problem sieht er darin, dass die Annahme, komplex variierende Vorgänge seien letztlich auf einen verhältnismäßig einfachen Grundmechanismus zurückzuführen und in diese zu zerlegen, eine Reihe von Hilfshypo182 thesen notwendig macht, die zur Erklärung des Zustandekommens der Varianten und Modifikationen herangezogen werden. Besonders in Fällen des Ausbleibens bestimmter zu erwartender Leistungen würden häufig Vorgänge postuliert, die Goldstein als der Natur des Lebendigen unangemessen einstuft. Besonders die inhibitorischen Mechanismen lehnt er zur Erklärung von Modifikationen des Grundmodells entschieden ab: „Es hat sich uns als unbrauchbar erwiesen, eine Erscheinung dadurch zu verstehen, dass wir sie auf den Ausfall einer anderen zurückführen, wie es bei den Erklärungen durch Enthemmung etc. so allgemein üblich ist, und als fruchtbar und wirklich wissenschaftlich einwandfrei nur eine Erklärung, die nur die jeweilig nachweislich gegebenen Momente benutzt.“183

Dieser Grundsatz, der an der Diskussion des naturwissenschaftlichen Forschungs184 standes gewonnen wurde, bezeichnet Goldstein als ein „allgemeines Postulat“ , in dem bereits weitreichende Folgen sowohl für seine Methodik als auch für seine philosophische Bestimmung des Lebendigen formuliert sind: „Dieses methodische Postulat ist nur der Ausdruck dafür, dass es in der Natur nichts Negatives gibt, sowie des Erkenntnisprinzips, dass jede negative Bestimmung höchstens vorläufigen Erkenntniswert haben kann. Erkenntnis, die auf Tatsachen geht, trägt immer einen positiven Charakter.“185

Mit diesem allgemeinen Postulat wird an einem der wesentlichen Punkte von Goldsteins Methodik deutlich, wie sich bei ihm aus der kritischen Diskussion na181 Ebd., S. 53. 182 Hinter der ‚Hilfshypothese‘ verbirgt sich für Goldstein der ideologische Charakter, der für die naturwissenschaftliche Theoriebildung seiner Zeit kennzeichnend ist. Er schreibt: „So merkwürdig es auch für einen jener Forscher, die das Ideal um die Wende des Jahrhunderts verkörperten, klingen mag, so ist doch die Grundtendenz des jetzt aufkommenden biologischen Denkens – das den Anhängern jener Epoche so sehr als spekulativ, unexakt und als Abkehr von der Erfahrung erscheint – das Verlangen nach einer größeren Erfahrungsnähe, als sie die sog. naturwissenschaftliche Forschungsrichtung gestattete; denn deren Tatsachen waren doch im Grunde erfahrungsfern und sie verdanken ihre Exaktheit gerade der Zugehörigkeit zu einem spekulativen System, dessen spekulativer Charakter nur deshalb solange verborgen bleiben konnte, weil die sich ergebenden Diskrepanzen mit der Wirklichkeit durch immer neuere Hypothesen wieder ausgeglichen und dadurch verdeckt wurden.“ K. Goldstein, PPP, S. 2. Ähnlich K. Goldstein, HN, S. 22f. 183 Ebd., S. 118. 184 Ebd. 185 Ebd. Vgl. auch Ebd., S. 53f. sowie K. Goldstein, HN, S. 210; 226.

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turwissenschaftlicher Methodik der Übergang zu einer allgemeinen Ontologie des Lebendigen anbahnt. Am Beispiel der Reflextheorie wird der Übergang von Methodenkritik zur ontologischen Bestimmung des Lebendigen besonders deutlich: Das aus einem fragwürdigen methodischen Ansatz gewonnene Bild des Reflexes führt zu einem auf dem Antagonismus von Reiz und Hemmung basierenden Konzept des Nervensystems, das „ausschließlich ein System von Regulationen [darstellt; K.B.], durch die Änderungen, die auftreten, wieder ausgeglichen werden, so dass der Organismus stets wieder zu einem bestimmten Gleichgewicht gelangt. Alles scheint nur auf die Erhaltung, die Ruhe des Organismus eingestellt zu sein. Wie kann aber in dieses Spiel sich gegenseitig in Schach haltender Momente überhaupt eine Bewegung hineinkommen, eine Dynamik, die eine bestimmte Richtung des Geschehens bewirkt, wie sie doch in der Leistung in Erscheinung tritt?“186

In seinem Gegenmodell versucht Goldstein die Hilfshypothesen durch ein Modell der Wechselseitigkeit reflektorischer Vorgänge zu ersetzen. Reiz und Effektor werden in diesem Modell nicht als in ihrer Funktion streng einseitig von der determinierenden Rolle des Reizes aus verstanden. Vielmehr hängt die Wirkung vom Zusammenspiel von Reiz und dem Zustand des Effektors ab, der als von der 187 Gesamtsituation des Organismus bestimmt gedacht wird. Die oben aufgeworfene Frage nach dem Woher der am Organismus zu beobachtenden Dynamik, die gleichzeitig als die Frage nach dem einen, das Wesen des Lebendigen ausmachenden Prinzips verstanden wird, muss zwischen der Alternative als von Umweltfaktoren bestimmt und als aus dem Organismus selbst kommend entschieden werden. Die Variante, dass die Umwelt Leistungen des Organismus evoziert, lehnt 188 Goldstein in der Auseinandersetzung mit Jakob von Uexkülls Umwelttheorie ab. Besonders kritisiert er Uexkülls Vorstellung einer fest gefügten, invariablen Um189 welt , denn „die Umwelt eines Organismus ist keineswegs etwas Fertiges, sondern sie entsteht dauernd in gleichem Maße, wie der Organismus lebt und sich betätigt. Man könnte sagen, dass die Umwelt sich durch das Sein des Organismus aus der Welt heraus186 K. Goldstein, AO, S. 57. 187 Vgl. S. 56. 188 Eine gute Zusammenfassung von J. v. Uexkülls Umwelttheorie findet sich bei A. Harrington, Ganzheitstheorie, S. 92–98. Bei Uexküll selbst findet sie sich erstmalig 1909 in: Jakob von Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1909. 189 So schreibt Uexküll etwa: „Aber auch unsere eigene Menschenwelt bedarf dringend der Korrektur. Unsere wirkliche Welt ist in der Anschauung als ein vollkommen abgeschlossenes Ganzes gegeben. Unser Menschenraum schließt mit dem Himmelsgewölbe ab. Was darüber hinaus errechnet wird, gilt nur für die Vorstellung eines gedachten Raumes. Ein jeder von uns ist von einer undurchdringlichen Schale, die seine Welt umschließt, umgeben. Alles, was sich innerhalb der Schale befindet, ist in Größe, Farbe, Form und Bedeutung streng an unser eigenes Lebensgesetz gebunden.“ Jakob von Uexküll, Das Problem des Lebens, in: Deutsche Rundschau (Nr. 193), Leipzig 1922, S. 247.

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Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie schält, unpräjudizierlicher, dass ein Organismus nur sein kann, wenn es ihm gelingt, in der Welt eine adäquate Umwelt zu finden (…).“190

Es bleibt demnach nur eine Entscheidung im Sinne der zweiten Alternative. Doch wie ist Dynamik als im Organismus selbst liegend zu denken? Die verschiedenen Varianten – biologische Ganzheitstheorien, der Gedanke der Entelechie (etwa bei Hans Driesch), die Lehre von übergeordneten Koordinationszentren im Nervensystem, verschiedene Formen von Resonanztheorien – werden allesamt zunächst 191 zurückgestellt bzw. verworfen. Auch eine Kombination aus mehreren Prinzipien lehnt Goldstein ab: ein Prinzipienpluralismus im Organismus würden das Problem lediglich auf eine höhere Ebene verschieben, denn die Frage nach einer regu192 lativen Instanz würde erneut auftauchen. Diese Auseinandersetzung mit der Fachdiskussion führt Goldstein zu einer zweiten – neben dem Postulat der notwendigen positiven Gegebenheit alles Natürlichen – fundamentalen ontologischen Bestimmung: „Unser Überzeugung nach spricht alles dafür, dass das organische Leben nur von einem Prinzip beherrscht ist, das sich in bestimmten Situationen in 193 verschiedenen Erscheinungen äußert.“ Auf die genaue Gestaltung dieses Prinzips wird später (3) genauer eingegangen werden. Zunächst sollen aber kurz Goldsteins Kritikpunkte an der Assoziationspsychologie vorgestellt werden. (2) Am Entstehen und der Entwicklung der naturwissenschaftlichen und philosophischen Aspekte, die in Lehre der Assoziationspsychologie eingegangen sind, lassen sich die Bemühungen um die Konzeption einer naturwissenschaftlich begründeten Theorie des Geistes verfolgen. Wie für die Philosophie zog auch für die Psychologie der Streit um den Psychologismus eine vermehrte Nachfrage nach der Abklärung der eigenen wissenschaftlichen Voraussetzung nach sich. Die Geschich194 te des Versuchs der „Materialisierung des Ich“ in der Assoziationspsychologie gibt dabei beredete Auskunft über das Spannungsfeld, in dem sich die Psychologie in ihrem Bemühen um die Abgrenzung ihrer Methoden und Gegenstände nach innen und außen bewegte. Zum einen positionierten sich die dem assoziationspsychologischen Paradigma verpflichteten Psychologen im Sinne der ab der zweiten Hälfte des 19. Jh. vorherrschenden mechanistischen Sicht der Natur und versuchten, durch die Orientierung an den Kriterien physikalischer Experimente an deren Exaktheit und Objektivität teilzuhaben. Zum anderen ging mit ihrem spezifischen Gegenstand ‚menschlicher Geist‘ der Anspruch einher, die Grundlagenwissenschaft aller Geisteswissenschaften – insbesondere der Philosophie – zu 190 K. Goldstein, AO, S. 58. 191 Vgl. Ebd., S. 57–66. 192 Vgl. Ebd., S. 66f. 193 Ebd., S. 67. 194 So der Titel des Buches von Olaf Breidbach, Die Materialisierung des Ich. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1997; Kurztitel: O. Breidbach, Materialisierung des Ichs.

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liefern, was zu den bereits im Rahmen der Darstellung der Auseinandersetzung Tillichs mit dem Neukantianismus erwähnten Konflikten führte, die in modifizierter Form bis heute virulent sind. Daneben ist noch zu beachten, dass die mit diesem Konflikt parallel fortschreitenden Bemühungen um die Physiologie des menschlichen Gehirns immer auch eine ideologisch-politische Komponente mit sich trugen. Für die Mitte des 19. Jh. fasst Michael Hagner zusammen: „In England und Nordamerika ist die Phrenologie ein Massenphänomen, in Frankreich ist sie Sammelpunkt antiklerikaler und demokratischer Bestrebungen. Entsprechend verteidigen Antilokalisationisten wie Flourens Monarchie, Katholizismus und die Unsterblichkeit der Seele.“195

Diese Konnotationen, die hier vor allem für den französischen und angloamerikanischen Bereich konstatiert werden, haben sich als von hartnäckig nachhaltiger Wirkung erwiesen. Bedenkt man die lange Lebensdauer der Assoziation von holistischen Theorien mit antidemokratischen Organisationsformen im politischen 196 Spektrum wie Monarchie oder Faschismus , so konnte diese offenbar lange eine hohe Plausibilität für sich verbuchen, die auf der Verquickung von (pseudo-) naturwissenschaftlichen Theorien der menschlichen Biologie und dem politischen Kampf um die Vorherrschaft einer Regierungsform, die dem ‚natürlichen‘ Menschen entsprach, beruhte, die vor allem im Deutschland des 19. und beginnenden 197 20. Jh. verhängnisvolle Ausmaße annahm. In Deutschland entzündete sich die Diskussion um die Assoziationspsychologie Mitte des 19. Jh. zunächst an den Bemühungen um die Naturalisierung der Vernunftkategorien Kants zur Gewinnung einer allgemeinen Theorie des mensch198 lichen Erkenntnisvermögens. Die gesamte Theorie basierte letztlich auf der Vorstellung einer Ähnlichkeit zwischen den Newton’schen Atomen und den Basiseinheiten des Geistes, die sich wie jene gemäß fester Gesetze etwa der Kontiguität und Ähnlichkeit voll automatisch-mechanisch und mithin geistlos verhalten. Ergänzt wird dieser Ansatz durch Elemente aus dem englischen Empirismus, durch die sich die Frage Goldsteins nach dem Woher der Dynamik des in dieser Zuspitzung mechanisch verstandenen Geistes eindeutig beantwortet: die Tätigkeit des Geistes wird ausschließlich als ein mechanischer Prozess verstanden, der nach immer gleichen, festen Gesetzen abläuft, bei dem die über die Sinnesorgane in den Organismus aufgenommenen Eindrücke als Datenpakete auf die geistigen Basiseinheiten übertragen werden. Die Existenz einer selbstständig Inhalte synthetisierenden Instanz, die in Freiheit ihr selbst gesteckte Zielen verfolgt, wird verneint. 195 Michael Hagner, Homo cerebralis – Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Berlin 1997, S. 226; Kurztitel: M. Hagner, Home cerebralis. 196 Zum Faschismusvorwurf gegen die Lebensphilosophie vgl. Robert Josef Kozljani , Lebensphilosophie. Eine Einführung, Stuttgart 2004, S. 19–28. 197 Einen Höhepunkt dieses Ansatzes verkörpert Jakob von Uexküll, Staatsbiologie. Anatomie – Physiologie – Pathologie des Staates, Berlin 1920. 198 Zum Folgenden vgl. A. Harrington, Ganzheit, S. 50–57; U. Noppeney, Abstrakte Haltung, S. 27f.

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Viele der mit diesem Problem befassten Forscher sahen in dieser Theorie eine Metatheorie des Geistes, die jeder philosophischen Geistphilosophie vorausgehen und diese auf den gesicherten Boden der Empirie stellen sollte. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. wurde dieser zunächst in England entwickelte Ansatz in Frankreich u.a. durch Paul Brocas Arbeiten zur Aphasie, zu einem Neuansatz der Phrenologie als der Lehre von der Organisation des menschliche Gehirns auf der Basis atomistischer Einheiten ausgearbeitet, denen jeweils verschiedene Arbeitsbereiche 199 zugeordnet waren. Auch in Deutschland entwickelte sich die Assoziationslehre, die zunächst weitgehend von philosophischen Prämissen bestimmt war, vor diesem Hintergrund zu einer, die experimentelle Praxis leitenden Hypothese weiter. Johann Friedrich Herbart, Ernst Heinrich Weber, Gustav Theodor Fechner und Wilhelm Wundt sind nur die wichtigsten Namen, die wesentlichen Anteil an dem Versuch hatten, die Psychologie als eine experimentelle Wissenschaft vom Bewusstsein in die Reihe der nach dem Ideal der Physik konzipierten Naturwissenschaften einzureihen. Ein wesentlicher Schritt, der große Auswirkungen auf die Entwicklung der Hirnphysiologie hatte, war zudem die durch Gustav Fritsch und 200 Eduard Hitzig 1870 publizierte Studie zu Hirnreizexperimenten , die den Schluss nahe legte, das die Hirnrinde wie auch das Rückenmark und subcortikale Bereiche des Hirns keineswegs nur für geistige Aktivitäten verantwortlich zeichnen, sondern auch Empfindung und Bewegung von spezifischen Aktivitäten der Großhirnrinde abhängig waren. Diese Versuche und ihrer Auswertung sowie die Art der bildlichen Darstellung der Ergebnisse in Form von Hirnkarten, die das Hirn in voneinander differenzierte Regionen einteilte, bildeten den Auftakt zur 201 modernen Lokalisationstheorie. Erst mit der Übertragung der Ergebnisse auf das menschliche Gehirn (Fritsch und Hitzig hatten ausschließlich an Hunden experimentiert) und der Verfeinerung dieses Ansatzes konnte die Verknüpfung von Hirnphysiologie und Neuropathologie gelingen, da es nun möglich wurde, die in Hirnreizexperimenten erzielten Ergebnisse mit den an klinischen Fällen beobachteten Erscheinungen abzugleichen und so zu einer differenzierten Kartierung der Großhirnrinde zu gelangen. Auf diesen Versuchen konnte 1874 der spätere Lehrer Goldsteins, Carl Wernicke mit seiner in Breslau erschienenen Arbeit ‚Der Aphasische Symptomkomplex: Über das Problem des Sprachverlusts (Aphasie) und seine Lokalisierung im Gehirn‘ aufbauen, die sich auf die fundamentale Weiterentwicklung der Hirnanatomie durch seinen Lehrer Theodor Meynert stützen konnte. Auf der Basis von Meynerts Theorie von lokalisierten psychischen Funktionen, „die alle als Resultate einer Verknüpfung und Verarbeitung von Sinnesrei199 Zu Paul Brocas Aphaseologie vgl. M. Hagner, Homo cerebralis, S. 235ff; Peter Düeweke, Kleine Geschichte der Hirnforschung. Von Descartes bis Eccles, München 2001, S. 58f; E. Oeser, Hirnforschung, S. 158f. 200 Zu Goldsteins Kritik an den Hirnreizexperimenten von Fritsch und Hitzig vgl. K. Goldstein, AO, S. 161. 201 Vgl. M. Hagner, Home cerebralis, S. 273ff.; O. Breidbach, Materialisierung des Ichs, S. 167; 245ff.; E. Oeser, Hirnforschung, S. 172f.

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zen anzusehen sind, die selbst wieder Resultate von neuroanatomischen identifi202 zierbaren Nervenverbindungen sind“ , gelang Wernicke die Unterscheidung und Lokalisierung von sensorischen und motorischen Zentren im Gehirn, durch deren Interaktion nach den Gesetzen der Assoziation er die Phänomene des Geistes bzw. des Bewusstseins vollständig erfasst sah. Als Modell für das Verständnis ihrer Funktion diente u.a. das Beispiel der Telegraphenleitungen. Die verschiedenen Ausprägungen der Aphasien – so können Patienten etwa Wörter aussprechen, ohne ihren Sinn zu verstehen oder aber sie verstehen offensichtlich sprachliche Äußerungen Anderer und können sich über Gesten artikulieren, ohne sich selbst dabei in verbaler Form äußern zu können – gehen somit auf Störungen entweder des motorischen bzw. sensorischen Zentrums oder der beide verbindenden Lei203 tungsbahnen zurück. Der Verdienst Wernickes bestand vor allem darin, dass es ihm gelang die neueren Befunde aus der Anatomie mit den zahlreichen klinischen Berichten zu einer Theorie der Aphasie zusammenzufassen, die die verschiedenen Aspekte zufriedenstellend klärte. Damit formulierte er einen Ansatz, der – mit kleinen Veränderungen im Detail – bis heute als Erklärungsmodell für Sprachstörungen anerkannt ist. Goldsteins Kritik betrifft zunächst nicht grundsätzlich die Lokalisation von Funktionen im Hirn im Einzelnen – weder bestreitet er die histologische Differenzierung der Großhirnrinde noch die damit einhergehende funktionale Differenz – doch äußert er an verschiedenen Stellen Kritik, die sich vor al204 lem auf die Anwendung in der klinischen Praxis bezieht und auch materiale Aspekte der Theorie betrifft: „Wir leugnen mit unserer Auffassung keineswegs die besondere Bedeutung bestimmter Strukturen; es ist ja auch keine Frage, dass es solche gibt. Der Organismus ist ja ein Gebilde von qualitativer Gestaltung, ja extrem ausgedrückt, könnte man sagen: nicht zwei Stellen am Organismus sind einander gleich, und der Defekt jeder Stelle bewirkt immer eine etwas andere Veränderung.“205

Seine Kritik setzt – neben der Nennung einer Reihe von Fällen, die sich mit dem Modell Wernickes nicht bzw. nur schwer erklären lassen – mit anatomischen, klinischen und psychologischen Aspekten auf drei Ebenen an. Zunächst lehnt Gold202 E. Oeser, Hirnforschung, S. 161. 203 Vgl. Ebd., S. 162f. 204 Anne Harrington beschreibt die sich an Wernicke anschließende klinische Praxis so: „Generationen von Medizinstudenten lernten, mit Papier-und-Bleistift-Diagrammen von den Gehirnzentren und -verbindungen bewaffnet, den fragmentierten bzw. chaotischen sprachlichen Äußerungen ihrer Patienten zuzuhören, nicht etwa (wie spätere Generationen beklagen sollten) wegen der Geschichten, die sie hätten erzählen können, sondern als Indikatoren für diese oder jene Form der Beschädigung: Sie ähnelten dabei einem Mechaniker, der sich das unregelmäßige Stottern eines Automotors anhört. Bei diesem Nicht-Dialog fand die letzte Zusammenkunft von Arzt und Patient normalerweise bei der Autopsie des Patienten statt, wenn der Neurologe die Genauigkeit seiner Prognose anhand des nun offen gelegten pathologischen bzw. beschädigten Zustands des Gehirns überprüfen konnte.“ A. Harrington, Ganzheit, S. 56f. 205 K. Goldstein, AO, S. 174.

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stein die schematische Anwendung von Wernickes Modell ab, die jeder Schädigung eines bestimmten Ortes einen bestimmten Erscheinungsausfall bzw. eine -auffälligkeit zuordnet und davon ausgehend Rückschlüsse auf die normale Funktion des betroffenen Hirnareals anstellt. Goldstein sieht in diesem Vorgehen eine Entdifferenzierung der zu beobachtenden Vorgänge. Neben den lokalisatorischen Faktoren einer Erkrankung interessieren ihn vor allem deren qualitative Aspekte: von besonderer Bedeutung sei das Wie der Schädigung, denn die histopathologischen Veränderung seien je nach Art der Erkrankung und dem Stadium, das aktuell durchlaufen wird, sehr unterschiedlich. Zudem falle bei der gängigen Diagnostik das Auftreten des Symptoms und die anatomische Analyse, die in den allermeisten Fällen erst post mortem erhoben werden könne, zeitlich oft weit auseinander, so dass sich die anatomischen Grundlagen häufig als nicht so eindeutig, 206 wie oft vorausgesetzt, erweisen. Der zweite Kritikpunkt Goldsteins bezieht sich 207 auf die klinische Diagnostik. Im Anschluss an Constantin von Monakow fordert er mit der Unterscheidung von Initial- und Residuärsymptomen als einer weiteren Differenzierungsstufe das Bemühen um die Unterscheidung der ursprünglichen 208 pathologischen Erscheinungen und den reaktiven Faktoren des Organismus ein. Vom psychologischen Standpunkt kommt zudem hinzu, dass Goldstein zwar eine eindeutige Lokalisation von primitiven Vorgängen zugesteht, für komplizierte psychische Abläufe aber eine Tätigkeit des Hirns als Ganzes voraussetzt, so dass immer mit kompensatorischen Effekten gerechnet werden müsse, die das sich in der klinischen Praxis bietende Krankheitsbild erheblichen Modifikationen unter209 werfen können. (3) Abschließend ist zur Komplettierung des Hintergrunds, der für Goldsteins Formulierung einer s.E. dem Lebendigen angemessenen naturwissenschaftlichen Methode wichtig ist, noch kurz auf seine Einschätzung der Psychoanalyse Freud210 scher Prägung einzugehen. Da Goldstein seine ablehnende Haltung hier ähnlich begründet, wie er das eingehend für die beiden vorgenannten Theorien getan hatte, braucht auf diesen Punkt an dieser Stelle nicht wiederholt intensiv eingegangen werden. Zusätzlich ist es aber notwendig, die Aspekte herauszustellen, die Goldstein an der Psychoanalyse kritisiert und von seinem eigenen Ansatz her dem Versuch einer Neuformulierung unterzieht.

206 Vgl. Ebd., S. 162f. 207 Zu Constantin von Monakow vgl. A. Harrington, Ganzheit, S. 145–196. 208 Vgl. Ebd., S. 163. 209 Vgl. Ebd., S. 164f. 210 Hierfür werde ich mich vor allem auf den Text ‚Das psycho-physische Problem‘ beziehen. Zwar widmet Goldstein auch im Aufbau des Organismus der Psychoanalyse ein ganzes Kapitel, doch beschäftigt er sich dort nicht so sehr mit den methodischen Aspekten, sondern entwickelt anhand seiner Kritik des Unbewussten Ansätze zu einer eigenen Anthropologie, auf die später einzugehen ist. Zu Goldsteins Verhältnis zu Freud vgl. auch G. Danzer (Hg.), Leben und Werk Kurt Goldsteins, S. 30ff.

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Zunächst weist Goldstein auf die strukturelle Gemeinsamkeit der Psychoanalyse mit der Reflextheorie und der Assoziationspsychologie hin, die für ihn letztlich darin besteht, dass sie – wenn auch mit unterschiedlichen Vorzeichen – die gleiche 211 atomistisch-mechanistische Sicht des Organismus zugrunde legt , die er für eine wissenschaftliche Erfassung des Lebens als gänzlich unangemessen einstuft: „Somatische Medizin und Psychotherapie sind beide Ausfluss des atomistisch-materialistischen Denkens, das um die Wende des Jahrhunderts die Medizin beherrsch212 te.“ Bei Freud selbst sieht er dieses letztlich ungebrochene Verhältnis zum wissenschaftlichen Paradigma des 19. Jh. vor allem in den Versuchen gegeben, das Seelenleben als einen nach festen Regeln ablaufenden Prozess zu beschreiben – selbst wenn gleichzeitig das Erfassen der Persönlichkeit des Patienten als Ganzes intendiert sei. An dieser Art der Einordnung Freuds durch Goldstein wird deutlich, dass dieser Freud zwar zubilligt, auf der Schwelle zum Durchbruch eines 213 neuartigen Paradigmas gestanden zu haben , die Goldstein als das Gebot der Stunde versteht. Gleichzeitig aber denke Freud noch in den selben naturwissenschaftlichen Paradigmen, wie sie etwa der ‚Psychologie ohne Seele‘ der Assoziationspsychologen zugrunde lagen. Damit diene sich Freud gegen seine ursprüngliche Intention dem Ideal einer Wissenschaft an, der er eigentlich kritisch ge214 genüber stand, und die ihrerseits seiner Theorie mit großer Skepsis begegnete. Auf der inhaltlichen Ebene setzt sich Goldstein zudem kritisch mit Freuds Trieblehre und seiner Lehre des Unbewussten auseinander, in denen er den Inbegriff des Beibehaltens einer atomisierenden Sicht des Menschen formuliert findet. Goldstein nährt sich der Auseinandersetzung mit Freuds Lehre vom Unbewussten gemäß seiner Maxime, dass es in der Beschreibung lebendiger Vorgänge letztlich nur positive Bestimmungen geben kann. Von daher geht er von dem Versuch einer Definition des Bewusstseins aus, das er als „eine bestimmte Verhaltensweise menschlichen Seins sowie den Inbegriff all der Erscheinungen, die dieser zugehö215 ren“ versteht. Diese Verhaltensweise, umfasst drei unterschiedliche Ebenen, die die Relation des Menschen zu sich selbst und seiner Umwelt betreffen: Für die erste Ebene, bei der Goldstein lieber von ‚etwas bewusst haben‘ als von einem ‚bewusst sein‘ spricht, an der Differenzierungen lediglich nach Grad und Umfang 216 möglich sind , ist entscheidend, 211 Vgl. Ebd., S. 200ff. 212 K. Goldstein, PPP, S. 4. 213 Vgl. Ebd., S. 1f. 214 Vgl. Ebd. Ähnlich auch K. Goldstein, HN, S. 165ff. Dort (besonders S. 169) fasst Goldstein seine Einschätzung Freuds wie folgt zusammen: „With all my critism, I do not wish to give the impression that I am blind to the enormous merits of Freud. Yet even a genius is a child of his time. If I see it correctly, it was Freud’s fate not to achieve the goal of understanding human behavior to its very dephts – a goal to which he came nearer than anyone else – because of his preoccupation with certain prejudices of the natural science of his time.” 215 K. Goldstein, AO, S. 205. 216 Vgl. Ebd., S. 206.

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Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie

„dass der Betreffende eine ‚gegenständlich‘ gegliederte Welt hat, die seinem ‚gegenständlichen‘ Ich als Objekt einem Subjekt gegenübersteht. Diese Welt kann ‚wahrnehmungs‘ und ‚vorstellungs’mäßig gegeben sein. Er ‚weiß‘ von der Welt und dem Ich als objektivem Sein. Dies entspricht einer bestimmten Verhaltensweise des Or217 ganismus, wie wir vorher sahen einer besonders hochwertigen.“

Auf der zweiten Ebene, die eher mit ‚bewusst sein‘ zu umschreiben ist, fasst Gold218 stein unter dem Begriff des „Erleben[s; K.B.]“ die emotionalen Aspekte zusam219 men, die nach ihrer Ausrichtung und Gestaltung zu unterscheiden sind. Während also die erste Ebene die „Trennung von Ich und Außenwelt“ betont, so stellt 220 die zweite Ebene das „Sein in der Welt“ heraus, ohne das eine der beiden Ebenen gesondert von der anderen wahrgenommen werden könnte: „Sie treten norma221 lerweise immer eingebettet in ein allgemeines Milieu des bewusst Habens auf.“ Zu diesen zwei Ebenen treten als Drittes noch die körperlichen Vorgänge hinzu, die keine Erlebnisqualität haben und nur in künstlicher Isolierung indirekt aufgewiesen aber niemals bewusst gemacht werden können: „Wir haben sie weder, 222 noch sind wir sie, sondern sie werden in uns.“ Allein an ihnen ist Zeit, Ort und 223 Intensität der ablaufenden Vorgänge zu differenzieren. Wenn bei der Verwendung der Termini konsequent berücksichtigt wird, dass es sich bei ihnen nicht um ontologische Gegenstände sondern um charakteristische Akzentuierungen bestimmter Verhaltensweisen und damit um Abstraktionen am Ganzen des Organismus handelt, können die beschriebenen Ebenen mit den Begriffen Geist, Seele 224 und Köper identifiziert und von einander abgegrenzt werden. Auf die herausragende Bedeutung bezüglich des ontologischen Status der zuletzt gemachten Aussagen möchte ich im Folgenden (2.3) detaillierter eingehen. Der Umstand, das Goldstein in seine Definition von Bewusstsein mit den körperlichen Vorgängen einen Aspekt aufnimmt, den er selbst als etwas niemals bewusst werden Könnendes im Sinne der beiden ersten Ebenen vorstellt, wird vor dem Hintergrund seiner spezifisch weiten Fassung des Bewusstseinsbegriffes, der alle Verhaltensweisen und Erscheinungen am menschlichen Sein umfasst, deutlich. So kann auch etwas, das der Mensch nicht ‚bewusst hat‘ zum Bewusstsein gehören. Für die kritischen Auseinandersetzung mit der Lehre vom Unbewussten bei Freud ist es vor diesem Hintergrund wichtig, dass für die Erinnerung an bestimmte Situationen eine spezifische Relation der drei Ebenen zueinander kennzeichnend ist, die unter bestimmten Umständen wieder hervortreten kann. Dieser Vorgang ist mit Goldstein nicht als ein ‚Einbruch des Unbewussten‘ zu verstehen, 217 Ebd., S. 205. 218 Ebd. 219 Vgl. Ebd., S. 206. 220 Ebd. 221 Ebd. 222 Ebd. 223 Vgl. Ebd. 224 Vgl. Ebd.

Grundbegriffe der Organismustheorie Kurt Goldsteins

sondern letztlich die Kehrseite des sich als „fortwährende Neugestaltung“ ziehenden Prozesses des alltäglichen Lebens:

173 225

voll-

„Das, was als Unbewusstes erscheint, ist nichts anderes als das in eine Reaktion Eintreten einer früheren Erregungsgestalt des Organismus, wenn die Situation dazu geeignet ist. Es handelt sich um nichts anderes als um eine bestimmte Form der Erinnerung, des Gedächtnisses.“226

Neben dieser grundsätzlichen Kritik an Freuds Lehre vom Unbewussten, steht noch die vor dem Hintergrund der Dynamik des Lebendigen relevant werdende Ablehnung der Trieblehre. Goldstein formuliert seine Kritik so: „Die Auffassung Freuds, dass das Leben durch einen Trieb beherrscht wird, dessen Wesen es ist, zur Entspannung zu führen, muss notwendig zu der Anschauung führen (…), dass das Ziel die vollkommene Entspannung, der Tod, ist, der Zerfall ins Anorganische.“227

Mit dieser zugespitzten Aussage, die den wesentlichen Aspekt des Lebens in seinem Streben hin zur Selbstauflösung im Todestrieb sieht, identifiziert Goldstein bei Freud eine letztlich in sich widersprüchliche Sicht auf das Leben, die er als nicht mit den Phänomenen, wie sie sich ihm in seiner Praxis als Arzt und Natur228 wissenschaftler zeigen, gedeckt sieht. Dass Goldstein mit den Begründungen seiner Ablehnung Freuds und dessen Theorie der Psyche des Menschen dem Ge229 genstand in seiner Reichweite nicht gerecht wird, ist bereits früh erkannt worden und soll an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden, da ich zu einem späteren Zeitpunkt auf Goldsteins psychologische Ansätze zurückkommen werde.

225 Ebd., S. 211. 226 Ebd., S. 216. 227 K. Goldstein, AO, S. 217. 228 Goldstein fasst seine Sicht der Theorie Freuds so zusammen: „Der Tod wird zum Ziel des Lebens. Damit wird das Leben in seiner Eigenart eigentlich allerdings völlig unbegreiflich. Der Gegenstand der Biologie schwindet, weil das Leben durch den falschen theoretischen Ansatz fortdiskutiert ist.“ Ebd., S. 217. 229 Vgl. dazu Siegmund Heinrich Fuchs, Zum Stand der heutigen Biologie. Dargestellt an Kurt Goldstein: „Der Aufbau des Organismus“, in: Imago. Zeitschrift für Psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen, Bd. 22 (1936), Wien, S. 210–241. Dort schreibt er (S. 213): „Es kann nur für G. sprechen, dass ich niemals meine Kritik verlor und keinen Grund fand, sie zu verbergen oder zu verkleinern. Besonders wenn es um die Psychoanalyse ging, mit der ich mich gerade neuerdings wieder intensiver zu beschäftigen begann, sah ich deutlich, dass hier auf nicht zulänglicher Basis Kritik geübt wurde, dass das Werk Freuds, nur teilweise gekannt, schon im Aufgreifen umgeformt war und dann kritisiert wurde. Ich habe später gelernt, dass die Stellung eines Menschen und Forschers zur Analyse ein ganz besonderes Kapitel ist und keine Rückschlüsse auf andere Gebiete zulässt.“ Eine deutlich positivere Deutung der Bezüge Goldsteins zu Freud gibt findet sich bei G. Danzer (Hg.), Leben und Werk Kurt Goldsteins, S. 137ff., 148f.

