Die Psychologie Christian Wolffs: systematische und historische Untersuchungen

Die Psychologie nimmt im Werk Christian Wolffs (1679-1754) eine zentrale Stellung ein. Sie begründet die Logik und die p

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Die Psychologie Christian Wolffs: systematische und historische Untersuchungen

Table of contents :
Vorwort
Einleitung: Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen
Bewußtsein – Seele – Geist. Untersuchungen zur Transformation des Cartesischen „Cogito“ in der Psychologie Christian Wolffs
In welchem Sinne ist die Wolffsche Psychologie als Fundament zu verstehen? Zum vermeintlichen Zirkel zwischen Psychologie und Logik
Où commence la «Métaphysique allemande» de Christian Wolff?
Wolff est-il «le vrai inventeur de la psychologie rationnelle»? L’expérience, l’existence actuelle et la rationalité dans le projet wolffien de psychologie
Ontologie et Psychologie dans la pensée de Christian Wolff: la raison de l’actualisation
Erfahrung, Habitus und Freiheit. Christian Wolffs Neubestimmung des Habitusbegriffs in der rationalistischen Tradition
Christian Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen Psychologie und Moralphilosophie
Die Lehre von der moralischen Verbindlichkeit bei Christian Wolff und ihre Kritik durch Immanuel Kant
Sinnlichkeit als Erkenntnisvermögen. Zum Begriff des Vernunftähnlichen in der Psychologie Christian Wolffs
„Partes Metaphysicae sunt duae: Deus & Mentes.“ Anmerkungen zur Entstehung und Entwicklung der Psychologie als Metaphysica specialis zwischen Rudolph Goclenius und Christian Wolff
Die Wolffsche Psychometrie
Die Psychologie Christian Wolffs und die scholastische Tradition
Personenregister

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Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Die Psychologie Christian Wolffs Systematische und historische Untersuchungen

Herausgegeben von Oliver-Pierre Rudolph und Jean-François Goubet

Max Niemeyer Verlag Tübingen

Wissenschaftlicher Beirat: Karol Bai, Manfred Beetz, Jörn Garber, Notker Hammerstein, Hans-Hermann Hartwich, Andreas Kleinert, Gabriela Lehmann-Carli, Klaus Luig, François Moureau, Monika Neugebauer-Wölk, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Richard Saage, Gerhard Sauder, Jochen Schlobach ( t ) , Heiner Schnelling, Jürgen Stolzenberg, U d o Sträter, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Redaktion: W i l h e l m Haefs Satz: Kornelia Grün

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über h t t p : / / d n b . d d b . d e abrufbar. ISBN 3-484-81022-X

ISSN 0948-6070

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Druck: Guide-Druck, Tübingen Einband: Geiger, Ammerbuch

Vorwort

Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse eines vom „Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung" (IZEA) der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg und dem „Centre d'Etudes en Rhétorique, Philosophie et Histoire des Idées, de l'Humanisme aux Lumières" (CERPHI) der Ecole Normale Supérieure Lettres / Sciences Humaines (Lyon) veranstalteten deutsch-französischen Christian-Wolff-Workshops, der unter dem Titel „Die Psychologie Christian Wolffs. Systematischer Ort, Konstitution und Wirkungsgeschichte" vom 26. bis 28. April 2002 in den Räumen des IZEA in Halle an der Saale stattfand. Der Workshop stand unter der wissenschaftlichen Betreuung von Herrn Prof. Dr. Jürgen Stolzenberg (Halle) und Herrn Prof. Dr. Pierre-François Moreau (Lyon). Er wurde von den beiden Herausgebern dieses Bandes organisiert und durchgeführt. Ziel des Workshops war es, die besondere systematische und historische Bedeutung der Psychologie Christian Wolffs herauszuarbeiten. Den systematischen Schwerpunkt bildeten die Stellung der Psychologie innerhalb des Wolffschen Systems der Philosophie und ihre Bedeutung für die Fundierung einzelner Systemteile wie des Systems überhaupt. Hier lag das Hauptaugenmerk auf dem Verhältnis der Psychologie zu Logik, Ontologie und praktischer Philosophie, sowie der empirischen zur rationalen Psychologie. Damit waren als wichtigste Themen das Verhältnis zwischen Normativität und Deskription einerseits, zwischen Erfahrung und Vernunft andererseits zu verhandeln. Unter historischem Gesichtspunkt galt es, das Verhältnis Wolffs zu neuzeitlichen Denkern wie Descartes, Spinoza, Leibniz und Locke neu zu bestimmen, ferner das bislang zu wenig beachtete Verhältnis Wolffs zur scholastischen Philosophie zu untersuchen, sowie die besondere Stellung Wolffs innerhalb der Geschichte der Psychologie herauszuarbeiten. Die Teilnehmer des Workshops waren deutsche und französische Nachwuchswissenschaftler, die teils Mitglieder der „Groupe de Recherche sur la Philosophie allemande du 18e siècle" des CERPHI Lyon, teils ehemalige Mitglieder einer von Frau Prof. Dr. Barbara Bauer (Marburg, jetzt Bern) geleiteten Wolff-Arbeitsgruppe sind. Der Workshop führte die beiden Einzelgruppen erstmals zusammen, dies auch im Blick auf den aus Anlaß des 250. Todestages für April 2004 geplanten 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongreß zum Thema „Christian Wolff und die Europäische Aufklärung". Eine Fortsetzung der gemeinsamen Arbeit ist vorgesehen. So ist für das Jahr 2005 ein Workshop zu Wolffs Discursus Praeliminaris in Vorbereitung.

VI Der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Ecole Normale Supérieure Lettres / Sciences Humaines (Lyon) möchten wir sehr herzlich für Ihre großzügige Unterstützung des Workshops danken. Unser herzlicher Dank gilt feiner dem Direktorium des IZEA für Aufnahme des Bandes in die Reihe der „Halleschen Beiträge zur Europäischen Aufklärung". Herrn Dr. Wilhelm Haefs und Frau Kornelia Grün möchten wir sehr herzlich für ihre Hilfe bei der Redaktion des Bandes und seiner satztechnischen Einrichtung danken.

Halle (Saale), im März 2003 Jean-François Goubet Pierre-François Moreau Oliver-Pierre Rudolph Jürgen Stolzenberg

Inhalt

Vorwort

V

OLIVER-PIERRE RUDOLPH / JEAN-FRANÇOIS GOUBET:

Einleitung: Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen

1

W E R N E R EULER:

Bewußtsein - Seele - Geist. Untersuchungen zur Transformation des Cartesischen „Cogito" in der Psychologie Christian Wolffs

11

JEAN-FRANÇOIS GOUBET:

In welchem Sinne ist die Wölfische Psychologie als Fundament zu verstehen? Zum vermeintlichen Zirkel zwischen Psychologie und Logik

51

THIERRY ARNAUD:

Où commence la « Métaphysique allemande » de Christian Wolff ?

61

JEAN-PAUL PACCIONI:

Wolff est-il « le vrai inventeur de la psychologie rationnelle » ? L'expérience, l'existence actuelle et la rationalité dans le projet wolffien de psychologie

75

ANNE-LISE REY:

Ontologie et Psychologie dans la pensée de Christian Wolff : la raison de l'actualisation

99

JEONGWOO PARK:

Erfahrung, Habitus und Freiheit. Christian Wolffs Neubestimmung des Habitusbegriffs in der rationalistischen Tradition . . . .

119

DIETER HÜNING:

Christian Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen Psychologie und Moralphilosophie

143

Vili ANDREAS THOMAS:

Die Lehre von der moralischen Verbindlichkeit bei Christian Wolff und ihre Kritik durch Immanuel Kant

169

STEFANIE BUCHENAU:

Sinnlichkeit als Erkenntnisvermögen. Zum Begriff des Vernunftähnlichen in der Psychologie Christian Wolffs

191

GIDEON STIENING:

„Partes Metaphysicae sunt duae: Deus & Mentes." Anmerkungen zur Entstehung und Entwicklung der Psychologie als Metaphysica specialis zwischen Rudolph Goclenius und Christian Wolff

207

W O L F FEUERHAHN:

Die Wolffsche Psychometrie

227

OLIVER-PIERRE RUDOLPH:

Die Psychologie Christian Wolffs und die scholastische Tradition

237

Personenregister

249

OLIVER-PIERRE RUDOLPH ( H a l l e ) / JEAN-FRANÇOIS GOUBET ( L y o n )

Einleitung: Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen Angeregt durch die von Jean Ecole initiierte Neuausgabe der Werke Christian Wolffs hat die Wolff-Forschung in den letzten Jahrzehnten einen bemerkenswerten Aufschwung erfahren. 1 Hierzu haben auch die grundlegenden Forschungen Jean Ecoles zur Philosophie Christian Wolffs maßgeblich beigetragen. Dennoch herrscht in bezug auf viele zentrale Aspekte der Philosophie Christian Wolffs nach wie vor große Unklarheit. Dies gilt besonders für die theoretische Philosophie, betrifft aber indirekt auch die praktische Philosophie, da Wolff diese in direkter Bezugnahme auf jene zu begründen versucht. Der Psychologie Wolffs kommt in diesem Zusammenhang in dreierlei Hinsicht eine herausragende Bedeutung zu: erstens bezüglich der Fundierung nachfolgender Disziplinen, zweitens bezüglich des systematischen Verhältnisses ihrer eigenen Teile zueinander und drittens bezüglich ihrer Bedeutung für die Fundierung des Wolffschen Systems der Metaphysik. Der erste Aspekt wurde bereits von Wolff selbst namhaft gemacht. Im Discursus praeliminaris versucht Wolff, die besondere Bedeutung der Psychologie herauszustellen. 2 Wolffs Auffassung zufolge kommt der Psychologie ein besonderes Gewicht bei der Fundierung der praktischen Philosophie zu. Eine systematische Beschäftigung mit Wolffs praktischer Philosophie impliziert daher eine vorgängige Untersuchung ihrer psychologischen Grundlagen. Die genaue Kenntnis der innerhalb der praktischen Philosophie von Wolff gebrauchten psychologischen Prämissen stellt daher ein dringendes Desiderat der Wolff-Forschung dar. Der zweite Aspekt des systematischen Ortes der Psychologie innerhalb des Wolffschen Systems wird thematisch, wenn man der Frage nachgeht, wie es psychologisintern um die Absicherung derjenigen Lehrsätze Wolffs bestellt sei, die von

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Gerhard Biller hat daraufhingewiesen, daß etwa 60% der in seiner bis 1986 reichenden Bibliographie seit 1960 erschienen sind, lediglich 40% in den 160 Jahren davor. Vgl. Biller, Gerhard, Bibliographie der Wolff-Literatur, in: Schneiders, Werner (Hg.), Christian Wolff ¡679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der Wolff-Literatur. Hamburg 2 1986 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 4), S. 321 346, hierS. 321. Wolff, Christian, Discursus praeliminaris in genere = Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Lothar Kreimendahl u. Günter Gawlick. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung [FMDA] I, 1), § 92, S. 99ff.

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Goubet

ihm als grundlegend angesehen wurden. In diesem Zusammenhang muß Wolffs Unterscheidung zwischen empirischer und rationaler Psychologie in den Blick genommen werden. Der Umstand nämlich, daß die Begründung der Moralphilosophie von gewissen psychologischen Grundlagen abhängt, hat Wolff zu der wissenschaftsgeschichtlich äußerst bedeutsamen Trennung von empirischer und rationaler Psychologie bewogen. 3 Um nämlich die für die Fundierung der praktischen Philosophie nötigen Lehrsätze einer Kritik von vornherein so weit wie möglich zu entziehen, separierte Wolff den empirischen vom rationalen Teil der Psychologie. Während er in der Psychologia empirica anstrebte, die für andere Disziplinen bedeutsamen psychologischen Grundlagen ohne Rückgriff auf streitbare metaphysische Hypothesen und auf der Basis von intersubjektiv nachvollziehbaren Selbstbeobachtungen zu entwickeln, versuchte er die dabei offen gebliebenen, traditionell aber im Rahmen der Psychologie zu behandelnden Probleme in der Psychologia rationalis zu lösen, wobei er sich in der Tat genötigt sah, auf strittige Hypothesen wie z.B. das Leibnizsche System der prästabilierten Harmonie zurückzugreifen. Das Verhältnis der beiden Teile der Psychologie ist indessen keineswegs so einfach, wie es den Werktiteln nach scheinen mag. Wolffs Trennung der Psychologie in einen empirischen und einen rationalen Teil wirft für den Interpreten viele bislang noch nicht hinreichend geklärte Fragen auf. Denn weder im modernen, noch im Wolffschen Verständnis der Begriffe, noch nach Wolffs eigenem Urteil beschränkt sich die empirische Disziplin auf aposteriorische Erfahrungserkenntnis und die rationale auf apriorische reine Verstandeserkenntnis. Hier gilt es, das Wolffsche Connubium rationis et experientiae genauer zu untersuchen. Der dritte Aspekt der fraglichen Abhängigkeitsbeziehungen ist von noch weitreichenderer Bedeutung für das Wolffsche System. Hierbei geht es um das Verhältnis der Psychologie zur Logik, Ontologie und Kosmologie, und - wie sich zeigen wird um die Bedeutung der Psychologie für die Grundlegung des Wolffschen Systems überhaupt. Es ist wiederum ein Kommentar Wolffs selbst, der den Verdacht aufkommen läßt, daß innerhalb der theoretischen Philosophie als erstem Systemteil ein Zirkel in der wechselseitigen Begründung zentraler Disziplinen vorliegt. Wolff versucht im Discursus zu rechtfertigen, daß er an erster Stelle seines Systems die Logik abhandelt, obwohl sie seiner eigenen Meinung nach von Teilen der Metaphysik, genauer: der Ontologie und der Psychologie, abhängig ist.4 Es sei, so Wolff, aus didaktischen Gründen notwendig, die Logik voranzustellen, da eine Beherrschung der in ihr entwickelten methodischen Grundlagen Voraussetzung für ein erfolgreiches Studium der Philosophie sei. Wolff greift in seiner Logik tatsäch-

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Wolff wurde als Verfasser der Psychologia empirica bekanntlich zum Wegbereiter der naturwissenschaftlichen Psychologie. Wolff, Discursus praeliminaris, (wie Anm. 2), § 91, S. 99.

Einleitung

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lieh in einigen Punkten der Psychologie vor, und zwar so, daß er mit Verweis auf eine spätere ausfuhrliche Behandlung am entsprechenden systematischen Ort - d.h. innerhalb der Psychologie - wichtige Begriffe und Ordnungsschemata vorgreifend einfuhrt. Hier gilt es zu prüfen, ob die Vorgriffe innerhalb der Logik ohne Rekurs auf die spätere Behandlung innerhalb der Psychologie in ihrer knappen Form zum jeweiligen Zwecke hinreichen, so daß das Wolffsche System in der gegebenen Reihenfolge der Begründungsgänge nachvollziehbar wäre, oder, ob ein für Wolff fataler Zirkel derart bestehe, daß die Behandlung der systematisch früheren Disziplin der Psychologie die Gültigkeit der erst mithilfe der Psychologie zu begründenden Grundsätze der Logik schon voraussetzte. Um die Wolffsche Psychologie hinsichtlich ihrer besonderen systematischen Bedeutung, ihrer Ansprüche und ihrer internen Verfaßtheit hinreichend sicher zu bestimmen, ist die Kenntnis ihres philosophiehistorischen Ortes unumgänglich. Erst eine Kenntnis der bei der Genese der Wolffschen Psychologie entscheidenden Einflußfaktoren und der Diskussionslagen, vor deren Hintergrund Wolff sein philosophisches System entwickelte, kann vor Fehlinterpretationen bewahren. Die Kenntnis der frühen Rezeption erlaubt es, die im historischen Abstand entwickelten Interpretationen zu bewähren oder zu korrigieren. Durch die wirkungsgeschichtliche Betrachtungsweise sollte nicht zuletzt auch deutlich werden, worin die besondere philosophie- und wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung Wolffs auf dem Gebiet der Psychologie zu sehen ist. So ist es ein systematisches Interesse, das dazu führt, die Wolffsche Psychologie in ihrem historischen Kontext zu betrachten. Damit sind die drei Bereiche markiert, mit denen sich der vorliegende Band zu beschäftigen hat: 1. der systematische Gehalt der beiden Teile der Psychologie und ihr systematischer Ort innerhalb der theoretischen Philosophie Wolffs, 2. der Bezug der Wolffschen Psychologie zur praktischen Philosophie und 3. der historische Kontext der Psychologie Wolffs. Der Sache nach können die Beiträge sich nicht ausschließlich je einem dieser Bereiche widmen. So ist z.B. der historische Kontext von allen Autoren zu berücksichtigen gewesen. Die im folgenden vorgenommene Zuordnung zu einem Bereich kann also nur auf einen entsprechenden Schwerpunkt des jeweiligen Beitrages hindeuten. Es wird daher auch auf eine explizite Gliederung des Bandes in einzelne Teile verzichtet. Im genannten Sinne beschäftigen sich die ersten fünf Beiträge mit der Psychologie als Teil der theoretischen Philosophie Wolffs und die folgenden drei Beiträge mit dem Bezug der Wolffschen Psychologie zur praktischen Philosophie, während bei den letzten vier Beiträgen der historische Aspekt dominiert. Den Band eröffnet ein Beitrag von Werner Euler zum Themenkomplex „Bewußtsein - Seele - Geist". In seinen „Untersuchungen zur Transformation des Cartesischen ,Cogito' in der Psychologie Christian Wolffs" - so der Untertitel des Beitra-

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ges - versucht Euler auf der Basis einer ausführlichen Analyse der einschlägigen Kapitel 1, 3 und 5 der Deutschen Metaphysik die besonderen Verdienste Wolffs auf dem Gebiete der Psychologie zu bestimmen, indem er die Unterschiede zwischen der Wölfischen und der Cartesischen Auffassung von Bewußtsein, Seele und Geist markiert. Zwar nimmt die Psychologie innerhalb der Deutschen Metaphysik aufgrund des Cartesischen Ansatzes eine besonders wichtige Position ein. Wie zuvor Descartes versucht Wolff, ausgehend von der Unbezweifelbarkeit des eigenen Denkens und der eigenen Existenz eine sichere Basis für alles philosophische Wissen zu etablieren. Die Positionen beider Philosophen unterscheiden sich jedoch schon in bezug auf diesen Grundlegungsgedanken signifikant, wie Euler zeigt. Der Verfasser wird in seinem Beitrag jedoch weniger von einem philosophiehistorischen als von einem systematischen Interesse geleitet. Es steht in seinem Beitrag somit nicht so sehr eine Untersuchung der Abhängigkeit Wolffs von Descartes und Leibniz im Mittelpunkt, sondern die Bemühung um ein Verständnis der Leistungskraft wie auch um die Verdeutlichung der Schwächen der Wolffschen Psychologie. Dabei beleuchtet Euler auch das problematische Verhältnis zwischen empirischer und rationaler Psychologie. Der zweite Beitrag von Jean-François Goubet widmet sich dem Verhältnis der Psychologie zur Logik - ein Thema, das in der Literatur zwar aufgegriffen, 5 aber bisher keineswegs erschöpfend behandelt wurde, obwohl es als zentral für die Wolffsche Philosophie angesehen werden muß. Insofern Wolff sein System mit der Logik, die seiner Meinung zufolge von der Psychologie und Ontologie erst zu fundieren ist, beginnen läßt, da er die Logik als unverzichtbare Voraussetzung für das Studium der Philosophie überhaupt hält, sieht er sich prima facie einem Zirkelverdacht ausgesetzt, den Goubet mithilfe einer detaillierten Analyse der hier bestehenden Abhängigkeits- und Begründungsverhältnisse und aufgrund einer Neuinterpretation des Wolffschen Verständnisses von Fundierung zu entkräften sucht. Im dritten Beitrag beschäftigt sich Thierry Arnaud mit der Frage, womit die Deutsche Metaphysik Wolffs ihren Anfang nimmt. Arnaud interessiert sich dabei für die besondere Rolle, welche der Psychologie bei der Grundlegung des Wolffschen Systems zukommt. Somit steht nicht nur das Verhältnis der Psychologie zur Ontologie, welche auch für Wolff als Philosophia prima ganz traditionell die fundamentale metaphysische „Grund-Wissenschaft" darstellt, im Blick, sondern auch ihr Verhältnis zur Logik. Für Arnaud erklärt sich die grundlegende Funktion der Psychologie innerhalb des Wolffschen Systems der Metaphysik aus der Inter-

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Vgl. dazu Engfer, Hans-Jürgen, Von der Leibnizschen Monadologie zur empirischen Psychologie Wolffs, in: Wolff, Christian, Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u.a. 3 Abteilungen. Hildesheim u.a. 1962ff., Abt. III, Bd. 31: Carboncini, Sonia / Cataldi Madonna, Luigi (Hg.), Nuovi studi sul pensiero di Christian Wolff ( 1992) (Nachdruck von: Il cannocchiale 2/3 [1989]), S. 193-215, hier S. 206f.

Einleitung

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dependenz von empirischer und rationaler Erkenntnis, das deshalb besondere Berücksichtigung findet. Dies ist auch das Thema des Beitrages von Jean-Paul Paccioni. Unter der Leitfrage, ob Wolff der „wahre Begründer der rationalen Psychologie" sei, untersucht Paccioni unter Berücksichtigung von Wolffs Tschirnhaus-Rezeption das Verhältnis von Erfahrung, aktueller Existenz und Rationalität. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß für Wolff die Erfahrungserkenntnis als unverzichtbare Grundlage der Verstandeserkenntnis anzusehen ist, da das Prinzip der Aktualisierung mentaler Vorstellungen nicht ohne Rekurs auf die Erfahrung erkannt werden kann. Die Erforschung der menschlichen Seele muß daher bei den aktuell auftretenden Vorstellungen anheben, um auf dieser Grundlage die verborgene Natur der Seele zu erschließen. In dieser Begründungsidee sieht Paccioni eine eigentümliche Leistung Wolffs, die ihn sowohl von Locke als auch von Leibniz unterscheidet. Der Beitrag von Anne-Lise Rey beschäftigt sich wiederum mit dem Verhältnis von Ontologie und Psychologie. Hier steht mit der Theorie der Vis repraesentativa universi die rationale Seelenlehre Wolffs im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Verfasserin berücksichtigt in ihrem Beitrag, daß sich die Voraussetzungen zur Analyse und Bewertung der Wölfischen Erkenntnistheorie und Metaphysik in den letzten Jahren stark gewandelt haben. Während man in älteren Arbeiten durchweg Wolffs Anknüpfung an Leibniz als den Schlüssel zum Verständnis seiner Philosophie betrachtete,6 hat die Forschung inzwischen erkannt, daß Wolff kein reiner Leibnizianer war.7 Aufgrund des Umstandes, daß Wolff nur einzelne Aspekte der Leibnizschen Philosophie aufgegriffen hat, sich von anderen jedoch distanzierte, kam es zu Erklärungsdefiziten innerhalb seines Systems. Dies soll hier anhand einer Untersuchung des Wölfischen Substanz- und Kraftbegriffes gezeigt werden. In den folgenden drei Beiträgen bildet die Beziehung der Psychologie zur praktischen Philosophie den Schwerpunkt. Im ersten Beitrag beleuchtet Jeongwoo Park die zentrale Bedeutung des Habitusbegriffs in Wolffs Psychologie. Park geht davon aus, daß bei Wolff die Erfahrung als Grundlage der psychologischen Erkenntnis eng mit dem Vollkommenheitsbegriff verbunden ist, welcher zugleich die Grundlage der Wölfischen Moralphilosophie darstellt. Diese Konzeption fuhrt gegenüber Descartes, Spinoza und Leibniz zu einer deutlichen Aufwertung des Habitusbegriffs. Der Habitus bildet sich durch eine kontinuierliche Ausübung der Erkenntnis- und Handlungsvermögen aus. Er bedeutet eine Vernetzung aller einzelnen Erfahrungen und erlaubt eine undeutliche Erkenntnis der Welt und ein sinnvolles Handeln ohne deutliche Er6

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So z.B. Hans-Werner Arndt in seiner Einführung zu Wolff, Christian, Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verslandes (Deutsche Logik), in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 5), Abt. I, Bd. 1 (1978), S. 7-102, hier S. 76ff. Vgl. Ecole, Jean, War Christian Wolffein Leibnizianer?, in: Aufklärung 10.1 (1998), S. 2 9 46.

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kenntnis des Guten. Damit bildet er die Grundlage für eine rationale Erkenntnis und Moralität. Der Beitrag endet mit einer Verteidigung Wolffs gegen Kants Kritik des Wolffschen Modells moralischen Handelns. In den zwei folgenden Beiträgen wird die psychologische Fundierung der praktischen Philosophie Wolffs anhand der Wolffschen Theorie der moralischen Verbindlichkeit in den Blick genommen. Dieter Hüning arbeitet in seinem Beitrag die besonderen Verdienste Wolffs um die Grundlegung der praktischen Philosophie heraus. Als Folie seiner Überlegungen dienen ihm die voluntaristischen Ansätze Pufendorfs und Thomasius'. Im Unterschied zu Pufendorf und Thomasius begründet Wolff die Verbindlichkeit moralischer Pflichten nicht über den Willen Gottes, sondern leitet sie aus der Natur der menschlichen Seele ab. Darin, daß Wolff sein Projekt nur durch eine Identifikation der Triebfeder des Willens mit der natürlichen Verbindlichkeit realisieren kann, erkennt Hüning die entscheidende Schwachstelle der Wolffschen Moralbegründung. Die Probleme der psychologisierten Moraltheorie Wolffs diskutiert Hüning exemplarisch für den Sonderfall einer Indifferenz der Bewegungsgründe, wobei er die Debattenlagen innerhalb der Hallenser Streitigkeiten von 1723 zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt. An eine Kritik Langes anknüpfend, kommt er zu dem Ergebnis, daß es Wolff aufgrund einer Nichtbeachtung des Unterschiedes von Grund und Ursache nicht gelingt, sein System überzeugend gegen den Verdacht des Determinismus zu sichern. Andreas Thomas wendet sich dem Thema von einer anderen Seite her zu. Er untersucht Wolffs Verbindlichkeitstheorie vor dem Hintergrund der Kantischen Kritik. Dazu bestimmt er sechs wesentliche Merkmale der Wolffschen Moralbegründung, die ihn zu dem Befund führen, daß Wolffs Moralphilosophie den Menschen - unter dem Gesichtspunkt der Vollkommenheit seiner selbst und der Welt bloß auf eine rationale Erkenntnis der kontextbezogenen Qualität möglicher Handlungen verpflichtet, die genügen soll, um zu guten Handlungen zu motivieren. An diesen Befund knüpft Thomas - gestützt auf eine Rekonstruktion der Kantischen Argumente - eine Kritik vom Standpunkte Kants aus. In den letzten vier Beiträgen des Bandes steht die Einordnung der Wolffschen Psychologie in historische Zusammenhänge im Mittelpunkt. Die ersten beiden Beiträge beschäftigen sich mit der Genese der Wolffschen Psychologiekonzeption, während in den folgenden Beiträgen darüber hinaus auch ihre Rezeption besondere Berücksichtigung findet. Stefanie Buchenau versucht Wolffs Auffassung des Vernunftähnlichen im historischen Kontext zu verorten. Sie zeigt - was der Forschung bisher entgangen ist - , daß das Konzept des Analogen rationis seinen Ursprung in der scholastischen Philosophie hat. Ferner vergleicht sie Wolffs und Leibniz' Verständnis des Vernunftähnlichen. Als entscheidenden Unterschied beider Positionen und als Novum markiert sie die Auffassung Wolffs, daß zwischen unteren und oberen Seelenvermögen ein kontinuierlicher Übergang bestehe.

Einleitung

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Gideon Stiening untersucht die Rolle von Rudolph Goclenius bei der Ausbildung des Konzeptes der Psychologie als Teil einer Metaphysica specialis und die Bedeutung dieser Auffassung für die Philosophie Christian Wolffs. Stiening hebt die besondere Bedeutung Goclenius' bei der Entwicklung der Psychologie als metaphysischer Disziplin hervor und fragt nach den Gründen, die Goclenius zur Entwicklung einer neuen Konzeption der Psychologie bewogen haben. Den Befund, daß Goclenius' Innovation sich wesentlich auf seine Auffassung der notiones communes gründet, nimmt der Verfasser zum Ausgangspunkt eines Vergleiches zwischen Goclenius' und Wolffs Konzeption der Psychologie. Stiening macht darauf aufmerksam, daß sowohl Wolff als auch schon Goclenius das alte Modell des theologischen Gehalts-Innatismus ablehnen, sich andererseits aber auch gegen einen starken Empirismus wenden. Vor diesem gemeinsamen Hintergrund verfolgen beide Denker ein gemeinsames Konzept der ideae innatae. Stiening versucht zu zeigen, daß Wolff gerade durch die unmodifizierte Übernahme dieses aus der vorneuzeitlichen Philosophie stammenden Konzeptes in erhebliche Schwierigkeiten gerät, da dieses mit seinem empiristisch geprägten Bewußtseinsbegriff konfligiert, so daß sich rationalistische und empiristische Elemente im Denken Wolffs unvermittelt gegenüberstehen. Im dritten Beitrag dieser Gruppe beschäftigt sich Wolf Feuerhahn unter der Leitfrage, ob Wolff als Vorläufer der modernen naturwissenschaftlichen Psychologie angesehen werden kann, mit den systematischen und historischen Voraussetzungen von Wolffs Projekt einer Psychometrie. Mit diesem Projekt zielte Wolff auf eine mathematische Erkenntnis psychologischer Phänomene durch die Messung der intensiven Größe mentaler Leistungen ab. Feuerhahn versucht, die Genese des Wolffschen Psychometrie-Konzeptes als Folge der von Wolff angestrebten Mathematisierung der Philosophie zu verstehen. Als konkretes Vorbild fur die Messung der Seelenkräfte macht er die Meßmethoden der Photometrie aus. Feuerhahn warnt jedoch davor, in Wolff einen direkten Vorläufer Fechners zu sehen, da das Wolffsche Projekt unter anderen historischen Bedingungen stand und von einer Realisierung im Sinne Fechners sehr weit entfernt war. Im Schlußbeitrag plädiert Oliver-Pierre Rudolph für einen neuen Forschungsansatz, der die Bedeutung der scholastischen Wurzeln der Psychologie Wolffs über ihre frühe Rezeption zu untermauern sucht. Dabei verfolgt er die Strategie, zu zeigen, daß die starke Rezeption der Wolffschen Psychologie durch Philosophen mit neoscholastischem Hintergrund nur aus der Nähe Wolffs zur scholastischen Seelenlehre verstanden werden kann. Erst auf dem Umweg über die Rezeption wird somit eine neue Einsicht in die Genese und den systematischen Gehalt der Wolffschen Psychologie eröffnet. Bislang blieb deren Nähe zur scholastischen Lehre weitgehend unbeachtet, da die scholastischen Elemente von Wolff in eine neuzeitliche Form umgegossen wurden, die sich teils der mathematischen Methode, teils einer systematischen Umorganisation verdankt.

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Oliver-Pierre Rudolph / Jean-François

Goubet

Auch wenn die Beiträge dieses Bandes zu unterschiedlichen Detailergebnissen kommen bzw. sich zum Teil sogar kritisch aufeinander beziehen, so lassen sich doch einige gemeinsame Tendenzen erkennen, die richtungsweisend für die künftige Wolff-Forschung werden dürften. Drei Tendenzen lassen sich namhaft machen. Zum ersten unterstreichen viele der hier versammelten Beiträge die Unterschiede zwischen der Wölfischen und der Leibnizschen Philosophie. Damit verstärken sie eine deutliche Tendenz der neueren Forschung und drängen die ältere Forschungsmeinung, Wolffs Philosophie sei systematisierter Leibnizianismus, weiter in den Hintergrund. Damit werden jedoch nicht nur jüngere Forschungsergebnisse bestätigt, sondern auch neue Einsichten gewonnen. Denn die Erkenntnis, daß Wolff wesentlich unabhängiger war, als bisher angenommen, ermutigt zu unvoreingenommenen Detailuntersuchungen bisher vernachlässigter Aspekte und ermöglicht somit ein vielschichtigeres Wolff-Bild. Darüber hinaus legt sie die Suche nach anderen, bislang unberücksichtigten Einflüssen auf die Genese der Wölfischen Psychologie nahe. Damit ist ein zweiter Punkt angesprochen. Es zeichnet sich in den vorliegenden Beiträgen eine deutliche Tendenz zur stärkeren Berücksichtigung des Verhältnisses der Wölfischen zur scholastischen Philosophie ab. Dem wegen seiner Relevanz für den systematischen Gehalt und die Wirkungsgeschichte der Philosophie Wolffs nicht zu vernachlässigenden Bezug Wolffs zur Scholastik wurde in der bisherigen Forschungsliteratur nur selten die gebotene Aufmerksamkeit gewidmet. Dies gilt in besonderem Maße für die Forschungen zur Psychologie Wolffs. Die Tatsache, daß Wolff einerseits Leibnizsche Theoriestücke wie die Monadenlehre und das System der prästabilierten Harmonie diskutiert und in modifizierter Form für seine eigenen Überlegungen fruchtbar macht und sich andererseits stark an neuzeitlichen Paradigmen wie dem Cartesianischen Substanzendualismus orientiert, hat den Blick für die Einsicht verstellt, daß der Gehalt der Psychologie Wolffs wesentlich durch die kritische Übernahme scholastischer Elemente mitbestimmt wird. Neue Forschungen zum Verhältnis der neuzeitlichen Philosophie zur Scholastik werden erkennen lassen, in welchem Maße auch die von Wolff rezipierten neuzeitlichen Denker von der Scholastik beeinflußt waren. Die letzte und systematisch bedeutsamste Tendenz der Forschungen zur Wolffschen Psychologie, die sich in diesem Bande manifestiert, ist nicht ohne Bezug zur Scholastik zu verstehen, reicht aber in ihrer systematischen Bedeutung erheblich weiter. Sie betrifft das Verhältnis von Erfahrung und Vernunft. Alle hier versammelten Autorinnen und Autoren betonen die besondere Bedeutung des „Connubium rationis et experientiae" für die Wolffsche Psychologie. Es darf gesagt werden, daß das Verständnis des Verhältnisses zwischen Erfahrung und Vernunft der Schlüssel zum Verständnis der Psychologie Wolffs ist. Denn nicht nur wird durch dieses Verhältnis eine charakteristische Eigenschaft der Wölfischen Philosophie markiert, die es erlaubt, Wolff eine Eigenständigkeit gegenüber anderen Philoso-

Einleitung

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phen zu attestieren. Es bietet darüber hinaus einen Ansatzpunkt, die Modernität, ja die Aktualität des Wolffschen Denkens aufzuzeigen. Denn durch das Konzept der wechselseitigen Abhängigkeit von Erfahrung in Form von Beobachtungen und Experimenten und der Einordnung dieser einzelnen Erfahrungen in einen großen Zusammenhang durch die Vernunft, hat Wolff unter der Leitidee einer Mathematisierung der Wissenschaften der modernen naturwissenschaftlichen Psychologie wichtige Impulse gegeben. Daß sich aus diesem Konzept auch für die gegenwärtige philosophische Psychologie neue Einsichten ergeben, ist die in Anbetracht des gegenwärtig steigenden Interesses der Forschung an der Psychologie Christian Wolffs nicht unberechtigte Hoffnung der Herausgeber dieses Bandes.

WERNER EULER ( M a r b u r g / Trier)

Bewußtsein - Seele - Geist. Untersuchungen zur Transformation des Cartesischen „Cogito" in der Psychologie Christian Wolffs Vorbemerkung Der im 18. Jahrhundert in der Philosophie weit verbreitete Begriff der LeibnizWolffschen Philosophie bzw. Metaphysik wird heute als Einordnungsschema in die Philosophiegeschichte im allgemeinen nicht mehr anerkannt. Je stärker sich die philosophische Forschung auf eine wirkliche Analyse des Wolffschen Werkes einläßt, desto fragwürdiger erscheint dieser Titel, den nicht zuletzt Wolff selbst zurückwies. Eine Ausnahme bildete bis vor kurzem noch die rationale Psychologie. 1 Es ist hier nicht mein Anliegen, in vergleichender Weise die Ursprünge der Wolffschen Psychologie im Denken von Leibniz systematisch zu erfassen, obwohl es naheliegend ist, punktuell solche Bezüge herzustellen. Mir scheint, daß, entgegen der Standardmeinung, gerade in der Seelenlehre Wolffs zeige sich die Herkunft und enge Verwandtschaft mit Leibniz am nächsten und deutlichsten, die Bestimmungsmomente der Theorie des Bewußtseins sowie ihre argumentative Verknüpfung bei Christian Wolff unter seinen Vorgängern ohne Beispiel sind. Mit der Relativierung des Diktums, die Wolffsche Philosophie sei imgrunde eine Systematisierung der Leibnizschen, haben zugleich Untersuchungen über den Einfluß Descartes' und des Cartesianismus auf Wolff an Boden gewonnen. 2 Dieser Trend soll durch die vorliegende Arbeit verstärkt und gefördert werden. Ich werde hier aber weder die These vertreten, daß die Metaphysik von Wolff bloß die systematische Ausarbeitung Leibnizscher Begriffe sei, noch die These, daß sie den Versuch einer vollständigen Widerlegung der cartesianischen Prinzipien der Metaphysik beinhalte. Das Verhältnis Wolffs zu beiden Autoren scheint mir viel differenzierter und komplizierter zu sein und auf jeden Fall noch weiterer Untersuchungen zu bedürfen.

2

Siehe dazu Carboncini, Sonia, Transzendentale Wahrheit und Traum. Christian Wolffs Antwort auf die Herausforderung durch den Cartesianischen Zweifel. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung [FMDA] II, 5), S. 28; Engfer, Hans Jürgen, Von der Leibnizschen Monadologie zur empirischen Psychologie Wolffs, in: Wolff, Christian. Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u.a. 3 Abteilungen. Hildesheim u.a. 1962ff., hier Abt. III, Bd. 31: Carboncini, Sonia / Cataldi Madonna, Luigi (Hg.), Nuovi studi sul pensiero di Christian Wolff ( 1992), S. 193-196. Die Werke Christian Wolffs werden im folgenden nach der eben genannten Ausgabe der Gesammelten Werke zitiert. Nachweise innerhalb des Textes erfolgen in der Regel bloß als Klammerzusatz des Paragraphen. Vgl. Carboncini, (wie Anm. 1), S. 29.

Werner Euler

12

Meiner Textanalyse liegt die sogenannte Deutsche Metaphysik Wolffs zugrunde, 3 und zwar hauptsächlich deren Kapitel 1,3 und 5. Auf analoge lateinische Schriften (Psychologia empirica, Psychologia rationalis) beziehe ich mich nur en passant.

1.

Der Erfahrungssatz4 des Bewußtseins (§§ 1-9)

Schlägt man Christian Wolffs Deutsche Metaphysik auf, so stößt man gleich am Anfang des ersten Paragraphen auf einen überraschenden Satz: „Wir sind uns unserer und anderer Dinge bewust, daran kan niemand zweiffein, der nicht seiner Sinnen völlig beraubet ist". 5 Überraschend ist dieser Satz, weil man ihn aufgrund seiner inhaltlichen Aussage eigentlich erst in der „empirischen Psychologie", also der Sache nach frühestens im dritten Kapitel der Deutschen Metaphysik und nicht in deren Eingangskapitel, erwarten dürfte. Daß der die Metaphysik eröffnende Paragraph allerdings eng mit der Seelenlehre verbunden ist, zeigt schon die Tatsache, daß Wolff zu Beginn des fünften Kapitels explizit daran anknüpft. Es geht mir zunächst vor allem darum, nach der inhaltlichen und methodischen Bedeutung (dem Zweck) dieses Satzes, aber auch nach dem Status, den er im Hinblick auf die Metaphysik insgesamt haben könnte, zu fragen. Damit verbunden ist die Frage nach der Funktion des vom Textumfang her relativ kurzen ersten Kapitels („Wie wir erkennen, daß wir sind, und was uns diese Erkäntniß nutzet"). Überraschend ist nämlich auch, daß der zitierte Satz offenbar nicht nur für die Seelenlehre, sondern auch für die übrigen Teile der Metaphysik (Ontologie, Kosmologie und natürliche Theologie) grundlegende Bedeutung hat. Weiterhin erfahren wir an der oben zitierten Stelle, daß das, was in dem Satz behauptet wird, von jedermann empirisch nachprüfbar sei und schon deshalb als unbezweifelbar gewiß anerkannt werden könne, sofern sich derjenige nur auf seine sinnliche Wahrnehmung verlassen könne („der nicht seiner Sinnen völlig beraubet ist"). 6 Die Gewißheit dieser Erkenntnis zu leugnen, käme einer Selbsttäuschung 3

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Wolff, Christian, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (Deutsche Metaphysik). Neue vermehrte Auflage Halle 1751 ('1720), in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 2(1983). Ich verwende den Ausdruck „Satz" an dieser Stelle nicht in der logischen Strenge wie Wolff. Nach seiner Definition ist der Satz die Mitteilungsform eines Urteils. Statt aus Begriffen besteht ein Satz aus Worten (vgl. Wolff, Christian, Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit [Deutsche Logik], 3. Kap., in: ders., Gesammelte Werke, [wie Anm. 1], Abt. I, Bd. 1 [1965], S. 156— 162). Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), S. 1. Diese Ausdrucksweise ist doppeldeutig. Die zweifache Bedeutung der Sinne hat ihre Wurzel in dem von Wolff vertretenen Leib-Seele-Dualismus. Zum einen bezeichnen die Sinne das Empfindungsvermögen, durch das körperliche Veränderungen wahrgenommen und in Gedanken

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gleich; denn das Zweifeln ist selbst eine Bewußtseinshandlung, die unmittelbar evident ist; es widerlegt sich also durch seinen eigenen Vollzug und stützt damit die Gewißheit des (sinnlichen) Bewußtseins. Die zweifelsfreie Gewißheit sowohl des Bewußtseins unserer selbst als auch des Bewußtseins von Dingen außer uns ergibt sich also daraus, daß das Bewußtsein überhaupt einen sinnlichen Bezug auf das Subjekt hat, dem es angehört. Es sind nach meiner Auffassung jedoch zwei miteinander kombinierte Kriterien, die die Gewißheit des Satzes absichern: erstens die empirische Überprüfbarkeit (die Beobachtung des eigenen Vollzugs einer Bewußtseinshandlung); zweitens das Widerspruchsprinzip. Der Zweifel an dieser Gewißheit ist nämlich rational zu widerlegen durch das Argument, das Wolff, ähnlich wie Descartes, aber doch nicht ihm genau entsprechend, anführt: Der Akt des Zweifeins ist selbst unmittelbar und untrennbar mit dem Bewußtsein des Zweifeins verbunden. Er ist nicht bloß eine Modifikation des Denkens. 7 Es ist unmöglich, an etwas zu zweifeln und sich dabei dieses Zweifeins nicht zugleich bewußt zu sein. Denn derjenige würde zweifeln und nicht zweifeln. Wolffs Psychologie scheint mir insofern von Anfang an durch diese zweifache, in einem problematischen Verhältnis stehende Grundlegung gekennzeichnet zu sein, nämlich durch eine empirische und eine rationale. Sich einer Sache bewußt zu sein, soll nun aber zugleich bedeuten, zu sein. Denn das Zweifeln als Akt des Bewußtseins setzt voraus, daß es einen Akteur gibt, der die Denkakte vollzieht, und daß dieser derselbe sein muß, der sich seines Zweifeins bewußt ist. Das Zweifeln als Bewußtseinshandlung führt demnach zu der Einsicht, „daß wir sind". Es ist hier bereits anzumerken, daß Wolff mit dem ersten Satz der Metaphysik von vornherein auf kritische Distanz zu Descartes' Resultat des methodischen Zweifels bzw. zu anderen Positionen des Cartesianismus geht. Daß wir uns auch anderer Dinge außer uns bewußt seien, ist bei Descartes nämlich keineswegs bereits eine Folge des in der ersten Meditation einsetzenden Zweifeins; 8 die Außenwelt verschwindet vielmehr durch den Zweifel ebenso wie die sinnliche Evidenz hinter der unbedingten Gewißheit des sichselbstgleichen Ich denke - ich bin?

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transferiert werden (Wolff, Deutsche Metaphysik, [wie Anm. 3], §§ 220, 223); zum anderen sind Sinnesstörungen gekoppelt an seelische Beeinträchtigungen, die sich als Geisteskrankheiten (Verwirrung der Gedanken) äußern (ebd., § 814). Siehe demgegenüber: Descartes, René, Principia Philosophiae, Pars Prima, XI, in: ders., Œuvres, hg. v. Charles Adam u. Paul Tannery. 13 Bde. und ein Supplement. Paris 1897-1913, Bd. 8.1 (1905), S. 8-9. Vgl. auch ebd., Pars Prima, VIII, (wie Anm. 7), S. 7. Vgl. dazu die Kritik Wolffs an Descartes in Wolff, Christian, Der Verniinfftigen Gedancken von Gott, der Well und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen (Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik), § 20, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 3 (1983), S. 48; siehe auch Descartes, René, Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, & chercher la vérité dans les sciences, Quatrième partie, in: ders., Œuvres, (wie Anm. 7), Bd. 6 (1902), S. 31-32, 3 8 ^ 0 und ders., Principia, (wie Anm. 7), Pars Prima, VIII-X, S. 7f.

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Inwiefern äußere Dinge den Vorstellungen (Ideen) im denkenden Subjekt entsprechen, wird erst in der dritten Meditation untersucht. Wolff ist im Unterschied zu Descartes offenbar daran gelegen, Ich-Bewußtsein (Insichsein) und Gegenstandsbewußtsein (Außersichsein) von vornherein als eine untrennbare Einheit einzuführen. Eine weitere Differenz zu Descartes sehe ich darin, daß dessen Untersuchung des Denkens sich ausdrücklich nicht an jedermann, sondern an den professionellen Philosophen richtet.10 Wolff war sicher nicht nur mit den Schriften Descartes', sondern auch mit denen der in der cartesianischen Tradition stehenden Denker vertraut.11 Dennoch sind seine Adressaten oft schwer zu ermitteln. In mehreren Paragraphen der Metaphysik fällt auf, daß er Descartes Auffassungen zugeschrieben hat, die in dieser Gestalt in seinen Schriften nicht nachgewiesen werden können. Wolff scheint hier manchmal Descartes mit anderen Repräsentanten des Cartesianismus verwechselt zu haben. Sonia Carboncini hat darauf hingewiesen, daß Wolff im zweiten Paragraphen der Deutschen Metaphysik, in dem er eine Position, die das Sein aller Dinge leugnet und allein das Ich bin gelten läßt, als „Egoismus" und folglich (in Verbindung mit § 944) als „Idealismus" brandmarkt, in der Hauptsache Malebranche im Visier habe. 12 Auf die Frage, inwieweit auch Descartes selbst von diesem Vorwurf betroffen ist, und ob sich nicht vielleicht auch in Wolffs Metaphysik selbst eine Tendenz zum Idealismus beobachten läßt, werde ich weiter unten noch zurückkommen. Daß Wolff jedenfalls daran gelegen war, der Gefahr des Abgleitens in den Idealismus entgegenzuwirken, zeigt die Tatsache, daß er zwischen empirischer und rationaler Psychologie (Kapitel 3 und 5 der Deutschen Metaphysik) die Kosmologie als Wissenschaft von der Welt (Kapitel 4) eingeschaltet hat, so daß die in der rationalen Psychologie angestrebte Begründung von Bewußtsein und Seele sich nicht nur auf

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Siehe Descartes, Principia, (wie Anm. 7), Pars Prima, VII, Χ, XII, S. 6f., 8, 9). Es ist deshalb nach meiner Ansicht ein Vorurteil, wenn behauptet wird: „Following the Cartesian tradition, Wolff starts from self-consciousness in the sense of the cogito." (Mohr, Georg, Freedom and the Self. From Introspection to Intersubjectivity. Wolff, Kant, and Fichte, in: Ameriks, Karl / Sturma, Dieter [Hg.], The Modern Subject. Conceptions of the Self in Classical German Philosophy. New York 1995, S. 32). Carboncini, (wie Anm. 1), S. 60. Carboncini, ebd., S. 61. Nach der Psychologia rationales, § 38 Anm., sind die Egoisten eine Spezies der Idealisten; Wolff beruft sich auf Malebranche; eine mögliche Quelle dafür ist: Malebranche, Nicolas, Entretiens sur la métaphysique et sur la religion (1688), VI, § 4 - 6 , in: ders., Œuvres complètes, hg. v. André Robinet. Paris 1958-1966, Bd. 12/13 (1965), hier S. 136-138. Dort wird die Möglichkeit einer gesicherten Erkenntnis von der Existenz der Körper in Zweifel gezogen. Wolff bezieht sich auf diese Schrift in den Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik, (wie Anm. 9), § 20, S. 48f., distanziert sich aber von dem Vorurteil, Malebranche sei Idealist. Über weitere mögliche Adressaten, die für die von Wolff kritisierte Leugnung der Realität der Außenwelt bzw. jeder Realität außerhalb des Ich in Frage kommen, siehe Ecole, Jean, Anmerkung des Herausgebers, in: Wolff, Christian, Psychologia rationalis, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 1), Abt. II, Bd. 6 (1972), S. 709-711.

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alle empirischen Inhalte der Seele bzw. des Bewußtseins, 13 sondern auch auf die Gesamtheit aller möglichen Dinge, sofern sie außer uns sind (insbesondere auf die Körper und deren kausalen Zusammenhang, der den Weltbegriff konstituiert), stützt. Erst indem die inneren Erfahrungen der Seele und die Erfahrungen aller Dinge „außer uns" in der Seele ihren gemeinsamen Grund gefunden haben, kann der Satz, daß wir uns unserer selbst und anderer Dinge außer uns bewußt seien, allgemein gelten. Über die Frage, weshalb Wolff den am Anfang seiner Metaphysik stehenden und fur sie bedeutsamen Satz in der ersten Person Plural ausdrückt, und was es eigentlich mit der behaupteten sinnlichen Evidenz auf sich hat, erhält man zunächst keinen hinreichenden Aufschluß. Es geht Wolff aber ersichtlich um die unumstößliche Gewißheit der unmittelbaren Selbsterfahrung und um die Allgemeingültigkeit, die sich durch den erfahrbaren, aktualen Bewußtseinsvollzug in Hinsicht auf das, was Bewußtsein ist, unmittelbar herstellt. Deshalb ist es nicht nur für das je einzelne Ich, das dieses Bewußtsein hat, sondern für jedes beliebige andere, dessen Wahrnehmungsvermögen intakt ist, unbezweifelbar, daß, indem es sich seiner bewußt ist, dies in derselben Weise geschieht, in der wir (die Pluralität der einzelnen Ich) uns unserer selbst und anderer Dinge außer uns bewußt sind. Der obige Satz, der die Aussage beinhaltet, daß wir uns unserer selbst und anderer Dinge bewußt sind, ist seinem Inhalt nach in dem ersten kurzen Kapitel, das man als Methodenkapitel bezeichnen könnte, nicht Gegenstand der Wolffschen Analyse. Als Erfahrungssatz, der durch die sinnliche Gewißheit verbürgt wird, ist er - vom Standpunkt des gewöhnlichen empirischen Bewußtseins aus - unmittelbar auch keiner weiteren Begründung bedürftig. Nicht warum wir uns unserer bewußt sind, ist demnach hier die erste Frage, sondern wie wir erkennen, „daß wir sind" bzw. die Frage, welches die Erkenntnismittel sind, die uns dies mit Klarheit einsichtig machen können. 14 Trotz der unmittelbaren, unbezweifelbaren Gewißheit des Bewußtseins seiner selbst und anderer Dinge, strebt Wolff nun auch einen Beweis desjenigen Satzes an, der daraus unmittelbar folgen soll, nämlich, daß wir sind (§ 3). Der Beweis wird damit zur Möglichkeitsbedingung. 15 Denn es sei notwendig, den „Grund" zu erforschen, aus dem die Gewißheit, daß wir sind, folge (§ 3). Die unmittelbare Erkenntnis „daß wir sind" ist also offenbar nicht hinreichend oder nur scheinbar (m.a.W. nur für das gewöhnliche Bewußtsein, den Gemeinsinn) gewiß, 16 weil sie nämlich die geforderte Begründung noch nicht enthält. Deshalb bedarf sie eines

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Hinsichtlich der Extension dieser Inhalte sind Bewußtsein und Seele nämlich kongruent. Erst die rationale Psychologie bestimmt ihren Unterschied. Auf diesen Erfahrungssatz baut die einfache Wahrnehmung der Beschaffenheit der Seele am Anfang des dritten Kapitels der Deutschen Metaphysik (§ 191) auf; bzw. die dort erwähnten seelischen Erfahrungen stellen Konkretionen der Selbsterfahrung des Bewußtseins dar. Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), § 389. Siehe ebd., §§ 389f.

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Beweises. Andererseits identifiziert Wolff (in § 3) den Satz vom Bewußtsein mit dem des eigenen Seins und mißt dem letzteren damit genauso unbezweifelbare Gewißheit bei. Wenn die sinnliche Gewißheit eines solchen Satzes aber nicht zu bezweifeln ist, wodurch ist dann die Notwendigkeit gerechtfertigt, auch noch nach der Herkunft (bzw. dem Grund) dieser Gewißheit zu fragen? Eine erste Antwort befindet sich im Text von § 3: Es ist die Metaphysik, und es sind ihre Gegenstände insgesamt, die, da sie einer wissenschaftlichen und nicht bloß einer gewöhnlichen Erwägung bedürfen, die Angabe von Gründen (oder Ursachen) zur Erklärung der Erkenntnisgewißheit erfordern, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Methode der wissenschaftlichen Behandlung ihrer Gegenstände (§ 4). Diese Gründe verbürgen also nicht die Gewißheit, sondern machen sie erst einsichtig. In § 5 des Vorberichtes zur Deutschen Logik („Vorbericht von der Welt-Weisheit"), 17 auf den der Leser in § 3 der Metaphysik verwiesen wird, fordert Wolff vom Weltweisen nicht nur die Verfügung über das Wissen, daß etwas möglich sei, sondern auch die Angabe des Grundes, „warum es seyn kann". Eine entsprechende Erklärung findet man auch im Discursus Praeliminaris (§ 31): „In philosophia reddenda est ratio, cur possibilia actum consequi possint". 18 Die Suche nach dem Grund und damit auch das Erbringen eines Beweises ist also Aufgabe des Philosophen und nicht Aufgabe eines jeden, der sich, indem er sich seiner selbst und anderer Dinge bewußt ist, unmittelbar seiner (geistigen) Existenz gewiß ist. Daß die Frage nach dem Grund das wesentliche Kriterium ist, das die Erkenntnis einer Sache in den Status einer wissenschaftlichen erhebt und sie damit gerade von der gewöhnlichen, auf bloßer Erfahrung beruhenden Erkenntnis unterscheidet, verdeutlicht § 6 des Vorberichts zur Deutschen Logik: „einer, der die WeltWeisheit nicht verstehet, kann wohl auch aus der Erfahrung vieles lernen, was möglich ist: allein er weiß nicht den Grund anzuzeigen, warum es seyn kann. Z. E. er lernet aus der Erfahrung, daß es regnen könne, kann aber nicht sagen, wie es zugehet, daß es regnet, noch die Ursachen anzeigen, warum es regnet". 19 Nicht die Regelmäßigkeit bzw. wiederholte Beobachtung ähnlicher Fälle gibt einen hinreichenden Grund ab, der Erfahrungsurteilen Gewißheit verleiht, sondern ein klarer Begriff, der die Bedingungen dafür enthält, daß ähnliche Erfahrungen wiederholt eintreten und daß diese von anderen unterschieden werden können. 20 Dieser Be-

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Wolff, Deutsche Logik, (wie Anm. 4), S. 115. Wolff, Christian, Philosophia rationalis sive Logica, Pars I: Discursus praeliminaris de philosophia in genere, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 1), Abt. II, Bd. 1.1 (1983), S. 14. „In der Philosophie ist der Grund anzugeben, warum das Mögliche zur Wirklichkeit kommen kann" (ders., Discursus praeliminaris de Philosophia in genere = Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung [FMDA] I, 1), S. 34-35. Wolff, Deutsche Logik, (wie Anm. 4), S. 115f. Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), §§ 330f.

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griff kann ein Erfahrungs- oder ein Vernunftbegriff sein.21 Die Frage nach dem „warum" der Gewißheit in bezug auf uns selbst (unser Dasein und unser Bewußtsein) nimmt aber eine privilegierte Stellung in aller Erfahrungserkenntnis ein, weil ihre Beantwortung das Muster fur die Behandlung aller Fragen der Metaphysik abgeben soll, d.h. für die Erkenntnis von Gott, der Seele, der Welt und allen Dingen überhaupt. Ihr Nutzen liegt also darin, daß sie das Kriterium der höchsten Gewißheit metaphysischer Erkenntnis schlechthin enthält. Das Bestreben, den einleitenden Satz der Metaphysik (§ 1 ) zu begründen, fördert somit die Methode oder Erkenntnisweise zu Tage, durch die wir erst zu der Einsicht gelangen, daß wir sind. Die Analyse dieser Einsicht erweist sie als einen dreiteiligen Erkenntnisweg (§ 5), der, wie damit deutlich wird, implizit der Argumentation in § 1 zugrunde liegt. Um die Begründung für die Erkenntnis, daß wir sind, noch deutlicher zu machen, werden die Gedankenschritte im sechsten Paragraphen in die Form eines dreigliedrigen Schlusses gebracht. Die Verwendung eines Schlusses belegt, daß der Begriff, der Grund der Gewißheit des Erfahrungsurteils sein soll, nicht ein Erfahrungs-, sondern ein Vernunftbegriff sein muß. 22 In dem Schluß besteht die maior aus dem nicht beweisbedürftigen Satz: „Wer sich seiner und anderer Dinge bewust ist, der ist."23 Dieser Satz muß offenbar bloß dem Widerspruchsprinzip genügen, um nicht unmöglich zu sein.24 Er trifft zu aufgrund der bloßen Bedeutung der Wörter, die in ihm vorkommen. Der Obersatz ist ein „Grundsatz". Grundsätze sind solche Sätze, die erstens aussagen, ob einem Ding (bzw. dem Begriff eines Dinges) etwas zukommt oder nicht; d.h. sie sind Urteile oder sog. „Erwägungssätze" (z.B.: „dieses Haus ist schön"); 25 und die zweitens aus einer Erklärung hergeleitet werden. 26 Typische Grundsätze sind Tautologien der Form: „alle Tiere sind Tiere". 27 Die Richtigkeit anderer Grundsätze wird ohne Beweis durch Begriffsanalyse, d.h. durch Erklärung der in ihm enthaltenen Begriffe ersichtlich. Die Grundsätze sind demzufolge Resultat eines Schlusses aus solchen Erklärungen. 28 Der von Wolff als erste Prämisse des in § 6 der Deutschen Metaphysik enthaltenen Schlusses verwendete Grundsatz stellt insofern eine Tautologie dar, als Bewußtsein überhaupt und Sein darin bedeutungsgleich sind. In dieser Hinsicht folgt Wolff Descartes, für den „cogito" und

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Ebd., §§ 389f. Vgl. ebd., § 390. Dem entspricht übrigens der zweite Schritt in § 5; vgl. § 1. Vgl. ebd., § 10. Wolff, Deutsche Logik, (wie Anm. 4), Kap. 3, § 1. Ebd., Kap. 3, §§ 12f.; Kap. 6, § 1. Ebd., Kap. 3, § 13; ders., Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), § 355. Siehe Wolff, Deutsche Logik, (wie Anm. 4), Kap. 6, §§ 1-2. Dieser spezielle Grundsatz ist aber stillschweigend auch inhaltliches Kriterium der Wahrheit aller Sätze der Metaphysik, insofern es das Bewußtwerden einer Sache ist, das zur Klarheit und Deutlichkeit der Erkenntnis dieses Gegenstandes verhilft.

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„sum" unmittelbar identisch sind; 29 aber die Identität des Wolffschen Grundsatzes beruht nicht auf der einfachen Erfahrung des Bewußtseins. Die zweite Prämisse (minor) besteht aus dem eingangs zitierten Erfahrungssatz, dessen unmittelbare Gewißheit behauptet wurde: „Wir sind uns unserer und anderer Dinge bewust". Die conclusio lautet dann: „Also sind wir". Wolff nennt einen solchen Syllogismus 30 eine „Demonstration". Diese ist nach Kapitel 4, § 21 der Deutschen Logik ein logisches Schlußverfahren (ein „Beweis" in Form von Schlußketten), durch das die Vordersätze (Prämissen) eines Schlusses durch neue Schlüsse so lange auf andere Sätze (als Konklusionen) zurückgeführt werden, bis zuletzt ein Schluß übrig bleibt, dessen Prämissen aus Erklärungen, Grundsätzen oder leeren Sätzen und klaren Erfahrungen (Erfahrungssätzen) besteht. 31 Der betrachtete Schluß in der Deutschen Metaphysik (§ 6) ist zugleich das Muster einer allgemeinen Methode des Demonstrierens der Inhalte der Metaphysik, so daß einerseits aufgrund dieser Form des Beweises die Demonstrationen beliebiger metaphysischer Gegenstände im selben Grade formell gewiß sind wie die Demonstration des Satzes „wir sind". 32 Damit ist aber noch nichts Konkretes über die Relevanz des Eingangssatzes bzw. des damit verbundenen Schlusses für die Inhalte der einzelnen Teile der Metaphysik gesagt. Mir scheint aber doch Wolffs Schluß des Bewußtseins auch materiale Bedeutung für die Wahrheit des Erkennens metaphysischer Gegenstände zu haben. Denn während es bei der Form eines Schlusses auf die Art der Verbindung der Vordersätze ankommt, besteht seine Materie in der Richtigkeit der verbundenen Sätze. Form und Materie müssen aber richtig sein, damit durch den Schluß der wahre Zusammenhang erkannt werden kann. 33 Die Richtigkeit metaphysischer Sätze hängt jedoch ab von der klaren und deutlichen Unterscheidung ihrer Begriffe, d.h. 29

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Siehe Descartes, René, Meditationes de prima philosophia, in quibus Dei existentia, & animae humanae à corpore distinctio, demonstrantur. His adjuncta sunt variae objectiones doctorum virorum in istas de Deo & anima demonstrations ; cum responsionibus authoris, I, Abs. 6 - 8 , 11, in: ders., Œuvres, (wie Anm. 7), Bd. 7 (1904), S. 19f., 22; vgl. Secundae Responsiones, Tertio, ebd., S. 140f.; ders., Discours, (wie Anm. 9), IV, §§ 2 und 3; ders., Principia, (wie Anm. 7), I, §§ 7, 12. Nach Wolffs Einteilung ein Schluß der ersten Figur (modus Darii) (vgl. Wolff, Christian, Philosophia rationalis sive Logica, Pars II, §§ 373, 376, in: ders., Gesammelte Werke, [wie Anm. 1], Abt. Π, Bd. 1.2 [1983], S. 306-308). Siehe auch Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), § 347; ders., Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik, (wie Anm. 9), § 108; ders., Mathematisches Lexicon (1716), in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 11 (1978), Sp. 501-506. Demonstrierte Erkenntnis ist zugleich vernunftgemäß (§ 369) und wissenschaftlich (§ 371, § 361). Erkenntnis aus bloßer Erfahrung ist vemunftlos, weil der Zusammenhang der Wahrheiten nicht eingesehen wird. Erfahrung und Vernunft sind insofern einander entgegengesetzt (§371). Aber sie bilden zusammen zwei Wege der Erkenntnis der Wahrheit (§ 372; vgl. Wolff, Deutsche Logik, [wie Anm. 4], Kap. 5, § 8). Die Vernunfterkenntnis gründet sich auf den Verstand, die Erfahrung auf sinnliche Wahrnehmung. Allein die Vernunft fragt nach dem „warum" (dem Grund) der Wahrheit der Erkenntnis des Weltweisen. Die „gemeine Erkenntnis" beruht dagegen auf Erfahrung (vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, [wie Anm. 3], § 381). Das ergibt sich aus § 390 der Deutschen Metaphysik.

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zuletzt von der Richtigkeit des Satzes vom Bewußtsein, der den Grund des Unterscheidens als Bewußtseinshandlung überhaupt zum Inhalt hat. Er ist also formaler und materialer Grund der Wahrheit der durch Schlüsse bewiesenen metaphysischen Sätze. Eine solche Logik der Bewußtseinsbestimmungen, die sich bei Wolff in einem Schluß darstellt, der zugleich die allgemeine Grundlage des methodischen Erkennens in der Metaphysik ist, ist bei Descartes noch nicht vorhanden, der bekanntlich bestritt, daß die unmittelbare Selbsterkenntnis des „Cogito" einen Schluß beinhalte oder von einem Syllogismus abgeleitet sei.34 Vielmehr berief sich Descartes auf die Natur unseres Geistes, die so beschaffen sei, daß er das Allgemeine aus der Erkenntnis des Besonderen bilde. Demzufolge müßte die erste Prämisse in Wolffs Schluß - der Obersatz lautet bei Descartes ähnlich: „Alles, was denkt, ist oder existiert" - aus der Erfahrung des Bewußtseins von der unmittelbaren geistigen Existenz (bzw. der Unmöglichkeit der Nichtexistenz) folgen und nicht umgekehrt.35 In dieser Hinsicht weicht Wolff von Descartes ab. Für ihn ist der Obersatz seines Schlusses erfahrungsunabhängig, d.h. a priori gültig.

2.

Empirische und rationale Psychologie - das Problem ihrer wechselseitigen Begründung

2.1. Erfahrungsbegriffe der Seele (§§ 191-202) Im dritten Kapitel der Deutschen Metaphysik, „Von der Seele überhaupt, was wir nehmlich von ihr wahrnehmen", 36 geht es Wolff, seiner Erklärung in § 191 zufolge, noch nicht darum, zu untersuchen, was die Seele ist und wie Veränderungen in ihr vorgehen, sondern welche Wahrnehmungen von den Zuständen und Merkmalen der Seele durch tägliche Erfahrungen gemacht werden können. „Ein jeder" - so behauptet Wolff - könne dies an sich nachvollziehen. Es wird also hier zunächst wieder derselbe Standpunkt des gewöhnlichen Bewußtseins eingenommen wie im Anfangskapitel der Metaphysik. Damit ist das Gegenstandsfeld eröffnet, das in der lateinischen Bearbeitung als Psychologia empirica erschien. Was Wolff hier nicht untersuchen will - den Begriff bzw. das Wesen der Seele - ist dann Gegenstand

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Siehe Descartes, Meditationes, (wie Anm. 29), Secundae Responsiones, Tertio, S. 140f. ,,Cùm autem advertimus nos esse res cogitantes, prima quaedam notio est, quae ex nullo syllogismo concluditur; neque etiam cùm quis dicit, ego cogito, ergo sum, sive existo, existentiam ex cogitatione per syllogismum deducit, sed tanquam rem per se notam simplici mentis intuitu agnoscit, ut patet ex eo quòd, si earn per syllogismum deduceret, novisse prius debuisset istam majorem, illud omne, quod cogitât, est sive existit; atqui prefecto ipsam potius discit, ex eo quòd apud se experiatur, fieri non posse ut cogitet, nisi existât. Ea enim est natura nostrae mentis, ut generales propositiones ex particularium cognitione efformet." (Descartes, Meditationes, [wie Anm. 29], Secundae Responsiones, Tertio, S. 140f). Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), S. 106ff.

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der im fünften Kapitel („Von dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt") abgehandelten rationalen Seelenlehre.37 Die Wahrnehmung seelischer Bestimmungen (zu der ja an erster Stelle der in § 1 zitierte Satz des Bewußtseins gehört) soll dann aber als „Grund" der Herleitung von Erkenntnissen über die Seele dienen, die nicht durch unmittelbare Erfahrung gewonnen werden können (§ 191). Was aber heißt hier „Grund"? Inwiefern und wofür geben Erfahrungsdaten von der Seele einen „Grund" ab? Wolff meint an dieser Stelle wohl die stoffliche Grundlage (als Fundament) oder die inneren empirischen Phänomene, zu denen dann erst die Begriffe auf rationalem Wege zu suchen sind. Aber diese Sinnesdaten sind, wenn sie klar sind, schon unterschieden voneinander und insofern nicht unabhängig vom Bewußtsein. Denn es ist die Handlung des Bewußtseins, die es erst ermöglicht, Unterschiede als solche überhaupt wahrzunehmen; das bedeutet, daß das in der Seele Wahrgenommene nicht der erste (oder zureichende) Grund ist, sondern daß das Bewußtsein als begriffliches Verhältnis diesen Wahrnehmungsakten vorausgeht. Die empirische Seelenerfahrung ist Grund der Erkenntnis der Begriffe der Seele sowie aller anderen Begriffe der Metaphysik nur insofern, als sie selbst wiederum einen Grund, hat, der für sich genommen erfahrungsunabhängig ist. Solche nicht wahrnehmbaren Begriffe aus der empirischen Selbstbeobachtung herzuleiten, liegt dann aber nicht mehr im Ermessen von jedermann, denn diese Operation geht über das gewöhnliche Bewußtsein hinaus. Liegen der empirischen Psychologie die Wesensbestimmungen der rationalen Psychologie zugrunde, so ergibt sich daraus (scheinbar) eine Zirkularität in der Argumentation und im Aufbau der Seelenlehre, die verschiedentlich in der Literatur problematisiert worden ist. Sie ist aber nicht unbedingt störend. Mir scheint sie in der Absicht des Verfassers zu liegen, der seine Methode der wissenschaftlichen Bearbeitung metaphysischer Problemstellungen entspricht. Aus den auf empirischer Grundlage gefundenen deutlichen Begriffen sollen sich dann Wahrheiten entwickeln lassen, die wiederum durch Erfahrung bestätigt werden und die ihrerseits einen „Grund" abgeben, und zwar für Regeln (oder Gesetze), die die Kräfte des Verstandes in bezug auf Erkenntnis und Handeln (also Logik, Moral und Politik) betreffen.38 Diese zu entwickelnden Begriffe sind zunächst einmal noch Erfahrungsbegriffe39 - d.h. Begriffe, die durch ihre Klarheit sinnlich unterschieden sind - die innerhalb des dritten Kapitels abgehandelt werden und der Logik sowie der praktischen Philosophie40 zugrunde liegen (z.B. Verstand [§ 277], Vernunft [§ 368], Wille [§ 492]). Insgesamt aber haben die Er37 38 39 40

Siehe ebd., § 727. Ebd., § 191 ; siehe auch Wolff, Discursus Praeliminaris, (wie Anm. 18), Kap. ΠΙ, § 111. Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), § 329. „[...] die Tugend ist kein für sich, sondern ein durch die Seele oder überhaupt durch einen Geist bestehendes Ding. Ohne Seele oder Geist kann keine Tugend seyn: sie kann auch nicht von der Seele oder dem Geist in der That abgesondert werden." (ebd., § 301).

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fahrungen der Seele und die daraus hergeleiteten Begriffe ihren Grund im Wesen der Seele, insofern sie deren Wirkungen sind und daraus abgeleitet sind.41 Mit Rücksicht auf das Verhältnis der empirischen Psychologie zur Logik ist hier noch besonders anzumerken, daß die Kraft des Verstandes die Einheit der Seelenkraft unter dem bestimmten Aspekt der Deutlichkeit des Unterscheidens von Begriffen und damit der Bildung von allgemeiner Erkenntnis (§ 286) betrifft (sie ist nicht bloß eine seelische Kraft neben anderen) (§ 277). Insofern sind die Regeln der Logik von der Seele erzeugte Produkte, unbeschadet der Tatsache, daß sie in der Metaphysik von Anfang an Verwendung finden. Dies gilt vor allem auch fiir die Vernunftschlüsse. Sie haben die Funktion, Gedanken (als Veränderungen der Seele) ordnend zu verbinden mit dem Ziel, den Grund der verbundenen Glieder zu finden und dabei den Zusammenhang der Wahrheiten herzustellen (§ 342, § 373). Nun ist es aber sonderbar, daß Wolff gleich im zweiten Paragraphen des dritten Kapitels eine Definition42 von der Seele gibt, indem er sagt, daß er „durch die Seele dasjenige Ding43 verstehe, welches sich seiner und anderer Dinge ausser ihm bewußt ist, in so weit wir uns unserer und anderer Dinge als ausser uns bewust sind."44 Diese Erklärung hält er für notwendig, „damit man doch aber wisse, was man wahrzunehmen hat. Die Sätze dieses Paragraphen sind erklärungsbedürftig. Erstens enthalten sie die Aussage, daß offensichtlich bloße Wahrnehmungsinhalte für sich nicht hinreichen, etwas als der Seele zugehörig oder seelenhafit auch nur empirisch bestimmen zu können, um schließlich daraus einen Begriff von der Seele zu gewinnen; bestimmte Wahrnehmungen hängen m. a. W. von genau den Begriffen ab, die aus ihnen hervorgehen sollen. Das scheint zugleich die Begründung dafür zu sein, daß Wolff die hinsichtlich der Bewußtseinsbestimmung in § 1 ausgedrückte unmittelbare Evidenz durch die angeführte Definition ergänzt und damit eben auch relativiert. Zweitens enthält der Nebensatz „in so weit wir uns usw." eine Einschränkung in bezug auf die Seele oder „dasjenige Ding [...], welches usw.". Sie gilt nämlich (zunächst) nur von der Seele, die im Sinne von § 1 Bewußtsein hat bzw. wahrnehmungsfahig ist, nicht, wie es scheint, von der Seele in jeder Hinsicht. Dies wird im folgenden Paragraphen (§ 193) ja auch noch einmal hervorgehoben, indem einem Mißverständnis vorgebeugt werden soll. Die angeführte Definition45 kann also bloß von der empirischen Seelenlehre gelten, da die

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Siehe ebd., Kap. V, § 727; Wolff, Discursus Praeliminaris, (wie Anm. 18), Kap. III, § 112. Zum Begriff der Definition bei Wolff siehe Arndt, Hans Werner, Zum Wahrheitsanspruch der Nominaldefinition in der Erkenntnislehre und Metaphysik Christian Wolffs, in: Wolff, Gesammelte Werke, (wie Anm. 1), Abt. III, Bd. 65: Ecole, Jean (Hg.), Autour de la philosophie Wolffienne (2001 ), S. 28-40. Ein „Ding" ist etwas, das wenigstens möglich ist, also dem Prinzip des Widerspruchs genügt. Es muß nicht notwendig wirklich sein (Wolff, Deutsche Metaphysik, [wie Anm. 3], § 16). Ebd., § 192. Die zitierte Definition zeigt eine sprachliche Auffälligkeit, die einen sachlich bestimmten Sinn hat. Zunächst könnte man unter Hinweis auf eine Parallelstelle in der Psychologia empirica „Ens istud, quod in nobis sibi sui & aliarum rerum extra nos conscium est, Anima dicitur." -

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S e e l e in diesem Falle durch das Bewußtsein bestimmt wird, der Seelenbegriff, w i e er dann in der rationalen Seelenlehre benutzt wird, aber mehr umfaßt als bloß das Bewußtsein, nämlich u.a. auch den Geist. 4 6 D i e in § 192 enthaltene Seelendefinition und die im f o l g e n d e n Paragraphen nachgeschobene Erklärung sind n o c h unter d e m wichtigen Aspekt in Erwägung zu ziehen, daß sie sich kritisch g e g e n das Seelenverständnis ,der Cartesianer' richten. D a ß das, w a s ohne rationales W i s s e n v o n der S e e l e an ihr wahrgenommen wird, den Seelenbegriff nicht erschöpft, insofern es nur Bewußtseinszustände beschreibt und damit die Seele nur als Objekt unserer Wahrnehmung erfaßt, beinhaltet eine Kritik an der Indentifizierung der cartesischen cogitationes

mit der Seele schlecht-

hin. D i e s e Kritik ist nicht s o neu, w i e es den A n s c h e i n haben mag. W o l f f hätte sich an dieser Stelle gut und gerne auf Leibniz berufen können oder vielleicht sogar müssen. D e n n genau dieser Vorwurf einer unzulässigen Verengung des Seelenbegriffs, die zu falschen Konsequenzen führte, bildete die Speerspitze bei seinen Angriffen auf die cartesianische Psychologie. D i e Identifizierung der Seele mit d e m B e w u ß t s e i n hatte bei Descartes (nach Leibniz) dazu geführt, alle animalischen Lebensfunktionen auf mechanische Prinzipien zurückzufuhren und lebende Tierkörper w i e künstliche Maschinen zu betrachten. 47 D i e s e Vorstellung war unvereinbar mit der dynamischen Naturlehre v o n Leibniz, insbesondere mit seiner Theorie des lebendigen Organismus. 4 8

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geneigt sein, die Verwendung der unpassenden Präposition „durch" auf die nicht ausgereifte deutsche Sprache und Wolffs Verwendung derselben zurückzufuhren (siehe Wolff, Christian, Psychologia empirica, in: ders, Gesammelte Werke, [wie Anm. 1], Abt. II, Bd. 5 [1968], § 20. Unter inhaltlichem Gesichtspunkt kann das „durch" aber insofern seine Berechtigung haben, als es ein Bedingungsverhältnis zum Ausdruck bringt. Nicht die Seele als Wesen (oder Ding) soll hier nämlich, wie Wolff in § 193 explizit sagt, definiert und betrachtet werden, sondern der Erfahrungsbegriff von der Seele, d. i. das empirische Bewußtsein. Da aber die Wahrnehmung der Seele ohne ihren Begriff, „durch" den sie wahrgenommen wird, nicht möglich ist, so sind auch die Bestimmungen, die zu ihrer Erscheinung gehören, bestimmt nur „durch" die Seele als wirkendes (tätiges) Wesen oder Seelen-Ding. Dieser Zusammenhang wird noch deutlicher in § 197 zur Sprache gebracht (s. u.). Wolff verwendet also das „durch" mit der Absicht, dem in § 193 benannten Mißverständnis, als gehe es ihm an dieser Stelle darum, das Wesen der Seele zu bestimmen, vorzubeugen. Siehe Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), § 193. Siehe dazu: Sutter, Alex, Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes, Leibniz, LaMettrie und Kant. Frankfurt/M. 1988, S. 4Iff. Zu Leibniz vgl. unter anderem Leibniz, Gottfried Wilhelm, Eclaircissement du nouveau systeme de la communication des substances, pour servir de reponse à ce qui en est dit dans le Journal du 12 Septembre 1695, § 2, in: ders., Die philosophischen Schriften, hg. v. C. I. Gerhardt. 7 Bde. Berlin 1875-1890, Bd. 4 (1880), S. 493-500, hier S. 494; zu Descartes siehe ders., Principia, (wie Anm. 7), II, § 64; IV, § 186, § 203. In seiner Autobiographie beschreibt Wolff, wie er erst mit Erscheinen der Théodicée (1710) näher mit der Leibnizschen Philosophie vertraut geworden sei, zu einem Zeitpunkt also, als sich die Ausarbeitung der Deutschen Metaphysik bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befand. Er habe lediglich in die Ontologie, die Kosmologie und die rationale Psychologie einige Leibnizsche Termini aufgenommen und in sein System integriert. (Die empirische Psychologie erwähnt er hier also nicht - vgl. Wolff, Christian, Eigene Lebensbeschreibung, hg. v. Heinrich Wuttke, in: ders., Gesammelte

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Nach Wolff fallt also der Begriff der Seele nicht zusammen mit dem, was Bewußtsein genannt wird; bzw.: die Formel, die Gegenstand der Untersuchung im dritten Kapitel ist („daß wir uns unserer und anderer Dinge als ausser uns bewust sind") beinhaltet nicht das Wesen der Seele (§ 193); vielmehr - so lautet die Gegenbehauptung - gibt es in der Seele auch etwas, dessen wir uns nicht (unmittelbar) bewußt sind, das also über das einfache Bewußtsein hinausgeht. Der Begriff der Seele enthält nämlich auch Bestimmungen, die erst „durch Schlüsse" aus Bewußtseinsinhalten erkannt werden können und damit nicht direkt erfahrbar sind. Die Schlüsse bilden gewissermaßen einen Überschuß gegenüber dem Bewußtsein. An diese Festlegung knüpft sich für Wolff ein Problem, das in § 344 sichtbar wird. Dabei bleibt aber auch die Erfahrung im oben angeführten Sinne Grundlage fur solche Schlüsse. Das Erfahrungsbewußtsein ist also durch die Ratio begrenzt. Innerhalb der Deutschen Metaphysik verläuft diese Grenze durch die Paragraphen 340 bis 344. Durch die rationale Begrenzung wird der Erfahrung ihr systematischer Ort innerhalb der Metaphysik zugewiesen. Wolffs Kritik trifft die Position Descartes' an einer entscheidenden Schwachstelle. Descartes hatte zwar die res cogitans als Substanz und damit weder als von empirischer Natur noch als veränderlich bestimmt; aber er hatte es unterlassen, die Bewußtseinsakte als solche (als tragendes Medium der „Meditationen") von der Seele bzw. dem Geist systematisch zu unterscheiden; damit war der Eindruck erweckt worden, die Bestimmungen der Seele hätten die gleiche Extension wie diejenigen des Bewußtseins (des Denkens) und würden sich also darin erschöpfen. 49 „Denken", d.h. das Haben von „Gedanken" wird von Wolff in § 194 (unter Berufung auf § 45) mit unserem Bewußtsein „vieler Dinge als ausser uns" identifiziert,50 wobei Gedanken als „Veränderungen der Seele" zu verstehen sind, deren sich die Seele bewußt ist. Gedanken sind zwar das erste, das wir von der Seele wahrnehmen, aber nicht ihre einzigen Wirkungen. Das Bewußtsein „vieler Dinge

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Werke, [wie Anm. 1], Abt. I, Bd. 10 [1980], S. 140-142). Nun ist gegenüber dieser Selbstdarstellung Wolffs allerdings daraufhinzuweisen, daß es gerade Hauptmomente der Leibnizschen Philosophie sind, die in der rationalen Psychologie Wolffs eine zentrale und entscheidende Stelle einnehmen, vor allem der Gedanke der prästabilierten Harmonie. Denn darauf stützt Wolff, Leibniz darin folgend, einerseits seine Widerlegung konkurrierender Versuche zur Erklärung der Leib-Seele-Gemeinschaft; andererseits hängt seine eigene Behandlung des freien Willens und der freien Selbstbetätigung der Seele entscheidend von dieser Voraussetzung ab. Für andere Begriffe, die Wolff von Leibniz entlehnt, mag allerdings das gelten, was HansJürgen Engfer mit Bezug auf den Monadenbegriff festgestellt hat, daß sich nämlich hinter „scheinbar buchstäblichen Parallelen" „fundamentale Differenzen in der Sache" verbergen (Engfer, [wie Anm. 1], S. 197f.). Leidenschaften, Empfindungen u.a. gehören nicht zur Seele als Substanz, denn sie stehen nicht allein unter dem Attribut des Denkens (vgl. Descartes, Principia, [wie Anm. 7], 1, § 48; IV, §§ 196-198). Entsprechend Wolff, Christian, Psychologia empirica, (wie Anm. 45), § 23: „Cogitatio igitur est actus animae, quo sibi sui rerumque aliarum extra se conscia est." Damit widerspricht Wolff Descartes, für den das cogito j a gerade durch die Negation aller Dinge außer uns entstand (vgl. Descartes, Principia, [wie Anm. 7], I, § 9).

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als ausser uns" setzt erstens die Erkenntnis des Unterschiedes von „uns" voraus und zweitens ihres Unterschiedenseins voneinander, ihr „ausser einander". Das Außereinander bedeutet zum einen die logische Negation, die darin besteht, daß „eines das andere nicht ist"; zum anderen hat es die Bedeutung einer räumlichen Ordnung der äußeren Dinge (§§ 45, 46). Die beiden Relationen - d. i. des außer uns und des außereinander - bestimmen zugleich das Verhältnis von empirischer und rationaler Psychologie. Die erste liefert das Fundament des Erkennens des Wesens der Seele, die zweite gibt den Bestimmungsgrund der Akte der empirischen Selbsterfahrung des Bewußtseins. Eine zentrale Bedeutung für die Psychologie und Metaphysik Wolffs kommt dem Inhalt von § 197 (in Verbindung mit § 196 und Deutsche Logik, 1. Kap., §§ 9 und 13) zu. Dieser Paragraph soll die Frage beantworten, „woraus wir erkennen, daß etwas in uns sey", in Analogie zu der schon in § 45 beantworteten Frage, woher wir wissen, daß etwas außer uns sei. Dazu genügt als erste Voraussetzung, daß wir überhaupt Gedanken bzw. irgendeinen Gedanken haben. Dann soll allein nach dem „Grund des Widerspruchs" folgen, „daß ich der ich mir eines Dinges bewust bin, nicht dasjenige Ding bin, dessen ich mir bewust bin." M. a. W.: Das Widerspruchsprinzip zeigt, daß ich nicht-identisch bin mit dem Ding, das ich denke bzw. das Inhalt meines Gedankens ist. Daraus folgt zunächst (immer noch mit Bezug auf § 197),51 daß ich, indem ich nicht-identisch mit dem Objekt meines Denkens bin, bloß Bewußtsein bin, d.h. nur Gedanken habe. Was zu meinem Denken gehört, das ist „in mir", allerdings nur als solches, das in sich different ist. In § 197 wird, anknüpfend an § 45, aber eigentlich untersucht, in welcher Weise sich das Denken auf Dinge „außer uns" und auf Dinge „in uns" zugleich bezieht. Der Klärung dieser Hauptfrage dient die Beantwortung der speziellen Frage, was es heißt, daß Dinge „in uns" sind, im Unterschied zu denen „außer uns". Zunächst scheint es mir evident, daß beide Formen unserer Beziehung auf Gegenstände nicht nur voneinander, sondern auch je in sich unterschieden sein müssen; denn beide sind Verhältnisse ein und desselben Bewußtseins, das Bewußtsein aber ist wesentlich selbst ein Unterscheiden; beide sind - wie § 196 zeigt - unterschiedliche „Gedanken"; Gedanken werden also in der Hinsicht voneinander unterschieden, daß sie inhaltlich nach dem Verhältnis des „außer uns" oder des „in uns" klassifiziert werden können. Sich eines Dinges „außer uns bewußt" zu werden, heißt demzufolge nicht nur, es von uns als Bewußtseinsträger zu unterscheiden, sondern auch von den einzelnen seelischen Bestimmungen. Das an dieser Beziehung äußerer Dinge auf unser Bewußtsein Gedachte ist aber auch wiederum in der Hinsicht in uns, daß das Unterscheidenkönnen überhaupt eine Leistung des Denkens oder des Bewußtseins als des unsrigen ist. Das „in uns" und das „außer uns" sind deshalb beide untrennbar voneinander. Das „außer uns" ist die Bestimmung an einem Ding, durch die wir es von uns unterscheiden können müssen, um es als solches zu 51

Wolff, Deutsche Metaphysik,

(wie Aran. 3), S. 110.

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erkennen. Aber in diesem Unterscheiden erkennen wir zugleich, daß es auch die Bestimmung hat, „in uns" zu sein, d.h. wir erkennen es zugleich als ein Etwas in uns, durch das wir es als außer uns erkennen. Das „in uns" ist insofern Bedingung der Erkenntnis äußerer Gegenstände, das „außer uns" Bedingung der Erkenntnis unserer selbst. Das ist nur möglich, wenn es nicht nur ein Unterscheiden (ein Verhältnis der Nichtidentität) des „in uns" und des „außer uns" gibt, sondern auch nur dann, wenn das Bewußtsein zugleich dasjenige ist, auf das sich beide als miteinander identisch beziehen. Nach dem angegebenen Abstraktionsschema „setzen" wir somit erstens etwas „in uns", insofern wir es als dasjenige ansehen, „daraus wir es erkennen" (d.h., insofern wir selbst den Grund des Erkennens dieses Gegenstandes in uns haben). Wir „setzen" zweitens dasjenige „außer uns" (d.h. „in ein Ding"), „daraus wir uns erkennen." Das „Setzen" von Bewußtseinsinhalten „in ein Ding" (d.h. „außer uns") kommt dem Erkennen und Bestimmen dieses Dinges gleich. Durch das Bestimmen wird es von anderen Dingen und von uns selbst unterschieden: „Und hat also überhaupt keinen andern Verstand, wenn ich sage, es sey etwas in einem Dinge, als diesen, daß ich daraus das Ding erkenne und von anderen unterscheide".52 Auf diese zweifache Weise wird also die weiter oben zitierte Frage - „woraus wir erkennen, daß etwas in uns ist" - beantwortet. Erst das bestimmte Unterschiedensein dieser Dinge von uns bedeutet, daß wir sie „ausser uns" setzen.53 Entsprechend setzen wir sie in ein Verhältnis des „ausser einander" durch die Erkenntnis, daß sie voneinander unterschieden sind. Aus diesen Handlungen des Bewußtseins folgt, daß wir klare Begriffe von Gegenständen haben.54 Beide Verhältnisse scheinen also auch noch in sich different zu sein, obwohl dies aus Wolffs Text nur implizit folgt: „In uns", d.h. in unserem Bewußtsein, insofern es unterscheidet, ist ein Ding nämlich insofern, als wir dadurch etwas von sich unterscheiden und es mit sich identisch setzen. So ist „in uns" die Seele (als unser Gedanke) gesetzt, d.h. als ein Ding, durch das wir sie erkennen; oder nach einem von Wolff gegebenen Beispiel: die allgemeine Form eines Dreiecks ist dasjenige „in uns", durch das wir ein (beliebiges) Dreieck als Dreieck erkennen. Wir erkennen also ein bestimmtes Etwas (ein „Ding" außer uns) nur dadurch, daß wir es in zweifacher Weise als different setzen: einmal als von anderen Dingen außer uns (im Falle des Dreiecks von anderen geometrischen Figuren) unterschieden („außereinander", räumliche Verschiedenheit), zum anderen als von uns und damit auch von sich selbst als Form unterschieden. Das Formmoment ist der Gedanke in uns. An eine unabhängig vom Bewußtsein empirisch gegebene Außen52 53

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Ebd. § 45 der Deutschen Metaphysik verdeutlicht den Unterschied zwischen bloßem und „setzendem" Bewußtsein. Die Selbstbeobachtung hat ein zufälliges Resultat: „wir finden, daß wir uns vieler Dinge als ausser uns bewußt sind." (ebd.). Ebd., §§ 198-202, 206-208; ders., Deutsche Logik, (wie Anm. 4), Kap. I, §§ 9, 13.

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welt denkt Wolff hierbei offenbar nicht. Dieses Problem taucht erst auf mit der substantiellen Trennung bzw. dem „Fürsichsein" von Körper und Seele. Deshalb kann die an das Bewußtsein gebundene Entfaltung der Unterscheidungsformen als Hinweis auf einen tendenziellen Idealismus in Wolffs Metaphysik aufgefaßt werden. Es folgt allerdings auch aus diesen Betrachtungen, daß dieses Ich oder das Erkennende sich selbst auf empirischem Wege nicht erkennen kann. Wolff nimmt das Ergebnis seiner Analyse der Struktur des Bewußtseins in den Paragraphen 196 und 197 als objektiven Grund des Irrtums oder Fehlschlusses „der Cartesianer", das ganze Wesen der Seele auf das Bewußtsein zu reduzieren und die Annahme zu verwerfen, die Seele enthalte noch andere Bestimmungen als die des Bewußtseins. Diese Kritik steht im Zusammenhang mit dem (auch gegen Descartes selbst gerichteten) Idealismus-Vorwurf in dem schwer zu interpretierenden Paragraphen 777, auf den ich weiter unten noch zu sprechen komme.55 Wenngleich Wolffs Kritik an Descartes nicht frei von Mißverständnissen ist (besonders in § 777), so hat er doch deutlich die Differenz zwischen seiner Metaphysik der Seele und Descartes' Bestimmung der res cogitans erkannt. Diese Differenz wird u.a. in der dritten Meditation Descartes' sichtbar: Diese hat zwar das Dasein Gottes und den Beweis dafür aus der (angeborenen) Idee zum eigentlichen Thema und argumentativen Ziel. Es finden aber zu diesem Zweck auch längere Erörterungen zur Art der Vorstellungen des Bewußtseins (des Denkens)56 statt. Alle Arten von Vorstellungen sind zunächst „in mir" als denkendem Wesen; d.h. insofern ich Operationen durchführe, die nach Descartes insgesamt zum Denken gehören, also auch Einbildung und Empfindung,57 habe ich solche Vorstellungen.58 Das Haben beliebiger Vorstellungen gehört zu den Akten des Denkens, die mir insgesamt angehören. Insbesondere gilt: Die (sinnlich wahrnehmbaren) äußeren Dinge sind, insofern sie Vorstellungen sind, oder es ein Bewußtsein solcher Dinge gibt, Vorstellungen „in mir", bloße Bewußtseinsbestimmungen,59 und zwar unabhängig von der Entscheidung der Frage, ob ihnen auch außer mir Realität zukommt. Daß es solche Dinge in der Vorstellung gibt, kann nicht schon zugleich bedeuten, daß es Dinge „außer mir" gebe, von denen jene Vorstellungen ihren

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Entsprechend kritisiert Wolff bei der Betrachtung des „Außereinander" der Dinge außer uns die Gleichsetzung des Körpers mit dem Raum bei Descartes (Wolff, Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik, [wie Anm. 12], § 20, S. 50). Eine der wenigen Stellen, an denen Descartes die cogitatio mit dem Begriff des Bewußtseins (conscientia) in Verbindung bringt, ist: Descartes, Principia, (wie Anm. 7), I, § 9. Descartes, Meditationes, (wie Anm. 29), III, § 1. Entsprechend heißt es in den Principia, (wie Anm. 7), Pars Prima, IX: „Cogitationis nomine, intelligo ilia omnia, quae nobis consciis in nobis fiunt, quatenùs eorum in nobis conscientia est. Atque ita non modo intelligere, velie, imaginari, sed etiam sentire, idem est hîc quod cogitare." Vgl. Meditationes, (wie Anm. 29), Secundae Responsiones, Rationes Dei existentiam & animae a corpore distinctionem probantes more geometrico dispositae, Definitiones, I, S. 160. Descartes, Meditationes, (wie Anm. 29), III, § 3.

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Ursprung nähmen und denen sie ganz ähnlich wären.60 D.h. ein bestimmter Unterschied zwischen „in mir" und „außer mir" wird hier nicht vorgenommen. Was bei Descartes Bewußtsein genannt werden könnte - das ich denke - hat nur sich selbst zum Gegenstand und zu seiner Bestimmung. Alles Andere, das gedacht wird, ist - je nach der Perspektive der Betrachtung - nur zufallig sein Inhalt. Für sich genommen ist das Ich denke leer. Wenn Descartes gelegentlich die Dinge „außer mir", sofern sie gedacht werden, in den Begriff des Bewußtseins (conscientia) aufnimmt,61 dann macht dies keine wesentliche Bestimmung desselben aus.62 Es enthält dann zwar neben vielen anderen auch eine Vorstellung des „außer mir", aber nicht als eine solche, die aus einem bestimmten Unterscheiden von dem, was „in mir" ist, resultiert.63 Wolffs Auslegung der cartesianischen Seelenlehre kann sich auf die bis dahin erreichte Bestimmung des Ich denke stützen. Aber dieser Stand der Betrachtung innerhalb der Meditationen ist nicht der abschließende, sondern eine notwendige Vorbereitung des Nachweises der Existenz eines vom Ich getrennten Körpers und der übrigen Körperwelt. Dadurch, daß in der dritten und in der fünften Meditation der anfangliche Zweifel an der Wahrhaftigkeit Gottes ausgeräumt wird, ist auch die sinnliche Wahrnehmung als passives Vermögen nicht mehr prinzipiell der Täuschung ausgesetzt, sondern es muß wenigstens etwas an ihr geben, das klar und deutlich erkannt werden kann. Nicht durch die Struktur des Bewußtseins und seiner Fähigkeit des bestimmten Unterscheidens, sondern durch Gott, der die Dinge getrennt hat, wird bei Descartes der Seele in letzter Konsequenz die Gewißheit vermittelt, daß ein klar und deutlich erkanntes Ding von einem anderen unterschieden ist.64 Für die Erkenntnisleistung des Denkens genügt es nach Descartes, klar 60 61 62 63

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Ebd. III, § 8. Descartes, Principia, (wie Anm. 7), I, § 9. Vgl. auch Descartes, Meditationes, (wie Anm. 29), III, §§ 3, 8, 13. Diese Untersuchung fuhrt schließlich zu der Einsicht, daß nur fiir die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung der Eindruck entsteht, die Vorstellungen (Abbilder) würden von von mir unterschiedenen Dingen mittels der Sinnesorgane erworben (Dritte Meditation, §§ 11-13). Diese Vorstellung ist sogar ihrem Gegenstand am unähnlichsten. Die sinnliche Wahrnehmung vermittelt also bloß einen Schein von äußerer Wirklichkeit. Der andere Erkenntnisweg über die Vernunft und die angeborenen Ideen ist besser geeignet zu prüfen, ob die Dinge, deren Vorstellungen „in mir" sind, „außer mir" existieren (§ 13). Diese Vorstellungen sind aber ununterschieden, sofern sie nur Bestimmungen des Bewußtseins sind; sie gehen dann unterschiedslos von mir aus, weil sie insgesamt Akte meines Denkens sind. Sie sind aber verschieden voneinander, sofern sie verschiedene Dinge vorstellen. Die Bemerkung Descartes' über die „Natur der Vorstellung" (§ 14) ist hier wesentlich; sie fordere keinen anderen Sachverhalt als den, der ihr durch mein Bewußtsein verliehen wird; aber die bestimmte Bedeutung, die die Vorstellung besitzt, verdankt sie einer Ursache, die nicht weniger Sachgehalt als sie in ihrer Bedeutung besitzt. § 17 stellt als Arten meiner Vorstellungen fest: 1) die, die durch „mein eigenes Ich" vergegenwärtigt werden; 2) die, die mir Gott; 3) die, die mir körperliche und unbeseelte Dinge vergegenwärtigen. Einige Vorstellungen, die ihre Ursachen außer mir zu haben scheinen, lassen sich aus denen zusammensetzen, die ich von mir, von körperlichen Dingen und von Gott habe, auch wenn es jene Ursachen in der Welt nicht gäbe. Descartes, Meditationes,

(wie Anm. 29), VI, § 9.

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und deutlich zu wissen, daß das Ich als denkendes Wesen existiert, um sich von anderen Dingen unterschieden zu wissen. Es muß nicht auch noch zugleich die klare und deutliche Erkenntnis dieses von ihm unterschiedenen Anderen haben, sondern die unmittelbare Erkenntnis, die dem reflexiven Wissen immer vorangehe und die den Menschen angeboren sei, reiche für die Vergewisserung der eigenen denkenden Existenz aus. 65 Schon an diesen Überlegungen kann man meines Erachtens erkennen, daß Descartes nicht wie Wolff über einen Begriff von Bewußtsein als Einheit des Unterschieds und des Zusammenhangs des Bewußtseins meiner selbst und der Dinge außer mir verfugt. Als „Bewußtsein" (cogitatio) bezeichnet Descartes vielmehr „alles das, was so in uns ist, daß wir uns seiner unmittelbar bewußt werden." 66 Wolff würde nicht schon dasjenige Bewußtsein nennen, das bloß von Gleichartigem bestimmt ist und von dem, was „außer mir" ist, abstrahiert. In dieser Hinsicht hat er die abstrakte cartesische Bestimmung des „Ich denke" in die konkrete Bestimmung des Bewußtseins transformiert. Die Seele als das sich selbst erfahrende Bewußtsein wird in Wolffs empirischer Psychologie als bestimmte Differenz des „in uns" und des „außer uns", die Momente ein und desselben Bewußtseins sind, konzipiert. Demgegenüber werden bei Descartes das Ich denke und das Gedachte unmittelbar in Eins gesetzt. 2.2. Das Wesen der Seele (§§ 727-732) Das fünfte Kapitel der Deutschen Metaphysik, fur das dem Leser die Behandlung des Wesens der Seele versprochen worden war, beginnt mit einer erneuten, längeren Erörterung des Bewußtseins. Im ersten Paragraphen stellt Wolff den Bezug zum Anfang des dritten Kapitels (§ 191) wie folgt her: er habe dort von der Seele gehandelt, insofern „wir" ihre Wirkungen wahrnehmen und von diesen Wirkungen auch einen „deutlichen Begriff' 6 7 erlangen. In der Tat war in § 191 als Ziel der Untersuchung des dritten Kapitels formuliert worden, anzugeben, „was wir durch die tägliche Erfahrung" von der Seele wahrnehmen, d.h. anzuführen, „was ein jeder erkennen kann, der auf sich acht hat." Darüber hinaus aber gehörte zu den Aufgaben des Kapitels, auf der Grundlage dieser Wahrnehmungen „deutliche Begriffe", d.h. solche, die auf bestimmte Weise voneinander unterschieden sind, zu suchen und eine Wahrheit daraus herzuleiten. Im Unterschied zu Kapitel III soll ab § 727 nun untersucht werden, „worinnen das Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt bestehe, und wie darinnen dasjenige gegründet ist, was wir von ihr wahrnehmen". Das Auffinden des Wesens der

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Ebd., Sextae Responsiones, 1, S. 422. „[...] illud omne quod sic in nobis est, ut ejus immediate conseil simus" (ebd., Secundae Responsiones, Rationes, [wie Anm. 58], Definitiones, I, S. 160). Über den Unterschied und Zusammenhang von Klarheit und Deutlichkeit der Gedanken vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), §§ 206-212.

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Seele bedeutet also zugleich das Begründen der Wahrnehmungen, die jedermann von seiner Seele machen kann. Das Begründen aber ist Aufgabe der wissenschaftlichen Psychologie des Philosophen. Ein zweiter Rückbezug auf die empirische Psychologie wird im zweiten Paragraphen von Kapitel 5 (§ 728) vorgenommen, und zwar in diesem Falle an den Anfang der Metaphysik (§ 1). Er trägt den Charakter einer Erinnerung für den Leser, die zusätzlich mit Beispielen erläutert wird. Es geht hier darum, das Bewußtsein „unserer und anderer Dinge ausser uns", das das Wissen von der eigenen Vorstellung vieler Dinge außer uns und des bestimmten Unterschiedes dieser Vielen voneinander betrifft, zu illustrieren (und zwar mit Hilfe des Unterschiedes zwischen dem eigenen Spiegelbild und dem Spiegel, in dem das Bild erscheint, und dem darin sich wahrnehmenden Subjekt) und zu erklären. Alle drei Momente des Bewußtseins, die in § 1 benannt wurden, sind in diesem Beispiel empirisch vorhanden. Die erste Voraussetzung für die Bildung und Begründung von Bewußtsein ist das bewußte Unterscheiden der Dinge voneinander (gleichzeitig oder nacheinander) (§ 729). Gegenüber dem in § 1 und in § 197 konzipierten empirischen Bewußtsein wird hier das Wissen oder das Bewußtsein darüber, daß das Unterscheiden äußerer Dinge voneinander Inhalt der eigenen Vorstellung oder des Bewußtseins ist und nicht bloß ein Wahrnehmen unterschiedlicher Teile, herausgehoben. Das Unterscheiden in § 197 war noch nicht ein solches positives Wissen bestimmter Unterschiede, sondern das Erkennen der Ich-Identität aus der abstrakten Nichtidentität des Ich und des Dinges, dessen es sich bewußt ist. In den Paragraphen 728 und 729 wird das äußere Unterscheiden der Dinge voneinander zu einer Konstitutionsbedingung von Bewußtsein erklärt: „Wenn wir den Unterscheid der Dinge nicht bemercken, die uns zugegen sind; so sind wir uns dessen nicht bewust, was in unsere Sinnen fället." 68 Ein solches Bestimmen müßte eigentlich ein begriffliches Unterscheiden sein. Denn es genügt nicht, den bestimmten Unterschied, dessen ich mir bewußt sein soll, wie Wolff als bloß empirischen Wahrnehmungsunterschied zu fassen, sondern es bedarf eines bestimmten Begriffs, der besagt, wozu ein bestimmter Gegenstand da ist. Ohne ein solches Unterscheiden können wir streng genommen nicht einmal Bewußtsein von etwas haben, das wir sinnlich wahrnehmen. Das Ergebnis von § 729 wird im folgenden Paragraphen auf das Bewußtsein unserer selbst übertragen: wir sind uns unserer selbst erst bewußt, „wenn wir den Unterschied unserer und der anderen Dinge bemercken, deren wir uns bewust sind." Damit wird das zweite, auf das erste aufbauende und mit ihm eng verbundene Merkmal genannt: das Unterscheiden unserer selbst von den voneinander unterschiedenen Dingen außer uns (d. i. von dem Bewußtsein der anderen Dinge) als einer eigenen Tätigkeit des Bewußtseins. Erst diese beiden Akte zusammengenommen konstituieren das Bewußtsein unserer selbst (oder das Selbstbewußtsein). 68

Ebd., S. 455.

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Mit dem ersten Akt des Unterscheidens tritt unmittelbar auch der zweite ein: „Dieser Unterscheid [d. i. „unserer und der anderen Dinge", WE] aber zeiget sich so gleich, so bald wir uns der anderen Dinge bewust sind", und zwar tritt er ein, weil er Grund des Unterscheidens erster Stufe ist: ich kann mir der Dinge „außer" mir als außereinander seiender nur bewußt werden, insofern ich sie von mir unterscheide. Das Bewußtsein meiner selbst ist also Voraussetzung des Bewußtseins von jeder sinnlichen Wahrnehmung. Denn das Bewußtsein der letzteren kommt nur durch das Unterscheiden der Dinge voneinander zustande. Unterscheiden aber ist selbst ein Akt des Bewußtseins bzw. eine Wirkung der Seele. Daraus folgt, daß wir dadurch den Unterschied der Seele von den Dingen, die sie vorstellt und unterscheidet, erkennen. „Und demnach sind wir uns auch unserer bewust." Umgekehrt hängt aber das Bewußtsein unserer selbst vom bestimmten Unterscheiden äußerer Dinge ab. Mit diesem Ergebnis nun - so behauptet Wolff in § 730 - stimme die Erfahrung überein. Er kann dies ohne Schwierigkeit behaupten, weil ja „Erfahrung" hier nichts anderes bedeuten kann als den Inbegriff der Wirkungen der Seele. 69 Da das Unterscheiden aber zu diesen Wirkungen gehört, ist Erfahrung eo ipso konstitutiv für das Bewußtsein meiner selbst; somit lautet Wolffs Begründung für die behauptete Übereinstimmung der Erfahrung mit der Begründung des Selbstbewußtseins: wenn wir nicht an die Wirkungen der Seele denken, so sind wir uns auch unserer nicht bewußt. Dennoch können wir auch beim Ausfallen des Unterscheidens obwohl wir auf diese Weise kein Bewußtsein haben - „Gedanken" haben, obzwar nur „dunkle" (§ 731). Das Bewußtsein verschwindet nämlich mit der (graduellen) Zunahme der Dunkelheit unserer Gedanken. Demgegenüber sind für die Entstehung des Bewußtseins „klare" und „deutliche" Gedanken erforderlich (§ 732). Wolffs empirische und rationale Psychologie bilden die systematische Grundidee seiner Metaphysik, die die einzelnen Teile derselben zusammenhält und deren Grundlage und Begründung enthält. 70 Alle Teile bauen auf der empirischen Psychologie auf, gehen als Resultate mittelbar aus ihr hervor, insofern ihre Begriffe durch Akte des Bewußtseins hergeleitet werden. D.h. sie werden analytisch aus empirischen Inhalten und Handlungen des Bewußtseins gewonnen. Dies trifft selbst noch für die logischen Schlüsse zu, obwohl sie selbst unmittelbar nicht erfahren werden können. Umgekehrt bilden die aus der Seele und ihren wahrgenommenen Wirkungen entwickelten Begriffe die Voraussetzungen und Bestimmungen a priori dieses analytischen Erkenntnisganges. So ist der Begriff der Welt j a auch Voraussetzung für die Erfahrung des Bewußtseins. Der begriffliche Grund

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Ebd., § 326. Siehe etwa den ersten Paragraphen der Kosmologie (Kap. 4 der Deutschen

Metaphysik).

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hat allerdings systematischen Vorrang vor dem empirischen, der allein „Probierstein" des Wesens der Seele ist.71 2.3. Erkennendes Bewußtsein und Kraft Die Handlung des Unterscheidens, die für das Bewußtsein konstitutiv ist, wird mit bezug auf die Dinge außer uns von Wolff nun konkreter bestimmt (§§ 733-740). Das Unterscheiden besteht in einem äußeren Vergleichen zweier Dinge und deren Eigenschaften und der Wahrnehmung ihrer Verschiedenheit durch den Vergleich. Diese Operation, die notwendig zum Bewußtsein gehört, nennt Wolff „Überdenken". Dieses hat zur weiteren Voraussetzung das Gedächtnis. Denn für den Vergleich ist das Festhalten der zu vergleichenden Gedanken erforderlich (§ 734). Erst auf dieser Grundlage - so stellt Wolff in § 735 fest - vermögen wir den Vorgang des Bewußtseins dessen, was wir denken bzw. die Frage, „warum unsere Gedancken ein Bewustseyn mit sich bringen", zu begreifen, nämlich: ein Gedanke wird auf bestimmte Dauer fixiert, um ihn dadurch „gleichsam von sich selbst durch die Theile der Zeit" zu unterscheiden und festzustellen, „daß er noch derselbe ist" (§ 735). Zum Bewußtsein gehört also auch Zeit, denn jeder Gedanke muß sich, um als derselbe Gedanke mit sich identisch zu sein, in der Kontinuität zeitlicher Veränderung vollziehen (§ 735). In dem Zusammenhang wird die Vorstellung kritisiert, daß Körper und Maschinen denken könnten, weil sich in ihnen eine flüssige Materie bewege (§§ 737740). Das Gegenargument Wolffs besagt, daß allein die Seele die Fähigkeit besitze, sich etwas Gedachtes „außer sich" zu denken, weil sie es als „von sich unterschieden erkennet" (§ 740). „Durch die Bewegung aber der Maschine kann nicht erhalten werden, daß sie diejenige Sache, die in ihr vorgestellet wird, gegen sich hält, und den Unterschied von sich zugleich vorstellet" (ebd.).72 Die weiteren Bestimmungen, die das Wesen der Seele ausmachen, sind in aller Kürze zu benennen: die Einfachheit (§ 742), das Fürsichbestehen (§ 743), die Kraft (§§ 774—775), die im dritten Kapitel aus der Erfahrung bestimmt wurde. Diese drei Grundbestimmungen eines Dinges im metaphysischen Sinne sind bei Wolff eng aufeinander bezogen. Ein für sich bestehendes Ding (d.h. eine Substanz) wird - in einer an die Leibnizsche Bestimmung der Substanz als eines spontan handelnden Subjekts 73 erinnernden Weise - dadurch definiert, daß es „die 71 72 73

Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), § 727. Vgl. Descartes, Discours, (wie Anm. 9), V, § 10. Vgl. Euler, Werner, Substanz, Organismus, Leben. Das „Neue" im „Neuen System der Natur" von Leibniz, in: Poser, Hans (Hg.): Nihil sine ratione. Mensch, Natur und Technik im Wirken von G.W. Leibniz. Berlin 2001. Vorträge 1. Teil, S. 370-377; Hauser, Christian, Selbstbewußtsein und personale Identität. Positionen und Aporien ihrer vorkantischen Geschichte. Locke, Leibniz, Hume und Tetens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung [FMDA] II, 7), S. 68-71; Schneider, Martin, Denken und Handeln der Monade. Leibniz' Begründung der Subjektivität, in: Studia Leibnitiana 30.1 (1998),

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Quelle seiner Veränderung in sich hat". 74 Für Dinge, die durch andere bestehen, gilt dies nicht. Die „Quelle" ist nichts anderes als die Kraft (§ 115). Etwas für sich Bestehendes ist zugleich einfach (unteilbar) (§ 127); aber es verändert aus sich heraus dennoch seinen Zustand, und zwar graduell durch Abwechslung seiner Einschränkungen, denn: „Alle Veränderungen, die sich in einem Dinge ereignen können, sind Abwechslungen seiner Schrancken" (oder „Grade") (§§ 106-108). Die Kraft bildet den Grund solcher Veränderungen, d.h. die Bedingung der Verwirklichung (der Tätigkeit) des für sich bestehenden Dinges. 75 In bezug auf die Seele gibt es nur eine Kraft, nicht viele einander entgegenstrebende. Die Kräfte unterscheiden sich durch Namen aufgrund ihrer Wirkungsunterschiede (Empfindung, Einbildung, deutliche Begriffe, Vernunftschlüsse, Begierden, Wollen usw. [§ 747]). Die besondere Kraft ist durch ihre spezifischen Veränderungen, die sie bewirkt, zu erkennen. Durch die Sinne wird „das zusammengesetzte im einfachen" vorgestellt. Empfindungen sind „Vorstellungen des zusammengesetzten im einfachen" (§ 749). Ein Gedanke entsteht aber erst dadurch, daß wir uns solcher Vorstellungen bewußt werden. Durch das Bewußtsein unserer selbst aber „stellen wir uns die Sachen als ausser uns vor" (§ 752). Der Hauptgegenstand der Untersuchung im fünften Kapitel besteht laut § 754 in der Frage, wie von der Einheit der vorstellenden Kraft der Seele, die je nach der Stellung ihres Körpers zu anderen Körpern einen Teil der Welt vorstellt (§ 753), alle an ihr wahrnehmbaren Veränderungen hervorgehen, d.h. alle diejenigen Veränderungen, die im dritten Kapitel betrachtet wurden (§ 754). Die Kraft der Seele, als Grund - oder genauer: als Erkenntnisgrund - aller Veränderungen in ihr, macht ihr Wesen aus (§ 755). Sie ist nach Wolff das Erste, das von ihr gedacht werden kann. Sie zu erkennen, setzt ein Bewußtsein voraus, das begrifflich weiter entwickelt sein muß als das Erfahrungsbewußtsein im ersten oder im dritten Kapitel. Diese Kraft ist aber nicht nur das Wesen, sondern auch die Natur der Seele, und zwar dies - im Unterschied zum Wesen - in der Hinsicht, daß die Kraft dasjenige Wirkungsvermögen und diejenige Tätigkeit ist, die die seelischen Veränderungen real hervorbringt (§ 756, vgl. § 628). Dabei ist die wirkende Tätigkeit durch das Wesen bestimmt. Alles dasjenige nun, das in der Seele auf die Kraft als Grund zurückgeführt werden kann, wird natürlich genannt (§ 757). Andere seelische Eigenschaften, die ihren Grund nicht in der Seelenkraft haben, folgen auch nicht aus ihrem Wesen und ihrer Natur, d.h. solche Eigenschaften sind „übernatürlich" (§ 758) und Folge einer übernatürlichen (göttlichen) Wirkung. Übernatürliche Vorgänge in der Seele sind Wunder (§ 759).

74 75

S. 68-82; Rutherford, Donald, Leibniz and the Rational Order of Nature. Cambridge 1995, S. 133-174. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), § 114. Vgl. Wolff, Psychologia rationalis, (wie Anm. 12), § 55.

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Die Kraft der Seele, sich die Welt vorzustellen (§ 753, § 754), macht ihr Fürsichsein und ihr Wesen aus (§ 784). „Für und an sich selbst" geht sie darauf aus, sich die Welt vollständig und in einem vorzustellen (§ 784). Als endliche Seele bleibt sie aber beschränkt. Wolff fuhrt (unglücklicherweise) alle Unterschiede der Seele aber gerade auf die Veränderung der Schranken der seelischen Kraft zurück (§ 783). Da diese Einschränkung jedoch durch die Körper bedingt ist, und zwar zum einen durch die Stellung unseres Körpers in der Welt, durch die nur ein Teil der Welt vorgestellt wird, zum anderen durch die Veränderungen der übrigen körperlichen Dinge in der Welt, von denen die Veränderungen in unseren Empfindungen Abbilder sind (§§ 783-786), so ist die Seele in dieser Hinsicht auch von den Bestimmungen des Körpers abhängig. Diese Betrachtung läßt folgende Schlüsse zu: Das Entwickeln der Voraussetzung des Bewußtseins in der rationalen Psychologie ist zugleich das „Hervorbringen" desselben als Gegenstand des Erkennens (oder des erkennenden Bewußtseins). Es ist das Hervorbringende und das Hervorgebrachte. Wie verhält sich dies zum ersten Satz der Metaphysik und zum ersten Satz der empirischen Psychologie? Ich denke so, daß die Voraussetzungen dort implizit bereits gegeben sein müssen; denn dies ist die Bedingung dafür, daß sich aus dem Alltagsbewußtsein selbst der Begriff des Bewußtseins entwickeln kann (§ 735). Obwohl also Wolffs Metaphysik mit einem Erfahrungssatz beginnt, so hat sie doch kein bloß empirisches Fundament. Vielmehr zeigt die Argumentation des ersten Kapitels, daß die Erfahrung des Bewußtseins für sich keine metaphysische Wahrheit beanspruchen kann. Jean François Goubet hat kürzlich unter Hinweis auf Kant eine deutliche Feststellung getroffen, der ich mich anschließen möchte: „En effet, dire que toute notre connaissance commence avec l'expérience, ce n'est pas se poser en empiriste!" 76

3.

Das Commercium und seine Begründung: Drei Modelle (§§ 7 6 0 - 7 6 4 )

Beginnend mit § 760 wird ein anderes Themenfeld eröffnet, das aus der Wesensbestimmung der Seele resultiert. Anknüpfend an die Paragraphen 527ff. wird die durch Erfahrung bewirkte Übereinstimmung von Gedanken und körperlichen Veränderungen untersucht. Die Suche nach dem Grund dieser Übereinstimmung und damit nach der Einheit von Körper und Seele hält Wolff für eine schwierige Aufgabe: „Und dieses ist der schwere Knoten, der den Welt-Weisen so viel Mühe 76

Goubet, Jean-François, Fondement, principes et utilité de la connaissance. Sur la notion wolfienne de système, in: Archives de Philosophie 65 (2002), S. 81-103, hier S. 90; siehe auch: Arndt, Hans-Werner, Rationalismus und Empirismus in der Erkenntnislehre Christian Wolffs, in: Schneiders, Wemer (Hg.), Christian Wolff 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der WolfT-Literatur. Hamburg 1983 (Studien zum achzehnten Jahrhundert 4), S. 31-47.

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gemacht, wie es nehmlich möglich ist, daß Seele und Leib eine Gemeinschaft mit einander haben" (§ 760). Wie löst Wolff diesen Knoten auf? Der erste Schritt zur Lösung der schwierigen' Aufgabe ist die argumentative Widerlegung von philosophischen Theorieangeboten, die Wolff fur grundlos bzw. für sinnlos hält. Der zweite Schritt besteht in der eigenen Antwort, die er den seiner Ansicht nach gescheiterten Versuchen entgegenstellt. Das erste Modell, das er kritisiert, ist die Theorie des influxus physicus (des „natürlichen Einflusses" eines Dinges auf ein anderes). Diese kausale Erklärung des Verhältnisses von Körper und Seele besagt im wesentlichen, die Kraft eines beseelten Körpers löse Gedanken in dessen Seele aus, und umgekehrt bewirke die Seelenkraft leibliche Bewegungen (§ 761). Die natürliche Wechselwirkung soll die Gemeinschaft von Körper und Seele erklären. Aufgrund dieses kausalen Verhältnisses wird die dabei unterstellte Gemeinschaft als commercium (im Unterschied zur lokalen communio) ausgelegt. 77 Wolffs Kritik an dieser Vorstellung ist allerdings nicht fundamental; er läßt nämlich die Voraussetzung artspezifischer Kräfte unangetastet. 78 Wenngleich er bemerkt, daß diese Ansicht in der Philosophie seiner Zeit aus der Mode gekommen sei und nur noch in der Meinung des „gemeinen Mannes" fortbestünde, so hat zumindest ein Restbestand dieser Theorie (so wie Wolff sie versteht) doch in der Psychophysiologie Descartes' einen festen Platz. In § 764 läßt der Autor später durchblicken, in welcher Weise Descartes nach seiner Auffassung die ursprüngliche Version des influxus physicus modifiziert habe. Die psycho-physische Wechselwirkung, die Wolff nämlich in § 761 allgemein beschreibt, läßt sich (mit gewissen Einschränkungen) leicht auf Descartes beziehen. Sie findet sich in den Passions de l'ame (1649) (Art. 34, 41, 43) und in benachbarten Schriften 79 in differenzierter Gestalt wieder: durch äußere 77

78

79

Diese Theorie wurde von einigen antiokkasionalistischen Cartesianern vertreten. Sie läßt sich bis in die Scholastik zurückverfolgen und findet sich z.B. bei Thomas von Aquin: „Id quod est in actu, agit in id, quod est in potentia, et huiusmodi actio dicitur influxus." (Thomas von Aquin, Quaestiones de quodlibet, III, 3a, 2c, in: ders., Opera omnia, ed. jussu impensaque Leonis XIII M.P., Bd. 25.2. Roma 1996. Zur Diskussion über dieses Problem innerhalb des Cartesianismus siehe Specht, Rainer: Commercium mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Cartesianismus. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. Siehe auch Wolff, Christian, Psychologia empirica, (wie Anm. 45), Part. II, Sect. Π, Cap. III: De commercio inter mentem & corpus, bes. §§ 962f. Michael Wolff hat in seiner Interpretation von Hegels Behandlung dieses Problems überzeugend nachgewiesen, daß die Schwierigkeit, die in der Lösung der Frage liegt, wie Seele und Körper miteinander in Gemeinschaft stehen, nur unter der Voraussetzung auftritt, daß diese Gemeinschaft als Faktum unterstellt wird. Der Glaube an dieses Faktum verdankt sich wiederum dem von Descartes ausgehenden Substanz-Dualismus. Vgl. Wolff, Michael, Das KörperSeele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389. Frankfurt/M. 1992, S. 78f., 156-161. Descartes, René, Passions de l'ame, in: ders., Œuvres, (wie Anm. 7), Bd. 11 (1909), S. 291497; ders., L'Homme, in: ders., Œuvres, (wie Anm. 7), Bd. 11 (1909), S. 119-202, hier 149, 173f.; entsprechend ders., Über den Menschen (1632), hg. v. Karl Eduard Rothschuh. Heidelberg 1969, S. 76, 106; ders., La Dioptrique, De la vision. Discours Sixiesme, in: ders., Œuvres, (wie Anm. 7), Bd. 6 (1902), S. 134-137; entsprechend ders., Descartes Dioptrik, hg. v. Ger-

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(materielle) Reizung der Sinnesorgane werden die in den Nervenröhren sich bewegenden feinen Partikel (esprits animaux: Lebensgeister) angestoßen. Sie pflanzen die Bewegung fort bis ins Gehirn und werden über eine besondere Einrichtung desselben (die schwingungssensible Zirbeldrüse) der Seele mitgeteilt, deren Willen in umgekehrter Richtung Bewegungsimpulse an den Körper aussendet. 80 Bei Wolff finden sich Elemente der cartesianischen Sinnesphysiologie wieder.81 Diese wird als solche nicht in Frage gestellt, bestritten wird nur ihre Tauglichkeit für die Begründung der Gemeinschaft. Wolffs erstes Argument gegen die Behauptung, der influxus physicus sei Grund der Gemeinschaft von Körper und Seele richtet sich gegen die Voraussetzung, er habe seinen Grund in der Erfahrung. Descartes beispielsweise glaubte, über anatomische Belege für die psycho-physische Wechselwirkung zu verfügen: die sog. Zirbeldrüse im Gehirn sollte durch ihren besonderen Bau und ihre Funktion (sensible Schwingungsfähigkeit) Bewegungsanstöße, die entweder vom Körper oder von der Seele ausgingen, in beide Richtungen weiterleiten können, wobei unterstellt wurde, daß die Art der Bewegung dieselbe, d. i. eine mechanische, sei.82 Wolff hatte aber bereits im dritten Kap der Deutschen Metaphysik (§§ 527-529) zu zeigen versucht, daß von der Wahrnehmbarkeit der Übereinstimmung von seelischen und körperlichen Veränderungen ausgegangen werden könne; zugleich hatte er aber eine erkenntniskritische Grenze gezogen: die Wirkung des Körpers in die Seele sei unerfahrbar. Die sinnliche Wahrnehmung beschränke sich nämlich auf das bloße Zugleichsein von Gedanken, durch die sich die Seele äußerer Dinge bewußt werde, und auf Veränderungen in den Sinnesorganen (s. auch §§ 534, 536). Grundlos ist demzufolge die Erfahrung der Einwirkung des Körpers in die Seele in der Hinsicht, daß sich die Seele keinen Begriff davon machen könne (§§ 529, 536). Gestützt auf seine vorhergegangene Kritik kommt Wolff am Ende von § 761 zu dem Schluß, „daß der natürliche Einfluß der Seele in den Leib und des Leibes in die Seele ohne allen Grund nur für die lange Weile angenommen werde." In § 845 setzt sich Wolff noch einmal mit der Theorie des physischen Einflusses auseinander. Auch dort wird sichtbar, daß er die Neurophysiologie seiner Zeit nicht generell zurückweist, die Descartes zur Erklärung des wechselseitigen Einflusses heranzog, sondern sie allein auf die Körpervorgänge beschränkt

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trud Leisegang. Meisenheim am Glan 1954, S. 102; siehe auch ders., Meditationes, (wie Anm. 29), VI, S. 86-88 u. Sextae Responsiones, 9, (ebd.), S. 436-439. Siehe dazu Euler, Werner, Die Suche nach dem „Seelenorgan". Kants philosophische Analyse einer anatomischen Entdeckung Soemmerrings, in: Kant-Studien 93 (2002), S. 463, 465 Anm. 43, S. 472f.; Rothschuh, Karl Eduard, in: Descartes, Über den Menschen, (wie Anm. 79), S. 56-58, 104-123. Siehe z.B.: WolfT, Christian, Vernünfftige Gedancken von dem Gebrauche der Theile in Menschen, Thieren und Pflantzen (Deutsche Physiologie), §§ 170-174, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 1), Abt. I, Bd. 8 (1980), S. 463 484. Bei Descartes läßt sich feststellen, daß er genau von dieser Annahme ausgeht (siehe z.B. Descartes, René, Passions de ¡'ame, [wie Anm. 79], Art. 34).