174

Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie

2.3

Ganzheit des Organismus – Basistheorie der Biologie des Menschen

Bei der Formulierung seines eigenen Entwurfs hat Goldstein vor allem zwei Schwerpunkte im Blick: Zum einen wendet er sich dem großen Fragenkomplex nach der Verhältnisbestimmung von Ganzem und Teil zu. Wie bereits gesehen, geht es ihm darum, die differenten Phänomene am Organismus, wie er sie in der analytischen Naturwissenschaft repräsentiert sieht, in ein Bild vom Organismus zu integrieren, das die Einzelphänomene aus ihrer fundamentalen Beziehung vom Ganze her versteht, womit die Frage nach der Relation beider Ebenen in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten muss. Zum anderen – und mit dem ersten Punkt eng verknüpft – hat er sich gegen den Vorwurf abzusichern, er führe in seine Theorie vom Organismus mit dem systematisch so bedeutsamen Bezug auf die Ganzheit eine metaphysische, weil potenziell vitalistische Komponente ein. Im Folgenden möchte ich versuchen zu zeigen, wie Goldstein diese beiden Hauptaspekte bei der Ausarbeitung seiner Methode der Biologie in Ausgleich zu bringen versucht, und welche Ansprüche er dabei an seine Konzeption formuliert. Dazu ist es zunächst notwenig, an die eingangs zitierte Ansicht Goldsteins bezüglich der Methode der Biologie zu erinnern: wie ihr Gegenstand – das Leben, wie es in den lebendigen Wesen erscheint – so zeigt sich auch die ihm angemesse230 ne Methode erst im Vollzug ihrer Anwendung. Erst wenn Gegenstand und Methode in ein adäquates Entsprechungsverhältnis gebracht werden können, ist bio231 logische Erkenntnis möglich. Goldstein fasst das Spezifische seines Standpunkts wie folgt zusammen: „Er [der Standpunkt; K.B.] erstrebt zwar eine Erkenntnis des Wesens durch einen vom analytisch-synthetischen abweichenden Erkenntnisprozess, ja, es erscheint ihm als die eigentliche Aufgabe der Biologie die Wesenheiten, die die Organismen darstellen, in ihrer Besonderheit möglichst klar zur Anschauung zu bringen, er meint aber, dass dieses Vorgehen die gleiche Exaktheit wie die sogenannte naturwissenschaftliche Forschungsrichtung enthält.“232

Dabei ist er stets betont darum bemüht, den zentralen Begriff des Wesens sowohl aus philosophischer als auch naturwissenschaftlicher Perspektive möglichst ‚metaphysikfrei‘ im vitalistischen Sinne zu halten und ihn immer wieder durch das Referat der Ergebnisse eigener Arbeiten oder der seiner Kollegen an den intern naturwissenschaftlichen Diskurs rückzubinden. Wichtig ist zum einen die intensive Reflexion über die Methode selbst, durch die Goldstein Positionierungen in den naturphilosophischen Diskussionen seiner Zeit vornimmt und einen eigenständigen Standpunkt vertritt. Zum anderen – und an dieser Frage scheiden sich traditionell die Geister – versucht er, den Ganzheitsbezug seiner Theorie nicht als

230 Vgl. K. Goldstein, AO, S. 6. In dieser Arbeit vgl. Kap. II, 2. 1 (1). 231 Vgl. Ebd. 232 Ebd., S. 256.

Grundbegriffe der Organismustheorie Kurt Goldsteins

175

im Gegenüber zur Empirie stehend, sondern als ihre wahre Anwendung und Ausgestaltung zu konzipieren. Dabei ist mit dem formulierten Ziel der Wesensbestimmung der Versuch umschrieben, aus der Masse der möglicherweise zu erhebenden Faktoren die dem Organismus wesentlichen Elemente von den unwesentlichen zu scheiden. Als Kri233 terium dafür gibt Goldstein „die relative Konstanz des Organismus“ in Zeit und Raum an, für das ausschließlich positiv gegebene, empirisch nachweisbare Fakto234 ren in Frage kommen sollen : „Gegenüber dem vielfältigen, ja widersprechenden Charakter der Einzeltatsachen steht der Organismus selbst als ein Gebilde vor uns, das trotz aller Schwankungen in verschiedenen Situationen, trotz Entfaltung und Vergehen im Laufe des individuellen Lebens eine relative Konstanz bewahrt. Wäre das nicht der Fall, so könnten wir einen bestimmten Organismus nie als solchen wiedererkennen, ja nie als solchen ‚erkennen‘, ja, wir würden nie von einem bestimmten Organismus überhaupt sprechen können.“235

Jeder untersuchte Faktor ist im Verlauf des Erkenntnisprozesses vor allem unter der Fragestellung zu betrachten, ob und in welcher Weise er geeignet ist, diese relative Konstanz aufrecht zu erhalten. Kriterien dafür können für Goldstein keinesfalls ausschließlich Ergebnisse aus Versuchen sein, die vor den oben genannten Hintergründen konzipiert wurden. Lediglich aus der methodisch kontrollierten Beobachtung des natürlichen, alltäglichen Leben des unversehrten Organismus 236 lassen sich bezüglich der relativen Konstanz Schlussfolgerungen ziehen. Dahinter steht der Anspruch, aus dem Verhalten, der Gestaltung der Wahrnehmung, bestimmten Haltungen, die ein Organismus bei unterschiedlichen Anforderungen 237 bevorzugt einnimmt , Antworten auf die Frage nach der spezifischen Dynamik des Lebens zu erhalten, ohne auf die Einführung metaphysischer Spekulationen – etwa einer Lebenskraft – angewiesen zu sein. Die Frage nach dem Woher der Richtung im Organismus beantwortet Goldstein mit dem von ihm so benannten Konzept des ‚ausgezeichneten Verhaltens‘: Aus der Beobachtung, dass nicht alle im Experiment zu beschreiben möglichen Verhaltensweisen eines Organismus 233 Ebd., S. 220. 234 Ebd., S. 261. 235 Ebd. 236 So fragt Goldstein etwa nach dem Wert von Versuchen an enthirnten Tieren: zwar sei es von gewissem Interesse bezüglich der Funktionsweise des Vegetativen Nervensystems zu sehen, dass Tiere, denen man das Großhirn entfernt, unter Laborbedingungen mit normalen Verhaltensweisen wie Nahrungsaufnahme, Temperatur und Puls am Leben bleiben. Für das Verstehen des Verhaltens im alltäglichen Leben, in dem Goldstein sich das Wesen des Organismus ausdrücken sieht, tragen solche Untersuchungen allerdings wenig aus. Vgl. die Schilderung und Einordnung dieser Versuche durch K. Goldstein, AO, S. 236f. 237 Im Folgenden verwendet Goldstein einen sehr weiten Verhaltensbegriff, der sowohl handlungsorientierte Aspekte also auch spezifisch für die Wahrnehmung relevante Faktoren sowie Fragen bestimmter Körperhaltungen, die bereits in der Auseinandersetzung mit der Reflextheorie relevant waren, umfasst.

176

Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie

unter natürlichen Umständen auch tatsächlich nachweisbar sind, leitet Goldstein die Folgerung ab, dass offensichtlich jeder Organismus über eine Reihe von spezifische Verhaltensmustern verfügt, die er bevorzugt. Von Goldsteins Probanden und Patienten wird die Durchführung dieser Muster subjektiv als richtig, leicht 238 und angenehm empfunden. Die bisher gegebenen Antworten auf die Frage „aus 239 welchen Gründen sind denn die ‚ausgezeichneten‘ Verhaltensweisen die ausgezeichneten?“ 240 befriedigen Goldstein nicht. Er vermisst an ihnen den ganzheitlichen Bezug. So führt er Beispiele aus seiner Praxis dafür an, wie ausgezeichnetes Verhalten durch geringfügige Veränderungen am Organismus sowohl gestört als auch herbeigeführt werden kann. Die Beobachtung, dass etwa die fast unmerklichen Kopfbewegungen es dem Patienten Schneider ermöglichten zu Lesen, während er beim Unterbinden dieser Bewegungen bei gleicher Aufgabenstellung die an ihn gestellten Anforderungen nicht mehr zu erfüllen im Stande war, führt Goldstein als Beleg für seine Theorie an. Zusammenfassend schreibt er: „Das ist nicht nur im allgemeinen ein Zeichen dafür, dass es keinen isolierten Vorgang gibt (…), sondern im speziellen, dass ausgezeichnetes Verhalten an einer Stelle immer ausgezeichnetes Verhalten am ganzen Organismus bedeutet resp. nur möglich ist, wenn auch der übrige Organismus in ausgezeichneter Situation sich befindet.“241

Neben diesem Bezug auf das Ganze des Organismus, widmet Goldstein der dynamischen Komponente besondere Aufmerksamkeit, die mit dem Bild vom ausgezeichneten Verhalten als eines vom Organismus stets angestrebten Zustandes im Austausch mit Umweltfaktoren einhergeht: „die Tendenz zum ausgezeichneten Verhalten ist der Ausdruck dafür, dass der Organismus immer wieder einer Situa242 tion zustrebt, in der er Adäquatestes leisten kann.“ Die Variationen in diesem Verhalten versteht Goldstein als Streben des Organismus, trotz immer wieder auftretender Störungen, seine bevorzugte Positionierung zur Umwelt neu zu vollzie243 hen bzw. einen bevorzugten Zustand beizubehalten. Aus den hier angeführten Aspekten bildet sich für Goldstein dann ein weiteres Kriterium, das für die Wesenserkenntnis der Organismen von außerordentlicher Bedeutung ist: als wesenhaft einzustufende Eigenschaften bzw. Leistungen müssen die Anforderung erfüllen, nicht nur an Teilen sondern immer auch an den unterschiedlichsten Stellen des Organismus nachweisbar zu sein. Erst wenn sich einzelne Aspekte als für den Organismus in seiner Ganzheit konstant erweisen, kann von einer wesenhaften 238 Vgl. Ebd., S. 227. 239 Ebd., S. 231. 240 So lehnt Goldstein sowohl die Vorstellung ab, ausgezeichnetes Verhalten sei auf physiologische und anatomische Strukturen zurückzuführen, als auch die eher formal argumentierende Theorien, die die größtmögliche Einfachheit wie etwa den minimalen energetischen Aufwand als das bevorzugte Verhalten eines Organismus annehmen. Vgl. Ebd., S. 228f. 241 Ebd., S. 235. 242 Ebd. 243 Vgl. Ebd., 236.

Grundbegriffe der Organismustheorie Kurt Goldsteins

177

244

Eigenschaft gesprochen werden. Auf diesem Weg „erfüllt sich der zunächst recht formale Begriff des Wesens des Organismus mit solchen Inhalten, die wir nach 245 naturwissenschaftlicher Betrachtung als Tatsachen zu bezeichnen pflegen.“ Damit wird auch deutlich, dass der Wesensbegriff, wie Goldstein ihn hier verwendet, nur sehr entfernt im phänomenologischen Sinne Husserls verstanden werden kann. Goldstein geht es gerade nicht um eine, in der eidetischen Reduktion vorgenommene, sich weg von den empirischen Tatsachen hin zu einer „Wesenslehre (…) 246 transzendental reduzierter Phänomene“ bewegenden Wesensbestimmung der Natur. Allerdings hat sein naturwissenschaftliches Konzept – im Sinne der von Husserl beschriebenen möglichen Bezüge zwischen Tatsachen- und Wesenswissenschaften – zwangsläufig teil an Husserls Modell der Wesenserkenntnis: „Dazu kommt (…), dass jede Tatsache einen materialen Wesensbestand einschließt und jede zu den darin beschlossenen reinen Wesen gehörige eidetische Wahrheit ein Gesetz abgeben muss, an das die gegebene faktische Einzelheit, wie jede mögliche überhaupt, gebunden ist.“247

Neben dieser zwangsläufigen Teilhaftigkeit der Tatsachenwissenschaften an Elementen der eidetischen Wissenschaften, speist sich der Wesensbegriff bei Goldstein aus zwei Quellen, die es ihm ermöglichen, sowohl das Einzelne und das Allgemeine – sei es das Zusammenspiel von Glied und Ganzem im einzelnen Organismus oder die Relation des einzelnen Organismus zum allgemeinen Wesen des Lebens bzw. der Natur – in seiner grundsätzlichen Bezogenheit aufeinander zu denken, als auch die erkenntnistheoretischen Fragen mit der empirischen Methodik in Beziehung zu setzen. Denn zum einen orientiert sich Goldsteins Wesenbegriff an Kant und Cassirer, in dem als Voraussetzung von biologischer Erkenntnis die Idee vom Wesen der Natur im Sinne eines Funktionsbegriffs verstanden wird. Im Anschluss an Cassirer ist es die Aufgabe der Naturwissenschaft, nicht ein naives, begriffliches Abbild der Natur zu schaffen, sondern ein kohärentes Netzwerk an Begriffen und Symbolen – wie es die Mathematik und die Physik seit je her unternehmen – zu entwerfen, das Strukturen und Funktionszusammenhänge ver248 stehbar und in gewissen Maße auch vorhersehbar macht. Das Konzept des ausgezeichneten Verhaltens sieht er am ehesten noch mit Kants Teleologieverständnis 244 Goldstein sieht diese Konstanten in verschiedenen Bereichen, „etwa auf dem Gebiet der Verhaltensweisen, solche in Bezug auf die sensiblen, die motorischen Schwellen, ‚intellektuelle‘ Charakteristika, Konstanten der ‚Affektivität‘, ‚psychische‘, ‚körperliche‘ Konstanten, Konstanten auf dem Gebiete der Temperatur, der Atmung, des Pulses, des Blutdruckes, Konstanten im Sinne eines bestimmten Verhältnisses von Calcium und Kalium, eines bestimmten Reaktionstypus gegenüber bestimmten Giften etc.“ Ebd., S. 238. 245 Ebd. 246 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Husserliana III/1, Den Haag 1976, S. 4; Kurztitel: E. Husserl, Reine Phänomenologie. 247 Ebd., S. 18. 248 K. Goldstein, AO, S. 248.

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Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie

verwandt. Weil es aber in der Biologie – insbesondere in der Biologie des Menschen – einen engen Zusammenhang zwischen Erkennen und – beispielsweise und in diesem Fall naheliegend in der Praxis des ärztlichen Handelns – Ethik gibt, müssen die in der biologischen Forschung zur Anwendung kommenden Symbole die Elemente der Qualität und Individualität in sich aufnehmen: „Das Symbol 249 muss den Charakter einer ‚Gestalt‘ aufweisen.“ Zum anderen geht für Goldstein 250 damit zwangsläufig die „Unvollkommenheit und Unsicherheit der Wesenserkenntnis“ einher, die auf weitergehende Forschungsergebnisse empirischer Art angewiesen ist und bliebt. Allerdings beinhaltet dieser zweite Aspekt erheblichen Modifikationen des klassischen Ideals der Empirie: Zum einen hat sie im Bereich der Biologie ein der Quantität übergeordnetes Prinzip der Qualität zu berücksichtigen, zum anderen enthält sie ein – unter Berufung auf die neue Atomtheorie Einsteins und Bohrs – mit dem qualitativen Element einhergehendes Moment der Akausalität, so dass in Untersuchungen mit Blick auf das Individuum immer nur Durchschnittsbzw. Wahrscheinlichkeitswerte erhoben werden können, die vor allem in der medizinischen Praxis reflektiert und als Herausforderung angenommen werden müs251 sen. Mit dem Wesensbegriff bei Goldstein haben wir es also mit einem Integrationsbegriff zu tun, der die Elemente der Qualität und Quantität ineinander zu denken versucht. Ähnlich wie bei Tillich finden sich also bei Goldstein Bestrebungen, innerhalb der Biologie vermeintlich Gegensätzliches zu vereinen: bei Tillich bedingte die spezifische Zuordnung von Sein und Denken in der Biologie das Zusammendenken des Besonderen und des Allgemeinen. Dieser Umstand schlug sich wie bei Goldstein auch in der Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung und sensiblen Neujustierung der biologischen Methodik nieder. Nicht die metaphysische Frage nach dem Grund des real gegebenen Seins des Organismus im aristotelischen Sinne, sondern eine Idee vom Ganzen des Organismus als eines Funktionsbegriffes im Sinne Cassirers bildet den Ausgangspunkt 252 des biologischen Erkennens in der Konzeption Goldsteins. Der Begriff der Idee, wie er bei Goldstein von Kant her kommend auftaucht, hat dabei etwas eigentümlich Schillerndes: zum einen geht sie dem Einzelversuch als forschungsleitende Hypothese voraus, die aus nichts als der freien Tätigkeit des Geistes im Sinne Kants und Cassirers besteht, und nimmt so für sich eine vorauslaufende Plausibilität in Anspruch, die sich nicht auf der Auswertung empirischer Daten gründet. Zum anderen hat sie sich vor dem Hintergrund der mit Hilfe ihrer Autorität in Fragen der Wirklichkeitserkenntnis immer wieder neu erhobenen empirischen Daten stetigen Modifikationen zu unterwerfen. Der Weg, auf dem sich dieser Forschungsprozess vollzieht, kann selbstverständlich nicht in den üblichen Modi von

249 Ebd., S. 251. 250 Ebd., S. 248. 251 Vgl. Ebd., S. 256f. 252 Vgl. Ebd., S. 242.

Grundbegriffe der Organismustheorie Kurt Goldsteins

179

253

Synthese, Induktion oder Deduktion verständlich gemacht werden , sondern ist als ein wesentlich komplexerer Vorgang zu verstehen. Goldstein schreibt: „wir können [zur Idee; K.B.] nur durch einen schöpferischen Akt gelangen. Biologische Erkenntnis ist der dauernd fortgesetzte schöpferische Akt, durch den uns die Idee des Organismus in zunehmenden Maße zum Erlebnis wird, eine Art Schau etwa im Goetheschen Sinne, die immer auf dem Boden sehr empirischer Tatsachen 254 steht.“

Dass sich Goldstein an so zentraler Stelle seiner methodischen Konzeption derart offensiv an Goethes Konzept der naturwissenschaftlichen Erkenntnis rückbindet, 255 ist an sich schon erstaunlich. Zwar lässt sich bei der großen Mehrzahl auch der Naturwissenschaftler seiner Generation eine latente Goethebewunderung nachweisen, doch ging diese – sieht man einmal von der Verehrung Goethes als Literaten ab – häufig nicht so weit, sich im Zentrum des eigenen Ansatzes auf Goethe 256 als Gewährsmann zu berufen. Vor dem oben Gesagten verliert dieser offensive Bezug auf Goethe mit der Rede vom Ideal, der Schau und dem schöpferischen Akt aber einen Teil seines irritierenden Potenzials, zumal wenn man mit dem Bezug auf die Empirie die zweite Seite der biologischen Wesenserkenntnis in ihrem vollen Gewicht hinzunimmt. Für die Erklärung der oben zitierten Passage greift Goldstein auf die Analogie zwischen Lernprozessen, die alle Organismen ihr Leben lang zu durchlaufen haben, und der biologischen Erkenntnis selbst zurück. Als sein wichtigstes Beispiel, auf das er sich immer wieder bezieht, führt er den Prozess des Radfahrenlernens an: „Wir machen so lange unzweckmäßige Bewegungen unseres Körpers d.h. solche, die durch Einzelheiten bestimmt werden, die nicht wesentlich für das Radfahren sind, bis wir plötzlich das Gleichgewicht zu erhalten imstande sind und uns in der richtigen Weise fortbewegen. Alle diese Vorübungen haben mit der eigentlichen Leistung direkt nichts zu tun. Sie sind zwar nicht planlos und sind notwendig, nur durch dauernde Modifikationen der Bewegungen kommen wir zu der richtigen Leistung. Aber diese führen als falsche Bewegungen niemals direkt zu den richtigen. Die richtigen erscheinen plötzlich, wenn Adäquatheit zwischen dem Vorgehen des Organismus und

253 Vgl. Ebd. 254 Ebd. 255 Vgl. Kap. II, 1.2 (2) dieser Arbeit. 256 So berichtet etwa Heisenberg davon, wie er während eines Aufenthalts über Pfingsten 1925 auf Helgoland zur Therapie seines Heuschnupfens, während er an den Gleichungen zur Unschärfenrelation arbeitete, die übrige Zeit damit verbrachte, die Gedichte aus Goethes West-östlichen Diwan auswendig zu lernen, deren Schönheit und Vollkommenheit ihn weiter dazu anspornten, mit seiner eigenen Arbeit an den Fragen der modernen Physik ähnliches zu erreichen. Vgl. Thomas Görnitz, Goethe – Künstler, Naturforscher und philosophischer Denker – auch heute ein inspirierender Partner, in: Alfred Schmidt/Hans-Jürgen Grün (Hg.), Durchgeistete Natur. Ihre Präsenz in Goethes Dichtung, Wissenschaft und Philosophie, Frankfurt am Main u.a. 2000, S. 251ff.

180

Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie den Umweltbedingungen eintritt. Diese Adäquatheit wird von uns erlebt. Das Vorgehen in dieser Situation enthält die (…) richtige Erkenntnis des Vorgehens beim Radfahren.“257

In dem Adäquatwerden zwischen den Fähigkeiten eines Organismus und den Anforderungen, die durch Umweltbedingungen an ihn gestellt werden, das Goldstein als das ausgezeichnete Verhalten eines Organismus zusammengefasst hatte, sieht er eine strukturelle Analogie zum Prozess der biologischen Erkenntnisgewinnung. Letztlich ist damit, so lässt es sich aus den nachfolgenden Konkretionen Goldsteins erweisen, ein dialektisch fortschreitender Erkenntnisprozess gemeint, der sich in dem Dreischritt aus Hypothese, die zur Erhebung empirischer Daten führt, die wiederum die Modifikation der ursprünglichen Hypothese und die Erhebung neuer Daten notwendig macht, und sich so Schritt für Schritt dem Er258 kenntnisgegenstand annähert, vollzieht. Der so erreichte Grad von Wahrheit ist aber nicht im mathematischen Sinne gemeint. Vielmehr sieht Goldstein in dieser schrittweisen Annäherung die Möglichkeit gegeben, die qualitativen Elemente des erkannten Organismus mit zu umfassen. Ob sich angesichts dessen die mit der Rede von der biologischen Erkenntnis als einer schöpferischen Schau einhergehende Vorstellung eines nicht nur graduell fortschreitenden, sondern einen qualitativen Sprung umfassenden Erkenntnisprozesses rechtfertigt, bleibt m.E. fragwürdig und lässt das Urteil über die Theorie Goldsteins zumindest was ihre normativen Komponenten umfasst, negativ ausfallen. Allerdings ist man für eine Gesamtbewertung von Goldsteins Methodik gut beraten, wenn man diesen Aspekt nicht überbewertet. Mit der Einbeziehung qualitativer Elemente in seine naturwissenschaftliche Theorie beschreibt er letztlich nur einen wichtigen Aspekt seiner alltäglichen Arbeit als Arzt: der anfängliche Blick auf den Patienten als ganzen Menschen. Diesen Aspekt nicht als Nebengeräusch, dem keine weitere Beachtung zugebracht werden braucht, abgetan zu haben, sondern den Anspruch zu erheben, dass gerade darin ein wichtiger Punkt naturwissenschaftlicher Theoriebildung liegt, der unbedingt einbezogen werden muss, liegt m.E. der Verdienst Goldsteins. Von daher ist die Einschätzung sicher richtig, wenn Uta Noppeney bemerkt, dass „der Begriff des ‚schöpferischen Aktes‘ bei Goldstein im unklaren [bleibt; K.B.] und seinen eigenen Ansprüchen an schar259 fer Begrifflichkeit sicherlich nicht gerecht [wird; K.B.].“ Allerdings sollte man in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen, dass hinter diesem mit viel Pathos vorgetragenen Ansatz neben den zweifelsohne vorhandenen normativen Absichten auch der Versuch einer ehrlichen methodischen Bilanz steht, die es unternimmt, sich selbst bei der Arbeit kritisch über die Schulter zu schauen und deskriptiv in ihre Elemente zu zerlegen, die im Einzelnen oft schwer in Verbindung miteinander zu bringen sind: 257 K. Goldstein, AO, S. 243. Goldstein hat häufiger auf dieses Bild zur Illustration seines Ansatzes zurückgegriffen. Vgl. etwa K. Goldstein, HN, S. 25; S. 225f. 258 Vgl. K. Goldstein, AO, S. 241. 259 U. Noppeney, Abstrakte Haltung, S. 43.

Theologie und Biologie – Voraussetzungen für den Dialog

181

„Es scheint uns allerdings, als wenn im großen Naturforscher, besonders im Biologen, mag er das manchmal selbst auch nicht anerkennen, beide Betrachtungsweisen vereint sein müssen, d.h. er muss bald das Unterscheiden, bald das von der Idee Ausgehen betreiben. Eine ausreichende Erkenntnis ist nur zu gewinnen, wenn beide Formen der Erkenntnis sich dauernd ergänzen und gegenseitig bestimmen. Ist das nicht bei GOETHE selbst der Fall gewesen?“260

3.

Theologie und Biologie – Voraussetzungen für den Dialog

Aus dem bisher untersuchten Material, das sowohl über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen als auch über die Prinzipien einer Theorie der Biologie bei Tillich und Goldstein Auskunft gegeben hat, sind spezifische Berührungspunkte und Differenzen ersichtlich geworden. Deutlich dürften zudem zugleich die unterschiedlichen Hintergründe, vor denen beide Autoren ihr Material entfalten, als auch die Verwurzelung beider in der zeitgenössischen Diskussion um die Stellung der Biologie im Verhältnis zur Philosophie geworden sein. So ist Tillichs Beschäftigung mit Biologie und Psychologie, wie sie im SdW erscheint, als ein Produkt seiner allgemeinen philosophisch begründeten Überlegungen zur Integration und Rolle der Geisteswissenschaften und dem Entwurf einer Religionstheorie im Kontext der Auseinandersetzung um den Psychologismus zu verstehen. Goldstein hingegen bewegt sich zunächst im Rahmen der biologischen Fachdiskussion, die ihn zu einer massiven Kritik der anerkannten Paradigmen und damit zu einer allgemeinen Theorie seines Faches führt, die von der Diskussion um allgemeine Prinzipien der Biologie immer wieder auf philosophische und erkenntnistheoretische Aspekte übergreift. Zudem dürfte nicht zu übersehen sein, dass sich beide Autoren in ihrer Problemdiagnose sehr ähnlich sind. Was nun genau unter diesen Ähnlichkeiten, Berührungspunkten und Differenzen zu verstehen ist, soll im folgenden Abschnitt dargestellt werden. Die Ähnlichkeit der Problemanalyse im Bezug auf eine Theorie der Biologie sehe ich dabei im Wesentlichen in zwei Punkten: Für beide ist die Vermittlung zwischen Allgemeinen und Besonderem das zentrale Problem, das eine dem in der Biologie gegebenen Gegenstand angemessene Methode konstruktiv zu bearbeiten in der Lage sein muss. Die zweite Ähnlichkeit bezieht sich auf die von Goldstein und Tillich als notwendig empfundene Stellungnahme im Streit um Vitalismus und Materialismus, die von beiden aus sehr unterschiedlicher Richtung angegangen, aber ihn recht ähnlicher Weise gegeben wird. Damit einher geht bei beiden die Kritik am naturwissenschaftlichen Paradigma des 19. Jh., die bei Goldstein – neben seinem philosophischen Interessen – zunächst auf der sachlich-empirischen Auseinandersetzung basieren. Tillichs Kritik begründet sich hingegen von dem ontologischen Gerüst her, das er seinem wissenschaftstheoretischen Entwurf zug260 K. Goldstein, AO, S. 251.

182

Biologie und Methode – Kurt Goldsteins Organismustheorie

rundegelegt hat: die Makrostruktur des Systems aus dem Spannungsverhältnis von Denken, Sein und Geist verunmöglicht die Annahme, Phänomene des Lebens seien mit einer Biologie, die nach mathematisch-physikalischen Paradigmen funktioniert, zu erfassen, da sie keinen Modus anbietet, die Irrationalität des Seins, das in jedem Lebendigen zum Ausdruck kommt, einzuholen. Damit ist bei ihm – wie bei Goldstein letztlich auch – zweierlei verbunden: zum einen erscheint dieses Irrationale immer in der Form des empirisch Fassbaren, so dass nie jenseits der seienden Dinge nach dem Gehalt des Seins gesucht werden kann. Zum anderen bringt dieser Umstand die Notwendigkeit mit sich, innerhalb der auf dem empirischen Erfassen des Seins gründenden Wissenschaften, einen Modus zu finden, von den irrationalen, individuellen und qualitativen Aspekten zu reden. Tillichs zunächst ontologische Vorstellung von der geistig strukturierten Welt als Voraussetzung ihrer Erkennbarkeit, macht die erkenntnistheoretische Plausibilität, die Goldsteins an Cassirer angelehnter Symbolbegriff als methodischer Zentralbegriff der Biologie für Tillich annehmen kann, nachvollziehbar. In diesem Zusammenhang ist auch das eigenartige Verhältnis, das mit den Konzepten von Akausalität bei Goldstein und Irrationalem bei Tillich einhergeht, von Interesse: zwar meinen beide auf sehr verschiedenen Ebenen liegende Phänomene, im Rahmen ihrer jeweiligen Theorie nehmen sie aber ähnliche Funktionen an. Goldstein bleibt zunächst in der innernaturwissenschaftlichen Diskussion und greift für sein Konzept der Akausalität auf die Relativitätstheorie Einsteins zurück. Darin sieht er sowohl einen Beweis für die Unangemessenheit einer Naturwissenschaft nach rein rationalen Elementen als auch der Notwendigkeit, naturwissenschaftliche Begriffsbildung als symbolische Annäherungen an die Wirklichkeit zu verstehen. Ähnlich wie bei Goldstein setzt auch Tillichs Vorstellung des Irrationalen des Seins wissenschaftstheoretische Überlegungen in Gang, die sowohl die Abgrenzung von gängigen naturwissenschaftlichen Idealen als auch die Forderung nach einer der individuellqualitativen Wirklichkeit des Biologischen und dem metalogischen Charakter des Seins entsprechenden Methodik beinhaltet. Eine ähnliche strukturelle Analogie, die das beidseitige Verständnis gefördert haben dürfte, sehe ich in der Verwendung der jeweiligen biologischen Zentralkategorie: sowohl Tillichs Gestaltbegriff als auch Goldsteins Begriff des Wesens des Organismus wird als das Primäre verstanden, aus dem Einzelphänomene abgeleitet werden können und nicht umgekehrt. Wie Tillich in den Gesetzes- bzw. Folgewissenschaften Abstraktionen sieht, die abgeleitete Phänomene beschreiben, benutzt auch Goldstein den bei ihm negativ konnotierten Begriff der Abstraktion um die Arbeitsweise und Erkenntnisart von Reflexologie, Assoziationspsychologie und Psychoanalyse zu beschreiben. Für beide gilt zudem, das sie vor diesem Hintergrund den Anspruch erheben, Allgemeines und Besonderes zu integrieren.

III. Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog Welche Folgen sich aus den hier aufgezeigten Grundstrukturen ergeben, welche unterschiedlichen Richtungen auf der Basis der hier genannten Übereinstimmungen beide Denker einschlagen, werde ich im nun folgenden diese Arbeit abschließenden Teil bündeln. Dafür bieten sich besonders zwei Bereiche an, die im Zentrum der jeweiligen Anthropologien beider Autoren stehen: zum einen der Zusammenhang, der von ihnen jeweils zwischen Angst, Frucht und Mut (1.) entworfen wird. Zum anderen der Bereich, in dem sowohl Tillich als auch Goldstein die Vermittlung zwischen Geist und Materie im Menschen verortet sehen – in der Art der anthropologischen Verortung der Zentralkategorie der menschlichen Freiheit (2.).

1.

Die Verwirklichung des Menschen – Angst, Furcht und Mut

Sowohl bei Tillich als auch bei Goldstein bilden Angst und Furcht zentrale Kategorien der Anthropologie: während sie bei Tillich ontologisch verankert sind und zusammen mit der Kategorie des Mutes die Verbindung von essenzieller und existenzieller Ebene, sowie deren Überwindung markieren, bilden sie bei Goldstein das Zentrum seines von der Biologie her argumentierenden anthropologischen Konzepts der abstrakten Haltung, das sowohl für das Verständnis des Wesens des kranken als auch des gesunden Menschen entscheidend ist. Auf diese beiden Aspekte möchte ich nun in der Form eingehen, dass im Laufe der Darstellung die unterschiedlichen Modi der Behandlung des Themas der Angst als Teil einer theologischen bzw. biologischen Anthropologie im Rahmen des jeweiligen theoretischen Rahmens und die damit einhergehenden Resonanzen zwischen beiden Denkern deutlich werden können. Dazu erscheint es mir notwendig, innerhalb der Darstellung drei Ebenen zu unterscheiden: zunächst sind die Ausgangspunkte (1.1) beider innerhalb ihres spezifischen Theorierahmens vorzustellen und aufeinander zu beziehen. Als zweites ist auf die Ebene der differenten Beschreibung (1.2) einzugehen, auf der die unterschiedlichen Deutungshorizonte Tillichs und Goldsteins deutlich werden sowie die Eigenständigkeit ihrer jeweiligen Konzepte hervortritt. Hier sind auch die im Angstbegriff selbst vorgenommenen Differenzierungen wie die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht oder die Kriterien für die Übergänge zwischen ‚normaler‘ und pathologischer Angst auf ihre Kontextualisierungen hin zu untersuchen. Erst vor diesem Hintergrund wird die dritte Ebene, auf der ich den Modus des Verhältnisses beider Konzepte zueinander verhandeln will, die ich als die Ebene der Integration (1.3) bezeichnen möchte, verstehbar. Neben diesen an die Texte Goldsteins und Tillichs von mir herangetragenen Interpretationskategorien ist zudem auf eine grundsätzliche Entscheidung bezüglich der Darstellung des Materials hinzuweisen: als das zunächst augenfälligste

184

Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog

Merkmal der Synopse der Ausführungen Tillichs und Goldsteins erweist sich die weitgehend gegenläufige Bewegung der Gedankengänge. Während Tillich eine Linie von seiner ontologischen Analyse von Angst und Mut hin zu klinisch relevanten Formen der Angst zieht und am Ende seiner Ausführungen auch auf die biologischen Aspekte des Themas zu sprechen kommt, die er allein in Korrespondenz mit seinen ontologischen Überlegungen für in angemessener Weise verstehbar hält, verläuft der Weg von Goldsteins Argument – erwartungsgemäß – über die Beobachtung und Beschreibung pathologischer Vorgänge hin zu allgemeinen anthropologischen Überlegungen, für deren Kontextualisierung er deutliche Anleihen in der Existenzphilosophie macht. Die Interpretation – will sie nicht zwei Wege gehen und zunächst dem einen und dann dem anderen Autor folgen – hat sich also zu entscheiden, von welcher Perspektive aus sie das jeweilige Gegenüber in der Blick nehmen will. Vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Studie erscheint es mir sinnvoll, dass ich mich an dem Aufriss der Ausführungen Tillichs orientiere und von da aus Goldsteins Arbeit in den Blick nehme, dabei aber den eigenständigen Weg des Denkens und der Konzeption Goldsteins im Blick zu behalten. 1.1

Die Ausgangspunkte

Wenn auf der ersten Ebene die jeweiligen Ausgangspunkte zur Sprache gebracht werden sollen, dann ist für Tillichs Ansatz zunächst ein zweifaches entscheidend: Einmal drückt sich in der Angst der ontologische Urkonflikt zwischen Sein und Nichtsein aus, zum anderen hat dieser Konflikt eine biologische Seite, die von 1 Tillich in nicht zu vernachlässigender Weise thematisiert wird. Wie Tillich diese Aspekte entfaltet und zusammenfügt, möchte ich im Folgenden zu zeigen unternehmen. (1) In einer Predigt zu Mt 10, 1, die er offenbar kurz nach der Rückkehr von 2 einer seiner Reisen ins vom Krieg zerstörte Deutschland gehalten hat , räsoniert Tillich vor dem Hintergrund seiner Eindrücke über mögliche Gründe der starken Zunahme von neurotischen Erkrankungen in der augenscheinlich so gesunden, prosperierenden, heilen Welt der USA. Er sieht darin eine durch den medizinischen Fortschritt bedingte Verschiebungsbewegung: „da die ärztliche Fürsorge es schwieriger gemacht hat, sich in leibliche Krankheiten zu flüchten, so wählen sie 1

2

Bisher ist in der Forschung zum Angstbegriff bei Tillich nur der erste hier genannte Aspekt eingehender gewürdigt worden, so dass leicht erklärlich ist, warum Goldstein als Diskussionspartner Tillichs bisher nicht in den Blick gekommen ist. Vgl. etwa Karin Grau, ‚Healing Power’ – Ansätze zu einer Theologie der Heilung im Werk Paul Tillichs, Münster 1999, S. 127f.; Kurztitel: K. Grau, Healing Power. Zu denken ist hier sicherlich an die erste Reise, die Tillich nach dem Krieg vom 8.5.–10.9.1948 nach Frankreich, Deutschland, England, in die Niederlande und die Schweiz unternahm, die auf ihn einen bleibenden Eindruck hinterließ. Vgl. W./M. Pauck, Tillich, S. 217–226; R. Albrecht/W. Schüßler, Sein Leben, S. 114–119.

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3

[die Erkrankten; K.B.] die Geisteskrankheit.“ Als Gründe für diese Flucht in die Krankheit führt Tillich ein sich immer mehr ausbreitendes Gefühl zunehmender Unsicherheit an, das er zunächst kritisch mit den Risiken der modernen Marktwirtschaft verbindet, dem er aber ein grundsätzliches anthropologisches Problem 4 zugrunde liegen sieht. Dieses äußert sich wiederum in einer Symptomatik an der Oberfläche menschlichen Lebens, die den Tendenzen der Schilderung des adaptiven Verhaltens bei Hirnverletzten durch Goldstein ähnlich ist: „Die Menschen fliehen in eine Situation, in der andere sich Sorgen machen müssen, in der sie durch Schwäche Macht ausüben, oder sie schaffen sich eine eingebildete Welt, in der es sich gut leben lässt, solange das wirkliche Leben nicht mit ihnen in Berührung kommt. (…) Die der menschlichen Existenz zugrunde liegende Unsicherheit und die damit verbundene Angst sind der Antrieb dafür und werden überall und von jedermann empfunden. Diese Angst ist ein menschliches Erbe. Sie hat sich durch die gegenwärtige Weltlage ungeheuer gesteigert, auch in Amerika, dem kraftvollen, gesunden Lande.“5

Verneinung der aus sich selbst heraus sich selbst transzendierenden Eigenschaft des Lebens, Rückzugsstrategien und Weltvermeidung aus Angst sind Befunde, die sich nach der Beschreibung Goldsteins – wie bereits entfaltet wurde – auch als spezifisch für das Verhalten von Menschen erwiesen haben, die den Anforderungen des alltäglichen Lebens nicht bzw. nicht mehr gewachsen sind, deren Wesen sich nicht mehr im steten Austausch mit den Anforderungen der Umwelt immer wieder neu aktualisieren kann. Spezifisch für die Systematisierung durch Tillich ist dagegen die Betonung des Angstphänomens als einer Erscheinung, in dem der ontologische Konflikt zwischen Sein und Nichtsein an die Oberfläche des menschlichen Lebens dringt und als existenzielles Problem erfahren wird. Wurden im Begriff des Seins, wie er im SdW begegnete, noch die beiden begrifflichen Ebenen, zum einen des materiellen Seins und zum anderen des Verstehens als eines metalogischen Elements des Wissens vor dem Hintergrund seines 6 „Götterkampfes“ mit dem Denken, dem es als diffuses, ungeformtes Etwas immer schon als das absolut Fremde vorauslaufend entgegentritt, rudimentär verbunden nebeneinander her geführt, so verschiebt sich der Akzent in den späteren Schriften Tillichs erheblich. Sein wird zunächst seiner materiellen und existenziellen Konnotationen, die es in seiner Fassung im SdW hat, entkleidet und als rein ontologischer Begriff verwendet, dessen Bedeutung in Auseinandersetzung mit dem 3 4

5 6

Paul Tillich, Vom Heilen, in: Religiöse Reden, Nachdruck von In der Tiefe ist Wahrheit (9. Aufl. 1985), Das Neue Sein (6. Aufl. 1983), Das Ewige im Jetzt (4. Aufl. 1986), Berlin u.a. 1987, S. 216f. Dass die Verbindung der Deutung des menschlichen Lebens als einer vornehmlich ökonomischen Ressource mit einem Gefühl der Unsicherheit einhergeht, das vermehrt zu angstbedingten Krankheiten führt, ist offenbar ein gängiger Topos. Erst kürzlich ist dieser Zusammenhang wieder vorgestellt worden: Christian Schüle, In den Fängen der Angst, in: Die Zeit, Nr. 17, 19.04.2007, S. 17–20. Ebd., S. 217. P. Tillich, SdW, in: GW I, S. 119.

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Nichtsein gewonnen werden muss. Erst in einem zweiten Schritt wird Sein im Sinne des materiell Daseienden verstanden, das die strukturellen Probleme des Grundes, aus dem es hervorgeht, als existenziellen Konflikt in die empirisch wahrnehmbare Wirklichkeit übersetzt. Diese Verhältnisbestimmung sowie die wichtigsten systematischen Richtungen, in die dieser Gedanke weiter ausgezogen wird, fasst Tillich so zusammen: „Auf die Frage: Was ist das Verhältnis von Sein und Nichtsein? kann man nur in Metaphern antworten und sagen: Das Sein schließt sich selbst und das Nichtsein ein. Das Sein hat das Nichtsein in sich als das, was im Prozess des göttlichen Lebens ewig gegenwärtig und ewig überwunden ist. Der Grund alles Seienden ist keine tote Identität ohne Bewegung und Werden, sondern er ist lebendiges Schaffen. Schaffend bejaht er sich selbst, indem es ewig sein eigenes Nichtsein überwindet. Das macht den Grund des Seins zum Urbild der Selbstbejahung alles Seienden und zur Quelle des Mutes zum Sein.“8

An der hier zitierten Textstelle scheint mir in Hinsicht auf die Beziehungen zur Konzeption Goldsteins dreierlei relevant: Zunächst kann das Verhältnis von Sein 9 und Nichtsein nur in Form metaphorischer Rede beschrieben werden. Der Versuch einer Verhältnisbestimmung rührt letztlich an eine Sphäre des Seins, die von Tillich wahlweise als die Tiefe bzw. der Grund alles Seins bezeichnet wird. Diese liegt als alles Sein konstituierende Ebene notwendig jenseits aller sprachlichlogischen Bestimmbarkeit, denn aus ihr gehen die logischen Strukturen, die zu ihrer Beschreibung herangezogen werden könnten, erst im Prozess ihres Werdens hervor. Tillich fasst diesen Umstand so zusammen: „Die Gefahr der logischen Objektivierung ist, dass sie niemals rein logisch ist. Sie führt ontologische Voraus10 setzungen und Implikationen mit sich.“ Von daher hat sich jeder Versuch einer umfassenden Erklärung auf der Basis logischer Kategorien dieser Präferenz des Seins vor dem Denken bewusst zu sein und seine eigenen Ansprüche zu relativieren. Auch das Argumentationsmodell, welches das Sein im Sinne einer negativen 11 Theologie als „Absolute Negativität“ zu entfalten sucht, kann diese Grenze letzt7

Dabei nimmt der Begriff des Nichtseins, wie es von Tillich in seinen Spätwerk aufgenommen wird, in integrativer Absicht sowohl mystisch-dynamische Elemente des Seinsbegriffs Jakob Boehmes, der Lebensphilosophie Nietzsches, der Aufnahme des Negativen in das Denken des Absoluten Geistes bei Hegel sowie Elemente der Negativen Theologie auf. 8 P. Tillich, MzS, in: GW XI, S. 34. 9 Gemäß von Tillichs im Symbol enthaltenen Schichtenmodell handelt es sich bei der Verhältnisbestimmung von Sein und Nichtsein um die Schicht, in der die Gegenständlichkeiten gesetzt werden, die selbst aber unfundiert und somit zum Gegenstandssymbol wird, die in der zweiten Schicht auftretenden Symbole fundiert. Vgl. P. Tillich, Das religiöse Symbol, in: GW V, S. 206. Vgl. die Funktionen der fundierten und fundierenden wissenschaftlichen Elemente in Tillichs Konzept der Geisteswissenschaften sowie das Schaubild dazu in dieser Arbeit Kap. I, 2.2.2 (1). 10 P. Tillich, ST I, S. 203. 11 Joachim Ringleben, Die Macht des Negativen. Paul Tillichs Ontologie und Theologie des Lebendigen, in: Gerd Hummel (Hg.), Natural Theology versus Theology of Natur?/Natürliche Theologie versus Theologie der Natur?/: Tillich’s Thinking as Impetus for a Discourse among theology,

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lich nicht überschreiten, da auch hier die Subjekt-Objekt-Spaltung, die jeder sprachlich-logischen Äußerung vorausgeht, nicht aufgehoben werden kann. Zum anderen ist für die dem Sein entsprechende Metapher die materiale Fassung entscheidend: Tillich beschreibt das Sein als eine Struktur, die sich zugleich affirmativ, transzendierend und antizipatorisch zu sich selbst verhält. Indem sie über sich selbst hinausgeht, aktualisiert sie ihr innerstes Wesen und bejaht sich derart in ihrem Sosein. Im Rahmen dieses Prozesses, der in der wesentlich schöpferischen Eigenart des Grundes des Seins, letztlich also vom lebendig-schöpferischen Aspekt der Gotteslehre Tillichs in Gang gesetzt wird, kann davon gesprochen werden, dass das Sein das Nichtsein in sich aufnimmt. So wird deutlich, dass es nicht irgendwelche dem Nichts innewohnenden Kräfte sind, welche das Sein als eine Macht aus sich selbst heraus bedrohen – denn wie sollte eine derartige Bestimmung auch eine sinnvolle Art des Denkens des Nichts darstellen? Vielmehr bedroht das Nichtsein das Sein bei Tillich in der Form, dass das Sein die in ihm liegenden Potenzialitäten nicht verwirklichen kann. Wenn Nichtsein nicht mehr zu Sein werden kann, versagt das Sein in seinem Sosein als eines dynamischwerdenden Elements und wird insofern vom Nichtsein bedroht, was in der letztendlich notwendig zu denkenden Endlichkeit allen Seins eingeholt ist. Zum dritten deutet sich in dem hier vorstellten Aspekt von Sein und Nichtsein, wie er in der Angst systematisiert wird, die theologisch-ontologische Konzeption mitsamt ihren Auswirkungen auf die Anthropologie Tillichs an, wie sie im Aufbau der Systematischen Theologie explizit entfaltet wird: Der göttliche Grund des Seins bzw. seine Tiefe liegt dem Sein selbst zugrunde. Dieses wird zwar als von ihm geschieden, gleichzeitig aber durch seine wesentlichen Qualitäten der dynamisch-schöpferischen Struktur, die in einem steten Prozess der Überwindung das Nichtsein in sich aufnehmen, als verbunden gedacht. Seine ontologische Konzeption der Anthropologie entfaltet Tillich ausgehend von diesem Ansatz dann in einem Dreischritt: auf der essenziellen Ebene sind Sein und Nichtsein in einem Prozess miteinander verbunden, der sowohl die dynamisch-schöpferischen Elemente als auch die Endlichkeit als Strukturbedingung in sich trägt. Auf der zweiten Ebene, die Tillich als die Ebene der Existenz bezeichnet, tritt das Sein aus sich selbst heraus in die Existenz. Damit geht der präexistente Zustand über in endliches Sein, das im Leben des Einzelnen und der Natur als Erfahrung der Bedrohung der Existenz in verschieden ausdifferenzierten Formen der Angst erlebt wird. Die dritte Ebene wird in der ST als die Ebene der zweideutig-fragmentarisch-antizipatorischen Wiedervereinigung der Existenz mit der Essenz verstanden und birgt im Kontext des Angstphänomens den Mut, der als ein Vorgang des ‚Trotz‘ der weiterbestehenden Gefährdung des Seins und der damit einhergehenden Anfechtung immer Philosophy and Natural Sciences,Tillichs Denken als Anstoß zum Gespräch zwischen Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft, Proceedings of the IV. International Paul Tillich Symposion held in Frankfurt am Main 1992/Beiträge des IV. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt/Main u.a. 1993, S. 212–234; besonders S. 222f.

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Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog 12

wieder neu hervorgebracht und verteidigt werden muss. Zwar macht Tillich diesen Aufbau im MzS nicht explizit und arbeitet hier weitgehend mit der Unterscheidung ontologisch – existenziell, wobei im Begriff des Ontologischen sowohl die Ebene der Tiefe als auch die der Essenz enthalten ist, während der Begriff der Existenz die in der ST geschiedenen Ebenen der Existenz und der Wiedervereinigung mit dem Begriffspaar von Angst und Mut einholt. Diese Differenzierung scheint mir sehr deutlich von Tillich mitgedacht zu sein, so dass sie sich als Ausgangspunkt für die Entfaltung des Angstproblems als Interpretationsrahmen an13 bietet. Tillich schreibt: „Die erste Aussage, die man über das Wesen der Angst machen muss, ist folgende: Die Angst ist der Zustand, in dem ein Seiendes der Möglichkeit seines Nichtseins gewahr wird, oder kürzer gesagt: Angst ist das existenzielle Gewahrwerden des Nichtseins. ‚Existenziell‘ in diesem Satz bedeutet, dass nicht das abstrakte Wissen vom Nichtsein Angst erzeugt, sondern die Erfahrung, dass das Nichtsein Teil des eigenen Seins ist (…) Angst ist Endlichkeit erfahren als unsere eigene Endlichkeit.“14

Der ontologisch-essenzielle Konflikt, der in allem Sein herrscht, findet seine existenzielle Übersetzung in der durch die Erfahrung des eigenen Seins als eines Endlichen hervorgerufenen Angst. Damit ist der Ausgangspunkt Tillichs weitgehend geklärt. (2) Kurt Goldstein geht seine Konzeption der Angst von zwei Richtungen aus an: zum einen versucht er, bedingt durch sein beim Ganzen des Organismus Mensch ansetzendes Denken, die somatischen Aspekte der Angst als Strukturbedingungen des Phänomens neben den Aspekten von Genese, Erleben und Deu15 tung als mindestens gleichwertig zu positionieren. Zum anderen entwickelt Gold12 Das strenge Auseinanderhalten von essenzieller und existenzieller Ebene als einer Strukturbedingung, wie es kennzeichnend für den Aufbau der Systematischen Theologie, ist im MzS nicht in der Weise ausgeprägt. Vgl. K. Grau, Healing Power, S. 127f. 13 Von daher ist der Vorwurf gegenüber Tillich, er würde die von ihm geforderte generelle Trennung von essenzieller und existenzieller Ebene selbst nicht konsequent durchhalten, m.E. nicht gerechtfertigt. Tillich geht es hier offenbar nicht um die Vermischung beider Ebene, sondern darum, die notwendige Verbindung beider Ebenen aufzuweisen, ohne die Struktur an sich aufzugeben. Vgl. Ebd. 14 P. Tillich, MzS, GW IX, S. 35. 15 Damit setzt er sich deutlich gegenüber Freud ab, der sich in seiner ‚Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse‘, die er im Wintersemester 1915/16 zum ersten Mal gehalten hat, kritisch bis polemisch zu der Bedeutung der physiologischen Aspekte der Angst geäußert hatte: „Wie immer das sein mag, es steht fest, dass das Angstproblem ein Knotenpunkt ist, an welchem die verschiedensten und wichtigsten Fragen zusammentreffen, ein Rätsel, dessen Lösung eine Fülle von Licht über unser ganzes Seelenleben ergießen müsste. Ich werden nicht behaupten, dass ich Ihnen die volle Lösung geben kann, aber Sie werden gewiss erwarten, dass die Psychoanalyse auch dieses Thema ganz anders angreifen wird als die Medizin der Schulen. Dort scheint man sich vor allem dafür zu interessieren, auf welchen anatomischen Wegen der Angstzustand zustande gebracht wird. Es heißt, die Medulla oblongata sei gereizt, und der Kranke erfährt, dass er an einer Neurose des Nervus vagus leidet. Die Medulla oblongata ist ein sehr ernsthaftes und schönes Objekt. Ich erinnere mich ganz genau, wie viel Zeit und Mühe ich vor Jahren ihrem Studium gewidmet

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stein sein Konzept des ausgezeichneten Verhaltens, das er als das wesentliche Element des Organismus verstanden hatte, in Richtung hin auf Übergänge zu einer biologisch grundierten Theorie der Freiheit weiter. Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist das Erlebnis der Bedrohung der Existenz der eigenen Person, das ausgelöst wird von und einhergeht mit körperlichen Faktoren, von denen es nicht zu trennen ist. Gemeinsam ist für Goldstein allen Formen von Angstzuständen „das Erlebnis der Gefahr, der Gefährdung der eigenen Person. Allerdings ist diese Charakterisierung nicht genügend. Zunächst in Hinsicht darauf, dass sie nur das Erlebnis erfasst. Meist meint man sich darauf beschränken zu können, ja darin das Wesentliche der Angst sehen zu sollen; das dürfte jedoch nicht berechtigt sein. Jedenfalls stellen wir bei Beobachtung eines Menschen, der sich in Angst befindet, auch am Körperlichen charakteristische Veränderungen fest, eine bestimmte Ausdrucksgestalt des Gesichts und des Körpers und bei näherer Untersuchung bestimmte Zustände der physiologischen Vorgänge (…). Und wir haben zunächst gewiss keine Veranlassung diese Veränderungen nicht in die Untersuchung über das Phänomen Angst einzubeziehen.“16

Für die Darstellung und Deutung des Angstphänomens sind also auch die somatischen Faktoren von großer Bedeutung, denn die körperlichen Aspekte des Phänomens laufen hier nicht unterbewusst ab, sondern werden von den Betroffenen als konstitutiv für das Phänomen erlebt. Zudem sind es für den außenstehenden Beobachter häufig gerade die somatischen Faktoren, die es ihm ermöglichen, auf das Angsthaben seines Gegenübers zu schließen. Damit sucht Goldstein das Phänomen der Angst, das durch die Beschäftigung der Psychoanalyse mit ihr gänzlich in den Diskussionsraum der Psychologie als einer analytischen Wissenschaft gewandert ist, die dem Auftreten von einzelnem Angsterleben an sich keine große Bedeutung zumisst, sondern dieses lediglich als Epiphänomen von hinter bzw. unter ihm verborgen liegenden Zuständen und Konflikten aufzuspüren, und für seine vom neurologischen Geschehen aus argumentierende Anthropologie fruchtbar zu machen. Zudem manifestiert sich für Goldstein in der Auslagerung des Themas der Angst aus der Biologie die Spaltung des Menschen in seine psychischen und somatischen Faktoren durch die Aufteilung in die Zuständigkeitsbereiche unterschiedlicher Disziplinen. Dagegen betont er: „Man pflegt (…) gewöhnlich die körperlichen Erscheinungen – die physiologischen Vorgänge im Körper wie auch die Ausdrucksgestalt – nur als Folgen des Seelischen, höchstens als Begleiterscheinungen zu betrachten. Ein solcher Standpunkt widerspricht unserer Auffassung des Verhältnisses von Körperlichem und Seelischem (…). Das habe. Aber heute muss ich sagen, ich weiß nichts, was mir für das psychologische Verständnis der Angst gleichgültiger sein könnte als die Kenntnis des Nervenweges, auf dem die Erregung ablaufe.“ Siegmund Freud, Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke XI, Frankfurt/Main9 1998, S. 408. 16 K. Goldstein, AO, S. 187.

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Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog Psychische ist auch hier für uns nur eine Erscheinung, wie das Physische jenes Lebensvorganges, den man von der psychischen Seite betrachtet gewöhnlich als Angst bezeichnet."17

Der zweite Zugang zum Angstphänomen läuft für Goldstein über die Weiterentwicklung und Konkretisierung seiner Konzeption des ausgezeichneten Verhaltens, das im vorigen Abschnitt vorgestellt wurde. Zum einen kommen im Angstphänomen Strukturen zum Tragen, die als Scheitern des Organismus an seiner Wesensverwirklichung gedeutet werden. Goldstein nennt dieses Geschehen Katastrophenreaktion. Zum anderen eröffnet ihm dieses Konzept die Möglichkeit, die Übergänge zwischen Natur und Geist von seiner biologisch konzipierten Anthropologie her in den Blick zu bekommen, indem er zeigt, wie sich im Vorgang der Bewältigung einer Angstsituation, die als abstraktes Freiwerden von der Situation mit den Mitteln der Sprache verstanden wird, Freiheit verwirklichen kann. Darauf ist hier kurz näher einzugehen, da ansonsten für das Phänomen der Angst Verständnisschwierigkeiten auftreten können: Geordnete Reizverwertung war als ein wesentliches Kennzeichen des Organismus beschrieben worden, denn allein durch sie ist das Adäquatwerden zwischen Organismus und Umwelt gewährleistet. Zwar reagiert der Organismus immer als Ganzes auf die an ihn herantretenden Erfordernisse der Umwelt, doch wirken bestimmte Stimuli primär auf Teile des Organismus, die auf ihre Rezeption spezialisiert sind – Lichtwellen auf die Augen, Schallwellen auf die Ohren usw. Goldstein schreibt: „In einem einer Reizart besonders angepassten Teile kommt es durch diese zu einer stärkeren Veränderung als in weniger 18 angepassten Teilen.“ Diese Veränderungen führen für Goldstein dazu, dass sich im Organismus ein bestimmtes neuronales Aktivitätsmuster zu einer Figur zusammenfügt, das sich vor dem Hintergrund der im selben Augenblick nicht oder nur sekundär geforderten neuronalen Aktivitäten bildet. In diesem Vorgang, den er als „Figur-Hintergrund-Geschehen“ bezeichnet, sieht Goldstein „die Grundform des 19 nervösen Geschehens überhaupt.“ Darin ist beides enthalten: es ermöglicht sowohl die Identität des Organismus mit sich selbst, indem es immer wieder zum Ausgangspunkt vor einer Erregung zurückkehrt, und es gewährleistet zudem auch durch sein flexibles Adaptionsverhalten den Austausch mit der Umwelt. Dabei ist für diesen zweiten Aspekt die Rückkehr zum Ausgangspunkt für den Organismus eine entscheidende Bedingung für das Gelingen seiner Wesensverwirklichung: „Würde dieser Ausgleich auf das adäquate Mittel nicht erfolgen, so würden gleiche Außenweltvorgänge verschiedene Zustände im Organismus erzeugen. Dadurch würde die Außenwelt für den Organismus ihre Konstanz verlieren und dauernd 17 K. Goldstein, AO, S. 191. 18 Ebd., S. 72. Vgl. auch K. Goldstein, HN, S. 11f. 19 Ebd., S. 74. Mit der Ausarbeitung dieses Konzepts des Figur-Hintergrund-Geschehens integriert Goldstein die wahrnehmungspsychologischen Erkenntnisse der Gestaltpsychologie Max Wertheimers, auf die aufgrund ihrer Irrelevanz für den Dialog mit Tillich im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter einzugehen ist. Vgl. A. Harrington, Ganzheit, S. 218f.

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wechseln. Ein geordneter Ablauf der Leistungen wäre unmöglich, der Organismus würde sich in dauernder Unruhe befinden und so in seiner Existenz gefährdet, ja eigentlich dauernd ein anderer sein.“20

Damit ist der Übergang von der geordneten zu den existenzbedrohenden Formen der Beziehung zur Umwelt, in die jeder Organismus zumindest vorübergehend geraten kann, markiert. Dieser äußert sich entweder in inadäquat überschießenden Reaktionen auf eine Stimulus oder in der gänzlichen Verweigerung einer Reaktion überhaupt, was Goldstein häufig an seinen Patienten beobachten konnte: so kann die Aufforderung zu einer Aufgabe, die von einem Kranken aufgrund seiner Einschränkung nicht geleistet werden kann, sowohl starke Aggressions- und Ver21 zweiflungszustände hervorrufen als auch einfach ignoriert werden. Zu diesen allgemeinen Kriterien geordneter bzw. ungeordneter Reizverwertung tritt für Goldstein als ein weiterer Faktor, der für das Verstehen des Angstphänomens von entscheidender Bedeutung ist, die sprachliche Verfasstheit des Menschen hinzu. Die darin liegende Möglichkeit zur abstrakten Differenz von konkreten Situationen, ermöglicht u.a. die Bewältigung von mit Angst besetzten Situationen, in dem es dem Individuum gelingt, sich zu einer Situation, in die er geraten ist, als different zu erleben. In Anknüpfung an Ernst Cassirer, der den 22 Menschen als das symbolhabende Tier als animal symbolicum verstanden hatte, sieht Goldstein in der Fähigkeit, sich durch Verwendung, Verstehen und Bildung abstrakter Oberbegriffe und Symbole in einer vernetzten Welt abstrakter Begriffe zu bewegen und so von der Bindung an eine bestimmte Situation frei zu machen, einen wesentlichen anthropologischen Grundzug, den er aus den Ergebnissen der Untersuchungen seiner hirnverletzten Patienten ableitet: ‘… our patients have not lost the words. Instead, the words have lost their character of being usable in the abstract, and in this change in language is only one expression of the basic change in our patients, the lack of the capacity to create any sort of abstraction.’23 20 Ebd., S. 76. 21 K. Goldstein, HN, S. 96. 22 Vgl. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S. 51. Cassirers Deutung des Menschen setzt wie bei so viele vor ihm und auch bei Goldstein bei dem Menschen als eines Sprache habenden Wesens an. Er grenzt sich aber gegen die Deutung der Sprache als eines rein rationalen Mittels ab. Er schreibt: „Denn neben der begrifflichen Sprache gibt es eine emotionale Sprache, neben der logischen oder wissenschaftlichen Sprache gibt es eine Sprache der poetischen Phantasie. Zuallererst drückt die Sprache nicht Gedanken und Ideen aus, sondern Gefühle und Affekte. (…) Die großen Denker, die den Menschen als animal rationale beschrieben haben, waren keine Empiristen, und sie hatten auch nicht die Absicht, eine empirische Darstellung der Natur des Menschen zu geben. In ihrer Definition brachten sie vielmehr einen fundamentalen moralischen Imperativ zum Ausdruck. Der Begriff der Vernunft ist ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. All diese Formen sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren.“ 23 Ebd., S. 79.

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Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog

Wie im Laufe der Interpretation der Naturauffassung Goldsteins schon öfter zu beobachten war, wird auch an dieser Stelle deutlich, dass es gerade der Rekurs auf die Empirie und nicht die dezidierte Abkehr von ihr ist, die ihn zu anthropologischen Bestimmungen bringen. 1.2

Die Ebene der differenten Beschreibung

In dem nun folgenden Teil möchte ich – in Fortführung der für beide spezifischen Ausgangspunkte – die differierenden Konzeptionen Goldsteins und Tillichs vor allem unter der Fragestellung des Modus der Verbindung von somatischen und psychischen Faktoren vorstellen. Das soll für beide Autoren anhand der folgenden Themen angegangen werden: zunächst möchte ich die funktionelle Einbindung der Unterscheidung von Angst und Furcht im jeweiligen Konzept thematisieren. Sodann ist auf die Beschreibung von Angst und Furcht als substanziellexistenzielle Kategorien der Anthropologie einzugehen. Davon abgegrenzt möchte ich dann das Verständnis der Wendung dieser Angst in ein pathologisches Phänomen in den Blick nehmen. Abschließend steht noch das Problem der Einbettung der Überwindung der Angst in das jeweilige anthropologische Konzept zur Debatte. Diesmal setzt die Darstellung und Interpretation mit dem Ansatz Goldsteins ein (1) und wird dann mit Tillichs Ausführungen fortgesetzt (2). (1) Innerhalb von Goldsteins Konzeption leistet die Auseinandersetzung mit dem Thema der Angst beides: sie ist zugleich Prüfstein für seine Bemühungen um die Bestimmung des Wesens des Lebendigen als dessen Prinzip er das stete Streben des Organismus nach dem Adäquatwerden zwischen sich und seiner Umwelt beschrieben hatte, und sie ist der Versuch einer notwendige Konkretion dieses Prinzips im Hinblick auf das Wesen des Menschlichen. Goldstein selbst hat seine intensive Beschäftigung mit diesem Thema wie folgt gerechtfertigt: „Die Art wie die einzelnen Geschöpfe und die einzelnen Menschen mit der Angst fertig werden, gibt einen Einblick in ihre Wesenheit. Wir haben das Phänomen deshalb hier so eingehend behandelt, weil es uns besonders wichtig zu sein scheint für die Erkenntnis der Wesenheit. Es gehört damit nicht nur in eine Anthropologie, sondern auch in die Biologie im weitesten Sinne.“24

Mit diesem Ansatz, der sich an Heideggers Überlegungen zur Angst anlehnt, in 25 der „das Dasein durch sein eigenes Sein vor es selbst gebracht“ wird, gab es in der neuropsychologischen Literatur, mit der Goldstein sich hier auseinandersetzt, keine nennenswerten Vorläufer. Damit setzt er sich in zweierlei Richtungen ab: zum einen begegnet er – worauf bereits hingewiesen wurde – dem Theoriegebäude Freuds mit großer Skepsis. Da Goldstein weder Freuds Theorie von der Bedeutung des Unbewussten noch seine Trieblehre positiv rezipiert, kann er auch die 24 K. Goldstein, AO, S. 198. 25 Martin Heidegger, Sein und Zeit,Tübingen10 1963, S. 184.

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sich in Freuds Arbeiten vollziehende Entwicklung verschiedener Stadien im 26 Angstbegriff für seine Arbeiten nicht konstruktiv ins Gespräch bringen. Daneben sieht er bei den Autoren, die sich unter mehr verhaltenspsychologischen Aspekten mit dem Thema beschäftigen, eine problematische Engführung der Diskussion auf die Frage nach der Genese von Angst, die zwischen den Alternativen der Vererbung oder dem sozialen Erwerb von Ängsten pendelte und vor allem anhand 27 der Diskussion um die Psychologie von Kleinkindern und Tieren geführt wurde. Spezifisch für Goldsteins Ansatz sind dagegen seine Anleihen bei philosophisch-existenzialistischen Kategorien und ihren Bestimmungen, von denen her er sein Angstkonzept entwirft. Er lehnt sich dabei besonders an Kierkegaard und 28 Heidegger an , auf deren Anteil an seinem Verstehen der Angst als einer Erschlie29 ßungsinstanz des Wesens des Lebendigen er deutlich hinweist. Wie diese Autoren macht auch Goldstein die Unterscheidung von Angst und Furcht an dem unterschiedlichen Verhältnis zum affektauslösendem Objekt fest. Angst wird im Gegensatz zur Furcht als objekt- bzw. inhaltslos beschrieben. Während die Furcht ein Selbst- bzw. Objektbewusstsein voraussetzt, das die Distanzierung von furchtauslösenden Faktoren ermöglicht, ‘represents [anxiety; K.B.] an emotional state which does not refer to anything definite (…) the source of anxiety is nothing and nowhere. Anxiety deals with nothingness. It is the inner experience of being faced with nothingness.’30 26 Zu den verschiedenen Aspekten der Entwicklung des Angstbegriffes bei Siegmund Freud vgl. Hans-Martin Lohmann/Joachim Pfeiffer (Hg.), Freud-Handbuch, Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart u.a. 2006, S. 134–138. 27 Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von Karl Groos, Das Seelenleben des Kindes. Ausgewählte Vorlesungen, Berlin6 1923, S. 268–303; William Stern, Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahr, Heidelberg10 1971, S. 444–458; Karl Bühler, Die seelische Entwicklung des Kindes, Jena5 1929, S. 115f; William Thierry Preyer, Die seelische Entwicklung des Kindes. Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren, Leipzig9 1923. 28 Es spricht Vieles dafür, dass die Gewichtung und strukturelle Einbindung des Angstphänomens, wie es Goldstein hier vornimmt, durch seine Orientierung an existenzialistischen Konzeptionen hervorgerufen ist. Diese sind ihm, wie wiederholt berichtet wird, durch die gemeinsame Arbeit mit Tillich vermittelt worden. Vgl. Kurt Goldstein, Brief an Tillich zu dessen 70igsten Geburtstag, in: Paul Tillich, E V, S. 340; A. Harrington, Ganzheit, S. 431 Fußnote 39. 29 K. Goldstein, AO, S. 189. Dieser Hinweis darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Goldstein in Konzeption und Absicht vor allem vom Ansatz Heideggers stark abweicht. Während Heidegger die Angst als Phänomen sehr selten auftreten sah und von daher vor allem im Modus der ontologisch-existenzialen Interpretation zu klären suchte und diesen bewusst von Anthropologie, Psychologie und Biologie abzugrenzen sucht, ist die Angst als reales Phänomen für Goldstein ein regelmäßig zu beobachtender Vorgang, der für ihn in nicht zu trennender Weise als biologisches Phänomen zu Antworten im Bereich der Anthropologie überleitet. Auch teilt Goldstein Heideggers negativ konnotierten Individualitätsgedanken nicht, nach dem der Zustand der Angst der einzige Modus ist, in dem das Aufgehen im Man und der Verfall an die besorgte Welt überwunden wird, da das Sein auf sein eigenes Dasein geworfen wird. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen10 1963, S. 184; 190. 30 K. Goldstein, HN, S. 92.

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Darin sieht Goldstein den qualitativen Sprung zwischen Furcht und Angst, der sich auch in unterschiedlicher somatischer Symptomatik äußert: Während Goldstein Furcht mit einer gesteigerten Anspannung und Achtsamkeit, die mit geordneter Reizverwertung einhergeht, beschreibt, sind Angstzustände durch ziellose Raserei und Abgeschlossenheit gegenüber der Umwelt gekennzeichnet, die eine geordnete Verwertung von Reizen verunmöglichen und als Katastrophenreaktion bezeichnet werden. Goldstein fasst den Gegensatz so zusammen: „Die Furcht stärkt die Sinne, die Angst macht sie unbenützbar, die Furcht treibt zum Handeln, 31 die Angst lähmt.“ Dabei ist es, wie Goldstein schreibt, offensichtlich nicht die gescheiterte Reizverwertung an sich, die die Angst auslöst, sondern das sich in der fehlgeschlagenen Reizverwertung ausdrückende Scheitern der Wesensverwirklichung, die ja gerade im Adäquatwerden zwischen Organismus und Umwelt bestand: ‘The danger to his existence does not depend upon a special task but on the fact that the task places him in the situation of not being able to react in accordance with his essential capacities. With that realization of the essential capacities is endangerd – that is life, existence itself.’32

Darin sieht Goldstein den universalen Charakter dieser Form von Angst: die Art des Versagens ist letztlich sekundär, wenn sie nur von dem Betroffenen in der ge33 gebenen Situation als existenzbedrohend im oben genannten Sinne erlebt wird. Gleich ist dem Gesunden wie dem Kranken von daher auch das Streben nach der Vermeidung von Situationen, in denen es zu Katastrophenreaktionen kommen kann. Tendenziell versuchen Gesunde wie Kranke immer wieder, potenziell auftretende Angst in Furcht zu verwandeln, um die Angst beherrschbar zu machen. An den Objekten werden im Verhältnis zum Subjekt, diejenigen Faktoren gefürchtet, die sich als potenziell existenzbedrohend für das Subjekt herausstellen. Auf diese wird in Form gespannter, sich fürchtender Aufmerksamkeit reagiert, die darum bemüht ist, sich das Objekt der Furcht immer auf Objektabstand zu halten. Für Goldstein ist mithin „klar, dass Angst nicht von der Furcht aus verständlich zu 34 machen ist, sondern nur umgekehrt.“ Der Mensch, der ständig von den existenzbedrohenden Eigenschaften der Angst angegangen wird, schafft sich permanent eine Objektwelt, in der er sich zu sich selbst und seiner Umwelt als unterschieden verhalten kann. Den bezeichnenden Unterschied zwischen dem pathologischen

31 K. Goldstein, AO, S. 191. Vgl. K. Goldstein, HN, S. 94. 32 Ebd., S. 91. 33 Goldstein sieht prinzipiell keinen Unterschied zwischen der Reaktion eines Hirnverletzten, der in der Untersuchungssituation an einer Aufgabe scheitert, die er außerhalb dieser Situation sicher beherrscht, und darüber alle Anzeichen einer Katastrophenreaktion zeigt und der Angst, die gelegentlich bei Studenten in Examina auftreten kann. Vgl. K. Goldstein, AO, S. 195. 34 Ebd., S. 191.

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35

und dem gesunden Umgang mit dieser universalen Form von Angst , sieht Goldstein in der Reaktion auf diese existenzielle Erschütterung. Für den Gesunden gilt, dass er „in seiner Bewältigung der Welt von einem Zustande der Erschütterung zu einem anderen [geht; K.B.]. Wenn das nicht immer als Angst erlebt wird, so deshalb, weil er vermöge seiner Natur im Stande ist, in schöpferischer Weise sich Situationen zu schaffen, die sein Leben, seine Existenz sichern, die das Missverhältnis zwischen dem Können und den Anforderungen der Umwelt, das zum katastrophalen Versagen führen müßte, gar nicht eintreten lassen. So lange diese gesicherte Position nicht erschüttert wird, entsteht keine Bedrohung der Existenz, und die Erschütterungen werden deshalb nicht als Angst erlebt.“36

Im Umgang mit der Angst, wie er ihn bei gesunden Menschen versteht, sieht Goldstein zwei Grundtendenzen, die zu anthropologischen Konstanten ausgebaut werden: Das Kulturleben des Menschen ist dadurch zu erklären, dass der Mensch auf der einen Seite bemüht ist, sich vor existenzbedrohenden Situationen zu schützen und von daher eine Tendenz „toward order, norms, continuity and ho37 mogenity“ habe. Dem steht aber „his inherent desire for new experiences, for the conquest of the world, and for an expansion of the sphere of his activity in a prac38 tical and spiritual sense” gegenüber. Zwischen diesen beiden Polen sieht Goldstein das Verhalten des Menschen sich hin und her bewegen, wobei sich die schöpferisch-kreativen Züge beim Gesunden mit den auf Sicherheit bedachten die Waage halten. Mit diesem, an Ernst Cassirer angelehnten Ansatz, in dessen Rahmen die Anthropologie und die Kulturphilosophie aus der Fähigkeit des Menschen, sich eine Objektwelt zu schaffen, ableitet wird, lehnt Goldstein klar Freuds 39 These von der Kultur als Ausdruck der Sublimierung der Angst ab. Seine Theorie der Angst gründet Goldstein dagegen auf die Interpretation der Beobachtung des Verhaltens seiner hirnverletzten Patienten zu ihrer Umwelt. 35 Tiere haben in der Konzeption Goldsteins folglich lediglich Angst und keine Furcht, da sie über keine dem Tier gegenüberstehende Objektwelt verfügen. Vgl. K. Goldstein, AO, S. 193. Ähnlich ist die Argumentation bei Kierkegaard der schreibt: „Den Begriff Angst sieht man fast niemals in der Psychologie behandelt, ich muss deshalb darauf aufmerksam machen, dass er gänzlich verschieden ist von der Furcht und ähnlichen Begriffen, die sich auf etwas Bestimmtes beziehen, während die Angst die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit ist.“ Vgl. Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, Eine simple psychologisch-hinweisende Erörterung in Richtung des dogmatischen Problems der Erbsünde, Hamburg 1991, S. 40. 36 Ebd., S. 195. 37 K. Goldstein, HN, S. 111. Vgl. K. Goldstein, AO, S. 196. 38 Ebd. Diesen Aspekt hebt Goldstein besonders bei Kindern als dem Pol der Angst vor dem Unbekannten überlegen hervor. Vgl. K. Goldstein, AO, S. 192f. Er hat dabei sicherlich Kierkegaards Ausführungen zum Thema der kindlichen Angst im Hinterkopf, zumal er später auch auf die bei Kierkegaard erwähnte Korrelation von der tiefe der Angst mit der Tiefe des Geistes, die auch für Tillichs Angstkonzeption von Bedeutung ist, zurückgeht. Vgl. S. Kierkegaard, Ebd., S. 41. 39 Zu Freuds Sublimierungsthese als Ursprungshypothese des kulturellen Schaffens des Menschen vgl. Hans-Martin Lohmann/Joachim Pfeiffer (Hg.), Freud Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart u.a., S. 239ff.