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wissen will, derart, daß für die Erklärung der unmittelbaren Verursachung der Bewegungen in den Sinnesorganen, den Nerven, dem Gehirn und den Körpergliedern die Vermittlung der Seele weder notwendig noch möglich, weil unbegründbar sei. Naturgemäß können nach Wolff solche Bewegungsabläufe allein in der körperlichen Natur stattfinden. Wolff geht über seine in § 761 geübte Kritik noch hinaus und führt ein zweites wichtiges Argument an, das die Annahme eines influxus physicus destruieren soll: die Wechselwirkung lasse sich nicht nur durch Erfahrung nicht aufzeigen, sondern sie lasse sich erst recht nicht begrifflich erklären (§ 762). Dies ist ihm Grund genug, diese Theorie nicht zu akzeptieren, aber immer noch - wie er anmerkt - kein hinreichender Grund, sie zu verwerfen. Der hinreichende Grund dafür wird vielmehr erst im Anschluß an diese skeptische Bemerkung (im selben Paragraphen) hergeleitet: die Annahme der wechselseitigen Einwirkung von Seele und Körper verstoße nämlich gegen die Ordnung der Natur, und zwar insbesondere gegen das Gesetz der Erhaltung der bewegenden Kraft in der Welt. 83 Die Einheit der bewegenden Kraft wird nämlich bei physischer Wechselwirkung von Seele und Körper nicht erhalten, sondern im einen Fall vermehrt (durch Wirkung der Seele auf den Körper), im anderen aber vermindert (vorausgesetzt, daß die Bewegung und die bewegende Kraft bloß körperliche Qualitäten sind). Dieses dritte Argument beruht zudem auf der Gültigkeit des in den Paragraphen 10 und 11 dargelegten Widerspruchsprinzips. In § 763 wird Descartes auch namentlich erwähnt und mit der Theorie der physischen Wechselwirkung explizit in Verbindung gebracht. Wolff attackiert die cartesianische Seelenlehre, indem er einen doppelten Angriff unternimmt, der sich sowohl gegen Descartes als auch gegen die okkasionalistische Variante des Cartesianismus (in Gestalt von Malebranche) richtet. 84 Sein Ziel liegt offenbar darin, ein

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Dieses Gesetz wurde von Leibniz in kritischer Auseinandersetzung mit der cartesianischen Mechanik uminterpretiert und korrigiert (Leibniz, Gottfried Wilhelm, Specimen dynamicum, Abs. 8, 11, 17, in: ders., Die mathematischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. v. C.I. Gerhardt. 7 Bde. Berlin 1849-1863, Bd. 6 [1860], S. 239, 241f., 245f.; ders., Discours de métaphysique, §§ 17-18, in: ders., Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1923ff, Reihe 6, Bd. 4, Teil Β [1999], S. 15561559, dementsprechend ders., Philosophische Schriften, [wie Anm. 48], Bd. 4 [1880], S. 442444; vgl. die wohlwollende Einschätzung der Leistung Descartes' in dieser Sache durch Leibniz in ders., Monadologie, § 80, in: ders., Philosophische Schriften, [wie Anm. 48], Bd. 6 [1885], S. 607-623, hier S. 620f.). Wolff beruft sich aber hier wiederum nicht auf denselben. Anders verhält es sich mit § 709. Vgl. dazu Descartes, Meditationes, (wie Anm. 29), VI, S. 87f.; ders., Briefe an Regius, Dez. 1641 u. Jan. 1642, in: ders., Œuvres, (wie Anm. 7), Bd. 3 (1899), S. 460f., 492f., 508f.; ders., Passions de l'ame, (wie Anm. 79), Art. 30-36; direkt aber Malebranche, Nicolas (1638 1715), De la recherche de la vérité (1674/5), III, eel. 15, in: ders., Œuvres complètes, (wie Anm. 12), Bd. 3 (1964), S. 203-210; ders., Entretiens, (wie Anm. 12), IV, §§ 11, 15, 18, S. 96f„ 99f., 102f.; VII, §§ 2, 8, 10-15, S. 150f., 157f., 160-169; Leibniz, Gottfried Wilhelm, Systeme nouveau, § 12, in: ders., Philosophische Schriften, (wie Anm. 48), Bd. 4 (1880), S. 483.

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Dilemma der psychophysischen Kausalerklärung der Gemeinschaft von Körper und Seele aufzuzeigen. Das Dilemma besteht darin, daß der influxus physicus ohne die Annahme göttlicher Mitwirkung keine hinreichende Erklärung abgibt und mit dieser Annahme keine rein physikalische Erklärung ist. Wenn Wolff zu Beginn des § 763 feststellt: „Cartesius hat es zuerst gethan [...]", dann scheint er davon auszugehen, daß Descartes das Problem der Gemeinschaft von Körper und Seele zunächst mit genau der Annahme lösen wollte, die Wolff am Ende des vorhergehenden Paragraphen in Frage stellt, nämlich: „daß eine cörperliche Kraft aus dem Leibe in die Seele gienge, und darinnen in eine geistliche verwandelt würde, und hinwiederum eine geistliche Kraft aus der Seele in den Leib träte, und darinnen zu einer cörperlichen würde." 85 Folgt man Wolff an dieser Stelle, so muß man davon ausgehen, daß Descartes seine ursprüngliche (auf psychophysischer Wechselwirkung beruhende) Erklärung für die Gemeinschaft von Körper und Seele revidiert habe: weil Descartes nämlich „alle Hofnung fahren lassen, daß man es auf eine verständliche Weise erklären könne; so hat er vermeinet, man könne in solchen Fällen, wo das Wesen und die Natur der Dinge nicht mehr zureiche etwas zu erklären, ohne Tadel unmittelbar in Gottes Willen die Ursache suchen.'"86 Er habe vielmehr angenommen, daß nicht natürliche Kräfte, sondern Gott „durch Veranlassung" der Körperbewegungen ihnen korrespondierende Gedanken in der Seele hervorbringe und umgekehrt. Dazu habe Gott nämlich ein Gesetz geschaffen, das festlege, daß immer dann, wenn die durch äußere Körper und deren Einwirkung auf die Sinnesorgane angestoßene Nervenflüssigkeit sich auf dieselbe bestimmte Weise im Gehim bewege, auch dieselbe Empfindung in der Seele ausgelöst werde. Und entsprechend verhalte es sich bei der Einwirkung der Seele auf die Körperglieder. Auf diese Weise sei nun die Seele nicht die eigentliche Ursache der Körperbewegung, sondern gebe nur die „Gelegenheit" dazu (et vice versa). Die erste Ursache aber sowohl der körperlichen als auch der seelischen Bewegungen sei Gottes Wille. Wenn überhaupt, so finden sich bei Descartes nur dünne Belege, die es gestatten würden, ihm diese Ansicht zuzuschreiben. 87 Sie lassen sich auf die Position des abtrünnigen Cartesianers Malebranche und die Lehre des Okkasionalismus eindeutiger beziehen. 85

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Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), § 762. Die Möglichkeit, die zitierte Feststellung über Descartes in § 763 auf eine andere Stelle in § 762 zu beziehen, in der von dem Grund gesprochen wird, diese Lösung zu verwerfen, kann meines Erachtens nicht durch Textbelege gestützt werden. Ebd., S. 475. Descartes, Passions de l'ame, (wie Anm. 79), Art. 34, S. 354: „Et nous souvenant de ce qui a esté dit cy-dessus de la machine de nostre corps, à sçavoir que les petits filets de nos nerfs sont tellement distribuez en toutes ses parties, qu'à l'occasion des divers mouvemens qui y sont excitez par les objets sensibles, ils ouvrent diversement les pores du cerveau, ce qui fait que les esprits animaux contenus en ses cavitez entrent diversement dans les muscles, au moyen de quoy ils peuvent mouvoir les membres en toutes les diverses façons qu'ils sont capables d'estre meus [...].") In dem zitierten Artikel ist von Gott nicht die Rede. Außerdem enthält er andere Stellen, die deutlich von der Vorstellung einer wechselseitigen kausalen Beeinflussung

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Wolffs weitere Argumentation zielt nun in § 764 darauf ab, diesen vermeintlichen Ausweg des cartesianisch-okkasionalistischen Erklärungsmodells zu destruieren. Sein Haupteinwand läuft darauf hinaus, daß mit dieser Theorie dem göttlichen Willen zuviel an Kraft, den Körpern und der Seele aber zu wenig eigene Kraft beigemessen werde, so daß in der Folge die Natur der Welt und die Natur der Seele nicht hinreichend von Gott unterschieden seien. Was aber seinen Grund nicht im Wesen und der Natur des Körpers bzw. der Seele hat, ist ein Wunder. 88 Folglich setzt die Gemeinschaft von Seele und Körper ständige Wunderwirkung Gottes notwendig voraus. Diese Konsequenz widerstreitet nach Wolffs Auffassung aber genaugenommen den Bewegungsgesetzen nicht weniger als der influxus physicus. Seine Argumentation führt wiederum über Descartes: dadurch daß dieser die Krafteinwirkung auf Körper und Seele in den göttlichen Willen verlege, werde keine neue Kraft hervorgebracht, und es liege somit kein Verstoß gegen das Gesetz der Krafterhaltung vor. 89 Insoweit wird Descartes also von der Kritik an der Theorie psychophysischer Wechselwirkung ausgenommen. Was Wolff Descartes aber vorwirft, ist ein Verstoß gegen ein anderes Bewegungsgesetz der Mechanik, welches bereits Leibniz in Anknüpfung an physikalische Experimente von Christiaan Huyghens 90 gegen die Cartesianer als Argument vorbrachte. Wolff beruft sich deshalb in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich auf die Vorleistung von Leibniz. 91 Das Leibnizsche Argument besagt, daß das Gesamtquantum der Bewegung die Bewegungsrichtung beibehält. Nach Wolffs Auslegung der cartesianischen Physiologie wird aber die Nervenflüssigkeit durch die Einwirkung Gottes veranlaßt, „ihre Richtung der Seele zu Liebe" zu ändern (§ 764). 92 Wolff faßt seine Kritik an Descartes an dieser Stelle in der Feststellung zusammen, daß dessen Meinung über den Grund der Gemeinschaft von Körper und Seele unvereinbar sei mit der Natur der einfachen Dinge, nach welcher nämlich die Seele (als einfaches Ding, das sich aus eigener Kraft innerlich graduell verändert) 93 eine

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von Körper und Seele zeugen. Vgl. auch Descartes, Meditationes, (wie Anm. 29), VI, § 40; ders., L'Homme, (wie Anm. 79), S. 149, 158; Rothschuh, René Descartes: Über den Menschen, (wie Anm. 79), S. 76, 86. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), §§ 633, 759. Mit dieser Einschätzung schließt er sich Leibniz an (Vgl. Leibniz, Monadologie, [wie Anm. 83], § 80, S. 620f.). Huyghens, Christiaan, De motu corporum ex percussione (1656), in: ders., Œuvres complètes, La Haye, 1888-1950, Bd. 16 (1929), S. 29-168. S. dazu Leibniz, Gottfried Wilhelm, De ipsa natura sive de vi insita actionibusque Creaturarum, § 4, in: ders., Philosophische Schriften, (wie Anm. 48), Bd. 4 (1880), S. 505f.; ders., Théodicée, in ders., Philosophische Schriften, (wie Anm. 48), Bd. 6 (1885), I, §§ 59ff; ders., Eclaircissement du nouveau systeme, (wie Anm. 48), S. 497f. Siehe Descartes, Meditationes, (wie Anm. 29), VI, §§ 40^41, S. 87-88). Die Auslegung Wolffs ist in den genannten Absätzen der sechsten Meditation, auf die sie wohl Bezug nimmt, eigentlich nicht zu belegen. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), §§ 106-108, §§ 114ff. Der im zweiten Kapitel des Buches bereits eingeführte Kraftbegriff hat dort nur erläuternde Funktion. Der Autor weist

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eigenständige Kraft besitzen müsse, ihre Gedanken in stetiger Ordnung hervorzubringen (§§ 744f). Wolff strebt also eine Lösung an, die es erlaubt, die natürliche Kraftwirkung und damit eine Teilautonomie der Seele beizubehalten, ohne auf den göttlichen Willen ganz verzichten zu müssen. Leibniz hat für die Kritik, die Wolff am influxus physicus, an Descartes und am Okkasionalismus übt - wie bereits bemerkt - die entscheidende Vorarbeit geleistet.94 Wolffs Kritik stimmt sowohl im Ziel als auch in der Argumentation mit dem überein, was Leibniz beispielsweise in der Theodizee (I. Teil, §§ 59ff.) vorträgt. Daß es keine (reale) physische Verbindung zwischen Seele und Körper geben kann, liegt für Leibniz nämlich daran, daß Gedanken und ausgedehnte Masse „sich toto genere voneinander unterscheiden" (also für sich bestehende geschaffene Dinge sind) (§ 59). Die Einheit beider, als das beiden Zugrundeliegende (die Person), wird vielmehr durch eine „metaphysische Verbindung" bewirkt. Die Einstellung Leibnizens gegenüber Descartes in diesem Zusammenhang ist allerdings wohlwollender und vielleicht auch zutreffender als die Wolffsche. Denn Leibniz nimmt eine Differenzierung vor, die man in Wolffs Descartes-Kritik vermißt: Descartes hatte nicht alle Körperbewegungen dem Einfluß der Seele unterstellt, sondern nur diejenigen, die durch den Willen steuerbar sind (nicht z.B. motorische Reflexe). Darauf nimmt Leibniz Bezug, indem er Descartes' Position als eine vermittelnde interpretiert: Dieser habe nämlich nur einen Teil der körperlichen Aktivitäten von der Seele abhängig machen wollen und die Möglichkeit der Erklärung ihrer Einflußnahme auf den Körper damit erklärt, daß sie zwar nicht die Quantität, 95 aber doch die Richtung der Bewegung im Körper verändern könne. 96 Leibniz stellt demgegenüber fest, daß weder die Seele noch der Körper über Organe verfuge, die eine solche Veränderung erklären könne. Er stützt sich dabei auf zwei eigene Entdeckungen, die Wolff in seiner Descartes-Kritik als Argument verwendet: es sind die Gesetze der Erhaltung des Gesamtquantums der Kraft und der Erhaltung der gleichen Richtung in der Gesamtheit aller aufeinander einwirkenden Körper. Gegen diese Gesetze, die Descartes noch nicht bekannt waren, habe seine Theorie der relativierten wechselseitigen Beeinflussung verstoßen.

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darauf hin, daß die Kraftbestimmung der Seele an dieser Stelle noch nicht als wahr zu gelten habe (§§ 114f.). Siehe bei Leibniz u.a.: Eclaircissement du nouveau systeme, (wie Anm. 48), S. 498-500; Extrait d'une lettre de M. D. L. sur son hypothese de philosophie etc., in: ders., Philosophische Schriften, (wie Anm. 48), Bd. 4 (1880), S. 500f.; Eclaircissement des difficultés que Monsieur Bayle a trouvées dans le systeme nouveau de l'union de l'ame et du corps, in: ders., Philosophische Schriften, (wie Anm. 48), Bd. 4 (1880), S. 517-524, hier S. 520f. Leibnizens Kritik an Descartes' Gesetz der Erhaltung des gleichen Bewegungsquantums hat einen anderen Anlaß. Von seinem Standpunkt der dynamischen Physik aus betrachtet, hält er es für falsch, weil es der Natur der Körper und der Bewegung widerspreche. Descartes hatte dieses Gesetz auch nicht zur Grundlage seiner Behauptung des Einflusses der Seele auf den Körper gemacht. Leibniz, Théodicée, (wie Anm. 91), I, § 60; ders., Eclaircissement du nouveau systeme, (wie Anm. 48), S. 479f.; ders., Monadologie, (wie Anm. 83), § 80.

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Hätte er sie gekannt - so Leibniz - dann wäre er zur Hypothese der prästabilierten Harmonie durchgedrungen. Was den deus ex machina betrifft - also die Wunderwirkung Gottes im System der Gelegenheitsursachen, demzufolge Gott quasi als Stellvertreter für die Seele in Übereinstimmung mit ihr den Körper bewegt und als Stellvertreter des Körpers umgekehrt - so stellt diese Theorie für Leibniz keine Lösung des aus der Annahme der physischen Wechselwirkung resultierenden Problems dar, weil die Störung der Naturgesetze dadurch nicht aufgehoben wird. 97 Denn diese Gesetze gelten nur von der Körperwelt, und in dieser Rücksicht ist es gleichgültig, ob die Veränderung der Bewegung von Gott oder von der Seele bewirkt wird. Wie Wolff, so setzt auch Leibniz den kritisierten Auffassungen das Prinzip der prästabilierten Harmonie als eigenes Theorieangebot entgegen. Danach hat Gott ursprünglich Seele und Körper je für sich so eingerichtet, daß sie miteinander harmonieren müssen. Die Seele bringt dann das in der endursächlichen Ordnung aus sich hervor, was im Körper wirkkausal abläuft, und der Körper muß von sich aus das ausführen, was die Seele anordnet, so daß er zur selben Zeit handelt, wenn die Seele durch ihren Willen eine solche Handlungsweise verlangt. Der „philosophische Sinn", den Leibniz auf dieser Grundlage der wechselseitigen Abhängigkeit von Körper und Seele abgewinnt, besteht in der Idealität ihrer Beziehung. D.h. der Grund für das, was in der einen geschieht, wird durch das ausgedrückt, was in der anderen ist. Daß das so sein muß, ist verbrieft durch den ursprünglichen, vorausblickenden Beschluß Gottes. 98 Wie dieser Beschluß ausgesehen hat, wird von Leibniz (im Unterschied zu Wolff) konkret angegeben, nämlich: nur insofern die Seele vollkommen ist und klare Gedanken hat, hat Gott ihr den Körper so angepaßt, daß er zukünftig alle Anweisungen der Seele ausführt. Insoweit aber die Seele unvollkommen ist und verworrene Vorstellungen hat, wurde sie dem Körper angepaßt, so daß sie künftig von körperbedingten Leidenschaften bestimmt wird. Die Leidenschaften entspringen dem Körper. Da die Seele ihm aber ursprünglich angepaßt ist, entsteht für die leidenschaftlich bewegte Seele der Eindruck, „als ob" der Körper direkt durch physischen Einfluß auf sie einwirke. Der Gedanke der wechselseitigen Beeinflussung von Körper und Seele wird von Leibniz also beibehalten, aber „nur ideal". Er vollzieht sich nämlich in den Gründen, nach denen Gott eine Substanz in Rücksicht auf die andere und die in ihr enthaltene Vollkommenheit eingerichtet hat. 99

97 98 99

Leibniz, Théodicée, (wie Anm. 91 ), I, § 61. Ebd. I, §66. Ebd.

Bewußtsein - Seele - Geist

4.

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Wolffs Begründung der Einheit von Seele und Körper und ihre versteckten Aporien (§§ 765-777)

Wolffs eigene Begründung fur die Einheit bzw. Gemeinschaft von Körper und Seele, die die argumentativen Fehler des influxus physicus und des okkasionalistischen Modells vermeiden soll, besteht - unter Berufung auf Leibniz - in der Lehre der prästabilierten Harmonie (§ 765). Ich möchte dazu zeigen, daß Wolffs Versuch, das Problem der Gemeinschaft von Körper und Seele mit Hilfe der Harmonielehre (oder dessen, was er dafür hält) zu lösen, grundlegende Schwierigkeiten zum Vorschein bringt, die mit seiner rationalen Psychologie verbunden sind. Das Bestreben, sich von den Erklärungen der physischen Wechselwirkung einerseits und der direkten Einwirkung Gottes andererseits zu distanzieren, fuhrt dahin, daß Wolff die Unabhängigkeit der Seele und des Körpers voneinander, ihr jeweiliges Fürsichsein, immer wieder betont (§§ 765, 768, 780 u. ö.). Er teilt insofern diese Annahme als Voraussetzung mit den von ihm zurückgewiesenen Versuchen, das Commercium zu begründen. Diese an Descartes anknüpfende Behauptung kann sich übrigens auf die gleichfalls von Descartes übernommene Sinnesphysiologie 100 und die Wahrnehmungstheorie, die das Dasein einer bewußtseinsunabhängigen, realen Körperwelt unterstellt, stützen. Sie wird fur Wolffs Bewußtseinstheorie und für seine Psychologie insgesamt allerdings zu einem schwerwiegenden Problem. Die Trennung von Körper und Seele als Dingen, die unabhängig voneinander bestehen, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß das Problem, das Wolff zu lösen beansprucht, überhaupt auftritt. Mit dieser Annahme wird aber eine zweite Behauptung konfrontiert: die auf Erfahrung gestützte Übereinstimmung der seelischen Veränderungen (Empfindungen, Begierden) auf der einen - mit der körperlichen Bewegung auf der anderen Seite. Die Übereinstimmung beruht auf dem wahrgenommenen Zugleichsein der Veränderungen, wie Wolff im selben Kapitel (§§ 527ff.) gezeigt haben will, wobei der in den Paragraphen 325 und 326 bestimmte Erfahrungsbegriff (als reflektierte Empfindung) zugrunde gelegt wird. Letztlich wird die behauptete Übereinstimmung durch den Erfahrungssatz vom Bewußtsein (§ 1) abgesichert. Wolff will nun aber nicht bloß plakativ von der Lehre der prästabilierten Harmonie Gebrauch machen, sondern - wiederum um sich von Descartes abzugrenzen und dem Eindruck entgegenzutreten, er rekurriere einfach auf den göttlichen Willen - genau begründen, wie die Übereinstimmung möglich sei (§ 766). Diesen Nachweis erbringt er in drei Schritten: Erstens wird durch allgemeine Überlegungen die Übereinstimmung formell und prinzipiell begründet (§§ 767-768); zweitens läßt sie sich, ausgehend von der Seele, inhaltlich nachweisen als innere Koordination seelischer und körperlicher Zustände; 100

Siehe Wolff, Deutsche in Anm. 81.

Metaphysik,

(wie Anm. 3), § 778; siehe die weiteren Quellenangaben

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drittens äußert sie sich im Körper als physiologischer Vorgang seelischer Eindrükke (§§ 778). Es kommt ihm dabei nicht darauf an, daß die Übereinstimmung durch Erfahrung wahrgenommen wird 101 (Erfahrung kann die auf andere Weise begründete Übereinstimmung lediglich bestätigen [§ 772]), sondern auf den Grund dieser Erfahrung. Dieser besteht nun allgemein in der Übereinstimmung der Ordnung in der Folge der seelischen Empfindungen einerseits und der Veränderungen in der Welt andererseits (so daß z.B. ein seelischer Zustand Grund des auf ihn folgenden ist). Die Übereinstimmung wird durch das Prinzip des Grundes garantiert (§ 767). Damit sich darin keine zeitliche Verschiebung zeigen kann (vgl. § 775), ist eine notwendige weitere Bedingung, daß der Anfangszustand der parallel verlaufenden Veränderungen ein harmonischer gewesen ist. Hat die Welt auf diese Weise ihren Anfang genommen, so läuft ihre Veränderung stetig mit der Seele parallel. Diesen ursprünglichen Zusammenhang von Körper und Seele kann nur ein verständiger Urheber der Welt und der Natur hergestellt haben, da Seele und Körper nämlich an sich keine Harmonie ergeben; denn sie existieren unabhängig voneinander, j e für sich (§§ 765, 768). Wolff hebt aber mit Recht hervor, daß die so begründete Harmonie bloß fur die Empfindungen der Seele gelte, nicht für alle ihre Wirkungen schlechthin (§ 767). Die Empfindungen nämlich stellen die Veränderungen in der Welt vor. Was nun die konkrete Begründung der Übereinstimmung betrifft, so besteht sie aus der Seelenperspektive darin, daß sowohl die wahrgenommenen zusammengesetzten Dinge der Welt (die Körper) als auch die Empfindungen sich räumlich als Ausdehnung in Figuren, Größen und Bewegungen unterscheiden lassen (§§ 770 772). Entsprechend ist nach der zeitlichen Ordnung der beiden Veränderungsvorgänge zu jedem Zeitpunkt eine Empfindung mit einem Zustand der Körperwelt als dem der Seele angehörenden Vorstellungsinhalt zugleich (§§ 774-777). Insbesondere gilt dies von den Bewegungen desjenigen Körpers, der dem Willen der Seele unterliegt (§ 776). Die bestimmten Inhalte jener Zustände und Bewegungen werden durch diese strukturelle Verbindung nicht erfaßt; sie können daher nur empirisch bestimmt werden. Weil die Übereinstimmung somit nur auf formalen Prinzipien beruht (Satz des Grundes, räumliche und zeitliche Ordnung), so daß weiterhin gelten kann, daß der Körper nichts zur Empfindung der Seele beiträgt, so kommt Wolff zu dem folgenschweren Schluß, daß alle Empfindungen der Seele ebenso erfolgen würden, „wenn gleich gar keine Welt vorhanden ist" (§ 777). 102 Wir würden alles außer uns sinnlich wahrnehmen oder empfinden, „wenn auch gleich von cörperlichen Dingen ausser uns nichts da wäre". 103 In diesem Punkt sieht sich 101 102

103

Siehe dazu Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), § 527, §§ 53Iff. Vgl. die analoge Formulierung für die Körper in § 780. Siehe auch Leibniz, der sich in dieser Hinsicht auf Piaton bezieht: Leibniz, Gottfried Wilhelm, Réponse aux réflexions de P. Bayle, art. Rorarius, in: ders., Philosophische Schriften, (wie Anm. 48), Bd. 4 (1880), S. 554-571, hier S. 560. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), § 777; siehe auch §§ 765 und 787.

Bewußtsein - Seele - Geist

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Wolff anscheinend in Übereinstimmung mit denen, die er „Idealisten" nennt; außerdem bemerkt er zutreffend, auch Descartes habe dies erkannt (§ 777).104 Aber es handelt sich um denselben Idealismus, den er an anderer Stelle vehement ablehnt, weil die Körper überhaupt das Reale der Empfindungen oder die Inhalte der Vorstellungen sind, so daß Empfindungen überhaupt nicht ohne die Welt sein können. Daß Wolff sich an dieser Stelle (scheinbar unfreiwillig) auf den idealistischen Standpunkt stellt, ist eine Konsequenz aus der Behauptung des voneinander unabhängigen Fürsichseins von Körper und Seele. Der von Wolff im § 777 konstruierte Idealismus hat aber eigentlich nur die Funktion, die Selbständigkeit des Seelendinges und seine Unbeeinflußbarkeit durch körperliche Veränderungen zu verstärken. Die Metaphysik Wolffs wird dadurch nicht insgesamt idealistisch geprägt. Der Idealismus der Seelenlehre hat ja auch sein reales Gegenstück darin, daß umgekehrt für alle körperlichen Bewegungen die Seele und ihr Einfluß auf den Körper genauso entbehrlich sind (§ 870). Als Fürsichseiende stellen Körper und Seele eben jeweils eine notwendige Abstraktion von ihrem komplementären Gegenstück dar. Der ungewollte, tendenzielle Rückfall in eine Position, die der nahe zu kommen scheint, die Wolff als „Idealismus" brandmarkt, droht vielmehr unter einem anderen Aspekt. Ich meine den in methodischer Hinsicht bestimmten Ausgangspunkt dieser Metaphysik: den Erfahrungssatz des Bewußtseins, der allen Teilen derselben vorausgeschickt wird, durch den sie verstanden und bewiesen werden sollen, und aus dem sich die Ordnung dieser Teile wie des Ganzen ergeben soll.105 Dies schreibt jedenfalls das oberste Gesetz der philosophischen Methode im Discursus Praeliminaris (Cap. IV, § 133)106 vor. Damit werden alle begrifflichen Bestimmungen der Metaphysik, einschließlich dessen, was der Weltbegriff umfaßt, bestimmt nur mittels der Bestimmungen des Bewußtseins bzw. sie werden als Momente des philosophischen Wissens zu Momenten des Bewußtseins. Für das Verhältnis von Körper und Seele ergibt sich daraus aber eine Überordnung der Seele gegenüber den körperlichen Dingen. Mit dieser Auslegung steht die unterstellte Symmetrie des Fürsichseins von Körper und Seele jedoch nicht in Einklang. Sie würde nämlich strenggenommen dahin fuhren, daß Körper nicht Gegenstand des Bewußtseins werden könnten und somit unerkennbar wären. 107 Wolff hat also seine Metaphysik unter der methodischen Prämisse des Bewußtseins nicht konsequent durchgeführt. Er hat in seinem Bestreben, die Dilemmata der physischen Wechselwirkung und der Gelegenheitsursachen aufzulösen, eine wesentliche Voraussetzung derselben beizubehalten, die von der Bewußtseinslehre nicht mehr 104 105

106

107

Siehe dazu Descartes, Principia, (wie Anm. 7), I, § 9. Dem entspricht bei Descartes die methodische Stellung des „Ich denke, also bin ich" (siehe unter anderem Principia, [wie Anm. 7], I, § 10). Wolff, Discursus praeliminaris, (wie Anm. 18), Gesammelte Werke, Abt. II, Bd. 1.1, S. 66 bzw. FMDA I, 1, S. 152- 155. Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), § 780.

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gestützt wird: die strikte Trennung von Körper und Seele. Dies hat seine Metaphysik in eine Schwierigkeit gebracht, die nun als das Dilemma der Wolffschen Psychologie bezeichnet werden könnte. 108 Die Frage des Commercium steht für Wolff deshalb im Zentrum seiner rationalen Psychologie und damit der Beziehung zu Leibniz, Descartes, Malebranche, weil er mit Descartes die Auffassung vom Leib-Seele-Dualismus teilt. Denn die strikte Parallelität, Gleichzeitigkeit und Gleichordnung von Körpervorgängen und geistigen Handlungen setzt ihre Unabhängigkeit voneinander und ihre jeweilige Einzelexistenz voraus (Fürsichsein). Wolff sieht in seiner Antwort auf die Frage nach der Einheit von Körper und Seele einen weiteren Vorteil gegenüber den kritisierten Lösungsversuchen: die prästabilierte Harmonie soll nämlich trotz der Prädetermination aller natürlichen Dinge, d.h. auch der Seele, die menschliche Freiheit erhalten, die darin besteht, daß die Seele selbst Grund ihrer Determination und Autor ihrer Handlungen ist (§ 883). Sie ist nämlich frei von allem inneren und äußeren Zwang (ebd.). Den freiwilligen Bewegungen der Seele korrespondieren auf der anderen Seite aber Bewegungen des Körpers, die zufällig seien, weil sie von den Einflüssen anderer Körper durch die Sinnesorgane bestimmt werden (§ 884). Daran soll die Freiheit der Seele keinen Schaden nehmen. Die prästabilierte Harmonie soll vielmehr auch noch garantieren, daß Freiheit und Zufälligkeit miteinander in Einklang stehen, aber dies nur insofern, als Gott der zureichende Grund dieser Harmonie ist (§§ 886-887).

5.

Tierseele und Geist

Den Begriff des Geistes gewinnt Wolff aus den Unterscheidungsmerkmalen zwischen der Tierseele und der Menschenseele. Ihr Wesensunterschied betrifft das Verhältnis von Notwendigkeit (Determinismus) und Freiheit. 109 Auch dieser Unterschied enthüllt Differenzen zu den Auffassungen von Descartes und Leibniz. Tierseelen haben zunächst sinnliche Begierden und Affekte, insofern sie über Sinne, Einbildungskraft und Gedächtnis verfugen (§§ 870, 888, 892). Sie haben deshalb auch Bewußtsein (§ 794), wenn auch nur in dem eingeschränkten Bereich der Empfindungen. Sie haben aber kein Bewußtsein ihrer sich erhaltenden Identität im Vorübergehen verschiedener seelischer Zustände und sind deshalb nicht „Personen" (§§ 923, 924). 110 Vor allem aber kann ihnen Freiheit und Wille nicht zuge-

108

109 110

Das Dilemma nämlich, daß bei der angenommenen substantiellen Dualität von Körper und Seele das Bewußtsein ohne Inhalt bzw. die Körper unerkennbar wären, bei der angenommenen bloßen Verschiedenheit im Bewußtsein aber die Realität der Körperwelt negiert würde. S. dazu auch Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), §§ 515f. Vgl. den Personen-Begriff bei Leibniz, Discours de métaphysique, (wie Anm. 83), § 35.

Bewußtsein - Seele - Geist

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schrieben werden (§§ 869, 889, 892). Obwohl sie sich aus Unvermögen zur wahren Freiheit im Zustand der Sklaverei befinden (§ 891), haben sie doch eine begrenzte Fähigkeit der Selbstbestimmung, d. i. Willkür. Denn sie determinieren sich „zu ihren sinnlichen Begierden", da die undeutlichen Vorstellungen des Guten, aus denen die Begierde entsteht, von ihnen selbst stammt und nicht von äußeren Einflüssen; sie haben nämlich (prinzipiell) „den Grund ihrer Handlungen in sich" (§ 890), obwohl Verstandes- und Vernunfttätigkeiten und somit Erkenntnis im prägnanten Sinne nicht zu ihren Handlungen gehören. Der Mensch besitzt nun außer den seelischen Fähigkeiten, die er mit den Tieren gemeinsam hat, auch Verstand, Vernunft und Willen und damit auch die Freiheit des Willens; diese heben ihn aus dem Tierdasein heraus. Insbesondere ist es der Verstand, durch den er sich vom Tier unterscheidet. Denn dieser befähigt ihn zu deutlichen Vorstellungen besonderer Dinge (§§ 277, 892). Vernunft resultiert aus dem Verstand (§§ 277, 368). Deshalb unterscheidet sich der Mensch vom Tier in dem Maße wie er scharfsinniger und gründlicher ist; er nähert sich den Tieren aber in dem Grade, in dem er den Sinnen und der Einbildungskraft anhängt (§ 892). Es ist aber eigentlich nur eine graduelle Differenz zwischen dem Dasein der tierischen und der menschlichen Seele (§ 893), nämlich: die deutlichen Vorstellungen resultieren aus den klaren. Klare Vorstellungen (§ 275) haben wir durch Sinne und Einbildungskraft (§ 277). Diese Vermögen besitzt aber auch das Tier. Somit geht der Unterschied zwischen menschlicher Seele und Tierseele darauf zurück, daß die Seele des Menschen die Welt in höherem Grade der Klarheit vorstellt (§ 893). Descartes zog eine wesentlich strengere Grenze zwischen Mensch und Tier, indem er nämlich dem Tier jedes Bewußtsein und jedes Seelenvermögen, insbesondere Denken und Empfinden, absprach.111 Wenn er von der Tierseele redet, dann meint er den Zusammenhang mechanischer Körperfunktionen, durch die ein lebender Tierkörper einer technischen Maschine gleicht." 2 Leibniz, der gleichfalls großen Wert auf die Unterscheidung zwischen Tierseele und Geist legt, kritisiert die Vorstellung der Cartesianer, indem er ihre Irrtümer darauf zurückfuhrt, daß sie nicht zwischen Perzeption und Apperzeption (Bewußtsein) zu unterscheiden gewußt hätten und deshalb die Tiere als seelenlose Maschinen betrachteten." 3 Nach seiner Vorstellung ist es nämlich das Apperzeptionsvermögen der menschlichen Seele, das sie von der Tierseele unterscheidet und sie zur Erkenntnis der ewigen

111

Descartes, Meditationes, (wie Anm. 29), Sextae Responsiones, Tertio, S. 425 427; ders., Discours de la méthode, (wie Anm. 9), Cinquiesme partie, Abs. 11-12, S. 57-60. Descartes, Discours de la méthode, (wie Anm. 9), Cinquiesme partie, Abs. 4, 10, 11, S. 4 5 46, 56-59. 113 Leibniz, Monadologie, (wie Anm. 83), §§ 14, 80; ders., Principes de la nature et de la grace, fondés en raison, §§ 4-5, in: ders., Philosophische Schriften, (wie Anm. 48), Bd. 6 (1885), S. 598-606, hier S. 599-601. 112

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Wahrheiten, zur Selbsterkenntnis und damit zum Geist erhebt. 114 Die Tierseele verfugt lediglich über ein Gedächtnis. Aus § 893 wird geschlossen, daß es zwischen dem Wesen und der Natur der menschlichen Seele und eben demselben der Tierseele nur einen graduellen Unterschied gebe (§ 894); denn die vorstellende Kraft mache Wesen und Natur beider Seelenarten aus; sie sind dem Wesen nach in dieser Hinsicht also eigentlich nicht unterschieden, und deshalb kann darin auch nicht das Merkmal liegen, das den Wesensunterschied der Menschenseele als „Geist" gegenüber der Tierseele begründet. Aus dieser Schwierigkeit heraus, allein durch die graduelle Differenz einen Wesensunterschied der Seele zu begründen, nimmt Wolff im folgenden Paragraphen eine Konkretisierung vor: Allein wenn man die Sache recht überleget, wird man bald sehen, daß nicht ein jeder Grad einen wesentlichen Unterscheid geben kann, sondern nur ein solcher, der die gantze vorstellende Kraft überhaupt ändert. (§ 895)

Wie es aber zu diesem Umschlag einer zunächst bloß graduellen Differenz in einen Unterschied der Wesensbestimmung der vorstellenden Kraft kommt, wird nicht klar." 5 Dieser Grad, der eine qualitative Differenz herbeiführen soll oder zumindest andeutet, ist der „höhere Grad der Klarheit", durch den die vorstellende Kraft der menschlichen Seele die der Tierseele übersteigt. Es sei nämlich zugleich genau derjenige Grad, der die „Deutlichkeit" in den Empfindungen bedinge und damit die Seele zur Erkenntnis und zum freien Willen befähige, also die Kennzeichnung, die den Tieren nach Wolff mangelt. Die Deutlichkeit von Empfindungen (Gedanken) tritt - zur Erinnerung - dann ein, wenn das Bewußtsein das Wahrgenommene bestimmt von anderem unterscheiden kann (§§ 206, 771). 116 Aus diesen Überlegungen folgt nun für Wolff die Wesensbestimmung des Geistes, die im Haben von Verstand und freiem Willen besteht (§ 896). Eben diese aber gelten nicht von Tieren. Der Geist (als menschlicher) ist daher nichts anderes als die Seele, insofern sie sich graduell und wesenhaft von der des Tieres unterscheidet. In dem wichtigen Paragraphen 898 wird deutlich, daß Wolff auch den Geistesbegriff prägnanter gefaßt hat als dies vordem im Rationalismus Descartes' und auch in der Leibnizschen Philosophie der Fall ist. War nämlich von Leibniz das Geistige als Bestimmung einerseits für seelenhafte Substanzen (Monaden) allgemein verwendet worden und andererseits nur für intelligente Substanzen sowie für

114

115 116

Leibniz, Monadologie, (wie Anm. 83), § 28, §§ 82-84; ders., Systeme nouveau, (wie Anm. 84), § 5, S. 479f. Siehe dazu Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 3), §§ 154ff. Klarheit ist dagegen bloß die Intensität einer einzelnen sinnlichen Wahrnehmung im Verhältnis zu anderen (Wolff, Deutsche Metaphysik, [wie Anm. 3], § 224).

Bewußtsein - Seele - Geist

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Gott als den größten und weisesten Geist,117 - von Descartes aber einerseits als feine materielle Teilchen (Stäubchen), die den Organismus mit Leben erfüllen (spiritus animales) gefaßt, andererseits als mens (esprit) mit der res cogitans, dem Ich und der Seele schlechthin identifiziert worden, 118 so daß die Tiere weder Geist noch eine (immaterielle) Seele besitzen (Gott allein ist bloß immateriell), - so wird der Geistesbegriff von Wolff durch das Bewußtsein differenzierter und damit konkreter bestimmt und eindeutig auf die menschliche (vernünftige) Seele bezogen.119 § 900 der Deutschen Metaphysik erklärt, wie beseelte Dinge, d.h. solche, die mit Vorstellungskraft begabt sind, sich nach dem Grad dieser Kraft voneinander unterscheiden, nämlich nach dem Gesichtspunkt der Klarheit und Dunkelheit und die klaren nach dem der Deutlichkeit und Undeutlichkeit. Die erste Art ist nach Wolff die, die die Welt nur dunkel, d.h. im Vorstellungsganzen ohne jeden Unterschied (gewissermaßen als kontingenten Datenhaufen) vorstellt. Diese Dinge befinden sich im Schlaf, haben weder Bewußtsein, noch Empfindung. Wolff beruft sich hier auf Leibniz und identifiziert diese Seelen im permanenten Schlafzustand mit den Monaden. In aufsteigenden Graden folgt die Art der Tierseele, die die Welt klar vorstellt; diese Art hat Sinne, Einbildungskraft und Gedächtnis (§ 901). Die menschliche Seele als dritte Art kann alles im Allgemeinen und Besonderen klar und deutlich vorstellen und somit alles voneinander unterscheiden. Die Seelen, die außer den schon bei Tieren vorhandenen Vermögen auch noch Verstand, Vernunft und Willen haben, werden erst als „Geister" im eigentlichen Sinne bezeichnet (§ 902). Die graduelle Steigerung setzt sich in der Geistseele fort. Die höchste Stufe des Geistes bemißt sich am höchsten Grad der Deutlichkeit, den die Seele als Geist erreichen kann. Der vollkommenste und höchste Grad ist dem Geist eigen, der folgende Bestimmungen erfüllt: erstens alle möglichen Welten auf ein-

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Siehe Leibniz, Discours de métaphysique, (wie Anm. 83), §§ 35f. Der Unterschied zwischen den Geistsubstanzen und den anderen Substanzen besteht fur Leibniz darin, daß die ersteren „eher Gott als die Welt" ausdrücken, die letzteren aber „eher die Welt als Gott", (vgl. Liske, Michael-Thomas, Gottfried Wilhelm Leibniz. München 2000 (Beck'sche Reihe Denker), S. 212). Descartes, Meditat iones, (wie Anm. 29), II, § 9. S. Wolff, Psychologia empirica, (wie Anm. 45), § 20. Was das Verhältnis zu Leibniz betrifft, so beruft sich Wolff in § 898 ausdrücklich auf die Monadenlehre, ohne sie zurückzuweisen (vgl. § 599). Er verwirft nur eine Mißdeutung, nach der alles Immaterielle (und somit dann auch die Monaden) schlechthin unter den Begriff des Geistes gefaßt werden könnte. Wolff hätte aber konsequenterweise anführen und kritisieren müssen, daß Leibniz selbst in bezug auf die Monaden bzw. Seelen von „unkörperlichen Automaten" („Automates incorporels", vgl. Leibniz, Monadologie, [wie Anm. 83], § 18; ders., Eclaircissement des difficultés, [wie Anm. 94], S. 522), „geistigen Automaten" („Automates spirituels", vgl. ders., Systeme nouveau, [wie Anm. 84], § 15, S. 485) oder „immateriellen Automaten" („Automates immatériels", vgl. ders., Eclaircissement des difficultés, [wie Anm. 94], S. 522) spricht. Da er aber nicht offen Kritik übt, vielmehr verharmlosend die Differenz als einen bloßen Unterschied der Benennung erklärt, wird diese Diskrepanz zu Leibniz, die sich an der unterschiedlichen Bestimmung des Geistes manifestiert, verdeckt.

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mal dem Raum und der Zeit nach deutlich vorzustellen (vollkommenster Grad der Vorstellung); zweitens den Zusammenhang aller Wahrheiten durch Vernunfteinsicht zu erkennen (§§ 904-905) (allervollkommenste Vernunft); drittens alles Wollen dadurch in Einklang miteinander zu bringen, daß der Beweggrund des Wollens die vollständige Vorstellung des Besten ist (vollkommenster Wille) (§ 907); 120 viertens ohne Widerstreit alle seine Absichten miteinander zu verknüpfen (vollkommenste Weisheit). Zu keiner dieser vier höchsten Einsichtnahmen ist der Mensch nach Wolff durch seine beschränkte Seelenaktivität in der Lage (§§ 909, 906). Deshalb wird dieser „allervollkommenste Geist" allein Gott zuerkannt (§ 904). Damit befaßt sich das sechste Kapitel der Deutschen Metaphysik, das nicht mehr mein Thema ist. Ein letzter Hinweis, den ich noch geben möchte, betrifft das Verhältnis des Bewußtseins zum Gottesbegriff: auch die natürliche Theologie beginnt unter Verweis auf das Resultat von § 1 („wir sind") wieder mit dem Bewußtsein, aus dessen Bestimmungen und deren Verhältnis der Begriff Gottes hergeleitet werden soll. Die Suche nach dem zureichenden Grund dafür, daß „wir sind", fuhrt dadurch auf die Spur des höchsten Wesens, daß dieser Grund „ausser uns" gesetzt wird (§ 928), d.h. zugleich in etwas, „das den Grund, warum es ist", in sich hat, und dessen Grund allein für sich zureichend ist. Es ist also auffallig, daß die Seelenlehre insgesamt so aufgebaut ist, daß alle Bestimmungen der Seele einerseits Fortentwicklungen in Vollkommenheitsgraden sind und andererseits bestimmte solche Grade auf dem Weg ihrer Begründung Wesensbestimmungen generieren, durch die qualitative Unterscheidungen erst möglich werden, d.h. Unterscheidungen, die durch die Handlungen des Bewußtseins vorgenommen werden. Die Bewußtseinsakte vollziehen auf allen Stufen fortschreitender Konkretion seelischer Bestimmungen die notwendigen Vermittlungsschritte. Das bestimmte Unterscheiden als Leistung des Bewußtseins fehlt in Descartes' Ich denke (und es ist auch in Leibniz' Unterscheidung zwischen der perzipierenden und der apperzipierenden Seele nicht enthalten). Das Denken findet in sich die Idee Gottes als „eingeboren" bzw. beim Schöpfungsakt „eingepflanzt" und erkennt sie als die höchste Vollkommenheit. Daß diese Idee nicht vom Ich erzeugt sein kann, sondern eine Ursache haben muß, die außerhalb der res cogitans liegt, folgt daraus, daß die Vollkommenheit der Gottsubstanz von vornherein so bestimmt wird, daß sie zu ihrer Erhaltung keiner anderen Ursache außer ihr bedarf. Sie folgt aber nicht mittels des bestimmten Unterscheidens, das in der Grundstruktur des Bewußtseins als des Bewußtseins „unserer selbst und anderer Dinge außer uns" verankert wäre. Christian Wolff scheint mir deshalb mit dieser in der Geschichte der Bewußtseinstheorie neuartigen Entdeckung - über Descartes und Leibniz hin-

120

Was das Beste ist, muß aus dem Zusammenhang mit allen miteinander verknüpften Dingen beurteilt werden (Wolff, Deutsche Metaphysik, [wie Anm. 3], § 908).

Bewußtsein - Seele - Geist

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aus - eine bedeutende Vorleistung für die Entwicklung der Philosophie des Bewußtseins von Kant bis Fichte erbracht zu haben.121

6.

Schlußbemerkung

Die unmittelbare Gewißheit der Empfindungen, die die Seele wahrnimmt und durch die sie auf der ersten Stufe des Bewußtseins sich selbst und andere Dinge wahrnimmt, ist der Ausgangspunkt von Wolffs empirischer Psychologie. Es gibt auch bei Descartes zwei Gebiete der Psychologie, die sich auf verschiedene Publikationen verteilen, auf die Meditationes und die Passions. Wolff verbindet sozusagen diese bei Descartes verschiedenen Ausgangspunkte: Seele als Ding oder Begriff (denkende Seele als Tätigkeit) und die Seele als Empfindungszentrale, das sog. Sensorium Commune (empfindende Seele als Leiden). Der systematische Zusammenhang wird durch das Verhältnis von empirischer und rationaler Psychologie als ein solches der Trennung und systematischen Einheit beider hergestellt. Das, was die Seele in sich wahrnimmt und was ihren Begriff ausmacht, wird in der empirischen Psychologie und in der Kosmologie entfaltet und in der rationalen Psychologie auf ihren gemeinsamen Grund zurückgeführt (Einteilung im Discursus Praeliminaris). Das Wesen oder der Begriff der Seele, ihre Kraft, ist Voraussetzung und Resultat der empirischen Psychologie; Voraussetzung·, insofern alle Veränderungen der Seele, die Gegenstand der Betrachtung in der empirischen Psychologie sind, Wirkungen dieser Kraft sind; Resultat insofern dieser Grund selbst nicht erfahrbar ist, sondern nur mittels der Wahrnehmung seiner Wirkungen in rationalen Schritten erschlossen werden kann. Ich möchte abschließend die Hauptdefizite der Wolffschen Seelentheorie benennen, die für die aus ihr erwachsenden metaphysischen Probleme meines Erachtens verantwortlich sind: Erstens die Wesensbestimmung der Seele als Kraft, die ihr Fürsichsein und ihre Unabhängigkeit vom Körper begründet, damit aber das Problem der Einheit von Körper und Seele reproduziert, das zur Lösung und Vermittlung die Idee der prästabilierten Harmonie und des vollkommenen Schöpfergottes notwendig erscheinen läßt. Zweitens die Vorstellung einer durchgängigen graduellen Differenz dieser seelischen Kraft und ihrer Wirkungen als Veränderungen der Seele, die die Unterschiede der Seelenvermögen und Seelentypen nicht zu begründen vermag, verbunden mit einem Streben nach Vollkommenheit, das nur außerhalb von Seele und Welt im Geist Gottes nach Erfüllung sucht. Diese philosophischen Schwächen stören denjenigen Theorieanteil, mit dem Wolff meines Erachtens über die metaphysischen Seelenlehren von Descartes (und 121

In dieser Hinsicht ist die Einordnung, die Georg Mohr vorgenommen hat (Mohr, [wie Anm. 10]), nicht von der Hand zu weisen.

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partiell auch Leibniz) hinausweist, und der das Verdienst seiner Psychologie ausmacht: die dezidierte Bestimmung des Bewußtseins als Aktus des bestimmten Unterscheidens und aufeinander Beziehens von Dingen außer uns und in uns selbst; darüber hinaus der methodische und inhaltliche Primat, dem dieser Bestimmung von Bewußtsein als Bindeglied, Ausgangspunkt und Bestimmungsgrund der empirischen und der rationalen Psychologie in der Metaphysik Wolffs zukommt.

JEAN-FRANÇOIS GOUBET

(Lyon)

In welchem Sinne ist die Wolffsche Psychologie als Fundament zu verstehen? Zum vermeintlichen Zirkel zwischen Psychologie und Logik Es war Christian Wolff selbst, der den Anlaß zu dem gegen ihn erhobenen Verdacht eines Zirkels zwischen Psychologie und Logik gegeben hat, als er - die besondere Bedeutung der empirischen Psychologie für die Fundierung anderer Systemteile hervorhebend - den Aufbau seines philosophischen Systems zu rechtfertigen suchte. Der vorliegende Beitrag versucht zu klären, in welchem Sinne die Wolffsche Psychologie tatsächlich als Fundamentalwissenschaft1 verstanden werden kann und muß, um auf Basis dieser Klärung zu entscheiden, ob der gegen Wolff erhobene Zirkelvorwurf berechtigt ist. Besondere Berücksichtigung wird daher das Verhältnis der Psychologie zur Logik finden. Es steht in der folgenden Untersuchung somit die Frage im Vordergrund, in welchem Sinne gesagt werden kann, die Psychologie fundiere bei Wolff die Logik. Fundierung kann in unserem Zusammenhang unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten verstanden werden. Erstens kann damit soviel wie die Setzung eines Grundes im Sinne eines bloßen Bodens gemeint sein. Ein Fundament als Boden bereitet die Logik vor, steht aber auch außerhalb der Logik. In dieser Perspektive wären auf dem Boden der in der empirischen Psychologie thematisierten Erfahrung Sätze, die über die bloße Erfahrung hinausweisen, zu gewinnen. Von den Tatsachen aus würde man sich auf diese Weise zu den Vernunftwahrheiten erheben können. Zweitens kann Fundierung eine Bestimmung der Grundsätze (Prinzipien) bedeuten. Das Fundament bestünde in diesem Fall nicht allein aus notwendig vorhergehender Erfahrung, sondern bereits aus Sätzen. Nicht eine prae-diskursive Stufenleiter zur Wissenschaft, sondern der Anfang der Wissenschaft selbst wäre hier mit Fundament gemeint. Die Logik als eine der Psychologie im Rahmen der philosophischen Disziplinen nachgeordnete Wissenschaft erhielte diesem Verständnis von Fundament zufolge ihre Prinzipien von einer metaphysischen Lehre. Die Psychologie wäre beiden Lesarten gemäß die nötige Vorbereitung der Logik, das Fundament, worauf diese errichtet ist. Im ersten Fall wäre sie allerdings bloß eine äußerliche, im zweiten Fall jedoch eine innere Vorbereitung der Logik. Ganz ohne psychologischen Boden könnte die Logik nach beiden Lesarten nicht bestehen.

Die Bezeichnung der Psychologie als Fundamentalwissenschaft richtet sich hier nicht auf ihren Rang, sondern auf die Reihenfolge innerhalb des Wolffschen Beweissystems.

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1.

Jean-François

Goubet

Wird die Logik durch die empirische oder die rationale Psychologie fundiert?

Zunächst wollen wir wieder zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Psychologie und Logik zurückkehren und betrachten, welche Aussagen zu diesem Verhältnis sich im Werk Wolffs finden. Ein Vergleich der diesbezüglichen Ausführungen in den hier einschlägigen Werken soll uns das Problem besser vor Augen stellen. In § 89 des Wölfischen Discursus praeliminaris de philosophia in genere lesen wir: „Quodsi in Logica omnia demonstranda, petenda sunt principia ex Ontologia atque Psychologia." („Wenn also in der Logik alles bewiesen werden soll, müssen Grundsätze der Ontologie und Psychologie entnommen werden"). 2 Die Logik als Sekundärwissenschaft muß ihre Prinzipien den metaphysischen, d.h. primären, Disziplinen entlehnen. Da alle Wissenschaften einander in einer bestimmten demonstrativen Ordnung folgen, muß die der demonstrativen Ordnung nach spätere Logik die Ontologie und Psychologie als Vorwissenschaften voraussetzen. Die demonstrative Methode erfordert eine solche Anordnung. Hinsichtlich der Psychologie bedeutet das, daß die Logik aus jener ein Wissen über die Natur der erkennenden Seele und ihre Operationen beziehen soll. Eigentlich handelt es sich bei dem hier vorausgesetzten Wissen über das Erkenntnisvermögen und die mentalen Operationen oder Regeln nicht um Grundsätze, sondern um Grundbegriffe. Somit bedeuten die „principia" hier „primae notiones", nicht „primae propositiones". Aber der Unterschied zwischen Begriffen und Sätzen ist an dieser Stelle nicht so bedeutend. Entscheidend ist vielmehr der Fundierungszusammenhang zwischen der Wissenschaft der Logik und der Psychologie. Als Sekundärwissenschaft muß die Logik erst fundiert werden, d.h. ihre Prinzipien, seien sie erste Begriffe oder Sätze, einer vorhergehenden Lehre entleihen. Bekanntlich ist die Wolffsche Psychologie in empirische und rationale gegliedert, was impliziert, daß man hier nicht einfach von der Psychologie sprechen darf. Der zitierte Passus aus dem Discursus praeliminaris erlaubt noch nicht zu klären, welcher Teil der Psychologie die Logik fundieren soll. Um den entsprechenden Teil zu bestimmen, sollen nun weitere Auskünfte Wolffs zu dieser Frage herangezogen werden. Wir beginnen mit einer Analyse wichtiger Passagen der Psychologia empirica. In der Praefatio zur Psychologia empirica lesen wir folgendes: Logica docet usum facultatis cognoscendi, praesertim superioris [...]. Quamobrem si quis ea, quae in Logica traduntur, intimitis perspicere voluerit, ei facem praeferet doctrina de facúltate cognoscendi, ejus praesertim parte superiori.

2

Wolff, Christian, Discursus praeliminaris de philosophia in genere = Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen, hg. v. Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, StuttgartBad Cannstatt 1996 (Forschungen und Materialien zur Deutschen Aufklärung [FMDA] I, 1), S. 96-97.

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(Die Logik lehrt den Gebrauch des erkennenden Vermögens, insbesondere des oberen. Darum soll derjenige, der die Gegenstände der Logik besser durchdringen möchte, dieser die Lehre des Erkenntnisvermögens, insbesondere des oberen, vorhergehen lassen.) 3

Nun ist es der erste Teil der Psychologia empirica, der den oberen wie auch den unteren Teil des Erkenntnisvermögens behandelt. Die Logik müßte demnach durch die empirische Psychologie fundiert werden. So fahrt Wolff denn auch fort: Psychologia empirica principia tradii Logicae. [...] Nimirum si rationem a priori reddere velis regularum logicarum, ad ea recurrendum, quae de facúltate cognoscendi in Psychologia tradantur. (Die empirische Psychologie lehrt die ersten Gründe der Logik. [...] Wenn du den Grund der logischen Regeln a priori angeben wolltest, mußt du unstreitig auf das zurückkommen, was in der Psychologie über das Erkenntnisvermögen gelehrt wurde.)