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Goldstein, der zwischen den bei seinen Patienten auftretenden Angstzuständen, die er als Reaktionen auf die vorliegenden Strukturveränderungen versteht, und 40 neurotischen Angststörungen keinen wesentlichen Unterschied sieht , interessiert er sich besonders für die sich wandelnde Objektbeziehung der Patienten. Während er bei Gesunden generell die Tendenz sieht, Angstzustände in Furcht zu verwandeln, in dem es ihnen gelingt, sich von der konkreten Situation zu lösen und sich zu den angstauslösenden Faktoren somit abstrakt zu verhalten, ist diese Fähigkeit bei Hirnverletzten signifikant gestört. Der Hirnverletzte hat die Fähigkeit, sich in abstrakter Form aus der gegebenen angstauslösenden Situation herauszustellen, 41 verloren. Sein Verhalten bleibt im Konkreten verhaftet, die Dimension des Möglichen ist nicht mehr vorhanden. Das heißt nun aber nicht, dass diese Patienten in permanenter Angst leben, vielmehr beschreibt Goldstein die Verhaltensänderung der Kranken als einen vom Verhalten der Gesunden graduell aber nicht prinzipiell unterschiedenen Anpassungsprozess: Sie beginnen, sich an die für sie veränderten Umweltbedingungen anzupassen, indem sie korrespondierend mit ihrer herabgesetzten Fähigkeit, auf Reize adäquat zu reagieren, sich auf eine Welt zurückziehen, in der ihnen weniger Gefahr droht: ‘The tendency to avoid them [the catastrophic situations; K.B.] therefore is a dominant feature of his whole behavior. Avoiding catastrophic situations is possible only if he is able to come to terms with the world in spite of his defects – that is, only if he finds a new millieu which is appropriate to his defective condition, a milieu from which no stimuli arise which put him into a catastrophic condition. (…) One way to escape catastrophe consits in voluntary withdrawing, to a greater or less degree, from the world.’42

Dieses Vermeidungsverhalten kann sich von relativ harmlosen Fällen der strengen Normierung von Verhalten und Umwelt bis zur totalen Verweigerung des Kon43 takts mit der Außenwelt durch vorübergehende Bewusstlosigkeit erstrecken. Das zwischen den Polen der Angstvermeidung und der kreativ-schöpferischen Auseinandersetzung mit potenziellen Angstsituationen oszillierende Verhalten des Gesunden schlägt im Krankheitsfall um in die Dominanz des normierenden Pols. Die Krankheit führt beim Kranken immer wieder zu einem Verhalten, das die Verwirklichung von Akten der Freiheit verhindert, da das Bedürfnis nach Sicherheit die Oberhand gewinnt. Eine weitere entscheidende Komponente von Goldsteins anthropologischem Denken ist die Überführung seines Konzepts der Furcht in die Kategorie des Mutes, in der er – wie auch Tillich – das der Angst entgegentretende Prinzip sieht. Im Leben des Gesunden sieht Goldstein einen kontinuierlichen Fluss von Herausforderungen und Gefährdungen, der auf neurologischer Ebene mit der Überführung 40 41 42 43

Vgl. K. Goldstein, HN, S. 100. Vgl. Ebd., S. 94. Ebd., S. 95f. Vgl. Ebd., S. 96f.

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und Vermeidung von Katastrophenreaktionen in geordnete Reizverarbeitung durch die kontinuierlich sich wandelnde Gestalt der Objektbeziehung des Menschen begegnet wird. In diesem Vorgang, in dem Goldstein das Prinzip alles Lebendigen wie es sich in seiner speziellen Ausprägung im Menschen findet, sieht er auch die Freiheit und Individualität des Menschen gegründet. Auf die Ebene des Erlebens übersetzt benutzt Goldstein zur Beschreibung dieses Vorgangs der Wesensverwirklichung beim Menschen den Terminus Mut: ‘In the final analysis courage is nothing but an affirmativ answer to the shocks of existence, to the shock which is nescessary to bear for the sake of realizing one’s own nature.’44

Wie das Sein bei Tillich, so wird auch bei Goldstein die Struktur, die sich in der mutigen Annahme und Integration der Gefährdung des Lebens als selbstaffirmativ darstellt, zur Basis für eine verschiedene Aspekte umfassende Anthropologie. Goldstein konkretisiert also über den Angstbegriff die anthropologischen Komponenten seiner primär am Organismusbegriff entworfenen Wesenslehre, indem er vom Angstbegriff ausgehend die Frage nach dem Verhältnis von Gesundheit und Krankheit materialiter über die Fähigkeit zur Abstraktion durch die Strukturierung der Subjekt-Objekt-Beziehung hin zu einem spezifischen Freiheitsbegriff auszieht, der selbstverständlich Ausstrahlung in den Bereich des sozial-kulturellen hat. So liegen im Angstbegriff Goldsteins anthropologische Grundgedanken in konzentrierter Form vor: zum einen wird der Mensch hier mit seiner basalen Natürlichkeit konfrontiert, von der er sich nicht trennen kann und zum anderen setzt sein Konzept des Menschen als eines seine Biologie überwindenden auf die Möglichkeit des Geistes hinstrebenden Wesens an diesem Punkt an. Goldstein schreibt: „Hier zeigt sich der wahre Mut bei dem es ja letztlich nicht um die Dinge der Welt geht, sondern um die Existenzbedrohung, der Mut, der in seiner tiefsten Form ja nichts anderes ist als eine Bejahung der Erschütterung der Existenz als eine Notwendigkeit zur Verwirklichung der eigenen Wesenheit. Diese Form der Überwindung der Angst setzt die Fähigkeit der Einordnung einer Einzelsituation in einen größeren Zusammenhang voraus d.h. die Einstellung auf Möglichkeiten, die nicht gegenwärtig verwirklicht sind, im höchsten Sinne Einstellung auf geistiges Sein. Sie setzt weiter die Freiheit der Entscheidung für diese Möglichkeit voraus. Sie ist deshalb eine charakteristische Eigentümlichkeit des Menschen.“45

Auf diese letztgenannten Zusammenhänge sowie die spezifische Ausprägung des Freiheitsbegriffes Goldsteins möchte ich später im Rahmen der genaueren Analyse der Sprache, auf die hier schon wiederholt zurückgegriffen werden musste, detailliert eingehen. (2) Wie Goldstein, so sieht auch Tillich im Phänomen der Angst den empirisch wahrnehmbaren Ausdruck eines zugrundeliegenden verborgenen Vorgangs. Wäh44 K. Goldstein, HN, S. 113. 45 K. Goldstein, AO, S. 198.

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rend die Angst bei Goldstein als ins Erleben übersetzter Ausdruck der sich auf neurologischer Ebene vollziehenden Gefährdung der Wesensverwirklichung verstanden wird, drückt sich bei Tillich in ihr der essenzielle Konflikt zwischen Sein und Nichtsein aus. Wie für Goldstein, so stellt auch für Tillich die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht die grundlegende Differenz dar, von der ausgehend ein Verstehen des Daseins des Menschen in seinem Verhältnis zum Sein angegangen werden kann. Neben dieser Differenzierung wird auch bei Tillich schnell der im essenziellen Geschehen gründende unvermeidlichen Verweisungscharakter von Angst und Furcht aufeinander deutlich. Der Unterschied liegt auch bei ihm in der Struktur der Objektbeziehung: „Furcht hat im Unterschied zur Angst (…) ein bestimmtes Objekt, dem man sich stellen, das man analysieren, bekämpfen, ertragen 46 kann.“ Die Auseinandersetzung mit diesem Objekt kann in beidem bestehen: sowohl exklusive als auch inklusive Strategien ermöglichen eine Partizipation, so dass immer die Chance besteht, „dass die Liebe die Furcht, solange es ein Objekt 47 der Furcht gibt, in der Partizipation besiegen kann.“ Im Zustand der Angst ist 48 der Mensch dagegen mit der „Negation jedes Objekts“ konfrontiert, die zu diffusen Verhaltensmustern führt, die Tillich so beschreibt: „Sie [die Hilflosigkeit im Zustand der Angst; K.B.] drückt sich in Richtungsverlust aus oder in falschen Reaktionen, im Mangel an ‚Intentionalität‘ (dem Bezogensein auf sinnvolle Inhalte der Erkenntnis oder des Willens).“49

Angst und Furcht sind aber nicht voneinander zu trennen, sondern sind jeweils ineinander enthalten und stehen so in einem Verweisungsverhältnis zueinander: 50 „Der Stachel der Furcht ist Angst, und die Angst strebt zur Furcht.“ Tillich illustriert diesen Zusammenhang an der Furcht vor dem Sterben. Die Furcht hat in diesem Vorgang ihr Objekt in der gefürchteten Situation des Sterbevorgangs selbst, dem damit vielleicht einhergehenden körperlichen Schmerzen, dem endgültigen Abschied von Freunden und Familie. Zugleich geht für den endlichen Menschen mit dem Bedenken der Sterblichkeit alles Lebendigen die Konfrontation mit der Drohung seines eigenen Nichtseins einher, dem er nicht ausweichen kann. Von daher versteht Tillich das Angstelement in jedem Furchterleben von der Angst vor dem Tod als der Angst vor dem Nichtsein her: die Objekte der Furcht werden zu dem, „was sie teilweise immer schon waren, (…) Symptome der Grundangst des 51 Menschen“. Dem gegenüber sieht Tillich eine zweite Grunddynamik in der Phänomenologie der Angst wirksam: um sich diesen Zustand der Erschütterung des 46 47 48 49

P. Tillich, MzS, in: GW XI, S. 35. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd. Zum hier von Tillich im phänomenologischen Sinne verwendeten Intentionalitätsbegriff Husserls: Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, in: Husserliana III/1, Den Haag 1976, S. 188f. 50 P. Tillich, MzS, in: GW XI, S. 36. 51 Ebd., S. 36f.

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eigenen Seins auf Abstand zu halten, „strebt [die Angst; K.B.] danach, zur Furcht 52 zu werden, denn der Furcht kann durch Mut begegnet werden.“ So notwendig zur Bewältigung des Lebens mit seinen alltäglichen Anforderungen dieser Aspekt auch ist, so vergeblich bleibt er: „Aber letztlich sind die Versuche, die Angst in Furcht zu verwandeln, vergebens. Die Grundangst, die Angst eines endlichen Wesens vor der Drohung des Nichtseins, kann nicht aufgehoben werden. Sie gehört zur Existenz selbst.“53

Diese von der existenziellen Verfasstheit des Menschen aus zu verstehende Angst wird von Tillich ausgehend von dem sich in ihr manifestierenden Verhältnis des Nichtseins zur spezifischen Qualitäten des Seins weiter differenziert. Genauer gesagt ist es eigentlich die Kategorie des Mutes, von der als der essenziellen Form der Selbstbejahung des Seins aus die Angst in ihrer daseinserschließenden Funktion thematisiert wird. Tillich sieht als zur Essenz des Seins drei wesentliche Formen der Bedrohung des Seins durch das Nichtsein gehörig: Das Nichtsein bedroht zum einen die ontische Selbstbejahung des Menschen, sowohl in absoluter Form in der universalen Form der psycho-physischen Vernichtung des Todes als auch in der relativen Form des Schicksals, dessen angstauslösende Faktoren Tillich nicht so sehr in dem Spannungsfeld zwischen Zufall und Determination sieht, sondern in dem Mangel an zwingender Notwendigkeit und dem letzten Ausgeliefertsein an eine fundamentale Irrationalität für den Einzelnen, hinter der Tillich letztlich die 54 absolute Drohung des Todes sieht. Zum anderen ist das Sein in seiner geistigen Selbstbejahung durch das Nichtsein gefährdet, das Tillich als das geistigschöpferische Tätigwerden des Menschen in Sinnbezügen als spontanes Handeln 55 und Reagieren in kulturellen Bezügen versteht. Diese Form der Selbstbejahung wird absolut durch die Angst vor der Sinnlosigkeit als dem „Verlust dessen, was uns letztlich angeht, dem Verlust des Sinnes, der allen Sinngehalten Sinn verleiht [verstanden; K.B.]. Diese Angst wird durch den Verlust eines geistigen Zentrums erzeugt, durch das Ausbleiben einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Existenz, wie symbolisch und indirekt diese Antwort auch sein mag.“56 52 53 54 55

Ebd. Ebd., S. 38. Vgl. Ebd., S. 40f. Aus dem oben Ausgeführten dürfte ersichtlich sein, dass sich für Tillichs Dialog mit der Position Goldsteins, dessen Analyse der Angst und ihrer Überwindung sich im Wesentlichen mit dieser zweiten Ebene der Selbstbejahung in Sinnstrukturen beschäftigt, besonders auf dieser Ebene Berührungspunkte ergeben, wobei sich Goldstein offensichtlich für die basalen Strukturen die die kulturellen Schöpfungen, an die Tillich mit seinem Begriff der schöpferischen Sinnbezüge offensichtlich denkt, erst ermöglichen, interessiert ist. Auch Tillich ist dieser enge Bezug und die Grundlegung, die seine Überlegungen von Goldstein her empfangen, deutlich, wenn er schreibt: „Im ‚ersten‘ sinnvollen Satz ist aller Reichtum des geistigen Lebens potenziell gegenwärtig.“ Ebd., S. 45. 56 P. Tillich, MzS, in: GW XI, S. 43.

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Relativ wird sie bedroht durch das Empfinden der Leere in der Auseinandersetzung mit den kulturellen Schöpfungen, in der das affektive Hingezogensein an ein bestimmtes Objekt, in dem die sinngebende Dimension als sinnstiftend für das eigene Leben empfunden wird, sich in Form des Zweifels in Abneigung und 57 Gleichgültigkeit verkehren kann. Dieser Zweifel kann, sobald er nicht mehr als methodisches Instrument geistigen Lebens verwendet wird, zur universalen, existenziellen Verzweiflung werden. Um dieser Dimension des Zweifels zu entgehen, steht der Mensch in der steten Versuchung, seine Freiheit aufzugeben. Der Sinn geht dann durch die unkritische Orientierung an Tradition, Institution oder Ideologie nicht verloren, aber ein gewichtiger Teil des Selbst muss geopfert werden. Auf dieser Linie liegt auch der Übergang zum Wunsch der Selbsttötung, der einer Existenz, deren Sinn nicht mehr erkämpft werde kann, vorgezogen ist. Dagegen spricht, dass es auch in der Selbstvernichtung nicht zur Restituierung der als Nichtig erlebten Sinnstrukturen kommen kann, so dass Tillich von einem „Zirkel von 58 ontischer und geistiger Negativität“ spricht, in dem sich das Sein quasi ohne Aussicht auf Entkommen als eingekreist erlebt. Als die dritte Form der Bedrohung der Selbstbejahung des Seins stellt Tillich die moralische Selbstbejahung vor. Hier entwirft er die Form seines spezifischen Freiheitsbegriffs: Freiheit bedeutet dem Menschen nicht Freiheit von etwas im Sinne von Indeterminiertheit, sondern ist „in dem Sinne, dass er sich selbst determinieren kann durch Entscheidungen, die 59 er aus dem Zentrum seines Seins fällt“ zu verstehen. Die Verwirklichung dieser Form von Freiheit stellt die essenzielle Forderung des Seins an es selbst dar, die in der Aktualität der Existenz immer wieder verfehlt wird, so dass die moralische Selbstbejahung des Seins absolut als Angst vor Selbstverwerfung und Verdam60 mung, in der relativen Form als Angst vor der Schuld erlebt wird. Diese drei Formen des Empfindens der existenziellen Bedrohung sind eng miteinander verknüpft, sie weisen den Weg in die Verzweiflung, die Tillich als 61 „Grenzsituation“ , als paradoxe Struktur beschreibt: im Zustand der Verzweiflung erscheint das Sein dem Nichtsein letztlich unterlegen, so dass die Situation eintreten kann, dass Selbstbejahung nur noch durch den Eintritt ins Nichtsein in der Selbsttötung erreicht werden kann. Im Rahmen des christlichen Wirklichkeitsverstehens enthält diese Form der paradoxen Selbstbejahung im Gegensatz zur Wahrnehmung im Stoizismus kein konfliktlösendes Potenzial, da vor allem der Angst vor Schuld und Verdammung nicht entgangen werden kann. In dieser „Verzweif62 lung in der Verzweiflung“ sieht Tillich eine extreme Situation, die im Möglichkeitsraum der menschlichen Verfasstheit liegt, von der her das alltägliche Bemü57 58 59 60 61 62

Vgl. Ebd., S. 44. Ebd., S. 46. Ebd. Vgl. Ebd., S. 46f. Ebd., S. 48. Ebd.

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hen der Vermeidung solcher Situationen im Leben des Gesunden zu verstehen 63 ist. Diese Grundstruktur der ontologischen Analyse der Angst – die Angst gehört zum essenziellen Sein des Menschen dazu, die Angst strebt danach, zu Furcht zu werden, der als einem Objekt begegnet werden kann, Angst führt so zwangsläufig zum Mut, da die Alternative die Verzweiflung ist – zieht Tillich auch für seine Ausführungen zu pathologischen Angstphänomenen heran. Angst, wie sie in der therapeutischen Praxis begegnet, muss von dieser ontologischen Analyse aus verstanden werden, denn für Tillich ist es evident, dass allein von hier der Konflikt um eine den einzelnen Angsterscheinungen vorausliegenden Grundangst ent64 schieden werden kann. Als einen weiteren Kritikpunkt an die Adresse der die Psychoanalyse begründenden Wirklichkeitsauffassung führt Tillich die s.E. innerhalb dieses Theorierahmens eingeebnete und letztlich auch nicht leistbare Unterscheidung zwischen den in philosophisch-existenzialistischer Tradition herausgearbeiteten Grundformen der existenziellen Angst und den pathologischen Formen an. Ohne Bezug auf die Ontologie ist das Angstphänomen im rein psychologischen Diskursrahmen nicht angemessen zu thematisieren, da die Kriterien zur 65 Unterscheidung von fundierenden und nachgeordneten Phänomenen fehlen. Tillich schreibt: „Nur im Lichte eines ontologischen Verständnisses der menschlichen Natur kann aus dem riesigen Material, das Psychologie und Soziologie liefern, eine konsequente und umfassende Theorie der Angst entwickelt werden.“66

Von daher wird dann auch Tillichs Rekurs auf den Begriff der Neurose, unter dem alle Formen pathologischer Angst zusammengefasst sind, von seiner Entfaltung des Mutes her verstanden: der Mut war als die Form der Selbstbejahung ‚trotz‘ der Bedrohung des Nichtseins als eine im Menschen liegende Möglichkeit, der Angst zu begegnen, verstanden worden. In der Neurose sieht Tillich die zweite Möglichkeit, die der Mensch zu Vermeidung dauerhafter Verzweiflungszustände hat. „Er bejaht sich noch, aber er bejaht sich noch als ein beschränktes Selbst. Die Neurose 67 ist der Weg, dem Nichtsein auszuweichen, indem man dem Sein ausweicht.“ Die Lösung 63 Vgl. Ebd., S. 49. 64 Vgl. P. Tillich, MzS, in: GW XI, S. 55f. 65 Dieser Gedankengang bringt für Tillich zweierlei mit sich: zum einen erhebt er den Anspruch, von seiner ontologischen Analyse aus innerdisziplinäre Konflikte überblicken zu können – auf diesem Anspruch basierte letztlich die Legitimation seines Vorgehens im SdW – zum anderen erwächst der Ontologie daraus aber nicht automatisch eine Schiedsrichterfunktion, auch wenn die Formulierungen Tillichs das auf den ersten Blick vielleicht nahe legen. Für ihn folgt daraus offenbar eher die Verpflichtung zu auf gegenseitigem Verstehen aufbauender Zusammenarbeit und Dialog. In dieser Richtung sind offenbar auch seine Ausführungen gemeint, die das Angstphänomen in Arbeitsgemeinschaft zwischen Arzt und Seelsorger behandelt sehen wollen. Vgl. Ebd., S. 61f. 66 Ebd., S. 56. 67 Ebd.

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des angstauslösenden Konflikts zwischen Selbst und Welt, den Goldstein in der vom Subjekt geleisteten Restrukturierung der Welt in Anpassung an die reduzierten Fähigkeiten des Organismus gesehen hatte, sieht Tillich ähnlich, allerdings legt er seinen Schwerpunkt nicht so sehr auf die Neustrukturierung der Welt, sondern verlegt die adaptiven Vorgänge mehr auf Seiten des Subjektes selbst: „Der Unterschied zwischen der gesunden (wenn auch potenziell neurotischen) und der neurotischen Persönlichkeit ist folgender: Die neurotische Persönlichkeit hat sich auf Grund ihrer größeren Sensibilität und folglich ihrer größeren Angst gegenüber dem Nichtsein mit einer fixierten, wenn auch begrenzten und unrealistischen Selbstbejahung abgefunden. Das ist gleichsam die Festung, in die sie sich zurückgezogen hat und die sie mit allen Mitteln psychologischen Widerstandes gegen alle Angriffe verteidigt, gleich ob sie von der Wirklichkeit oder von dem Analytiker herrühren. Dieser Widerstand entbehrt nicht instinktiver Klugheit. Der Neurotiker ist sich der Gefahr einer Situation bewusst, in der seine begrenzte Selbstbejahung zusammenbricht, ohne dass eine realistische Selbstbejahung an ihre Stelle tritt. Dann besteht die Gefahr, dass er entweder in eine andere und besser verteidigte Neurose zurückfällt, oder dass er mit dem Zusammenbruch seiner begrenzten Selbstbeja68 hung in unbegrenzte Selbstverneinung, in Verzweiflung verfällt.“

Rückzug, Fixierung, ja mithin Unfreiheit bezüglich des Austausches zwischen Selbst und Welt sind demnach bei Tillich wie bei Goldstein Kennzeichen und Kriterium der pathologischen Reaktion auf die in der existenziellen Situation des Menschen liegende Angst. Tillich wendet dieses Muster pathologischen Umgangs mit Angstsituationen auf seine drei Grundformen der ontologischen Angst an, die auf der Beschreibungsebene Strukturanalogien zu den bei Goldstein beschriebenen Kompensationsleistungen Hirnverletzter darstellen: Die Angst vor Schicksal und Tod wird von Tillich da als pathologisch verstanden, wo die Freiheit der essenziellen Selbstverwirklichung dem Bedürfnis nach Sicherheit geopfert wird: „Die pathologische Angst vor Schicksal und Tod treibt den Menschen dazu, sich in einer Sicherheit zu verschanzen, die der Sicherheit eines Gefängnisses vergleichbar 69 ist.“ Dieses Verständnis erinnert stark an die Schilderungen Goldsteins von Patienten, die sich in dem engen, streng strukturierten Kosmos der Sanatoriumssituation sehr gut zurechtfinden, aber bei noch so harmlos erscheinenden Einbrüchen der Welt außerhalb des Krankenhauses in das geordnete Leben des Sanatoriums 70 sofort alle Anzeichen von Katastrophenreaktionen zeigen. In ähnlicher Weise beschreibt Tillich die sich ins Pathologische wendende Form der Angst vor Schuld und Verdammung. Diese Angst wird dabei als so stark wahrgenommen, dass jegliche Form von auf Entscheidung beruhendem, verantwortlichem Handeln zu vermeiden gesucht wird. Da das nicht vollständig möglich ist, „werden sie auf ein Mindestmaß beschränkt, und hier glaubt man, absolut vollkommen handeln zu 68 Ebd., S. 57f. 69 Ebd., S. 62. 70 K. Goldstein, HN, S. 95ff.

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71

können.“ Selbstverständlich ist es mit erheblichen Problemen behaftet, Goldsteins Ergebnisse auf die stark theologisch bzw. psychoanalytisch affizierte Ebene von Schuld und Verdammung zu beziehen, da Goldstein seine Arbeiten nicht ausdrücklich in diese beiden Richtungen auszieht. Doch schildert er Fälle, in denen seine Patienten sich auf ihnen mögliches sicheres Verhalten zurückziehen, was auch die Beziehungen zu anderen Menschen umfasst. Werden sie mit Aufgaben konfrontiert, die sie nicht ausführen können, versuchen sie häufig, diesen Umstand zu verbergen, indem sie die Aufmerksamkeit des Untersuchenden auf einen Bereich lenken, den sie beherrschen. Gelingt das nicht, dann zeigen sie Anzeichen von Verzweiflung über ihr Scheitern und geraten darüber in Panik. Wodurch genau diese Form der Schuld hervorgerufen wird – sei es der Versuchsaufbau, die Art des Fragens des Untersuchers, die persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient – lässt sich im Einzelnen wohl nur schwer feststellen, doch in Anwendung von Tillichs Kategorien, der die essenzielle Selbstbejahung des Menschen nicht nur als ontologischen Befund, sondern zudem als Aufgabe gesehen hatte, ist eine Interpretation im Modus der Schuld im transmoralischen Sinne durchaus mög72 lich. Eindeutiger ist diese Strukturanalogie an dem dritten Punkt, der Angst vor Leere und Sinnlosigkeit, aufzuweisen. Die Tendenz des Gesunden, den Zweifel durch den Bezug auf Tradition und Autorität vor dem Umkippen in Verzweiflung zu hindern, wird beim Neurotiker zur Unfähigkeit „ein richtiges Verhältnis zur Wirklichkeit zu finden, [die; K.B.] seinen Zweifel wie seine Gewissheit unrealistisch [macht; K.B.]. Beide erscheinen ihm am falschen Ort. Er bezweifelt, was praktisch über dem Zweifel steht, und glaubt Gewissheit zu haben, wo Zweifel angemessen wäre.“73

Goldstein interpretiert die Ängste seiner Patienten in ähnlicher Weise, wenn er wiederholt davon berichtet, dass diese große Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Situationen haben, in denen sie mit einer für sie nur mangelhaft strukturierten Welt konfrontiert werden. Diese Angst beschreibt Goldstein als ein „horror 74 vacui“ : etwa wenn Hirnverletzte dazu aufgefordert werden, auf ein leeres Blatt zu schreiben. Sie sind dazu nicht in der Lage und verweigern sich häufig der Aufgabe und versuchen, die Aufgabe so zu verändern, dass sie in der Lage sind, sie zu erfüllen. So bitten sie etwa darum, das Blatt mit Linien vorzustrukturieren, so dass für sie das Maß an Sicherheit hergestellt ist und der Aufforderung Folge geleistet werden kann. Besonders im Zusammenhang aphasischer Störungen hat Goldstein die damit einhergehende Strukturveränderung als den ultimativen Verlust der Möglichkeit überhaupt interpretiert, eine Welt aus sich selbst heraus als Objekt zu

71 72 73 74

P. Tillich, MzS, in: GW XI, S. 63. K. Goldstein, HN, S. 87; 97ff. P. Tillich, MzS, in: GW XI, S. 63. K. Goldstein, HN, S. 105.

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setzten, dem in Freiheit und Abstraktion gegenübergetreten werden kann. Ich werde darauf im folgenden Abschnitt zur Freiheit noch zu sprechen kommen. Um die Darstellung der Argumentation Tillichs abzuschließen, bleibt nun noch auf die Verbindung zwischen Mut und Vitalität einzugehen, die am Ende seiner Überlegungen stehen. Dieser Abschnitt ist dabei von besonderem Interesse, denn so sehr Tillich die vorausgehenden Überlegungen schon auf eine Arbeitsgemeinschaft zwischen Theologie, Medizin und Psychologie hin ausgearbeitet hat, auf die unter (1.3) eingegangen werden soll, so findet nun eine direkte Konfrontation zwischen biologischen und ontologisch-theologischen Kategorien statt. Es geht Tillich um die Frage der Verortung des Erklärungsanspruchs der Biologie im Rahmen seines Verstehens von Angst, Furcht und Mut als psychosomatische Phä76 77 nomene. Die Furcht hat für Tillich aus biologischer Sicht eine Wächterfunktion, die den Organismus vor Bedrohungen warnen und ihn zu schützendem Verhalten anhalten kann. In diesem Kontext versteht Tillich auch den Mut: „Biologische Selbstbejahung bedeutet das Auf-sich-Nehmen von Not, Mühsal, Unsicherheit, Schmerz, möglicher Vernichtung. Ohne diese Selbstbejahung könnte Leben nicht vermehrt werden. Je mehr Lebenskraft ein Sein hat, umso besser ist es imstande, sich trotz der Gefahren, die ihm durch Furcht und Angst angezeigt wer78 den, zu bejahen.“

Wie Goldstein so geht auch Tillich davon aus, dass das Verhalten und Erleben jedes Organismus stetig zwischen dem Mut und der Furcht oszilliert und – sofern es keine selbstzerstörerischen Züge annimmt, immer wieder in einen Zustand der Mitte zurückkehrt, von dem ausgehend dann neue Herausforderung angegangen werden können. In diesem Gleichgewicht sieht Tillich auch das wichtigste Kennzeichen der biologischen Kategorie der Vitalität: „Ein Leben, das dieses Gleichgewicht besitzt und damit Seinsmächtigkeit hat, hat – in der Sprache der Biologie – Vitalität, das heißt Lebenskraft. Der rechte Mut wie die rechte Furcht müssen daher als Ausdruck einer vollkommenen Vitalität verstanden werden. Der Mut zum Sein ist eine Funktion der Vitalität.“79

Neben diesen von Tillich selbst benannten strukturellen Analogien, die sich zwischen seinem Ansatz und von biologischen Paradigmen her formulierten Ansätzen zeigen, ergeben sich für Tillich in drei Bereichen Fragen, die die Identität der Beschreibungsebenen in Frage stellen. In diesem Vorgehen zeigt sich sehr deutlich das wissenschaftstheoretische Grundverständnis Tillichs: für die Beschreibung und im gewissen Maße auch der Deutung von lebensweltlichen Problemen ist die 75 Ebd. 76 Vgl. P. Tillich, MzS, in: GW XI, S. 64. 77 Tillich spricht in seiner Auseinandersetzung mit dem ‚biologischen Standpunkt‘ hauptsächlich über die Furcht, da er – worauf ich gleich eingehen werden – in der Angst einen über diesen Standpunkt hinausgehendes Element sieht. 78 Ebd. 79 Ebd., S. 65.

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Rückbindung an die Ursprungsdiskurse unbedingt einzubeziehen. Das führt aber nicht dazu, dass Tillichs eigene Fragerichtung durch diesen Anschluss absorbiert wird, vielmehr dient die Rückbindung an den biologischen Diskurs der Schärfung des eigenen spezifischen Profils. Zur Diskussion stellt Tillich in Auseinandersetzung mit der Biologie zunächst die Unterscheidung zwischen Furcht und Angst, sodann geht er auf die Schwierigkeiten des Vitalitätsgedankens ein, um abschließend die Frage nach dem Woher des Mutes zum Sein zu stellen. Tillich hatte bei seiner Darstellung des Fragenkomplexes von Angst und Furcht aus biologischer Sicht lediglich auf den Begriff der Furcht zurückgegriffen, dem er eine Schutzfunktion für das Fortbestehen des Lebens eingeräumt hatte. Auf die Verwendung des Angstbegriffs verzichtet er in diesem Zusammenhang beinahe völlig. Das hat seinen Grund darin, dass er die Angst nicht als eine im Biologischen angesiedelte Funktion versteht, da er in ihr kein lebensförderndes sondern eher ein zerstörerisches Element sieht: „Die Tatsache (…), dass das Leben versucht, Angst in Furcht zu verwandeln, zeigt, dass die Angst biologisch ohne Nutzen ist und nicht als Schutz des Lebens erklärt werden kann. Sie führt vielmehr zu Verhaltensweisen, die das Leben gefährden. Deshalb transzendiert die Angst durch ihr Wesen als solches den biologischen 80 Standpunkt.“

Damit werden allerdings neben der primär ins Auge springenden Ablehnung biologischer Erklärungsmuster der Angst als einer biologischen Kategorie auch die Punkte der Berührung und Arbeitsteilung zwischen theologisch motivierter und biologischer Anthropologie, wie sie sich bei Tillich und Goldstein abzeichnen, deutlich: Die Angst ist bei Goldstein biologisch als Katastrophenreaktion beschrieben worden und er hatte sich damit dagegen verwahrt, die somatischen Faktoren lediglich als Anhängsel psychischer Zustände in den Blick zu nehmen, allerdings würde er der Analyse der Nutzlosigkeit der Angst für die Lebenserhaltung, die Tillich hier formuliert, unterstützen. Allerdings hatte Goldstein Angst und Furcht als biologische Kategorien nicht primär unter dem Aspekt des Nutzens verstanden, sondern sie als einen Zustand beschrieben, der gelegentlich im Leben des Organismus im Austausch mit seiner Umwelt auftritt und das Scheitern seiner Wesensverwirklichung bezeichnet. In diesem Zustand, den er primär als an pathologisch veränderten Organismen auftretendes Phänomen versteht, sieht er sekundär eine potenziell allem Lebendigen inhärente Möglichkeit, die individuell durch jeden – auch den Gesunden – gelegentlich zu bewältigen ist. Zur Analyse dieses Zustandes muss Goldstein dann allerdings in der Tat – wie von Tillich hier angemerkt – die Grenzen des biologischen Diskurses sprengend auf philosophische Kategorien zurückgreifen. Offenbar sind sich Tillich und Goldstein in dieser Hinsicht einig, sie würden aber das Maß der Unterscheidung von Angst und Furcht unterschiedlich fassen. Bei Goldstein sind trotz der Behauptung der kategorialen 80 Ebd., S. 66.

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Unterscheidung die Übergänge von Angst zu Furcht aufgrund seiner Bestimmung des Wesens des Lebendigen fließend, letztlich liegen Angst und Furcht auf einer Ebene, obwohl sie in ihrer Phänomenologie strikt unterschieden werden. Tillich dagegen will diese kategoriale Unterscheidung strenger durchgeführt wissen. In der Angst kommt für ihn eine grundsätzlich andere Dimension des Seins zum Vorschein als sie in der Furcht zu beobachten ist. Dass diese strenge Unterscheidung bei Tillich allerdings mehr eine Behauptung als durchgeführtes Programm ist, wird daran deutlich, dass auch er das stete Aufeinanderbezogensein beider betont. Ausführlicher geht Tillich auf die Anfrage ein, die sich ihm vom Gedanken der Vitalität aus stellen. In diesem Rahmen findet sich die ablehnende Stellungsnahme zum politischen Missbrauch des Begriffs der Vitalität in der nationalsozialistischen Ideologie, sowie das Plädoyer für ein unter diesem Begriff zusammengeführtes Denken von Geist und Natur im Menschen. Nach dem bisher Gesagten ist es nicht weiter verwunderlich, dass Tillich hier deutlich auf Goldsteins Konzeption zurückgreift. Tillich und Goldstein ziehen beide eine strenge Trennlinie zwischen der Vitalität im Menschen und der bei Tieren zu beobachtenden Form. Das wesentliche Charakteristikum der Vitalität als einer Ermächtigung zum Leben richtet sich nach der jeweiligen Art des Seins, die beim Menschen wesentlich vom Tier unterschieden ist. Spezifisch für menschliches Sein ist dessen Ausrichtung auf Sinngehalte, die Tillich als Intentionalität versteht. Er schreibt: „Die Vitalität des Mensch ist so stark wie seine Intentionalität, beide sind von einander abhängig. Das macht dem Menschen zum vitalsten aller Lebewesen. (…) Vitalität ist die Macht, sich zu transzendieren, ohne sich zu verlieren. Je mehr Macht der Selbsttranszendierung ein Wesen hat, umso mehr Vitalität hat es.“81

Diese Intentionalität des Menschen, die seine Vitalität von der in der Tierwelt vorherrschenden unterscheidet, gründet Tillich in der sowohl biologisch als auch geistigen Verfasstheit des Menschen als eines Sprache habenden Wesens. Die Sprache ist der Punkt im Menschen, an dem sich seine Subjektivität immer wieder neu im Austausch mit und in der Gestaltung der Welt befindet. Im Medium der Sprache ist dem Menschen die Möglichkeit zur Lösung vom Konkreten, mithin die Abstraktheit der Welt als einer vom Individuum unterschiedenen Seinsweise 82 gegeben, die ihm Raum für Gestaltung und Freiheit lässt. Diese Analyse offenbart den hohen Stellenwert, den die Sprache als das Mittel der Selbsttranszendenz einnimmt: sie ist ihrem Wesen nach primär ein wesentlicher Faktor des biologischen Wesens Mensch, trägt aber in sich die Möglichkeit, die Ebene der Biologie zu überschreiten. Mit dieser Gewichtung des Phänomens der Sprache rückt Tillich 81 P. Tillich, MzS, in GW XI, S. 66f. 82 Als eines der wichtigsten Merkmale der Unterscheidung von Mensch und Tier, das der gesteigerten Vitalität des Menschen geschuldet ist, stellt Tillich die Technik vor, die er als Ausdruck der Fähigkeit zur Selbsttranszendenz versteht. Vgl. Ebd., S. 67.

Die Verwirklichung des Menschen – Angst, Furcht und Mut

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nahe an die Position Goldsteins, der die Sprache als Zentralkategorie der Anthropologie vorgeschlagen hatte, heran. Diese Anlehnung geht neben den strukturellen Ähnlichkeiten in diesem Fall bis in den Wortlaut hin: „Der fundamentalste Ausdruck dieser Tatsache [der gegenseitigen Abhängigkeit von Selbst und Welt; K.B.] ist die Sprache, die dem Menschen die Macht gibt, von dem konkret Gegebenen zu abstrahieren und, nachdem er von ihm abstrahiert hat, zu ihm zurückzukehren, um es zu verstehen und umzuformen. Das vitalste Wesen ist das Wesen, welches das Wort besitzt und durch das Wort von der Verhaftung an das Gegebene befreit ist. In jeder Begegnung mit der Wirklichkeit ist der Mensch schon über diese Begegnung hinaus. Er weiß von ihr, er vergleicht sie mit anderen, er wird durch andere Möglichkeiten versucht, er nimmt die Zukunft voraus und er erinnert sich der Vergangenheit. Das ist seine Freiheit, und in dieser Freiheit besteht die Macht seines Lebens.“83

Diesen Gedanken zieht Tillich weiter auf sein Verständnis des Verhältnisses von Geist und Natur im Menschen hin aus. Als verhängnisvoll interpretiert er die moderne Umdeutung des Begriffes Geist in Richtung auf ein rein intellektuelles Geschehen im Menschen, das von der Anbindung an die Vitalität und in Wechselwirkung mit ihr stehend als getrennt gedacht wird. Die Spaltung des Mensch in 84 „blutlose Intellektualität“ und „sinnleere Vitalität“ ist die Folge, die es für Tillich zu überwinden gilt. Vor dem Hintergrund seines hier vorgestellten Konzepts, das im Element der Sprache biologische Vitalität und geistige Intentionalität eint, wird auch die Pointe deutlich, auf die hin Tillich seinen Gedanken zuspitzt: „(…) im Menschen gibt es nichts ‚rein Biologisches‘, ebenso wenig wie es etwas ‚rein Geistiges‘ gibt. Jede Zelle seines Körpers partizipiert an seiner Freiheit und seiner Geistigkeit, und jeder Akt seiner geistigen Tätigkeit wird von seiner Vitalität genährt.“85

In diesem Sinne sieht Tillich im Menschen die Ebene des Seins, mit dem er die Macht zum Leben des lebendigen Wesens Mensch umschreibt, mit der Ebene des Sinns, auf die sich der Mensch immer hin bewegt, geeint. Sein und Sinn sind für Tillich so im Menschen untrennbar verbunden. Abschließend geht Tillich noch auf die Antwort der Biologie auf die Frage nach dem Woher des Mutes zum Sein ein, die er als von der individuellen Gestal86 tung der vitalen Kräfte, letztendlich vom Schicksal aus beantwortet sieht. Darin erkennt Tillich die moderne Auffassung des Mutes mit der Anschauung im frühen Hellenismus geeint, die beide auf den Geschenkcharakter, der dem Mut eigen ist, 83 Ebd., S. 67. In nahezu allen Abschnitten der ST, in denen sich Tillich mit dem Phänomen der Sprache auseinandersetzt, geht er auf Goldsteins Arbeiten ein, ohne diesen Bezug jedoch explizit zu machen. Lediglich an einer Stelle findet sich ein entsprechender Hinweis: P. Tillich, ST III, S. 88. 84 P. Tillich, MzS, in: GW XI, S. 67 85 Ebd. 86 Vgl. Ebd.

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Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog

verweisen. So gesehen kann der Mut zum Sein zwar als eine moralische Kategorie ex post verständlich, aber niemals als Norm aufgegeben werden. Im Kontext dieses Verstehens des Mutes vom biologischen Standpunkt aus bietet sich für Tillich im Modus der Analogie eine Neujustierung des Begriffs der Gnade an: „der Mut zum Sein kann nicht befohlen und nicht durch ein Gebot gewonnen werden. Reli87 giös gesprochen: Er ist ein Geschenk der Gnade.“ Mit dieser Konzeption des Mutes ist für Tillich auch der Zielpunkt für seine Ethik benannt: die Bejahung des essenziellen Seins, die er dem Mut als Aufgabe entgegengestellt hatte, liegt jenseits alles normativ Einholbaren. In Analogie zum biologischen Befund der Vitalität ist der Mut im Erleben letztlich als ein Streben aus sich selbst heraus, dem die Macht des Gelingens von außer ihm liegenden Faktoren zukommt, so dass Tillich zum Abschluss seiner Erörterung zusammenfasst: „Mut ist Gnade – das ist ein Ergeb88 nis und eine Frage.“ 1.3

Die Ebene der Integration

Nach dem bisher zum Thema von Angst und Furcht Gesagten dürfte das Dass des engen wissenschaftlichen Austausches zwischen Tillich und Goldstein nicht weiter strittig sein. Auch bezüglich des Wie der Gestaltung dieses Austausches sind einige grundlegende Strukturen deutlich zu Tage getreten, so dass es nicht mehr schwer fällt, zu erklären und zu verstehen, aus welchen Motiven heraus und mit welcher Stoßrichtung Tillich und Goldstein an den ihnen gemeinsamen Themenfeldern gearbeitet haben. Tillich hat die Bedeutung von Goldsteins Arbeiten zum Thema von Angst und Mut so zusammengefasst: „Eine Folge der Individuation des Lebens ist der ‚Zustand der Angst‘ in jedem Individuum. Goldsteins Theorie der Angst und seine Auffassung von dem Verhältnis zwischen Angst und Furcht gehören zu den wichtigsten und folgenreichsten seiner Aussagen über die menschliche Natur. Sie sind für die Religionsphilosophie von größter Bedeutung und bestätigen die allgemeine Annahme der meisten Religionen, dass nämlich der Mensch in einem Zustand der Angst lebt auf Grund der Struktur der Wirklichkeit, an die er gebunden ist. Als Individuum muss er sich mit der Welt, die ihn bedroht, arrangieren. Das kann auf zweifache Weise geschehen: entweder in der neurotischen Form des Rückzuges aus der Wirklichkeit insgesamt und der ängstlichen Verteidigung eines begrenzten Teils von ihr oder aber in der schöpferischen Weise einer ‚positiven Antwort auf die Erschütterungen seiner Existenz‘. Aber das schafft die Angst nicht aus der Welt. Im Gegenteil, je eigenständiger ein Mensch ist, desto tiefer ist seine Angst, aber wenn er ihr standhalten kann, hat er seine Freiheit gerettet und die höchste Form der Selbstverwirklichung erreicht.“89

87 Ebd., S. 69. 88 Ebd. 89 Ebd.

Die Verwirklichung des Menschen – Angst, Furcht und Mut

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Auf diesen Aspekt von Tillichs Angstbegriff als Interpretationsressource hat die Forschung bisher nicht zurückgegriffen. Es finden sich lediglich einzelne Hinweise 90 auf die mögliche Bedeutung von Goldsteins Arbeiten für Tillich insgesamt. Überhaupt ist der Angstbegriff bei Tillich bisher nicht als einer der wesentlichen Punkte, an dem sich die Struktur der Begegnung zwischen Tillichs theologischem Denken und seiner Sicht auf Naturwissenschaften offen liegt, wahrgenommen 91 worden. Nach der oben vorgenommenen Analyse der Arbeiten Tillichs und Goldsteins dürfte dagegen deutlich geworden sein, dass bei Tillich das Thema der Angst nicht so sehr von seiner Aneignung psychoanalytischer Kategorien aus verstanden werden kann, sondern für ein angemessenes Verständnis auch auf biologische Kategorien zurückgegriffen werden muss, die ihren Ursprung in der Diskus92 sion um das Wesen des Lebendigen haben. Deutlich geworden ist zudem auch, dass der wesentliche Berührungspunkt in dem von beiden Wissenschaftlern vollzogenen Rückgriff auf existenzialistische Kategorien zu sehen ist. Der Umstand, dass Goldstein bereit war, diese für die Interpretation seiner Arbeiten heranzuziehen und seine Befunde auf ihren Stellenwert im Rahmen seiner Anthropologie hin zu befragen, dürfte das gegenseitige Verstehen extrem erleichtert haben. Wie Tillich, so bestätigt auch Goldstein diese gegenseitige Übereinstimmung als Bereicherung für sein eigenes Arbeiten, wenn er diesem zu seinem 70. Geburtstag schreibt: „Dies und so vieles andere und prinzipieller: ist doch für uns beide die Kategorie des Mutes und der [ein Wort unlesbar] des Seins, trotz aller Schwierigkeiten und

90 So weit zu übersehen ist, ist Karin Grau in ihrer Arbeit die einzige Autorin, die mehrfach auf den zu erwartenden Ertrag einer Synopse der Arbeiten Tillichs und Goldstein zum Thema der Angst hinweist. Zwar findet die Bekanntschaft Tillichs mit Goldsteins in allen einschlägigen biographischen Texten zu Tillich Erwähnung, doch gibt es keine Arbeit, die dieser Fährte näher nachgeht. Vgl. Karin Grau, Healing power, S. 75; 175f.; 187; 194. 91 Die Interpretation von Tillichs Angstkonzept ist bisher weitgehend von existenzialistischen oder psychoanalytischen Kategorien ausgegangen. Vgl. Fritz Leist, Gesundheit und Krankheit. Eine philosophische Betrachtung, in: Wege zum Menschen, Nr. 13/8, Göttingen 1961, S. 272–279. Oder etwa die Arbeit von Terry D. Cooper, der Tillichs Angstbegriff allein von seinem Kontakt mit psychoanalytischen Denken her versteht, die Arbeiten Goldsteins aber offensichtlich nicht kennt, da sie im gesamten Buch nicht einmal erwähnt werden. Vgl. Terry D. Cooper‚ Paul Tillich and Psychology. Historic and Contempory Explorations in Theology, Psychotherapy, and Ethics, Mercer 2006. 92 Die Frage der Begegnung zwischen Theologie und Naturwissenschaften ist bei Tillich bisher lediglich von den Möglichkeiten der Vermittlung zwischen den Alternative Natürlicher Theologie oder Offenbarungstheologie, von seiner Schöpfungs- bzw. Gotteslehre her in den Blick genommen worden. Bezeichnend für diesen Ansatz sind die Beiträge in dem Sammelband: Vgl. Gerd Hummel (Hg.), Natural Theology versus Theology of Natur?/Natürliche Theologie versus Theologie der Natur?/: Tillich’s Thinking as Impetus for a Discourse among Theology, Philosophy and Natural Sciences,Tillichs Denken als Anstoß zum Gespräch zwischen Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft, Proceedings of the IV. International Paul Tillich Symposion held in Frankfurt am Main 1992/Beiträge des IV. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt/Main u.a. 1993.

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Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog

Ängste immer mehr zum Zentrum und zur positiven Bewertung der Existenz geworden. – Wie freute ich mich, im Theologen eine Bestätigung zu finden!“93

Spezifisch für beide Denker ist zudem, dass beide im Rahmen ihrer Konzeption den Übergang zwischen Natur und Geist, wie sie ihn im Menschen sehen, beschreiben, wobei der gedankliche Weg von dem jeweils entgegengesetzten Pol aus beschritten wird. Dabei hatten sich spezifische Berührungspunkte ergeben, die ich hier kurz reflektierend zusammenfassen möchte, ohne auf die Details nochmals einzugehen: Als Ergebnis des oben Explizierten kann man für Tillich formulieren, dass Natur und Geist immer als fundamental aufeinanderbezogen zu denken sind, lediglich im Prozess des geistigen Lebens transzendiert der Geist die Natur notwendigerweise immer wieder aufs Neue ohne ihre strukturierenden Aspekte je94 doch jemals hinter sich lassen zu können. Mit dieser Konzentration auf die Integration der naturwissenschaftlichen Deutungsebene in seine ontologisch fundierte Anthropologie löst Tillich den theologischen Bezug auf Elemente der Natur aus der problematischen Alternative zwischen natürlicher Theologie und Offenbarungstheologie heraus. Bezeichnend ist dabei, dass sich weder Goldstein noch Tillich im Rahmen ihrer Konzeption trotz der deutlichen Anleihen, die wechselseitig aufgewiesen werden konnten, die Plausibilitätsstrukturen der jeweils anderen Konzeption zu eigen machen, um ihre eigene Argumentation zu stützen. So sprengt weder Goldstein mit seiner Einbeziehung existenzialistischer Kategorien den naturwissenschaftlichen Rahmen, da er diese lediglich als Deutungs- und Interpretationsrahmen heranzieht. Seine Ausgangspunkte bilden weiter die im klinischen Versuch strukturierten und dokumentierten Beobachtungen des Verhaltens seiner Patienten. Ruft man sich in Erinnerung, dass Goldstein naturwissenschaftliche Begriffsbildung im kritisch gegen den Positivismus gewandten Sinne als Funktionsbegriffe verstanden hatte, so liegt es für ihn ganz auf der Linie seines Verständnisses der Bildung von naturwissenschaftlichen Begriffen, dass Deutung und Interpretation zum primären Geschäft der Naturwissenschaften gehören und nicht eine ihr fremde, von außen übergestülpte Dimension darstellen. Auch Tillichs Bezug auf naturwissenschaftlich erworbenes Wissen geschieht nicht in der Absicht, sich die vermeintlich der Naturwissenschaft eher zugeschriebenen Objektivität und Plausibilität zu Eigen zu machen, um den eigenen Entwurf aufzuwerten und abzusichern. Es geht offenbar keinem der beiden darum, sich die Plausibilität und Objektivität aus ihnen fremden wissenschaftlichen Diskursen zu leihen, obwohl beide in den Ergebnissen des Anderen eine Bestätigung sehen. Der 93 K. Goldstein, Brief an Paul Tillich vom 16. August 1956, in: Paul Tillich, E V, S. 340. 94 Vgl. Katrin Gelder, Tillichs Verständnis von der ‚Macht des Seins‘ als natürliche Anthropologie, in: Gerd Hummel (Hg.), Natural Theology versus Theology of Natur?/Natürliche Theologie versus Theologie der Natur?/: Tillich’s Thinking as Impetus for a Discourse among Theology, Philosophy and Natural Sciences,Tillichs Denken als Anstoß zum Gespräch zwischen Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft, Proceedings of the IV. International Paul Tillich Symposion held in Frankfurt am Main 1992/Beiträge des IV. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt/Main u.a. 1993, S. 150–156.

Die Integration von Geist und Materie im Menschen – Freiheit

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Dialog wird nicht aus dem Empfinden eines Defizits der eigenen Konzeption und dessen möglicher Kompensation mit Hilfe der anderen Position gesucht. Vielmehr konvergieren die Ansätze beider Wissenschaftler in der Beschreibung und Gewichtung einer in ihrer jeweiligen anthropologischen Konzeption zentralen Konstante: in der Fokussierung Tillichs auf den Mut als einer selbstaffirmativen Struktur des Seins und der beim Menschen ansetzenden Theorie des Organismus bei Goldstein, die in ihrem Zentrum die Verwirklichung ihres Wesens systematisiert hatte. Darin sehen beide offensichtlich eine nahezu identische Struktur mit differenten begrifflichen und methodischen Mitteln beschrieben. In der aus diesem Vorgehen abgeleiteten Konsequenz, dass nämlich die Wissenschaften auf ihrem Weg zu einer angemessenen Erfassung und Beschreibung der Struktur der Wirklichkeit auf gemeinsames, einander kritische begleitendes Arbeiten angewiesen sind, ohne einander Kompetenz, Zuständig- und Ernsthaftigkeit abzusprechen, sehe ich die Ebene der Integration bei Tillich und Goldstein.

2.

Die Integration von Geist und Materie im Menschen – Freiheit

Mit der Freiheit möchte ich mich nun abschließend dem Zentralbegriff der anthropologischen Theoriebildung sowohl Tillichs als auch Goldsteins zuwenden. Freiheit wird bei beiden zunächst nicht vom Handlungsbegriff aus als moralisches Projekt systematisiert. Vielmehr geht es beiden darum, die Freiheit als das spezielle Signum des Humanen in den Blick zu bekommen, das den Menschen von seiner nichtmenschlichen Umgebung unterscheidet. Für beide Wissenschaftler bildet die Konzeption des Freiheitsbegriffs den Punkt innerhalb ihres Denkens, der zentrale Anliegen der Anthropologie so bündelt, dass in ihm sowohl wesentliche Pointierungen innerhalb des jeweiligen Ansatzes als auch die Anknüpfungspunkte für die jeweils andere Position deutlich werden. Ich möchte im Folgenden so vorgehen, dass ich zunächst auf Goldsteins Ansatz (2.1) eingehe, um dann in einem zweiten Schritt auf die Ähnlichkeiten und Differenzen der Theorie der endlichen Freiheit bei Tillich (2.2) hinzuweisen. 2.1

Sprache als Abstraktion – Kurt Goldsteins Freiheitsbegriff

Goldsteins Freiheitsbegriff erfüllt im Rahmen seiner Gesamtkonzeption zwei wichtige Funktionen: zum einen bündelt er die zentralen Topoi der Organismustheorie und wendet sie auf den Spezialfall des Organismus Mensch an, wodurch sie ihre finale Zuspitzung erhalten. Das gilt etwa für die erkenntnistheoretische Rolle der Pathologie, das Verständnis des Organismus als Ganzheit sowie das Konzept des ausgezeichneten Verhaltens, die Goldstein im Rahmen seiner Anthropologie alle in seinen Freiheitsbegriff integriert. Zum anderen überschreitet

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Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog

Goldstein mit dieser Konzeptualisierung des Freiheitsbegriffs eindeutig seine vom biologischen Standpunkt aus argumentierende Theorie hin in Richtung auf eine allgemeine Lebensphilosophie, in der die klassischen Gegensätze zwischen Natur und Geist eingeebnet werden. Die Selbstaktualisierung des Organismus Mensch wird mit der Verwirklichung seiner Freiheit identifiziert und somit zum Zielpunkt aller biologischen Theoriebildung erhoben. Um diese These plausibel zu machen, möchte ich in zwei Schritten vorgehen: zunächst ist – wie es sich im Vorausgehendem bereits angedeutet hat – noch einmal detaillierter auf Goldsteins Verbindung von abstraktem Verhalten, Sprache und Freiheit einzugehen. Dazu ist zur Klärung seines Erkenntnisweges (1) auf die Schilderung und Auswertung einiger Experimente aus der medizinischen Praxis und seine Auseinandersetzung mit der über Ernst 95 Cassirer vermittelten Sprachtheorie Wilhelm von Humboldts einzugehen. Der zweite Schritt wird dann darin bestehen, zu zeigen wie Goldstein den Freiheitsbegriff weiter ausarbeitet (2), und über ihn neben der Individualität des Menschen auch seine soziale Verfasstheit in seine Theorie integriert. Kurz ist in an dieser Stelle auch auf die Konsequenzen einzugehen, die Goldstein vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit dem autoritären Herrschaftssystem der Nationalsozialisten in Deutschland für den Bereich des Politischen zieht. Bekanntermaßen gründen wesentliche Bestandteile der Ideologie der NSDAP auf dem biologistisch-sozialdarwinistisch grundierten Behauptung der notwendigen Herrschaft der Stärkeren über die Schwachen, die letztere als Gefährdung des nationalsozialistischen Staates zu rechtlosen Minderheiten machte, von denen der Volkskörper zu reinigen sei. Auch holistische Theorien des Gehirns haben in diesem Zusammenhang eine Rolle gespielt, mit denen sich Goldstein immer wieder kritisch auseinandergesetzt hat. Diese Arbeit ist nicht der Ort, sich erschöpfend mit diesem Themenkomplex auseinander zu setzen, aber es soll hier kurz auf einige Grundlinien eingegangen werden, die sich aus Goldsteins Arbeiten ergeben. (1) Darauf, dass Goldstein die Freiheit des Menschen in seiner Möglichkeit zur Abstraktion von der konkreten Situation mit den Mitteln der Sprache gesehen hat, ist schon hingewiesen worden. Wie dieser Befund an Goldsteins klinische Praxis angebunden ist und auf Aspekte der philosophische Diskussion hin ausgezogen wird, möchte ich nun anhand der Beschreibung von einigen Versuchen, die Goldstein mit seinen hirnverletzten Patienten durchgeführt hat, kurz darstellen. Für seine philosophische Ausdeutung hat Goldstein vor allem Fälle von Patienten mit Verletzungen des Frontallappens des Gehirns herangezogen, die an aphasischen Störungen litten. Ausschlaggebend waren für ihn dabei die langfristigen und umfassenden Veränderungen des Verhaltens und der Persönlichkeit, die diese Patienten nach dem Abheilen ihrer akuten Wunden zeigten. Bemerkenswert an Goldsteins Ansatz ist, dass er die Probanden nicht auf das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein einer Funktion ihres Gehirns hin Tests unterzogen hat, son95 Zur Bedeutung Cassirers für Goldsteins Entwicklung einer Philosophie der Sprache vgl. G. Danzer, (Hg.), Leben und Werk Kurt Goldsteins, S. 218ff.

Die Integration von Geist und Materie im Menschen – Freiheit

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dern immer versucht hat, neben dem aus der Außensicht des Untersuchers zu erhebenden Befunden mit den Patienten selbst in ein Gespräch über die Gründe und Motive ihres Handelns zu kommen, so weit dies möglich war. Zudem war ihm für das Stellen einer Diagnose wichtig, die wesentlichen Züge der Persönlichkeit des Patienten vor ihrer Verletzung, so weit ihm diese zugänglich waren, in den Prozess der Urteilsbildung einzubeziehen. Ihn interessierte also nicht nur die Frage, ob eine bestimmte Funktion trotz der Verletzung erhalten geblieben ist oder nicht, sondern vielmehr, wie die Patienten sich den an sie gestellten Aufgaben nähern, wie sie die Aufgabe verstehen und warum sie sich in der für sie spezifi96 schen Weise zu einzelnen Aufgaben verhielten. Das Einbeziehen dieser Perspektive brachte Goldstein in zweierlei Hinsicht weiter: zum einen verschaffte er sich so einen wesentlich weiteren Einblick in die adaptiven Leistungen seiner Patienten, die er als sich ständig in Anpassung an ihre Einschränkungen neu in der Welt aktualisierende Organismen verstand. Von diesen Beobachtungen aus waren für Goldstein dann auch durch Vergleiche mit dem Verhalten Gesunder Rückschlüsse auf die Natur des Menschen im Allgemeinen möglich. Zum anderen enthielt diese Perspektive auch eine methodenkritische Komponente, weil sie mitunter die Gründe für ein augenscheinlich erfolgreiches Abschneiden eines Patienten offen legte, das nicht immer in zunehmender Rekonvaleszenz, sondern gelegentlich etwa 97 in der Gewöhnung der Patienten an bestimmte Versuchsaufbauten zu finden war. Als gesunde Organismen aktualisieren sich Menschen in zweierlei Hinsicht, sie leben – so Goldstein – in zwei Sphären: Die Ausführung der Tests „demands, so to speak, to live in two spheres, the concrete sphere where ‘real’ things take place and 98 the non-concrete, the merely ‘possible’ sphere.” Den wesentlichen Unterschied zwischen Gesunden und seinen Patienten sieht Goldstein darin, das ihnen der stete, freie und kreative Wechsel zwischen diesen beiden Sphären nicht gelingt. Sie bleiben nahezu ausschließlich in der konkreten Sphäre verhaftet. Sie verlieren die Fähigkeit, in der Verwendung von Begriffen zwischen ihrem konkreten Bezug auf einzelne Situationen und ihrer Verwendung als Allgemeinbegriffe zu unterscheiden. Goldstein interpretiert diesen Umstand in anthropologisch sehr weitgehendem Maße, was vor allem mit seinem Verstehen des Phänomens der Sprache ein96 Über das Einbeziehen dieser Perspektive versucht Goldstein die Verbindung von Allgemeinem und Besonderem im Rahmen seiner Methode zu leisten. Er zieht dafür drei Kriterien heran: Zum einen muss, egal welche Aufgabe der Patient gerade zu bewältigen hat, immer der Organismus als Ganzer berücksichtigt werden, um erheben zu können, ob es sich bei dem beobachteten Verhalten um eine Konstante handelt oder eine zufällige Reaktion, die der Ausnahmesituation geschuldet ist, in der sich der Patient befindet. Zum zweiten muss der Versuch das bevorzugte Verhalten des Patienten so weit als möglich berücksichtigen: dem Probanden muss die Möglichkeit eingeräumt werden, eigene Lösungen für eine Aufgabe anzubieten, die ihm eher entsprechen als die vom Untersuchenden als ‚richtig‘ definierten. Zudem müssen die Tests ein angemessene Variationsbreite aufweisen, um in den individuellen Besonderheiten Konstanten zu erkennen. Vgl. K. Goldstein, HN, S. 184ff. 97 Auf diesen Umstand werden ich im Folgenden noch ausführlicher zu sprechen kommen. 98 K. Goldstein, HN, S. 55.

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Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog

hergeht. Der Ausfall dieser fundamentalen Unterscheidungsfähigkeit führt im Leben der von Goldstein behandelten Patienten zu weitgehenden Veränderungen der Persönlichkeit und ihrem Verhalten. Er nennt die Vorstellungen von Raum und Zeit, das Verhalten zu Objekten, die aktive Vorstellung von Alternativen und Wahlmöglichkeiten, das Erkennen und Verstehen von Bildern, die Struktur von Gedächtnisleistung, Aufmerksamkeit, Wille und Spontaneität, sowie den Aus99 druck von Gefühlen und Kreativität. Auf zwei besonders aufschlussreiche Versuche möchte ich hier kurz exemplarisch eingehen: Zum einen zeigt sich diese Veränderung deutlich, wenn an die Patienten die Forderung gestellt wird, für sie unsinnige, nicht den Tatsachen entsprechende bzw. absurde Sätze nachzusprechen. So berichtet Goldstein von einem Patienten, dem es an sonnigen Tagen nicht möglich war, den Satz ‚Heute regnet es draußen‘ 100 nachzusprechen. Von einem anderen Patienten berichtet Goldstein dessen Unfähigkeit, den Satz ‚Der Schnee ist schwarz‘ zu wiederholen. Goldstein berichtet: ‘Thus a patient of mine was unable to repeat such a sentence as “The snow is black.” I was able to induce him to repeat the individual words, isolated, and then to repeat the words one after the other in the correct succession, but he stopped before he spoke the word “black”, looked startled, and said, “white”, or, if he said the word “black”, he did it very quickly and apparently with great uneasiness, and then said very quickly afterwards, “white”. To say such things apparently requires the assumtion of a very difficult attitude. (…) For in saying meaningless things we must shift from one [sphere; K.B.] to the other. This the patient is unable to do. He can live and act only in the concrete sphere. He is therefore always himself. He is unable to place himself in the situation of other people; he is not able to imitate other people, nor is he able to impersonate as an actor is.’101

Goldstein analysiert die Situation dahingehend, dass die Patienten in beiden Fällen nur Ausschnitte der an sie gestellten Aufgabe erfassen und von daher ein aus der Beobachterperspektive der Situation unangemessenes Verhalten zeigen, dessen sie sich selbst oft nicht bewusst sind. Er sieht seine Patienten vollständig als an die Situation, in der sie sich befinden, gebunden, zu der sich eine Alternative vorzustellen ihnen offenbar unmöglich ist. Goldstein nennt diese Art, sich zu sich selbst 102 und der Welt zu verhalten, konkretes Verhalten. 99 Vgl. Ebd., S. 44–63. Goldstein fasst in seinen Vorlesungen das Material recht straff zusammen, es handelt sich dabei hauptsächlich um die Verarbeitung und Interpretation von Materialien, die er während des 1. Weltkrieges gesammelt und bereits veröffentlicht hatte. Einige aktuellere Fälle sind zudem hinzugefügt worden. 100 Vgl. Ebd., S. 54. 101 K. Goldstein, HN, S. 55. 102 Zur Definition des Begriffspaares konkretes und abstraktes bzw. kategorialesVerhalten schreibt Goldstein: „In the one [the abstract attitude; K.B.], a definite ordering principle determines our actions; in the other [the concrete attitude; K.B.], there is no such principle, and our actions are passively determined by our impressionS. These two kinds of behavior correspond to what we have called abstract and concrete behavior and what we amy now call categorical and concrete behavior.“ K. Goldstein, HN, S. 73.

Die Integration von Geist und Materie im Menschen – Freiheit

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Ähnliche Phänomene zeigen sich auch bei Sortieraufgaben, u.a. bei der Anwendung des dem nach seinem Erfinder benannten Holmgren-Tests, der den Patienten vor die Aufgabe stellt, abstrakte Begriffe zu bilden und diese auf konkrete Objekte anzuwenden, indem verschiedenfarbige Wollfäden unter differierenden, farblichen Aspekten angeordnet werden sollen: entweder wird der Patient aufgefordert, alle zu einer bestimmten Grundfarbe gehörigen Fäden herauszusuchen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, ihm einen Faden vorzulegen und ihn zu bitten, alle gleich- bzw. ähnlichfarbigen Fäden zusammenzusuchen. Als schwieriger ist die Aufgabe anzusehen, wenn von den Patienten gefordert wird, die Fäden nach verschiedenen Farbaspekten – etwa ihrer Helligkeit, Dunkelheit, Wärme, etc. 103 – anzuordnen. Während gesunde Probanden mit der ersten Aufgabe konfrontiert eine große Zahl von Fäden heraussuchen, die viele Variationen der einen Grundfarbe umfassen, hatten die hirnverletzten Patienten Goldsteins mit der Ausführung dieser Aufgabe große Probleme und zeigten recht unterschiedliches Verhalten: einige suchten nur sehr wenige Fäden heraus, die absolut identisch mit dem Modellfaden waren, andere wiederum mischten quer durch das Farbspektrum und – obwohl in vorauslaufenden Tests eine Farbenblindheit eindeutig ausgeschlossen werden konnte – legten neben einen hellroten Faden auch helle Nuancen anderer Farben. Werden sie nun gebeten – wie oben bereits genannt – die hellen Varianten aller vorhandenen Farbtöne herauszusuchen, sind sie dazu plötzlich nicht mehr in der Lage, obwohl diese Möglichkeit der Anordnung zuvor von ihnen selbst angeboten worden war. Überhaupt beobachtet Goldstein das häufige Wechseln zwischen verschiedenen Ordnungsprinzipien. Er interpretiert diesen Umstand dahingehend, dass die Patienten nicht die Gesamtheit der von ihnen bereits nach einem bestimmten Aspekt geordneten Fäden überschauen, sondern er geht davon aus, dass ausschlaggebend für das weitere Fortfahren des Sortiervorgangs die farblichen Eigenschaften des jeweils zuletzt angeordneten Fadens sind, wobei es offenbar zu Verschiebungen kommen kann, die dem Patienten aber nicht bewusst sind. Die Kranken haben offenbar die Fähigkeit verloren, sich auf eine Basisqualität zu konzentrieren und alle andere Aspekte für den Moment unbeachtet zu lassen, um so ein Ordnungsprinzip während der Durchführung einer Aufgabe durchzuhalten, was kennzeichnend für den Umgang von Gesunden mit dieser Aufgabe wä104 re. Als wesentlichen Aspekt ordnet Goldstein jedem Zugang zur Welt eine spezifische Benutzung der Sprache zu, der für den jeweiligen Umgang mit den verschiedenen Aufgaben charakteristisch ist. Für den abstrakten bzw. kategorialen Zugang zur Welt ist die Fähigkeit, Objekte als Repräsentanten einer bestimmten Kategorie wahrzunehmen und in diesem Einzelbegriff einen Fall von etwas zu sehen 105 und diesen mit dem kategorialen Begriff zu benennen, kennzeichnend. Diese Fähigkeit haben die Kranken verloren, den für sie spezifischen Gebrauch der 103 Vgl. Ebd., S. 70ff. 104 Vgl. Ebd., S. 71ff. 105 Vgl. Ebd., S. 73f.

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Sprache beschreibt Goldstein folgendermaßen: ‘Words are used here less as represantative of categories than as individual properties, belong to the object in questi106 on. We call such words “individual” words.’ Von einer anderen Patientin berichtet Goldstein, dass diese zwar in der Lage war, farbige Fäden nach ihrer Grundfarbe zu benennen. Sie benutzte im Gegensatz zu ihren Mitpatienten die Worte Rot, Blau, Gelb für ihr zum Benennen vorgelegte Fäden und sagte nicht wie diese etwa ‚zitronengelb‘ oder ‚froschgrün‘ etc., um einen bestimmten Farbaspekt direkt zu betonen. Dagegen weigerte sie sich aber zunächst, mehr als eine Rotnuance als Rot zu benennen. Nach etlichen Wiederholungen dieses Test ging sie schließlich dazu über, den Oberbegriff Rot auch für verschiedene Rottöne zu benutzen. Goldstein berichtet über den Fall: ‘One might have thought that she had improved, that she had regaind the meaning of the words. But it was not so. Asked why she now called all these different shades by the same word, she answered, “The doctors have told me that all these colors are named red. Therefore I call them all red.” Asked if it was not correct, she laughed 107 and said, “Not one of these colors is red, but I am told to call them by this word.”’

Die Patientin hatte es durch ihre gute Gedächtnisleistung geschafft, eine für sie selbst sinnlose Verbindung zwischen einem Begriff und einer Reihe von Objekten herzustellen, ohne diesen Begriff im kategorialen Sinne als Symbol zu verwenden. 108 Goldstein bezeichnet diesen Vorgang als „pseudonaming.“ Diese Schwierigkeiten beim Benennen von Objekten, die keinesfalls identisch sind mit dem kompletten Verlust der Worte, fasst Goldstein als die Unfähigkeit zusammen, Wörter in mehr als einem – nämlich dem konkreten – Sinn zu benutzten, vor allem – und darauf zielt seine gesamte Argumentation – sind die Patien109 ten unfähig, Worte als Symbole für Ideen zu verwenden , worin Goldstein die anthropologische Bedeutung der Sprache sieht: ‘But these observations reveal another point still more important for our discussion. They show that speech is one of the essential characterisitics of human nature, in110 asmuch as it is tied to man’s highest capacity, the capacity for abstract behavior.’

Ohne diesen kategorialen bzw. abstrakten Aspekt ist das Wesen der Sprache in ihrer Bedeutung für die Natur des Menschen nur unzureichend beschrieben. Die Bedeutung der Sprache geht – Goldstein formuliert diesen Gedanken ausdrücklich in Anschluss an Cassirer und Wilhelm von Humboldt – weit darüber hinaus, als reines Werkzeug die Verbindung zwischen Individuum und der außer ihm liegender Welt herzustellen, vielmehr versteht Goldstein sie als „a particular way

106 Ebd., S. 74. 107 Ebd., S. 80. 108 Ebd., S. 81. 109 Vgl. Ebd., S. 79. 110 Ebd., S. 80.

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of building up the world – namley, by means of abstraction.“ Mir scheint hier der Einfluss von Wilhelm von Humboldt auf Goldstein sehr deutlich zu sein. Allerdings – und auch das lässt sich nachweisen – bezieht sich Goldstein vor allem auf die ihm durch Cassirer übermittelte Zusammenfassung von Humboldts materialreichem Ansatz und greift offensichtlich nicht auf eigene Lektüreergebnisse zu112 rück. Besonders wichtig ist hier offenbar Humboldts Versuch der Anwendung des transzendentalen Denkens Kants auf die Sprache: wie die Objekte in Kants Erkenntnistheorie nicht das eigentlich Gegebene darstellen, die vom Geist erkannt werden und somit die Objektivität des Erkannten sichern, so gelangt Objektivität auch im Bereich der Sprache nicht von außerhalb der Subjektivität in die Sprache. Humboldt schreibt: „Die ursprüngliche Übereinstimmung zwischen der Welt und dem Menschen, auf welcher die Möglichkeit aller Erkenntnis der Wahrheit beruht, wird also auch auf dem Wege der Erscheinung stückweise und fortschreitend wiedergewonnen. Denn immer bleibt das Objektive das eigentlich zu Erringende, und wenn der Mensch sich demselben auf der subjektiven Bahn einer eigentümlichen Sprache naht, so ist sein zweites Bemühen, wieder, und wäre es auch nur durch Vertauschung einer SprachSubjektivität mit der andren, das Subjektive abzusondern, und das Objekt 113 möglichst rein davon auszuscheiden.“

In der Sprache sieht Humboldt also kein simples Mittel, das außer ihr liegende Objektivität zu vermitteln hat bzw. im Geist liegende Bedeutung zu artikulieren, sondern vielmehr eine aktive Tätigkeit des Geistes im steten Austausch mit der Welt und den ihm fremden Individuen in seiner Umgebung. Damit ist für Humboldt in der Sprache die Trennung von Subjektivität und Objektivität aufgehoben. Gedanken und Sprache stehen in enger Interpendenz zueinander, ohne von Humboldt als identisch verstanden zu werden: „Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes von einander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst.“114

111 Ebd., S. 83. 112 So finden sich in Goldsteins Texten keine Zitate der Werke Humboldts, die nicht auch von Cassirer genannt werden. Zudem findet sich bei Goldstein zu den Zitaten keine einzige Literaturangabe. Von daher scheint es mit naheliegend, davon auszugehen, dass Goldstein die Arbeiten Humboldts hauptsächlich aus der Wiedergabe Cassirers kannte, wie auch dieser sich von Goldstein in die medizinische Fachliteratur zum Thema einführen ließ. Zu Cassirers Interpretation von Humboldts Ansatz vgl. E. Cassirer, PsF I, in: ECW 11, S. 98–106. 113 Wilhelm von Humboldt, Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, in: Werke, Bd. III, Stuttgart 1963, S. 20f. 114 Ebd., S. 19.

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Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog

Dass Goldstein diese Ablehnung des Verstehens der Sprache als eines Werkzeugs bzw. Mittels zum Zweck der Artikulation von Wahrheit von Humboldt übernommen hat, ist nach dem oben Beschriebenen offensichtlich. Wie zu beobachten war, stimmt Goldstein interessanterweise auch in der positiven Formulierung mit Humboldt überein, in dem der Gebrauch einer Sprache als eine konstruktivsynthetische Tätigkeit des menschlichen Geistes durch seine Spontaneität und Einbildungskraft verstanden wird, die seinen spezifische Zugang zur Welt abbildet, und – neben seiner Subjektivität – durch seine Teilhabe an der notwendigen und allgemeingültigen Form der Erkenntnis durch Vernunft überindividuell Be115 deutung vermitteln und verstehen kann. Den besonderen Einfluss Cassirers auf Goldstein sehe ich in der immensen Bedeutung, die der Sprache mit ihren Möglichkeiten für das Abstrakte in der Anthropologie eingeräumt wird. Wie bei Cassirer die Fähigkeit zur aktiven Gestaltung und Benutzung von Symbolen das Wesentliche des Menschen ausmacht, durch das er sich von allem nichtmenschlichen Leben unterschiedet, nimmt das abstrakte Verhalten bei Goldstein – wie bereits beschrieben – eine zentrale Rolle ein. Dieser Vorgang, der hier zunächst in seiner Bedeutung für das Individuum beschrieben wurde, wird von Goldstein zudem als Grund der menschlichen Kultur 116 verstanden und hat damit selbstverständlich auch über das Individuum hinausgehende soziale Konnotationen. Mit dieser Definition wird nicht die Sprache an sich, sondern der sich im menschlichen Sprechen selbst ausdrückende Modus der Begegnung mit der Welt als das Spezifikum des Menschen herausgestellt, durch das er sich von allem ihn umgebenden Leben unterscheidet. Goldstein formuliert es so: ‘It becomes a manifestation (…) of all that is human, the human being at his deepest, and of man’s psychic bond with his fellows; in none of his cultural creations does 117 man reveal himself so fully as in the creation of language itself.’