Ich übersetze principia als erste Gründe und nicht als Grundsätze, weil Wolff in den folgenden Zeilen „de tribus mentis operationibus, notionum differentia formali terminorumque usu", also „von den drei Operationen des Geistes, der formalen Differenz der Begriffe und dem Gebrauch der Wörter" redet. 4 Den Grund a priori anzugeben, kann nichts anderes bedeuten, als fundieren im zweiten eingeführten Sinn des Wortes. Die Logik als Wissenschaft folgt der empirischen Psychologie als Wissenschaft, und jene entnimmt dieser ihre Grundtermini, um eine eigentliche und wohlgeordnete philosophische Lehre zu sein. Wie verhalten sich nun die rationale Psychologie und die Logik zu einander? Diese Frage kann schneller als die Frage nach dem Verhältnis von empirischer Psychologie und Logik beantwortet werden, da sie nicht dieselbe Brisanz besitzt. In § 6 der Psychologia rationalis schreibt Wolff: „Si in Psychologia rationalis error committitur; nullus inde in Theologiam naturalem, Logicam & Philosophiam practicam serpit." („Wenn ein Fehler in der rationalen Psychologie begangen wird, folgt daraus nicht, daß ein anderer in der natürlichen Theologie, der Logik und der praktischen Philosophie verborgen liegt." [im Original kursiv]) Die rationale Psychologie wird von Wolff also als abtrennbare Ergänzung der empirischen konzipiert, damit sie die Ergebnisse der letztgenannten nicht gefährde. Zwar kommt der rationalen Psychologie eine bedeutende Funktion zu, insofern sie den Grund von demjenigen angibt, was man von der Seele erfahren, d.h. empirisch wahrnehmen kann. Dementsprechend fuhrt Wolff aus: „In Psychologia rationali reddenda est ratio eorum, quae animae insunt, aut inesse possunt." („In der rationalen Psychologie ist der Grund dessen anzugeben, was in der Seele ist oder

3

4

Wolff, Christian, Psychologia empirica, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u.a. 3 Abteilungen. Hildesheim 1962ff„ Abt. II, Bd. 5 (1968), S. 12*. Nachweise innerhalb des Textes erfolgen in der Regel bloß als Klammerzusatz des Paragraphen. Ebd., § 9, S. 7.

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sein kann.") 5 Aber diese Grundlegung hat keinen direkten Einfluß auf den Inhalt der empirischen Psychologie und denjenigen der davon abhängigen Logik. Das Verhältnis zwischen beiden Psychologien wird bereits im Discursus praeliminaris dementsprechend charakterisiert, und zwar in der Anmerkung zu § 112: In Psychologia rationali ex unico animae humanae conceptu derivamus a priori omnia, quae eidem competere a posteriori observantur et ex quibusdam observatis deducuntur [...]. (In der rationalen Psychologie leiten wir allein aus dem Begriff der menschlichen Seele a priori alles ab, wovon a posteriori beobachtet wird, daß es ihr zukommt, und was aus bestimmten Beobachtungen abgeleitet wird [...].) 6

A priori also, von den Gründen aus, wird in der Psychologia rationalis erklärt, was a posteriori gegeben ist, d.h. was in der Psychologia empirica als ein Faktum des Bewußtseins festgehalten wird, um als Ausgangspunkt für philosophische Schlußfolgerungen zu dienen. Auch die empirische Psychologie ist eine philosophische Lehre, eine Wissenschaft. Die empirisch-psychologischen Beobachtungen des natürlichen Menschen sind nicht mit den empirisch-psychologischen Deduktionen des wissenschaftlich reflektierenden Menschen zu verwechseln. Beide, Beobachtungen und Deduktionen, können als Gründe gelten, aber nicht in demselben Sinn. Darüber möchten wir weitere Überlegungen anstellen, bevor wir einige Schlußfolgerungen über das Verhältnis zwischen Psychologie und Logik ziehen.

2.

Die empirisch-psychologischen Beobachtungen und Deduktionen als zwei Arten von Gründen für die Logik

Auf dem Gebiet der empirischen Psychologie ist es von größter Wichtigkeit, die Erfahrungen, wie sie ein jeder Mensch machen kann, und die sich auf sie berufenden Schlüsse zu unterscheiden. Sonst verliert diese Disziplin ihren wissenschaftlichen Charakter. In der Einfuhrung der Psychologia rationalis erinnert Jean Ecole daran, worin die Methode der vorher erschienenen Psychologia empirica besteht: La méthode de la Psychologia empirica était donc, dans une certaine mesure, rationnelle en même temps qu'expérimentale; mais la raison n'y avait d'autre rôle que de mettre en ordre les faits observés.7

Das heißt mit anderen Worten: erst auf dem Boden der gemeinsamen Erfahrungen, die jeder Mensch erwerben kann, können die Gründe einer rational organisierten Lehre gewonnen werden. Absichtlich sprechen wir von Boden und ersten Gründen, denn fundamentum und rationes dürfen keineswegs verwechselt werden. Da 5

6 7

Wolff, Christian, Psychologia rationalis, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 3), Abt. II, Bd. 6(1972), § 4 , S. Wolff, Discursus praeliminaris, (wie Anm. 2), S. 122-123. Wolff, Psychologia rationalis, (wie Anm. 5), S. 7.

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das deutsche Wort „Grund", genauso wie das französische „fondement", zweideutig ist, kann man die zwei Ebenen der Fundierung leicht verkennen. Es ist daher hervorzuheben, daß das fundamentum als Boden sich mit der ratio als Grund nicht deckt. In dem ersten Fall handelt es sich um konfuse, unklare Begriffe, die das natürliche Bewußtsein erfährt. Diese Ebene ist also streng empirisch, weil es sich in ihr bloß um gegebene Vorstellungen handelt. In dem zweiten Fall handelt es sich dagegen um verdeutlichte Begriffe, die das wissenschaftliche Bewußtsein auf dem Boden des natürlichen Bewußtseins gewonnen hat. Diese Ebene ist nicht mehr empirisch, sondern rational, weil auf ihr unter Angabe von Gründen argumentiert, also philosophiert wird. 8 Es gilt, auf der zweiten Ebene philosophische Einsicht zu erlangen. Den zwei Lesarten von Fundierung entsprechen also zwei Grade des erkennenden Bewußtseins. Welche Bedeutung kommt diesen Bemerkungen nun im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Logik und empirischer Psychologie zu? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich meine Aufmerksamkeit auf eine Stelle am Anfang der Logica richten. In § 3 der Prolegomena führt Wolff aus: Exercilium facultatis cognoscitive in cognoscenda veritate suis constat experientia, modo ad nosmetipsos attendamus, dum quid cognoscimus. 9

regulis.

Patet hoc

(Die Übung des Erkenntnisvermögens folgt beim Erkennen der Wahrheit ihren Regeln. Das erhellt aus der Erfahrung, sobald wir nur auf uns selbst achten, während wir etwas erkennen.)

Die Regelmäßigkeit der Geistesoperationen ist also in der Erfahrung gegeben. Der natürliche Mensch kann sich der Regeln seines Denkens bewußt werden, wenn er denkt. In der ausübenden natürlichen Logik treten die Begriffe bereits auf, die die lehrende künstliche Logik später erörtern wird. Der Unterschied zwischen der ausübenden und der lehrenden Logik entspricht dem Unterschied zwischen der Logik als Kunst und der Logik als Wissenschaft. 10 Diese Differenz ist in unserem Zusammenhang jedoch nicht entscheidend. Wichtiger ist hier der Unterschied zwischen der natürlichen und der künstlichen Logik. In dem dem Fundament der lehrenden natürlichen Logik gewidmeten § 7 der Logica schreibt Wolff: „Qui Logica naturali utitur, confusam quandam ideam habet regularum, per quas mentis operationes dirigit in cognoscenda veritate."" („Wer die natürliche Logik gebraucht, der hat einen gewissen konfusen Begriff der Regeln, durch welche er die Operationen seines Geistes bei der Erkenntnis der Wahrheit fuhrt.") Hier ist der konfuse Status der Regeln hervorzuheben. Die Bekanntschaft mit der Logik findet in einer empirisch-psychologischen Erfahrung statt. Vgl. auch Jean-Paul Paccionis Beitrag in diesem Band. Wolflf, Christian. Philosophia rationalis sive logica, Pars //, in: ders., Gesammelte (wie Anm. 3), Abt. II, Bd. 1.2 ( 1983), S. 108. 10 Vgl. die Einfuhrung Jean Ecoles in: Wolff, Christian, Philosophia rationalis sive Pars I, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 3), Abt. I I , Bd. 1.1 (1983), S. IXf. 1 ' Wolff, Logica II, (wie Anm. 9), S. 110.

9

Werke, logica,

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Aber damit ist noch nicht alles gesagt. Denn die natürliche Logik, wenn auch lehrend, ist noch nicht die eigentliche Wissenschaft, also die lehrende künstliche Logik. In welchem Sinne erscheinen nun die Regeln nicht mehr als Boden, sondern als echte Gründe? Sehen wir zu, wie sich Wolff selbst dazu äußert. Im ersten Teil der Logica, genauer in § 31, lesen wir: Etenim veritates Logicae docentis artificialis ex iis deducimus, quae in mente nostra circumspecta attentione observamus: Logica vero utens artificialis, cum distinctam requirat regularum docentis applicationem [...], a nobis acquiri non poterat, nisi nobis conscii essemus illorum actuum, qui ad regularum applicationem necessarii. 12 (In der Tat deduzieren wir die Wahrheiten der lehrenden künstlichen Logik aus dem, was wir in unserem Geist mit allseitiger Aufmerksamkeit beobachten. Dagegen werden wir nie die ausübende künstliche Logik erwerben, wenn wir uns nicht der Handlungen bewußt werden, die fiir die Anwendung der Regeln notwendig sind, da sie [jene Logik] die distinkte Anwendung der Regeln der lehrenden [Logik] erfordert.)

Auf dem Boden der Erfahrung Vernunftwahrheiten zu erwerben, erfordert Aufmerksamkeit und deutliches Denken. Mit dem inneren Sinn nehmen wir uns selbst wahr und können in selbiger Handlung unsere Modi deutlich erfassen. Mag die philosophische Logik als Wissenschaft oder als Kunst betrachtet werden, es steht fest, daß sie Deutlichkeit erfordert. Und mit der Deutlichkeit ist das Unterschiedensein der Teile und Gründe gegeben. 13 Sobald man auf die geistigen Operationen zurückkommt, tritt man in die empirische Psychologie als Wissenschaft ein. Es ist dann nicht mehr nur von einer Bekanntschaft die Rede, sondern von einer Vertiefung der Vertrautheit mit der bewußten Sache selbst. Die Operationen des Geistes müssen sich zuerst einfach zeigen, bevor sie für sich selber thematisiert werden können. Erst bei der Wiederholung, oder besser gesagt: bei der Wiederaufnahme des bewußten Inhalts ist das Deutliche aus dem Verworrenen zu gewinnen. Der Zugang zu sich selbst als denkendem Wesen muß demnach ein zweifacher sein, einmal auf der Ebene der Erfahrung, des bloßen vergegenwärtigten Faktums, das andere Mal auf der Ebene der Vernunftwahrheiten, des zu ihrer Möglichkeitsbedingung zurückgeführten bestimmten Daseins. Freilich ist die Wiederaufnahme des denkenden Inhalts notwendig für ein endliches Wesen. Zuerst muß als einfaches Faktum vorkommen, was später eine rationale Interpretation bekommen, also durch wohlgeordnete Gründe demonstriert werden soll. Darum konnte Wolff auch in § 91 des Discursus praeliminaris vorschlagen, der Betrachtung der Psychologie die Betrachtung der Logik voranzustellen. 14 Obwohl die Regeln des Denkens vor der Psychologie nicht bewiesen werden können, erhellen sich von selbst die bewußten Erfahrungen des Denkens. Die Logik als Wissenschaft lehrt nicht das Denken überhaupt, das immer schon vor12 13

14

Ebd., S. 126. Vgl. Wolff, Christian, Deutsche Logik, in: ders., Gesammehe Bd. 1 (1968), S. 128f. Wolff, Discursus praeliminaris, (wie Anm. 2), S. 98-99.

Werke, (wie Anm. 3), Abt. I,

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handen ist, sondern die richtige Führung des Denkens bei der Erkenntnis der Wahrheit im besonderen. Zuerst soll der Student der Philosophie die Regeln kennen lernen, ihnen einmal begegnen, und dann kann er seine Studie mit Nutzen weiterfuhren, indem er die Regeln und Operationen des Denkens für sich selber thematisiert. Erst später werden die ontologischen Definitionen keine bloßen Wortdefinitionen mehr sein und die tatsächlichen Erfahrungen keine bloß gegebenen Begriffe. Die Natur des endlichen denkenden Wesens ist so beschaffen, daß es ihm nötig ist, die Wahrheit mehrfach wiederaufzunehmen. Am Anfang steht der feste Boden des vollbestimmten Daseins, das fundamentum inconcussum omnímodo realitatis. Dann treten die Gründe als Anfangsgründe oder Vorder-Gründe, als Prämissen, auf. Schließlich soll die Disposition zur Fertigkeit, die Wissenschaft zur Kunst werden. So soll die wissenschaftlich begründete Logik wiederum praktische Anwendung finden und somit nützlich werden. Als Logica practica et utens soll sie bei der Erforschung aller Wissenschaften und Künste einen wichtigen Beitrag leisten. Diesen nützlichen Charakter der Logik hat Wolff in § 91 des Discursus praeliminaris hervorgehoben. Der Nutzen der Logik ist nach Wolff unentbehrlich, um die Psychologie und die Ontologie zu erlernen. Deshalb soll sie an den Anfang gestellt werden, obwohl die von der Logik entlehnten Sätze erst im Rahmen der Metaphysik ihre Rechtfertigung erfahren können. Als er die Originalität der Wolffschen Methode betrachtete, schrieb Jean Ecole über Wolff: „son appel à l'expérience, tant pour préparer la démonstration que pour la confirmer, est une nouveauté importante." 15 Die zwei äußerlichen, praediskursiven Elemente sind dabei bedeutsam, indem sie das für den Horizont des endlichen Denkens unentbehrliche connubium rationis et experimentiae, die Vermählung der Vernunft und der Erfahrung, überhaupt erst ermöglichen.

3.

Ein Zirkel im Beweis und ein „Psychologismus"? Zur These Hans-Jürgen Engfers

Die Logik ist also der lernenden Methode Wolffs nach zuerst zu behandeln. Der zitierte § 91 erklärt den Unterschied zwischen der demonstrativen und der lernenden Methode, so daß die Logik und die Psychologie in zwei verschiedenen Bedeutungen aufeinander folgen. Dieser Unterschied ist wichtig, weil er die Gefahr des Zirkels im Beweis, der petitionis principii, außer kraft setzt. Man kann sich zwar fragen, ob die Ausführungen Wolffs nicht eine Verworrenheit in der Grundlegung enthüllten. Aber diese Frage löst sich von selbst auf, sobald man den Begriff der Fundierung erläutert. Wie wir schon weiter oben ausführten, deckt sich der Boden nicht mit dem ersten diskursiven Grund. Mit dem empirischen Ansatz 15

Ecole, Jean, La métaphysique de Christian Abt. III, Bd. 12.1 (1990), S. 78.

Wolff, in: ders., Gesammelte

Werke, (wie Anm. 3),

58

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werden nicht die Prinzipien, die Vernunftwahrheiten und die Verdeutlichung, sondern die Realität, die Tatsachenwahrheiten und die Bekanntschaft gegeben. In seinem Artikel „Von der Leibnizschen Monadologie zur empirischen Psychologie Wolffs" hat sich Hans-Jürgen Engfer dafür interessiert, wie das Verhältnis zwischen Psychologie und Logik bei Wolff zu bestimmen sein könnte.' 6 Nach Engfer enthüllt § 91 eher einen Zirkel, als daß er ihn verdeckte: [...] eine empirische Psychologie, die den Anspruch erhebt, selbst Grundlegung der Logik zu sein, muß das, was sie dem Anspruch nach begründen will, immer schon in ihrer eigenen Argumentation voraussetzen. 17

Dieses Urteil beruht auf einem Fehlschluß, weil es die zwei von uns unterschiedenen Arten der Fundierung miteinander verschmelzen läßt. Die diskursiven und vordiskursiven Elemente hat Engfer nicht streng voneinander getrennt, so daß der Begriff der Fundierung von ihm in einem allzu weiten Sinne gebraucht wird. Die Logik kann der Psychologie durchaus vorhergehen als ihr Boden oder ihre äußerliche Vorbereitung, obwohl die empirische Psychologie in der Ordnung der Gründe, also der demonstrativen Methode nach, früher ist als die Logik. Es liegt in den komplexen Verhältnissen zwischen der Logik und der empirischen Psychologie kein Zirkel im Beweis vor, da es nicht um Beweise, um Ketten von Gründen geht, sondern um ein Fundierungsverhältnis in einem weiteren Sinn. Einige Zeilen zuvor hat Hans-Jürgen Engfer dem Wolffschen Ansatz in seinem Artikel eine Ambivalenz zwischen ,,empirische[m] Ansatz und logische[m] Anspruch" vorgeworfen. Da die Regeln zuerst in einer Erfahrung entdeckt würden, schwankten sie „beständig zwischen Deskription und Präskription".18 Wie könne eine Regel einen Notwendigkeitscharakter besitzen, wenn sie bloß faktisch vorkomme? Wir wollen auf diese Frage folgendermaßen antworten. Notwendig ist auch das, was immer in der Erfahrung gegeben ist.19 Demzufolge kann eine Regel als notwendig erscheinen, insofern sie immer im selben Modus des Sich-Aufdrängens auftritt. Die Kritik Engfers, es läge bei Wolff ein Begründungsdefizit der präskriptiven Kraft der logischen Regeln vor, ist keineswegs so klar, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Was genau schreibt bei Wolff eine Regel vor? Es handelt sich hier nicht um eine Konstruktion oder eine Subsumption wie im Kantischen Kritizismus. 16

17 18 19

Vgl. Engfer, Hans-Jürgen, Von der Leibnizschen Monadologie zur empirischen Psychologie Wolffs, in: Wolff, Christian, Gesammelte Werke, (wie Anm. 3), Abt. III, Bd. 31: Carboncini, Sonia / Cataldi Madonna, Luigi (Hg.), Nuovi Studi sul pensiero di Christian Wolff ( 1992), S. 193-215. Ebd., S. 206-207. Ebd., S. 206. Auf eine aristotelische Bemerkung, betreffend „das, was öfter vorkommt", kann ich hier nicht eingehen. Vgl. dazu Aristoteles, Physica, 2. Buch, 5. Kapitel, in: ders., Aristotelis Opera, hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, 5 Bde. Berlin 1831-1870, hier Bd. 1 (1831), S. 196 b lOff.

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Eine Regel stellt sich nicht der äußerlich bestehenden Realität der Erfahrung entgegen. Die Erfahrung ist hier zu verstehen als die Gesamtheit der Fakten, die im Bewußtsein gegeben sind, also als das, was ich erfahre. Auch das Cogito kann erfahren werden, obwohl es keiner äußerlichen Erscheinung entspricht.20 Die Regel und die Erfahrung sind bei Wolff nicht so zu interpretieren, wie die funktionale Partnerschaft der Einheit und der Mannigfaltigkeit bei Kant. Mit anderen Worten: eine Regel kann durchaus etwas vorschreiben, wenngleich sie sich zunächst bloß im Bewußtsein offenbart. Es fehlt ihr nur vorläufig der Status der Wissenschaftlichkeit. Denn die Erfahrung verlangt stets ihre Wiederaufnahme auf der Ebene der deutlichen Begriffe und Gründe, die als eigentliche Lehren zur empirischen und zur rationalen Psychologie gehören. Schließlich weist die empirisch gegebene Regel im Wölfischen Kontext nicht sosehr auf das aus der äußeren Erfahrung konstituierte, als auf das im inneren Sinn vorgefundene Wissen hin. Der Charakter eines Gesetzes kann einer Regel zugeschrieben werden, obgleich dieselbe sich zunächst nur im Bewußtsein ankündigt. Hans-Jürgen Engfer zufolge macht sich Wolff eines „Psychologismus" schuldig.21 Der Hallesche Philosoph wäre damit der Vertreter einer Auffassung, die auch heute noch stark verbreitet ist. Kann man nicht noch eine weitere Kantische Voraussetzung entdecken, von der Engfer stillschweigend ausgeht?22 Warum sollte die Logik überhaupt von allem empirischen menschlichen Geist abgesondert werden? Die Absicht der klassischen Logik mag nicht diejenige der transzendentalen sein und dennoch ihren Wert behaupten. Der Wolffianer ist nicht der Gesetzgeber des menschlichen Geistes, sondern sein Geschichtsschreiber. Wie Meier in seiner Vernunftlehre darlegt, ist der Logiker ein Hermeneut der Natur der Vernunft und nicht ihr Gesetzgeber. Der Philosoph soll die der Vernunft vorgeschriebenen und dem Menschen von der Natur eingepflanzten Gesetze entdecken23 und darf sich nichts Neues einbilden. Meier ist nicht Wolff, aber es scheint mir, daß beide die gleiche Sicht von den Verhältnissen der Logik und des menschlichen Geistes vertreten. Die Logik wird nicht abstrakt oder transzendental gedacht, sondern immer als eine natürliche Leistung des Menschen. Auf dem Boden der natürlich erfahrenen Gesetze kann sich durch philosophische Anstrengung eine künstliche Logik, d.h. eine eigentliche Wissenschaft, entfalten. Der Vorwurf des „Psychologismus" mag zwar von einem bestimmten Standpunkt aus gerechtfertigt erscheinen, aber er erlaubt keineswegs, die vorkantische Denkweise als inkonsistent zu verwerfen. Er stellt vielmehr einen bloß äußerlichen Angriff auf die Voraussetzungen einer Epo-

20

21 22

23

Vgl. auch den in diesem Band von Thierry Arnaud und Wemer Euler diskutierten Anfang der Deutschen Metaphysik. Engfer, (wie Anm. 16), S. 205. Hier bedanke ich mich bei Anne-Lise Rey für ihre Hinweise auf ein Gespräch zwischen François Duchesneau und Hans-Jürgen Engfer, Leibniz betreffend. Vgl. Meier, Georg Friedrich, Vernunftlehre. Halle 1752, Einleitung, S. 6 - 7 .

60

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che dar. Wir vertreten die Auffassung, daß der Vorwurf des „Psychologismus" den eigentlichen Sinn des Wolffschen „Connubium rationis et experientiae" verfehlt.

4.

Weitere Anmerkungen über die Vieldeutigkeit des Begriffes des Fundaments

Genauso wie die aus Kantischer Sicht aufgeworfenen Argumente gegen Wolff sicherlich zu kurz greifen, können die von Descartes aus entwickelten Deutungen des Fundaments Wolff nicht treffen. Denn das „fundamentum inconcussum", wovon im Discursus praeliminaris die Rede ist, deckt sich nicht mit dem Cartesianischen. Wenn Descartes im Discours de la méthode „le premier principe de la Philosophie que ie cherchois" mit „le roc ou l'argile" (als Gegenstück zu „la terre mouuante & le sable"), also „den ersten Grundsatz der von [ihm] gesuchten Philosophie" mit ,,de[m] Felsen oder Schiefer" (als Gegenstück zu ,,de[m] Triebsand und de[m] unsicheren Boden")24 identifizierte, setzte er eine Äquivalenz zwischen Fundament und Prinzip. Aber was genau bedeutet „fundamentum" der Wolffschen Auffassung nach? Man muß vorsichtig sein in der Anwendung dieses Begriffes, um nicht unbemerkt etwa eine cartesianische Deutung in sein Verständnis eintreten zu lassen. Denn „Fundament" bedeutet bei Wolff mehr eine äußerliche Vorbereitung als eine innerliche Setzung eines Grundsatzes. „Fundamentum", „definitio" und „usus" bilden einen Zusammenhang, sogar ein systematisches Ganzes, wobei jeder Bestandteil streng von den anderen unterschieden werden muß.25 Sicherlich muß man an die Wölfische Psychologie in ihrer Fundamentaldimension hohe Maßstäbe anlegen. Der psychologische Ansatz gilt zwar als Grund oder Boden der nachfolgenden Demonstrationen, aber jener gehört nicht zu diesen in strengem Sinne. Die Vorbereitung sowie die Bestätigung der Demonstration bilden keinen Zirkel, weil sie als außerhalb des dogmatischen Verfahrens liegend zu verstehen sind. So bleibt dem Interpreten der Weg offen, Wolff als einen eigenständigen Denker zu verstehen und zu würdigen. In ihm bloß einen Cartesianer oder Leibnizianer zu sehen, hieße, ihn zu verkennen. In demselben Sinne darf Wolff nicht als durch den Kantianismus vollständig widerlegt betrachtet werden. Zu solch einer Rehabilitierung Wolffs, wie wir sie für nötig halten, hat Jean Ecole wichtige Erkenntnisse beigetragen. Seine Schriften gelten der gegenwärtigen Wolff-Forschung zu Recht als Standardwerke.

24

25

Descartes, René, Discours de la méthode, in: ders., Œuvres de Descartes, hg. v. Charles Adam u. Paul Tannery, 13 Bde. Und ein Supplement. Paris 1897-1913, Bd. 6 (1902), S. 1-78, hier Teil IV, S. 32 u. Teil III, S. 29. Vgl. Vf., Fondement, principes et utilité de la connaissance. Sur la notion wolfílenne de système, in: Archives de philosophie 65 (2002), S. 81-103.

THIERRY A R N A U D

(Lyon)

Où commence la « Métaphysique allemande » de Christian Wolff? On le sait, la métaphysique wolffienne porte sur quatre objets : l'être (ontologie), l'âme (psychologie), le monde (cosmologie) et Dieu (théologie). La métaphysique est, en 1712, appelée par Wolff Hauptwissenschaft - science suprême. 1 A l'intérieur de celle-ci, on croit en général devoir désigner l'Ontologie comme « science première ». Wolff, en effet, écrit dans sa Logique allemande (Prolégomènes) de 1712 : «On nomme la partie de la Philosophie dans laquelle il est traité de la connaissance générale des choses l'Ontologie, ou Science fondamentale (GrundWissenschaft)» (§ 14). En 1728, alors qu'il s'apprête à rédiger sa Philosophie latine - laquelle comprendra de gros traités de métaphysique - , il écrit par ailleurs : « Vontologie ou philosophie première est définie comme la science de l'étant en général». 2 De fait, si l'on prend sa Métaphysique allemande, il semble bien que l'Ontologie occupe la première place du système philosophique de Wolff puisque, après un très court premier chapitre de 9 paragraphes, Wolff se met à exposer, en un chapitre de 180 paragraphes, tout ce qui traite « des premiers principes de notre connaissance et de toutes choses en général» (von den ersten Gründen unserer Erkäntniß und allen Dingen überhaupt), chapitre qui correspond à son Ontologia latine (1730), à laquelle il donne d'ailleurs le titre de Philosophia prima, sive Ontologia. Dans cette Ontologie latine, il explique que cette primauté tient au fait que «prima principia notionesque primas tradii, quae in ratiocinando usum habent» (§ 1, p. 1) : l'Ontologie traite des premiers principes et des premiers concepts dont on se sert quand on raisonne. C'est en ce sens que Ludger Honnefelder pouvait affirmer, dans l'une des magistrales leçons qu'il a récemment données dans le cadre de la Chaire de métaphysique Etienne Gilson, qu'avec Wolff « la métaphysique devient [...] en tant qu'ontologie [···] la science fondamentale de la métaphysique ».3 Or, les choses ne sont peut-être pas si simples.

'

2

3

Prolégomènes à WolfT, Christian, Vernünfftige Gedancken über die Natur des menschlichen Verstandes (Logique allemande), dans: id., Gesammelte Werke, ed. par Jean Ecole et al. Hildesheim 1962sq., tome 1, 1 ( 1 9 6 5 ) , pp. 118sq. (§§ 1 1 - 1 4 ) . Cf. § 73 de Wolff, Christian, Discursus praeliminaris de philosophia in genere, dans : id., Gesammelte Werke, tome II, 1.1 (1983), p. 34. U n e traduction française de c e Discours préliminaire, sorte de programme et de panorama de toute la philosophie wolffienne, est actuellement en cours par le groupe de Philosophie allemande au XVllIème siècle du CERPHI. Ces leçons ont été récemment traduites et publiées par Isabelle Mandrella sous le titre La métaphysique comme science transcendante entre le Moyen Age et les Temps Modernes. Paris 2 0 0 2 (Nous nous réferons ici à la page 89 de cet ouvrage.) On ne saurait aujourd'hui se passer des travaux de Ludger Honnefelder pour apprécier à sa juste mesure le statut mouvant de la métaphysique dans le sein de sa propre histoire, particulièrement dans son évolution entre ce

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Thierry Arnaud

Dans une précédente étude, alors que nous cherchions à comprendre la démarche métaphysique du philosophe de Halle en nous interrogeant sur son critère du métaphysique, nous avions été conduit à souligner l'importance de sa Psychologie empirique à l'époque de la publication de sa Métaphysique allemande4 (1719). Il nous apparaissait alors que la philosophie wolffienne faisait une large place à 1 'expérience et que les neuf premiers paragraphes du Chapitre I, dans lesquels Wolff présente ce que Claude Weber a appelé un cogito remanié 5 (il s'agit, à la vérité, d'un «cogitamus»), ne constituaient pas un chapitre mineur, ou préliminaire, de, ou à sa métaphysique, mais que ceux-ci déployaient la source de toute sa philosophie, et ce à un point tel qu'il nous semblait nécessaire d'écrire: «l'expérience du cogitamus est [...] la racine de toute la métaphysique, et, par delà, de toute la philosophie wolffienne, du moins pour ce qui concerne la position de Wolff à l'époque de la Métaphysique allemande». La psychologie empirique nous paraissait donc être première. Notre présent propos consistera à mettre à l'épreuve cette précédente affirmation au sein d'une nouvelle question, laquelle se tournera cette fois-ci vers l'Ontologie, que Wolff met apparemment, comme on l'a vu, au commencement de la métaphysique et, donc, de toute la philosophie, puisque, comme le dit encore Ludger Honnefelder, la métaphysique est, chez Wolff, «en tant que philosophie [...] la science fondamentale en général». 6 Aussi nous demanderons-nous ici dans quelle mesure l'Ontologie est-elle vraiment première à l'époque de la Métaphysique allemande. Nous le ferons tout en répondant aux remarques que Jean-Paul Paccioni nous a entre-temps amicalement adressées lors de son intervention à l'Université de Dijon, 7 où il traitait de la constitution wolffienne d'une science psychologique. Mettant en avant, en accord avec notre interprétation, le rôle de l'expérience dans la métaphysique wolffienne, et en particulier celui d'une certaine expérience psychologique (le cogitamus), le propos de Jean-Paul Paccioni est de «montrer comment celle-ci [l'expérience] est à la fois à l'œuvre et dépassée au cœur même

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que l'on a coutume de nommer la période médiévale et celle des Temps Modernes. Cf. aussi à ce titre son ouvrage capital Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Duns Scotus - Suárez W o l f f - Kant - Peirce). Hamburg 1990. Arnaud, Thierry, Le critère du métaphysique chez Wolff. Pourquoi une Psychologie empirique au sein de la métaphysique, dans : Archives de philosophie, 65/1 (2002), pp. 35-46. Weber, Claude, Article « Wolff», dans: Encyclopédie philosophique universelle, tome 3 : Les œuvres philosophiques. Paris 1992, p. 1554. Honnefelder, (voir n. 3), p. 89. Paccioni, Jean-Paul, Wolff et la constitution d'une science psychologique, dans: Annales doctorales de l'Université de Dijon, 4.3 (2001), pp. 67-85. Le numéro est consacré aux « Psychologies » et a été réalisé sous la direction de Pierre-François Moreau et de Jean-Jacques Wunenburger. Il reprend les actes de la journée d'études du 4 mai 2000, organisée par le Centre Gaston Bachelard de Recherches sur l'Imaginaire et la Rationalité (Université de Bourgogne) et le CERPHI.

Où commence la Métaphysique de Wolff?

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de la Métaphysique allemande».8 Pour servir cette fin, pour montrer ce dépassement, Jean-Paul Paccioni s'appuie notamment sur une analyse serrée du premier chapitre de la Métaphysique allemande, celui où il est question du cogitamus précédemment mentionné. Qu'y écrit Wolff? Soulignons, tout d'abord, que le chapitre s'intitule «Comment nous connaissons que nous sommes et en quoi cette connaissance nous est-elle utile» (Wie wir erkennen, daß wir sind, und was uns diese Erkäntniß nützet). Wolff commence ainsi: «Nous sommes conscients de nous-mêmes et des autres choses, et toute personne qui n'a pas perdu le sens ne peut en douter» (§ 1). Il demande ensuite «d'où vient cette certitude» (§ 3), faisant remarquer que la connaissance de cette provenance est d'importance puisque «nous avons ici l'intention de traiter de la philosophie». Il souligne également (et en cela répond au titre qu'il a posé pour ce chapitre) que «cette recherche a une très grande utilité» (§ 4), ajoutant que «si je sais pourquoi nous avons une si grande certitude du fait que nous sommes, alors je connais comment une chose doit être faite (beschaffen) pour que je la connaisse d'une manière aussi certaine q u e j e connais que moi-même je suis» (ib.). Le cogitamus wolffien confère ainsi à l'expérience - c'est ce que remarque Jean-Paul Paccioni - «une place importante dans l'élaboration de la connaissance [...]: une connaissance à laquelle nous aboutissons en faisant attention à nos sensations et aux modifications de l'âme». Or Jean-Paul Paccioni fait remarquer que, contrairement à ce que ce tour apparemment cartésien peut laisser supposer, la science suprême (la métaphysique) ne doit pas se laisser confondre avec une inspection de l'esprit par lui-même et que celleci prend une tout autre direction. A l'appui de cette affirmation, il convoque principalement les paragraphes 5 et 6 dans lesquels Wolff explique que notre conviction relative à notre propre existence ainsi qu'à celle «d'autres choses» implique un syllogisme. Les §§ 5 et 6 disent en effet : § 5. [...] Il nous faut réfléchir plus précisément à la manière par laquelle nous connaissons que nous sommes. Si nous le faisons maintenant, nous trouvons que notre connaissance est constituée de la manière suivante : 1. Nous éprouvons (erfahren) sans contredit (unwidersprechlichf que nous sommes nous-mêmes conscients de nous et d'autres choses (§ 1 huj., § 1, ch. 5 de la Log.). 2. Il est clair (klar) pour nous que celui qui est conscient de soi et d'autres choses est. Par conséquent, 3., il est certain pour nous que nous sommes. § 6. Quel raisonnement (Schluß) fait apparaître cela. Si nous voulons connaître distinctement (deutlich) comment nous sommes, par ces raisons, conduits devant le fait que nous sommes, nous devons alors remarquer que le syllogisme (Schluss) suivant est caché (versteckt) dans ces pensées :

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Nous soulignons. Cette traduction, judicieuse, est proposée par Paccioni. Elle a le mérite de souligner le lien qui unit cette démarche initiale de Wolff avec le principe de contradiction dont l'importance, bien que faisant partie du problème qui m'occupe ici, est manifeste dans la constitution de la métaphysique wolffienne.

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64 Celui qui est conscient de lui-même et d'autres choses, celui-là est. Nous sommes conscients de nous-mêmes et d'autres choses. Donc nous sommes (also sind wir).

C'est ici que le propos de Jean-Paul Paccioni est le plus dérangeant pour la thèse que nous soutenions dans notre étude précédente : si, en effet, comme il l'affirme, cette proposition majeure du syllogisme par lequel, selon Wolff, nous posons notre être, « fait partie des propositions qui sont concédées sans démonstration (dès que l'on comprend les mots qui s'y présentent) [... et qu'] elle est un principe, clair par lui-même», alors il pourrait sembler qu'il faille voir ici, à côté de l'expérience, la seconde «source» (Jean-Paul Paccioni) par laquelle on accède à la connaissance, en l'occurrence la source purement rationnelle, et que cette source seule permette de poser quelque chose, c'est-à-dire l'être. Nous aurions ainsi une analyse [qui] prouverait] que l'expérience, telle qu'elle figure au début de la Métaphysique allemande, nous permet seulement de connaître comment la démonstration acquiert sa certitude, en prenant la forme d'un syllogisme. Au-delà de Descartes, il s'agi[rai]t [ainsi] de montrer comment une expérience «sans contredit» engage une démonstration qui [implique] et dépasse cette dernière. Au-delà de Tschirnhaus, affirme encore Jean-Paul Paccioni, il s'agi[rai]t d'établir que cette démonstration a la forme d'un syllogisme, [et donc] de partir de l'expérience pour s'élever aux notions [de] la philosophie première, de telle sorte que ces dernières puissent avoir leur autonomie par rapport à elle. 10

Nous nous proposons de reprendre ces lignes, plutôt convaincantes, pour les examiner à la lumière d'un problème plus général et de les rendre, ce faisant, plus distinctes. Ce problème est celui, si important dans la démarche wolffienne, des rapports de l'expérience et de la raison, le fameux connubium rationis et experientiae. Nous examinerons ces rapports au travers d'une explication de ces concepts, d'une application de cette explication aux premiers paragraphes de la Métaphysique allemande, enfin d'une clarification quant au commencement de la philosophie wolffienne : la philosophie wolffienne commence-t-elle avec et dans l'Ontologie, la Logique ou la Psychologie? Commence-t-elle avec l'expérience ou la raison? Nous tenterons, dans le même mouvement, de répondre à diverses questions suscitées par le propos de Jean-Paul Paccioni : L'expérience, dont il reconnaît la place importante dans la Métaphysique allemande, est-elle, ainsi qu'il le dit «dépassée au cœur même de l'argumentation » (je souligne) de celle-ci ? Wolff réduit-il la métaphysique à la connaissance de l'âme par elle-même, c'està-dire à une connaissance acquise par la seule expérience interne ? Opère-t-il une «décomposition» de l'expérience du cogitamus dans le § 5 de la Métaphysique allemandes l'expérience en question se «disjoint-elle» dans les deux prémisses du § 6 ? Y a-t-il un «reste» d'expérience, comme le dit Jean-Paul

10

Nous soulignons.

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Paccioni, dans la mineure du syllogisme, laquelle énonce que « nous sommes conscients de nous et d'autres choses » ? Wolff part-il «de l'expérience pour s'élever aux notions [de] la philosophie première, de telle sorte que ces dernières puissent avoir leur autonomie par rapport à elle »? Y a-t-il une rationalité autonome chez Wolff?

Où, et par quoi commence la philosophie wolffienne ? La philosophie wolffienne commence-t-elle avec et dans l'Ontologie, la Logique ou la Psychologie? Commence-t-elle avec l'expérience ou la raison? Si de telles questions paraissent ici nécessaires, cela tient principalement à l'existence d'une intrication, dans la philosophie wolffienne, de l'ontologie, de la logique et de la psychologie empirique. On trouve, en effet, dans la psychologie empirique, de nombreux paragraphes consacrés à la logique. La psychologie empirique, en effet, expose notamment (§§ 198 à 403) ce qui ressortit à la faculté de connaître. A l'intérieur de ce massif, Wolff traite de la science et de la découverte (§§ 361-367) et il y esquisse une théorie du syllogisme. Les paragraphes suivants (368-383) sont, eux, entièrement consacrés à la raison. Comment s'expliquer cette présence du logique dans la psychologie? Comment expliquer que des éléments qui paraissent relever d'un discours ayant pour finalité de régler, ou de normer la marche de l'esprit dans le progrès de la connaissance puissent trouver place dans un propos qui concerne le factuel ? De même, le principe de non-contradiction, qui ouvre l'ontologie de la Métaphysique allemande, est exposé à son tour dans la Logique (ch. 4, § 5) : quel est alors son statut ? Est-il logique ou ontologique ? Que viennent faire des considérations sur l'être dans une logique? Réciproquement, que viennent faire des considérations logiques dans une ontologie? D'autre part, sachant que la Logique est considérée par Wolff en 1712 comme la première partie de la philosophie, qu'estce qui doit être véritablement considéré comme premier dans cette philosophie ?

Réponses Wolff présente la logique, dans les Prolégomènes à sa Logique allemande, comme la «première partie de la philosophie» (§ 10). En quoi la logique y a-t-elle une primauté? Il commence par faire remarquer que, «si nous portons attention à nous-mêmes, nous sommes convaincus qu'il y a en nous [...] une faculté que nous appelons l'entendement (Verstand)», c'est-à-dire «une faculté de penser le possible». Toutefois, nous ne savons, dans cette connaissance immédiate, ni «jusqu'où s'étend cette faculté», ni «comment on doit en user», ni «comment connaître par

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sa propre réflexion la vérité cachée» (on ne possède pas ce que Wolff appellera plus tard Γ «art d'inventer»)," ni, enfin, comment juger rationnellement (vernünftig) celle qui a été portée à la lumière par d'autres. Or, il apparaît à Wolff nécessaire d'entreprendre un «premier travail» - celui de Logique - qui nous permette d'apprendre « à connaître les forces de l'entendement humain et son droit usage dans la connaissance ». Il y a donc une double visée principielle au nom de laquelle la Logique tient ici le premier rang de toute la philosophie : il s'agit d'une part d'énumérer, d'autre part de régler les éléments de cette énumération lorsqu'ils doivent être mis au service du progrès de la connaissance. L'idée étant que si l'on ne connaît pas toute l'étendue de la «faculté de penser le possible», ni les règles, par l'application desquelles est rendu droit l'usage de celle-ci, il ne saurait être question de commencer à philosopher, sachant que « la philosophie est une science de toutes les choses possibles, à savoir comment et pourquoi elles sont possibles» 12 et qu'une science est définie comme «une disposition (Fertigkeit) de l'entendement (Verstandes) à établir (darzuthun) de façon inébranlable, et à partir de raisons irréfutables (aus unwidersprechlichen Gründen), tout ce que l'on affirme».13 Une science est donc préliminairement nécessaire à l'entreprise philosophique : il faut établir, de façon inébranlable, et à partir de Gründen (fondements ? raisons? principes?) irréfutables, tout ce que l'on affirmera de l'entendement, de ses forces, ainsi que des règles qui devront normer son droit usage dans le progrès de la connaissance. Or, puisque l'entendement fait partie des possibles, mais que la Logique ne dit pas « comment » ni « pourquoi » celui-ci est possible (ce que fera la Psychologie rationnelle), 14 la Logique n'est pas une science qui relève, à proprement parler, de la philosophie. On arrive ainsi à ce paradoxe : la philosophie dépend d'une science qui, à proprement parler, n'est pas philosophique, et cette science est la « première partie de la philosophie ». Il y a là comme un cercle, dans lequel se meut la démarche wolffienne à son commencement, cercle analogue à celui de Descartes du Discours de la méthode, qui pose les règles de la marche de l'esprit (Ilème partie) dans son progrès vers la connaissance avant de véritablement commencer en philosophie (IVème partie). Or, que se propose, de ce point de vue, la Psychologie empirique ? Au § 191 de la Métaphysique allemande, Wolff se propose «simplement de décrire (erzählen) ce que nous percevons [de l'âme] dans l'expérience quotidienne. » Il ajoute : « j e ne veux en outre rien convoquer ici d'autre que ce que chacun peut connaître par l'attention qu'il se porte». Il s'agit, là aussi d'énumérer,

11 12 13 14

Cf. Wolff, Discursus preliminaris, (voir n. 2), § 74. Wolff, Logique allemande, (voir η. 1 ), Prolégomènes, § 1. Ibid., §2. Cf. Wolff, Christian, Métaphysique allemande, dans : id., Gesammelte Werke, (voir η. 1), tome I, 2, §727 (début de la Psychologie rationnelle): «Maintenant, nous devons rechercher [...] comment ce que nous percevons [de l'âme] et que nous avons noté plus haut [dans la Psychologie empirique] trouve ici sa raison. »

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de faire un relevé. Mais ici, il ne s'agira pas seulement, comme dans la Logique, des «forces de l'entendement humain», lesquelles ne constituent pas la totalité de Γ «âme», mais de tout ce qui relève des facultés de connaître (§§ 198^103) et de désirer (§§ 404-538). D'autre part, la finalité du propos n'est pas non plus la même que dans la Logique, et ceci pas seulement à cause de son objet différent : nous voulons chercher des concepts distincts de ce que nous percevons (wahrnehmen) de l'âme et prendre note çà et là de quelques vérités importantes que l'on peut démontrer à partir de là. Ces vérités, qui sont établies (bestätigt) par des expériences qui ne trompent pas (untrügliche Erfahrungen), sont le fondement (Grund) des règles selon lesquelles les forces de l'âme sont dirigées aussi bien dans la connaissance que dans la volonté et la nolonté, et, par suite, de la logique, de la morale et de la politique. 15

Il s'agit donc ici de procéder à une double fondation : fondation de la Logique et de la philosophie pratique. Notons qu'à ce titre, la Psychologie expérimentale est, à son tour, mais d'une autre façon, au commencement de la démarche philosophique wolffienne et que le paradoxe se complique, au moins apparemment : si l'on avait pu dire que la Logique précède la philosophie elle-même au point de n'être pas, à proprement parler, philosophique, elle vient, à ce titre, avant la Psychologie empirique qui, elle, fait partie de la « science philosophique suprême » (métaphysique). Or, voilà que la Psychologie empirique fonde la Logique, c'est-à-dire qu'une partie de la philosophie est nécessaire à l'établissement d'une science qui vient avant la philosophie, laquelle, on s'en souvient, a besoin, elle aussi de la Logique pour se développer. Au lieu de nous apporter la distinction dont Wolff se réclame sans cesse, l'analyse de ses écrits semble nous projeter dans un abîme de confusion. Comment en sortir ? Pour ce faire, on ne trouvera rien dans la Logique allemande ni dans la Métaphysique allemande. Wolff n'était-il pas conscient du problème dans les années 1710-1720? Il faut ici, quoi qu'il en soit, se reporter à ses remarques du Discursus praeliminaris. Au paragraphe 87 de celui-ci, Wolff énonce un grand principe d'ordre concernant la philosophie : L'ordre des parties de la philosophie consiste en ce que celles d'où les autres empruntent leurs principes viennent en premier. La philosophie est une science (§ 29); elle devra donc d'autant plus tirer de principes certains et immuables, au travers de raisonnements légitimes, les choses dont elle traite (§ 30). Donc les parties de la philosophie qui fournissent aux autres leurs principes doivent précéder ; celles qui, au contraire, y empruntent leurs principes doivent suivre.

Puis il précise immédiatement (dans les paragraphes suivants) quelques points d'importance relativement à la place que doit occuper la Logique dans cet ordre. Il envisage deux cas possibles : celui où la Logique doit venir avant l'Ontologie et la

15

Ibid., § 191.

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Psychologie, et celui où, inversement, elle doit venir après. Il distingue ainsi entre ordo studendi et ordo demonstrandi. Elle doit venir avant l'Ontologie et la Psychologie dans Vordre de l'étude (§ 88) : puisque celui qui entreprend de philosopher ne doit pas ignorer les règles « par lesquelles la faculté de connaître est dirigée dans la connaissance de la vérité», il lui faut étudier, s'il veut «servir la philosophie avec profit, la Logique en tout premier lieu», laquelle Logique enseigne ces règles. De même, souligne Wolff, il est également reçu par l'usage que ceux qui débutent en philosophie font leurs armes dans l'étude (studio) de la logique. [Or,] de cette coutume, on ne peut rendre aucune autre raison que celle que nous avons donnée. Assurément, qui n'est instruit d'aucune connaissance (notitia) de la Logique ignore par quelle démarche il faut examiner les définitions et les démonstrations, si elles supportent la rigueur, et, bien plus, admet facilement comme certaines des [choses] qui sont bien loin de l'évidence, voire s'estime très souvent comprendre ce qui n'est que sons dépourvus de sens (mente).

La Logique doit, par contre, venir après l'Ontologie et la Psychologie dans Vordre de la démonstration. En effet, si les règles de la Logique doivent être démontrées (§ 89), cette dernière a besoin de principes qui sont posés dans l'Ontologie et de connaissances et de principes acquis dans la Psychologie. Etant donné que l'Ontologie traite de la connaissance générale de l'être et que la Logique expose «les règles grâce auxquelles l'entendement est dirigé dans la connaissance de tout être·» (je souligne), il faut tirer les principes de cette dernière de l'Ontologie. De ce point de vue - j ' y reviendrai - le principe de non-contradiction (premier paragraphe de l'Ontologie de la Métaphysique allemande) joue un rôle de tout premier plan. D'autre part, puisque la Psychologie expose «ce que sont la faculté de connaître et ses opérations» et la Logique «la façon de diriger l'entendement dans la connaissance de la vérité», cette dernière a besoin de la première. C'est pourquoi le § 90 peut ainsi conclure : S'il faut donc, en Logique, tout démontrer rigoureusement, en apportant les raisons authentiques, la Logique doit être disposée après l'Ontologie et le Psychologie. Elle tire en effet ses principes de l'Ontologie et de la Psychologie (§ 89). C'est un fait qu'il faut étudier les parties de la philosophie dans un ordre tel que celles qui précèdent soient celles dont les autres tirent leurs principes (§ 87). L'Ontologie et la Psychologie doivent donc précéder la Logique, s'il faut y démontrer rigoureusement les [choses] singulières, en apportant les authentiques raisons des règles. Il semble, à ce point du propos wolffien, que la question envisagée du commencement soit réglé. Cependant, Wolff éprouve encore le besoin de préciser «cur Autor Logicam primo omnium loco pertractaverit» - pourquoi l'Auteur a traité, ou exposé, la Logique en tout premier lieu. Cette insistance est manifestement la marque de l'embarras dans lequel Wolff s'est trouvé relativement à ce problématique commencement que nous venons d'exposer. C'est pourquoi il écrit (§ 91):

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« utrique methodo satisfieri nequit» - il ne peut être satisfait aux deux méthodes, sous-entendu: «en même temps»: il faut choisir l'une ou l'autre; l'ordre de l'étude ou celui de la démonstration. Il explique alors pourquoi il a choisi la méthode de l'étude : Les principes ontologiques et psychologiques dont elle [la Logique] a besoin se peuvent facilement expliquer dans la Logique elle-même. [Par conséquent], nous avons mieux aimé accorder la préséance à la méthode de l'étude (studendi) plutôt qu'à la méthode de la démonstration.

On comprend, dès lors, pourquoi certains éléments ressortissant à l'Ontologie ou à la Psychologie se trouvent exposés dans la Logique. Le principe de non-contradiction, qui ouvre l'Ontologie allemande (§ 10) par exemple, est ainsi exposé dans la Logique allemande (ch. 4, § 5). C'est pourquoi Wolff peut conclure que : A vrai dire, cela pouvait être fait d'autant plus aisément que les principes ontologiques sont des définitions, que les [principes] psychologiques apparaissent par l'expérience et que, de plus, ils peuvent être compris et admis comme vrais, quand même les autres [choses] enseignées dans les [matières] Ontologiques ne seraient pas encore vues avec netteté. A cela s'ajoute que, dans la Logique, certaines [choses] peuvent être admises a posteriori, dont la démonstration se laisse produire dans la Psychologie. Dès que tu auras appris la démonstration [extraite] de la Psychologie, il en sera de même que si tu l'avais reçue comme ce qui est enseigné dans la Logique.

R é p o n s e s aux questions relatives à l'interprétation de Jean-Paul Paccioni Ayant précisé, dans les considérations précédentes, où commence réellement la philosophie wolffienne, venons maintenant aux questions plus précises mentionnées tout à l'heure. L'expérience, dont Jean-Paul Paccioni reconnaît la place importante dans la Métaphysique allemande, est-elle, ainsi qu'il le dit «dépassée au coeur même de l'argumentation» (je souligne) de celle-ci lorsque Wolff déploie la structure syllogistique impliquée dans la certitude d'être du cogitamusl Pour répondre à cette question, il faut savoir d'une part ce que l'on doit nommer expérience et, d'autre part, ce que Wolff dit des syllogismes. De surcroît, et c'est là le point le plus délicat, il faut savoir si l'on doit ranger à l'intérieur du champ de l'expérience l'impossibilité de penser contradictoirement, ainsi que Wolff le dit lorsqu'il en vient, au § 10, à exposer le principe de contradiction. Voyons tout d'abord ce qu'il dit au sujet de l'expérience. Au § 325, de la Métaphysique allemande, Wolff définit l'expérience : Nous avons coutume de nommer expérience la connaissance à laquelle nous parvenons lorsque nous prêtons attention à nos sensations (Empfindungen) et aux modifications ( Veränderungen) de notre âme.

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Wolff indiquait, dans sa Logique allemande ·. «Nous faisons l'expérience de tout ce que nous connaissons lorsque nous prêtons attention à nos sensations {Empfindungen).» Apparemment, Wolff a ajouté les «modifications de l'âme» dans la Métaphysique allemande. S'agit-il pour autant d'une définition différente? Non. La définition donnée dans la Métaphysique allemande est simplement plus développée. Wolff s'en explique au § 222 de celle-ci : On s'étonnera peut-être de ce q u e j e compte les sensations entre les idées de l'âme, et l'on objectera qu'elles appartiennent au corps. Nous répondons que cela est vrai. [...] [Mais], quoique le son frappe nos oreilles pendant le sommeil, ou que l'odeur parvienne à notre nez, et que les mêmes modifications se produisent dans ces organes que lorsque nous veillons, nous ne disons pourtant pas que nous entendons ou que nous sentons, parce que nous n'avons aucune connaissance interne (je souligne) de ce qui se passe. Il est donc clair que nous rapportons principalement la sensation au sentiment interne, qui appartient incontestablement à la pensée. Mais comme d'un autre côté nous savons que nous n'avons aucun sentiment interne des objets, à moins qu'ils ne causent des modifications sur les organes de notre corps, nous avons coutume d'appeler ces modifications sensations, en altérant un peu la signification du mot. 1 6

Ainsi, l'expérience est-elle, très manifestement, indissociablement liée aux sensations, c'est-à-dire au corps, même si nous ne sommes à proprement parler conscients de celles-ci qu'au travers des modifications de l'âme, dues, en dernier ressort à l'harmonie entre l'âme et le corps (§ 222). Ajoutons enfin, au sujet de l'expérience, ceci : Je nomme jugement fondamental (Grund-Urtheit) un jugement formé grâce à une expérience, à la différence des autres, auxquels on parvient au travers de syllogismes, et q u e j e nomme jugements conséquents (Nach-Urtheile).'

Ce point nous permet de qualifier un peu mieux les premiers paragraphes de la Métaphysique allemande : le jugement porté par Wolff « nous sommes » est ainsi un jugement fondamental et sa valeur fondamentale, fondative, est redevable à l'expérience car l'expérience de notre être est le sol sur lequel s'élève toute connaissance, même s'il est vrai que, comme nous allons le voir, toute connaissance d'entendement est acquise par la voie syllogistique. Que dit Wolff, en effet, des syllogismes ? Dans sa Logique allemande, il écrit, au chapitre IV (Des syllogismes) que par leur moyen, «on découvre tout ce qui peut être tiré de l'entendement humain» (§ 20): le syllogisme est la voie royale pour accéder à la connaissance. Par ailleurs, dans le paragraphe suivant, il caractérise la «nature (Beschaffenheit) d'une juste preuve {Beweis). » (§ 21) :

16

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Nous citons ici la traduction de Formey, Jean Henry Samuel, La belle Wolfienne, dans : id., Gesammelte Werke, (voir η. 1), tome III, 16. 2 (1983). Deschamps (1736) traduit ainsi cette phrase: «Je nomme jugement intuitif ou simple celui que nous formons en vertu d'une expérience, pour le distinguer de celui que j'appelle discursif ou raisonné, et auquel on parvient par des syllogismes. » (Deschamps, Jean, Psychologie ou traité sur l'âme, contenant les connoissances, que nous en donne l'expérience, dans : Wolff, Christian, Gesammelte Werke, [voir η. 1], tome III, 46 [1998], p. 127.)

Où commence

la Métaphysique

de

Wolff?

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On ne doit [...] pas s'imaginer qu'une preuve puisse être menée à son terme à l'aide d'un seul syllogisme. Car, puisque l'on n'admet la conclusion qu'à cause des prémisses, l'on ne peut pas être assuré de sa certitude avant d'avoir saisi la justesse des prémisses. C'est pourquoi les prémisses doivent être prouvées par de nouveaux syllogismes jusqu'à ce que nous parvenions à un syllogisme où les prémisses soient ou bien des définitions (Erklärungen), ou bien des axiomes (Grund-Sätze), ou bien de justes (richtige) expériences (Erfahrungen), ou bien encore des propositions déjà démontrées. Et ici, W o l f f effectue une distinction entre preuve (Beweis) et démonstration ( D e m o n s t r a t i o n ) : On nomme cela une démonstration lorsque l'on peut conduire ses syllogismes jusqu'au point où l'on n'a, dans le dernier syllogisme, rien d'autre que des définitions, de claires expériences et des propositions identiques (leere Sätze) pour prémisses [...] Mais, [...] peu connaissent correctement la majesté de ce mot [démonstration] [...] Tout le monde convient [pourtant] qu'une démonstration doit être telle qu'il ne subsiste en elle aucun doute. C'est pourquoi aucun principe (Grund) ne doit être admis dont la certitude ne soit pas encore assurée.. Or il n'y a aucun principe (Grund) de cette nature en dehors des définitions, des expériences et de ce que l'on appelle les propositions identiques. Et chacun doit convenir que si l'on procède dans les syllogismes contre leurs règles, ceux-ci ne produisent aucune vérité. Quelle est la différence entre preuve et démonstration ? Pour le savoir, il faut encore dissiper une obscurité: qu'est-ce qu'une proposition identique? Wolff, curieusement, ne l'indique pas dans sa Logique physique

allemande

allemande,

mais dans sa

Méta-

:

Dans la proposition Tous les envieux sont envieux, le dernier membre est le même que le premier et par conséquent celle-ci fait partie de celles que l'on peut nommer propositions identiques car dans les faits elles ne disent rien (weil sie in der That nichts sagen) [...] Ce sont les seules propositions qui soient claires par elles-mêmes et qui n'exigent aucune autre démonstration. Car qu'une chose soit précisément cette chose elle-même est tout aussi clair que le principe de contradiction. Dans sa Logica,

il précisera que les propositions identiques, par exemple les défi-

nitions (cf. § 214) sont des axiomes (axiomata) (§ 2 7 0 ) : «propositiones sunt axiomata

identicae

», c'est-à-dire des propositions théorétiques indémontrables (§ 267).

Les axiomes (Grundsätze), quant à eux sont des «propositions théorétiques (Erwägungs-Sätze),

que l'on tire d'une définition ( E r k l ä r u n g ) » (Logique

allemande,

ch. III, § 13). Les définitions, enfin, sont ainsi présentées (ib, § 36) : Lorsqu'un concept distinct est complet, c'est-à-dire tel que qu'il ne convienne qu'à des choses d'une seule espèce et que l'on puisse, conséquemment, les différencier, en tout temps, de toutes les autres, je le nomme définition car il me rend en effet la chose claire au point que je la connais. Ainsi, on peut admettre pour prémisses dans les preuves des propositions déjà prouvées (erwiesene), alors qu'on ne le peut dans une démonstration. Celle-ci exige que l'on remonte à trois types seulement de prémisses : soit des définitions, soit de claires expériences, soit, enfin, des propositions identiques ou axiomes.

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Autrement dit, une démonstration exige une remontée complète jusqu'aux prémisses ultimes, qui ne sont que de ces trois types, alors qu'une preuve peut se contenter de propositions déjà prouvées. C'est ici de la fameuse méthode démonstrative dont il est question. Appliquons maintenant ce considérations à ce qui nous occupe depuis le début de cette réflexion : quel est la nature du commencement wolffien dans les premiers paragraphes de sa Métaphysique allemande et quel est le statut du principe de contradiction qui ouvre l'Ontologie allemande? Wolff écrit, au § 5, relativement à la connaissance que nous avons d'être : notre connaissance est constituée de la manière suivante : 1. Nous éprouvons de façon irréfutable (unwidersprechlich) que nous sommes nous-mêmes conscients de nous et d'autres choses (§ 1 huj§ 1, ch. 5 de la Log.). 2. Il est clair pour nous que celui qui est conscient de lui et d'autres choses est. Par conséquent, 3., il nous est certain que nous sommes.

Puis, au § 6, il établit «quel syllogisme (Schluß) fait apparaître cela» : Si nous voulons connaître distinctement (deutlich) comment nous sommes, par ces raisons, conduits devant le fait que nous sommes, nous devons alors remarquer que le syllogisme (Schluss) suivant est caché (versteckt) dans ces pensées : Celui qui est conscient de lui-même et d'autres choses, celui-là est. Nous sommes conscients de nous-mêmes et d'autres choses. Donc nous sommes (also sind wir).

La première proposition (majeure) est un axiome (Grundsatz), ou proposition identique : « le dernier membre [de cette proposition] est le même que le premier » : celui qui est [conscient], celui-là est. La mineure est, quant à elle, un jugement portant sur une expérience claire - c'est un Grund-Urtheil : un jugement fondamental, un jugement-point-de-départ: c'est à partir de lui que peut s'élancer une série démonstrative par voie syllogistique. Puisque nous recherchons quel est le point de départ de la philosophie wolffienne et que l'alternative, ainsi que nous l'avons expliqué au début de ce propos, est celle de l'ontologie ou de la psychologie empirique (qui commencerait en fait dans le premier chapitre), il faut ici préciser que les deux prémisses sont tout aussi indispensables à assurer ce commencement à partir duquel devra ensuite s'effectuer une démonstration : il faut la matière d'une expérience et la forme d'un principe. Aussi si l'on peut-on être d'accord avec Jean-Paul Paccioni quand il dit que l'expérience du cogito est dépassée dans l'argumentation qui lui succède dans la Métaphysique allemande, il semble que cela implique qu'il s'agisse d'un dépassement qui conserve ce qui est sous-tendu. Ainsi nous semble-t-il nécessaire d'affirmer que le commencement est double et que la philosophie wolffienne commence dans le psychologique (empirique) et dans l'ontologique (principe de non contradiction). Dès le commencement, nous sommes dans le connubium rationis et experientiae.