Deutlich wird hier zudem, wie Goldstein in seiner Deutung der Sprache die unterschiedlichen Aspekte seiner Theorie des Wesens lebendiger Organismen zusammenfasst und damit in eine biologisch grundierte und philosophisch pointierte Anthropologie überführt. Dieser Punkt ist offenbar dann erreicht, wenn Goldstein das Wesen des menschlichen Organismus in der Verwirklichung der abstrakten Haltung, wie sie in der Sprache gegeben ist, sieht und dieses oberste Ziel der Aktualisierung seines wesenhaften Seins mit der Freiheit, die dem Organismus Mensch eigen ist, identifiziert: ‘The term “freedom” does not mean the arbitrary right of each individual to do what he likes – laissez-faire, laissez-aller. On the contrary, it means the right and the 115 Vgl. E. Cassirer, PsF I, in: ECW 11, S. 104f. 116 Hier wird der enge gedankliche Austausch zwischen Goldstein und Cassirer ein weiteres Mal eindrücklich deutlich. 117 Ebd., S. 83.

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inner necessity to actualize oneself, a right which, as we have seen, presupposes the possibility of actualization on the part of all other individuals.’118

Damit ist der Kern von Goldsteins Anthropologie bezeichnet, wie er sie von seiner klinischen Praxis aus entworfen und in den Kontext der philosophischen Diskussion eingezeichnet hat. Er bleibt aber – auch darin ist er ein Kind seiner Zeit – dabei nicht stehen, sondern entfaltet seinen Ansatz von den zuletzt genannten Perspektiven des Sozialen und der Kultur weiter. Darauf möchte ich im Folgenden kurz eingehen. (2) In der individuellen Freiheit als der Fähigkeit zum abstrakten Verhalten, die am deutlichsten in der Sprachfähigkeit und dem mit ihr einhergehenden abstrakten Zugang zur Welt festzumachen ist, hatte Goldstein den wesentlichen Aspekt die Aktualisierung des Wesens des Organismus Mensch gesehen. Diese Erkenntnis ist aus der kritischen Revision seiner medizinischen Methodik hervorgegangen, die es ihm erlaubte, ein differenziertes Bild von Persönlichkeit und Verhalten seiner Patienten zu entwerfen. In diesen Ausführungen zur Methodik ist bei Goldstein zudem die Tendenz zu beobachten, sowohl das Allgemeine – die Freiheit als die Verwirklichung des Wesens des Menschen – mit dem Individuellen – der Deutung der vielen Einzelfälle – zusammenzubinden. Dass dies das wesentliche Merkmal der Wissenschaften, die sich mit lebendigen Wesen beschäftigen ist, hatte auch Tillich im SdW angemerkt. Offenbar sah Tillich in diesem Anspruch und der Art der Umsetzung durch Goldstein, eine Bestätigung seines eigenen Anforderungsprofils an das Fach. Goldstein bleibt bei dem bisher erreichten Punkt aber nicht stehen. Ihm ist sehr daran gelegen, nicht den Eindruck zu erwecken, sein biologisch begründeter anthropologischer Freiheitsgedanke würde einer individualistischen Sicht des Menschen Vorschub leisten. Wie oben bereits angedeutet, sind für Goldstein durch die Rezeption der Ansätze Cassirers und Humboldts mit dem Verständnis der Sprache die Ebenen der Kultur und Politik bereits in die Anthropologie eingezogen. Auf die Ebene der Kultur geht Goldstein nicht im entsprechenden Maße ein, und es bleibt lediglich zu vermuten, dass er diesen Aspekt bei seinem Cousin Ernst Cassirer als befriedigend gelöst angesehen hat, so dass sich ein eigener Entwurf erübrigte. Eingehender beschäftigt sich Goldstein dagegen mit Überlegungen zur Bedeutung seiner Ergebnisse für das Verständnis des Menschen als homo politicus. Seine Stellungnahme gerät ihm zu einem flammenden Plädoyer für die Demokratie als der einzigen, der Biologie des Menschen entsprechenden, staatlichen Organisationsform. Damit einher geht die entschiedene Absage an jedweden Kollektivismus – insbesondere hat Goldstein hier natürlich seine Erfahrungen mit dem deutschen Nationalsozialismus im Blick. Der Schmerz über die erlittene Vertreibung aus Deutschland, den er bis zu seinem Tod nicht verwinden konnte, wird hier besonders deutlich. Zudem kann man Goldstein in diesem Zusammenhang 118 Ebd., S. 213.

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nicht gänzlich von dem Vorwurf des Biologismus freisprechen, mit dem er sich als 119 ein Kind seiner Zeit erweist. Allerdings verhält es sich offensichtlich so, dass sich in Goldsteins politiktheoretischen Ansätzen der in seiner medizinischen Theoriebildung vorhandene Übergang zwischen Biologie und Philosophie widerspiegelt. Der demokratische Staat kommt den Bedürfnissen eines in Goldsteins Sinne verstandenen Menschen lediglich am nächsten. Das Entsprechungsverhältnis wird als eines der größtmöglichen Annäherung nicht aber der ontologischen Identität verstanden, zudem ist es vor allem auf der Ebene der Methodik angesiedelt, die allerdings – wie zu beobachten war – immer Übergänge zur Ontologie in sich trägt. Das steht m.E. eindeutig im Widerspruch zur sozialdarwinistischen Übertragung biologischer Theoriebildung, wie sie für nationalsozialistische Staatstheoretiker kennzeichnend war. Zwar geht auch Goldstein bei der Frage nach der zu favorisierenden politischen Organisationsform direkt von seinem neurologischen Ansatz aus, allerdings kommt es bei ihm dabei nahezu zu einem Verschwinden des Staates als einer vom Individuum verschiedenen Entität mit eigener Dignität. Goldsteins Gesellschaftsmodell hat sich komplett den Bedürfnissen des Einzelnen unterzuordnen und sein so konzipierter Staat verliert sofort dort seine Legitimität, wo er gegen dieses Grundprinzip verstößt. Diese Konsequenz ist m.E. bereits in den methodischen Überlegungen zur Biologie angelegt und bei allen Bedenken, die man mit guten Gründen gegenüber diesem Vorgehen hegen kann, ist doch eins bemerkenswert: Goldstein hat von Beginn seiner Überlegungen an den Menschen selbst im Blick. Er nimmt keine Überblendungen von für das Tierreich gültigen Erkenntnissen mit Organisationsformen menschlichen Lebens vor. Im Rahmen seines Entwurfes bildet die Staatstheorie, so man denn seine Äußerungen als eine solche bezeichnen möchte, eine Anschlusstheorie, die m.E. mit der Installierung der Freiheit als der Zentralkategorie der Biologie des Menschen sensibel für die kategorialen Unterschiede ist, die es zu beachten gilt, wenn Biologie und Staat derart dicht aneinander herangerückt werden. Darauf ist nun genauer einzugehen. Wenn Goldstein sich der Frage nach der sozialen Organisation von Organismen zuwendet, dann tut er das aus zwei Motiven: zum einen beobachtete er an seinen Patienten, dass deren positive Entwicklung entscheidend davon abhing, wie sie sich mit ihren Mitpatienten verstanden und ob es ihnen gelang, sich auf die veränderten Umstände, in denen sie nach ihrer Verletzung leben mussten, einzustellen. Ein Vorgang, der nur durch den gelungenen Austausch mit der Umgebung positiv zu gestalten ist. Damit wird klar, dass die Theorie der Freiheit nicht als komplett angesehen kann, wenn sie den Vergemeinschaftungsaspekt als anthropo120 logische Konstante außer Acht lässt. Zum anderen macht es aus methodischer Sicht für Goldstein keinen wesentlichen Unterschied, ob nach der angemessenen

119 Bekanntermaßen ist diese Form des wissenschaftlichen Transfers in verhängnisvoller Weise auch von Goldsteins Verfolgern und politisch-ideologischen Gegnern ins Feld geführt worden. 120 K. Goldstein, HN, S. 201.

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Methodik für den Zugriff auf das soziale Gefüge von Menschen oder auf die Natur des Organismus gefragt wird. Er schreibt: ‘Any attempt to determine what a normal social organization should be like is faced with the same epistemological difficulties as that of determining the characteristics of an organism. Individuals are not seperately existing and discrete units of the social “organism”, and the latter does not constitute merely a sum total to these units. Just as the functional and material structure of an organism guarantees the normal behavior of its parts, so the organization and behavior of the social community must guarantee the existence of the individual.’121

Von daher wird verständlich, warum Goldstein zumindest die Grundzüge einer – wie er es selbst nennt – Sozialphilosophie zu entwerfen versucht. Wie im Einzelorganismus, so sieht er auch im sozialen Leben des Menschen das von ihm immer wieder betonte Grundprinzip von der Selbstaktualisierung des Organismus wirken. Erwartungsgemäß lehnt er jede Form der Trieblehre als Grundlage für die Gestalt und Ausformung der gesellschaftlichen Organisationsformen menschlicher 122 Organismen ab. Zwar pendelt die Selbstaktualisierung von Menschen im Zusammenleben mit anderen immer wieder zwischen den beiden Polen Aggression und Unterordnung. Allerdings werden diese Elemente von Goldstein nicht als 123 Triebe gedeutet , sondern von seinem Figur-Hintergrund-Schema aus: wenn sich menschliche Organismen aktualisieren, dann können sie das nur im steten Austausch mit ihrer Umwelt. Um dieses Ziel der Selbstaktualisierung zu erreichen, ist es je nach Situation unterschiedlich, ob mehr aggressives oder unterwürfiges Verhalten den Vordergrund bildet, während die jeweils andere mögliche Option als 124 Hintergrund präsent ist. Von daher wird ersichtlich, dass Goldstein unter Aggression und Unterordnung keine separaten Kräfte versteht, die um die Vorherrschaft im Organismus ringen, sondern als zwei Wege verstanden werden, auf dem sich das eine Grundprinzip alles Lebendigen im Zusammenleben von Menschen verwirklichen kann. Dieses Gleichgewicht zwischen den beiden Verhaltensoptionen sieht Goldstein als bei vielen seiner Patienten hochgradig gestört an. Um bestimmte Bedürfnisse zu erfüllen, sind sie im Austausch mit ihrer Umwelt häufig nicht in der Lage, das rechte Maß zu finden, so dass das eine oder andere Verhalten in übersteigerter Form zu dominantem Ausdruck kommt. Die Patienten zeigen hochgradig aggressives bzw. unterwürfiges Verhalten, was jede Form des geregelten sozialen Austauschs mit ihnen extrem erschweren kann und häufig mit weitreichenden Persönlichkeitsveränderungen in Folge der erlittenen Verletzungen 121 Ebd., S. 230. 122 Ebd., S. 204ff. 123 Goldstein setzt sich hier kritisch mit der Arbeit von William McDougall auseinander, der in der Weiterverarbeitung von Freuds Trieblehre das soziale Leben von Menschen als gesteuert von den wesentlichen Trieben Aggression und Unterordnung gesehen hatte. Vgl. William McDougall, Introduction to Social Psychology, London 1908. 124 Vgl. K. Goldstein, HN, S. 204f; 206.

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Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog 125

einhergeht. Das ausgeglichene Verhältnis zwischen diesen beiden Verhaltensmöglichkeiten ist für Goldstein somit die notwendige Basis für das Zusammenleben von Menschen als Gesellschaft. Erst von dieser Basis ausgehend sind dann höhere Formen menschlicher Beziehungen möglich. Er schreibt: ‘Normal ordered life asks for balanced relation between compliant and encroaching behavior. Only then can the individual realize himself, and assist others in their selfrealization. Furthermore, the highest forms of human relationship, such as love and friendship, are dependent on the individual’s ability and opportunity to realize both these aspects of human behavior. This is evident so far as self-restriction is concerned, but encroachment also belongs to every relationship between individuals. Love is not merely a mutual gratification and compliance; it is a higher form of selfactualization, a challenge to develop both oneself and another in this respect.’126

Der zweite wesentliche Aspekt von Goldsteins sozialphilosophischen Überlegungen bildet seine Diskussion zur Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Dabei geht es ihm vor allem darum zu hinterfragen, inwieweit die Vergesellschaftung zur Natur von Lebewesen gehören, und ob diesem ‚Wir‘ das Primat vor dem Individuum einzuräumen ist. Vor dem Hintergrund der bisher beschriebenen Strukturen von Goldsteins Gedankengang ist eindeutig, dass es ihm um die Verankerung des Vorrangs des Individuums vor seinem Verschwinden in der Masse der ihn umgebenden Lebewesen geht. Das infolge der Evolutionstheorie Darwins entstandene Bild von der Herrschaft der Masse in der Natur, in der das Individuum komplett verloren geht und ausschließlich als Repräsentant seiner Art von Bedeutung ist, lehnt Goldstein entschieden ab. Er sieht darin ein vom Beobachter in das Geschehen hineingetragenes Modell, die groben Erscheinungen der ihm begegnenden Wirklichkeit zu strukturieren, das nicht mit einer wie auch 127 immer vorgestellten Form von Realität verwechselt werden darf. Im Weiteren kommt erneut Goldsteins ontologischer Grundsatz von der notwendigen und absoluten Positivität von allen in der Natur vorkommenden Phänomenen zum Tragen. Dieser Grundsatz führt ihn dazu, darauf zu drängen, dass für die Frage nach dem Primären nur das im Versuch oder in der Beobachtung gegenwärtige Individuum relevant sein kann: „What we call a ‚species‘ is never present; it belongs to the past 128 or to the future. Only the individual is present.” Diese Überlegungen, die tief in der Methodologie und Ontologie Goldstein verankert sind, werden weiter auf die Frage nach den Formen der Vergesellschaftung, die der Natur lebendiger Wesen inhärent sind, ausgezogen. Diese werden von Goldstein dem Gedanken der Individualität strikt untergeordnet: „(…) not all ‚we‘ phenomena are real, but only those 129 which guarantee the realization of the individual.“ Damit wird dem Gemein125 Ebd., S. 206f. 126 Ebd., S. 207. 127 Vgl. Ebd., S. 209. 128 Ebd., S. 210. 129 Ebd., S. 211.

Die Integration von Geist und Materie im Menschen – Freiheit

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schaftsaspekt innerhalb von Goldsteins Freiheitsidee lediglich der sekundäre Platz zugebilligt, der in einem rein funktionalen Verhältnis zum primären Gedanken des Individuums steht. Wo Menschen unter ähnlichen Bedingungen gemeinsam leben und gemeinschaftlich ihr Überleben in Auseinandersetzung mit den sie gemeinsam bedrohenden Gefahren sichern müssen, entstehen erste Formen von Gemeinschaft, deren Regeln erst in einem zweiten Schritt ausgehandelt werden. Wird diese Reihenfolge umgekehrt, wie Goldstein es stellvertretend in den Geschehnissen des beginnenden 20. Jh. sieht, dann werden sowohl dem Individuum als auch der Gemeinschaft ihre Existenzgrundlage entzogen. Mit dieser Kritik geht selbstverständlich Goldsteins vollständige Absage an jegliche Form des Kollektivismus einher: sie widerspricht sowohl der natürlichen Verfasstheit des Menschen als eines freien Wesens als auch seinem Recht zur Verwirklichung dieser 130 natürlichen Anlagen. Goldstein macht es nicht explizit, aber es wird sehr deutlich, dass die Form, in der er dieses Ideal weitestgehend erfüllt sieht, die Demokratie ist. Den Weg dorthin versteht Goldstein wieder ähnlich wie seine Suche nach der dem Lebendigen angemessenen Methode. Wieder nimmt er das Beispiel des Fahrradfahrenlernens in Anspruch: gleich den vielen Fehlversuchen in diesem Zusammenhang befinden sich die Völker in einem dialektischen Prozess, als dessen Ziel die größtmögliche Annäherung an das Ideal der Selbstaktualisierung 131 möglichst aller Individuen steht. 2.2

Endliche Freiheit als Telos des Lebens – Zu Paul Tillichs Freiheitsbegriff

Abschließend möchte ich nun noch die Frage klären, wie das Freiheitsverständnis Tillichs mit dem eben vorgestellten Ansatz Goldsteins korrespondiert. Dabei ist vor allem von Interesse, wie Tillich Goldsteins transmoralische Fassung des Freiheitsbegriffs in das Zentrum seiner Anthropologie integriert und für seinen religionsphilosophischen Ansatz fruchtbar macht. Dass dieses an den entscheidenden Stellen offenbar massiv von Goldsteins Ausführungen zur Sprache geleitet ist, möchte ich anhand der Grundzüge von Tillichs Freiheitsbegriff (1), wie er besonders in der Systematischen Theologie, vor allem in den Teilen I und III entworfen ist, zu zeigen unternehmen. Der Modus der wechselseitigen Arbeitsgemeinschaft zwischen beiden Wissenschaftlern kann hier besonders deutlich werden. Sodann ist kurz auf Tillichs theologisches Verstehen von Gesundheit, Krankheit und Heilung (2) einzugehen, da hier noch einmal das Spezifikum seines theologischen Zugriffs auf die Medizin deutlich wird. Hiermit ist dann auch der Punkt markiert, der wieder zum Ausgangspunkt dieser Arbeit zurückführt, denn innerhalb dieser Ausführungen zeigen sich die praktischen Auswirkungen von Tillichs epistemologischen Grundentscheidungen. War es im SdW noch der Gedanke der Einheit des Seins, der den 130 Ebd., S. 212ff. 131 Vgl. Ebd., S. 224f.

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Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog

Theologen und Philosophen Tillich dazu veranlasste, ein Konzept von Interdisziplinarität zu entwickeln, so ist es in der späteren Zeit die anthropologische Spezifität des Menschen, die zu fächerübergreifendem Austausch und Zusammenarbeit zwingt. (1) Für Tillich ist die Würdigung der Arbeiten Goldsteins eindeutig: besonders Goldsteins Bemühungen um die Implantation der Freiheit als Zentralkategorie einer aus biologischer Sicht argumentierenden Anthropologie, die er von seinen Überlegungen zur Sprache ableitete, bieten dem Religionsphilosophen Tillich das Potenzial einer konstruktiven Weiterführung. Ich möchte mich im Folgenden auf die Vorstellung dieser beiden Aspekte – des der Sprache und des der Freiheit – konzentrieren und dazu zunächst Tillichs eigene Einschätzung des Stellenwertes der Arbeiten Goldsteins für seinen eigenen Ansatz zu Wort kommen lassen. Tillich schreibt: „Man kann sagen, dass die Bedeutung Goldsteins für das Studium der Religion in seiner Lehre von der menschlichen Freiheit liegt. Nur ein Wesen, das die konkrete Situation transzendieren kann oder (…) das einen Sinn für das Abstrakte hat, vermag jegliche ihm begegnende Wirklichkeit zu transzendieren. (…) Freiheit nicht in dem veralteten Sinne eines metaphysischen Indeterminismus, sondern in dem Sinne, wie Goldstein sie versteht, nämlich als Fähigkeit, die Fesselung an die konkrete Situation zu lösen, ist die Voraussetzung für die religiöse Frage.“132

Allein diese anthropologische Verankerung der Freiheit ermöglicht dem Menschen einerseits das Stellen der religiösen Frage nach dem Grund des Seins, und sie eröffnet andererseits durch ihren janusköpfigen Charakter, der sie gleichzeitig als biologische Kategorie sowie deren Transzendenz erscheinen lässt, die Möglichkeit, den Menschen in seiner Totalität systematisch in den Blick zu bekommen, und in der Perspektive auf seine Teilhabe an der Grundkonstellation des Seins hin zu verstehen. Damit geht Tillich weit darüber hinaus, sich durch Goldsteins vom biologischen Standpunkt aus argumentierenden Ansatz etwa eine Bestätigung der allgemeinen religiösen Verfasstheit des Menschen zu borgen. Vielmehr sieht er in Goldsteins Freiheitskonzept eine goldene Brücke, über die sich die Spaltung von Natur und Geist innerhalb der Anthropologie aufheben lässt, und die für sein religionsphilosophisches Denken in Anspruch genommen werden kann. Zu Goldsteins Überlegungen zur Sprache schreibt er: „Nur derjenige, der Universalbegriffe hat, kann eine konkrete Situation transzendieren, oder (…): Universalbegriffe zu besitzen ist die Weise, sich von der konkreten Situation freizumachen. Und Universalbegriffe zu haben, heißt Sprache haben. An vielen Beispielen zeigt Goldstein, dass voll entfaltetes Menschentum und das Vermögen zu abstrakter Sprache identisch sind. Wiederum muss gesagt werden, dass Goldstein selbst diese Einsichten nicht im religiösen Sinne verwertet, aber das ist leicht möglich. Nach ihm ist es das ‚Wort‘, das die Welt erschafft und zwar eine ka132 P. Tillich, Die Bedeutung Kurt Goldsteins für die Religionsphilosophie, in: GW XII, S. 305f.

Die Integration von Geist und Materie im Menschen – Freiheit

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tegorial strukturierte Welt. Die Stoa und das Christentum (…) haben die schöpferische Rolle des Wortes betont. Nach der Auffassung beider drückt sich das Wort, nicht als Lautkörper, sondern als Begriff, in der Struktur der Wirklichkeit aus. Die hohe Bewertung des Wortes offenbart sich in der Tatsache, dass in der christlichen Symbolsprache Christus das ‚Wort‘ genannt wird, das Fleisch geworden ist, nämlich geschichtliche Wirklichkeit. Das Höchste, was das Christentum über ein menschliches Wesen sagen kann, ist, das es das ‚Wort‘ ist, dass in ihm die höchste menschliche Möglichkeit, nämlich die Transzendierung der Bindung ans Konkrete, völlig verwirklicht ist.“133

Damit ist die Grundstruktur von Tillichs Integration und Weiterverarbeitung von Goldsteins Ansatz deutlich umschrieben: für seine Anthropologie nimmt Tillich Goldsteins Überlegungen zur menschlichen Natur gern in Anspruch und integriert sie in seine theologischen Überlegungen zur Christologie und Pneumatolo134 gie. Man kann jetzt natürlich fragen, ob diese Weiterführung von Goldsteins Konzept durch Tillich noch auf der Linie von Goldsteins Anliegen liegt, aber aufgrund des vorliegenden Quellenmaterials lässt sich zumindest nicht erheben, dass sich Goldstein durch diese Aneignung und Weiterführung Tillichs der Intention 135 nach grundlegend missverstanden gefühlt hätte. Wirft man nun einen Blick auf die theologische Anthropologie, wie Tillich sie in der ST entfaltet, dann sind die Einflüsse, die Tillich von Goldstein her empfängt, nicht zu übersehen. Ich möchte von daher kurz auf die Grundzüge von Tillichs Freiheitsverständnis im Rahmen 136 seiner Anthropologie eingehen. Mit seiner Anthropologie setzt Tillich bei der Frage nach dem Sein selbst ein. Sie wird durch die menschliche Vergänglichkeits- und Endlichkeitserfahrung aus137 gelöst – dem „metaphysischen Schock“ – und wird somit als grundlegende, existenzielle Erfahrung verstanden. Tillich nähert sich der Beantwortung dieser Fra138 ge durch eine Analyse des Seins, indem er vier Schichten ontologischer Begriffe 133 Ebd., S. 306. 134 Mir scheint, dass Tillich, zumindest was die Systematische Theologie angeht, die Anschlussfähigkeit eher im Bereich der Pneumatologie gesehen und ausgeführt hat und im Rahmen seiner Christologie, auch wenn das oben aufgeführte Zitat eher eine andere Stoßrichtung vermuten ließe, eher wenig auf Goldsteins Denken zurückgreift. 135 P. Tillich, E V, S. 338f. 136 Selbstverständlich kann es hier nicht darum gehen, eine umfassende Darstellung und Diskussion der Rolle der Freiheit in Tillichs Theologie zu geben. Ich werde mich hier darauf beschränken, auf die Aspekte einzugehen, die für Tillichs Goldstein-Rezeption relevant, und die vor dem Hintergrund der Fragestellung nach dem Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft von Interesse sind. Eine umfangreiche Interpretation von Tillichs Theologie vom Begriff der Freiheit her liegt bereits vor: vgl. C. Danz, Freiheitsbewußtsein. 137 P. Tillich, ST I, S. 193. 138 Die Metapher ‚Schicht‘ wird von Tillich eingangs des 2. Bandes selbst problematisiert und durch ‚Dimension‘ ersetzt, bezieht sich dort aber auf eine differente Problematik, so dass eigentlich nicht damit zu rechnen ist, dass Tillich mit dem Wechsel der Metapher auch für die ontologische Grundstruktur an eine Revision dachte. Vgl. P. Tillich, ST III, S. 23ff. Eine frühere Problematisierung der Wahl der Metapher bei der Beschreibung des komplexen Vorganges ‚Leben‘ findet

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Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog

unterscheidet. Diese vier Schichten und das darin zur Sprache kommende Freiheitsverständnis möchte ich nun kurz vorstellen. Die ‚ontologische Frage‘ setzt ein Subjekt, welches die Frage stellt, und ein Objekt, auf welches die Frage gerichtet ist, voraus. Diese Subjekt-Objekt-Struktur bezeichnet Tillich als die „ontologische 139 Grundstruktur“ , an der alles Seiende partizipiert. Die darin angesiedelte Begründung der Sonderstellung des Menschen geht Tillich von zwei Richtungen aus an: einerseits betont er, dass nur der Mensch die Subjekt-Objekt-Struktur als un140 mittelbaren Gegenstand seines Bewusstseins haben kann , und sich somit, aufgrund des Bewusstseins seiner selbst, selbst zum Thema werden kann. Zum anderen ist der Mensch dasjenige Wesen, in dem alle Seinsschichten bzw. – wie Tillich es später in ST III ausdrücken wird – Dimensionen des Lebens – anorganisch, organisch, vegetabil/vegetativ, animalisch, psychisch und geistig – geeint und 141 durch Beobachtung zugänglich sind. Diese ontologische Grundstruktur baut auf der Erfahrung des Menschen als eines zu dieser Welt gehörigen Wesen auf, das sich als solches selbst erkennt und zum Gegenstand der Reflexion über die eigene 142 Verfasstheit wird. Mit dieser menschliche Selbstbezogenheit ist die unhintergehbare Voraussetzung gegeben, die Tillich an den Begriffen ‚Selbst‘ und ‚Ich‘ weiter ausführt. Dabei zieht er den Begriff des ‚Selbst‘ dem des ‚Ich‘ aufgrund seines umfassenderen Bedeutungsspektrums vor. In diesem sieht Tillich sowohl die unter- und unbewusste Basis, als auch das Selbstbewusstsein des ‚Ichs‘ enthal143 ten. Daraus folgt für Tillich, dass der zentrale Begriff ‚Selbstheit‘ bzw. ‚Selbstzentrierung‘ allen lebenden Wesen in gewissem Maße zugestanden werden muss. Der Mensch allein aber wird als „das voll entwickelte und völlig zentrierte 144 Selbst“ verstanden, denn allein in ihm haben alle Dimensionen des Lebens die Möglichkeit, aktuell zu werden, ein Aspekt, der sich auch für die Konzeption Goldsteins als von erheblicher Bedeutung erwiesen hat. Die Konstituierung des Selbst und seine Interaktion mit seiner Umgebung 145 werden als zwei Seiten des einen Vorgangs der Selbstwerdung verstanden. Nur das Ich-Selbst des Menschen ist in der Lage, seine Umgebung zu transzendieren und hat damit eine Welt, mit der er zugleich in Trennung und Teilhabe verbunden ist. Die Möglichkeit der Transzendenz der Welt liegt für Tillich – und das ist jetzt nicht weiter verwunderlich – in der Sprache, in der die Welt ergriffen und – in sich bereits in der 1958 in Berlin gehaltenen Vorlesung ‚Die Zweideutigkeit des Lebensprozesses‘. Vgl. P. Tillich, Die Zweideutigkeit des Lebensprozesses, in: Ders., Berliner Vorlesungen III, 1951–1958, in: E XVI, S. 344ff. 139 P. Tillich, ST I, S. 194. 140 Vgl. Ebd., S. 199. 141 Vgl. Ebd. 142 Vgl. Ebd., S. 200. 143 Vgl. Ebd. 144 Ebd., S. 201. 145 Auch hierin lassen sich die beiden entscheidenden Aspekte, die Goldstein für die Wesensverwirklichung des Organismus entwickelt hatte, in Tillichs Konzept identifizieren.

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Form der kreativen Schöpfung von Zeichen – umgeformt und gestaltet wird. Mittels dieses Weges tritt das Ich-Selbst aus dem unmittelbaren Wahrnehmungsvorgang heraus und distanziert sich so von der Welt. Damit wird es zugleich Ausgangs- und Zielpunkt der Betrachtung, indem es sich durch die Transzendierung der Welt seine Welt schafft. Es gilt: „Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen IchWelt und Selbst ist die ontologische Grundstruktur und schließt alles andere 146 ein.“ Innerhalb der zweiten Schicht der ontologischen Begriffe beschreibt Tillich die Elemente der Ontologie, durch die die ontologische Grundstruktur, die durch die Polarität von Selbst und Welt gekennzeichnet ist, sich konstituiert. Die Elemente sind für Tillich die Strukturen, durch die und in denen menschliches Leben und 147 Handeln stattfindet. Zugespitzt formuliert: „Sie sind er selbst.“ Tillich baut diese Struktur aus drei Elementenpaaren auf, bei denen jeweils das erste Element die 148 Relation des Seienden zu sich selbst , das zweite die fundamentale Bezogenheit 149 allen individuellen Seins auf außer ihm liegendes Sein im Sinne von Weltgebundenheit, zum Ausdruck bringt. Jedes Elementenpaar enthält somit die konstituierenden und konnektiven Aspekte, die in jedem Sein zum Tragen kommen. Dabei ist entscheidend, dass diese Pole in einem komplementär aufeinander bezogenen Verhältnis zueinander stehen, denn jeder Pol ist „sinnvoll nur in soweit, als er sich 150 durch sich selbst auf den entgegengesetzten Pol bezieht.“ Als das erste Elementenpaar führt Tillich ‚Individualisation und Partizipation‘ ein. Dieses Paar beschreibt sowohl die Notwendigkeit als auch die Möglichkeit von Beziehungen in kultureller, politischer und existenzieller Hinsicht. Der Mensch, verstanden als das weitestgehend zentrierte Selbst, ist vollständig individualisiert und kann aus diesem Grund Person genannt werden. Diese wiederum kann nur im Austausch mit anderen Personen in der Gemeinschaft, als der vollständigsten 151 Form von Partizipation, entstehen und dauerhaft Bestand haben. Als zweites geht Tillich auf das Elementenpaar ‚Dynamik und Form‘ ein, welches das Sein jedes Menschen bestimmt. Die Form ist die „Struktur, die es zu dem macht, was es 152 ist.“ Dagegen bezeichnet der andere Pol der Dynamik „die Potentialität des 153 Seins“ , die weniger als Sein, gleichzeitig aber mehr als Nichtsein ist. In der menschlichen Erfahrung kommt diese grundlegende Struktur in Vitalität und Intentionalität zum Ausdruck. Diese beschreibt das menschliche Streben, sich Selbst zu transzendieren, gleichzeitig aber immer einer Intention in Form einer bestimmten Richtung zu folgen. Selbstwahrung und -transzendenz stehen in einer, 146 Ebd., S. 202. 147 Ebd., S. 200. 148 Vgl. Ebd., S. 195. 149 Vgl. Ebd. 150 Ebd. 151 Vgl. Ebd., S. 208. 152 Ebd., S. 210. 153 Ebd., S. 211.

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Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog

das Leben des Menschen konstituierenden Beziehung zu einander. Aus diesem 154 Grund „ist es unmöglich, vom Sein ohne vom Werden zu reden.“ Das letzte Elementenpaar ‚Freiheit und Schicksal‘ ist für Tillich und für die Fragestellung dieser Arbeit nach den möglichen Berührungspunkten mit den Arbeiten Goldsteins das Bedeutendste, denn hier zeigt sich, wie Tillich Natur und Geist in seiner Systematik miteinander verbindet. Dabei werden beide Elemente – wie nach dem bisher Gesagten zu erwarten war – nicht im Sinne von Indeterminismus bzw. Determinismus verstanden, die Freiheit bzw. Schicksal jeweils an die Funktion eines 155 Teilbereichs des Menschen, etwa des Willens, binden. Vielmehr versteht Tillich hier die Freiheit in ähnlicher Weise wie Goldstein als das Vermögen der Selbsttranszendierung, das sich im Zentrum des Selbst verwirklicht. Sie „wird als 156 Erwägung, Entscheidung und Verantwortung erfahren.“ Im Gegensatz zum stoischen Begriff, der Schicksal im Sinne eines Kausaldeterminismus auffasst, versteht Tillich unter Schicksal die indisponiblen Bedingungen, unter denen die Freiheit jedes Selbst zur Verwirklichung kommt. Dazu „gehören Körperstruktur, psychische Strebungen, geistiger Charakter, außerdem die Gemeinschaften, zu denen ich gehöre, die nichterinnerte und die erinnerte Ver157 gangenheit, die Umgebung die mich geformt hat, die Welt, die mich geprägt hat.“

Damit ist die Grundstruktur des Freiheitsbegriffs Tillichs insofern umrissen, als dass Freiheit bei Tillich immer als eine in die Faktizität des Vorfindlichen eingebundene Freiheit verstanden werden muss. Diese Anbindung und Konditionierung der Freiheit schafft aber keinen fundamentalen Widerspruch zwischen ihr und den natürlich-determinierenden Faktoren: weder scheidet die Freiheit als Element der Gestaltung von Schicksal aus, noch muss das Schicksal ohne die Option auf seine mögliche Durchbrechung gedacht werden. Statt dessen kommt es zu einer Umstrukturierung beider Begriffe, die für die Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaften bei Tillich von herausragender Bedeutung sind: Diese Neuformulierung des Problems und seine Lösung führt dazu, dass „mein Schicksal (…) die Basis meiner Freiheit“ ist, und meine Freiheit an „der 158 Formung meines Schicksals“ partizipiert. Von daher wird nun deutlich, dass Freiheit als das Vermögen der Selbsttranszendierung nur dem Menschen als demjenigen „Seienden, das kein Ding, sondern ein vollendetes Selbst und eine rationa159 le Person ist“ eignet. In allem übrigen Seienden sieht Tillich dagegen die Polari160 tät von Spontaneität und Gesetz wirken. Worin er diesen Unterschied sich konkret auswirken sieht, fasst Tillich an anderer Stelle noch einmal in aller Aus154 Ebd., S. 213. 155 Vgl. Ebd., S. 215. 156 Ebd., S. 216. 157 Ebd., S. 217. 158 Ebd. 159 Ebd., S. 216. 160 Vgl. Ebd., S. 218.

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führlichkeit, die bis in die Formulierungen hinein an Goldsteins Zusammenfassung seiner Ergebnisse erinnern, zusammen: „Der Mensch hat Freiheit im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen, die nur Analogien zur Freiheit haben, aber nicht Freiheit selbst. Der Mensch ist frei, insofern er Sprache hat. Durch seine Sprache besitzt er die Allgemeinbegriffe, die ihn von der Knechtschaft unter die konkrete Situation befreien, der selbst das höchste Tier unterworfen ist. Der Mensch ist frei, insofern er nach der Welt, der er begegnet – einschließlich seiner selbst –, fragen kann und insofern er in immer tiefere und tiefere Schichten der Wirklichkeit eindringen kann. Der Mensch ist frei, insofern er unbedingte sittliche und logische Befehle vernehmen kann – beide ein Zeichen dafür, dass er die Bedingungen, die jedes endliche Seiende determinieren, transzendieren kann. Der Mensch ist frei, insofern er die Macht hat, zu überlegen und zu entscheiden und dadurch den Reiz-Reaktionsmechanismus zu durchbrechen. Der Mensch ist frei, insofern er spielen und eine Phantasiewelt jenseits der Realwelt errichten kann, an die alle anderen Wesen gebunden sind. Der Mensch ist frei, insofern er die Fähigkeit hat, Welten über der gegebenen Welt zu bauen: die Welt der technischen Werkzeuge und Produkte, die Welt des künstlerischen Ausdrucks, die Welt der theoretischen Strukturen und praktischen Organisationen. Schließlich ist der Mensch frei, insofern er die Macht hat, sich selbst und seiner essenziellen Natur zu widersprechen. Der Mensch ist sogar frei von seiner Freiheit, d.h. er kann unter seine Menschlichkeit herabfallen.“161

Ebenfalls entscheidend ist für Tillich, dass Freiheit – wie es auch schon für den Mut im MzS kennzeichnend war – als dem ganzen Menschen in allen seinen Dimensionen eignender Aspekt verstanden wird: „Man sollte von der Freiheit des Menschen sprechen und darauf hinweisen, dass jeder Teil und jede Funktion, die den Menschen als persönliches Selbst konstituieren, an seiner Freiheit partizipieren. Das schließt sogar die Zellen seines Körpers ein, insoweit sie an der Konstituierung seines persönlichen Zentrums teilhaben.“162

Mit dieser Formulierung greift Tillich auf seine Schöpfungslehre vor: Wie der Mensch im prolapsarischen Zustand als träumende Unschuld lediglich als reine Potenzialität zu denken ist, so hat auch die Natur an diesem Zustand teil. Wie die Schöpfung des Menschen, so koinzidiert auch die Schöpfung der Natur mit dem Fall. Tillichs Schöpfungslehre lässt die Aufspaltung in eine von den Folgen des Falls gänzlich unbetroffene Natur und einem von der Sünde gezeichneten Menschen, der den Status der Vollkommenheit leichtfertig aufgegeben hat, nicht zu. Der Fall hat bei Tillich einen transhistorischen, universal-tragischen Charakter, durch den die Natur mit in das Geschick des Menschen hineingenommen wird. Die bereits in der ontologischen Grundstruktur angelegte Endlichkeit wird postlapsarisch zu einer die Existenz bestimmenden Macht in Sünde und Entfremdung, die im Menschen in der Angst vor dem Tod in der universalen Verzweiflung 161 P. Tillich, ST II, S. 38. 162 P. Tillich, ST I, S. 216.

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endet. Wie aus der Existenz des Mensch so kann auch aus der Existenz der entfremdeten Natur die Frage nach den Möglichkeiten und Wegen der Erlösung in Form der Wiedervereinigung mit der Essenz entstehen. Die in der Auseinandersetzung mit Goldstein gewonnene Interpretationskategorie der Selbsttranszendenz entwickelt Tillich auch in der dritten Schicht der ontologischen Grundbegriffe, die sich mit der Erfahrung der Endlichkeit beschäftigt, weiter. Mit der Fähigkeit des Menschen zur Selbsttranszendenz geht einher, dass es ihm möglich ist, sich auch vom Standpunkt des Nichtseins aus betrachten zu können. Damit ist sowohl die Partizipation am Nichtsein wie am Sein gegeben, denn es ist dem Menschen möglich, sich von sich selbst in Erinnerung, Erwartung, 163 Phantasie oder Spiel zu distanzieren. Für Tillichs dynamisches Wirklichkeitsverstehen ist es von daher entscheidend, dass die Existenz einer Welt nicht ohne die 164 „dialektische Partizipation des Nichtseins am Sein“ gedacht werden kann. Dabei stellt das Nichtsein nicht eine bloß logische Möglichkeit dar, denn in Tillichs Konzept gründet alles Logische notwendig im Sein, so dass das Nichtsein dialektisch 165 am Sein teilhat. Dieses dialektische Nichtsein nennt Tillich das meontische. In ihm gründet das Zentralproblem von Tillichs Anthropologie: die Endlichkeit. Die menschliche Fähigkeit der Selbsttranszendenz wird somit als ambivalent interpretiert: Sie ermöglicht einerseits die Distanzierung von und die Erkenntnis der Welt, die mit ihr identische Freiheit ist das, was den Menschen zum Menschen macht, aber seine Freiheit kann immer nur als Struktur gedacht werden, die an seiner Endlichkeit teilhat: sie ist endliche Freiheit. Andererseits geht damit auch das Er166 kennen der Möglichkeit der Nichtexistenz des Selbst , was nicht allein zur bereits 167 beschriebenen Form der Angst als einer ontologische Qualität führt, sondern zugleich die Ausrichtung auf das Sein-Selbst verstärkt, einher: „Der Mensch [ist; K.B.] niemals befriedigt durch irgendein Stadium seiner Entwicklung (…) nichts Endliches [kann; K.B.] ihn halten, obwohl Endlichkeit sein Schicksal ist, [diese Tatsache; K.B.] zeigt die unlösliche Beziehung alles Endlichen zum SeinSelbst.“168

Wie es schon für den Begriff der Angst zu beobachten war, wird auch der bei Goldstein als diagnostische Kategorie verwendete Begriff der Selbsttranszendenz, der den Umgang des Gesunden mit der Welt kennzeichnete, bei Tillich im ontologischen Sinne umstrukturiert und innerhalb seiner apologetischer Theologie als 163 Vgl. Ebd., S. 219f. 164 Ebd., S. 220. 165 Tillich setzt seine Analyse des Nichtseins bei der Unterscheidung zwischen den griechischen Verneinungen ouk und me an. Dabei bezeichnet ouk den undialektischen Begriff des Nichtseins, der in der creatio ex nihilo für die christliche Schöpfungslehre virulent wird. Me hingegen bezeichnet im platonischen Sinne das Sein, welches „noch kein Sein hat, aber was Sein werden kann, wenn es geeint wird mit den Wesenheiten und Ideen.“ Ebd. 166 Vgl. Ebd., S. 222f. 167 Vgl. Ebd., 224. 168 Tillich, ST I, S. 224.

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Werkzeug, das die Frage nach Gott als dem Sein-Selbst im Menschen implementiert, konzipiert. Mit dieser Weiterentwicklung geht Tillich weit über die von Goldstein eingeschlagene Richtung hinaus, ohne damit aber in einen grundlegenden Widerspruch zu Goldstein zu geraten. Gerade an dieser Stelle wird deutlich, was Tillich im Auge hatte, als er davon sprach, Goldstein habe zwar selbst die religionsphilosophische Frage nicht im Blick gehabt, trotzdem seien seine Arbeiten aber von herausragender, religionsphilosophischer Relevanz und offen für eine 169 theologische Fortführung. Im Kapitel über die Angst ist bereits von der enge Verknüpfung von Endlichkeit mit den beiden möglichen Reaktionszuständen des Menschen auf diesen Umstand – Angst bzw. Mut – die Rede gewesen. Da die abschließende vierte Schicht ontologischer Begriffe, mit der die Darstellung der ontologischen Struktur vervollständigt wird, diese Verbindung noch einmal im Rahmen der Kategorienlehre Tillichs entfaltet, werde ich hier nur kurz darauf zu sprechen kommen, da die Grundstruktur beibehalten wird. Die von Tillich entworfenen vier Kategorien 170 Zeit, Raum, Kausalität und Substanz sind als Elemente zu verstehen, in denen die Endlichkeit durch den Menschen erfahren wird und wie ihr begegnet werden kann. Tillichs Kategorienlehre stellt dabei ein interessantes Beispiel der Ausarbeitung seiner Weiterführung des Gedankens der Selbsttranszendenz als zentrales anthropologisches Merkmal dar. Zu jeder dieser vier Kategorien stellt Tillich einen negativen sowie einen positiven Aspekt vor, der mit ihnen einher geht. Wenn Tillich an dieser Stelle nicht wieder in dem Maße explizit auf den Zusammenhang von Vitalität und Mut eingeht, wie das im MzS zu beobachten ist, so ist doch zu berücksichtigen, dass zumindest die beiden Kategorien Kausalität und Substanz, wie sie hier in ihrer anthropologischen Zuspitzung entfaltet werden, nicht ohne ihre biologische Fundierung zu denken sind, was sich aus den Formulierungen Tillichs durchaus erheben lässt. Ich möchte hier nur kurz auf die einzelnen Kategorien eingehen, da für die Fragestellung dieses Abschnitts keine wesentlich neuen Aspekte mehr hinzukommen. Die erste Kategorie ist die der Zeit. Sie ist laut Tillich die wichtigste Kategorie der Endlichkeit. Ihr negativer Aspekt besteht in ihrer ‚Flüchtigkeit‘: Wird die Gegenwart lediglich als Grenzlinie zwischen zurückliegender Vergangenheit und noch nicht angebrochener Zukunft gesehen, dann ist sie reine Illusion. Andererseits ist eine durchgehend positive Bewertung, die die schöpferische Macht des Seins in der Gegenwart betont, ebenfalls abzulehnen. Keine der beiden Beschrei169 Vgl. P. Tillich, Die Bedeutung Kurt Goldsteins für die Religionsphilosophie, in: GW XII, S. 305. 170 Tillich entwickelt an dieser Stelle keine reine Kategorienlehre, vielmehr werden die Kategorien nur in ihrem Bezug auf die Endlichkeit entfaltet, was in den beiden klassischen Kategorienlehren bei Aristoteles und Kant nicht der Fall ist. Aristoteles Kategorienbegriff ist mehr an der Sprache orientiert und wird aus ihr gewonnen. Dahingegen bezeichnen die Kategorien Kants unterschiedliche Formen des Denkens. Vgl. Bartosz Wi ckowski, Art.: Kategorie, in: Albert Franz/Wolfgang Baum/Karsten Kreutzer (Hg.), Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie, Freiburg 2003, S. 219ff.

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bungen der Zeit erklärt die Kategorie für sich in angemessener Weise. Vielmehr gehören beide Aspekte zusammen und bilden so die Struktur der Zeit, wie sie in 171 der Endlichkeit erscheint, ab. In der Beziehung zum Selbst heißt das: die Angst vor dem eigenen Sterben wird mit dem Mut der Bejahung der eigenen Zeitlichkeit 172 zusammengebracht. Der Mensch ist somit – dieser Aspekt war auch schon im MzS hervorgehoben worden – für Tillich „das mutigste aller Wesen, weil er die 173 tiefste Angst zu besiegen hat.“ Analog dazu werden die restlichen Kategorien analysiert: Negativer Aspekt des Raumes ist der drohende Verlust jedes Ortes, mit dem zugleich auch die zeitliche Gegenwart und somit das Sein-Selbst droht, verloren zu gehen. Gleichzeitig wird ‚Gegenwart‘ auch als ein räumlicher Begriff verstanden. Jedes Sein strebt nach einem Ort im physischen wie sozialen Sinne. Somit erweist Räumlichkeit ihren Charakter als einer ontologischen Notwendigkeit. Für die Perspektive des Menschen bedeutet das: er ist einerseits der letzten Unsicherheit ausgeliefert, in der er die Situation, keinen Raum mehr zu haben, vorwegnimmt. Andererseits „ist die Angst des Menschen, seinen Raum zu verlieren, durch den Mut ausgeglichen, mit dem er die Gegenwart bejaht und mit ihr den 174 Raum.“ Die Kausalität erklärt auf ihrer positiven Seite das Sein eines Dinges, sie zeigt die Bedingungen auf, unter denen es möglich war, das genau dieses Ding ins Sein treten konnte und nicht ein anderes oder gar nichts. Negativ streitet Kausalität jedem Ding die Seinsmächtigkeit aus sich selbst heraus ab. Alles, was ist, ist es in Abhängigkeit von den es umgebenden Strukturen. Das führt zu einer Kette von 175 Fragen nach den Ursachen, die letztlich in eine „unendliche Regression“ führt. Für den Menschen kommt es aus diesem Grund zur „Angst über den Mangel an 176 Notwendigkeit seines Seins.“ Diese Angst wird aufgenommen durch den Mut, diesen Mangel an Notwendigkeit auf sich zu nehmen. Die letzte Kategorie ist die der Substanz, die positiv betrachtet jedem Sein notwendig ist. Negativ steht dem die Verlustangst gegenüber, mit der Substanz auch das Sein selbst zu verlieren. In jeder Veränderung wird diese Angst bereits vorweggenommen. Sie wird in einem 177 Akt des Mutes, das Endliche zu bejahen, auf sich genommen. Diese Fähigkeit der Selbsttranszendenz, wie sie Tillich hier als das wesentliche Merkmal des Menschen darstellt, das die ontologische Struktur des Menschen als endliche Freiheit beschreibt, wirkt so in zwei Richtungen: zum einen zielt sie auf das Anerkennen des Unvermeidlichen, der Endlichkeit. Zum anderen trägt sie in sich die Möglich171 Die Analyse der Kategorien erfolgt in zwei ‚Schichten‘: einerseits wird das Verhältnis der positiven und negativen Elemente zur Welt „von außen“, andererseits ihr Verhältnis zum Selbst „von innen“ dargestellt. Vgl. P. Tillich, ST I, S. 226. 172 Vgl. Ebd., S. 226f. Die Angst vor dem Tod gehört zur Existenz hinzu und ist nicht die Verzerrung dieser Struktur im Sündenfall. 173 Ebd., S. 227. 174 Ebd., S. 229. 175 Ebd. 176 Ebd., S. 230. 177 Vgl. Ebd., S. 231f.

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keit, diese Ebene zu überschreiten und so das Endliche mit dem Unendlichen in Verbindung zu bringen. Tillich beschreibt das so: „Wir können nur deshalb nach unzweideutigem Leben fragen, weil das Leben den Charakter der Selbst-Transzendierung hat. In allen Dimensionen bewegt sich das Leben in vertikaler Richtung über sich hinaus. Aber innerhalb keiner Dimension erreicht es das, worauf es sich hinbewegt – das Unbedingte. Es erreicht es nie, aber 178 das Verlangen danach besteht.“

Wie Tillich diese beiden Richtungen, die er von seinem Konzept der SelbstTranszendenz aus entfaltet, innerhalb seines Denkens zusammenbindet und von einander differenziert, möchte ist nun anschließend anhand seiner Überlegungen zur Bedeutung von Gesundheit, Krankheit und Heilung vorstellen. (2) Tillichs Überlegungen zum Themenkomplex von Gesundheit, Krankheit 179 und Heilung stellen wiederum – ein ähnliches systematisches Vorgehen war bereits im Zusammenhang des Themas Angst und Mut zu beobachten – eine Übersetzung und Konkretisierung des abstrakten systematischen Schemas von Essenz, Existenz und deren antizipatorischen Wiedervereinigung, die notwendig immer fragmentarisch-zweideutigen Charakter hat, im Leben dar. Auch hier finden sich konkrete Weiterverarbeitungen zentraler Aspekte der Überlegungen Goldsteins. Sie betreffen vor allem die Struktur des Gedankens der Ganzheit sowie Tillichs Darstellung des Lebensvorgangs als eines dreischrittigen Prozesses. Beide Aspekte sind dabei sowohl bei Tillich als auch bei Goldstein eng miteinander verknüpft, so dass hier abschließend auf beide einzugehen ist. Wie gesehen, hatte Goldstein drei Kriterien formuliert, anhand derer die Frage nach den wesentlichen Faktoren eines Organismus zu beantworten ist. So musste etwa ein Faktor mit großer Konstanz in verschiedenen Versuchsaufbauten an möglichst vielen Organismusteilen nachweisbar sein, zudem sollte der Organismus auf bestimmte äußere Faktoren mit einem aus sich verstetigenden Figuren bestehenden ausgezeichneten Verhalten, das vor einem bestimmten inaktiven Hintergrund erkennbar wird, seinen Austausch mit der Umwelt strukturieren. Der wichtigste Aspekt bestand zuletzt aber darin, dass ein Faktor immer auf seine Bedeutung für seine Auswirkungen auf die Gesamtheit des Organismus hin in den Blick zu nehmen ist. Vor allem diese beiden letzten Aspekte sind in Tillichs Denken offensichtlich in modifizierter Form verarbeitet. Hatte Goldstein unter dem Terminus ausgezeichnetes Verhalten auf neuronaler Ebene den Austausch zwischen dem 178 P. Tillich, ST III, S. 133. 179 Der Begriff des Heils ist an dieser Stelle zunächst zurückzustellen. Wenn auf ihn Bezug genommen wird, dann ist stets im Blick zu halten, dass in Tillichs Begriff der Heilung mit einer Tiefendimension ausgestattet ist: zum einen umschreibt er ein innerweltliches Geschehen, das aber andererseits vor dem Hintergrund des Verstehens des Dreischritts des Lebens und der anthropologischen Verfasstheit des Menschen immer auch in fragmentarisch-zweideutiger Weise antizipatorisch die Erlösung – der Begriff, den Tillich in diesem Zusammenhang eindeutig bevorzugt – bzw. das Heil vorwegnimmt.

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Einzelorganismus und seiner Umwelt erklärt, für den es wesentlich ist, dass es dem Organismus immer wieder gelingt, zu seinem Ausgangspunkt vor dem eingetretenen Erregungszustand zurückzukehren, um seine Identität langfristig zu si180 chern , so findet sich eine ganz ähnlich Struktur mit unterschiedlicher Pointierung in Tillichs Darstellung des Lebensprozesses: alles Leben – insbesondere das des Menschen – vollzieht sich als ein dialektischer Dreischritt, der als Modell aller dialektischer Prozesse überhaupt gelten kann: „Man kann von einer Dialektik der Lebensprozesse sprechen, denn es handelt sich um einander entgegengesetzte Bewegungen, um ein Ja und ein Nein wie in einem philosophischen Dialog. Alles dialektische Denken ist nur ein Spiegel dieses Lebensprozesses.“181

Dieser Dreischritt des Lebens, das Tillich als die „Aktualisierung potenziellen 182 Seins definiert“ , umfasst zum einen die gleichbleibende Identität des Menschen mit sich selbst, der immer wieder gezwungen wird, in einem zweiten Schritt diese Identität mit sich selbst im Austausch mit seiner Umwelt zu verlassen, um dann zuletzt durch die teilweise bzw. vollständig vollzogene Integration des Fremden zu 183 sich selbst zurückzukehren. Dieses Schema wendet Tillich auf alle Dimensio184 nen des Menschen an: sowohl die Entwicklung des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt seiner physikalisch-chemisch-biologischen Abläufe als auch seiner psychisch-geistigen Auseinandersetzung mit der außer ihm liegenden Welt läuft nach diesem Muster ab. Diesen sich stetig wiederholenden Ablauf sieht Tillich unter drei wesentlichen Prinzipien des Lebens stehen: „Selbst-Integration unter dem Prinzip der Zentriertheit; das Sich-Schaffen unter dem Prinzip des Wachs185 tums; Selbst-Transzendierung unter dem Prinzip des Heiligen.“ Damit integriert Tillich die wichtigsten Punkte der Theorie Goldsteins in seinen Lebensbegriff und verbindet die bei Goldstein noch weitgehend getrennten Theorieteile des ausgezeichneten Verhaltens, das als der wichtigste Anteil des Wesensbegriffs zu werten ist, mit seinen Überlegungen zur in der Fähigkeit der Sprache liegenden Sonderstellung des Menschen. Gleichzeitig identifiziert Tillich diesen dritten Punkt mit der Dimension des Geistes im Menschen, die ihn vor dem Hintergrund seiner Logos-Vorstellung das Überschreiten des Selbst hin auf das Heilige ermöglicht. Wieder begegnet hier der Punkt der Überführung des Freiheitsbegriffs Goldsteins in die religionsphilosophische Frage bei Tillich, die bereits an anderer Stelle identifiziert werden konnte. Für den Entwurf seines Begriffes des Lebens wählt Tillich einen möglichst weiten Ansatz: es wird zunächst als ein Phänomen verstanden, das in allen Formen 180 Vgl. diese Arbeit Kap. III, 1.1 (1). 181 P. Tillich, BG, in: GW IX, S. 288. 182 P. Tillich, ST III, S. 42. 183 Ebd. 184 Zur Wahl der Metapher Dimension: siehe unten. 185 P. Tillich, ST III, S. 44.

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des Daseienden in unterschiedlicher Ausprägung präsent ist. Dabei gilt es, so Tillich, auch das Anorganische in den Lebensbegriff zu integrieren. Der zentrale Terminus, über den dieser Integrationsversuch läuft, ist der der Dimension. Bis weit in die 50iger Jahre hinein hatte Tillich für seine anthropologischen Modelle mit der Metapher der Schicht bzw. Sphäre gearbeitet, diese aber in seinem Spätwerk durch dem Dimensionsbegriff spätestens 1959 ersetzt. Woher genau die Anregung zu diesem Begriffswechsel stammt, ist schwierig festzustellen. Er findet 186 sich u.a. auch bei Goldstein, allerdings nur an wenig prominenter Stelle und keinesfalls als Terminus technicus. Hinter diesem Begriffswechsel einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel in Tillichs Anthropologie zu vermuten, halte ich allerdings nicht für angemessen, da sich in seinen Arbeiten, in denen er mit dem Dimensionsbegriff arbeitet, keine grundlegend verschobene Sicht auf die Integration von Körper, Psyche und Geist, gegenüber seiner Systematisierung, wie sie 187 etwa im SdW zu Tage getreten ist, feststellen lässt. Eher ist davon auszugehen, dass Tillich mit der Wahl des Dimensionsbegriffes nach langem Suchen endlich einen angemessenen sprachlichen Code für etwas findet, dass systematisch schon längst angelegt war. Denn die Metapher der Dimension bietet Tillich die Möglichkeit, seine früh gefällten Grundentscheidungen im Bereich der Anthropologie zu präzisieren. Spricht sein anthropologisches Modell noch 1946 in ähnlicher Weise wie im SdW von der Psyche als eines Zwischengliedes zwischen Körper und Geist, das beide aneinander bindet, „wir müssen sagen, dass die Seite, die die Psyche dem Körper zuwendet, und die Seite die der Körper der Psyche zuwendet, eine gemeinsame Sphäre schaffen, und dass die Seite, die die Psyche dem Geist zuwendet, und die Seite, die der Geist der Psyche zuwendet, gleichfalls eine gemeinsame Sphäre schaffen“188,

so ermöglicht das Verwenden der Metapher der Dimension eine Vertiefung dieses 189 Gedankens, indem sie die konnektiven Elemente stärker als bisher betont. Dagegen treten die hierarchisierenden Implikationen, die durch die Metapher der 190 Schicht eher nahegelegt sind, in den Hintergrund.

186 Vgl. K. Goldstein, HN, S. 210. 187 Zu den Entwicklungslinien von Tillichs frühem anthropologischen Modell, das sie allerdings erst Mitte der 40iger Jahre ansetzt, bis zur Anthropologie der ST vgl. K. Grau, Healing Power, S. 104ff. 188 P. Tillich, RG, in: GW IX, S. 284f. 189 Die Einführung des Dimensionsbegriffes ist nach meiner Kenntnis mit dem Text ‚Dimensionen, Schichten und die Einheit des Seins‘, der 1959 erschienen ist, zu datieren. Hier deutet sich zum ersten Mal die für die in ST III charakteristische Integration des Lebensbegriffs in Tillichs Gedankens vom Sein an. Vgl. P. Tillich, Dimensionen, Schichten und die Einheit des Seins, in: GW IV, S. 118–129. In Vorlesungen hatte Tillich den Metaphernwechsel allerdings schon im Sommer 1958 eingeführt. Vgl. P. Tillich, Die Zweideutigkeit des Lebensprozesses, in: E XVI, S. 344ff. 190 Dass mit der Metapher der Schicht eine hierarchische Sicht auf das Leben impliziert sei, scheint für Tillich das Hauptargument für den Wechsel sein. Zur weiteren Begründung vgl. Ebd, S. 342f.

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Die Dimensionen existieren im lebendigen Wesen nicht getrennt voneinander und arbeiten nicht nach ihren je eigenen Gesetzen unverbunden nebeneinander her. Sie sind notwendig für dessen Existenz in einer von anderen Körpern abgetrennten Entität zusammengeführt und treten nur in dieser Form der wissenschaftlichen Betrachtung entgegen. Wichtig ist dabei für Tillich, „dass es keine Grenzlinie zwischen den einzelnen Dimensionen des Lebens gibt, sondern dass sie sich wechselseitig durchdringen, analog den geometrischen Dimensionen, die sich 191 in einem Punkt treffen.“ Mit diesem Treffpunkt identifiziert Tillich den Mensch, in ihm sind alle möglichen Dimensionen – von der anorganischen bis zu geistig192 geschichtlichen Dimension – geeint, sie tragen den Fortgang seines Lebens, in ihnen vollzieht sich die dem Lebensprozess eigene Dialektik. Gleichzeitig schafft dieser Ansatz die Verbindung von Makrokosmos und Mikrokosmos, der auch den Begriff der Einheit des Seins vertieft: Alles Sein ist dadurch gekennzeichnet und von einander zu unterscheiden, dass in ihm jeweils unterschiedliche Dimensionen zur Aktualität gelangen und die nicht aktualisierten Dimensionen im Status des 193 potenziellen Seins verbleiben. Pointiert fasst Tillich diesen Gedanken so zusammen: „Als Gott das Atom schuf, da schuf er potenziell den Menschen – und mit 194 ihm alle anderen Dimensionen des Lebens.“ Über diesen ontologischen Status sind alle Dimensionen – gleich, ob aktualisiert oder nicht, und unerheblich, in welcher Art von Sein sie aktualisiert sind – miteinander verbunden und stehen in Wechselwirkung miteinander. Der Übergang von einer Dimension zur anderen wird von Tillich als ‚Kampf‘ bezeichnet, der nur unter einer bestimmten Konstellation von Bedingungen zur Aktualisierung einer neuen Dimension führt. Dieses Geschehen ist somit sowohl als ein geschichtliches zu qualifizieren, als auch als ein sich stetig in jedem neuen Lebewesen wiederholender biologischer Prozess der Auseinandersetzung um die Aktualisierung aller potenziellen Dimensionen zu 195 verstehen. Menschwerdung vollzieht sich somit in der ständigen Auseinandersetzung um die Aktualisierung aller potenziellen Dimensionen. Diese ist im Menschen zu ihrem Abschluss gekommen, da in ihm alle potenziellen Dimensionen aktuell werden. Das zeichnet ihn vor allen anderen – anorganischen wie organischen – Wesenheiten aus und begründet seine Sonderstellung. Als Identifikationsmarker des Menschen ist dabei die aktualisierte Dimension des Geistes zu verstehen. Diese ist als „Kraft des Lebens“, als „Leben im Sinn“ zu charakterisie196 ren. Die Dimension des Geistes umfasst sowohl eros, Leidenschaft und Gefühl 197 als auch die Vernunft, die dem Geist und der Wirklichkeit ihre Struktur gibt. 191 P. Tillich, BG, in: GW IX, S. 290. 192 Zum Aufbau der Dimensionen im Lebensbegriff vgl. P. Tillich, ST III, S. 28–39. 193 Zur Abfolge der Dimensionen und den Umständen ihrer Aktualisierung vgl. Ebd. 194 P. Tillich, ST III, S. 27. 195 Vgl. P. Tillich, ST II, S. 37f. 196 Vgl. P. Tillich, ST III, S. 34f. 197 Vgl. Ebd., S. 35. Tillich nimmt an dieser Stelle seine Unterscheidung zwischen ontologischem und technischen Vernunftbegriff, die er in ersten Teil der Systematischen Theologie eingeführt hat,

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Der Mensch hat von daher nicht Geist, vielmehr aktualisiert der Geist sich in ihm immer wieder neu, indem beständig wirkende Sinneswahrnehmungen, Traditionen, Erfahrungen und Einflüsse in einem Akt der Freiheit des zentrierten Selbst geordnet und logisch strukturiert werden. Dieser Vorgang, der sich in jedem Akt der Erkenntnis und der Moral beständig wiederholt, weist auf die Freiheit des zentrierten Selbst, das sich von dem Material, das es beeinflusst, durch Verarbeitung distanziert und damit Erkenntnis und moralisches Handeln erst ermög198 licht. Bei der Suche nach den Normen für das Leben im Bereich des Geistes zeigt sich, dass diese zwar aus der essenziellen Natur des Menschen stammen müssen, allerdings ausschließlich in ihrer existenziell verzerrten Form erkennbar sind. Von daher wird der „Wagnischarakter des Lebens in seinen schöpferischen Funktionen […] 199 auch in den Funktionen des Geistes“ erkennbar. In dieses Modell des Vollzuges des Lebensprozesses zeichnet Tillich auch sein 200 Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Heilung ein. Sie können als empirisch wahrnehm- und beschreibbarer Ausdruck des Dreischritts des Lebens interpretiert werden. Dabei betont Tillich interessanterweise den vorläufigen Charakter seines Ansatzes. Mit dem Hinweis auf die neueren theoretischen Entwicklungen in der Psychiatrie und psycho-somatischen Medizin sei das Problem der Beziehungen der Dimensionen im Menschen letztlich nicht gelöst: „Wir dürfen nicht übersehen, dass der Bindestrich zwischen psycho und somatisch andeutet, dass die tatsächlichen Zusammenhänge noch nicht aufgeklärt sind und wir eher ein Problem als einen 201 wissenschaftlichen Befund vor uns haben.“ Genauere Deskription unter Einbeziehung sowohl der Perspektive der Partizipation des Menschen an der Grundstruktur des Seins als auch auf naturwissenschaftlicher Basis gewonnener Erkenntnisse bleibt für ihn somit der Arbeitsauftrag für die Zukunft. Weitere Arbeit hat die Aufklärung der Leerstelle, die durch den Bindestrich zur Zeit noch mit einem Platzhalter versehen ist, zur Aufgabe. Bis dahin versteht Tillich Krankheit und Gesundheit als spezifische Zustände, in die ein Organismus während des fortschreitenden Lebensprozesses geraten kann, und die nur im dialektischen Wechselverhältnis zueinander in ihrer Bedeutung für den betroffenen Organismus verstanden werden können. Im Fall der Gesundheit gelingt der Dreischritt des Lebens, die Selbst-Identität kann trotz Wachstum und Verlassen des Selbst immer wieder auf einer erweiterten Ebene erreicht werden. Diesem Prozess drohen aber vor allem von zwei Seiten Gefahren: zum einen droht mit dem Verlassen des Selbst der Verlust der Identität: wieder auf. Vernunft wurde im Sinne des universalen Logos verstanden, der die Struktur der Wirklichkeit konstituiert und somit die Vernunft in ihrem technischen Sinne umfasst. Vgl. hierzu P. Tillich, ST I, S. 87–98. 198 Vgl. P. Tillich, ST III 38f. 199 P. Tillich, ST III 41. 200 Zur werkgeschichtlichen Entwicklung von Tillichs Vorstellungen zum Themenkomplex von Gesundheit, Krankheit und Heilung vgl. K. Grau, Healing Power, S. 77–100. 201 P. Tillich, BG, in: GW IX, S. 290.

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„Dies geschieht, wenn sich einzelne Prozesse von dem Ganzen absondern und sich in zu viele verschiedene Richtungen zerstreuen; das Ergebnis ist ein falsches Wachstum und der Verlust der einenden Mitte. In diesen Fällen (z.B. in besonderen körperlichen Erkrankungen wie Geisteskrankheiten, die die Desintegration der Persön202 lichkeit zur Folge haben) ist die Identität bedroht und geht oft verloren.“

Diese Bedrohung ruft die zweite Gefahr hervor, die für Tillich in dem Versuch des Vermeidens des eben genannten Vorgangs besteht. Dieser Gedanke selbst sowie seine Formulierung erinnert stark an die Beschreibungen des Verhaltens hirnverletzter Patienten durch Goldstein, aus dem dieser – wie zu beobachten war – eine anthropologische Konstante im Umgang mit existenzbedrohenden Ängsten abgeleitet hatte. Tillich schreibt: „In der Angst sein Selbst zu verlieren, wagt der Mensch nicht mehr, über sich hinauszugehen und sein Selbst zu verändern. Vielleicht hat er einmal den Versuch gemacht, und da er ihm in der beschriebenen Weise misslang, hat er sich in die beschränkten Grenzen seiner Existenz zurückgezogen. Hier kann er seine reduzierte Identität bewahren, und er bewahrt sie nicht nur, sondern er verteidigt sie krampfhaft – ein Fall von Psychoneurose.“203

Damit sind die beiden Grundrichtungen beschrieben, von denen aus der dialektische Lebensprozess gefährdet ist. Tillich interpretiert diese Gefährdungstendenzen als Folgen der dem Leben eigenen Zweideutigkeit: Das Leben wird grundsätzlich als ein schöpferischer Vorgang verstanden, der immer von seinem Misslingen bedroht ist. Er schreibt: „Zweideutigkeit bedeutet, dass in jedem schöpferischen Vorgang auch eine Tendenz zur Zerstörung liegt, in jedem integrierenden Vorgang auch eine Tendenz zur Desintegration und in jedem Drang zum Erhabenen auch eine Tendenz zur Profanisierung.“204

Wie diese Verfasstheit des Lebens als die Ursache der verschiedensten pathologischen Erscheinungen, die im Laufe des Lebensprozesses auftreten können, verstanden wird, so sieht Tillich umgekehrt in den diversen Formen von Krankheit 205 den entscheidenden Hinweis auf die Zweideutigkeit des Lebens vorliegen. Als aus dieser Zweideutigkeit erwachsende Grundmodelle von Krankheitsbildern versteht er zum einen jegliche Art von Unfällen, die spezifischen Formen von – seien es psychische oder somatische – Traumata hervorrufen. In diesen Unfällen sieht 206 Tillich sich „die Zweideutigkeit der Begegnung von lebendigen Wesen“ überhaupt ausdrücken. Zum anderen birgt die notwendige Assimilation von Elementen der Umwelt durch einen Organismus – sei es durch die Atmung oder die not202 Ebd., S. 288. 203 Ebd. 204 Ebd., S. 289. 205 Vgl. Ebd. 206 Ebd.

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wendige Nahrungsaufnahmen – die Gefahr des Eindringens von krankheitserregenden Elementen in den Organismus, die zu schweren pathologischen Zu207 ständen führen können. Zuletzt bleibt jede Form des Wachstums immer von der Zweideutigkeit durch die Unfähigkeit zur Integration und Re- bzw. Neuzentrie208 rung der Persönlichkeit bedroht. Wichtig ist es Tillich an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass diese Formen der Zweideutigkeit, die das Leben bedrohen, selbst wenn sie zunächst nur eine Dimension betreffen, Auswirkungen auf alle anderen Dimensionen haben. Dieser Gedanken hat erhebliche Folgen für Tillichs Konzeption der Heilung sowie seine Vorstellungen für Ansatzpunkte der Zusammenarbeit von Medizin und Theologie. Von Tillichs Modell des Dreischritts des Lebens ausgehend kann seine Vorstellung von Heilung nur auf einen Ansatz hinauslaufen, in dem medizinisches Heilen mit dem theologischen Gedanken des Heils fundamental verbunden ist, da die offenkundige Verbindung von Mikrokosmos und geistlicher Dimension im Menschen unhintergehbar ist. Zunächst einmal geht es aber um die Zuweisung von Kompetenzen und um Abgrenzung: Tillich geht es nicht darum, mit die Theologie eine der Medizin gegenüber superiore Theorie zu entfalten, der die primäre Aufgabe zukommt, ihre grundlegenden Defizite aufzuzeigen. Gleichwohl zeigt der Durchgang durch die einzelnen Dimensionen, wie die verschiedenen Heilungsansätze es mit der Dialektik des Lebens zu tun bekommen, wo ihre Möglichkeiten und Grenzen liegen. Gesundheit in der physikalischen Dimension setzt Tillich mit der unbeeinträchtigten Funktionsfähigkeit aller somatischer Vorgänge gleich. Krankheit dagegen entsteht in dieser Dimension „durch Unfälle, Infektion oder 209 Verlust des Gleichgewichts.“ Das angemessene therapeutische Werkzeug ist hier der chirurgische Eingriff, der Heilung durch die Ausschaltung der krankheitsverursachenden Faktoren entweder vollständige oder teilweise Wiederherstellung herbeiführt. Als schwieriger stellt es sich in der chemischen Dimension dar, Gesundheit als Gleichgewicht aller chemischen Elemente im Körper mit Hilfe von medikamentösen Eingriffen herzustellen. Tillich sieht hier die Gefahr, dass die Persönlichkeitsrechte der Patienten durch manipulative Tendenzen, die vor allem durch geschichtlich-gesellschaftliche Faktoren motiviert sein können und nicht so sehr durch den medizinischen Befund indiziert sind, massiven Verletzungen aus210 gesetzt werden können. Der Gedanke, dass die normative Bestimmung von Gesundheit, Krankheit und Heilung zu einem großen Teil kulturellen Signaturen unterliegt, die in den medizinischen Diskurs hineinreicht und diesen bestimmen können, wird hier von Tillich zwar nicht explizit ausgesprochen, liegt aber durchaus auf der Linie seiner Gedankenführung. Dass seine Bedenken gegenüber der Therapie mit chemischen Mitteln direkt in die medizinethische Diskussion füh207 Ebd. 208 Ebd. 209 Ebd., S. 290. 210 Vgl. Ebd., S. 291.