Où commence la Métaphysique de Wolff?

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Wolff réduit-il la métaphysique à la connaissance de l'âme par elle-même, c'està-dire à une connaissance acquise par la seule expérience interne ? Réponse: conséquemment non, à condition toutefois que l'on ne puisse pas réduire le principe de contradiction à une expérience interne de l'impossibilité de penser contradictoirement. Mais compte tenu de la définition wolffienne de l'expérience que nous avons examinée plus haut, rien ne nous permet d'aller dans ce sens. Opère-t-il une «décomposition» de l'expérience du cogitamus dans le § 5 de la Métaphysique allemande et l'expérience en question se «disjoint-elle» dans les deux prémisses du § 6? Y a-t-il un «reste» d'expérience, comme le dit Jean-Paul Paccioni, dans la mineure du syllogisme, laquelle énonce «nous sommes conscients de nous et d'autres choses » ? Réponse : L'expérience du cogitamus n'est pas décomposable et elle n'est pas décomposée ni disjointe dans les deux prémisses du § 6 puisqu'elle ne forme qu'un des deux éléments de départ de ce syllogisme, l'autre élément étant de nature principiel (principe de contradiction). Il n'y a donc pas non plus de «reste» d'expérience dans la mineure mais une expérience pleine et entière. Wolff part-il «de l'expérience pour s'élever aux notions [de] la philosophie première, de telle sorte que ces dernières puissent avoir leur autonomie par rapport à elle » ? Peut-on parler de rationalité autonome chez Wolff? Réponse: Etant donné le caractère conjoint du commencement wolffien (l'expérience et la raison), il serait inadéquat de répondre ici par l'affirmative à la première partie de cette question. C'est d'emblée, et continûment, que la philosophie wolffienne est marquée par l'expérience et la raison. Il serait inapproprié de chercher à donner la prééminence à l'une ou à l'autre de ces deux voies. Il n'y a pas de processus d'autonomisation du rationnel à partir de l'expérience (par abstraction, par exemple). Le rationnel est autonome d'emblée, comme l'expérience. La synthèse est effectuée par Dieu, dans le cadre de l'harmonie pré-établie.

JEAN-PAUL PACCIONI ( L y o n )

Wolff est-il « le vrai inventeur de la psychologie rationnelle » ? L'expérience, l'existence actuelle et la rationalité dans le projet wolffien de psychologie Etienne Balibar dans une édition française récente du chapitre XXVII du livre II de VEssay concerning human understanding de Locke, a rédigé dans son introduction une curieuse note sur Wolff, voyons-en le contexte. 1 Etienne Balibar étudie dans ces lignes la manière dont Locke met au point la notion de consciousness. IL s'oppose alors aux critiques adressées habituellement à Locke quand on qualifie sa philosophie « d'empiriste ». La consciousness doit être comprise en fonction du cogito cartésien, mais selon une caractéristique d'emblée relevée par Malebranche: cette conscience est un «sentiment intérieur». C'est ce qu'indique bien le fait qu'elle est identifiée à une perception. «Sentiment intérieur» est d'ailleurs le terme parfois employé par Coste, le traducteur français de Locke, pour traduire consciousness. Cette conscience ne semble alors guère adaptée pour nous permettre de saisir une activité spirituelle. Cependant, cette « conscience », cette consciousness, tout en étant une perception, est en même temps la connaissance de nous-même accompagnant chacune de ces perceptions. Elle engage alors le fait «qu'il est impossible à quelqu'un de percevoir sans percevoir aussi qu'il perçoit.» 2 Etienne Balibar souligne que la consciousness est ainsi une expérience pour chacun de « l'identité de l'esprit à lui-même en tant qu'activité ou opération de pensée. »3 On aura retenu l'accent mis par Balibar sur le fait que la consciousness apparaît dans le cadre d'une expérience qui est une expérience de l'activité de la pensée. Quand on reproche à Locke son empirisme, c'est au contraire en affirmant qu'il réduit l'esprit à la passivité. C'est précisément ce que semble impliquer la définition de l'expérience que Locke donne au Livre II, chapitre 1, § 2 des Essais, quand il compare l'esprit à une page blanche. Au contraire, Balibar souligne la place que Locke donne à Y activité de l'esprit au sein de sa psychologie. Il écrit alors « Locke sera ainsi le vrai fondateur de la psychologie rationnelle [...] faite de toutes les réflexions de l'esprit sur lui-même. Et qui précède en ce sens en droit comme en fait toute constitution de < science > ». Si Locke est le vrai fondateur de la psychologie rationnelle, il faut alors critiquer l'ambition manifestée par Wolff lorsqu'il prétend avoir inventé cette dernière. C'est précisément ce qu'Etienne Balibar suggère dans une note :

1 1 3

Balibar, Etienne, Identité et différence. L'invention de la conscience. Paris 1998, p. 76. « It being impossible for any one to perceive, without perceiving, that he does perceive. » (§ 9). Ibid. p. 75, souligné par nous.

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Paccioni

L'introducteur du terme en philosophie, Christian Wolff, en bon leibnizien qu'il était a appelé psychologica empirica la «psychologie rationnelle» de Locke pour pouvoir réserver à son école la «vraie»psychologia rationalis.

Le « vrai » fondateur de la psychologie rationnelle serait donc Locke ! Wolff ayant qualifié la psychologie lockienne «d'empirique» dans un souci d'hégémonie. Etienne Balibar ajoute alors que «ce point de vue (celui de Wolff) est toujours vivace au XXième siècle, ainsi dans les commentaires de Cassirer. » Cette analyse suppose que la dénomination «psychologia empirica » soit infamante pour Wolff, parce que, selon lui, seule la psychologie leibnizienne donnerait une réelle place à l'activité de l'esprit. Or tout lecteur de Wolff sait que celui-ci rejette l'étiquette « leibniziano-wolffienne ». Tout lecteur de Wolff sait aussi que la Psychologia empirica joue un rôle central dans son système. La psychologie rationnelle de Wolff est à la fois différente de la psychologie empirique et lui est en même temps étroitement conjointe. La remarque de Balibar méconnaît totalement toutes ces particularités. Etienne Balibar fait cette suggestion contestable au sein d'une analyse très intéressante de la pensée de Locke. En fait, comme le montre sa dernière remarque, il la rédige sous l'influence probable de Cassirer. En effet, c'est Cassirer qui suggère d'opposer Leibniz et Wolff à Locke. Selon lui, les premiers défendraient une conception active de l'âme humaine, le second réduirait cette âme a un « p u r pâtir». Il s'agit d'un passage de son ouvrage Die Philosophie der Aufklärung, chapitre 3, troisième partie : Wolffs rationale und empirische Psychologie geht ihren eigenen Weg, und sie bleibt in ihm den Leibnizschen Grundvoraussetzungen treu. Sie gründet die Lehre von der Seele auf die Lehre von der Spontaneität, von der Selbständigkeit und Selbsttätigkeit der Monade, der nichts von außen zufließt, sondern die alle ihre Inhalte nach einem ihr eigentümlichen Gesetz erzeugt. [...] Eine Psychologie, die den letzten Grund des Seelischen in der Impression zu erfassen sucht, hat nach Leibniz und Wolff schon den Ansatz der Frage verfehlt. Sie geht an dem Urphänomen der Seele vorbei: denn dieses besteht im Tun, nicht im bloßen Erleiden. Der Psychologie der Sensation tritt jetzt eine reine Funktions-Psychologie gegenüber. 4

La position leibnizienne serait reprise par Wolff. Elle consisterait donc à prétendre que Locke fonde le psychologique dans l'impression, dans un «pâtir» (Erleiden), alors qu'il faudrait concevoir l'âme comme active. Il faut fonder la doctrine de

4

Cassirer, Ernst, Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg 1998, pp. 160-161. Trad, française: La philosophie des lumières. Paris 1966, p. 141 : «La psychologie rationnelle et empirique de Wolff poursuit sa voie propre tout en demeurant fidèle aux principes du leibnizianisme. Elle fonde sa doctrine de l'âme sur celle de la spontanéité, sur la doctrine de l'autarcie et de l'autonomie de la monade qui, sans rien recevoir de l'extérieur, produit d'elle-même ses contenus selon sa propre loi [...]. Selon Leibniz et Wolff, une psychologie qui prétend trouver dans l'impression le fondement dernier du psychologique a déjà manqué la position même de la question. Elle passe outre le phénomène primitif de l'âme qui consiste dans l'action et non dans un pur pâtir. A la psychologie de la sensation s'oppose alors une psychologie purement fonctionnelle. »

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l'âme sur la spontanéité. Cela permet de voir en Leibniz le précurseur des modernes psychologies fonctionnelles. On retrouve bien là l'opposition, trop classique, entre l'empirisme qui fonderait la connaissance et la vie psychique dans l'impression, par opposition au rationalisme qui les fonderait dans l'activité de l'esprit. Or précisément Wolff doit élaborer une psychologie rationnelle à la fois différente de la psychologie empirique et conjointe à elle. Cela ne rentre pas dans le cadre de Cassirer. Cette psychologie empirique suppose l'apport d'une expérience nécessaire pour connaître l'activité de l'esprit. Qu'est-ce que cette expérience? Faut-il admettre que Wolff rende l'âme humaine contradictoirement active et passive? Penserait-il l'âme comme passive par la place qu'il donnerait à l'expérience et active par la place qu'il donne à la spontanéité de l'âme? Certains commentateurs se contentent souvent de reprocher à Wolff ses faiblesses et ses contradictions (par exemple, en France, Francis Courtès), mais c'est précisément parce qu'on applique ici à Wolff des schémas tout faits. Il faut en fait comprendre comment, dans le rapport entre psychologie empirique et psychologie rationnelle, s'articulent l'expérience et la connaissance de l'activité de l'esprit en elle-même. Cela impose tout d'abord de défaire le schéma opposant rationalisme et empirisme pour découvrir comment se pose dans toute son étendue le problème de cette articulation. Il faut donc déterminer ce que la schématisation utilisée ici par Cassirer laisse de côté. Après avoir montré comment Leibniz, puis Tschirnhaus, affrontent ce problème, nous pourrons découvrir comment procède Wolff à partir de ses deux précurseurs.

1. Au-delà de l'opposition rationalisme - empirisme. Un problème implicite : dans quelle mesure l'expérience permet-elle une connaissance de l'activité de l'esprit? a) Nous allons donc devoir montrer que le schéma selon lequel il faudrait immédiatement opposer les penseurs empiristes (réduisant l'esprit à un «pur pâtir») aux rationalistes (qui affirmeraient son activité) est réducteur. Il masque un problème qu'en fait tous les penseurs en jeu peuvent avoir en commun. Dans ce but, nous nous appuierons sur les analyses récentes qu'Etienne Balibar a consacré à la pensée de Locke. Nous nous contenterons de montrer comment elles mettent en cause cette opposition entre le rationalisme et l'empirisme. Nous avons vu que, selon Etienne Balibar, Locke place l'activité de l'esprit au centre de la psychologie, mais à partir d'une expérience qui est une conscience de cette activité. Nous allons voir comment ce type d'interprétation est possible.

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Quant, au § 2, du chapitre 1 du livre II, des Essais.5 Locke définit l'expérience il commence par demander qu'on suppose qu'au commencement l'âme (mind) est une table rase, ou une feuille blanche. C'est alors qu'on peut se demander comment le mind peut recevoir des idées ou plutôt peut se fournir ou se pourvoir (furnish) en idées : Let us then suppose the mind to be, as we say, white paper void of all characters, without any ideas. How come it to be furnished?

Cette question va dans le sens de l'interprétation qui voit dans la pensée de Locke un empirisme réduisant l'esprit à la passivité. C'est précisément cette réduction que semblent d'ailleurs essentiellement souligner Leibniz dans le paragraphe équivalent des Nouveaux Essais sur l'entendement humain et Wolff dans les Verniinfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt au § 820.6 Mais il convient d'analyser la réponse de Locke: «Experience; in that all our knowledge is founded, and from that it ultimately derives itself. »7 L'expérience est bien le fondement de toute la connaissance, mais cette expérience est double : Our observation employed either about external sensible objects, or about the internal operations of our minds perceived and reflected on by ourselves, is what supplies our understanding with all the materials of thinking. These two are the fountains of knowledge, from whence all the ideas we have, or can naturally have, do spring.8

L'expérience est une observation, une conscience, soit des objets extérieurs, soit des opérations intérieures de notre mind. Elle engage donc bien une perception, au sens cartésien du terme comme conscience, sentiment intérieur. Cependant la différence ou le décalage entre les deux types d'expérience permet de démontrer que Locke conçoit la réflexion comme une expérience des opérations du mind, de son activité. Ainsi Etienne Balibar écrit : « Entre la perception première (la sensation ) et la perception seconde (la réflexion), doit toujours déjà s'interposer le moyen terme d'une opération même élémentaire. C'est pourquoi, ce que l'esprit perçoit par réflexion, ce ne sont pas des idées qui seraient simplement déposées en lui, mais ce 5

6

7

8

Locke, John, An Essay concerning human Understanding, éd. John W. Yolton. London 1985, p. 1 (book I, chap. 1, § 2). Plus communément nommée : Deutsche Metaphysik. Nous ferons référence à l'édition : Wolff, Christian, Gesammelte Werke, éd. par Jean Ecole et al. Hildesheim 1962sq., ici tome I, 2, p. 508. «L'expérience, c'est là le fondement de toutes nos connaissances et c'est de-là qu'elles tirent leur première origine. » «Les observations que nous faisons sur les objets extérieurs et sensibles, ou sur les opérations intérieures de notre âme (mind), perçues et réfléchies par nous-mêmes, fournissent à notre esprit les matériaux de toutes ses pensées. Ce sont là les deux sources de la connaissance d'où découlent toutes les idées que nous avons, ou que nous pouvons avoir naturellement. »

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sont ses propres opérations, et en ce sens c'est lui-même, en tant qu'il est essentiellement une activité. » 9 Locke, par la place qu'il donne à l'expérience dans la connaissance, ne réduit pas l'esprit à un pur pâtir (bloßes Erleiden). Il conçoit l'expérience consciente de telle sorte que c'est en elle, et dans ses limites, qu'une connaissance de l'activité de l'esprit est possible. La référence à la sensation ne conduit pas à réduire l'esprit à la passivité, ce qui compte c'est la détermination des caractéristiques de l'expérience consciente et la détermination de la manière dont elle s'articule au mind. b) Objection au paragraphe précédent et confirmation : le problème est bien de déterminer quel peut être le rôle de l'expérience dans la connaissance de l'activité de l'esprit en elle-même, de montrer ce que l'expérience est susceptible de nous apprendre à ce propos et d'analyser ses caractéristiques. Remarquons que cette thèse rencontre de redoutables objections. Locke pense que la substance de l'esprit nous est inconnue et que nous ne pouvons prétendre avoir une connaissance certaine de notre âme. C'est une position que Wolff dénonce dans la Psychologia rationalis (note du § 66, p. 45). 10 Entre Locke d'une part, Wolff et Leibniz d'autre part il y a toute l'opposition entre une psychologie du mind et une psychologie de «l'esprit», du Geist. Locke a pour but de connaître dans une certaine mesure (mais d'une manière suffisante), l'activité de notre esprit, Wolff et Leibniz ont pour but de connaître son essence. La phrase d'Etienne Balibar peut sembler brouiller cette différence. En fait, elle permet de découvrir la complexité de la situation. Aussi bien pour Locke, que pour Wolff et Leibniz, il s'agit de connaître l'activité de l'esprit. On ne peut pas opposer simplement deux « camps » sur ces questions. Il est possible de considérer que la connaissance de l'essence de l'âme nous est impossible (Kant), mais il est aussi possible de considérer que cette connaissance nous est dans une certaine mesure inutile. Cette position est probablement celle de Locke, mais elle est aussi celle de Tschimhaus. Un penseur qu'on ne peut pas considérer comme un empiriste selon le schéma habituel. Enfin un philosophe peut prétendre connaître l'essence et la nature de l'âme en tant qu'elle est active, mais de telle sorte qu'un aspect de cette activité échappe à cette connaissance, c'est le cas de Wolff, ainsi que nous le découvrirons à l'issue de notre recherche.

9 10

Balibar, (voir n. 1), p. 76. Wolff, Christian, Psychologia rationalis, dans: id., Gesammelte Werke, (voir η. 6), tome II, p. 6. 11 s'attaque ainsi probablement à Locke mais aussi à Huet et Budde (et peut être aussi dans une certaine mesure à Tschimhaus). Wolff définit au contraire l'essence de l'âme dans ce paragraphe.

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Il ne faut donc pas d'emblée ici opposer les philosophes, il faut trouver le problème qu'ils ont en commun et en fonction duquel ensuite ils élaboreront une solution qui permettra à chacun d'eux d'adopter une position originale. Ce qui nous intéressera ici est le problème tel qu'il peut se poser entre le XVIIe et le début du XVIIIe siècle. Nous venons d'exposer des analyses récentes de la pensée de Locke. Elles nous obligent bien à laisser de côté ce que suggère l'opposition schématique de l'empirisme et du rationalisme. Quand un philosophe analyse à cette époque la place de l'expérience dans la connaissance il n'a pas d'abord pour but de montrer que l'esprit est actif ou qu'il est passif, mais il a pour but de déterminer quel peut être le rôle de l'expérience, comme expérience consciente, dans la connaissance de l'activité de l'esprit. Il doit nous montrer ce que l'expérience est susceptible de nous apprendre à ce propos et analyser ses caractéristiques. c) Leibniz affirme l'activité, la spontanéité, l'autonomie de la monade mais en devant analyser la place de l'expérience dans la connaissance de l'activité de l'esprit en elle-même. S'il refuse en un sens cette possibilité à la simple expérience consciente, il trouve par contre en elle un substitut à cette connaissance manquante. On trouve aussi dans l'œuvre de Leibniz une définition de l'expérience impliquant en elle une conscience, comme sentiment interne." On peut ainsi lire en Gehrardt IV 327 : « Prima experimenta nostra constat esse ipsas internas perceptione. » Ainsi les premières expériences que nous constatons sont nos perceptions internes. Mais Leibniz ajoute que ces expériences internes sont le fondement des vérités de fait {Nam ut experimenta interna sunt fundamentum omnium veritatum facti). Cette analyse est complétée dans les Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum (sur l'art. 7) qui distinguent les vérités de fait et les vérités de raison: « [ . . . ] veritates esse vel facti vel rationis. Veritatum rationis prima est principium contradictionis [...]. Veritates facti primae tot sunt quot perceptiones immediatae sive conscientiae, ut sic dicam. » I 2 Ainsi ces premières expériences, ces perceptions, ces consciences, ne sont que des vérités de fait, vérités qui n'ont pas la dignité et la nécessité des vérités de raison.

" 12

Sur la question de l'expérience chez Leibniz nous nous inspirons notamment d e : Holzhey, Helmut, Kants Erfahrungsbegriff. Basel / Stuttgart 1970, p. 69sq. «Toutes les vérités sont ou bien des vérités de fait ou bien des vérités de raison. La première des vérités de raison est le principe de contradiction [...]. Il y a autant de vérités de fait premières qu'il y a de perceptions, ou si l'on peut dire ainsi, de consciences. » (Leibniz, Gottfried Wilhelm, Die philosophischen Schriften, éd. par C. I. Gerhardt. 7 tomes. Berlin 1875-1890, tome 4 [1880], p. 3 5 7 ; trad, française: id., Opuscules philosophiques choisis, éd. par Paul Schrecker, Paris 1978 [Bibliothèque des textes philosophiques], pp. 20sq.)

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Leibniz distinguera ensuite clairement la perception comme l'état passager qui représente une multitude dans l'unité et l'aperception (§ 14 de la Monadologie) qui est conscience, mais surtout acte réflexif. L'aperception est acte, activité, c'est pourquoi il convient de la distinguer de la conscience si l'on entend par là le simple sentiment interne, la consciousness, la « conscienciosité » comme le traduit Leibniz. Pour Leibniz, la simple expérience consciente n'est pas une connaissance de l'activité de l'esprit en elle-même. Pour cela, il faut qu'il y ait aperception, activité reflexive effective. Ainsi la Monadologie au § 28 affirme que nous sommes « empiriques dans les trois quarts de nos actions » car nous sommes le plus souvent portés par les consécutions entre nos perceptions, non par un jugement de notre raison. Le § 29 affirme alors que seule la raison nous élève à la connaissance de nous-même et de Dieu, en faisant de nous des esprits. Elle introduit alors la notion d'aperception au § 30: «C'est aussi par la seule connaissance des vérités nécessaires et par leurs abstractions que nous sommes élevés aux actes réflexifs, qui nous font penser à ce qui s'appelle moi, et à considérer que ceci ou cela est en nous. Et c'est ainsi qu'en pensant à nous, nous pensons à l'Être, à la Substance, au simple et au composé, à l'immatériel et à Dieu lui-même [...]. »' 3 L'aperception leibnizienne est bien une connaissance de l'activité de l'esprit en elle-même. C'est-à-dire, à la fois, une connaissance et la production effective, l'actualisation de cet esprit. Pour autant le dernier mot de Leibniz concernant l'expérience n'est peut être pas dans ces textes, en un sens notre problème est aussi affronté par les Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis de 1684.14 II va considérablement influencer le traitement wolffien de l'expérience. La question est de savoir ce qui distingue les vraies idées des fausses idées et en un sens, comme Locke (mais Leibniz est ici en débat avec Descartes, Malebranche et Arnauld), il s'agit de se demander comment nous obtenons celles-ci. Contre Descartes il faut dire que : « neque enim statim ideam habemus rei, de qua nos cogitare sumus conscii». 15 D'où l'importance de la «logique commune.» Une idée est vraie quand sa notion est possible. Ainsi on ne pourra être certain d'avoir une idée de Dieu qu'en démontrant sa possibilité, et donc sa noncontradiction. Dans ce texte Leibniz évoque une connaissance par lesquelles nous remonterions «aux premiers possibles et aux notions indécomposables, ou ce qui revient au même, aux attributs même de Dieu comme causes premières et à l'ultime raison

13 14

15

Leibniz, Gottfried Wilhelm, La monadologie, éd. par Boutroux. Paris 1978, pp. 146-155. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Philosophische Schriften, (voir η. 12), tome 4, pp. 422^126; cf. id., Opuscules, (voir n. 12), pp. 9 - 1 6 . «Pour avoir du même coup l'idée d'une chose, il ne suffit pas de sa pensée consciente.»

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de toutes choses». 16 Ainsi nous connaîtrions le possible à partir de l'origine active de toutes choses. Mais, en fait, Leibniz doute de cette connaissance et il insère cette remarque dans un exposé dans lequel il va (semble-t-il le premier) distinguer une connaissance a priori de la possibilité et une connaissance a posteriori de celle-ci. La connaissance a priori est, au premier rang, celle qui se manifeste quand on produit des définitions causales, elle suppose qu'on puisse résoudre une notion en ses réquisits ou en d'autres notions possibles. Elle suppose donc une connaissance déductive de la possibilité à partir du calcul et du raisonnement, elle se réalise pleinement « quand nous comprenons comment une chose est produite. » Elle est donc seulement rationnelle, active, et nous achemine d'emblée vers une compréhension de la productivité des choses. Par contre la possibilité d'une chose peut aussi être connue a posteriori: « a posteriori vero, cum rem actu existere experimur, quod enim actu existit vel extitit, id utique possibile est. »17 Cette connaissance dépend donc de ce que nous expérimentons. L'expérience s'y définit par le fait qu'elle porte sur ce qui existe en acte, et non pas par d'autres caractères (comme la passivité par exemple). Ce qui existe en acte, factuellement, est «assurément» possible, et donc le connaître, même par l'expérience, nous offre une connaissance de la possibilité. Leibniz ajoute alors que cette connaissance a posteriori, bien qu'elle paraisse un simple substitut, permet précisément de composer des connaissances : « Plerumque contenti sumus, notionum quarundam realitatem experientia didicisse, und postea alias componimus ad exemplum naturae. » l s Ce résultat va, de près ou de loin, exercer une grande influence sur Tschirnhaus et Wolff. Ils vont s'en servir pour articuler expérience et connaissance de l'activité de l'esprit en lui-même, et plus largement expérience et connaissance.

2. Tschirnhaus a) Les premières expériences de la philosophie première et la connaissance a posteriori de l'activité de l'esprit. On sait que la lecture de la Medicina Mentis de Tschirnhaus 19 est déterminante dans le projet philosophique wolffien. Wolff découvre cet ouvrage avant de lire 16

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«ad prima possibilia ac notiones irresolubiles, sive (quod eodem redit) ipsa absoluta Attributa Dei, nempe causas primas atque ultimam rerum rationem. » «[...] a posteriori, quand nous expérimentons que la chose existe en acte ; car ce qui existe ou a existé en acte est assurément possible. » «Le plus souvent nous nous contentons d'apprendre de l'expérience la réalité de certaines notions, et de nous servir ensuite de ces notions pour en composer d'autres à l'exemple de la nature. » Nous avons travaillé sur la deuxième édition de l'ouvrage: Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von, Medicina mentis. Lipsiae 1695; traduction française: id., Médecine de l'esprit ou préceptes généraux de l'art de découvrir, trad, par Jean-Paul Wurtz. Strasbourg 1980.

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Leibniz, si bien que, comme le dit Ciafardone, 20 Tschirnhaus est à plus juste titre son maître que Leibniz. Tschirnhaus élabore une philosophie originale directement influencée par le Tractatus de Intellectus Emendatione de Spinoza, mais aussi proche des positions de Leibniz dans les Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis. Dans la Medicina Mentis il élabore une philosophie première dont deux caractéristiques sont pour nous très importantes. Nous allons ici étudier la première. Tschirnhaus n'est évidemment pas ce qu'on appelle généralement un empiriste, mais sa philosophie première repose explicitement sur une connaissance a posteriori, une expérience de l'activité de l'esprit. Celle-ci est par elle-même une connaissance des premiers principes du savoir. Cette connaissance a posteriori nous permet d'élaborer une connaissance a priori. On retrouve en un sens ici les points des Meditationes cités plus haut : un rôle attribué à la connaissance a posteriori et un rôle attribué à une connaissance a priori, enfin, la possibilité de composer la connaissance a posteriori pour élaborer une connaissance a priori. La Medecina Mentis est elle-même marquée par les échanges entre Leibniz et Tschirnhaus, par les Meditationes et les recherches qui les précèdent dans l'œuvre de Leibniz. La Medecina Mentis va exposer les premiers principes de la philosophie première, premiers principes qui sont en fait des premières expériences. Cette philosophie première n'est pas la métaphysique. Il n'est donc pas question de métaphysique au sens scolastique, et la philosophie première se confond avec une logique, une méthode, un art de découvrir, elle permet de trouver un remède infaillible permettant de reconnaître avec certitude le vrai et le faux. Dès les premières pages Tschirnhaus fait appel au sentiment que l'on peut avoir de son esprit (Mens): « [ . . . ] atque sic ex tui ipsius animi sententià clarè appareat, quid in prima Philosophià tractandum sit.» 2 ' C'est ainsi qu'apparaissent quatre principes : 1. Me variarum rerum conscium esse, quod principium primum et generale totius nostrae cognitionis est. 2. Me bene à quibusdam, à quibusdam vero malè affici [...]. 3. Quaedam à me posse concipi seu cogitatione apprehendi, quaedam autem à me nullo modo posse concipi, seu, repugnare quaedam, et respectu mei incogitabilia esse, principium primum est, ex quo omnis veri et falsi deducitur cognitio. 4. Tandem me varia sensuum externorum, itemque imaginum internarum et passionum ope advertere, principium primum est, unde omnia, quae ipsi experientiae debemus, émanant. Hisce quatuor principiis, ceu totidem columnis, totum humanae cognotionis edificuum mihi videtur unicè inniti. 22 20 21

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Wolff, Christian, Metafisica tedesca, trad, et éd. par Raffaele Ciafardone. Milano 1999, p. IX. Tschirnhaus, Medicina, (voir n. 19), p. XX; id., Médecine, (voir n. 19), p. 42: «c'est du sentiment de ton propre esprit que ressort clairement ce sur quoi doit porter la philosophie première. » Id., Medicina, (voir n. 19), p. XXI; id., Médecine, (voir n. 19), pp. 42—43 : « 1) J'ai conscience de diverses choses. C'est là le principe premier et général de toute notre connaissance. 2) Je

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Dans la conclusion générale Tschirnhaus indique qu'il a procédé a posteriori pour découvrir ces quatre principes, en soulignant qu'il faut commencer «par des expériences qui se font en nous-mêmes. » La connaissance a posteriori s'identifie donc avec l'expérience. Cette dernière est clairement marquée par le tournant cartésien, il s'agit d'une expérience intérieure, d'une conscience (ou plutôt d'un «être conscient»). Elle s'identifie donc en ce sens avec ce que Malebranche appellerait le «sentiment intérieur». C'est le cas, lorsque Tschirnhaus justifie son premier principe en partant de la conscience qu'il a lorsqu'il est en train de conclure son traité.23 On notera que cette conscience est une conscience de choses diverses, elle n'est pas tant un ego cogito qu'un «être conscient» qui d'emblée peut servir de principe méthodique à chacun. Contrairement aux apparences, il ne faut pas croire que Tschirnhaus revienne à l'évidence cartésienne. Le premier principe de la Medicina Mentis ne se réduit pas à la présence et au caractère manifeste de la perception claire et distincte selon Descartes. En tant que connaissance a posteriori, il nous offre le sentiment d'une activité, ou d'une inactivité, de l'esprit. Ses caractéristiques nous conduisent bien loin des poncifs de l'historiographie classique : c'est implicitement une interprétation du Tractatus de Intellectus Emendatione qui est en jeu. Tschirnhaus ne fait évidemment pas référence à Spinoza. Pourtant, il semble essentiellement infléchir la démonstration au cours de laquelle ce dernier rejetait la méthode cartésienne et prouvait que la vérité peut être index sui. Après avoir écrit que « la certitude n'est rien d'autre que l'essence objective elle-même», il précisait alors que «la manière dont nous sentons l'essence formelle est la certitude elle-même.» 24 Tschirnhaus semble bâtir toute sa «médecine de l'esprit» en recentrant l'analyse spinoziste sur ce «sentimus» selon lequel se révèle l'essence formelle.

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suis affecté agréablement par certaines choses, désagréablement par d'autres [...]. 3) Il y a des choses q u e j e peux concevoir ou saisir par la pensée; il y en a d'autres q u e j e ne puis concevoir d'aucune manière, c'est-à-dire qu'elles sont contradictoires et impensables pour moi. C'est le principe premier d'où découle toute notre connaissance du vrai et du faux. 4) Enfin je remarque diverses choses au moyen des sens externes et pareillement au moyen de représentations intérieures et de passions. C'est le principe premier d'où provient tout ce que nous devons à la seule expérience. Tout l'édifice de la connaissance humaine me semble reposer exclusivement sur ces quatre principes comme autant de piliers. » Id., Médecine, (voir n. 19), p. 2 5 0 : «Car, puisque j e ne puis nier en aucune façon q u e j e sais que je suis en train de consigner ces mots même par écrit, que pour la même raison, j ' a i connaissance de ce que je conclu en ce moment ce traité, et que de la même façon je suis conscient de choses foncièrement différentes, je tiens ce savoir, cet avoir connaissance, cet être conscient dont je fais l'expérience en moi-même, et qu'en plus je ne puis nier en aucune manière (car si j e le niais, je saurais assurément, autrement dit j'aurais assurément connaissance que je le nie) pour le premier principe ou pour la première expérience, celle qui m'est la plus connue. » Spinoza, Benedictus de, Traité de la réforme de l'entendement, éd. par Alexandre Koyré. Paris 1979, p. 29. (id., Tractatus de intellectus emendatione, in: ders., Opera, éd. par Carl Gebhardt. 5 tomes. Heidelberg 1925, tome 2, p. 15: «Hinc patet, quod certitudo nihil est praeter ipsam essentiam objectivam ; id est, modus, quo sentimus essentiam formalem, est ipsa certitudo. »)

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C'est précisément pourquoi le troisième principe de la Medicina Mentis produit un critère de vérité qui consiste dans la concevabilité : J'observe la troisième expérience qui est le fondement de toute la certitude humaine, à savoir que nous pouvons concevoir certaines choses et ne pouvons en concevoir certaines autres. J'ai exposé plus haut et en divers endroits que pourvu qu'il ne veuille contredire sa propre conscience, aucun homme ne peut révoquer en doute ce fait.

Cette troisième expérience fonde la certitude en révélant ce que Spinoza avait identifié à la productivité à l'œuvre dans les idées. Comme dans le spinozisme le modèle de la définition génétique ou causale (qui engendre le défini) joue donc un rôle fondamental. 25 Cependant Tschirnhaus n'envisage cette productivité qu'à partir de ce qui s'éprouve activement dans l'être conscient. La conscience de cette activité doit être le critère principiel de la certitude. Ainsi les deux aspects conjoints dans l'approche spinoziste de la certitude (l'essence objective, l'essence formelle) se distinguent beaucoup plus. Il faut d'abord envisager dans cette conjonction ce que nous éprouvons activement a posteriori, ceci peut alors servir de fondement à notre recherche de la vérité. Ce n'est qu'à partir de ce fondement que peut se déduire rationnellement une connaissance en lui-même du connu. Cette déduction rationnelle, qui va essentiellement permettre la production de définition génétique, est précisément ce que Tschirnhaus va désigner sous le nom de connaissance a priori. Dans la conclusion de son œuvre, il va précisément montrer comment s'articulent de manière originale dans son œuvre connaissance a priori et connaissance a posteriori. Après avoir souligné qu'il ne s'est pas contenté d'indiquer ce qu'il faut faire dans la recherche de la vérité, mais comment il faut le faire, il montre comment il a placé toute la recherche de la vérité dans une voie médiane qui les conjoint toutes deux. Dans la recherche du vrai il faut commencer a posteriori, par l'expérience (et principalement celle de la concevabilité), pour conduire des déductions a priori qui seront « confirmées par des expériences évidentes ». Au terme de la recherche il sera alors possible de revenir à l'a posteriori,26 25

26

Id., Médecine, (voir n. 19), p. 92: «[...] il est clair que toute définition d'une chose particulière doit toujours comprendre le premier mode de formation de cette chose, que j'appellerai la génération d'une chose. Car concevoir véritablement une chose, ce n'est rien d'autre qu'une activité mentale, celle de la formation d'une chose dans l'esprit. » Id., Medicina, (voir η. 19), p. 290: «Verum quisquís haec attenté evolverit, non poterit non observare, me ad hoc obtinendum via usum quasi intermedià inter omnium hue usque philosophantium vias, quorum quidam omnem cognitionem à priori per solas rationes, reliqui potius à posteriori per experientiam derivandam esse censuerunt. Est enim mea sententia, initio quidem a posteriori incipiendum, tum vero in progressu omnia tantum à priori derivanda, et ubique per evidentes experientias singula confirmanda esse; hocque eò usque continuandum, quo usque denuo ad primas experintias, quas à principio assumpseramus, ipso ordine ducti redeamus, et sic totus Philosophiae circulus absque circulo (ilium puta, quem improbant Logici).»; id., Médecine, (voir η. 19), p. 249: «Or quiconque lira cela avec attention ne pourra manquer d'observer que j'ai utilisé à cet effet une voie en quelque sorte intermédiaire entre celle de tous les philosophes antérieurs, dont les uns ont estimé que toute notre connaissance doit être dé-

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La Medicina Mentis en attribuant un rôle principici au sentiment que l'on a de son propre esprit a une position qui peut nous paraître ambiguë. Certes, le rôle qu'elle accorde à «l'expérience» n'a pas pour but de réduire la connaissance à ce qui provient des sens externes ou internes, pourtant c'est bien à eux que se réduit « la seule expérience. » 27 Mais référer la connaissance à l'expérience, contrairement à ce que l'on croit trop vite, ne consiste pas à vouloir la dissoudre dans les sens. Il s'agit bien au contraire pour Tschirnhaus de nous permettre de développer une expérience active, en utilisant ainsi notre entendement, et en produisant une connaissance a priori. Tschirnhaus en s'appuyant sur l'exemple des «mathématiciens», conseillait comme un remède de reconnaître « très souvent par expérience la différence entre la faculté de concevoir ou entendement et la faculté de percevoir ou imagination. » Il faut étendre la méthode des mathématiciens à toutes les sciences, en faisant reposer toute la méthode sur le développement du pouvoir de l'entendement : « Les opérations de l'imagination nous ont jusqu'ici accaparés tout entiers à un point tel que dans l'ensemble nous n'avons pas remarqué ce qui est le propre de l'entendement». 28 Cette analyse va de pair avec la manière dont il réutilise la différence qu'on peut trouver chez Bacon entre philosophes du verbe, philosophes historiens et philosophes du réel. Pour résumer très succinctement cette différence : les premiers ne connaissent que la signification des termes et les seconds ne détiennent qu'une connaissance historique, qu'ils n'ont pas acquise par leurs propres moyens mais grâce aux écrits des autres. Seul le philosophe du réel a une connaissance philosophique: «il a accédé à un niveau de connaissance tel qu'il constate en en faisant lui-même l'expérience qu'il est en son pouvoir de tirer au clair par les forces propres de son esprit, tout ce qui, bien qu'inconnu, est accessible à l'entendement humain. »29

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duite a priori par le seul raisonnement, les autres qu'elle doit l'être a posteriori par l'expérience. Car à mon avis il faut certes d'abord commencer a posteriori, mais ensuite pour poursuivre tout doit être déduit a priori, par le seul raisonnement, et partout chaque vérité en particulier doit être confirmée par des expériences évidentes. Et nous devons continuer ainsi selon moi jusqu'à ce que guidé par l'ordre lui-même nous revenions aux premières expériences que nous avions utilisées dès le début et jusqu'à ce qu'ainsi tout le cercle de la philosophie soit achevé sans cercle (à savoir celui que les logiciens condamnent) ». Sur la base de «l'être conscient» il faut distinguer selon Tschirnhaus une expérience active, qu'on peut désigner comme celle de l'entendement, et une expérience passive que l'on désigne sous le nom «d'imagination». Cette dernière s'énonce dans le quatrième principe énoncé plus haut: «je remarque diverses choses au moyen des sens externes et pareillement au moyen de représentations intérieures et de passions». C'est de cette manière qu'apparaît le principe premier de « ce que nous devons à la seule expérience ». Id., Medicina, (voir η. 19), p. 44 ; id., Médecine, (voir η. 19), p. 75. Id., Medicina, (voir η. 19), p. XIII ; id., Médecine, (voir n. 19), p. 39.

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b) Cependant, cette connaissance a posteriori ne nous révèle pas immédiatement l'essence ou la nature de l'esprit. Ainsi, Tschirnhaus, dans un contexte fort différent de Locke peut pourtant se glorifier d'éviter une infinité de discussions sur la nature du concept ou de l'idée. Ici l'opposition classique du rationalisme et de l'empirisme est complètement bousculée. Tschirnhaus ne prétend pourtant pas que l'expérience nous révèle immédiatement la nature ou l'essence de notre esprit. L'être conscient n'est pas ce qui est le plus connu a priori : Mais il faut relever tout particulièrement à ce sujet que pour l'instant je n'affirme ni ne nie que ce savoir, cet avoir connaissance, cet être conscient, ou comme le nomme M. Descartes, ce penser soit une chose - la plus connue a priori [...], je n'en ai connaissance que comme d'une expérience première et parfaitement connue. Il ne s'agit pas d'une chose qui me serait connue de par sa nature, et ce n'est pas ce qui est en question au niveau de la philosophie première : Je ne me prononce pas pour l'instant sur cela, ni sur rien de semblable, mais me contente de poser pour certain comme dit que ce savoir, cet avoir-connaissance, cet être-conscient ou, si l'on préfère, ce penser, est la première chose en nous, qui précède toutes nos connaissances et dont nous connaissons en nous-mêmes l'existence (je ne dis pas : la nature ; ce sont en effet des choses très différentes) par l'expérience la plus évidente; en sorte que tout homme, lorsqu'il dit «Je fais quelque chose» ne désigne rien d'autre par ce «je» que ce par quoi il sait ou il a connaissance ou est conscient en soi-même qu'il fait quelque chose [...]. C'est un point qu'il souligne dans sa correspondance avec Leibniz : Je suis conscient, autrement dit j'ai conscience: mais comme je l'ai dit, je n'en ai connaissance que comme d'une expérience première et parfaitement connue ; mais cet être-conscient, ou, comme l'appelle Descartes, ce penser n'est pas pour autant, comme le prétend cet auteur une chose qui me serait connnue de par sa nature, voire mieux que toutes les autres choses.3' Il souligne surtout l'utilité de sa manière de procéder : Or cela nous suffit largement à cet effet tout comme un mathématicien sait découvrir la vérité avec certitude, faire des démonstrations assurées, éviter fort bien les erreurs, sans avoir acquis a priori une connaissance claire de l'esprit, de l'entendement etc.32 30

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Ibid., p. 250. (Id., Medicina, (voir n. 19), p. 291 : «Sed hic maximè notandum est, me interim ñeque affirmare ñeque negare, quòd hoc meum scire, hoc notum, hoc conscium esse, seu, ut D. des Cartes vocat, hoc cogitare res notissima à priori sit; de his enim et similibus nihil iam determino: sed hoc tantum, ut dixi, pro certuo statuo: quòd hoc meum scire, hoc notum, hoc conscium esse, vel, si magis, hoc cogitare primum sit in nobis, quod omnes nostras cognitiones praecedit, et cujus in nobis ipsis existentiam (non dico naturam : haec enim divertissima sunt) experientià evidentissima cognoscimus ; adeò ut unusquisque, cùm dicit : ego aliquid fació, nihil aliud per hoc ego significet, quàm id, cujus oposcit, vel notum sibi est, vel conscius in se ipso est, se aliquid facere, vel si ita placet, quòd cogitet, se aliquid facere. ») Lettre de Tschirnhaus à Leibniz du 27 mai 1682. Tschirnhaus, Médecine, p. 252. (id., Medicina, p. 294: «Hoc vero abundé nobis ad id sufficiate, eàdem ratione, ac Mathematicus novit veritatem, certo detegere, indubitato demonstrare,

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3. Wolff : La réélaboration de l'expérience de la concevabilité et les principes de la philosophie première a) La critique de Tschirnhaus, conséquence: l'expérience de la concevabilité ne peut être un premier principe de la philosophie. Contrairement à Tschirnhaus, Wolff pense que la simple expérience de la concevabilité ne peut pas se donner comme une connaissance des premiers principes du savoir. Il faut trouver un autre critère de vérité. Dans la Ratio praeletionum (1718) il place cette question au début même de son cheminement philosophique : Circa veritatis criterium ab illustri Autore traditum haerebam, cum non fatis intelligere possem, quid sit concipere. Ait enim illiud esse verum quod potest concipi ; falsum vero, quod non potest concipi ; dubium, circus nullum habemus conceptum. Quoniam itaque non explicat, quid sit concipere; sed exemplis tantum probat, nos quaedam concipere posse; quaedam non : ipsemet notionem conceptus distinctam quaerere conabar. 3 3

Conformément aux remarques de Leibniz dans les Meditationes, Wolff établit alors que l'expérience de la concevabilité engage la forme démonstrative de la logique. Dans le § 522 de la Philosophia Rationalis, il définit dans la lignée de Tschirnhaus la concevabilité (« Conceptibile dicitur, cujus formari potest notio. Inconceptibile, cujus nulla formari potest notio»), mais c'est pour ensuite donner dans les §§ 523 et 524 une définition du critère de vérité qui met e n j e u les aspects intrinsèques d'une proposition : § 523: «Critérium veritatis est propositioni intresecum, unde agnoscitur eam esse veram [...]» § 524: «Veritatis criterium est determinabilitas praedicati per notionem subjecti

Dans une proposition ou dans un jugement vrai le prédicat est suffisamment déterminé par le sujet ou a sa condition en lui. C'est pourquoi, selon la Philosophia rationalis, « le critère de la vérité est la déterminabilité du prédicat par la notion du sujet. »35 Ainsi le prédicat « avoir trois angles » est déterminé par la notion de

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erroresque optimè evitare, licèt ipsi non sit perspectum à priori, in quo natura mentis, intellectus et similium consistât. ») Wolff, Christian, Ratio praelectionum, dans : id., Gesammelle Werke, (voir η. 6), tome II, 36, sect. II, chap. 2, § 18, p. 125 : « En ce qui concerne le critère de vérité posé par l'illustre auteur, j'hésitais, j e ne pouvais comprendre ce qu'était le concevoir. En fait il affirme qu'est vrai ce qui peut être conçu, mais qu'est faux ce qui ne peut être conçu et qu'est douteux ce dont quoi nous ne pouvons avoir aucun concept. Puisqu'à ce sujet il n'expliquait pas ce qu'est le concevoir, il se limitait à montrer avec des exemples que nous pouvons concevoir certaines choses et d'autres non, je me décidai à chercher personnellement la notion distincte du concevoir. » Wolff, Christian, Philosophia rationalis sive logica, Pars II, dans : id., Gesammelte Werke, (voir η. 6), tome II, 1.2, pp. 396-397. Ibid., «Veritatis criterium est determinabilitas praedicati per notionem subjecti [...].»

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«triangle». Jean Deschamps illustre cette thèse par l'exemple du jugement «la neige est b l a n c h e » : «supposé qu'un physicien pût déduire de l'idée même de la neige, la raison de sa blancheur, il est clair qu'il connaîtrait la vérité de cette proposition la neige est blanche. » 36 Cette proposition est vraie parce que le prédicat « être blanc » est déterminé par la notion même du sujet « neige ». C'est ainsi que se rejoue la «concevabilité », indépendamment de ses caractéristiques «psychologiques». L'établissement d'un nouveau critère de vérité se concentre sur la forme logique de telle sorte que l'expérience de la concevabilité n'est pas rejetée, mais qu'en elle se révèle une «argumentation en forme.» Cette argumentation permet de produire des définitions réelles présentant l'essence ou la nature des choses. b) Wolff ne peut conserver le rôle que Tschirnhaus conférait à l'expérience de la concevabilité et il doit en garder certains aspects. En situant Wolff par rapport à Leibniz et à Tschirnhaus nous obtenons une confirmation du fait que Wolff ne réduit pas la philosophie première à la seule expérience interne: l'expérience de l'activité de l'esprit ne se confond pas avec une philosophie première. Nous retrouvons ainsi les acquis de notre étude consacrée à « Wolff et la constitution d ' u n e science psychologique » . 3 7 Au-delà, nous retrouvons les conclusions finales auxquelles aboutit Thierry Arnaud dans ce Workshop lorsqu'il analyse ce précédent article. Toute la question, par rapport à notre recherche est maintenant d'examiner la place que tient alors l'expérience dans la philosophie de Wolff, et de déterminer dans quelle mesure elle permet une connaissance de l'activité de l'esprit. Locke, aussi bien que Tschirnhaus réduisaient comme Descartes le principe de contradiction à ce qui se donne dans l'expérience consciente. Ce n'est pas le cas de Wolff. Nous savons que, si le § 5 de la Deutsche Metaphysik relève ce que nous expérimentons consciemment «sans contredit», c'est pour conduire au syllogisme implicite qui est e n j e u . Le principe de contradiction n'apparaîtra qu'au § 10. La démonstration est encore plus explicite dans Y Ontologia. Le § 27 semble réduire le principe de contradiction à une expérience de l'impossibilité de penser contradictoirement, 38 mais le § 5 5 39 fait du principe de contradiction la source de toute certitude (Patet adeo principium contradictionis esse fontem omnis certitudinis). Il

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Deschamps, Jean, Cours abrégé de la philosophie wolffienne en forme de lettres, dans : Wolff, Christian, Gesammelte Werke, (voir η. 6), tome III, 13.1, p. 72. Paccioni, Jean-Paul, Wolff et la constitution d'une science psychologique, dans: Annales doctorales. Université de Bourgogne, 4 (2001 ), pp. 67-85. Wolff, Christian, Ontologie, dans : id., Gesammelte Werke, (voir η. 6), tome II, 3, p. 15 : «Earn experimur mentis nostrae naturam, ut, duam ea judicat aliquid esse, simul judicare nequeat, idem non esse. » Ibid., p. 38.

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démontre que la proposition « Quodlibet, dum est, est » en dépend, de même que la résistance du « Je pense » cartésien au doute. La déduction a priori ne peut se réduire à l'expérience consciente a posteriori. Il est alors tentant de penser que Wolff retrouve la position de Leibniz. Nous avons vu que, pour ce dernier, la conscience comme simple sentiment interne était strictement au niveau de la vérité de fait. L'aperception, par contre, exprimait une activité effective de l'âme et se situait au niveau des vérités de raison. C'est seulement à stade que les vérités universelles comme le principe de raison étaient susceptibles d'apparaître. Or Wolff n'opère plus cette distinction de manière aussi ferme. Il identifie d'ailleurs simplement conscience cartésienne et aperception leibnizienne. Selon Wolff notre âme {Seele, anima) est une force représentative. C'est aussi ce que pensait Leibniz, mais selon lui elle exprimait en elle-même un monde, en exprimant la divinité et en multipliant la gloire de l'activité créatrice. Pour Wolff l'âme est dotée d'une activité représentative, mais seulement sur le modèle d'un tableau ou d'un miroir extérieurs à ce qu'ils représentent. La connaissance, si elle suppose une âme active, est donc toujours produite en fonction de l'expérience et relativement à elle. Contrairement à ce que disait Leibniz, nous ne sommes pas «créateurs dans notre département». Ainsi la connaissance doit être dérivée de l'activité perceptive par un processus d'abstraction dont la théorie semble à la fois inspirée de Locke et de Saint-Thomas. Wolff conçoit dans toute son œuvre l'âme humaine comme une force représentative étroitement dépendante de la facultas sentiendi. La conscience (ou l'aperception) apparaît à partir de l'activité de l'âme à l'œuvre dans la perception distincte. Lorsque l'âme opère des distinctions à ce niveau nous avons conscience. Dans ces conditions, si Wolff part de la critique du rôle que Tschirnhaus confère à l'expérience de la concevabilité, il doit en conserver implicitement ou explicitement des aspects importants. Maintenant que nous avons relativisé le rôle de l'expérience, nous devons souligner au contraire sa présence. Nos analyses nous ont aussi conduit à relever le rôle que l'expérience de l'activité de l'esprit joue dans l'élaboration de la philosophie première. Nous devons maintenant déterminer ce qu'est exactement l'expérience dans la philosophie wolfienne et découvrir quel est le rôle précis de l'expérience de l'activité de l'esprit dans sa métaphysique. c) Les points a et b permettent de montrer pourquoi l'articulation de l'expérience, de la connaissance a posteriori et de la connaissance historique n'est pas simplement confuse dans l'œuvre de Wolff. Ce qui importe ici est d'avoir conscience de l'activité de l'âme au niveau même de sa manifestation actuelle, comme force représentative étroitement dépendante de la facultas sentiendi. Nous avons pu jusqu'ici traiter de l'expérience sans pratiquement faire référence au rôle des sensations. Les caractéristiques de la philosophie de Tschirnhaus nous

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ont déjà fait entrevoir qu'en ce qui concerne notre problème ce n'est pas un hasard. Nous allons en avoir une confirmation en analysant le rôle que Wolff confère à l'expérience et aux sensations. Dans le premier chapitre de la Deutsche Metaphysik le premier paragraphe comporte un énoncé très proche du premier principe de la Medicina Mentis : « Wir sind uns unserer und anderer Dinge bewußt, daran kan niemand zweiffein, der nicht seiner Sinnen völlig beraubet ist» 40 Ainsi, en plaçant cette proposition au début de sa Deutsche Metaphysik, Wolff reconnaît implicitement la pertinence de la voie intermédiaire choisie par Tschirnhaus, il s'inspire ici manifestement du projet de la Medicina Mentis : commencer a posteriori pour ensuite tout déduire a priori. Cependant, ce premier paragraphe fait d'emblée référence aux sens. Ce que la Medicina Mentis appelait «la seule expérience» correspondait bien à ce qui est manifesté seulement par les sens externes et internes, mais la première expérience « j ' a i conscience de diverses choses» pouvait s'énoncer sans y renvoyer. Le but de Tschirnhaus était de strictement distinguer l'expérience active de l'entendement de l'expérience passive. Ici, au contraire, Wolff souligne que le « j ' a i conscience» ne peut être énoncé que par quelqu'un doté de ses sens. La connaissance sensible est donc bien réévaluée dans son œuvre, ainsi que nous l'avons annoncé. Dans les ouvrages de la maturité, Wolff définit l'expérience comme une attention portée à nos sensations. On peut ainsi lire dans la Deutsche Logik: «Wir erfahren alles dasjenige, was wir erkennen, wenn wir auf unsere Empfindungen acht haben. »41 La proximité avec la définition lockienne de l'expérience est assez notable, sans se confondre avec elle. 42 L'expérience wolffienne se confond donc avec ce que Tschirnhaus appelait l'expérience «seule». Tschirnhaus rejetait la connaissance simplement historique, or Locke utilisait dans VEssay une «historicalplain method».43 Wolff va lui aussi accorder un rôle 44 important à cette dernière. Il va ainsi théoriser les notions de connaissance histo40

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Wolff, Christian, Verniinfftige Gedancken von Gott, der Welt, der menschlichen Seele, auch allen Dingen überhaupt (Métaphysique allemande), dans : id., Gesammelte Werke, (voir η. 6), tome I, 2, p. 1 (§ 1): «Nous sommes conscients de nous-mêmes et des autres choses, et toute personne qui n'est pas dépourvue de ses sens ne peut en douter. » Ibid., chap. 5, § 1, p. 141. La définition dans l'œuvre latine engage la perception, mais Wolff ne la différencie pas de la sensation, cf. Wolff, Logica, (voir η. 34), § 664, p. 481 : «Experiri dicimur, quicquid ad perceptiones nostras attenti sumus. » Au § 2, du chapitre 1 du livre II de I'Essay, (voir n. 5), Locke définit l'expérience par des observations que nous pouvons faire sur notre «mind»: «Les observations que nous faisons sur les objets extérieurs et sensibles, ou sur les opérations intérieures de notre âme (mind), perçues et réfléchies par nous-mêmes, fournissent à notre esprit les matériaux de toutes ses pensées. Ce sont là les deux sources de la connaissance d'où découlent toutes les idées que nous avons, ou que nous pouvons avoir naturellement. » Locke, Essay, (voir n. 5), p. 1. Mariano Campo dans Cristiano Wolff e il razionalismo precritico. Milano 1940 (réédition dans Wolff, Christian, Gesammelte Werke, [voir η. 6], tome 111, 9 [1980]), pp. 14-15, souligne combien les Acta Eruditorum de Leipzig, auxquels Wolff participera dans sa jeunesse, sont

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et de connaissance

philosophique

autrement que dans la Medicina

Cela suppose aussi une réélaboration des notions de connaissance a priori connaissance a

Mentis. et de

posteriori.

Dans la Philosophia sance a posteriori

Paccioni

rationalis

sive logica

W o l f f définit seulement la connais-

c o m m e une connaissance obtenue à partir des sens, alors que la

connaissance a priori

est obtenue en raisonnant à partir d'autres connaissances. 4 5

Dans les deux cas cette connaissance est obtenue à partir des propres forces de l'âme c o m m e force représentative. La connaissance sensible, en tant que connaissance a posteriori,

va servir de fondement ou d'assise (fundamentum)

à la connais-

sance historique. 4 6 Celle-ci est une connaissance des c h o s e s qui sont et adviennent dans le monde matériel ou dans les substances immatérielles. 4 7 La connaissance historique est ainsi une connaissance purement factuelle, elle se distingue nettement de la connaissance philosophique en ce que celle-ci, au contraire, rend raison du fait. 48 Dans cette mesure la connaissance philosophique engage au contraire une source a

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priori.

ouverts à la physique expérimentale, à la médecine et à ce que nous appelons l'empirisme. Ainsi, on peut y lire en 1707 une recension des ouvrages posthumes de Robert Hooke (Acta Eruditorum 1707, pp. 149-161). Mieux même, on peut y découvrir en 1702 une recension de la traduction latine de Y Essay de Locke éditée en 1701 et parue sous le titre De intellectu humano (Acta Eruditorum 1702, pp. 357-362). Selon Zart, Gustav, Einfluss der Englischen Philosophen seit Bacon auf die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts. Berlin 1881, pp. 17— 30, cette recension anonyme est peut-être de Wolff lui-même. Ce dernier signera plus tard deux compte-rendus d'ouvrages de Locke: «Posthumous Works of Mr. John Locke» (Acta Eruditorum, Jan 1708, pp. 40-44), «Some familiar letters between Mr. Locke and several of his friends» (Acta Eruditorum, Oct. 1711, pp. 474-484). Dans sa correspondance avec Leibniz, il cite le nom de Locke dans la liste des auteurs qu'il lit. Enfin, il faut aussi relever la proximité de Thomasius avec Locke, auteur que Wolff côtoie à Halle et auquel il s'oppose mais dont l'œuvre a pu exercer une influence sur lui. Mariano Campo, (voir η. 44), souligne le climat intellectuel complexe de Breslau, Leipzig et léna où Wolff fera ses études: «L'atmosphère, nous dit-il, est cartésienne mais avec des influences malebranchistes, spinozistes, leibniziennes. Celles-ci se conjoignent à des motifs baconiens, hobbesiens, lockiens et newtonniens.» Il ajoute ensuite que «le génétisme mathématique se heurtait à la méthode expérimentale, l'induction empiriste à la déduction rationaliste, la démonstration ontologisante à l'intuition et la construction géométrique.» (pp. 40^11 ; trad. J.-P. P.) II écrit ainsi : « Utimur autem in ventate proprio Marte emenda vel solo sensu, vel ex aliis cognitionis ratiocinando elicimus nondum cognita [...]. In priori casu dicimur veritatem entere a posterori; in posteriori autem a priori. » (Wolff, Logica II, [voir η. 34], § 663, p. 481) Cf. le § 1 de Wolff, Christian, Discursus praeliminaris de philosophia in genere = Einleitende Abhandlung über die Philosophie im Allgemeinen. Stuttgart 1996 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung [FMDA] 1,1): «[Fundamentum cognitionis historicae:] Sensuum beneficio cognoscimus, quae in mundo materiali sunt atque fiunt, et mens sibi conscia est mutationum quae in ipsa accidunt.» («[Fondement de la connaissance historique:] Nous connaissons grâce à nos sens les choses qui sont et adviennent dans le monde matériel, et l'esprit est conscient des changements qui surviennent en lui.») Ibid., § 3, p. 4: «Cognitio eorum, quae sunt atque fiunt, sive in mundo materiali, sive in substantiis immaterialibus accidant, histórica appellatur. » Ibid., § 7, p. 6: «Differì cognitio philosophica ab histórica. Haec enim in nuda facti notiotia subsistit: illa vero ulterius progressa rationem facti palam facit, ut intelligatur, cur istius modi

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rationnelle » ?

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Pourtant la connaissance philosophique n'est pas en rupture avec la connaissance historique. La connaissance a priori dérive de la connaissance a posteriori, donc de l'expérience ou de la connaissance sensible: «Cognitio universalis a posteriori derivanda ». 49 La manière dont Wolff articule expérience, connaissance a posteriori et connaissance historique peut paraître bien confuse. Cette articulation est pourtant au cœur de sa théorie de la connaissance. Bien que la connaissance historique dérive de la connaissance a posteriori, liée au sens, elle semble trop largement dépasser ce que peut offrir cette dernière. Ainsi selon le § 54 du Discursus elle comporte la connaissance des vérités qu'on comprend sans pouvoir les démontrer; du moins, elle nous donne de quoi construire une connaissance intermédiaire entre elle et la connaissance philosophique ! Cette critique perd de sa pertinence quand l'on comprend que Wolff, tout en liant plus étroitement la connaissance et les sensations, a surtout pour but de réformer la manière dont Tschirnhaus fait dépendre sa philosophie première d ' u n e connaissance a posteriori qui engage une expérience consciente. La manière dont Wolff établit la notion de connaissance historique panache la définition leibnizienne de la connaissance a posteriori : connaissance du fait des choses, et celle de Tschirnhaus : conscience d'une activité de l'esprit. En fait, dans la connaissance historique se manifeste une conscience de l'activité de l'âme, au niveau même de sa manifestation actuelle comme force représentative étroitement dépendante de la facultas sentiendi. Il s'agit de ressaisir l'âme dans son acte, en tant qu'elle est une force active de représentation étroitement dépendante de la sensation. Ce que relève la connaissance historique dans l'expérience est donc ce qui est actuel dans la manifestation de l'âme qu'est l'attention portée aux sensations. Cela implique que ce dont il y a connaissance historique peut dépasser ce qui est strictement de l'ordre de l'expérience au sens wolffien. La connaissance historique wolffienne a donc le même contenu que ce que Leibniz appelait la connaissance a posteriori : ce qui existe en acte. Ce qui existe en acte est « assurément possible » comme le disait ce dernier, et il offre un contenu de connaissance à notre entendement. La connaissance historique engage certes un rapport à la sensibilité, mais elle fournit une certaine assise à la connaissance philosophique (qui, elle, rend raison) parce qu'elle porte sur l'actuel, l'effectif, la « Wiircklichkeit». Ce résultat nous permet de déduire d'emblée une série de conséquences qui nous permettront de comprendre comment Wolff conçoit l'articulation entre expé-

49

quid fieri possit.» ( « L a connaissance philosophique diffère de la connaissance historique. Celle-ci en effet consiste dans la connaissance nue du fait. Celle-là, par contre, s'étant avancée plus loin, rend claire la raison du fait, de sorte que l'on comprend pourquoi quelque chose peut se passer ainsi. ») Wolff, Logica II, (voir η. 34), p. 5 0 9 (§ 708).

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rience de l'activité de l'esprit et connaissance de son essence. Nous pourrons alors mieux saisir le rapport entre psychologie empirique et psychologie rationnelle dans son œuvre. d) Conséquence: l'expérience nous permet une connaissance de l'actuel dans sa factualité, non de l'actualisation. Nous avons l'expérience de l'existence actuelle du possible et la science ne porte jamais que sur le possible. Il nous faut maintenant souligner la manière dont s'articulent le possible et l'actuel dans la théorie wolffienne de la connaissance. Pour Wolff, la science ne porte que sur le possible et nous ne pouvons connaître le processus d'actualisation de l'actuel en lui-même. Ainsi, la Deutsche Metaphysik radicalise au § 989 la différence que faisait Leibniz entre l'entendement et la volonté divine pour en conclure au § 991 : «und also handelt man in Wissenschaften nicht von der Würcklichkeit, sondern nur von der Möglichkeit. »50 Cette position n'est pas surprenante quand l'on sait que Wolff rejette en fait toute la théorie leibnizienne de l'expression. L'activité créatrice, l'advenue de ce qui est actuel nous échappent en elles-mêmes. Ainsi toute la science ne sera jamais qu'une science du possible. L'expérience a le mérite de nous révéler l'actuel en tant qu'en lui le possible est actualisé. Wolff insiste souvent sur le fait que nous pouvons découvrir le possible dans l'actuel, il souligne ainsi dans le § 15 de la Deutsche Metaphysik : « Was wtircklich ist, das ist möglich ». e) Conséquence: «le caractère conjoint du commencement wolffien» (Thierry Arnaud) et plus généralement le «connubium rationis et experientiae» reposent sur l'immersion d'un «monde rationnel» dans le «monde intelligible» et dans le « monde sensible » Nous découvrons les vérités de celui-ci et nous ne les créons pas. L'esprit humain n'est plus comme pour Leibniz créateur dans son département. Si le recours à l'expérience semble dépasser ce qui semble strictement lié à l'expérience sensible, c'est que l'expérience comme attention aux sens va permettre une connaissance du possible en tant qu'il est actuel. Nous ne bénéficions pas pour autant d'une expérience de l'activité de l'esprit en lui-même. Il ne nous reste que ce qui se manifeste actuellement dans l'expérience d'une âme, qui se représente l'univers grâce à la sensation. Nous ne bénéficions pas non plus d'une connaissance du monde intelligible, c'est-à-dire d'une représentation distincte du monde comme agrégat des substances simples dont sont

50

Cf. notre article à paraître dans la revue les Etudes Philosophiques : «Dieu dans le miroir», et les pages que Paul Clavier consacre à Wolff dans Kant. Les Idées cosmologiques. Paris 1997, pp. 30-41.

Wolff est-il « le vrai inventeur de la psychologie rationnelle » ?

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composés les corps. Cependant, nous ne sommes pas limités au monde sensible, c'est-à-dire à l'univers matériel perçu par nos sens. Nous disposons d'une connaissance du «monde rationnel». Celui-ci est, comme le résume Jean Ecole, « l'ensemble des êtres universels : espèces et genres auxquels se rattachent les êtres individuels du monde sensible et du monde intelligible ou si l'on veut l'ensemble des vérités universelles liées entre elles, c'est-à-dire l'ensemble des propositions portant sur les notions des espèces et des genres et dont la raison nous fait saisir le lien. »5I Ce monde rationnel est immergé dans le monde sensible et le monde intelligible, les vérités qu'il comporte ne sont pas créées par notre raison, elles sont découvertes. Notre raison n'a pas un pouvoir créateur.

4. Conclusion : De l'expérience a posteriori de notre existence actuelle à la déduction a priori de ce qui est possible par l'âme humaine. La différence entre l'empirique et le rationnel dans le projet wolffien de psychologie, ses motifs et ses conséquences a) Nos analyses précédentes montrent l'ambiguïté de l'analyse de Ernst Cassirer quand il relève que pour Wolff «le phénomène primitif de l'âme est l'action». La connaissance de l'âme repose sur l'expérience, nous avons l'expérience de ce qui est actuel dans l'âme, non du processus de production et d'actualisation de celle-ci. Sa psychologie ne peut pas rentrer dans le schéma que lui impose Cassirer. Nous pouvons maintenant tirer la conséquence essentielle de notre analyse : nous connaissons l'âme dans sa manifestation, en tant qu'elle est actuelle, mais non pas dans son processus d'actualisation. C'est précisément un point qui nous semble mal discerné dans le texte de Cassirer que nous avons cité au début de notre analyse. Celui-ci ne tire pas toutes les conséquences de l'abandon de la monadologie leibnizienne par Wolff. Le phénomène primitif de l'âme (das Urphänomen der Seele) chez Wolff est l'action, mais ce dont on fait l'expérience, et ce qui se révèle dans la connaissance historique, est l'actualité de l'âme, non l'activité de celle-ci. Déduire les facultés de l'âme consistera alors seulement à tenter de remonter des possibilités données dans l'actuel à l'âme comme force active mais considérée dans sa simple possibilité. b) Comment la psychologie empirique et la psychologie rationnelle sont conjointes et distinctes, en quoi il ya ici une différence entre expérience a posteriori et déduction : aller de l'actuel au possible et du possible à l'actuel.

51

Ecole, Jean, La Métaphysique

de Christian Wolff. Hildesheim 1990, p. 132.

Jean-Paul

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L'élaboration d'une psychologie rationnelle différente de la psychologie empirique, et connexe avec elle, engage le rôle que Wolff doit conférer à l'expérience comme connaissance a posteriori du possible en tant qu'il est actuel. La psychologie empirique est précisément une connaissance de l'actualité de l'âme. La psychologie rationnelle utilisera les concepts distincts ainsi obtenus, mais en essayant de rechercher a priori en quoi consiste l'essence de l'âme ou d'un esprit en général. Ces caractéristiques sont particulièrement claires dans la définition que la Deutsche Metaphysik donne de la psychologie rationnelle : §. 727. [Gegenwärtiges Vorhaben.] Ich habe zwar schon oben in dem dritten Capitel weitläuftig von der Seele gehandelt, aber nur in so weit wir ihre Würckungen wahrnehmen, und einen deutlichen Begrif davon erreichen können (§. 191.). Nun müssen wir untersuchen, worinnen das Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt bestehe, und wie darinnen dasjenige gegründet ist, was wir von ihr wahrnehmen, und oben angemercket haben. Wobey sich denn noch verschiedenes von der Seele wird abhandeln lassen, darauf uns die Erfahrung nicht so gleich leitet. Und solchergestalt siehet man, daß dasjenige, was oben von der Seele aus der Erfahrung angeführt worden, der Probierstein desjenigen ist, was hier von ihrer Natur und Wesen, und denen darinnen gegründeten Würckungen gelehret wird, keinesweges aber das, was hier gelehret wird, der Probier-Stein dessen, was uns die Erfahrung lehret. 5

La psychologie empirique traite de l'âme pour autant qu'on peut en percevoir les actes. La psychologie rationnelle démontre comment est fondé dans l'essence de l'âme ce que nous en percevons. Les résultats de la psychologie empirique servent dans ce cas de pierre de touche à la démonstration. Ils valident les acquis des démonstrations de la psychologie rationnelle sans pouvoir tenir lieu de démonstration. Par contre, les résultats de la psychologie rationnelle ne peuvent servir de pierre de touche à la psychologie empirique. En ce sens celle-ci, tout en n'étant pas en elle-même démonstrative, a un caractère incontestable que n'a pas la première. c) La particularité de la déduction wolffienne. Pourquoi elle ne peut pas s'appuyer sur l'âme comme sur «un pur principe actif» ainsi que le souhaiterait Jean Ecole. Le hiatus entre la connaissance de l'actualité de l'âme livrée par la psychologie empirique et la connaissance de l'essence de l'âme livrée par la psychologie rationnelle est flagrant. Les deux psychologies ont en fait intimement besoin l'une de l'autre. Si la psychologie empirique nous donne une connaissance des actes effectifs de l'âme, la psychologie rationnelle doit nous montrer comment ils sont produits activement à partir de l'essence de l'âme. Or c'est précisément cette production, cette actualisation, que Wolff ne peut pas connaître. Pour déduire les facultés de l'âme dans la psychologie rationnelle, Wolff part de la facultas sentiendi pour déduire toutes les facultés que suppose l'âme comme force représentative. Il part ainsi des possibilités que nous expérimentons en acte, 52

Wolff, Métaphysique

allemande,

(voir n. 40), p. 453.

Wolff est-il « le vrai inventeur de la psychologie rationnelle » ?

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pour tenter de ressaisir l'activité de l'âme dans sa possibilité même. Mais, comme le résume Jean Ecole : il doit « imaginer la force perceptive comme affectée d'autant de modifications qu'il y a de facultés à expliquer, avec la tâche de montrer qu'aucune d'elle ne dépasse ses possibilités. » Wolff ne peut donc «qu'imaginer» toutes les facultés qui sont nécessaires à la perception. Cette manière de faire, nous dit Jean Ecole, est «insatisfaisante», «il eût été tellement plus simple et moins sujet à la critique de considérer la force de l'âme comme un pur principe actif, celui de l'actualisation de toutes les facultés, qu'on peut s'étonner que Wolff ne l'ait pas fait.» 53 Nos analyses permettent probablement de comprendre pourquoi Wolff a procédé ainsi. Si nous pouvons obtenir une connaissance du possible, et du possible en tant qu'il est actuel, nous ne pouvons pas connaître en lui-même un processus d'actualisation. Il ne peut donc pas y avoir une connaissance de l'âme pouvant s'appuyer sur elle comme «un pur principe actif.» Nous voyons ainsi combien, malgré certaines proximités, Wolff n'est pas Fichte. d) L'originalité du rationalisme wolffien Oui, Wolff est bien l'inventeur d'une psychologie rationnelle, mais dans cette invention c'est aussi une conception particulière de la rationalité qui est en jeu. Cette conception a des caractéristiques que les « schémas » que nous appliquons à l'histoire de la philosophie ne nous permettant pas d'apercevoir. Wolff doit élaborer une psychologie rationnelle à la fois différente de la psychologie empirique et conjointe à elle, parce que la psychologie, et la métaphysique dans son entier, doivent trouver une assise dans une expérience qui a précisément des traits particuliers. On les voit apparaître en examinant comment l'œuvre de Wolff se positionne par rapport à celle de Tschirnhaus et de Leibniz. Ce qui est ici appelé «expérience» n'entre pas dans les schémas classiques opposant rationalisme et empirisme. C'est une expérience a posteriori de l'activité de notre esprit, dans laquelle se révèle une connaissance factuelle. La psychologie wolffienne ne réduit pas le phénomène primitif de l'âme à un pur pâtir, mais elle ne peut pas non plus y ressaisir une activité en elle-même. Ainsi l'âme comme force active ne peut être connue qu'à partir du possible en acte dans notre expérience. En ce sens Wolff est très loin du «rationalisme» leibnizien.

53

Ecole, (voir n. 51), p. 297.

ANNE-LISE REY

(Paris)

Ontologie et Psychologie dans la pensée de Christian Wolff : la raison de l'actualisation

Introduction Notre propos ici est de tenter de rendre compte de la raison des modifications à l'oeuvre dans l'âme, dans la pensée de Christian Wolff. Nous faisons l'hypothèse pour cela que Y Ontologie'' qui propose des développements sur la raison d'être du changement peut nous aider à comprendre comment les modifications s'actualisent dans l'âme. En effet, l'explication de la raison d'être des changements pose problème dans le texte wolffien. Wolff, à la fois, reprend à Leibniz les caractéristiques essentielles de la substance comme force pour expliquer l'âme, mais dans le même temps le principe de raison suffisante, lui aussi repris pour fonder la raison de ces changements, n'est pas totalement relayé chez Wolff par le système leibnizien de l'Harmonie préétablie. Dès lors, comment fonder le principe de raison suffisante sans adopter l'idée de l'harmonie universelle? Nous faisons l'hypothèse que la détermination du rapport entre les processus d'actualisation dans l'âme et le principe de raison suffisante permet de cerner la spécificité de la Psychologie. Non seulement dans la mesure où elle révèle sa singularité par la mise en crise du principe de raison suffisante qu'elle permet, mais aussi dans la mesure où elle révèle un écart qui lui est propre dès lors qu'on se propose d'appliquer à une théorie de l'âme ce que Wolff dit dans l'Ontologie concernant la raison de l'actualisation. C'est en ce sens que l'on peut appréhender la singularité de la Psychologie. L'enjeu de ce travail sera donc de préciser les rapports entre l'ontologie et la psychologie. On se souvient que Wolff, reprenant l'usage que Leibniz fait du principe de raison suffisante dans la Théodicée, reconnaissait au § 71 de Y Ontologie la double fonction que Leibniz accorde au principe de raison suffisante : démontrer les propositions et rectifier les notions.2 Dans ce cadre, l'ontologie est-elle ce qui fonde la psychologie ou bien la psychologie est-elle ce qui permet de rectifier les notions proposées par l'ontologie concernant la raison de l'actualisation ?

2

Wolff, Christian, Philosophia prima sive Ontologia, dans : id., Gesammelle Werke, ed. par Jean Ecole et al. Hildesheim 1962sq., tome II, 3 (1977). Nous faisons référence ici à la Partie II, Section II, Chapitre II, dans le chapitre intitulé «Des modifications des choses, surtout des choses simples ». Ibid., § 71 «Primus tarnen Leibnitius aperte de eodem locutus eodemque tanquam principio in rectifïcandis notionibus et demonstrandis propositionibus usus est in egregio Theodiceae opere [...]».

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Anne-Lise Rey

Nous faisons l'hypothèse que la Psychologie est une science complexe qui est à la fois fondée dans l'Ontologie et qui la modifie en retour. Nous croyons que l'attention portée à la raison de l'actualisation permet de le percevoir. Pour étayer cette hypothèse, nous verrons d'abord en quoi l'âme, conçue comme substance simple, propose à la fois une appréhension de la puissance d'actualisation grâce au principe de raison suffisante et en même temps une compréhension du rapport entre l'âme et le corps qui, échappant pour une part au principe de l'harmonie préétablie, met en crise le modèle d'intelligibilité leibnizien du principe de raison suffisante. 3 Puis nous chercherons à savoir comment le principe de raison suffisante est reformulé dans les deux textes de la Psychologie rationnelle et de la Psychologie empirique. Cela nous conduira à distinguer des formes et des niveaux de limitation. En ce cas, la limitation de l'actualisation est saisie comme détermination. Enfin, en conclusion, nous essaierons de répondre à la question suivante : comment ce passage par les textes relatifs à la Psychologie permet-il de proposer une redéfinition du principe de raison suffisante dans son rapport à l'âme ?

1. La définition de l'âme et les limites du modèle leibnizien Nous partons de la définition de l'âme que Wolff propose dans la Psychologia rationalis. En effet, dans la section I, chapitre I, au §48, Wolff assimile l'âme à une substance simple en ce que l'âme est à la fois modifiable (c'est-à-dire qu'elle est capable successivement de différentes déterminations intrinsèques)4 et perdurable (autrement dit, elle a des déterminations intrinsèques constantes).5 En d'autres termes, si l'âme peut être considérée comme une substance simple c'est, premièrement dans la mesure où elle a la capacité de demeurer et de changer et, deuxièmement, dans la mesure où ces déterminations - constantes ou variables - sont intrinsèques. C'est le deuxième point qui nous intéresse essentiellement ici. Pour traiter cette question, nous allons d'abord analyser la définition de l'âme comme substance simple en cherchant à savoir comment la raison de l'actualisation est définie par VOntologia, puis nous nous demanderons si l'âme conçue comme force représentative dans la Psychologia rationalis se conforme ou non à ce que Wolff dit de la raison de l'actualisation de l'âme conçue comme substance simple dans VOntologia. Enfin, nous chercherons à savoir dans quelle mesure ces appréhensions de l'âme s'articulent avec le système de l'Harmonie préétablie. 3

4

5

Nous recourrons pour cela à des articles extraits de l'Ontologia et de la fin de la Psychologia rationalis relatifs à l'Harmonie préétablie. Comme l'indique le §764 de Y Ontologia, «Modificabile dicitur, quod successive aliarum determinationum intrinsecarum capax. » (id., Ontologia, [voir η. 1], p. 572). C'est ce que propose le § 767 de l'Ontologia: «Perdurabile est, quod determinationes intrínsecas constantes habet» (ibid, p. 573).

La raison de

l'actualisation

1.1

L'âme comme substance simple : la raison de l'actualisation définie par Y Ontologia

1.1.1

La force, origine leibnizienne de l'action

101

En identifiant l'âme à une substance simple, Wolff en fait une force qui tend d'elle-même à l'action. Reprenant à cet égard la distinction proposée par Leibniz dans De la réforme de la philosophie première en 1694, il distingue aux paragraphes 717 et 719 de Y Ontologia la puissance active de la force. La puissance active est la faculté qui rend compte de la simple possibilité de l'action. 6 La force, elle, a pour fonction de rendre raison du changement d'état dans le sujet et, pour cela, doit être contenue en lui. Ce qui est e n j e u dans cette reprise de la distinction leibnizienne, c'est la nécessité de poser une détermination intrinsèque au sujet à l'origine de l'action (distinction réaffirmée au paragraphe 761). Mais ce qu'il peut être intéressant de noter c'est la manière dont Wolff retravaille la référence leibnizienne. En effet, dans le texte de 1694, Leibniz proposait une différenciation entre puissance active et force afin d'isoler ce qu'était véritablement la raison suffisante permettant l'action : il convoquait alors la notion d'entéléchie. 7 Wolff au contraire, certes, reprend la distinction mais en intégrant les deux entités dans un même système explicatif de l'activité de la substance qui présuppose l'articulation de ces deux entités. L'enjeu de ce travail sur la référence est alors de proposer déjà deux appréhensions distinctes, mais nécessairement complémentaires, du principe de raison suffisante. Wolff reprend la distinction leibnizienne entre force et puissance, distinction qui constituait une critique de la Scolastique. La puissance, identifiée à la faculté, est une simple possibilité de l'action; la force, elle, est la raison suffisante de l'action. Ainsi, au paragraphe 722 de Y Ontologie, Wolff définit la force comme «la raison suffisante de l'actualité de l'action», elle est donc ce qui, au sein de l'agent, détermine l'action. 8 Ainsi, pour qu'une action se produise, si l'on suit Wolff, il faut donc premièrement une force active, qui est la raison suffisante

6

7

8

Cf. ibid., § 719: «Sine potentia activa nulla locum habet in subjecto actio [...]», en d'autres termes, à partir de la seule puissance active, aucune action ne s'ensuit. Leibniz, Gottfried Wilhelm, De la Réforme de la philosophie première (1694), dans: Opuscules philosophiques choisis, éd. par Paul Schrecker. Paris 1978, p. 81. Nous pensons en particulier à ce passage: «En effet, la force active se distingue de la puissance nue que connaît d'ordinaire l'Ecole en ce que la puissance active ou faculté des Scolastiques n'est rien d'autre que la possibilité proche de l'action, mais qui a toutefois besoin pour passer à l'acte, d'une excitation étrangère, comme d'un aiguillon. Au contraire, la force active comprend comme une sorte d'acte ou d'entéléchéia; elle est le milieu entre la faculté d'agir et l'action même et implique l'effort; ainsi elle est portée par elle-même à l'action et n'a pas besoin, pour agir, d'aucune assistance, mais seulement de la suppression de l'obstacle. » Le scolie du § 721 de l'Ontologie l'indique: «On devra rechercher quelle est cette chose par laquelle l'action peut être déterminée dans l'agent. » (« Inquirendum vero erit, quidnam tandem illud fit, per quod actio in agente determinar! potest», Wolff, Ontologia, [voir η. 1], p. 542).

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de l'action dans l'agent, et en cela Wolff est rigoureusement fidèle à la doctrine leibnizienne, même s'il n'utilise pas dans ce texte le vocable d'entéléchie. 1.1.2

La possibilité de l'action : une condition de l'actualisation

Mais, d'après Wolff, il faut aussi, deuxièmement, pour qu 'une action se produise, que se trouve dans le sujet la puissance active, qui ne conduit à aucune action, mais la rend possible et à ce titre acquiert le statut de condition de possibilité de l'action? Autrement dit, là où Leibniz déniait à la puissance active, ou faculté des Scolastiques, la moindre fonction dans l'action du fait qu'elle supposait le nécessaire recours à une causalité externe pour produire l'action, Wolff au contraire intègre la puissance active comme condition de possibilité de l'action, de même qu'il intègre la puissance passive comme condition de possibilité de la passion dans le sujet. Donc pour qu 'une action se produise, il faut que soient réunies en elles : sa condition de possibilité qui est la puissance active et sa raison suffisante qui est la force active. Une objection pourrait néanmoins surgir à cet égard : celle selon laquelle Leibniz s'intéresse lui aussi aux conditions de possibilité de l'action. D'une certaine manière, on pourrait dire que pour Leibniz la question est réglée en amont, dans la mesure où tout ce qui s'actualise, c'est-à-dire tout possible, relève du principe du meilleur, auquel Dieu préside. Ce principe conditionne la théorie de l'expression selon le système de l'Harmonie préétablie. Si Wolff met à ce point l'accent sur les conditions de possibilité de l'action, c'est peut-être précisément d'abord parce que son adhésion au système de l'Harmonie préétablie est partielle. En ce cas, si le principe du meilleur n'est pas (ou pas entièrement) repris à son compte par Wolff, comme le montre par exemple ce qu'il écrit sur la raison des choses contingentes dans la Psychologia rationalis, sur quoi repose alors la raison d'être des possibles : est-ce encore sur un choix divin ou sur autre chose? N'est-ce pas là la part possible laissée à l'indépendance ou liberté de l'âme? Plus fondamentalement, il semble que ce soit l'absence de l'entéléchie dans le texte wolffien qui explique cette dissociation: en effet, l'entéléchie est l'articulation du possible et de l'existant, le processus même d'actualisation. Elle n'a pas besoin de présupposer une puissance active, elle est le milieu entre cette puissance et l'action. C'est la non-reprise de cette spécificité leibnizienne qui conduit

9

C'est par exemple ce qu'indiquent les § 717 et 719 de l'Ontologie, dans lesquels Wolff écrit les choses suivantes: d'une part « D e la seule puissance active ne s'ensuit aucune action. Car si dans le sujet se trouve une puissance active, l'action est seulement possible [...]», et d'autre part «Sans la puissance active, l'action n'a pas de place dans le sujet, ni la passion sans puissance passive. Car si dans le sujet, la puissance active ne se trouve pas, il n'est pas possible qu'elle agisse et par là l'action dans le sujet même est impossible, elle ne peut par conséquent exister dans le sujet, ni être en acte.» (ibid., p. 540sq).

La raison de

l'actualisation

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Wolff à produire une double exigence : exigence visant à rendre raison de la condition de possibilité de l'action et de son actualisation. 1.1.3

Le principe de raison est-il un principe de détermination ?

Dans cette fidélité, toute relative, au texte leibnizien, on peut s'interroger sur la définition que Wolff semble donner du principe de raison suffisante comme «ce qui détermine l'acte de l'action». 10 On pourra en effet se demander dans quelle mesure le principe de détermination et le principe de raison suffisante sont ou non entièrement substituables l'un à l'autre. En effet, au paragraphe 713, Wolff commence par définir l'action comme le «changement d'état dont la raison est contenue dans le sujet», en d'autres termes, la raison est, ici, définie comme cause du changement, mais au scolie du paragraphe 716, il fait de la puissance active et de la puissance passive des notions «directrices», et il justifie le recours à ce qualificatif en ce que ces notions signalent la présence dans le sujet de la possibilité de l'explication distincte de l'action. Autrement formulée, elle est ce qui permet de comprendre comment les choses se produisent. On voit donc se dessiner trois acceptions du principe de raison : comme cause, comme principe explicatif et comme principe déterminant. Ces variations sémantiques n'ont d'intérêt ici pour nous que dans la mesure où elles permettent de voir la manière dont Wolff fait intervenir le principe de raison dans la puissance active, c'est-à-dire dans la possibilité de l'action, avant même d'introduire la notion de force qui, elle, sera désignée comme la raison déterminante de l'action. Il nous semble que se dessine ici une différence d'avec la pensée leibnizienne. 1.1.4

Le statut du principe de raison suffisante

Il convient pour bien comprendre le statut de ce qui nous apparaît à première vue comme des formes différentes du principe de raison suffisante, de voir ce qu'en dit précisément Wolff au chapitre qu'il lui consacre dans VOntologia. En effet, trois éléments nous semblent particulièrement intéressants à cet égard dans ce chapitre en ce qu'ils disent quelque chose du rapport entre psychologie et ontologie précisément à partir de la question du domaine d'extension du principe de raison suffisante. Ainsi, premièrement, aux paragraphes 72 et 73 de ce chapitre, Wolff indique le lien existant entre le principe de raison suffisante et le domaine de l'expérience. En effet, pour affirmer que le principe de raison suffisante n'est pas contraire à l'expérience, il mentionne ce qui se passe dans le champ de la Psychologie. Par ailleurs, il indique que le principe de raison suffisante peut se déduire aussi bien des exemples et des choses singulières que des choses universelles. Par là, il si-

10

Cf. ibid., § 715.

104

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gnale la pertinence du recours au principe de raison suffisante y compris pour ce qui a trait à une théorie de l'âme, et en particulier y compris pour ce qui touche à une Psychologie empirique. Il peut être par ailleurs opportun de rappeler à cet égard le rapport que Wolff établit entre la Psychologie rationnelle et la Psychologie empirique dans les « Prolégomènes » de la Psychologie empirique. Au paragraphe 1, Wolff écrit: «la psychologie empirique est la science pour soutenir les principes par l'expérience, d'où on rend raison de ces choses qui se produisent dans l'âme humaine» et il ajoute au § 4 : «la psychologie empirique fournit les principes à la (psychologie) rationnelle. En effet, dans la Psychologie rationnelle, on doit rendre raison de ces choses qui se produisent dans notre âme. Mais dans la Psychologie empirique, nous soutenons les principes d'où la raison est donnée de ces choses qui se produisent dans l'âme humaine ». Il semble donc non seulement que la raison suffisante puisse être déduite d'exemples singuliers empruntés au domaine de l'expérience, mais encore, comme à rebours, pour ce qui a trait à la Psychologie, c'est le domaine empirique qui recèle les principes de raison de ce qui se produit dans l'âme. Comment expliquer cela, c'est-à-dire : comment comprendre que la psychologie empirique puisse fournir les principes de la Psychologie rationnelle ? Ce sera l'enjeu du développement ultérieur. On peut toutefois émettre l'hypothèse suivante : c'est bien à partir de la sensation que se produisent les modifications dans l'âme, en effet, la sensation est pour Wolff l'origine de tout ce qui se produit dans l'âme. Donc c'est à partir des lois des sensations, définies et exposées dans la Psychologie empirique, que peuvent être déduits ces principes permettant de rendre raison de ce qui se produit dans l'âme. Deuxièmement, Wolff fait de la Psychologie le lieu où se révèle le fait de savoir si le principe de raison suffisante est ou non contraire à la liberté." Si, en suivant le conseil de Wolff dans l'Ontologie, on se réfère à ce qu'il dit de la liberté dans la Psychologie, par exemple au § 526 de la Psychologie rationnelle et au § 941 de la Psychologie empirique, on peut remarquer un point commun. L'idée d'une liberté de l'âme étant saisie comme une indépendance à l'égard des sensations qui lui parviennent du corps, il conviendra de déterminer en quoi consiste exactement cette indépendance. Mais on peut d'ores et déjà dire que si cette liberté est posée comme possible, c'est parce que ce qui engage autre chose que le commerce entre l'âme et le corps n'est pas préétabli par l'harmonie. Enfin, il y a bien liberté ici comme l'indique le paragraphe cité de la Psychologie empirique parce que ce qui est en jeu, c'est la «faculté de choisir spontanément celui qui plait à l'âme parmi plusieurs possibles, alors qu'elle n'est déterminée à en choisir aucun en particulier par son essence ».

11

Cf. Scolie du § 78 de l'Ontologia de Christian Wolff « A cette question [de savoir si la raison suffisante est ou non contraire à la liberté] il sera seulement possible de répondre dans la Psychologie où nous exposerons quelles choses sont requises pour la liberté. » (ibid., p. 61.)

La raison de

l'actualisation

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En d'autres termes, la question posée à laquelle nous répondrons dans le deuxième temps de notre réflexion est de savoir si cette liberté de l'âme qui se caractérise par le fait de n' être pas prédéterminée est ou non contraire au principe de raison. Troisièmement, Wolff fait de la Psychologie le lieu de l'élucidation du rapport entre la raison suffisante et la raison déterminante. 12 Ce qu'il s'agit de comprendre c'est la raison pour laquelle la raison suffisante peut être considérée à la fois comme raison déterminante et comme distincte de la raison déterminante. 13 L'enjeu est de savoir si la raison suffisante est ou non substituable à la raison déterminante. En effet, comme la faculté de l'âme par laquelle elle choisit librement parmi des possibles (en toute indépendance à l'égard du corps) se caractérise par une absence de détermination, cela signifie-t-il pour autant qu'il n'y a pas de principe de raison dans la liberté de l'âme? L'enjeu se redouble du fait que Leibniz assimilait l'une à l'autre comme le rappelle le § 117 alors que Wolff semble préférer s'abstenir de ce rapprochement, puisqu'il propose une différence entre raison suffisante et raison déterminante au §321 de l'Ontologia. Quelles conséquences cela engage-t-il pour déterminer les enjeux concernant le principe de raison suffisante? Il semble que l'Ontologie propose un principe de raison appliqué à l'action comme ce qui doit à la fois expliquer, déterminer et causer non seulement l'actualisation, mais sa possibilité même. Le texte de l'Ontologia prévoit également une adaptation de ce dispositif à la Psychologie sous la double forme: 1 "d'une caractérisation du lieu où se loge le principe de raison dans la Psychologie; 2°d'un questionnement sur le domaine d'extension auquel doit s'appliquer le principe de raison. Ce questionnement prend trois formes : le principe de raison doit-il s'appliquer à la possibilité des choses? (On peut déjà répondre à cette deuxième question si on se réfère au § 58 du Discursus Praeliminaris dans lequel Wolff définit la Psychologie comme la science de ces choses qui sont possibles par l'âme humaine). A quelles conditions est-il ou non superposable à la raison déterminante ? Comment en ce cas permet-il de préserver la liberté ?

12

13

«On ne cherchera pas moins précisément ensuite si la raison suffisante est la même que la raison déterminante et si la raison déterminante confère la nécessité aux choses, quand nous aurons perçu la notion de déterminé et de nécessaire. Nous ne pouvons pas déterminer jusqu'où le principe de raison suffisante s'étend, est-ce seulement aux actes contingents, ou aussi aux actes nécessaires, ou bien est-ce seulement au sujet de l'existence des choses, ou encore de la possibilité de ces choses [...] avant que nous ayons posé quelque chose sur le nécessaire et le contingent, la puissance et l'acte, la possibilité et l'existence.» (ibid.) Si on s'arrête un instant sur le chapitre consacré à la détermination dans l'Ontologia, § 116 et plus loin § 321, on peut remarquer que la raison suffisante est conçue à la fois comme raison déterminante (§ 116) et comme différente de la raison déterminante (§ 321).

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Ces différents problèmes peuvent être résolus si on s'attache à la question suivante: comment comprendre le mode de fonctionnement de la force à l'oeuvre dans l'âme? 1.1.5

La fonction de l'analogie chez Wolff

Dans Γ Ontologia, pour expliquer comment la force opère dans la substance, Wolff a recours à une analogie entre la force dans l'âme et la force dans le corps. Dans quelle mesure cette analogie est-elle empruntée à Leibniz ? On se souvient que depuis le De Ipsa Natura, Leibniz procédait à un double mouvement de modélisation visant à expliquer le mécanisme de la force. D'une part, il faisait de l'âme, entendue au sens générique de ce qui est animé, le principe actif à l'œuvre en toute parcelle de matérialité, que celle-ci soit un corps physique, un végétal ou un corps humain. Par là, il déshumanise l'âme. D'autre part, par le biais de la Dynamique il faisait, du mouvement du corps physique le modèle d'intelligibilité de l'ensemble des forces dans la matière. C'est ce qui s'illustre par exemple dans la première introduction publique du vocable de monade qui, comme terme générique, est associé à la matière première. Par ce double mouvement de « désanthropomorphisation » de l'âme et de modélisation de la Dynamique pour l'intelligibilité de la force dans les corps, Leibniz proposait de mettre l'accent davantage sur l'identité de fonctionnement existant entre les différentes formes de substances que sur leurs différences constitutives. Dès lors le mécanisme de l'analogie devenait le moyen de mettre en place des proximités fortes. Ce procédé est-il repris par Wolff, autrement dit : quelle fonction accorde-t-il à l'analogie? Dans YOntologie, aux §§ 777 et 778, pour illustrer le mode de fonctionnement de la force à l'oeuvre dans la substance, de cet effort continu pour agir, Wolff recourt à une correspondance entre ce qui se passe dans l'âme et ce qui se passe dans le corps. 14 Il propose donc une sorte d'analogie dans les modalités de fonctionnement de cette force dans l'âme et dans le corps. Or, cette correspondance, loin d'établir un principe de changement commun à l'âme et au corps, est bien au contraire ce qui interdit définitivement le rapprochement. En effet, c'est ce qu'indique le scolie du § 51 de la Psychologie rationnelle, dans la mesure où l'âme d'un côté a ses propres modifications, grâce à la variation continue des perceptions, et de la même manière le corps a les siennes grâce aux variations de la figure et de la grandeur. Mais comme les modifications sont différentes, Wolff considère que le principe des modifications doit être différent : « la modification des deux ne peut être expliquée par un principe commun. On doit 14

Ainsi, «dans le grave il y a un effort continu pour descendre et dans l'âme un appétit naît de la perception présente [...], il y a une succession continue de perceptions.» (ibid., scolie du § 777, p. 586.)

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l'actualisation

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donc admettre deux sujets de ces changements, différents l'un de l'autre, puisqu'on suppose en eux des choses différentes, afin que celles-ci puissent être expliquées de manière intelligible ». Cette différence entre la force perceptive des âmes et la force motrice des corps, Wolff la reprend en la développant au § 79 de la Psychologie rationnelle.'5 Ce recours à l'analogie, on le retrouvera à plusieurs reprises, en particulier dans les deux textes consacrés à la Psychologie, sous la forme d'une analogie entre la force représentative et la force motrice. L'analogie fonctionnera à chaque fois comme une instance de différenciation entre l'explication du mécanisme de production des changements dans l'âme et entre l'explication de la production des mouvements dans le corps. Par là, Wolff signale, sans encore la définir positivement, la singularité du processus d'actualisation des possibles et de modification des états de l'âme qui marque la spécificité de la Psychologie. 1.1.6

Premiers résultats

Au terme de ce premier développement, on peut donc dire que la raison de l'actualisation, telle qu'elle peut être appréhendée dans la substance simple, c'està-dire telle que la définit l'Ontologie, peut être caractérisée dans les termes suivants : elle suppose une triple appréhension du principe de raison comme cause du changement, principe explicatif et principe de détermination. Cette triple appréhension élargit le champ du principe de raison qui est non seulement celui de l'action de l'agent, mais encore de ces conditions de possibilité. Mais elle pose un problème : celui de l'adaptation de ce modèle à la psychologie, puisque le texte même de l'Ontologie prévoit cette possibilité. Un élément, au moins, demeure en suspens : celui de la pertinence ou non de l'inclusion des conditions de possibilité de l'action dans le domaine du principe de raison. Cette question peut être élucidée dès lors que le rapport entre principe de raison et principe de détermination est établi. Par là, la question de savoir dans quelle mesure le principe de raison garantit la liberté, et quelle liberté, est à son tour posée. 1.2

En quoi l'âme comme force représentative se conforme-t-elle à ce que Wolff dit de la raison de l'actualisation de toute substance simple dans l'Ontologie?

Il s'agit ici d'aborder le traitement de l'âme comme substance simple présentée explicitement dans la Psychologie rationnelle. En effet, dans la section I, chapitre 1 15

Or, cette conception d'une analogie qui interdit l'identité pour Wolff là où elle est précisément ce qui la rend possible pour Leibniz, on la retrouve dans le rapport qu'il établit entre la force active et la substance au § 178 de la Cosmologie générale (dans la Sect. 11, chap. II intitulé «Des éléments des corps»). Dans ce paragraphe, Wolff indique que si quelque chose apparaît être une substance, ou doit être considéré «instar», c'est-à-dire à l'image de, comme une substance, alors il ne peut pas être une substance. (Cf. id., Cosmologia generalis, dans : id., Gesammelle Werke, (voir η. 1), tome II, 4 (1964), p. 144.

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de la Psychologie rationnelle, Wolff se propose de rendre compte de la nature et de l'essence de l'âme. Pour ce qui nous intéresse cette caractérisation procède en trois temps. Dans un premier temps, au § 53, Wolff affirme, faisant référence à un passage de l'Ontologia, que l'âme «est douée d'une certaine force» et en tant qu'elle est substance son état change. 16 Il explicite ensuite le rapport entre faculté et force (aux §§ 54 et 55): la faculté est définie comme puissance active «nue d'action» alors que la force est un effort continu pour agir. Ici Wolff reprend textuellement les distinctions proposées par lui dans V Ontologia. Il établit néanmoins le rapport entre force et faculté en ces termes : «par la force de l'âme sont actualisées, ces mêmes choses qui, par les facultés de l'âme sont comprises seulement comme possibles. » Le scolie du § 55 enfin rend compte explicitement du principe de raison et peut se compléter par la référence qu'il propose au § 29 de la Psychologie empirique. En effet, au § 55 de la Psychologie rationnelle, Wolff articule deux exigences nécessaires à l'explication distincte des modifications de l'âme : «Et le fait est que, si nous voulions expliquer distinctement les modifications de l'âme, on devrait montrer pourquoi elles sont possibles et rendre raison aussi de pourquoi elles passent à l'acte. »' 7 Autrement dit, Wolff propose ici une appréhension du principe de raison de l'explication distincte des modifications de l'âme qui comprend deux éléments : d'un côté, il faut pouvoir rendre raison de la possibilité même des modifications, de l'autre, il faut pouvoir expliquer leur processus d'actualisation. Autant dire qu'à l'instar de ce qu'il évoquait dans VOntologia pour comprendre la modification, il faut articuler possibilité et actualisation. Mais Wolff complète ce dispositif en faisant référence au § 29 de la Psychologia empirica. Dans le scolie du § 29, Wolff répartit les attributions des différentes disciplines et des différents textes pour pouvoir rendre compte à la fois des puissances actives ou facultés et de la force. 18 Il est alors précieux de voir le rôle attribué à l'Ontologie comme ce qui 16

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18

Id., Psychologia rationalis, dans : id., Gesammelte Werke, (voir η. 1), tome II, 6 (1972), § 53, p. 35 : «L'âme est douée d'une certaine force. L'âme est une substance (§ 48) et comme en elle les perceptions succèdent les unes aux autres, des perceptions naissent les appétits, et des appétits en retour les perceptions, comme cela a été dit dans la Psychologie empirique universelle, son état change (§ 709 Ontologia). Donc elle est douée d'une certaine force (§ 776 Ontologia). » Le scolie du § 55 de la Psychologie rationnelle se poursuit en ces termes: «[...] C'est pour cela que comme par les faculté de l'âme on comprend seulement que de cette manière on peut avoir des perceptions et des appétitions, il ne suffit pas d'attribuer à l'âme des facultés nues, mais on doit ajouter un principe par lequel est claire la raison pour laquelle elles sont en acte. De là, on comprend pourquoi ces perceptions sont plutôt en acte que d'autres, ce qu'on examinera plus tard», (ibid., p. 36sq.) Id., Psychologia empirica, dans: id., Gesammelte Werke, (voir η. 1), tome II, 5 (1968), § 29, Scolie, p. 20: «Combien sont les facultés de l'âme et quelles sont-elles, nous le montrerons dans la Psychologie empirique ; ce qu'elles sont proprement et comment elles sont dans l'âme, nous le montrerons dans la Psychologie rationnelle. Sont cependant utiles pour les comprendre ces choses que nous avons déjà notées dans la philosophie première (note du § 716 Ontologia) au sujet des puissances en général. »

La raison de

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est utile à la compréhension du discours de Wolff concernant la Psychologie. La suite du scolie est également intéressante dans la mesure où elle affirme que la faculté de l'âme n'est pas opposée à la force de l'âme. 19 Au final, on peut dire que la Psychologie rationnelle reprend le dispositif proposé par Wolff dans l'Ontologia en explicitant un certain nombre de points, mais laisse à ce stade en suspens la question du rapport entre principe de raison et principe de détermination sur laquelle on va revenir. Si l'âme, en tant que substance simple, permet de comprendre le principe de raison suffisante, ce principe est chez Leibniz fondé sur le système de l'harmonie préétablie. Or, Wolff, circonspect et prudent à l'égard de ce système, détermine dans son étude la part de préétablissement et la part de liberté laissée par le système de l'Harmonie préétablie, précisément en étudiant le rapport entre l'âme et le corps dans ce système. Il analysera au § 904 de la Psychologie empirique la part de liberté laissée dans la Psychologie. Il nous faut donc maintenant déterminer le statut de l'âme dans la théorie de l'Harmonie préétablie d'après Wolff. 1.3

L'âme et le système de l'Harmonie préétablie

Wolff étudie le système de l'Harmonie préétablie dans la Psychologie rationnelle,20 texte dans lequel il distingue ce qui, dans ce système, est miraculeux de ce qui est naturel. L'harmonie préétablie entre l'âme et le corps est ainsi considérée comme miraculeuse, mais par la force naturellement présente en chaque homme s'ensuit la coexistence des perceptions et des appétitions de l'âme d'un côté en accord avec les mouvements du corps de l'autre. Mais ce qui nous importe alors est ce qu'indique Wolff au § 630 dans lequel il écrit que «les appétits (appetitiones) ne sont pas préétablis ».2I 19

Suite de ce scolie: «Assurément par la force de la notion que nous avons de l'action ( § 7 1 3 Ontologia), nous affirmons que la puissance active, conséquemment les facultés qui sont attribuées à l'âme ne sont pas opposées à ces choses qui sont dans l'âme ou ce qui change l'existence en elle ou les relations aux autres de telle sorte que la raison du changement soit contenue en ces choses qui sont en elle, ou que, par les autres choses qui sont en elle puisse être compris pourquoi le changement lui arrive. Puisque c'est un fait que dans la Psychologie empirique ne peut pas encore être séparé ce qui est au nombre des passions, qui semblent telles et si nous posons principalement celles qui sont en tout cas les passions, qui sont cependant liées aux actions de telles sortes que celles-ci ne peuvent pas être comprises sans celles-là; personne ne supporte avec peine que sous le nom de Facultés nous jugions ce qui se rapporte aux passions. Et si cette raison ne satisfait pas encore, la signification du mot s'étend aux puissances passives: ce qu'il est possible de faire sans contradiction puisque les définitions nominales sont arbitraires. » (ibid.).

20

Id., Ontologia, (voir η. 1), Section III, Chap. IV («De l'Harmonie préétablie»), § 629 et suivants. «Car Dieu a seulement préétabli l'harmonie entre les mouvements dans le corps à travers les impressions excitées dans les organes sensoriels et les perceptions de l'âme, par lesquelles les objets sont représentés, et entre les appétits de l'âme et les mouvements volontaires dans le corps (§ 619 et 624). Mais les appétitions naissent des perceptions par la force de l'âme selon

21

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Le paragraphe 630 est décisif à un double titre nous semble-t-il : en premier lieu il circonscrit un champ qui échappe au système de l'Harmonie préétablie et qui, de ce fait même, garantit la possibilité de la liberté (de l'avis de Wolff). Ce qui présuppose une interprétation assez particulière de l'Harmonie préétablie. Mais en second lieu, il détermine qu'il y a un domaine central pour la compréhension des modifications de l'âme, savoir le domaine de la production des appétits, qui certes échappe au système de l'harmonie préétablie, mais qui doit comme toute autre chose tomber sous le coup du principe de raison suffisante. 22 On pourrait interpréter cet espace laissé libre de tout préétablissement comme ce qui découle néanmoins de l'Harmonie préétablie au sens où Leibniz distingue ce qui permet d'expliquer le détail des phénomènes des principes généraux dont néanmoins cela découle. Mais s'agit-il de cela ici? Autrement dit, comment comprendre 1 ° ce que dit Wolff sur le statut de la Psychologie empirique comme le lieu où le principe de raison des modifications de l'âme se donne et 2° le rapport à la liberté que Wolff pose comme enjeu de l'existence de ce domaine? Ces deux points inclinent-ils vers un schéma leibnizien, ou ne s'agit-il pas plutôt de proposer une nouvelle acception du principe de raison adéquate à son objet? La question qui se pose alors d'emblée est la suivante: en quoi consiste ce principe de raison dans la production des appétits de l'âme? Et, corrélativement, quel lien, s'il y en a un, ce principe entretient-il avec la production des sensations en général, régies, elles, par les processus internes d'actualisation relayés par le système de l'Harmonie préétablie?

Conclusion Comment articuler les différentes acceptions du principe de raison suffisante à une théorie de l'âme qui délimite le champ dans lequel le préétablissement n'a pas le droit de séjour (puisqu'elle est appréhendée du point de vue de son rapport au corps)? En d'autres termes, comment comprendre la raison de l'actualisation dans l'âme dès lors qu'elle n'est pas fondée par le préétablissement divin? Cette terminologie est-elle encore pertinente : plus généralement, comment rendre compte des modifications de l'âme?

22

la loi de l'appétit (§ 904 Psychologie empirique) et par là-même ici aucun préétablissement n'est nécessaire.» (id., Psychologia rationalis, [voir n. 16], p. 586). Suite du § 630 «Cela se montre aussi ainsi. La manière par laquelle l'âme parvient par ses perceptions aux appétitions ou les obtient de celles-ci, ne concerne pas le commerce de l'âme et du corps. (§ 962 Psychologie empirique). Mais dans le système de l'harmonie préétablie, ce sont seulement les choses requises pour conserver le commerce entre l'âme et le corps qui sont préétablies par Dieu. Donc les appétits dans l'âme ne sont pas préétablis» (ibid.).

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2. Le principe de raison suffisante dans les deux « Psychologie » : la raison d'être de l'actualisation comme limitation essentielle Le point de départ de ce développement est la recherche de la raison des changements de l'âme dès lors qu'on a compris deux choses : la première, c'est qu'il y a un modèle d'intelligibilité des changements de l'âme, déployé dans VOntologie et repris pour une part dans la Psychologie rationnelle, qui expose, à quelques variantes près, le principe de raison suffisante d'origine leibnizienne ; la deuxième, c'est que ce modèle est mis en crise par Wolff dès qu'il affirme que le préétablissement ne concerne pas les appétitions d'où naissent ensuite les perceptions dans l'âme. Autrement dit, à lui seul, ce modèle ne suffit pas à expliquer les modifications de l'âme. La question est alors la suivante: est-il complété ou bien est-il invalidé par un autre dispositif qui met à mal son efficacité ? Par conséquent, la première question à laquelle nous devons répondre est la suivante : comment Wolff explique-t-il les modifications de l'âme? 2.1

Comment expliquer les modifications de l'âme ? La raison générale des changements comme limitation essentielle

Nous faisons l'hypothèse que c'est peut-être ici que la formule inaugurale du § 4 de la Psychologie empirique prend tout son sens, formule selon laquelle, rappelons-le, Wolff affirmait que la Psychologie empirique fournit les principes à la [Psychologie] rationnelle. On pourrait comprendre par ce paragraphe que la Psychologie empirique est le lieu où se fonde le principe de raison appliqué aux choses qui arrivent dans l'âme humaine. Cette interprétation peut être confirmée par le scolie du § 61 (de la Psychologie rationnelle) dans lequel Wolff indique que c'est dans la Psychologie empirique que doit être cherché pourquoi à un moment déterminé l'âme sent plutôt qu'elle n'imagine ou ne fait encore autre chose. Et la manière dont cette enquête doit être menée est esquissée en ces termes : « on doit donc rechercher quels sont les premiers changements dépendants de cette force et comment de là les autres en dérivent». Wolff à ce stade distingue déjà plusieurs éléments: les changements produits par la force et les changements dérivés des premiers changements produits par la force. En d'autres termes, il distingue deux niveaux d'intelligibilité : le niveau général et le niveau particulier. Le § 64 de la Psychologie rationnelle, dans lequel Wolff affirme que « toutes les mutations de l'âme tirent leur origine de la sensation », donne le point de départ à notre recherche. C'est donc l'analyse du mécanisme de production de la sensation qui devrait nous permettre d'expliquer distinctement les changements de l'âme, c'est-à-dire de pouvoir en rendre raison. Or, ce mécanisme de production de la sensation est étudié à la fois dans la Psychologie rationnelle (Section I, chapitre II) et dans la Psychologie empirique.

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Examinons d'abord comment la Psychologie rationnelle rend raison des choses qui se produisent dans l'âme. 2.1.1

Raison générale et raison spéciale

Wolff qualifie la force de l'âme de force représentative, mais il distingue (aux § 62 et 63 de la Psychologie rationnelle) au coeur de cette force, comme le § 61 le laissait entendre, deux niveaux d'intelligibilité distincts pour expliquer les changements, autrement dit deux formes de limitation. Il s'agit d'abord d'une loi générale de la sensation, constante et inviolable, qui est la loi qui rend raison en général de la manière dont les perceptions et les appétits s'actualisent. Cette loi s'énonce comme suit : si dans un organe sensoriel un changement est produit par un certain objet sensible, dans l'âme cette sensation est explicable de manière intelligible, on peut en donner la raison suffisante. Ainsi, les sensations sont des perceptions des objets extérieurs déduits du mouvement d'un organe sensoriel. Donc tant que l'âme sent, elle se représente des objets. Il s'agit d'une limitation qui se saisit au niveau de l'explication générale : on peut peut-être l'appeler la loi des perceptions, car elle renferme les principes généraux des règles des perceptions.23 Il y a loi lorsqu'il y a possibilité d'une explication d'une manière intelligible, ce qui est apparenté à la «raison suffisante par laquelle on peut reconnaître pourquoi une chose est, et pourquoi elle est telle. » Mais il propose un deuxième niveau d'intelligibilité (une deuxième forme de limitation) qui dépend du premier et qu'il désigne comme «la raison spéciale des appétits» qui eux, naissent à partir des perceptions. (C'est ce qu'indique le § 77 de la Psychologie rationnelle). Cette limitation se saisit au niveau du détail de l'explication. On peut dire à cet égard trois choses. Tout d'abord, la condition de possibilité de l'actualisation des possibles dans l'âme suppose de comprendre ce qui est à l'origine de la force représentative de l'univers dans l'âme, savoir son lien avec le corps organique, qui d'une part, détermine son point de vue sur le monde et, d'autre part, justifie le fait que l'origine de tous les changements dans l'âme est la sensation (c'est ce qu'indique le § 65). Par conséquent, ce qui est premier c'est la sensation, origine de la force représentative et donc les changements de l'âme dépendent et découlent de cette sensation. Puis, la nature de l'âme consiste dans la force représentative, et comme la nature de l'âme comprend le principe intrinsèque des changements dans l'âme, les §§ 68 et 69 l'indique «la force représentative de l'univers est la nature de l'âme dans la mesure où s'actualisent ces représentations» [...] et «est naturel dans l'âme ce dont la raison suffisante est contenue dans la force représentative de

23

Cf. id., Psychologia empirica, (voir n. 18), § 84, p. 49.

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l'univers qui est dans l'âme ». Ici ce qui est enjeu c'est le rapport général d'actualisation des facultés. Enfin, la raison spéciale des perceptions et des appétits. Mais quelle forme du principe de raison prend-elle ? 2.1.2

Au cœur de la raison générale, une double limitation : matérielle et formelle

Wolff spécifie la limitation essentielle à l'oeuvre dans la force représentative de l'âme en distinguant au § 63 de la Psychologie rationnelle une limitation formelle et une limitation matérielle de la force représentative : la limitation matérielle dépend de la position du corps organique dans l'univers, quant à la limitation formelle elle dépend de la disposition des organes sensoriels. La limitation de la force représentative est dite matérielle dans la mesure où toute âme se représente l'univers selon la situation du corps organique dans l'univers, c'est-à-dire qu'elle ne perçoit que les objets qui agissent sur ses organes sensoriels. Cette limitation dépend de l'objet ou de la position du corps dans l'univers. La limitation de la force représentative est dite formelle, dans la mesure où elle se représente cet univers conformément aux changements qui concernent les organes sensoriels, de sorte qu'est certain à partir de ces changements ce pourquoi il y a un mode de représentation plutôt qu'un autre, pourquoi cette perception est claire ou obscure, pourquoi celle-là est distincte ou confuse. Donc la force de l'âme est limitée formellement par la disposition des organes sensoriels. Cette limitation formelle est précieuse, dans la mesure où ce qui suscite le désaccord de Wolff à l'égard de la position leibnizienne de l'harmonie préétablie, c'est que, pour Leibniz, la force peut produire des représentations obscures du monde. 24 Si la force peut produire des représentations obscures du monde, alors Wolff préfère récuser l'explication leibnizienne de l'harmonie universelle. C'est ainsi que cette appréhension des notions obscures il la désigne au § 54 de la Psychologie empirique comme la partie inférieure de la faculté de connaître. 2.2

La raison spéciale : une forme inédite du principe de raison ?

En quoi la Psychologie empirique peut-elle ou non être considérée comme le lieu où se fonde le principe de raison appliqué à certaines choses qui arrivent dans l'âme humaine? Corrélativement, la question est alors de savoir quel statut accorder à cette raison spéciale des appétits. Elle apparaît comme une règle là où la prédétermination de l'Harmonie préétablie laisse le champ libre : comment se constitue cette raison spéciale qui est la marque de la liberté du sujet? On tentera de répondre à cette question en se rappe24

II l'indique dans les Remarques (Anmerckungen) de 1724, comme le montre l'article de Casula, Mario, A.G. Baumgarten entre G.W. Leibniz et Chr. Wolff, dans : Archives de Philosophie 42 ( 1979), pp. 547-574, qui cite le paragraphe 216 des Anmerckungen de 1724.

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lant que cette raison spéciale est néanmoins dépendante de la force représentative qui prend sa source dans la sensation. Parce que la raison spéciale en découle, elle en est une modification. 2.2.1

En quoi consiste cette raison spéciale ?

Pour répondre à cette question nous examinons deux séries de textes empruntés respectivement à la Psychologie rationnelle et à la Psychologie empirique. 25 On peut dire que ces deux séries de textes proposent trois caractérisations distinctes de cette raison spéciale. Dans un premier temps, Wolff tempère les ardeurs que le champ libre laissé par l'absence d'harmonie préétablie aurait pu donner susciter, ainsi au § 78 de la Psychologie empirique, Wolff s'exprime en ces termes : « L ' â m e ne peut rien modifier dans ses sensations, ni ne peut substituer l'une à l'autre selon son bon vouloir, tant que l'objet sensible agit sur les organes des sens »,26 Il semble alors que ce soit le rapport au corps qui détermine la sensation comme quelque chose de subi par l'âme. En quoi dans ce cas la sensation est-elle l'occasion de l'expression de la liberté de l'âme? C'est d'une certaine manière par le rapport au corps (limitation formelle et matérielle) que la sensation se produit et, dans ce cas, il pourrait y avoir préordonnancement et actualisation. Mais, en même temps, puisque cette loi des appétits est censée échapper à l'Harmonie préétablie, elle ne peut concevoir le principe de raison comme actualisation. Cependant le paragraphe que nous venons de citer doit être aussitôt complété par un autre, car, même lorsque la sensation est origine de toute connaissance, elle est une faculté active en ce qu'elle choisit librement parmi des possibles, celui qui lui plaît, sans y être prédéterminée. 27 En d'autres termes, le principe de raison tel qu'il se présente dans l'âme dès lors que l'on veut rendre raison du détail de la production de ses appétits se présente sous les traits paradoxaux d'une impuissance de l'âme à agir à l'égard de ce qu'elle reçoit de ses sens, et dans le même temps, elle n'est pas déterminée dans ses choix, c'est-à-dire qu'elle choisit librement d'actualiser un possible qui a sa préférence. La question est alors de savoir ce qui détermine cette préférence. 28

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Une première série commence avec les § 77-78 de la Psychologie rationnelle, une seconde série débute au § 83 de la Psychologie empirique. En d'autres termes, comme l'indique la suite du § 78 «il ne peut se produire que l'âme dans la sensation ou perception substitue un objet sensible à un autre par son seul bon vouloir, ou ordonne qu'elle soit entièrement autre, par conséquent dans ses sensations, rien ne peut changer, ni n'a le pouvoir de changer quoi que ce soit, tant que n'importe quel objet sensible agit sur les organes des sens. » (id., Psychologia rationalis, [voir n. 16], p. 56). Comme l'indique le § 941 de la Psychologie empirique·, «la liberté de l'âme est la faculté de choisir spontanément parmi plusieurs possibles celui qui lui plaît, alors qu'elle n'est déterminée à aucun de ceux-ci par son essence.» (id., Psychologia empirica, [voir n. 18], p. 706). Les § 526 à 529 de la Psychologie rationnelle répondent à cette question.

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l'actualisation

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Au § 526 de la Psychologie rationnelle, Wolff commence par expliquer pour quelles raisons une chose nous plaît ou nous déplaît, c'est-à-dire pour quelle raison nous la choisissons. Pour lui, « la raison pour laquelle quelque chose nous plaît ou nous déplaît, est contenue dans les qualités de la chose »29 et non pas dans la manière par laquelle elle parvient aux sensations qui font naître les appétits et les aversions. Donc la liberté de l'âme est indépendante de la manière par laquelle l'âme parvient à ses sensations. Ainsi, il semble que l'origine du plaisir - qui est la raison du choix - soit dans la qualité de la chose et, de ce fait, indépendante de la manière par laquelle la sensation parvient à l'âme, cette indépendance est la définition de sa liberté. Quel usage l'âme en fait-elle? Dans un deuxième temps, au § 527, Wolff s'emploie à montrer quelle influence peut avoir cette liberté sur la série des perceptions, au point qu'il affirme qu'elle concourt à les déterminer. 30 En d'autres termes, c'est par la liberté de l'âme, indépendante des sensations que le corps peut lui procurer, que l'actualité des perceptions est déterminée. Mais en définitive, sur quoi repose cette liberté ? Dans un troisième temps, au § 528, Wolff indique que l'âme est libre parce qu'elle est douée de raison. Il reprend l'idée que «l'âme, dans la mesure où elle est libre, choisit spontanément parmi plusieurs possibles, celui qui lui plaît le plus ».31 Ce qu'il faudra déterminer alors, c'est le sens de deux expressions récurrentes dans ce paragraphe : «pro arbitrio» et «sponte». Il ne peut s'agir d'une acception de la notion de bon vouloir conçue comme ce qui peut intervenir sur les objets des sens qui l'affectent, mais c'est un bon vouloir qui a une certaine forme d'indépendance. Quelle est-elle, et comment ces deux appréhensions s'articulent-elles? C'est sans doute en répondant à cette question que l'on peut définir cette forme inédite du 29

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31

W o l f f cite alors les § 511 et 5 1 8 de la Psychologie empirique qui définissent le plaisir c o m m e la connaissance intuitive de la perfection d'une chose, qu'elle soit vraie ou apparente et la définition de l'aversion c o m m e la connaissance intuitive de l'imperfection d'une chose. N o u s citons largement ce § 527 de la Psychologie rationnelle, décisif à notre sens pour comprendre le statut de la liberté de l'âme comme détermination de l'actualité des perceptions: «Quand nous voulons quelque chose, l'effort pour produire la perception prévue est déterminé par la notion distincte de bien, qui est attachée à ce quelque chose (§ 517), par conséquent dans la série des perceptions sont contenues des choses telles que nous les voulions [...]. Donc les perceptions sont dans la série des perceptions, qui sont déterminées par la volonté ( § 1 1 3 Ontologie). C'est pourquoi c o m m e l'âme veut librement, la liberté concourt à les déterminer. [ . . . ] C'est pourquoi puisque la liberté de l'âme concourt, c o m m e cela a été démontré, aussi bien en voulant qu'en ne voulant pas à la détermination de l'actualité des perceptions présentes dans la série des perceptions, la liberté influe sur la série des perceptions. » (id., Psychologia rationales, [voir n. 16], p. 447. C'est nous qui soulignons.) N o u s donnons la suite du § 5 2 8 : « [ . . . ] elle le choisit parce qu'il peut apparaître c o m m e un plaisir; bien plus, elle j u g e qu'il est bon, et qu'il est meilleur qu'un autre, quand elle le choisit parmi deux bons. Tant qu'elle veut quelque chose, l'appétition ou volition est déterminée par la notion distincte de bon, bien plus par ce que l'objet est reconnu par nous c o m m e souhaitable et apte à parfaire notre état. On suppose par là des vérités éternelles qui sont appliquées aux autres en appréciant le caractère souhaitable d'une qualité inhérente ou d'une relation: et c o m m e elle a une raison, l'âme est libre en voulant, parce qu'elle est douée de raison. » (ibid., p. 448.)