240

Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog 211

ren, ist offenkundig und Tillich selbst bewusst gewesen. Innerhalb der biologischen Dimension – als die Tillich ganz im Sinne Goldsteins offenbar den Organismus in seiner Ganzheit im Verhältnis zu seiner Umwelt auffasst – kann es zu Heilung nur durch einschneidende Veränderungen ebendieses Verhältnisses zur Umgebung kommen: „Mittel der Heilung sind Ruhe oder Bewegung, Veränderung der Nahrung, des Klimas oder der Tätigkeit und körperliche und geistige Anre212 gung.“ Zu der angestrebten Revitalisierung kann es allerdings nicht ohne die Einbeziehung sowohl der beiden vorausgehenden Dimensionen als auch der nun folgenden psychischen Dimension kommen. Die Beschreibung von Gesundheit und Krankheit in dieser Dimension ist identisch mit der Grundform des dialektischen Lebensprozesses und den aus ihm entstehenden Gefahren, auf die entweder mit Selbstverlust oder Rückzug aus der Welt reagiert wird. Angemessenes Therapeutikum ist für Tillich die Psychotherapie, wobei er es im Aufgabenbereich des Therapeuten liegen sieht, zu entscheiden, inwieweit eine Reintegration in die 213 ‚normale‘ Welt anzustreben und möglich ist. Goldsteins Vorstellungen von Heilung gehen in eine ähnliche Richtung, denn mit therapeutischen Maßnahmen verfolgt er in seinem Konzept ein eindeutiges Ziel: Wie auch bei Tillich zu beobachten war, bindet Goldstein seine Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit und Heilung eng an sein Verstehen des Wesens des Organismus. Therapeutisches Heilen bedeutet für Goldstein die Unterstützung eines Organismus bei der Reaktion auf, die Verwirklichung seines Wesens gefährdenden Umstände und Zustände. Sie ist vor allem als Hilfestellung zu verstehen, dem Organismus seine Restrukturierung unter veränderten Bedingungen so zu erleichtern, dass er vor von ihm als katastrophal erlebten Situationen geschützt ist. Von daher ist gerade was die Therapie Hirnverletzter angeht, immer wieder der Versuch zu unternehmen, den Kranken ihre Situation und die daraus resultierenden Einschränkungen so weit es möglich ist zu erklären. Goldstein fasst es so zusammen: ‘Becoming healty demands a transformation of the individual’s personality which enables him to bear restrictions. That is the presupposition to acquiring an adequacy between his remaining capacities an the world, i.e., an ordered state – and thereby the possibility of using the undamaged capacities to such a degree that life remains worth living in spite of restriction. It is our task in therapy to help the patient realize the necessity of restrictions in becoming healthy. (…) A particular part of therapy consits in making the patient understand the problem as much as possible in all of its details. It will help him to take restrictions, particular if he becomes aware that his situation is in principle not so very different from that in which nor214 mal human beings exist’

211 Vgl. Ebd. 212 Ebd., S. 292. 213 Vgl. Ebd. 214 K. Goldstein, Notes on the Developement of my Concept, in: SP, S. 7f.

Die Integration von Geist und Materie im Menschen – Freiheit

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Darin deutet sich für die Arzt-Patient-Beziehung schon an, was Goldstein später noch explizit ausführt: Heilung ist ein gemeinsames Projekt von Arzt und Patient, an dem beide als aktive Partner beteiligt sind. Beiden ist jeweils ihre Rolle zugeteilt, die nur sie im gemeinsamen Prozess der Heilung ausfüllen können: der Arzt bestimmt bei Goldstein zwar durch sein Fachwissen Art und Ablauf der Therapie, aber er muss dem Patienten die Möglichkeit schaffen, das Geschehen – so weit das ihm möglich ist – in seiner Komplexität zu verstehen, damit er in der Lage ist, die Veränderungen, denen er ausgesetzt ist, aktiv mitzugestalten. Für Goldstein ist „therapy (…) a joint enterprise of the physician and the patient, based on an kind 215 of communion between them.“ Tillichs Denken hebt angesichts seines Schemas vom Leben als der Verbindung von essenziellen mit existenziellen Faktoren im Folgenden im Bezug auf Heilung ebenfalls auf grundlegende Verhältnisbestimmungen zwischen dem Kranken und dem Heiler ab, geht hier aber deutlich andere Wege als Goldstein. Er weist zunächst auf eine Strukturdoppelung hin, die aus dem Verstehen der Freiheit resultiert: innerhalb der Anthropologie fallen Psyche und Geist zusammen, ohne dabei identisch zu werden. Der beschriebene Krankheitsbegriff in der Dimension des Psychischen berührt sich eng mit Tillichs Vorstellung der geistigen Dimension, zu der er Moral, Kultur und Religion als Funktionen des Lebens zählen. Moralität, die als die Basis allen geistigen Lebens im Menschen verstanden wird, bedeutet für Tillich „nicht die Unterwerfung unter Gesetze, gleich ob göttliche oder menschliche, sondern die Verwirklichung dessen, was der Mensch poten216 ziell, seiner göttlichen Natur nach, ist.“ Somit wird der Selbstverlust bzw. die Vermeidung von Herausforderungen in der Auseinandersetzung mit der Welt, die in der Dimension der Psyche unter dem Krankheitsbegriff systematisiert werden konnte, in der Dimension des Geistes zum moralischen Problem, in dem die anth217 ropologische Verfasstheit des Menschen selbst zum Thema wird. Diese moralische Wendung findet sich – zwar nicht explizit so benannt – auch bei Goldstein, wenn er zu seinem Begriff der Gesundheit ausführt: ‘Existence means something more than (…) survival. Existence means the realization of the individual, of the individual’s intrinsic nature, the fullfilment of all his 218 capacities in harmony with each other.’

Was bei Goldstein im Unterschied zu Tillich fehlt, ist – wie bereits an verschiedener Stelle beschrieben worden ist – , die Verbindung des Aspekts der Heilung mit dem theologischen Gedanken der Pneumatologie. Zudem scheint mir der Existenzbegriff hier nicht als systematischer Grundbegriff in den Dienst genommen zu 215 Ebd., S. 9. 216 P. Tillich, BG, in: GW IX, S. 293. 217 Vgl. P. Tillich, ST I, S. 288. 218 K. Goldstein, Health as Value, in: Alexander H. Maslow (Hg.), New Knowledge in Human Values, New York 1959, S. 178–188.

242

Naturwissenschaft und Theologie – Kurt Goldstein und Paul Tillich im Dialog 219

sein, so dass kein grundsätzlicher Widerspruch zu Tillich entsteht. Für Tillich, für den der Existenzbegriff nicht im Sinne Goldsteins verwendbar ist, da er den Inbegriff der Entfremdung von der ursprünglichen Struktur beschreibt, kann Heilung nur als Überwindung dieser Entfremdung in der fragmentarisch-zweideutigen-antizipatorischen Wiedervereinigung mit den essenziellen Strukturen im Leben als möglich gedacht werden, indem „der menschliche Geist von etwas ergriffen wird, das ihn aus der Entfremdung von seinem wahren Wesen zur Erfüllung seiner wesentlichen Möglichkeit führt. Diese erlösende und heilende Macht ist der göttliche Geist, der Sinn und der Grund unseres Seins. Die Heilung des menschlichen Geistes durch seine Öffnung für den gött220 lichen Geist ist die Aufgabe der Religion“

Heilung in der Dimension der Religion, die in den Aufgabenbereich des Pfarrers gehört, ist aber nicht eine Funktion innerhalb der Religion, die identisch ist mit 221 dem Versuch der magischen Einflussnahme auf den Patienten. Heilung in dieser Dimension transzendiert letztlich jede konkrete Form der Religionsausübung und ist dort als Geschehen anwesend, wo „der Mensch den Sinn seines Lebens in dem 222 universalen Sinn alles Lebens, in Gott findet.“ Grundlegend fasst Tillich seine Ausführungen zu Gesundheit und Heilung so zusammen: „Die Untersuchung dessen, was Gesundheit in den verschiedenen Dimensionen bedeutet, zeigt: erstens, dass die Dialektik der Lebensprozesse in allen Dimensionen die gleiche ist; zweitens, dass in jeder einzelnen Dimension alle anderen Dimensionen einbegriffen sind; drittens, dass Gesundung entweder die Erfüllung oder die Reduzierung des Lebens bedeuten kann, und viertens, dass völlige Heilung in einer Dimension nicht ohne Heilung in allen anderen Dimensionen möglich ist.“223

So weit das Idealbild, das für Tillich zu einer intensiven Zusammenarbeit zwischen medizinischem und theologischen Fachpersonal führen müsste. Realistischerweise ist ihm aber klar, das in der Praxis des therapeutischen Handelns eher die Abgrenzung zwischen den beiden Fachdomänen dominiert, aufgrund dessen 224 auch zu „ungesunder Gesundheit“ kommt, die in vielen Fällen auch als unproblematisch in Kauf genommen werden muss. Zum Problem wird dieser Umstand in Tillichs Augen erst da, wo Diagnose und Behandlung in einer von den anderen 219 Goldstein benutzt das englische Wort ‚existenc‘ nicht als Übersetzung des deutschen Existenz, sondern für seinen Schlüsselbegriff Wesen. Von daher ist der Begriff in Korrespondenz zur Systematik Tillichs eher im Sinne von Tillichs Essenzbegriff einzuordnen. Vgl. dazu K. Goldstein, Notes on the Development of my Concepts, in: Selcted Papers, S. 7. 220 P. Tillich, BG, S. 293. 221 Zum Verhältnis von Magie, Suggestion und Glaube hat sich Tillich an anderer Stelle ausführlich geäußert: vgl. P. Tillich, RG, in: GW IX, S. 259–266. Vgl. dazu auch: Karin Grau, ‚Healing Power‘ – Ansätze zu einer Theologie der Heilung im Werk Paul Tillichs, Münster 1999, S. 100ff. 222 P. Tillich, BG, in: GW IX, S. 294. 223 Ebd., S. 295. 224 Ebd.

Die Integration von Geist und Materie im Menschen – Freiheit

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abgesonderten Dimension die Gesundheit einer anderen Dimension und damit 225 die des gesamten Organismus gefährdet. Diese Gefahr erfordert die Zusammenarbeit all derer, die mit Fragen der Heilung befasst sind. Heilung gehört in den Aufgabenbereich der Medizin, da sie in jedem Akt der Heilung, an dem sie beteiligt ist, an dem umfassenden Prozess des Heilwerdens in allen Dimensionen teilhat. Und sie gehört für Tillich eben auch zum Aufgabenbereich der Theologie, deren Legitimation und Auftrag sich aus der sich im Leben und Handeln Jesu als des Christus vollziehenden Ineinssetzung von Heilung und Erlösung ableitet: „Wenn man Erlösung als Heilung versteht, besteht kein Konflikt zwischen Medizin und Theologie, sondern eine innige Verbindung. Nur eine Theologie, die diese Verbindung vergessen hat und Erlösung als Erhebung des Menschen an einen himmlischen Ort betrachtet, kann der medizinischen Wissenschaft widersprechen. Und nur eine medizinische Wissenschaft, die die Bedeutung der nicht physiologischen Dimension für die physiologische Dimension leugnet, kann mit der Theologie in Widerspruch geraten.“226

225 Vgl. Ebd. 226 Ebd., S. 296.

Die Methode und das Ganze – Rückblick und Ausblick 1

„Sein verwirklicht sich als Leben und erfüllt sich als Geist“ – Der Spurensuche nach den werk- und zeitgeschichtlichen Wurzeln dieses Satzes, mit dem Tillich den trinitarischen Ansatz seiner Systematischen Theologie zusammenfasst, ist diese Studie gewidmet. Dabei wurde der Schwerpunkt auf die Frage nach den Modalitäten der Verwirklichung des Seins in Strukturen des Lebens gelegt, wie Tillich sie im Austausch mit Kurt Goldsteins aus biologischer Perspektive formulierter Anthropologie entwickelt hat. Lassen sich nun aber Konsequenzen für Kontroversen der Gegenwart aus dieser historischen Analyse ziehen? Denn es ist doch zu konstatieren, dass die Frage nach der Bedeutung der Biologie für die Interpretation des Lebens aus theologisch-geisteswissenschaftlicher Perspektive eine bleibende Aufgabe darstellt, der sich weder die Theologie, will sie weiter den Anspruch erheben, in Fragen des Umgangs mit Leben eine moralisch-hermeneutische Instanz zu sein, noch die Biologie entziehen können. Und so bleibt es doch zu fragen, welche bleibenden Erkenntnisse für aktuelle Fragen aus dem Dialog zwischen Tillich und Goldstein gezogen werden können. Ob es nun darum geht, die Bedeutung der Einschnitte in der embryonalen Entwicklung für die Frage nach der Zulässigkeit der Forschung an embryonalen Stammzellen zu bewerten, oder die Reichweite des Hirntodkriteriums für die Bestimmung des Endes der Integrität von Person und Körper, immer ist der Rekurs auf biologisch-medizinische Erkenntnisse so unerlässlich wie in ihrer Relevanz umstritten. Für alle diese aktuellen Debatten gilt, dass sie es mit Fragestellungen zu tun haben, die für Tillich in seiner Auseinandersetzung mit Goldstein – in zeitgeschichtlich modifizierter Form – von außerordentlicher Relevanz sind. Dabei gilt für Tillich, dass die Theologie „ohne Zweifel (…) nicht auf einer naturwissenschaftlichen Theorie aufgebaut werden [kann; K.B.]. Aber sie muss ihr Verständnis vom Menschen in Beziehung setzen zum Verstehen der Natur überhaupt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur, und in jeder Aussage über den Menschen sind Aussagen über die Natur im ganzen enthalten.“2

Wie er dieses In-Beziehung-Setzen verstanden hat, ist im Rahmen dieser Arbeit deutlich geworden. M.E. kann der Dialog zwischen Tillich und Goldstein den Blick für die Konkretion von Tillichs Projekt einer ‚Apologetischen Theologie‘, die 3 in ein Verhältnis der Korrelation zur Welt tritt, schärfen. Es ist deutlich zu Tage getreten, wie Tillich sich die korrelative Beziehung zwischen Situation und Botschaft vorgestellt hat: zwar ist ihm das Denken der Überlegenheit der Geisteswissenschaften über die verschiedenen Disziplinen der Naturwissenschaften nicht fremd – wie in der Analyse des SdW gezeigt werden konnte – allerdings ist sein 1 2 3

P. Tillich, ST I, S. 288. P. Tillich, ST III, S. 15. Vgl. P. Tillich, ST I, S. 12.

Die Methode und das Ganze – Rückblick und Ausblick

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Zugriff in der Durchführung nicht so sehr vom Konkurrenzdenken geprägt, das im Auswandern anthropologischer Fragestellungen, die ursprünglich in der Theologie beheimatet waren, in die Naturwissenschaften eine grundsätzliche Gefährdung sah. Vielmehr hat eine apologetische Theologie zunächst erst einmal das Bemühen zu zeigen, die aus der Situation erwachsende Frage verstehen zu wollen. Und zwar nicht so, wie ihre eigene Tradition diese Frage stellen und formulieren 4 würde, sondern „mit den begrifflichen Mitteln, die die Situation liefert.“ Der Theologie also zunächst eine deskriptiv-hermeneutische Aufgabe zu: sie hat sich der intensiven Beschreibung und Deutung der Situation zu widmen, von der aus sich für Tillich eine Frage an die theologische Tradition formuliert. Um die auftauchenden Fragen beantworten zu können, müssen sie zunächst – so banal das auch klingen mag, so kompliziert und aufwendig erweist sich in der Regel die Durchführung – identifiziert werden. Zudem ist die Aufgabe einer Übertragung bzw. Übersetzung zu leisten: der Theologie fachfremde ‚Logik‘ und Methodik muss in ihrer Qualität und Stoßrichtung versucht werden, in theologische Diskurse einzutragen. Dass man es dabei mit erheblichen Schwierigkeiten zu tun bekommen kann, hat die Analyse der zeitgenössischen Wissenschaftsgeschichte in den Bereichen der Biologie und Neuropsychologie eindrücklich gezeigt: Sowohl Tillich als auch Goldstein sind aktiv an den erheblichen Umstrukturierungen beteiligt, die ihre Fächer in erheblichem Maße betrafen und reagieren auf die massiven Veränderungen, die mit der Ablösung der wissenschaftlichen Paradigmen des 19. Jh. einhergingen. Beide zeigen das deutliche Bedürfnis, durch den Rekurs auf wissenschaftstheoretische Überlegungen ihre Disziplinen neu zu profilieren. Selbstversicherung unter Rückgriff auf die epistemologischen Grundlagen sowohl der Biologie als auch der Theologie ist für beide das Gebot der Stunde. Dass dieses Bedürfnis nach Absicherung der eigenen Wissenschaftlichkeit sich in diesem Kontext nicht nur auf die sich in der Neuzeit mit latenten Legitimitätsproblemen plagenden Disziplinen Philosophie und Theologie erstreckte, sondern – so jedenfalls die Sicht Goldsteins – auch die Naturwissenschaften erreichte, deutet auf das umfassende Maß des zu verarbeitenden Paradigmenwechsels hin. So bleibt der Theologie zweierlei: gemeinsam mit den Naturwissenschaften hat sie ein ideologiekritisches Moment mit Blick auf die angewandten Methoden zu entwickeln, ihre eigenen genauso wie die ihr jeweils fremden. Das Aushandeln der Zuständigkeitsbereiche in der Anthropologie, wie es sich zu Beginn des 20. Jh. zwischen Philosophie, Theologie, Psychologie, Neurologie, Biologie und Medizin ereignete, hat sich als ein die Entwicklung der Fragestellung dieser Studie bestimmendes Element erwiesen, ohne deren Berücksichtigung die Frage nach den Bezügen von Theologie und Naturwissenschaften im Werk Tillichs offenbar kaum zu beantworten ist. Zudem formieren sich in diesem Zusam4

Ebd., S. 12.

246

Die Methode und das Ganze – Rückblick und Ausblick

menhang einige der anthropologischen Debatten und Frontstellung, die bis heute den interdisziplinären Austausch bestimmen und Konfliktpunkte markieren: zu denken ist etwa an den Versuch einer Verhältnisbestimmung von Psychologie und 5 Seelsorge , die Arzt-Patient-Beziehung oder die Debatte um die Willensfreiheit des Menschen. Es kann in diesem Zusammenhang sicherlich nicht die Rede davon sein, Tillich und Goldstein hätten dabei in den Bereichen, in denen sich ihre Interessen überschnitten, bleibenden Konsens erzielt. Darum ging es beiden auch nicht, vielmehr sahen sie in den sich abzeichnenden Übereinstimmungen der Ergebnisse, die beide auf der Ebene der differenten Beschreibung in ihrer je eigenen wissenschaftlichen Sprache, gewonnen aus ihren je eigenen methodischen Ansätzen, eine Bestätigung des Eigenen. Naturwissenschaft und Theologie treten in der Sicht Tillichs und Goldsteins im Rahmen der Anthropologie nicht in einen Wettkampf um die Wahrheit, der einen Sieger und einen Verlierer braucht. Es hat sich gezeigt, dass sie sich gegenseitig durch den jeweils Anderen in ihnen fachfremd erscheinende Themenkomplexe eingeführt haben, diese dann in den eigenen Ansatz importierten, modifizierten und auf das Eigene hin konkretisierten. Dass beide damit für ihre jeweilige Disziplinen ungewöhnliche Wege gegangen sind, die sie häufig in den Augen der eigenen Fachkollegen diskreditierten, ist in der Darstellung deutlich geworden. Die Tendenz, ihre eigene Disziplin einer grundlegenden, methodisch-systematischen Neustrukturierung zu unterziehen, mag beide Wissenschaftler zumindest zeitweise innerhalb ihres eigenen Fachdiskurses isoliert haben, untereinander mag diese Ablehnung das Empfinden für die Notwendigkeit des eingeschlagenen Weges aber eher bestärkt haben. Dass für Tillich „die Grenze 6 (…) der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis“ darstellt, wird so besonders deutlich. Zweifelsohne provoziert dieser Umstand aber auch eine gewisse Unschärfe, die Tillich durchaus bewusst war, wenn er resümierend schreibt: „Fast auf jedem Gebiet war es mein Schicksal, zwischen zwei Möglichkeiten der Existenz zu stehen, in keiner ganz zu Hause zu sein, gegen keine eine endgültige Entscheidung zu treffen. So fruchtbar diese Haltung für das Denken war und ist, weil Denken Offenheit für neue Möglichkeiten voraussetzt, so schwierig und gefährlich ist sie vom Leben her, das ständig Entscheidungen und damit Ausschließen von Möglichkeiten fordert.“7

Theologie und Naturwissenschaft werden nicht mehr als konkurrierende Weisen verstanden, sich der Wirklichkeit zu nähern. Die einander diametral gegenüberstehenden Alternativen Vernunft versus Glaube, Schöpfung versus Evolution, freier Wille ja oder nein, die gern als Chiffren für die Unvereinbarkeit von objektiver Naturwissenschaft und Aussagen der biblischen Schriften interpretierenden theologischen Aussagen genannt werden, lösen sich für Tillich und Goldstein auf. Me5 6 7

Auch dazu hat Tillich sich geäußert: Vgl. P. Tillich, Der Einfluß der Psychotherapie auf die Theologie, in: GW VIII, S. 325–335. P. Tillich, Auf der Grenze, München u.a. 1987, S. 13. Ebd.

Die Methode und das Ganze – Rückblick und Ausblick

247

thodenpluralismus und konvergierende Erklärungsmodelle des Lebens und des Menschen bezeugen nicht den Bedeutungsverlust sondern befreien die theologische Arbeit aus falschen Alternativen. Ein weiteres wesentliches Ergebnis sehe ich darin, dass Tillichs theologische Bezugnahme auf die Naturwissenschaften primär in Fragen der Anthropologie ansetzt. Wie bei Goldstein auch münden seine Überlegungen in einem transmoralischen Freiheitsbegriff, der um die Integration von Geist und Materie bemüht ist. Die klaren Fronten in der Auseinandersetzung um die Natürliche Theologie verschieben sich so im Ansatz Tillichs deutlich. Interessanterweise ist Tillich auch schon in seinem frühen Ansatz, der in dieser Arbeit u.a. durch das SdW repräsentiert ist – als ein Theologe zu verstehen, dem die Gegenwartsdeutung, wie sie sich in anderen Wissenschaften vollzieht, zum Ausgangspunkt und Prüfstein für seine ontologischen Überlegungen wird. Für die Psychologie hat Tillich das so zusammengefasst: „Alle Heilung ist bruchstückhaft und vorläufig. Darum sind jeweils besondere Heiler notwendig. Allen anderen Fragen voran steht jedoch die nach der Partizipation des ganzen Seins am unzweideutigen und ewigen Leben. Die Psychotherapie hat diese Frage nicht beseitigen können; aber sie hat sie zu all den anderen Nöten der menschlichen Existenz in Beziehung gesetzt. Das ist eines ihrer Geschenke an die Theologie.“8

In diesem Zitat kann man m.E. eine späte Auslegung des Ausgangspunktes der Wissenschaftstheorie Tillichs sehen, der im SdW mit dem Satz von der notwendigen Einheit aller Wissenschaft basierend auf der Einheit der Wirklichkeit einsetzte, der die Teilhabe Tillichs am idealistischen Erbe wie kein anderer repräsentiert. Dass Tillich diesen Satz nicht als unhinterfragbare, normative Setzung verstand, sondern ihn im Laufe der Entwicklung seines Denkens bis ins Detail in Auseinandersetzung mit den Wissenschaften auf seine Stichhaltigkeit hin in allen seinen Konsequenzen auszutesten unternahm, ist eines der wesentlichen Ergebnisse dieser Arbeit. Das sich darin zeigende Projekt des Versuchs einer Synthese von idealistischem Denken mit den Anforderungen der modernen wissenschaftlichen Entwicklung ist m.E. ein wesentlicher Zug des Denkens Tillichs, so dass der Dialog mit Goldstein nicht als eine randständige, den persönlichen Sympathien geschuldete Erscheinung in der Entwicklung Tillichs verstanden werden kann. Hier zeigt sich exemplarisch, was die Theologie Tillichs im Kern zusammenhält – nicht erschöpfend in allen ihren Ausprägungen, aber doch in deutlichen Grundzügen. Mit dem Blick auf den Dialog zwischen Tillich und Goldstein muss man folglich konstatieren, dass er nicht nur in methodischer Hinsicht eine Vertiefung nach sich zieht, sondern – gemäß der Einsicht, dass Methode und Ontologie nicht strikt von einander zu trennen sind – auch materialiter theologische Neuinterpretation und Neujustierung wie sie in Tillichs Anthropologie vorliegt, provoziert. 8

P. Tillich, Der Einfluß der Psychotherapie auf die Theologie, in: GW VIII, S. 335.

248

Die Methode und das Ganze – Rückblick und Ausblick

Dieser Ansatz entbehrt dann auch nicht der Aktualität, die vor allem darin liegt, die Frage nach dem Modus der Beziehung von Naturwissenschaften und Theologie als eine Frage der ausdrücklich theologisch-ethischen Methodik aufzufassen. Sich konstruktiv darauf eingelassen zu haben, dass der naturwissenschaftliche Blick auf Mensch und Welt die interpretativen Rahmenbedingungen, in denen auch theologische Deutungsstrategien entworfen werden müssen, langfristig und unwiderruflich verändert hat, ist eines der wichtigsten und langfristig wirksamsten Verdienste Tillichs. Interessanterweise ist es gerade der intensive theologische Zugriff auf die Frage nach der Interpretation des Lebens, der Tillich in die konstruktive Auseinandersetzung mit der Biologie und der Medizin führt. Entgegen der Erwartung hat diese Hinwendung aber nicht zur Suspendierung der theologischen Argumentation geführt. Dass Tillich die Anthropologie im Zentrum seines trinitarischtheologischen Aufbaus angesiedelt hat, und dass dieses Zentrum mit Hilfe und in Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlich-medizinischen Erkenntnissen zu strukturieren ist, ist ein erstaunliches Ergebnis dieser Arbeit, denn es formuliert auch einen Arbeitsauftrag für die Zukunft. So zeitgebunden und damit auch fremd der synthetische Ansatz Tillichs mit seiner Orientierung an wissenschaftstheoretischen Paradigmen des 19. Jh. im Einzelnen heute auch erscheinen mag, so hat er doch im Bereich der Hermeneutik und Deskription Maßstäbe gesetzt, die im Rahmen aktueller ethischer Diskussionen erst einmal erreicht werden müssen. Dass er dabei mit Kurt Goldstein auf einen Partner traf, der durch seine Ausbildung und familiäre Prägung den wissenschaftstheoretischen Defiziten seiner eigenen Disziplin mit philosophischer Sachkenntnis begegnete, kann man nur als einen Glücksfall bezeichnen, da die Kenntnisnahme des jeweils anderen Ansatzes auf Voraussetzungen beruhte, die beide nicht erst in ihrem Dialog herstellen mussten, weil sie auf Interessen und Vorbildung beruhen, die sie lange vor ihrer ersten Begegnung ausbildeten. Offensichtlich braucht es für einen Dialog, der das gegenseitige Verständnis zum Wohle der Sache stärkt und nicht nur Vorurteile bestätigt und verfestigt beides: einerseits das leidenschaftliche Selbstbewusstsein, dass die eigene Disziplin eine legitime Frage zur Gegenwarts- und Weltdeutung aufwirft und auch über angemessene Mittel verfügt, sich einer Antwort zu nähern. Anderseits braucht es aber auch eine reflektierte Distanz, die um die Defizite und Grenzen der eigenen Disziplin weiß und diese als Auftrag begreift, statt sie als Defekt leugnen und zu verheimlichen. Eine Haltung, die Leidenschaft und Distanz im rechten Verhältnis hält, scheinen mir für einen gelungener Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie eine der wichtigsten Voraussetzungen zu sein. Auch was die Arbeiten Goldsteins angeht, so ist für medizinethische Debatten, die den Stellenwert medizinisch-biologischer Erkenntnisse für die ethische Urteilsbildung zum Thema haben, eine bleibende Bedeutung zu konstatieren. Das betrifft v.a. die in Goldsteins Ansatz sichtbare hohe Sensibilität gegenüber der Frage nach der Aussagekraft eines naturwissenschaftlichen Experiments und seines Bezuges auf die Gesamtheit eines Organismus, seine Überlegungen zur Arzt-Patient-Beziehung sowie seine

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Überlegungen zum symbolischen Charakter naturwissenschaftlicher Begriffs- und Modellbildung. Zwar dürfte der offensive Bezug auf philosophische Ansätze, wie er im Rahmen dieser Studie vorgestellt wurde, innerhalb der aktuellen Diskussion – wie Goldstein es schon im amerikanischen Exil selbst erfahren musste – durchfallen, allerdings zeigen Goldsteins eigene praktische Anwendungen seiner Methode, dass ihn dieser Rückbezug offensichtlich nicht in romantische Verklärung und Indifferenz, sondern vielmehr in die verstärkte methodische Reflexion über gängige Versuchsaufbauten geführt hat. Sein Insistieren auf der Implantation der Freiheit als der zentralen Kategorie der Biologie des Menschen dürfte ein weiterer Punkt sein, an dem sich weitergehende Auseinandersetzungen entzünden können. Tillich hat im Laufe der Entwicklung seines Denkens immer wieder darauf hingewiesen, dass eine veränderte Sicht auf den Menschen in seiner Verfasstheit immer auch Auswirkungen auf die Formulierung des Gottesgedankens und dem Verstehen aller sich daran anschließender religiöser Symbole haben muss. So wird der Gedanke des Heils des Menschen und seiner Erlösung in eine enge Beziehung zum Bemühen der Medizin um Gesundheit und Heilung gesetzt. Und so bleibt für Heil und Heilung das zu konstatieren, was Tillich schon für den Mut konstatiert 9 hatte: Sie sind „Gnade – das ist ein Ergebnis und eine Frage.“

9

Ebd.

Literaturverzeichnis 1. Texte von Paul Tillich Die Texte von Paul Tillich, auf die in dieser Arbeit verwiesen wird, sind – werden sie mehr als einmal zitiert – stets mit einem Kürzel versehen, worauf – sind sie in den Gesammelten Werken, den Ergänzungsbänden oder den Hautwerken/Main Works herausgegeben worden – durch ein Komma abgetrennt das jeweilige Kürzel dieser Werkausgaben und die Seitenzahl folgt, zum Beispiel: Tillich, SdW in: GW I, S. 206. Beide – sowohl die Kürzel der Einzeltexte als auch die der Werkausgaben – sind der unten stehenden Liste zu entnehmen.

2. Werkausgaben Paul Tillichs Gesammelte Werke, Hg. Renate Albrecht, 14 Bde., Stuttgart 1959ff. Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, bisher 16 Bände, Stuttgart, dann Berlin u.a. 1971ff. Main Works/Hauptwerke, Hg. Carl Heinz Ratschow, 6 Bde., Berlin u.a. 1987ff.

1.1

Außerhalb der Werkausgaben erschienene Werke Paul Tillichs

Systematische Theologie I–III, Frankfurt/Main8, unveränd. photomechan. Nachdr. 1987. Religiöse Reden, Nachdr. von ‚In der Tiefe ist Wahrheit‘ (9. Aufl. 1985), ‚Das Neue Sein‘ (6. Aufl. 1983), ‚Das Ewige im Jetzt‘ (4. Aufl. 1986), Berlin u.a. 1987. A History of Christian Thought, Ed. Carl E. Braaten, New York 1968. Dogmatik. Marburger Vorlesungen von 1925, Werner Schüßler (Hg.), Düsseldorf 1986. Rez.: Kurt Goldstein, Der Aufbau des Organismus, in: Zeitschrift für Sozialforschung, V. Jg., Paris 1936, S. 111–113.

1.2

Kürzel

E

‚Ergänzungsbände zu den gesammelten Werken‘.

BG

‚Die Bedeutung der Gesundheit‘, in: GW IX, S. 287–296.

GW ,Gesammelte Werke‘. ITK ‚Über die Idee einer Theologie der Kultur‘, in: GW IX, S. 13–31. MDV ‚Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927)‘, in: E VIX. MzS ,Der Mut zum Sein‘, in: GW XI, S. 11–139. RG

‚Die Beziehung zwischen Religion und Gesundheit‘, in: GW IX, S. 246–286.

RLG ‚Die religiöse Lage der Gegenwart‘, in: GW X, S. 9–93. RP

‚Religionsphilosophie‘, in: GW I, S. 295–364.

SdW ‚Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden‘, in: GW I, S. 109–293. ÜRR ‚Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie‘ in: GW I, S. 365–388.

Werke Kurt Goldsteins

251

3. Werke Kurt Goldsteins Über Rassenhygiene, Berlin 1913. Über die Behandlung der ‚monosymptomatischen‘ Hysterie bei Soldaten, Neurologisches Centralblatt, 35 (1916) Leipzig, S. 842–852. Die Behandlung, Fürsorge und Begutachtung der Hirnverletzen. Zugleich ein Beitrag zur Verwendung psychologischer Methoden in der Klinik, Leipzig 1919. Über die Rentenversorgung bei Folgen von Hirnverletzungen, in: C. Adam (Hg.) Dienstbeschädigungen und Rentenversorgung, Jena 1919, S. 93–120. Mit Adhémar Gelb, Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle auf Grund der Untersuchung Hirnverletzter, Leipzig 1920. Das Symptom, seine Entstehung und Bedeutung für unsere Auffassung vom Bau und von der Funktion des Nervensystems, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 76/1 (1925) Berlin, S. 84–108. Das psycho-physische Problem in seiner Bedeutung für ärztliches Handeln, in: Therapie der Gegenwart, Bd. 1 (1931) Berlin, S. 1–11. Die ganzheitliche Betrachtung in der Medizin, in: Theodor Brugsch (Hg.) Einheitsbestrebungen in der Medizin. Kongreß zur Förderung medizinischer Synthese und ärztlicher Weltanschauung. Verhandlungsbericht der zweiten zwischenstaatlichen Tagung in Marienbad 14.–17. September 1932, Dresden u.a. 1933, S. 143–158. Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderen Berücksichtigung der Erfahrung am kranken Menschen, Den Haag 1934. Bemerkungen über die Bedeutung der Biologie für die Soziologie anlässlich des Autoritätsproblems, in: Max Horckheimer (Hg.), Studien über Autorität und Familie, Paris 1936, S. 656–668. Human Nature in the Light of Psychopathology, Cambridge 1947. Health as Value, in: Alexander H. Maslow (Hg.), New Knowledge in Human Values, New York 1959, S. 78–188. Selected Papers/Ausgewählte Schriften, Den Haag 1971. The Organism. A Holistic Approach to Biology. Derived from Pathological Data in Man, Oliver Sacks (Hg.), New York 2000.

2.1

Kürzel

AO

‚Der Aufbau des Organismus‘

BFB ‚Die Behandlung, Fürsorge und Begutachtung der Hirnverletzten‘ HN ‚Human Nature in the Light of Psychopathology‘ PA

‚Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle auf Grund von Untersuchungen Hirnverletzter‘

PPP ‚Das Psycho-physische Problem in seiner Bedeutung für ärztliches Handeln‘ RFH ‚Über die Rentenversorgung bei Folgen von Hirnverletzungen‘ SP

‚Selected Papers/Ausgewählte Schriften‘

4. Sonstige verwendete Kürzel HA

‚Hamburger Ausgabe‘ Johann Wolfgang von Goethe

252

Literaturverzeichnis

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GS

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Personenregister Aristoteles 25, 31, 40, 42, 231 Barth, K. 15, 19, 22, 71, 97, 102–103 Böhme, J. 21, 51 Bohr, N. 178 Bollnow, O. 8 Branger, E. 10 Brugsch, Th. 128–130 Bruno, G. 29 Cassirer, E. 8–10, 14, 117, 119, 128, 134, 141–142, 147–153, 177–178, 182, 191, 195, 212, 216–219 Cassirer, R. 119 Cornelius, H. 17 Cusanus, N. 29, 61 Dell, A. 18–20, 23 Dilthey, W. 58, 63–67 Edinger, L. 121, 123, 127, 146–147 Einstein, A. 9–10, 148, 178, 182 Fechner, G. Th. 168 Fichte, J. G. 9, 29–32 Fischer, K. 71, 120 Frege, G. 103 Freud, S. 132, 171–173, 188, 193, 195 Fritsch, G. 168 Fromm-Reichmann, F. 128 Fuchs, S. 128, 132, 147, 173 Gelb, A. 10, 11, 126–127, 152, 216 Goethe, J. W. von 8, 14, 18, 33, 86–89, 94, 116–118, 121, 134, 141–148, 151– 152, 179, 181 Goldstein, A. 119 Göring, H. 131 Göring, M. 131 Grisebach, E. 10 Gruhle, H. 128 Gurwitsch, A. 128 Happel, C. 128

Hegel, F. 21–22, 25, 29–32, 38–39, 61, 86, 108, 186 Heidegger, M. 8, 10, 63, 192–193 Helmholz, H. 40 Herbart, J. F. 40, 168 Herriegel, E. 72 Hirsch, E. 21–24, 71 Hitzig, E. 168 Hoche, A. 121 Horckheimer, M. 119, 128 Humboldt, W. 148, 212, 216–219 Husserl, E. 27, 41, 48, 102–103, 132, 148, 177, 198 Kant, I. 10, 14, 21, 30, 33–34, 38–40, 42–43, 64, 72, 87, 117, 121, 134–142, 148, 150, 167, 177–178, 217, 231 Kierkegaard, S. 39, 193, 195 Klemperer, G. 129 Koffka, K. 128–129 Köhler, W. 88, 128–129 Kopernikus 134 Kraepelin, E. 121–122 Kuhlmann, G. 10 Landauer, K. 128 Lange, F. A. 41–42 Lask, E. 58, 71–75, 78, 102, 105 Leese, K. 20–21, 23–24, 34, 47 Lesley, K. 133 Lévy-Bruhl, L. 9–10 Lewin, K. 129 Liebert, A. 10 Liebig, J. 40 Litt, Th. 10 Lotze, H. 40, 73 Medicus, F. 9–10 Meynert, Th. 168 Monakow, C. v. 92, 170 Murphy, G. 117–118 Natorp, P. 42, 147, 149 Newton, I. 144, 167

Personenregister

Nietzsche, F. 15, 21, 39, 53–55, 57, 60, 85, 142, 186 Oppenheim, H. 121, 128 Oppenheimer, F. 10 Perls, F. 128 Piaget, J. 10 Przywara, E. 10 Radbruch, G. 10 Reinhold, C. L. 29–30, 32 Rickert, H. 58, 71, 75–76, 83, 91, 103– 105 Riese, W. 127–128 Rokitansky, C. v. 122 Rothmann, E. 131 Salomon, G. 9–10 Schaper, A. 120

265

Scheerer, M. 133 Schelling, F. 15, 21, 30–32, 88 Schiller, F. 88–89, 94 Schleiermacher, F. 15, 32 Schmitt, C. 10 Schneider, Patient 126, 152, 176 Simmel, M. 115, 117, 119, 128 Skoda, J. 122 Spinoza, B. d. 142–143 Stumpf, C. 126 Uexküll, J. v. 165, 167 Weber, E. 168 Wernicke, C. 120–121, 127, 129, 168– 169 Wertheimer, M. 17, 41, 88, 127–129, 190 Windelband, W. 42, 65, 67 Wundt, W. 40–41, 168