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principe de raison. A titre d'esquisse, on peut dire que le principe de raison se présente pour la raison spéciale des appétits comme une indépendance à l'égard des sensations, qui détache l'âme, en la circonstance, de toute prédétermination. Cette situation est ce qui définit la liberté de l'âme. L'usage qu'elle fait de cette liberté consiste alors à déterminer l'actualité de certaines perceptions dans une série, c'est-à-dire de se constituer comme principe propre de détermination. Elle propose donc une nouvelle compréhension du principe de raison: l'absence de prédétermination est la condition pour une forme d'auto-détermination par laquelle l'âme actualise certaines perceptions plutôt que d'autres. Mais on voit bien que cette auto-détermination est elle-même inscrite dans un cadre d'intelligibilité qui ne dépend pas de l'âme : en effet, elle actualise des perceptions dans une série, ce qui présuppose donc l'existence d'une série qui ne dépende pas de l'âme. Par ailleurs, la condition de cette liberté, c'est que l'âme soit dotée d'une raison, c'està-dire d'une capacité à juger le bien et à le reconnaître et elle a également la capacité d'identifier les vérités universelles présentes dans la qualité de la chose. Autant dire que cette forme de principe de raison a pour originalité principale de ne pas concevoir le choix comme prédéterminé et de proposer une explication32 par laquelle le choix détermine l'actualité de certaines perceptions. Ce que nous cherchions à déterminer, c'était le mode de fonctionnement de ce principe de limitation intrinsèque33 qui permet d'expliquer les changements et peut donc à ce titre être qualifié de raison suffisante. On peut dire à cet égard qu'en un premier sens, qui donne la raison générale de l'actualisation des possibles (cela englobe la limitation formelle et la limitation matérielle), le système de l'Harmonie préétablie garantit, en ce qu'il fonde le rapport entre telle âme et tel corps, l'actualisation à l'oeuvre dans la force représentative de l'univers. En revanche, en un second sens, pour rendre compte de la raison spéciale des changements, savoir pour expliquer non pas qu'il y ait ou non perception, mais que ce soit telle perception, et non telle autre, il faut convoquer ce que Wolff désigne comme la raison spéciale des appétits et qu'il mentionne et définit dans la Psychologie rationnelle par la caractérisation de la liberté de l'âme. Quelle conception du principe de raison cela dresse-t-il ? On peut rappeler que l'Ontologie proposait trois acceptions du principe de raison suffisante : comme cause, comme principe explicatif et comme principe de détermination. Comment cela se passe-t-il dans la Psychologie? On observe que 32

33

II faudrait complexifier un peu cette formulation du principe de raison en mentionnant les § 85 et 86 de la Psychologie empirique qui précisent pourquoi il ne peut être question ici de principe causal, en effet, il y a immédiateté entre la sensation du changement et la possibilité d'expliquer d'une manière intelligible cette sensation (§ 85). Mais dans le paragraphe suivant, Wolff écrit donc : « Si le changement est le même dans le même organe sensoriel, la sensation doit être aussi la même dans l'âme. C'est un fait que la sensation reconnaît dans le changement de l'organe, la raison suffisante pour laquelle elle est et elle est telle. » (id., Psychologia empirica, [voir n. 18], § 86, p. 50.) Intrinsèque est davantage à entendre ici au sens d'interne que de prédéterminé.

La raison de

l'actualisation

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l'originalité de Wolff réside dans le fait qu'il appréhende le principe de raison dans la Psychologie selon une triple acception : il est d'abord la condition de possibilité de l'actualisation, il est ensuite à un niveau général conforme à l'Harmonie préétablie et à ce titre préordonné par elle, il est enfin présent au niveau particulier sous la forme d'une exigence d'intelligibilité dans la raison spéciale des appétits. Cela fait effectivement de la Psychologie empirique le lieu qui, échappant pour une part à l'Harmonie Préétablie, rend raison du détail des appétits. 2.2.2

Conclusion

Pour conclure, il faut tenter de répondre à la question suivante : quelles conséquences, cette conception du principe de raison, a-t-elle pour une théorie de l'âme antrelle ? On répondra en deux temps : 1 ° en formulant les deux formes du principe de raison à l'œuvre dans la théorie de l'âme, 2° en essayant de voir l'incidence qu'il peut en résulter sur les rapports entre Ontologie et Psychologie. 1° - La question de l'adaptation du principe de raison suffisante à la théorie de l'âme a permis de déterminer un principe de raison actif à deux niveaux différents. A un premier niveau, le niveau d'explication générale, on retrouve la triple appréhension du principe de raison déployée dans l'Ontologie et reprise dans la Psychologie. En effet, le principe de raison est à la fois cause du changement, principe explicatif et principe de détermination. A cet égard, il conviendrait de tenter une réponse à la question du rapport entre principe de raison suffisante et principe de détermination dans la Psychologie. Si Wolff les identifie dans l'Ontologie, il les distingue également (au § 321). Comment cela se passe-t-il effectivement dans la Psychologie? On retrouve cette triple détermination au niveau de l'explication générale dans la Psychologie, mais c'est un peu différent au niveau de l'explication de détail. En effet, à un second niveau, il semble que Wolff ait laissé un vide concernant la caractérisation du principe de raison pour la raison spéciale des appétits. Ce vide est provoqué par le fait que le domaine circonscrit pour rendre raison des appétits n'est pas couvert par le système de l'Harmonie préétablie. L'exigence du principe de raison est néanmoins maintenue mais elle ne peut pas être une raison de l'actualisation puisqu'elle ne présuppose pas des possibles qu'elle actualise. En quoi consiste dès lors ce principe de raison appliqué à la production des appétits ? Son originalité majeure réside dans l'affirmation d'une absence de prédétermination dans l'âme lorsqu'elle choisit. Or, cette liberté de l'âme devient condition de la détermination de l'actualité de certaines perceptions plutôt que d'autres: n'étant pas prédéterminée à actualiser, elle détermine l'actualité de certaines perceptions.

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2° - Comment cette analyse du principe de raison influe-t-elle sur une possible redéfinition de la Psychologie et de son rapport à l'Ontologie ? Il s'agit de se demander si l'Ontologie est effectivement ce qui fonde la Psychologie ou bien si la Psychologie rectifie les notions proposées par l'Ontologie au sujet de la raison de l'actualisation.34 On pourrait répondre en deux temps. En un premier sens, assurément, l'Ontologie fonde la définition du principe de raison qui sera reprise ensuite dans la Psychologie. Mais dans le champ laissé libre par ce qui fonde le principe de raison dans le système leibnizien, savoir la théorie de l'Harmonie préétablie, la définition du principe de raison proposée par Wolff dans l'Ontologie constitue également un horizon conçu comme une exigence à satisfaire pour proposer un fondement à la raison spéciale des appétits. En un second sens, on peut dire que la Psychologie est le lieu où se révèle un vide laissé par Wolff. En effet, Wolff circonscrit bien un domaine mais celui-ci échappe au système de l'Harmonie préétablie et maintient en même temps l'exigence du principe de raison. En ce sens, la Psychologie n'est pas tant ce qui «rectifie les notions» pour reprendre la terminologie proposée par la Théodicée que ce qui impose au lecteur la nécessité de reconstituer, de «bricoler», pourrait-on dire, un contenu pour cette forme inédite du principe de raison.

34

Rappelons que ces deux fonctions étaient celles que Leibniz attribuait au principe de raison suffisante dans la Théodicée.

JEONGWOO PARK ( P a r i s )

Erfahrung, Habitus und Freiheit. Christian Wolffs Neubestimmung des Habitusbegriffs in der rationalistischen Tradition

Wolffs Begriff der Erfahrung ist vielschichtig. Daher sollte man ihn nicht vorschnell einer bestimmten philosophischen Denkrichtung zuzuordnen versuchen. So wäre es z.B. falsch, ihn für empiristisch zu erklären, denn Erfahrung wird von Wolff gerade nicht auf das sinnlich Gegebene reduziert. Dies hängt damit zusammen, daß sein Begriff der Erfahrung eng mit der Idee der Vollkommenheit verbunden ist. Erfahrung konstituiert sich und spinnt sich bei Wolff fort in der Bahn („trames") und im Gewebe einzelner Erfahrungen. Erst durch die Erfahrung werden unsere verworrenen Begriffe („notiones") entfaltet und die Veränderungen („modificationes") der Seele bewirkt. Diese Idee tritt schon in der Vorrede der Psychologia Empirica auf. In ihrem Sinne schließt die Analyse des Erfahrungsbegriffs die des Habitus mit ein. Außerdem werden einzelne alltägliche Erfahrungen nach Wolff auch dann syllogistisch strukturiert und antizipiert, wenn man sich dessen nicht bewußt ist. Dies bedeutet nicht, daß Erfahrung bei Wolff intellektualisiert und in sich geschlossen wäre. Obwohl durch Antizipationsstruktur organisiert, können unsere Erfahrungen durch unerwartete Ereignisse, unvorhergesehene Wahrnehmungen, die unseren Antizipationshorizont verschieben, unterbrochen und fragmentiert werden. In diesem Sinne ist Erfahrung bei Wolff trotz ihrer Antizipationsstruktur relativ offen konzipiert. Was aber die Erfahrung anbelangt, die man von der Idee der Vollkommenheit her entfaltet, und die eine besondere Scharfsinnigkeit („acumen singulare") verlangt, so konstituiert man sie nach Wolff durch gemeinsame und alltägliche Erfahrungen, indem man diese die zur Vollkommenheit führende Bahn psychologischer Erfahrung entlang expliziert und verdeutlicht. Nun ist diese Art von Erfahrung nicht dazu bestimmt, die metaphysischen Thesen Wolffs zu begründen, welche die Grenzen der Erfahrung transzendieren, sondern nur dazu, unsere Aufmerksamkeit zu kultivieren oder zu sensibilisieren, um unseren Erfahrungshorizont auf dem Gebiet der Psychologie zu erweitern. Unter diesem Gesichtspunkt verlangen die Worte von Jean Ecole,1 nämlich, daß Vernunft in der Psychologia Empirica keine andere Rolle spielt als die, beobachtete Tatsachen in eine Ordnung zu bringen, eine genauere Erklärung, um mögliche Mißverständnisse eines oberflächlichen Lesers zu vermeiden. Denn die Rolle der Vernunft Vgl. Jean Ecoles Einleitung zu: Wolff, Christian, Psychologia rationalis, in: ders., Gesammelle Werke, hg. v. Jean Ecole u.a. 3 Abteilungen. Hildesheim u.a. I962ff., Abt. II, Bd. 6 (1972), S. VII.

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beschränkt sich nicht darauf, beobachtete Tatsachen zu ordnen, sondern Vernunft oder Reflexion läßt uns neue Erfahrungen entdecken und erleben, und fuhrt uns die Bahn der psychologischen Erfahrung entlang zur Vollkommenheit unserer Seele und zur Explikation impliziter Erfahrungen. Unter diesem Gesichtspunkt ist Wolffs Devise „experientia magistra" oder „experientia fide" undenkbar ohne „connubium rationis et experientiae", wobei der Habitusgedanke eine sehr wichtige Rolle spielt. Diese Perspektive ist schon sichtbar in Wolffs Analyse der ersten Grunderfahrung unserer Existenz und setzt sich durch bis in die Erfahrung der moralischen Handlung, deren Artikulierungsakt unsere Freiheit begründet. Um die Originalität der Wolffschen Auffassung von Erfahrung zu verstehen, muß man zunächst seine Stellung in der Debatte seiner Zeit bestimmen - und dies insbesondere in bezug auf die Rationalisten, vor allem Descartes, Spinoza und Leibniz, die jeweils versuchen, das Verhältnis zwischen Verstand („intellectus") und Erfahrung durch Analyse der Erfahrung selbst zu bestimmen. Wir werden folglich ihre Gedanken skizzieren, bevor wir diesbezüglich Wolffs Gedanken zu analysieren versuchen. Dabei halten wir uns an ein von Wolff selbst verfolgtes methodologisches Konzept, nämlich die dialektische Kollation: 2 Indem wir die vorigen Theorien miteinander konfrontieren und vergleichen, kommen wir zum Kern der Sache selbst. Beginnen wollen wir unseren historischen Abriß mit Descartes. In der Regula XII unterscheidet Descartes zwischen vier Erfahrungstypen. 3 Diese Unterscheidung ist von großem Einfluß auf seine oben erwähnten Nachfolger. Die vier Typen von Erfahrung sind im einzelnen: 1) Sinnliche Erfahrung: wir erfahren alles, was wir sinnlich wahrnehmen. 2) Erfahrung vom Hörensagen: wir erfahren alles, was wir von anderen hören. 3) Erfahrung durch den Glauben: wir erfahren alles, was unseren Verstand von anderswoher („aliunde") erreicht. 4) Intellektuelle Erfahrung: wir erfahren alles, was unseren Verstand durch reflektierte Selbstbetrachtung („contemplatio") erreicht. Die erste Kategorie bedarf wohl keiner weiteren Erklärung, da sie von Descartes selbst bereits hinreichend klar erörtert worden ist. Der zweite Typ von Erfahrung ist durch Zeugen belegte Erfahrung. Um ein Beispiel von Spinoza anzuführen, so weiß ich nur vom Hörensagen, wann ich geboren bin und wer meine Eltern sind. 4

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Vgl. Wolff, Christian, Psychologia empirica, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 1), Abt. II, Bd. 5 (1968), § 826. Vgl. Descartes, René, Regulae ad directionem ingenii, in: ders., Œuvres, hg. v. Charles Adam u. Paul Tannery. 13 Bde. und ein Supplement. Paris 1897-1913, Bd. 10 (1908), S. 410-430, hier S. 422. Spinoza, Benedictus de, Tractatus de intellectus emendatione, in: ders., Opera, hg. v. Carl Gebhardt. 5 Bde. Heidelberg 1925, Bd. 2, S. 10. (§ 20 nach der Numerierung der Abschnitte

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Nun werden wir uns etwas länger beim dritten Typen aufhalten, da es uns scheint, daß der Autor der Regulae auf die Offenbarungen anspielt. Selbst wenn er im Kontext nicht ausdrücklich erklärt, was er mit „aliunde" meint, sagt er doch in der Regula III, daß die von Gott her geoffenbarten Dinge („divinitus revelata") gewisser sind als alle Erkenntnis, weil der Glaube an sie, so sehr er auf Verborgenes geht, doch kein Akt des Ingenium, sondern des Willens ist. Im selben Abschnitt unterscheidet er zwischen diesen Offenbarungen und den zwei Erkenntnisweisen, nämlich der Intuition und Deduktion, die man von Seiten des Ingenium („ex parte ingenii": für einen klareren terminologischen Kontrast mit „divinitus" könnte man hier „humanitus" setzen, das Descartes selbst in der Regula IV verwendet) gelten lassen kann. Also unterscheidet er zwei Quellen der Gewißheit, nämlich göttlichen und menschlichen Ursprung. Selbst wenn er den Glauben nicht in die Erkenntnis des menschlichen Geistes miteinbezieht, ist der Glaube Teil der Erfahrung. Am Ende der dritten Meditation thematisiert der Autor das Verhältnis zwischen Glauben und Erfahrung. „Denn wie der Glaube uns lehrt, daß einzig und allein in dieser Schau („contemplado") der göttlichen Majestät die höchste Seligkeit des anderen Lebens besteht, so machen wir auch jetzt schon die Erfahrung, daß wir aus der gegenwärtigen, freilich viel unvollkommeneren Betrachtung („contemplatio") die höchste Lust schöpfen können, zu der wir in diesem Leben fähig sind". Diese Erfahrung durch den Glauben wird von Leibniz in teleologischer Perspektive wieder aufgegriffen werden. Und Wolff wird sie in seine Affektentheorie mit einbeziehen, so daß man sie in seiner erfahrenden Bahn der Affekte erlebt. 5 Was den vierten Typ anbelangt, handelt es sich um die Erfahrung der Akte der Seele, die Descartes als „cogitativos" bezeichnet (Tertiae responsiones). Sie entspricht der psychologischen Erfahrung bei Wolff, die gleichfalls reflexiv ist, d.h. von Reflexion begleitet wird. Wir werden darauf zurückkommen. Man könnte als Einwand gegen unsere These auf die konfirmative Erfahrung, welche die vernünftige Demonstration bekräftigt, und auf die illustrative Erfahrung, welche Beispiele und Zeugnisse für philosophische Argumentation liefert, hinweisen, aber wir werden beide nicht in Betracht ziehen, weil sie allzu häufig bei allen Autoren, die wir erwähnt haben, vorkommen, und sie für uns nicht die methodologische Spezifizität eines der Philosophen darstellen. Wir behaupten dies gegen Jean Ecole, fur den sich gerade in ihnen die methodologische Originalität von Wolff zeigt. 6 Wir werden nun das Verhältnis zwischen Verstand und Erfahrung bei Descartes erörtern. In der Regula II identifiziert er als eine der Quellen der Täuschung die

5 6

von Bruder in Spinoza, Benedictus de, Opera, hg. v. C. H. Bruder. Leipzig 1844, Bd. 2, S. 1 42. Diese Numerierung liegt auch im folgenden den Paragraphenangaben zugrunde, während sich die Seitenangaben auf die Ausgabe von Gebhardt beziehen.) Wolff, Psychologia empirica, (wie Anm. 2), § 802-804. Vgl. Ecole, Jean, La métaphysique de Christian Wolff. 2 Bde., in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 1), Abt. III, Bd. 12.1 (1990), S. 78.

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Annahme gewisser unzulänglich verstandener („parum intellecta") Erfahrungen („experimenta"). Mit anderen Worten, wenn man Erfahrung verständig erfaßt, erlangt man eine untrügerische Erfahrung. Was der Autor damit meint, wird klarer in der Regula XII, wo er die Ursache der Täuschung der Erfahrung analysiert: Erfahrung ist nicht an und für sich trügerisch, sondern nur insofern, als „wir die Sachverhalte, die wir verstehen („intelligimus"), immer dann zusammensetzen, wenn wir glauben, daß in ihnen etwas enthalten sei, was von unserem Geist („mente") in keiner Erfahrung („nullo experimento") unmittelbar wahrgenommen worden ist". Die Quellen dieses falschen Glaubens sind unterschiedlich: die Sinne, die nicht mit den wahren Gestalten der Dinge bekleidet sind, die Einbildungskraft, die nicht die Gegenstände der Sinne treu wiedergibt und die äußeren Dinge nicht immer so sind, wie sie erscheinen. Um nicht getäuscht zu werden, muß der Verstand sich in seinen Urteilen vor diesen trügerischen Quellen hüten und das Ding, das ihm Gegenstand ist, intuitiv genau erfassen, so wie er es in sich selbst oder in einem Phantasiebild besitzt. Unter diesem Gesichtspunkt ist Erfahrung dann untrügerisch, wenn sie von unserem Verstand kraft evidenter Intuition und notwendiger Deduktion geprüft und kontrolliert wird. Die Aufgabe des Verstandes ist dadurch erschwert, daß er mit unseren voreingenommenen Meinungen (Vorurteilen) von Kindesbeinen an zu kämpfen hat. So besteht das Ziel der Cartesianischen Meditationen eben darin, die in uns durch das Leben eingewurzelte Gewohnheit („consuetudo vitae"), unüberlegt zu urteilen, abzulegen, und die entgegengesetzte Gewohnheit („habitus"), nicht zu irren, durch aufmerksame und oft wiederholte Meditationen zu erwerben. Eben hierin besteht die größte und vorzüglichste Vollkommenheit des Menschen. Wir gehen hier nicht weiter auf die Analyse dieses Gedankens ein, da wir ihn schon anderorts ausgeführt haben.7 Bei Spinoza, der die cartesianische Frage der Erfahrung wieder aufgreift, erfahrt sie eine grundlegende Veränderung. Die Erfahrung, die Spinoza in erster Linie anspricht, ist die unbestimmte Erfahrung („experientia vaga"), die nicht vom Verstand bestimmt wird. Sie ist die Erfahrung, die uns zufallig zukommt, ohne daß wir ihre Wahrheit aufgrund gegenteiliger Erfahrungen in Frage stellen, und die uns unerschütterlich als Autorität gilt. Ich weiß zum Beispiel durch unbestimmte Erfahrung, daß ich sterben werde, weil ich meinesgleichen habe sterben sehen, wir wissen durch unbestimmte Erfahrung, daß das Öl ein geeignetes Mittel zur Nährung der Flamme ist, daß das Wasser zu deren Löschung geeignet ist, und so weiter. Wir wissen auf diese Weise alles, was zum Gebrauch des Lebens gehört.8

7

8

Park, Jeongwoo, in: D.A.T.A. 42 (2001), Centre d'Etudes en Rhétorique, Philosophie et Histoire des Idées, de l'Humanisme aux Lumières (CERPHI) der Ecole Normale Supérieure Lettres / Sciences Humaines, Lyon, p. 5-19. Spinoza, Tractatus de intellectus emendatione, (wie Anm. 4), S. 10 (§§ 19-20).

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Unter diesem Gesichtspunkt ist Erfahrung nicht mehr das, was man macht oder erlebt, sondern was uns macht und konstituiert, und wovon man ausgeht, um neue Erfahrungen zu sammeln. Das durch unbestimmte Erfahrung erworbene Wissen, daß etwas geschehen ist, garantiert nicht, daß in Zukunft das Ereignis auf die gleiche Weise statthat, und es ist durchaus möglich, daß es sich bei den gleichen Umständen nicht ereignet, da dieses Wissen sich nicht auf das Wesen oder die nächste Ursache dieses Dinges, sondern auf die Ähnlichkeit der Umstände bezieht. Erfahrung kann nichtsdestoweniger bei Spinoza vom Verstand bestimmt werden. Wie uns scheint, deutet er an, daß Erfahrung („experientia") klar und deutlich verstanden werden kann („clare et distincte intelligatur" 9 - die Formel ist der von Descartes ähnlich „experimenta parum intellecta", womit die beiden Philosophen das Verhältnis zwischen Verstand und Erfahrung ausdrücken), aber die spinozistische Deutung dieses Verhältnisses ist gründlich verschieden. Denn bei Spinoza genügt klare Wahrnehmung nicht für die gewisse und vom Verstand bestimmte Erfahrung, stattdessen muß die Erkenntnis der Gesetze hinzutreten, durch die unsere Wahrnehmung bestimmt wird. Um zum Beispiel zu behaupten, daß die Sonne größer ist als sie erscheint, und andere ähnliche Dinge, müssen wir den Mechanismus unseres Sehens, d.h. die Gesetze kennen, nach denen unser Sehen in Bezug auf äußere Dinge funktioniert, nämlich daß wir ein und dasselbe Ding auf eine große Entfernung kleiner sehen, als wenn wir es aus der Nähe betrachten. 10 Wenn die Gesetze einmal aufgestellt sind, dann besitzt unsere sinnliche Erfahrung Gewißheit, weil kein Zweifel mehr über die Frage besteht, ob die Sinne uns täuschen. Spinozas Ansatz beinhaltet auf diese Weise eine Neubestimmung und Neubewertung der Sinne, die die Quelle der Irrtümer darstellen. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Problem des cartesianischen Zweifels wenigstens in bezug auf die Sinne ein Scheinproblem, das sich einstellt, soweit man keine wahre Idee der Gesetze hat, nach denen die Sinne funktionieren. So werden die Sinne in dem Maße zur zuverlässigen Quelle der Erkenntnis, wie man ihren Mechanismus in Betracht zieht. Dies gilt gleichfalls für den inneren Sinn. Es genügt nicht, klar wahrzunehmen, daß wir gerade diesen Körper und keinen anderen klar empfinden, um zu begründen, daß die Seele mit dem Körper vereinigt ist, daß diese Vereinigung die Ursache einer solchen Empfindung ist. Wir müssen dazu das Wesen oder den Mechanismus der Seele erkennen, da man die Hypothese nicht ausschließen kann, daß eine solche Empfindung eine andere Ursache hat." Noch später, wenn Spinoza von den Hilfsmitteln („auxilia") spricht, die uns erlauben, „uns unserer Sinne zu bedienen, und nach den Gesetzen und mit der

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10 11

Spinoza, Benedictus de, Tractatus theologico-politicus, in: ders., Opera, (wie Anm. 4), Bd. 3, S. 76 (Cap. V). Vgl. Spinoza, Tractatus de intellectus emendatione, (wie Anm. 4), S. 11 ( § 2 1 ) . Ebd.

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Ordnung experimenta zu machen, die genügen, um das Ding, das man studiert, zu bestimmen, damit man daraus schließe, nach welchen Gesetzen der ewigen Dinge das gemacht worden ist, und damit seine innerste Natur uns bekannt werde",12 scheint er in dieselbe Richtung zu weisen, nämlich daß Erfahrung nicht auf zufallsbedingte Weise, sondern nach den gewissen Gesetzen und mit der entsprechenden Ordnung gemacht wird. Diese Gesetze unterscheiden sich von denen ewiger Dinge, und jene Gesetze sind, so scheint es mir, diejenigen, deren man sich bewußt werden muß, um eine bestimmte, dem Untersuchungsgegenstand angemessene Erfahrung zu machen, und um dadurch zu bestimmen, nach welchen Gesetzen die betreffende Sache gemacht ist. Wenn Erfahrung nicht mit dem Verständnis der Gesetze, die sie begleiten, einhergeht, ist sie folglich zunächst unbestimmt, und erweist sich eventuell als illusorisch und falsch. Dies wird klarer in der Ethik, wenn Spinoza durch Erfahrung die metaphysische Frage der Freiheit behandelt. Wenn man nur Erfahrung oder Bewußtsein in Betracht zieht, kann man die Debatte nicht entscheiden. Denn man kann doch behaupten, daß man eine bestimmte Erfahrung macht; daß man insofern frei unter dem Befehl des Geistes allein handelt, als man sich seiner Handlungen bewußt ist und die Ursachen nicht kennt, durch die sie bestimmt werden, wohingegen wir gleichfalls durch Erfahrung wissen, daß unser Körper manche Dinge wie im Falle des Mondsüchtigen ohne Eingriff des Geistes bewirken kann; daß man nicht leicht seine Zunge und seine Begierde beherrscht, und daß wir, wenn wir gewaltigen Affekten ausgeliefert sind, zwar Besseres sehen, aber trotzdem das Schlechte tun. Nur wenn man durch Vernunft weiß, daß unser Körper determiniert ist, seiner Struktur entsprechend nach den Gesetzen der Natur zu funktionieren, und daß die Entscheidungen nichts anderes sind als die Begierden selbst, die der unterschiedlichen Disposition des Körpers entsprechend variieren, dann kann uns die von der Vernunft begleitete Erfahrung, die uns diese Gesetze bewußt macht, Einsicht in das Illusorische unseres Glaubens geben, wenn wir meinen, die Erfahrung zu machen, daß wir frei sind. So kann die Vernunft zwischen widersprüchlichen Erfahrungen entscheiden, und die Vernunft wird wiederum durch Erfahrung bestätigt,'3 wobei die behutsame Erfahrung, die sich vor dem Einfluß von Vorurteilen hütet, den Ansatz einer intellektuellen Erfahrung und dadurch sogar einer vernünftigen Demonstration darstellen kann, indem man illusorische und falsch gedeutete Erfahrung relativiert und dekonstruiert. Zum Verhältnis zwischen Verstand und Erfahrung bei Leibniz seien hier nur kurz seine zwei Regeln der Analytik oder Denkkunst kommentiert. Die erste Regel besagt, daß kein Wort („vox") und kein abgeleiteter Begriff („notio") angenommen werden soll, solange es bzw. er nicht erklärt worden ist. Die zweite Regel besagt,

12 13

Ebd., S. 37 (§ 103). Spinoza, Ethica more geometrico (Pars III, Prop. II, Scholium).

demónstrala,

in: ders., Opera, (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 145

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daß kein abgeleiteter Satz angenommen werden soll, solange er nicht bewiesen worden ist. Die Erklärung erfolgt durch Definition, der Beweis erfolgt in Form eines Syllogismus, dessen Beweis kraft seiner Form schlüssig ist, wenn man auch nicht immer die gewöhnlichen schulgerechten Syllogismen braucht. 14 Die genannten beiden Regeln sind die Maßstäbe des Klaren und Deutlichen, die die Unzulänglichkeit des Cartesianischen Grundsatzes der klaren und deutlichen Wahrnehmung ausgleichen sollen. Dieser Grundsatz ist unzulänglich fur die Erkenntnis der Wahrheit, da fur Leibniz das klare und deutliche Bewußtsein (die innere Erfahrung) des Begriffs einer Sache die Möglichkeit dieser Sache nicht gewährleistet. Als Beispiel führt er den Begriff der schnellsten Bewegung an, der einen Widerspruch enthält. Setzen wir nämlich, daß sich ein Rad mit der schnellsten Bewegung dreht, - so ist es selbstverständlich, daß sich irgendein verlängerter Radius des Rades an seinem äußersten Punkte schneller bewegt als der Nagel auf der Felge des Rades. Dessen Bewegung ist also nicht die schnellste, was gegen die Annahme ist. So erweist sich das, was dem sprachlichen Bewußtsein (Leibniz nennt es blinde oder symbolische Erkenntnis) klar und deutlich scheint, nach Prüfung der Kompatibilität der Begriffe als falsch. Aber diese Inkompatibilität entgeht uns; denn oft verstehen wir die einzelnen Worte einigermaßen oder erinnern uns, daß wir sie früher verstanden haben, und wir begnügen uns mit diesem blinden Gedanken, ohne die Analyse der Begriffe lange genug fortzusetzen. Man muß deshalb alle Worte oder Begriffe erklären, und ihre Möglichkeit und Kompatibilität prüfen, um Irrtümer zu vermeiden. Nun erkennen wir die Möglichkeit der Begriffe a priori oder a posteriori. A priori, wenn wir ihre Möglichkeit durch die Analyse der Begriffe erfassen, und eben dadurch die Art und Weise verstehen, wie die Sachen, auf die sich die Begriffe beziehen, erzeugt werden können. A posteriori erkennen wir sie hingegen, wenn wir durch Erfahrung wissen („experimur"), daß die Sache tatsächlich („actu") existiert. Der Autor der Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis setzt hier Vertrauen in die Erfahrungen, die wir machen. Aber etwas weiter unten sagt er, indem er seine Zweite Regel wieder aufgreift, daß man nichts als gewiß annehmen soll, wenn es nicht durch genaue Erfahrung oder schlüssige Demonstration bewiesen ist. Er scheint damit zu meinen, daß unsere Erfahrung vom Verständnis der Möglichkeit der Sache begleitet werden muß, deren Erfahrung wir machen. Wir werden hier nicht auf die Rolle der Erfahrung in der Aufstellung wissenschaftlicher Prinzipien, sondern auf die Deutung der kontroversen Erfahrung, nämlich der Erfahrung der Freiheit und der Übel eingehen. Was die Erfahrung der Freiheit betrifft, kann man mit Spinoza behaupten, daß man sie durch andere Erfahrungen, die wir oben angesprochen haben, relativieren und als illusorisch be-

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Leibniz, Gottfried Wilhelm, Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae, Herbst 1667, Druck C, Frankfurt 1667, in: ders., Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1923ff., Reihe 6, Bd. 1 (1930), S. 296f.

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trachten kann, wenn man die Gesetze, die unsere Handlungen bestimmen, in Betracht zieht. Leibniz verleiht dagegen dieser Erfahrung eine neue Dimension anhand seiner Theorie der Dynamik. In De Ipsa Natura15 bringt Leibniz diese Erfahrung und seine Dynamik in enge Verbindung, indem er Malebranche widerlegt, fur den die Dinge nicht als die Ursachen der Aktionen, sondern nur als deren Gelegenheiten gelten. Im Gegensatz zu dieser okkasionalistischen Konzeption schreibt Leibniz unserer Seele die inhärente Kraft zu, immanente Wirkungen hervorzubringen, indem er sich auf das Zeugnis unserer Erfahrung oder das innigste Bewußtsein unserer spontanen Handlungen beruft. Und diese Erfahrung ist nicht ein von anderen Erfahrungen isolierter Fall, im Gegenteil, sie ist mit anderen äußeren Erfahrungen verbunden. Z.B. bestätigen die Erfahrungen („experimenta") der Bewegung, die von einem Körper in Bewegung auf einen anderen übertragen wird, diese den Körpern inhärente Kraft, und zugleich a fortiori die unserer Seele inhärente Kraft in unseren Handlungen. Auf diese Weise erweist sich die Erfahrung der Freiheit als kompatibel mit der Dynamik und bestätigt damit die Realität der Freiheit. In diesem Sinne trägt eine vernunftgemäße Demonstration zur Erfassung der Freiheitserfahrung bei. In seiner Bestimmung der Erfahrung der Übel in De Rerum Originatione Radicali16 geht Leibniz über die alltägliche Erfahrung selbst hinaus. Nachdem er die teleologischen Prinzipien, nämlich das Prinzip der Bestimmung durch ein Maximum oder Minimum und das Prinzip der minimalen Aktion, aufgestellt hat, überträgt er diese auf seine Konzeption der vollkommensten aller möglichen Welten. Die Welt ist nicht nur physisch die vollkommenste, weil sie die Reihe der Dinge enthält, die das Maximum der Realität im Aktus darstellt, sondern sie ist auch moralisch die vollkommenste, weil die moralische Vollkommenheit tatsächlich für die Geister selbst eine physische Vollkommenheit ist. Daraus folgt, daß die Welt nicht nur eine bewundernswürdige Maschine, sondern auch die beste aller Republiken ist, da sie aus Geistern besteht, denen sie die größte Seligkeit zuteil werden läßt. In dieser besteht die physische Vollkommenheit. Obwohl unsere alltägliche Erfahrung der Ereignisse und deren Geschichte im Widerspruch dazu („contraria experiri") zu stehen scheint, hält der Autor von De Rerum Originatione Radicali an seiner metaphysischen Perspektive aus den folgenden Gründen fest. Er tut dies zunächst, da die oben stehenden Argumente a priori beweisen, daß alle Dinge und a fortiori die Geister die größte Vollkommenheit aller möglichen erhalten. Darüber hinaus hält er aber auch an der metaphysischen Perspektive fest, da wir nur einen winzigen Teil der Ewigkeit kennen, die sich in das Unermeßliche zieht. Denn einige Tausend Jahre, von denen die Ge-

15

16

Leibniz, Gottfried Wilhelm, De ipsa natura, in: ders., Die philosophischen C. I. Gerhardt. 7 Bde. Berlin 1875-1890, Bd. 4 (1880), S. 504-516. Ders., De rerum originatione radicali, in: ders., Die philosophischen Anm. 15), Bd. 7 (1890), S. 302-308.

Schriften, Schriften,

hg. v. (wie

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schichte uns im Gedächtnis bewahrt hat, sind sehr wenig. Und nach dieser minimalen Erfahrung urteilen wir leichtfertig über die Unermeßlichkeit der Ewigkeit. Wenn man diese Perspektive verteidigen will, muß man unsere alltägliche Erfahrung der Übel oder der Leiden erklären oder interpretieren. Was Leibniz anbelangt, versucht er, sie zu interpretieren, indem er sich selbst wiederum auf Erfahrungen beruft. Die Erfahrungen, die er anspricht, lassen sich in zwei Klassen aufteilen. Der erste Erfahrungstyp ist ästhetisch. In der Musik z.B. vermischen die größten Komponisten sehr oft harmonische Klänge mit Dissonanzen, um den Hörer zu erregen und zu beunruhigen, der ungeduldig auf deren Ausgang („eventus") wartet und um so größere Zufriedenheit empfindet, wenn alles in Ordnung gebracht wird. Der zweite Typ betrifft die Empfindung („sensus") unserer Macht („potentia") oder unserer Glückseligkeit; wir ziehen Zufriedenheit („gaudeamus") aus gewissen leichten Gefahren oder aus gewissen Erfahrungen („experimentis") von Unglück aufgrund der Tatsache, daß wir unsere Macht oder Glückseligkeit dadurch empfinden, daß wir solche Gefahren oder solches Unglück überwinden. In Analogie zu diesen Erfahrungen muß die Unordnung in einem Teil unter dem Gesichtspunkt der Harmonie des Ganzen interpretiert werden, aber dies besagt nicht, daß es genügt, festzustellen, daß die Welt, in ihrer Gesamtheit betrachtet, vollkommen sei, wobei das Menschengeschlecht unglücklich sein könne, ohne daß im Universum Sorge („cura") für die Gerechtigkeit oder unser Geschick getragen wird. Ganz im Gegenteil, in der vollkommensten aller möglichen Welten trägt Gott Sorge dafür, daß jeder seinen Teil an der Vollkommenheit des Universums hat, und daß seine Glückseligkeit zu seiner Tugend proportional ist. So sind, wenn auch alle Ereignisse unter dem Gesichtspunkt der prästabilierten Harmonie mit Gewißheit eintreten, unsere Gebete und Mühen dennoch nicht unnütz, um das zu erlangen, was wir begehren. Denn sie sind ein konstitutiver Bestandteil der Reihe der Ereignisse („rerum") und tragen sogar dazu bei, daß Gott diese Ereigniskette aufgrund des proportionalen Verhältnisses zwischen unserer Tugend und Glückseligkeit anderen vorzieht, und daß ein glücklicher Ausgang („eventus") erfolgt. 17 So geht Erfahrung bei Leibniz, durch den Glauben erweitert, über die Grenzen der menschlichen Erfahrung hinaus, und ist nur den Augen des Glaubens („solis fidei oculis", 144) zugänglich, d.h. demjenigen, der ein absolutes Vertrauen („fiducia") in die göttliche Vollkommenheit setzt. Zwar entwickelt er diese Interpretation der Erfahrung des Eventus in bezug auf die Natur in Opposition zur antifinalistischen Konzeption der Erfahrung des Eventus entwickelt, die zum Beispiel, Spinoza im Tractatus theologico-politicus (Kapitel VI) vorschlägt, aber interessanterweise ist dieses finalistische Denken in bezug auf den Eventus schon zu der Zeit selbst (Nova Methodus, 1667) präsent, als Leibniz noch nicht über die Theorie der prästabilierten Harmonie und Dynamik verfugte (er sprach zwar nicht von der 17

Ders., Causa Dei, in: ders., Die philosophischen S. 437-462, hier S. 445.

Schriften, (wie Anm. 15), Bd. 6 (1885),

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Dynamik, bestimmte Conatus als Kraft, nicht als Bewegung im Gegensatz zu Hobbes, und sprach noch nicht von der ersten Entelechie, aber seine physische oder mechanische Konzeption des Habitus, die das Gedächtnis unbelebter Dinge impliziert, ist bedeutsam für seine spätere Dynamik). Folglich scheint es uns, daß diese finalistische Überzeugung vom Eventus, die vielleicht mit seiner religiösen Erfahrung zusammenhängt, dazu beiträgt, daß die Theorie der vorherbestimmten Harmonie und die Dynamik einen geistigen und anthropomorphen Charakter annimmt. So kann man daraus schließen, daß der Leibnizsche Erfahrungsbegriff stark vom Glauben geprägt ist, den Vernunft demonstriert. Wolff bezieht dennoch die Erfahrung durch den Glauben nicht unmittelbar in seinen Erfahrungsbegriff mit ein, sondern interpretiert sie in seiner Analyse des Affekts „vertrauen", wie wir es oben berührt haben. Wir werden nun auf das Verhältnis zwischen Vernunft und Erfahrung in bezug auf den Unterschied zwischen Mensch und Tier eingehen, um den direkten Einfluß von Leibniz auf den Erfahrungsbegriff bei Wolff in der Psychologia empirica aufzuzeigen. Leibniz entwickelt sie systematisch in der Nova methodus)% Während Aristoteles auf der Stufenleiter der Erkenntnis Erfahrung auf die Ebene des lògos stellt und sie den Tieren abspricht, da der lògos sich auf das Universale bezieht, 19 ist Erfahrung den Tieren und dem Menschen bei Leibniz gemeinsam; Vernunft bleibt aber, wie der noûs bei Aristoteles, 20 dem Menschen vorbehalten. Wenn Leibniz den Tieren Erfahrung zuschreibt, so beruft er sich einerseits auf Hieronymus Rorarius' These, „daß sie sich der Vernunft bedienen" 21 und andererseits auf Lipsius, der in seinen Briefen behauptet, daß Tiere bewundernswürdige Wirkungen hervorbringen, die die außerordentlichen Abbilder („simulacra") der Vernunft sind. 22 Damit setzt Leibniz im Gegensatz zu den Cartesianern 23 eine empfindende Tierseele voraus (was Spinoza anbelangt, so spricht er sie den Tieren in der Ethik zu). 24 Und wenn Vernunft als Differenzierungsprinzip dem Menschen vorbehalten ist, so aus dem Grund, weil es für Religion und Frömmigkeit gefahrlich sei, zu denken, daß es keinen wesentlichen, sondern graduellen Unterschied zwischen Menschen und Tieren gebe. Was ist deshalb Erfahrung für den jungen Leibniz? Empirie („empeiria") ist ein Vermögen zur Erwartung ähnlicher Ereignisse, d.h. dazu, aufgrund der Ähnlichkeit

18 19 20 21

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23

24

Ders., Nova methodus (wie Anm. 14), S. 268-269. Vgl. Aristoteles, Zweite Analytiken, 100 a 1-10. Vgl. Aristoteles, De Anima, 429 a 5-8. Rorarius, Hieronymus, Hieronymi Rórarii quod ammalia bruta ratione utantur melius homine libri duo. Paris 1648. Vgl. Lipsius, Justus, Jus ti Lipsi epistolarum centuriae duae. 2 Bde. Frankfurt/M. 1591, Epistola LXXXn. Descartes spricht in den Notae in programma den Tieren den Sensus communis allerdings nicht ab, wie Leibniz meint. Vgl. Descartes, René, Notae in programma, in: ders., Œuvres, (wie Anm. 3), Bd. 8.1 (1905), S. 356. Spinoza, Benedictus de, Ethica, (wie Anm. 13), S. 238. (Pars IV, Prop. XXXVII, Scholium II).

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des gegenwärtigen Ereignisses mit einem vorher erfahrenen auf eine ähnliche Folge zu schließen. Aber diese Erwartung kann irrefuhren, da die Ähnlichkeit dadurch ins Wanken gerät, daß Grund oder Ursache nicht derselbe oder dieselbe ist, worüber Tiere nicht urteilen können, da sie oberer Vermögen ermangeln. Daraus folgt, daß Tiere nur fähig sind, empirische Schlußfolgerungen („consecutiones") zu ziehen, die sich auf kontingente Wahrheiten beziehen, die in Tatsache, Sinn, Beobachtung und Erfahrung („experimento") bestehen. Diese durch Gewohnheit („consuetudo") gegenwärtiger Natur gewußten Wahrheiten sind provisorisch, nicht notwendig, gültig, solange nichts anderes sich uns auf erfahrender Ebene darbietet. Menschen verfahren gleichfalls in den meisten Fällen nur empirisch nach Art anderer Tiere, wo sie vernünftig verfahren könnten, wenn sie Einsicht in die Ursachen hätten. Daraus folgt, daß sehr große Irrtümer sehr oft im Leben derer zu entstehen pflegen, die sich erfahren glauben und die keine Gründe gelten lassen wollen. Wo die Empirie des Menschen mit Vernunft einhergeht, da übertrifft sie hingegen die der Tiere durch ein unendliches und erweitert sich zunehmend. Die menschliche Vernunft bildet sich aber keineswegs immer zulänglich aus („sese exerente"), wie z.B. in dem Fall der Säuglinge deutlich wird, welche der Erfahrung als des Stoffes, in dem sich die Vernunft übt, der Sprache oder der Symbole, durch die sie ausgeübt wird, ermangeln. Man kann von einer Komplementarität zwischen Vernunft und Erfahrung einerseits und zwischen Vernunft und Sprache andererseits bezüglich der Entwicklung menschlicher Vernunft sprechen. Es sei hier noch angemerkt, daß menschliche Erfahrung mit dem sprachlichen Verständnis der Sachen einhergeht. Deshalb rühren empirische Irrtümer oft vom sprachlichen Mißverständnis her. Man gibt den Wörtern die Bedeutung, die der Realität der Sachen nicht entspricht, wie wir es oben gezeigt haben. In ihrer Kindheit sind Menschen jedoch nicht vernünftiger als Tiere, da sie von Sinnen und Affekten nach Art der Tiere beherrscht werden. Menschliche Erziehung ähnelt daher der Tierdressur, und die Ausbilder („informatores") der Menschen könnten manches von den Tierbändigern lernen. Daraus folgt, daß man zunächst Sinne, Einbildungskraft und Leidenschaften durch Erfahrung erregen muß, um Vernunft zu erwecken, oder die Funken der Vernunft wieder zu entfachen, um sich des Ausdrucks des späteren Leibniz25 zu bedienen. So spielt das Ineinandergreifen von Erfahrung und Vernunft eine sehr wichtige Rolle in der menschlichen Vervollkommnung. Denn ohne Erfahrung würde Vernunft sich überhaupt nicht entwickeln, ohne Vernunft aber wäre Erfahrung unsicher. Der Autor entwirft deshalb eine neue Kunst zur Entwicklung unserer Seelenvermögen. Diesem Entwurf nach soll der menschliche Habitus durch drei Verfahren erworben werden: zunächst durch die Gewöhnung („assuefactio"), die dem Unbelebten, dem Tier und dem Menschen gemeinsam ist, anschließend durch die 25

Leibniz, Causa Dei, (wie Anm. 17), S. 452.

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Lehre („doctrina"), die nur den Tieren und Menschen gemeinsam ist, und schließlich durch die Unterweisung („institutio"), die allein dem Menschen eigen ist. Leibniz skizziert in diesem Programm des Habitus sogar einen enzyklopädischen Entwurf der Wissenschaften. Diesen wird Wolff später ausführen. Aber es soll hier nicht unser Ziel sein, Leibniz' pädagogisches Programm des Habitus darzustellen, sondern es soll uns hier genügen, auf die Wichtigkeit der Erfahrung fur Habitus und Vervollkommnung beim jungen Leibniz hinzuweisen. Es soll nun anschließend an diese geschichtliche Betrachtung Wolffs Begriff der Erfahrung untersucht werden. Wenn Kant in der Kritik der reinen Vernunft das Verhältnis zwischen Verstand und Erfahrung so erklärt: zu aller Erfahrung und deren Möglichkeit gehört Verstand, und das erste, was er dazu tut, ist nicht: daß er die Vorstellung der Gegenstände deutlich macht, sondern daß er die Vorstellung eines Gegenstandes überhaupt möglich macht, kritisiert er die Leibniz-Wolffsche Bestimmung des Verhältnisses zwischen Verstand und Erfahrung und setzt sie seiner eigenen Bestimmung entgegen, ohne seinen Gegner zu nennen. 26 Wir wollen im folgenden zunächst versuchen, die Wolffsche Bestimmung des Verhältnisses zwischen Verstand und Erfahrung in der Psychologia empirica zu verstehen, wo Wolff der Erfahrung einen besonderen Status einräumt, da die Prinzipien, die anhand unzweifelhafter und hypothesenfreier Erfahrung aufgestellt sind, unerschütterlich („inconcussa") seien.27 Die Psychologia empirica liefert zwar Prinzipien fur andere Disziplinen und stellt ihre eigenen Prinzipien mit Hilfe von Erfahrung auf, aber Erfahrung allein genügt nicht, um diese Prinzipien aufzustellen; man muß seine Aufmerksamkeit darauf richten, was man in seiner Seele erfahrt. Dazu wird erfordert, daß man durch Übung („exercitatio", § 248) gelernt hat, sich seiner Aufmerksamkeit zu bedienen (§ 780), und man muß sich durch den Habitus auszeichnen, das Erfahrene auf genaue Definitionen und bestimmte Sätze zurückzufuhren (§§ 2f.). Anders ausgedrückt, muß man seine Vermögen so entwickelt haben, daß sie sich für die zu psychologischer Erfahrung erforderlichen Übungen eignen (Vorrede, 17). Die Aufstellung der Prinzipien erfolgt durch Erfahrung und verläuft in einer Bahn („trames") zunehmender Vollkommenheit (Erkenntnis) wie am Ariadnefaden entlang (Vorrede, 12). Da ihre Richtung der dieses Habitus entspricht, kann die Lehre nach einer solchen Ordnung entwickelt werden kann, daß sich die einen Lehrsätze aus den anderen ableiten, und daß die folgenden aus den vorhergehenden bewiesen werden (17). Die Bahn des Habitus entspricht aber nicht einfach der Formalisierung der Demonstration und der Ordnung der Erklärung, sondern gleichzeitig der Ordnung der Vervollkommnung der Seele, nach der ihre Vermö26

27

Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Kant's Werke (Akademieausgabe), hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1902ff., Abt. I, Bd. 3 (1904), Β 244. Die Seitenangabe erfolgt hier und im folgenden wie üblich nach der ersten bzw. zweiten Originalausgabe. Wolff, Psychologia empirica, (wie Anm. 2), § 945.

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gen sich in ihren Veränderungen („modificationes", 17) durch die Vertiefung der Erkenntnis ihrer Vollkommenheit ausbilden („se exerunt"). Und dieser Erkenntnisfortschritt wird von einer durch die Entdeckung ihrer Vollkommenheit ausgelösten Befriedigung begleitet (§ 10). Im übrigen ist die Erfahrung selbst in dieser Bahn nicht mehr passiv, im Gegenteil, man sucht nach ihr und konstruiert sie: Erfahrung bestätigt nicht nur das, was man a priori demonstriert, sondern man ruft Erfahrungen in sich als Übungen hervor („experimentum in se capere" oder „facere": „experimentum" bezieht sich auf solche Tatsachen der Natur, die durch unseren Eingriff bewirkt werden, während Beobachtung sich auf solche bezieht, die ohne unseren Eingriff geschehen und verlaufen, und „experientia" setzt sich aus den beiden zusammen, § 457). Es sei noch angemerkt, daß diese Bahn sich nicht nur anhand des demonstrativen Habitus, sondern auch der Reflexion konstituiert. Man kann nach Wolff die Erkenntnis der Seele nicht ohne die Reflexion über jeden Akt erlangen, der in der Seele erfolgt, da wir das, was in der Psychologia Empirica gelehrt wird, nur insofern erkennen, als wir über das reflektieren, was der Geist in sich beobachtet (§ 261). Nun setzt aber diese Reflexion eine besondere Scharfsinnigkeit („acumen") voraus, die nicht allen gemeinsam ist. Also setzt die deutliche und sachgerechte Erfahrung den vorherigen Erwerb solcher Scharfsinnigkeit und des Habitus voraus. Der Beweis: Die Scharfsinnigkeit hilft uns, falsche Erfahrung von wahrer Erfahrung zu unterscheiden: scharfsinnige Philosophen erkennen an, daß der Wille nicht gezwungen wird. Andere Menschen hingegen sind davon überzeugt, daß die Erfahrung das Gegenteil beweist (§ 927). Ohne diese Scharfsinnigkeit verwechselt man die Dinge miteinander, die man voneinander unterscheiden muß (§ 899), und man kann nicht das entfalten („evolvere"), was in verworrenen Vorstellungen verborgen liegt (§ 893) oder was sich unserer Aufmerksamkeit entzieht (§ 521). Dies geschieht besonders dann, wenn es sich um benachbarte („socios") oder verwandte Affekte handelt, die gleichzeitig vorkommen („concursus affectuum"), und die dadurch leicht verwechselt werden (§ 748, § 824). Es ist notwendig, dieser demonstrativen Bahn zu folgen, um gewisse Sätze der Psychologia Empirica zu beweisen. Denn hier handelt es sich auch um Affekte, da man einen anderen nicht von ihrer Allgemeingültigkeit überzeugen kann, indem man auf Beobachtungen verweist. Man kann ihren Grund nur von den vorhergehenden Sätzen her erklären, die selbst in der Beweiskette („Bahn") aufgestellt sind, und dadurch das verdeutlichen, was man experientia magistra lernt. Hier drängt sich die Notwendigkeit des connubium rationis atque experientiae auf (§ 700). Übrigens wird die betreffende Scharfsinnigkeit durch das Aufstellen solcher Beweisketten entwickelt und erworben. Dadurch lernt man, worauf man seine Aufmerksamkeit lenken muß, und entfaltet die verworrenen Vorstellungen der Dinge, die der Seele inhärent sind (§ 741). Lehrlinge („tyrones", § 650, § 629) entwickeln diese Scharfsinnigkeit, indem sie sich mit psychologischen Begriffen

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vertraut machen (§ 5), und zwar indem sie dieser Bahn folgen. Um die theoretische Wichtigkeit der Erfahrung herauszustellen, vergleicht Wolff den Psychologen mit dem Astronom, der seine Theorie von Beobachtungen aus entwickelt und sie dadurch bestätigt, dem aber über die Theorie zu Beobachtungen verholfen wird, die sich ihm zuvor gar nicht dargeboten haben (§ 5). Er leugnet dadurch nicht die Unabhängigkeit der Erfahrungen von der Theorie, sondern sagt einfach, daß jene in der Bahn und im Netz von Erfahrung und Theorie interpretiert und neu organisiert werden müssen, da sie unsere Aufmerksamkeit auf die neuen Erfahrungen lenken, die man im Rahmen einfacher Beobachtungen nicht machen kann. Und die Entwicklung des Habitus in einer vorgezeichneten Bahn bedeutet keine Einschränkung, sondern eine Bereicherung und Verdeutlichung der Erfahrung. Zum Schluß der Analyse kann man deshalb sagen, daß Wolffs Begriff der Erfahrung die Idee des Habitus voraussetzt, dessen Bahn gleichzeitig demonstrativ und heuristisch ist. Um die Spezifizität des Wolffschen Verständnisses von Erfahrung hervorzuheben, muß man gleichzeitig auch die Methode des syllogistischen Schließens verstehen, die für seine Konzeption der Erfahrung bestimmend ist. Wenn man den Kontext der Debatte über die Methode in der modernen Philosophie, vor allem über den Syllogismus in Betracht zieht, stellt man sofort fest, daß Wolffs Stellung einzigartig ist, wenn man die Peripatetiker ausnimmt. Ausdrücklich grenzt er sich diesbezüglich von Descartes, Tschirnhaus und Locke ab, die dem Syllogismus demonstrative Kraft und noch vielmehr eine kognitive oder heuristische Funktion absprechen, weil er für sie nur eine Formalisierung dessen ist, was man schon weiß (§ 400). Descartes spricht ihm höchstens die positive Funktion zu, einem anderen sein wissen zu erklären. Leibniz seinerseits versteht den Syllogismus nicht im scholastischen Sinne, sondern bezeichnet damit die Form der Argumentation im weiten Sinne. In den Meditationes spricht Leibniz lieber von der von der Logik vorgeschriebenen Form als vom Syllogismus. 28 Spinozas Position zum Syllogismus ist die folgende: Methode ist nicht das Schlußverfahren selbst zum Verständnis der Dinge, sondern sie ist das Verständnis dessen, was die wahre Idee ist.29 Bei Wolff dagegen findet der Syllogismus eine neue Bestimmung auf methodologischer Ebene, da dieser für ihn nicht nur die Form wissenschaftlicher Demonstration, sondern auch einen richtigen Weg der Erfindung (§ 465) darstellt. Wolffs Idee besteht darin, daß das, was in den Prämissen unbekannt ist, im Schluß entdeckt werden kann. Es gibt zwar andere heuristische Verfahren bei Wolff: Konstruktion (§ 470), Fiktion (§ 528) und Kollation (§ 826), aber der Syllogismus ist das wichtigste heuristische Verfahren, das er in der Tradition von Aristoteles verteidigt. Diese Position ist aber schwer haltbar, weil sie kaum zu rechtfertigen ist, selbst wenn man wie er der Formalisierung die Priorität einräumt, da sie uns er-

28

29

Vgl. Leibniz, Meditationes de ventate, cognitione et ideis, in: ders., Die Schriften, (wie Anm. 15), Bd. 4 (1880), S. 422^126, hier S. 425. Spinoza, Tractatus de intellectus emendatione, (wie Anm. 4), § 37.

philosophischen

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laubt, leicht Irrtümer aufzudecken, die in der Meditation der Erfindung unterlaufen können, und hellsichtiger zu meditieren (§ 468). Dies ist nicht nur in der Perspektive seiner Zeitgenossen der Fall. Um die diesbezügliche Spezifizität des Wolffschen Denkens zu erkennen, kann man sich auf entsprechende Argumente von Aristoteles stützen. Zur Verteidigung seiner Heuristik beantwortet dieser mögliche Einwände gegen diese Methode des Syllogismus'. Der erste Einwand ist von Sextus Empiricus erhoben worden und wird bis in unsere Zeit gelegentlich wieder aufgegriffen. Wenn man der Interpretation von Ross folgt, war Aristoteles sich dieses Einwandes bewußt und hat darauf in gewisser Weise geantwortet. 30 Es wird eingewendet, daß der Syllogismus eine Petitio principa impliziert. Wenn der Syllogismus argumentiert: alles Β ist A; alles C ist B; also ist alles C A, so kann man als ersten möglichen Einwand vorbringen, daß man schon wissen muß, daß C (das Β ist) A ist, um sagen zu können, daß alles Β A ist. Als zweiten möglichen Einwand kann man anfuhren, daß man schon wissen muß, daß C A ist (da dies von der Tatsache impliziert wird, daß Α Β ist), um behaupten zu können, daß alles C Β ist. Die beiden Einwände beruhen jedoch auf falschen Annahmen. Der erste Einwand basiert auf der Annahme, daß die einzige Art und Weise zu wissen, daß alles Β A ist, darin besteht, alle individuellen Fälle von Β zu prüfen. Darauf kann man leicht eine Antwort bei Aristoteles finden. Die Erkenntnis einer Gattung verlangt nicht die Erkenntnis der numerischen Totalität ihrer Arten, sondern eine Demonstration der Form („eidos") nach. Man braucht nur einen einzigen Fall der Form nach zu prüfen, um seine Allgemeingültigkeit zu behaupten. 31 Der zweite Einwand stützt sich auf die Annahme, daß man schon über die Kenntnis aller Attribute von C verfügen muß, um zu wissen, daß alles C Β ist. Nach Ross antwortet Aristoteles implizit auf diesen Einwand, indem er sich auf seine Unterscheidung zwischen Wesen und Eigenschaft 32 beruft. Er unterscheidet unter den Attributen von C eine Reihe der Grundattribute, die notwendig und zureichend sind, um C von anderen Dingen zu unterscheiden; er betrachtet seine anderen Attribute als von diesen Grundattributen herleitbar und daraus demonstrierbar. Um zu wissen, daß C Β ist, genügt es, zu wissen, daß ihm Β als wesentliches Attribut zukommt, d.h. es genügt, die Gattung und den artbildenden Unterschied von C zu kennen. So kann jede Prämisse unabhängig vom Schluß erkannt werden. Und die beiden Prämissen selbst können erkannt werden, ohne daß der Schluß bekannt ist. Schlußfolgern impliziert eine die Prämissen miteinander verbindende Betrachtung. Wenn jene nicht im Vergleich miteinander betrachtet werden, ist es möglich, daß wir den Schluß nicht kennen, und sogar an sein Gegenteil

30 31 32

Ross, William David, Aristotle. London / New York 1985, S. 37-38. Vgl. Aristoteles, Zweite Analytiken, 37 a 30-32. Vgl. hierzu Wolff, Christian, Philosophia rationales sive Logica, Pars II, in: ders., te Werke, (wie Anm. 1), Abt. II, Bd. 1.2 (1983), § 71, § 181, S. 150, 206f.

Gesammel-

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glauben, ohne explizit gegen das Gesetz des Widerspruchs zu verstoßen. Das Vorankommen von den Prämissen aus zum Schluß ist eine authentische Denkbewegung, Explizierung dessen, was nur implizit gegeben ist, Aktualisierung der Erkenntnis, die nur potentiell war. 33 Und der Syllogismus unterscheidet sich dadurch von der Petitio Principii, daß, während beim ersten beide Prämissen zusammen den Schluß implizieren, beim zweiten eine Prämisse allein dies tut. 34 Bei Wolff erfahrt die aristotelische Heuristik allerdings dadurch eine grundlegende Veränderung, daß eine zeitliche Dimension hinzukommt. Für Wolff entziehen sich die Urteilsakte im syllogistischen Schlußverfahren nicht dem Einfluß der Zeit und der Veränderung, sondern sind Geistes- oder Seelenzustände („animae", § 358, oder „mentis", an anderen Orten in der Psychologia empirica), die sich im Laufe der Zeit verändern können, und die aufeinanderfolgen und sich in der Zeit fortspinnen (§ 404). Sie bedeuten im Syllogismus Obersatz, Untersatz und Schluß, und jeder Urteilsakt stellt einen jeweiligen zeitlichen Seelenzustand dar: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese zeitlichen Seelenzustände kommen auf erfahrender Ebene nie getrennt vor, sondern drei Zustände folgen aufeinander und sind miteinander untrennbar verbunden, so daß als ein Zustand wahrgenommen wird, was eigentlich drei zeitliche Ebenen enthält. Dies verhält sich wie folgt: künftiger Seelenzustand (Schluß) entsteht aus dem gegenwärtigen (Untersatz) durch die Vermittlung des vergangenen (Obersatz, vgl. § 404). Wolff drückt diesen dreifachen Zustand metaphorisch folgendermaßen aus: Vom vergangenen befruchtet trägt der gegenwärtige den künftigen in sich (wörtlich: „der gegenwärtige ist vom vergangenen mit dem künftigen schwanger", § 408). Wenn ich zum Beispiel einen belaubten Birnbaum im Herbst sehe und mich daran erinnere, daß er seine Blätter im Herbst zu verlieren pflegte, folgere ich daraus, daß er sie verlieren wird. Die gegenwärtige Anschauung („intueor") des Birnbaumes stellt den Untersatz („Der Baum, den ich sehe, ist ein belaubter Birnbaum"), die Erinnerung den Obersatz („Wenn der Herbst kam, verlor der Birnbaum gewöhnlich seine Blätter"), und die Voraussicht den Schluß („Er wird sie dann verlieren", § 404) dar. Dies besagt allerdings nicht, daß das syllogistische Schlußverfahren sich auf die subjektive Assoziation kraft gewohnheitsmäßiger Erfahrung reduziert, die nur eine empirische Gültigkeit hat. Empirische Assoziation wird in diesem Schlußverfahren vom intellektuellen Verständnis der Verbindung zwischen den Ereignissen begleitet, die unausbleiblich aufeinanderfolgen, so daß ein Ereignis einen zureichenden Grund für ein anderes konstituiert (§ 385). Im vorliegenden Fall besteht eine solche Verbindung zwischen Herbst und dem Fallen der Blätter des Birnbaumes. Die Verknüpfung erfolgt entweder aufgrund der Entdeckung einer wahren Ursache oder der deutlichen Erkenntnis der Umstände (§ 508). Diese zeitliche Interpretati33 34

Vgl. Aristoteles, Zweite Analytiken, 86 a 22-29. Vgl. ders., Erste Analytiken, 65 a 10-25.

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on des Syllogismus ist von großer Tragweite. Denn der Syllogismus enthüllt nicht nur eine Eigenschaft des betreffenden Birnbaumes („Er ist ein Laubbaum"), sondern sagt auch voraus, daß dieser Birnbaum seine Blätter verlieren wird, weil der Schluß einen künftigen Seelenzustand darstellt. Wir werden wieder auf diese prädiktive Dimension zurückkommen, wenn wir über die Erfahrung unserer Existenz sprechen. Wolff stellt den so gedeuteten Syllogismus und unsere psychologische Erfahrung der Wahrnehmungen des Alltagslebens nebeneinander, da diese gleichfalls syllogistischen Prinzipien oder Gesetzen folgt, aber dies auf verschiedene Weise. Im Syllogismus bezieht sich die Erinnerung auf das vergangene Ereignis als auf ein solches, das die unausbleibliche, auf dieselbe Art und Weise erfolgende Wiederholung desselben Ereignisses als eines zukünftigen verbürgt. Im Gegensatz dazu erinnert man sich in der Alltagserfahrung des Wahrnehmens seiner Handlungen bloß an ein Vorhaben („propositum"), d.h. daran, was man unter einer zu einem bestimmten Zeitpunkt erfüllten Bedingung tun wollte, also an eine Vergangenheit, die sich auf die Zukunft hin entwirft, deren Verlauf aber nicht immer auf dieselbe Art und Weise erfolgt, wie man ihn vorausgesehen hat. Denn man kann - unter der Bedingung, daß der Obersatz (Vorhaben) derselbe bleibt - denselben Schluß (Durchführung des Vorhabens) aus einem Untersatz ziehen, der sich entsprechend den Ereignissen verändern kann, die zu einem Zeitpunkt eintreten, da man sein Vorhaben durchführen soll. Setzen wir, daß ich vorgehabt habe, aufzustehen, wenn ich die Uhr 8 Uhr schlagen höre. Wenn ich die Uhr 8 Uhr schlagen höre, erinnere ich mich an mein Vorhaben, zu diesem Zeitpunkt aufzustehen, und fühle, daß ich aufstehen soll. Übrigens kann man diese Verkettung der Wahrnehmungen nach Wolff dadurch explizieren, daß man eine syllogistische Form in dieser Verkettung folgendermaßen ans Tageslicht bringt: Wenn ich die Uhr 8 Uhr schlagen höre, soll ich aufstehen. Nun schlägt die Uhr 8 Uhr. Also soll ich jetzt aufstehen. Der Schluß kann allerdings auch aus anderen Untersätzen gezogen werden: z.B. wegen des Lichts der aufgehenden Sonne, die mich zu diesem Zeitpunkt aufweckt, oder aufgrund der Gewohnheiten anderer Leute fühle ich zu diesem Zeitpunkt, daß ich aufstehen soll. Deshalb erfolgt der Syllogismus in der Erfahrung der Wahrnehmungen unserer Handlungen nicht geradlinig und mit strenger Notwendigkeit, sondern flexibel, da der wirkliche Verlauf der Ereignisse offen bleibt, die die Richtung der Bewegung unserer Wahrnehmungen verändern können (§ 393). Im übrigen kann diese syllogistische Verkettung jeden Moment durch eine neue Empfindung (§ 393) oder durch unvorhergesehene Ereignisse unterbrochen werden, die eine andere Reihe der Vorhaben bewirken. Denn im Gegensatz zum gedachten Obersatz, der das unausbleibliche Fallen der Blätter des Birnbaums im Herbst vorhersagt, ist der Obersatz, der mein Vorhaben, um 8 Uhr aufzustehen, zum Ausdruck bringt, kontingent, da dieses unter bestimmten Umständen auch aufgegeben werden kann, da das betreffende Vorhaben kein wesentliches Attribut

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meiner selbst ausmacht. So sind alle unsere Erfahrungen denselben syllogistischen Gesetzen unterworfen, aber je nach dem Typ des Obersatzes unterschiedlich bestimmt. In dieser Perspektive folgen wir der Bahn des Habitus nicht nur in der Theorie, sondern erzeugen und durchschreiten ebenfalls in der Erfahrung unserer alltäglichen Wahrnehmungen ein syllogistisches Gewebe, wenn auch auf verworrene und unbewußte Weise. Dies konstituiert unseren erfahrenden Lebenszusammenhang. Insofern ist Erfahrung nicht fragmentarisch, sondern immer Teil eines Gewebes, so daß selbst eine solche neue Erfahrung, die das Muster dieses Gewebes durchbricht, im Hinblick auf das ganze Gewebe interpretiert und in es integriert wird. Bevor wir die syllogistische Erfahrung unserer Existenz kommentieren können, müssen wir uns etwas ausfuhrlicher mit dem Begriff der Anschauung (Intuition) beschäftigen. Wie der Syllogismus sich verzeitlicht, so wird auch intuitive Erkenntnis im Zusammenhang mit Wolffs Forderung nach Deutlichkeit als sukzessiv erworben verstanden (§ 288). Bei Descartes ist Intuition die Quelle der gewissen Erkenntnis; denn diese wird schlagartig (und somit nicht-sukzessiv) durch jene erworben, ohne daß man sich des Gedächtnisses bedient (Regula XI). Für Wolff dagegen ist Anschauung allein als einfache Apprehension (§ 354) und Synonym des Obitus („uno intuitu comprehendere", § 326) verworren (§ 287) und eröffnet uns nicht viel über den Gegenstand der Erkenntnis (§ 354). Man kann Anschauung entweder durch Reflexion oder durch Abstraktion verdeutlichen - durch Reflexion, indem man seine Aufmerksamkeit sukzessiv auf jeden Teil des angeschauten Dinges lenkt und fokussiert, und sie auf manche Teile dieses Dinges zurückkommen läßt, um sie miteinander zu vergleichen (§ 288), und durch Abstraktion, indem man mittels des Vergleichs der Individuen den Begriff der Gattung und des artbildenden Unterschiedes bildet (§ 283). Dies erfordert ein Gedächtnisvermögen, das uns die Identität eines angeschauten Dinges in der Zeit erkennen läßt (§ 174), und das dadurch seinen Namen (§ 354), seine Attribute, die von ihm absolut ausgesagt, und seine Modi und Relationen, die von ihm bedingt ausgesagt werden, vergegenwärtigt (§ 362, § 370). Die so gedeutete sukzessive Anschauung (Intuition) ist mit der aristotelischen, nicht Cartesianischen, Intuition („noüs") verwandt, die durch Induktion und Abstraktion 35 Prinzipien erfaßt. 36 Hier ist zu fragen, wie man von dieser Basis aus dem cartesianische Problem des trügerischen Gedächtnisses begegnen soll. Wolffs Antwort auf diese Frage besteht darin, mnemotechnische Verfahren (§ 195-200) und die Entwicklung einer Ars characteristica combinatoria (§ 310) vorzuschlagen. In dieser Perspektive ist es nicht erstaunlich, daß Wolff die cartesianische Intuition „ich denke, also bin ich" als ein Enthymen deutet, d.h. als einen Syllogismus, in dem der Obersatz ausgelassen ist. Spinoza nach ist diese Deutung unzulässig; 35 36

Vgl. ders., Zweite Analytiken, Vgl. ebd., 100 b 12.

81 b 1 - 9 .

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denn wenn es sich bei dem Cartesischen Cogito um einen Syllogismus handelte, müßten die Prämissen klarer und bekannter sein als der Schluß „ich bin" selbst, der Schluß „ich bin" würde also nicht das erste Fundamentum alles Denkens sein können. Für Spinoza enthält die cartesianische Intuition vielmehr den einzigen Satz: Ich bin als denkender („ego sum cogitans"). 37 Wolffs Analyse geht in eine ganz andere Richtung. Ihm zufolge muß man den im Cogito-Gedanken enthaltenen verworrenen Begriff unserer Existenz auf einen deutlichen zurückfuhren, und auffinden, welcher Beweis in diesem intuitiven und gewissen, unsere Existenz bejahenden Satz enthalten ist (§ 14). Denn die intuitive Gewißheit unserer Existenz, die anhand unserer Erfahrung des Zweifels bestätigt wird, genügt insofern nicht, als sie verworren ist (§ 15). Mit seiner Forderung der Verdeutlichung macht er aus der Intuition eine Demonstration, welche jene expliziert und in einer syllogistischen Form folgendermaßen entfaltet: Was für ein Seiendes auch immer sich seiner und anderer Dinge außer sich aktuell bewußt ist, das existiert. Nun sind wir uns unserer und anderer Dinge bewußt. Also existieren wir (§ 16). Man muß einerseits darauf hinweisen, daß das Bewußtsein, um das es sich in den Prämissen handelt, ein empirisches und zugleich gemeinsames („communis") Bewußtsein im Akt ist, das sich vom Cartesianischen Cogito insofern unterscheidet, als es ein von der alltäglichen Erfahrung abstrahiertes Moment darstellt (dies ist in der Deutschen Metaphysik nicht präzisiert). So ist Selbstbewußtsein bei Wolff gleichzeitig ein zur Welt und zu anderen Dingen offenes Bewußtsein. Es ist hier daraufhinzuweisen, daß das Subjekt, das im Obersatz enthalten ist („wer sich seiner und anderer Dinge bewußt ist"), ein Ding ist, das nicht notwendigerweise menschlich ist. Es kann - wie bei Kant38 - ein vernünftiges Wesen überhaupt gemeint sein, dessen Definition auch mögliche außerirdische Intelligenz umfaßt. Wolff scheint hier an eine vernünftige Gattung zu denken, die umfassender ist als das Menschengeschlecht. Aber es ist zu fragen, wie man die Idee dieses Seienden erreichen kann. Da dieses Seiende nicht in unserer Erfahrung vorkommt, ist das Mittel, das uns bleibt, die mit Einbildungskraft kombinierte Abstraktion. Man kann nämlich das Attribut des Bewußtseins der Existenz von dem es erfahrenden Subjekt her abstrahieren, und sich nach Maßgabe der Vernunft ein Seiendes einbilden, das dieses Attribut hat; denn Bewußtsein und Existenz sind in diesem Seienden miteinander verträglich, und noch mehr ist seine Existenz zweifellos evident durch die unlösbare Verbindung dieser beiden Attribute.

37

38

Vgl. Spinoza, Benedictus de, Renati Des Cartes principiarum philosophiae partes I & 2, in: ders., Opera, (wie Anm. 4), Bd. I, S. 123-230, S. 153 (Pars I). Vgl. hierzu Descartes, Meditationes de prima philosophia, Responsio ad secundae objectiones, Tertio, in: ders., Œuvres, (wie Anm. 3), Bd. 7 (1904), S. 140-142. Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft, in: ders., Akademieausgabe, (wie Anm. 26), Abt. I, Bd. 5 (1908), § 91, S. 467 (entspricht S. 455 der dritten Originalausgabe).

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Formal betrachtet enthält der Obersatz dieses Syllogismus' ein Prinzip der Vernunft, in dem der verworrene Begriff des Subjekts und des Prädikats unlösbar miteinander verbunden sind, so daß, wenn der Begriff des Subjekts einmal hervorgebracht wird, der des Prädikats sich daraus unausbleiblich ableitet. Im Untersatz wird das Prädikat als im Begriff unserer selbst enthalten betrachtet, und selbst durch den Versuch des Zweifels bestätigt. In dieser syllogistischen Entfaltung bringt man durch den Obersatz ein Prinzip der Vernunft ans Tageslicht, das in der verworrenen Intuition unserer Existenz impliziert ist, und das bei der Bejahung unserer Existenz beansprucht wird. Man stellt daraus das Prinzip einer Verbindung auf, das allgemeingültig für alles vernünftige Seiende aufgrund der Tatsache seines Bewußtseins gilt. Wir sind uns unserer und anderer Dinge außer uns bewußt. Wenn das Gedächtnis uns dieses universale Prinzip vergegenwärtigt, das zu einem Zeitpunkt der Vergangenheit explizit gemacht und erworben ist, und das unsere Erfahrung der Existenz bestimmt, so kann man daraus den entsprechenden Obersatz bilden. Wenn man diesen Syllogismus nun zeitlich interpretiert, wie es bei Wolff der Fall ist, gelangt man zu einem neuen, ontologisch bedeutsamen Verständnis der Cartesianischen Aussage „ich denke, also bin ich". Dieser Syllogismus erzeugt nämlich durch seine doppelte Bejahung unserer Existenz, das heißt einerseits durch die gegenwärtige und andererseits durch die Erinnerung an die vergangene Intuition, im Schluß die Voraussage „wir werden existieren", unter der Bedingung, daß wir uns unserer und anderer Dinge außer uns auch in Zukunft bewußt sind, da diese Verbindung zwischen Bewußtsein und Existenz nicht nur im Augenblick der Erfahrung, sondern auch zu aller Zeit gültig ist, wo diese Erfahrung möglich ist. Dieses künftiges Urteil wird vom gegenwärtigen intuitiven Urteil des Untersatzes antizipiert und vom universalen Prinzip des Obersatzes impliziert, der ein vergangenes Urteil ist, das im gegenwärtigen Urteil aufbewahrt und von ihn impliziert ist. Die gegenwärtige Intuition unserer Existenz nimmt so unsere Existenz wieder auf, die von der Erinnerung an ihre vergangene Evidenz begründet ist, und entwirft sie auf ihre Voraussage hin. Dieser Syllogismus zeigt, daß unsere Erfahrung der Existenz nicht im Augenblick des Bewußtseins abgeschlossen ist, sondern sich über die Bahn des syllogistischen Habitus ausdehnt, die einen Gedancken auf drei Zeitebenen aufteilt und in einer deutlichen Dauer erhält. So wird sie eine Dauer, die eine syllogistische Denkbewegung enthält, so kurz sie auch sein mag, und deren Zeitraum auch ihre Vergangenheit und Zukunft entfaltet. Während bei Descartes die zukünftige Dauer unserer Existenz nicht von der Gewißheit unserer gegenwärtigen Existenz impliziert wird, da sie von der Existenz Gottes abhängt, der sie in der Dauer erhält (Meditatici III), demonstriert und begründet Wolff unseres Erachtens anhand dieses Syllogismus' nicht nur unsere Existenz, sondern auch ihre Dauer in der Zeit, wenn auch nur in bezug auf die Dauer dieses Syllogismus. Damit überwindet er das

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cartesianische Dilemma, in dem unsere angeschaute Existenz nicht die Dauer impliziert. Zugleich gibt dieser Grundsyllogismus den Grad der Evidenz an, den man bei einer wissenschaftlichen Demonstration erreichen muß. Dieser Grad wird erreicht, wenn die Prinzipien oder Prämissen, aus denen der Schluß gezogen wird, nur unzweifelhafte Erfahrungen und nichtdemonstrierbare Prinzipien enthalten (§§ 17f.)· Die Evidenz dieses Syllogismus ist so die Norm oder der Maßstab der Evidenz wissenschaftlicher Demonstration, wobei dieser Syllogismus zugleich auf die Quellen der Prinzipien deutet, deren man sich in der Demonstration bedient: Vernunft und Erfahrung, die sich in diesem Syllogismus vereinigen. In diesem Sinne begründet dieser Syllogismus die Wolffsche Methode der Demonstration, und die Idee dieses Fundaments ist untrennbar mit der Bahn des syllogistischen Habitus verbunden. Im Gegensatz dazu besteht Descartes auf dem intuitiven Charakter des Fundaments, welcher diesem Gewißheit verleiht. Zum Schluß muß nun die Erfahrung moralischen Handelns in der Bahn des demonstrativen Habitus untersucht werden. Moralischer Habitus wird dadurch bestimmt, daß er Freiheit begründet. Diesbezüglich soll es uns genügen, Wolffs Antwort auf die von uns zu rekonstruierende kantische Kritik des Habitus zu skizzieren. Wenn Kant schreibt, daß man die Tugend nicht dadurch erklären kann, daß man sagt, sie sei die Fertigkeit in freien rechtmäßigen Handlungen (denn da wäre sie bloß Mechanismus der Kraftanwendung), sondern er sie definiert als die moralische Stärke in Befolgung einer Pflicht, die niemals zur Gewohnheit werden, sondern immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen soll, 39 so kritisiert er den mechanischen Charakter des Habitus und qualifiziert ihn ab als dem Gebiet der freien rechtmäßigen Handlungen nicht zugehörig. Nun sind freie Handlungen den vernünftigen Wesen zwar wesentlich. Kant stellt aber den mechanischen Habitus auf praktischem Gebiet trotzdem nicht generell in Frage, denn auf dem Gebiete der Kunst und Technik wird eben mechanische Fertigkeit erfordert. Kant weist den mechanischen Habitus nur zurück, wenn es sich um moralische Handlungen handelt, die bloß durch die Vorstellung ihrer Form („nach Gesetzen überhaupt"), ohne Rücksicht auf die Mittel des dadurch zu bewirkenden Objekts bestimmt werden dürfen. 40 Diese Kritik ist dort gerechtfertigt, wo es sich um die cartesianische Interpretation des moralischen Habitus durch den Begriff der mechanischen Dressur, nämlich des körperlichen Habitus in den Passions de l'Ame handelt. Diese physische und mechanische Betrachtungsweise war im übrigen zu Kants Zeit bei der Interpretation des Habitus weit verbreitet.

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40

Vgl. ders., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Akademieausgabe, (wie Anm. 26), Abt. I, Bd. ι (1907), S. 147-149 (§ 12). Vgl. ders., Erste. Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, in: ders., Akademieausgabe, (wie Anm. 26), Abt. III, Bd. 7, S. 193-250, hier S. 199 (Abschnitt I).

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Um diesen physischen Habitus zu illustrieren, wollen wir folgendes Beispiel von Hobbes anfuhren, der an unbelebte Dinge mit dem Begriff des Habitus herangeht. Das Blatt einer Balliste, die mit einer großen Kraft angespannt ist, kommt zu seiner Anfangsstellung zurück, wenn das Hindernis beseitigt wird. Aber nachdem es lange Zeit angespannt geblieben ist, erwirbt es einen Habitus, so daß wenn es einmal losgelassen wird, es sich nicht aus eigenem Antrieb wiederherstellt, sondern daß man eine ebenso große Kraft anwenden muß wie die, die man gebraucht hat, um es anzuspannen, um es zu seiner Anfangsstellung zurückzufuhren. 41 In der Tradition des Hobbes interpretiert Leibniz den Habitus unbelebter Dinge in seiner Nova methodus, aber er interpretiert den mechanischen Habitus mit dem Begriff der Kraft zu wirken im Gegensatz zu Hobbes, für den der Habitus nicht eine erworbene Kraft,42 sondern eine durch Consuetude leichter gemachte - „factus expedidor" - Bewegung darstellt). Descartes wendet, so scheint es uns, diesen physischen Aspekt des Habitus auf die Interpretation der Tugend an. In dieser Perspektive erwirbt man seinen Habitus der Tugend durch mechanische Angewöhnung, und tugendhafte Handlungen gehen nicht aus einem moralischen Entschluß, sondern aus einer maschinellen Leichtigkeit, tugendhaft zu handeln hervor; selbst wenn ein freier Wille diese Gewöhnung an die Tugend bewirkt, sind Handlungen nicht mehr frei, sondern mechanisch, wenn Tugend einmal erworben ist. Bei Wolff erfährt der moralische Habitus dagegen eine grundlegende Veränderung in der Bahn des demonstrativen Habitus: er ist nicht mehr mechanischer Natur. Im Gegensatz zu Spinoza, für den es menschliche Handlungen gibt, die durch die Struktur und Disposition des Körpers hervorgebracht werden, und von denen wir Erfahrungsbeispiele wie den Fall des Nachtwandlers angeführt haben (Wolff weist sie zurück, ohne sie genauer darzustellen, noch zu widerlegen, § 892, aber diese beziehen sich nicht auf unwillkürliche Körperbewegungen, wovon Wolff spricht, § 940), können unsere Handlungen nicht von äußeren Dingen durch den Modus der Kraft (§§ 927f.) ausgelöst werden, die physische oder mechanische Aktionen bestimmt. Die Erfahrung der äußeren Dinge, die für unsere Handlungen Ursachen oder Gründe konstituieren, wird immer durch unsere Vorstellung der Dinge sub ratione boni et mali, das heißt durch unser Werturteil in bezug auf diese Dinge vermittelt (§ 892). Auf diese Weise kann menschliche Freiheit begründet werden, da die Vermittlung gewährleistet, daß unser Wille nicht durch äußere Ursachen vollständig determiniert wird (§§ 927f.). Unter diesem Gesichtspunkt werden äußere Ursachen auf menschlicher Ebene in Bewegungsgründe (§ 887) transformiert. Aber zu welchem Preis? Aus der demonstrativen Bahn des moralischen Habitus werden alle menschlichen Aktionen verbannt, die man nicht mit dem Begriff des Bewe-

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42

Hobbes, Thomas, De Corpore, in: ders., Opera philosophica quae latine scripsit, hg. V. William Molesworth. 5 Bde. London 1839-1845, Bd. 1 (1839), S. 284f. (Cap. XXII). Leibniz, Nova Methodus, (wie Anm. 14), S. 267.

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gungsgrundes bestimmen kann. Wenn man den moralischen Habitus erwirbt, erfolgt dieser Erwerb deshalb durch die Artikulierung und wiederholte Bejahung moralischer Werte oder vernünftiger Begierden (§ 909), nicht durch mechanische Gewöhnung wie im Erwerb des körperlichen Habitus. Der Habitus erfordert im übrigen, wenn er einmal erworben ist, zu seiner Erhaltung seine beständige Ausübung, ohne die man ihn im Laufe der Zeit verliert (§ 432). Was den moralischen Habitus betrifft, so ist er insofern um so prekärer, als sinnliche Begierden den vernünftigen beständig entgegenwirken (§ 918). Selbst wenn der Habitus der Tugend einigermaßen sicher erworben ist, können moralische Handlungen deshalb nicht in dem Sinne mechanisch sein, daß man sie automatisch ohne die Artikulierung der Bewegungsgründe und ohne bewußte Bemühung hervorbringt. Ganz im Gegenteil ist man sich bei dieser Handlung der moralischen Werte bewußt, die sich dem Gedächtnis durch den Habitus eingeprägt haben. Er wird überdies affektiv von einer tiefen Befriedigung begleitet, da man sich durch seine guten Handlungen seiner eigenen Vollkommenheit bewußt wird, die darin besteht, tatsächlich nach moralischen Gesetzen zu handeln (§ 750). Dagegen kann der Habitus der Tugend in seiner Vollkommenheit selbst, das heißt in der vollkommenen Übereinstimmung vernünftiger Begierden und sinnlicher Begierden nicht ohne die Artikulierung oder das deutliche Bewußtsein der Bewegungsgründe auskommen. Vielmehr werden sinnliche Begierden erst deutlich und befolgen wir spontan vernünftigen Begierden erst dann, wenn sie die deutliche Artikulierung der Beweggründe implizieren. Daher ist der Habitus nicht mehr der Habitus der Tugend, wenn er ohne die deutliche Artikulierung der Bewegungsgründe und bewußte Bemühung bei moralischer Handlung verfolgt wird. Im letzten Falle handelt es sich um die Consuetude zu wirken (§ 923), aus der sich die mechanischen Handlungen des Alltagslebens ohne deutliche Artikulierung der Bewegungsgründe ergeben. Wolffs Habitus der Tugend bringt also im Unterschied zur Consuetude nicht eine mechanische und automatische Handlung, sondern eine deutlich artikulierte und gewohnheitsmäßige, aber prekäre und bei jeder Gelegenheit zu erneuernde Handlung hervor. Diese Handlung bewirkt Selbstgenügsamkeit. So dynamisiert Wolff den mechanischen Habitus der Tugend von Descartes, indem er ihn als eine beständige Bemühung betrachtet. Der Habitus ist dabei beständig auf Artikulierung der Bewegungsgründe hin ausgerichtet, worin wahre Freiheit besteht. Wolff begründet dadurch seine eigene Idee des moralischen Habitus. Zugegebenermaßen ist diese Idee des moralischen Habitus alles andere als befriedigend, und stellt denn auch in Kants Augen nur psychologische und komparative Freiheit dar, weil Kant nur solche Handlungen als frei anerkennt, die ohne materielle Ursache oder materiellen Bewegungsgrund gewählt werden. 43 Zwar ist 43

Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Bd. 5 (1908), S. 94-100.

Vernunft,

in: ders., Akademieausgabe,

Abt. I,

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Wolffs Theorie des Habitus fur Kant also unbefriedigend, aber dies bedeutet nicht, daß sie in der Bestimmung der Freiheit mechanisch ist, wie Kant meint, sondern sie beinhaltet vielmehr eine Artikulation des Geistes. So ist Wolffs Konzept der Erfahrung moralischer Handlungen gleichfalls durch die Bahn des demonstrativen Habitus geprägt, der sie dadurch begründet, daß er sie verdeutlicht, beständig macht und zugleich dynamisiert, und zwar unter Ausschluß der spinozistischen Erfahrung der Unfreiheit (§ 927). Im übrigen wird die menschliche Seele für Wolff durch zwei Dimensionen bestimmt. Einerseits ist sie den Gesetzen unterworfen, die ihre Wahrnehmungen und Aktionen bestimmen. Andererseits enthalten diese Gesetze in sich einen Spielraum für das Belieben („arbitratus" - Willkür: „spontaneitas"), und zwar nicht aufgrund unseres absoluten Willens, sondern der Art und Weise, wie der Mensch determiniert wird. So erlaubt uns Wolffs Konzeption der menschlichen Seele, diese den Gesetzen entsprechend zu bestimmen, die so streng wie die physischen, aber nicht mechanisch im strikten Sinne des Wortes sind. Er konzipiert und wendet zwar die Psychometrie als eine heuristische Ergänzungsmethode an, um gewisse psychologische Sätze aufzustellen, aber sie konstituiert nicht die allgemeine Methode für die Psychologie, und betrifft noch weniger das Wesen der Seele. So wird der spezifische Charakter des menschlichen Subjekts nicht auf dem Niveau der Tatsachen der Natur angesiedelt. Der spezifische Charakter der menschlichen Seele wird von Wolff erst in seiner Affekttheorie noch stärker herausgearbeitet. Es gibt nach Wolff nämlich auf affektiver Ebene einen wesentlichen Unterschied zwischen Menschen und Tieren (§ 654-658). Was unbelebte Dinge anbelangt, so verfügen sie nicht über Affekte, sondern über materielle Vollkommenheiten. Daher muß man Menschen, Tiere und unbelebte Dinge aus jeweils verschiedener Perspektive betrachten. Beim Menschen zum Beispiel muß man den ihm wesentlichen Affekt in Betracht ziehen, der im Streben nach Glückseligkeit liegt. Dieser wesentliche Affekt des Menschen und seine Vorstellung der Werte in bezug auf das, worauf er sich bezieht, schließen die mechanistische Erklärung des menschlichen Verhaltens aus, die sich auf das Modell der Konditionierung stützt, obwohl es gemäß der Wölfischen Methode streng nach psychologischen Gesetzen beschrieben werden kann. Darum kündigt sein psychologisches Modell die mechanische Psychologie der modernen Philosophie an und überwindet sie gleichzeitig. Dies akzentuiert noch mehr den fundamentalen Unterschied zwischen dem moralischen Habitus, der eigentlich menschlich ist, und dem physischen Habitus, der dem Menschen, den Tieren und den unbelebten Dingen gemeinsam ist.

DIETER HÜNING

(Marburg)

Christian Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen Psychologie und Moralphilosophie*

Einleitende Bemerkungen Die nachfolgenden Ausführungen beabsichtigen, einige Aspekte des Verhältnisses von praktischer Philosophie und empirischer Psychologie bei Christian Wolff näher zu beleuchten. Im Zentrum dieser Ausführungen steht dabei Wolffs Begriff der obligatio naturalis und die psychologischen Voraussetzungen, auf denen dieser Begriff beruht. Durch seine verbindlichkeitstheoretische Konzeption glaubte Wolff bestimmte begründungstheoretische Probleme der vorhergehenden Naturrechtslehre beheben zu können. Dieser neuartige Begriff der obligatio naturalis und die damit eng zusammenhängende Frage der Willensfreiheit bildeten einen der zentralen Streitpunkte in Wolffs Auseinandersetzung mit den Hallenser Theologen. Was den in diesem Zusammenhang vor allem von Joachim Lange erhobenen Vorwurf des Fatalismus angeht, so kann an dieser Stelle auf die grundlegende Studie von Bruno Bianco hingewiesen werden. 1 Bianco zeigt, daß Lange den FatalismusVorwurf in erster Linie aus der Auseinandersetzung mit den ontologisch-kosmologischen Voraussetzungen des Wolffschen Systems sowie mit der Lehre von der prästabilierten Harmonie entwickelt. 2 Demgegenüber liegt der Schwerpunkt meines Beitrags mehr auf den spezifisch willenstheoretischen Aspekten der Wolffschen Verbindlichkeitslehre und der darauf abzielenden Kritik Langes. Mein Beitrag gliedert sich in vier Teile: Zunächst werde ich Wolffs Kritik an der verbindlichkeitstheoretischen Konzeption Pufendorfs behandeln (I). In einem zweiten Schritt werde ich Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit thematisieren und zeigen, worin das Neuartige dieses Begriffs besteht und in welcher Weise er sich kritisch zu dem bis dahin vorherrschenden Begriff der naturrechtlichen Verbindlichkeit, der auf Pufendorf zurückgeht, verhält (II). Im Anschluß hieran werde ich kurz Wolffs Anspruch, die praktische Philosophie systematisch auf den Ergebnissen der empirischen Psychologie aufzubauen, thematisieren (III), was allerdings nur andeutungsweise geschehen kann, weil eine umfassende Darstellung dieser psychologischen Voraussetzungen nicht nur einer umfassenden Darstellung von Wolffs empirischer Psychologie bedürfte, sondern zugleich auch * '

2

Dieser Aufsatz beruht auf Forschungen, die ich dank eines Stipendiums der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel durchführen konnte. Bianco, Bruno, Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff, in: Norbert Hinske (Hg.), Zentren der Aufklärung, Bd. 1: Halle. Heidelberg 1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 15), S. 111-155, bes. S. 116ff. Bianco, (wie Anm. 1), S. 117.

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Dieter

Hüning

die metaphysischen Grundlagen v o n W o l f f s Philosophie und insbesondere sein Verhältnis zu Leibniz diskutieren müßte. Schließlich werde ich die Problematik des W ö l f i s c h e n Willensbegriffs an seiner Behandlung der Frage der Indifferenz analysieren (IV). 3

I. Der Ausgangspunkt: Wolffs Kritik an Pufendorf und den Anhängern einer voluntaristischen Begründung der Verbindlichkeit Wirft man einen Blick auf W o l f f s Grundlegung der praktischen Philosophie, s o fallt auf, daß diese in vielen Punkten mit der Naturrechtslehre Pufendorfs und Thomasius' im Widerspruch steht. Dieser Widerspruch manifestiert sich vor allem in W o l f f s R e v i s i o n zweier Grundbegriffe der praktischen Philosophie bzw. der Naturrechtslehre - d.h. erstens in der Revision des B e g r i f f s des Gesetzes und z w e i tens desjenigen der Verbindlichkeit. Was die Definition des Gesetzes betrifft, s o hatten Pufendorf und Thomasius das Gesetz als den verbindlichen B e f e h l eines übergeordneten Befehlshabers bestimmt. So heißt es bei Pufendorf: „In genere autem lex c o m m o d i s s i m e videtur definiri per decretum, quo superior sibi subjectum obligat, ut ad istius praescriptum actiones suas componat." 4 D i e s e Definition wird v o n W o l f f entschieden zurückgewiesen, weil sie nach seiner A u f f a s s u n g den B e g r i f f der natürlichen Verbindlichkeit aufhebt: Vulgo definiunt legem per jussum superioris promulgatum ipsumque obligantem; sed haec non est definitio legis in genere. Hax definitio illorum est, qui obligationem naturalem tollunt, bonitatem ac malitiam intrinsecam actionum negantes & antecedenter ad voluntatem Dei tanquam superioris actiones in universum omnes pro indifferentibus habentes. Cum igitur intrinsecam actionum malitiam atque bonitatem in anterioribus stabiliverismus, probatam & philosophis antiquis, & Theologis; legem quoque in genere definimus, quemadmodum fert diversa obligatio ad actiones quasdam committendas, quasdam vero omittendas. 5

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Teile der Abschnitte I und II wurden übernommen aus Vf., Die Grenzen der Toleranz und die Rechtsstellung der Atheisten. Der Streit um die Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes in der neuzeitlichen Naturrechtslehre, in: Lutz Danneberg / Sandra Pott / Jörg Schönert / Friedrich Vollhardt (Hg.), Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodischem Atheismus. Berlin / New York 2002, S. 219-264. Pufendorf, Samuel, De jure naturae et gentium, hg. v. Frank Böhling, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, hg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Berlin 1998,1, 6, § 2; vgl. hiermit auch die Definition von Christian Thomasius: „Lex est jussus imperantis obligans subjectos, ut secundum iustum jussum actiones suas instituant" (Institutiones Jurisprudentiae divinae I, 1, § 28); „Stricte lex sumitur pro jussis imperantium seu Dominorum, sive Regum et Magistratum, stritissime pro jussibus universalibus imperantium in República." (Thomasius, Christian, Fundamenta Juris Naturae et Gentium ex consensu communi deducía. Aalen 1963 [Nachdruck der Ausg. Halle/Leipzig 4 1718], I, 5, § 3). Wolff, Christian, Philosophia practica universalis, Pars I, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u.a. Hildesheim u.a., 1962ff., Abt. II, Bd. 10.1 ( 1971 ) (Nachdruck der Ausg. Frankfurt / Leipzig 1738), I, § 131 nota. - Zur Kritik an Pufendorf vgl. auch ebd., § 63 nota: „Enim-

Wolffs Begriff der natürlichen

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Er stellt der Pufendorfschen Definition seine eigene gegenüber, in welcher das Gesetz folgendermaßen definiert wird: „Lex dicitur regula, juxta quam actiones nostras determinare obligamur"6 - oder nach der deutschen Übersetzung der Grundsätze des Natur- und Völkerrechts: „Ein Gesetz nennt man die Vorschrift, nach welcher wir unsere Handlungen einzurichten verbunden sind."7 Mit dieser ganz formellen Definition eliminiert Wolff in charakteristischer Weise den Bezug auf das Moment des fremden, befehlsgebenden Willen8 und verweist statt den nur auf verpflichtenden Charakter des Gesetzes. Eine vergleichbare Oppositon bezüglich der Naturrechtslehre Pufendorfs läßt sich bei Wolff im Hinblick auf den Begriff der Verbindlichkeit feststellen. Pufendorf hatte - in Anknüpfung an das Römische Recht - die obligatio als ein vinculum juris, also ein „vinculum juris" bestimmt, „quo necessitate adstringimur alicujus rei praestandae".9 An anderer Stelle definiert Pufendorf die Verbindlichkeit als „qualitas moralis operativa", die aus dem Gesetz eines Oberen hervorgeht und „qua quis praestare aut pati quid tenetur".10 Wolff setzt dem Pufendorfischen Begriff der Verbindlichkeit als einer gesetzlichen moralischen Notwendigkeit einen Verbindlichkeitsbegriff entgegen, der vor allem die psychologischen Aspekte abstellt: Die Verbindlichkeit, wenn man sie wie eine Handlung betrachtet, die wir die thätige (obligationem activam) nennen wollen, ist die Verbindung eines Bewegungsgrundes mit einer Handlung, es mag dieselbe eine ausübende oder zu unterlasssende [Handlung] sein."

In der Deutschen Ethik heißt es schon ein Vierteljahrhundert zuvor in prägnanter Kürze: „Einen verbinden etwas zu thun, oder zu lassen, ist nichts anderes als einen

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vero non mirabuntur amplius, ubi perpenderint, postquam Puffendorfius bonitatem & malitiam actionum intrinsecam rejecit, & utramque nonnisi arbitrariam esse voluit, ab abritrio superioris unice fluentem, plurimosque hodie inter nos nactus asseclas, bonitatem & malitiam actionum intrinsecam, antehac a Theologis & Philosophis unanimiter assertam & magno fervore initio contra Puffendorfium defensam, tanquam impiam & religione bonisque moribus adversam, traduci ab hominibus, qui dicendi autoritate sibi pollere videntur, temerario fastu damnantes, qua; olim a magistris suis non accepere tanquam vera. Quanta vero sit vis praejudiciorum istiusmodi, nemo acutiorum est, qui nesciat." Ebd., § 131; ders., Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (Deutsche Ethik), in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 5), Abt. I, Bd. 4 (1976), § 16: „Eine Regel, darnach wir verbunden sind unsere freye Handlungen einzurichten, heisset ein Gesetze." - Wie Clara Joesten gezeigt hat, knüpft Wolff mit dieser Definition an Grotius' Naturrechtslehre an. (Vgl. Joesten, Clara, Wolffs Grundlegung der praktischen Philosophie. Leipzig 1931, S. 23.) Wolff, Christian, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 5), Bd. 19 (1980), § 39. Vgl. Härtung, Gerald, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg / München 2 1999, S. 133, der hierin zu Recht die Besonderheit des Wölfischen Obligationsbegriffs sieht. Pufendorf, De jure naturae et gentium, (wie Anm. 4), I, 2, § 3: „Vulgo igitur obligatio dicitur vinculum juris, quo necessitate adstringimur alicujus rei praestandae." Ebd., 1,6, § 5 . Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, (wie Anm. 7), § 35.

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Bewegungs-Grund des Wollens oder nicht Wollens damit verknüpfen." 12 Die moralische Notwendigkeit, welche die Verbindlichkeit des Gesetzes darstellt, beruht nicht auf der Beziehung dieses Gesetzes auf den einen gesetzgebenden Willen, sondern hängt von den jeweils vorliegenden psychologischen Bedingungen des Willensentschlusses, d.h. von dem Vorliegen der entsprechenden Motive, ab.13 Der Wille der Menschen ist nach Wolffs Auffassung so beschaffen, daß die Erkenntnis des Guten, das mit einer Handlung verknüpft ist, einen „BewegungsGrund des Willens [...], daß wir sie wollen", darstellt, so wie umgekehrt die Erkenntnis des Bösen „ein Bewegungs-Grund des nicht Wollens, oder des Abscheues fur einem Dinge" ist.14 In dieser Hinsicht ist die Verbindlichkeit mit der Motivierung des Willens durch die Vorstellung des Guten bzw. Bösen, das mit einer Handlung verknüpft ist, identisch. Diese Psychologisierung des Obligationsbegriffs, die das Ziel verfolgt, „die rein positivistische Auffassung der Verbindlichkeit zu bekämpfen", stellt in der Tat - wie Clemens Schwaiger hervorgehoben hat - eine tiefgreifende Neuerung' in der neuzeitlichen Obligationstheorie dar: „Obligation ist gleich Motivation - so lautet, auf eine Kurzformel gebracht, Wolffs Lösung des Verbindlichkeitsproblems." 15 Allerdings führt diese Psychologisierung des Obligationsbegriffs zu der Frage, ob auf diese Weise nicht überhaupt das spezifisch Normative der Verbindlichkeit, nämlich daß es sich bei ihr um ein Sollen, um eine moralische Nötigung im Unterschied zur natürlichen Notwendigkeit handelt, in Psychologie aufgelöst wird. In diesem Zusammenhang unterscheidet Wolff zwischen der obligatio activa und der obligatio passiva. Während jene aus dem Willen des Verpflichtenden durch die Verknüpfung zwischen einem Motiv und einer Handlung hervorgeht, 16 bezeichnet die obligatio passiva die Notwendigkeit der durch den Akt des Verpflichtens (actus obligatorius) 17 zur Pflicht gemachten Handlung. Die aktive Verbindlichkeit nötigt zu einer Handlung dadurch, daß sie diese mit einem bestimmten 12 13 14

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Ders., Deutsche Ethik, (wie Anm. 6), § 8. Vgl. Härtung, (wie Anm. 8), S. 129. Wolff, Deutsche Ethik, (wie Anm. 6), §§ 6f. In seinen Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik (ders., Der Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, anderer Theil, bestehend in ausfiihrlichen Anmerckungen, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 5), Abt. I, Bd. 3 (1983), § 155 (ad § 492 der Deutschen Metaphysik), verweist Wolff darauf, daß er unter dem Willen „im engeren Verstände" wie die Scholastiker die „vemünfftige Begierde" (appetitus rationalis) versteht; vgl. auch die Definition des Willens in ders., Psychologia empirica, in: Gesammelte Werke, (wie Anm. 5), Abt. II, Bd. 5 (1968), § 880. - Zu den systematischen Problemen, die mit dieser intellektualistischen Sicht der Willensfreiheit verbunden sind, vgl. Hans M. Wolff, Die Anschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung. Bern 1949, S. 109ff. Schwaiger, Clemens, Ein ,missing link' auf dem Weg der Ethik von Wolff zu Kant. Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der praktischen Philosophie von Alexander Gottlieb Baumgarten, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics 8 (2000), S. 251 f. Wolff, Philosophia practica universalis /, (wie Anm. 5), § 118: „Connexio autem motivi cum actione, sive positiva, sive privativa obligatio activa appellatur." Ebd., § 121 : „Actus obligatorius dicitur, quo obligatio inducitur passiva".

Wolffs Begriff der natürlichen

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Motiv verknüpft: „connexio [...] motivi cum actione" - so lautet Wolffs verbindlichkeitstheoretische Formel.18 Demgegenüber drückt die obligatio passiva die durch die obligatio activa entstandene - moralische Notwendigkeit aus, ,eine Handlung so und nicht anders zu bestimmen'. 19 Wolff reagiert mit dieser Definition der Verbindlichkeit auf den entscheidenden Schwachpunkt von Pufendorfs voluntaristischer Begründung der Verbindlichkeit: Dieser Schwachpunkt liegt darin, daß - ich zitiere hier eine Formulierung von Julius Ebbinghaus - „das [von Pufendorf unterstellte] Prinzip des göttlichen Willens selber schlechthin jenseits alles dessen liegt, was den Charakter einer fur den Menschen denkbaren Gesetzlichkeit haben könnte." 20 Für den einer solchen willkürlichen Gesetzgebung unterworfenen Menschen bedeutet diese voluntaristische Begründung der Verbindlichkeit nicht nur, daß er sich von der göttlichen Gesetzgebung und damit von den Gründen, warum Gott dieses oder jenes geboten bzw. verboten hat, überhaupt keinen Begriff machen kann, sondern auch, daß der Gedanke der Unterwerfung unter eine solche willkürliche Gesetzgebung unmittelbar die Möglichkeit der Moralität des Willens aufhebt. Wenn behauptet wird, daß die Verbindlichkeit zur Befolgung der natürlichen Gesetze nur darauf beruhe, daß Gott dies befohlen habe, so entbehrt diese Befolgung ebenso wie die Unterwerfung unter den Willen Gottes eigentlich jedes möglichen moralischen Grundes. Denn in diesem Falle gibt es gar keinen immanenten, im natürlichen Gesetz oder in den von ihm auferlegten Pflichten als solchen liegenden Grund der Befolgung. Der Grund, warum die Menschen die natürlichen Gesetze als Gottes Gebote befolgen, kann dann nur in derjenigen Eigenschaft liegen, „die ich auch unabhängig von den Bestimmungen seines Willens denken kann, nämlich in seiner Allmacht." 2 ' Ein weiterer Punkt, an dem sich Wolff von der vorhergehenden Naturrechtstradition unterscheidet, betrifft den systematischen Ort oder die Stelle im System der Philosophie, an welchem der Begriff der Verbindlichkeit abgehandelt wird: Während die Frage nach dem Begriff der Verbindlichkeit bei Pufendorf ein Problem darstellt, das der Naturrechtslehre zugehörig ist, zieht Wolff die Abhandlung dieses Begriffs in die Philosophia practica universalis, also in diejenige Wissen18

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Ebd., § 118; ders., Grundsätze, (wie Anm. 7), § 35: „Die Verbindlichkeit [...] ist die Verbindung eines Bewegungsgrundes mit einer Handlung [...]."; ders., Deutsche Ethik, (wie Anm. 6), § 8: „Einen verbinden etwas zu thun, oder zu lassen, ist nichts anderes als einen BewegungsGrund des Wollens oder nicht Wollens damit verknüpfen." Ders., Philosophia practica universalis I, (wie Anm. 5), § 118: „Necessitas moralis agendi vel non agendi dicitur obligatio passiva"; ders., Jus naturae, Pars I, in: ders., Gesammelte Werke, Abt. II, Bd. 17 (1968), § 57 nota: „Obligatio autem necessitas moralis actionem sic & non aliter determinandi". Ebbinghaus, Julius, Über die Idee der Toleranz. Eine staatsrechtliche und religionsphilosophische Untersuchung, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1: Sittlichkeit und Recht, hg. v. Hariolf Oberer und Georg Geismann. Bonn 1986, S. 311. Ebbinghaus, Julius, Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Interpretation und Kritik, hg. v. Hariolf Oberer und Georg Geismann. Bonn 1990, S. 398f.

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schaft, welche das normative Fundament sowohl für die Naturrechtslehre als auch für die Ethik im engeren Sinne liefert. Eine besondere Pointe gewinnt Wolffs Polemik schließlich durch den Vorwurf, daß Pufendorfs moralpositivistische Position selber der Amoralität der Atheisten Vorschub leiste. Gerade Pufendorfs Leugnung der notwendigen Verknüpfung zwischen der Natur und dem Wesen des Menschen und der Dinge mit der natürlichen Verbindlichkeit einerseits und durch die systematische Verbindung des Begriffs der Verbindlichkeit mit dem Willen Gottes andererseits mache es den Atheisten leicht, mit dem Glauben an Gott auch alle natürliche Verbindlichkeit aufzuheben. 22 Aus diesem Grunde steht im Zentrum der Auseinandersetzung mit Pufendorf auch der Begriff des natürlichen Gesetzes. So erklärt Wolff in seiner Philosophieι practica universalis, daß sich das natürliche Gesetz dadurch von allen positiven Gesetzen unterscheidet, daß seine ratio cognoscendi im Wesen und der Natur des Menschen und der Dinge, somit letztlich in der teleologisch verfaßten Natur liegt.23 Demgegenüber hängt die Verbindlichkeit des positiven Gesetzes von einem fremden Willen ab. 24

II.

Wolffs Begründung der obligatio naturalis

In der Philosophia practica universalis bezeichnet Wolff die obligatio naturalis als diejenige Verbindlichkeit, die aus dem natürlichen Gesetz hervorgeht 25 und die im Wesen und der Natur des Menschen und der Dinge („ipsa hominis rerumque essentia") ihren zureichenden Grund hat. 26 Die Obligatio naturalis ist also ein Sonderfall des oben angeführten allgemeinen Obligationsbegriffs im Sinne einer Verknüpfung eines Beweggrundes mit einer Handlung und drückt also die morali-

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25 26

Wolff, Philosophia practica universalis /, (wie Anm. 5), § 245: „Lex naturas subsistit etiam in hypothesi impossibili athei; hoc est, ex eo, quod atheus ponit non dari Deum, minime sequitur, non dari legem naturae. Etenim lex naturae ponitur posita hominis rerumque natura atque essentia (§ 136) & ejus obligatio rationem sufficientem in ipsa hominis rerumque essentia atque natura habet (§ 143). Quamobrem etsi atheus neget dari Deum ( § 4 1 1 . part II, Theol. nat.); non tarnen ideo negare potest, hanc esse hominis rerumque essentiam, quam independenter a cogitatione Dei cognoscimus. Admittere igitur tenetur legem naturae, stante hypothesi impía, consequenter Lex naturae subsistit etiam in hypothesi impossibili athei. Nimirum non valet consequentia, si atheus ita argumentetur: Non datur Deus. Ergo non datur lex naturae, seu nulla datur obligatio ad actiones alias committendas, alios vero omittendas, nisi quae a lege humana venit. [...] Non nego, dari atheos, qui negant legis naturalis existentiam; sed ratio, cur negant, non desumitur ab impia eorum hypothesi, si rem curatius spectes [...]." Ebd., § 135: ,£ex naturalis est, quas rationem sufficientem in ipsa hominis rerumque essentia atque natura agnoscit"; Grundsätze, § 39: „Man nennt dasjenige ein natürliches Gesetz, welches seinen hinreichenden Grund selbst in der Natur des Menschen und der Dinge hat." Ebd., § 147: ,¿expositiva dicitur, cujus obligatio dependat a volúntate entis cujusdam rationalis." Ebd., § 141 : „Obligatio, qua: a lege natura venit, naturalis est". Ebd., § 143.

Wolffs Begriff der natürlichen

Verbindlichkeit

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sehe Notwendigkeit des natürlichen Gesetzes aus, nach welcher wir durch dieses Gesetz bzw. durch unsere eigene vernünftige Natur verpflichtet sind, die an sich guten Handlungen zu begehen und die an sich schlechten zu unterlassen. 27 Für Wolff liegt eine natürliche Verbindlichkeit „dann vor, wenn das zureichende Handlungsmotiv aus der natürlichen Verfaßtheit des Menschen resultiert." 28 Dementsprechend definiert Wolff die obligatio naturalis als diejenige Verbindlichkeit, „welche ihren hinreichenden Grund selbst in dem Wesen und der Natur des Menschen und der übrigen Dinge hat" 29 bzw. „quae in ipsa hominis rerumque essentia atque natura rationem sufficientem habet. [...] posita hominis rerumque atque natura, ponitur etiam naturalis obligatio".30 Das Auffallige dieser Definition besteht auch hier darin, daß Wolff die Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes ohne Rekurs auf einen wie auch immer gearteten fremden Willen begründen will. Wenn alle Moralität deshalb unmittelbar in der Natur des Menschen verankert ist, dann tut ein vernünftiger Mensch das Gute und unterläßt das Böse nicht „in Ansehung der Belohnung und aus Furcht der Straffe". Er gibt sich vielmehr selbst das Gesetz, d.h. er läßt sich allein durch die Erkenntnis des möglichen Guten oder Bösen, das aus seinen Handlungen folgt, bestimmen und braucht deshalb außer der natürlichen Verbindlichkeit kein weiteres Motiv seines Handelns. 31 Die Furcht vor Strafe ist deswegen bei Wolff - wie übrigens schon bei Grotius „für sich genommen noch kein Konstitutionsmerkmal" der Moralität, sondern bezeichnet vielmehr ein „praktisches Mittel zur Hervorbringung normkonformen Verhaltens, das immerhin in der Lage sein soll, einen unverzichtbaren Minimalbestand von Sittlichkeit zu gewährleisten". 32 Nur am Rande sei bemerkt, daß in der neuzeitlichen Naturrechtslehre der Begriff der Verbindlichkeit (obligatio) bzw. derjenige der Verpflichtung vom Begriff der Pflicht (officium) deutlich unterschieden ist, obwohl im heutigen Sprachgebrauch des Deutschen beide Termini weitgehend als Synonyme behandelt werden: -

27 28 29 30 31 32

33 34

die (passive) Verbindlichkeit drückt die moralische Notwendigkeit einer Handlungs- oder Unterlassungsweise, 33 die aus einem Gesetz hervorgeht, aus; demgegenüber bezeichnet die Pflicht die konkrete, vom Gesetz gebotene Handlung. 34

Ebd., § 153; vgl. auch § 128. Härtung, (wie Anm. 8 ) , S. 131. Wolff, Grundsätze, (wie Anm. 7), § 38. Ders., Philosophieι practica universalis /, (wie Anm. 5), 2, § 129. Ders., Deutsche Ethik, (wie Anm. 6), § 38. Grunert, Frank, Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000, S. 104. Vgl. Wolff, Philosophia practica universalis I, (wie Anm. 5), § 118. Ebd., § 2 2 4 .

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Wolff selbst hat die Einführung eines neuartigen Begriffs der obligatio naturalis als seine eigentliche Leistung auf dem Gebiet der praktischen Philosophie betrachtet.35 In der Ausfihrlichen Nachricht heißt es hierzu: Ich habe einen allgemeinen Begriff von der Verbindlichkeit gegeben, dergleichen man bisher nicht gehabt, und, da er wie alle wahre und deutliche Begriffe fruchtbar ist, daß sich daraus alles herleiten lässet, was von der Verbindlichkeit erkandt werden mag, daraus erwiesen, daß in der Natur des Menschen und der Beschaffenheit der freyen Handlungen eine Verbindlichkeit gegründet sey, welche ich die natürliche nenne, und die auch derjenige erkennen muß, welcher entweder GOTT nicht erkennet, was er für ein Wesen ist, oder wohl gar leugnet, daß ein GOTT sey. Ob ich nun aber gleich mit Grotio und unsern Theologis behauptet, daß auch in hypothesi impossibili athei, oder, bey der unmöglichen Bedingung, daß kein GOtt seyn solle, ein Gesetze der Natur eingeräumet werden müsse, um diejenigen ihrer Thorheit zu überzeugen, welchen die Atheisterey deswegen anstehet, weil sie alsdenn ihrer Meynung nach leben möchten, wie sie wolten; so bin ich doch weiter auf gestiegen und habe gezeiget, daß der Urheber dieser natürlichen Verbindlichkeit GOTT sey und daß er über dieses den Menschen noch auf andere Weise verbindet seine Handlungen dergestalt zu dirigiren, damit sie zu seiner, j a des gantzen menschlichen Geschlechts und der gantzen Welt Vollkommenheit gereichen. In soweit uns nun GOtt verbindet, haben wir ihn als den Gesetzgeber des natürlichen Rechts anzusehen. 3 6

Im folgenden möchte ich einige Aspekte der Wölfischen Verbindlichkeitstheorie besonders hervorheben. Auffällig ist zunächst Wolffs Rehabilitierung der klassischen scholastischen Lehre der Perseitas, d.h. der Lehre von der an sich seienden Wesenheit des Guten und Schlechten, die in seiner Behauptung, er habe durch seinen neuartigen Begriff der natürlichen Verbindlichkeit „erwiesen, daß die Handlungen der Menschen an sich nothwendig gut oder böse sind, keines Weges aber erst durch den Befehl oder das Verboth eines Oberen gut oder böse werden",37 deutlich zum Ausdruck kommt. Von dieser Behauptung weiß Wolff natürlich, daß auch sie in erster Linie gegen die Pufendorfische Naturrechtslehre gerichtet ist, denn Pufendorf war in der Nachfolge von Hobbes als entschiedener Gegner der Lehre von der ,perseitas', aufgetreten. Nach dieser Lehre sind bestimmte Handlungen an sich, d.h. unabhängig vom gesetzgebenden Willen eines Oberherrn, moralisch gut oder böse seien, so daß z. B. Diebstahl, Ehebruch, Inzest usw. auch unabhängig von einer gesetzlichen Bestimmung ,an sich und ihrer Natur nach' schlecht seien.38 Pufendorf hatte die Perseitas-Lehre abgelehnt, weil sie nach 35 36

37

38

Ders., Deutsche Ethik, (wie Anm. 6), Vorrede zur zweiten Auflage. Ders., Ausfiihrliche Nachricht, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 5), Abt. I, Bd. 9 (1973), § 137. Ders., Deutsche Ethik, (wie Anm. 6), Vorrede zur zweiten Auflage. - Daß diese Konzeption der ,moralitas objectiva' bzw. der .bonitas ac malitia intrinseca actionum' (ders., Philosophia practica universalis 1, [wie Anm. 5], §§ 55ff.) auf die Scholastik zurückgeht, hat Wolff selbst betont, vgl. ders., Ausführliche Nachricht, (wie Anm. 36), § 137. Zur Perseitas vgl. auch ders., Philosophia practica universalis /, (wie Anm. 5), § 172; ders., Grundsätze, (wie Anm. 7), § 15. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik II, 6; Thomas von Aquin, Summa Theologica II, 2, qu. 57 a, 2 ad 2; Grotius, De jure belli ac pacis I, 1, § 10, 5. Zur Kritik dieser Auffassung vgl. schon Hobbes, De cive VI, 19.

Wolffs Begriff

der natürlichen

Verbindlichkeit

s e i n e r A u f f a s s u n g z u e i n e r k ü n s t l i c h e n u n d irreführenden U n t e r s c h e i d u n g

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s c h e n d e m ius naturale u n d d e m ius d i v i n u m p o s i t i v u m fuhrt: Aliqui objectum juris naturalis constituunt illos, quibus per se inest moralis necessitas aut turpitudo, quique adeo in sua natura debiti aut illiciti, eoque à DEO necessario praescripti aut vetiti intelliguntur. Qua nota distare tradunt j u s naturale non ab humano tantum jure, sed § à divino voluntario seu positivo; quod non ea praecipit aut vetat, quae per se ac suapte natura debita sunt aut illicita, sed vetando illicita, praecipiendo debita facit. Lege enim naturali quae vetantur, non ideo turpia esse, quia DEUS vetuit, sed ideo DEUM ista vetuisse, quia in se erant turpia. Sic & quae eadem lege praecipiuntur, non ideo honesta aut necessaria fieri, quia à DEO praecipiuntur, sed ideo praecipi, quia in se sint honesta. Vid. Grotius 1. 1. c. 1. § 10.

Statt d e s s e n ist P u f e n d o r f der A u f f a s s u n g , d a ß d i e „ratio f o r m a l i s " u n s e r e s m o r a l i schen Urteils über die moralische Gutheit b z w . Schlechtigkeit einer Handlung durch e i n G e s e t z b e d i n g t ist, s o d a ß e i n e H a n d l u n g dann als gut b e z e i c h n e t wird, w e n n s i e m i t d e m G e s e t z ü b e r e i n s t i m m t , als s c h l e c h t d a g e g e n , w e n n s i e v o n i h m abweicht.40 W a s n u n d e n G e l t u n g s g r u n d der o b l i g a t i o naturalis a n g e h t , s o l i e g t er fur W o l f f n i c h t in der P r o m u l g a t i o n b z w . in d e r A u f e r l e g u n g durch e i n e n ü b e r g e o r d n e t e n B e f e h l s h a b e r , s o n d e r n in der t e l e o l o g i s c h g e d a c h t e n , a u f V e r w i r k l i c h u n g der V o l l k o m m e n h e i t abzielenden Natur als solcher, s o daß e s nach W o l f f s A u f f a s s u n g die s o v e r s t a n d e n e N a t u r s e l b s t ist, d i e u n s d a s natürliche G e s e t z a l s v e r b i n d l i c h e N o r m u n s e r e s H a n d e l n s auferlegt. 4 1 Ich kann hier n i c h t a u f d i e P r o b l e m e e i n g e h e n , d i e m i t d i e s e m o n t o l o g i s c h e n B e g r i f f der N a t u r u n d mit d e m P r i n z i p der V e r v o l l k o m m n u n g als o b e r s t e m praktischen Prinzip e i n h e r g e h e n . 4 2 A n d i e s e r S t e l l e m a g e s h i n r e i c h e n , a u f d i e E i n s i c h t K a n t s z u v e r w e i s e n , d a ß das Prinzip der V o l l k o m m e n h e i t b z w . die F o r d e r u n g der V e r v o l l k o m m n u n g z w a r s e h r w o h l e i n Prinzip der Ethik darstellt, d a ß e s aber k e i n e s w e g s a l s j u r i d i s c h e s Prinzip der B e s t i m m u n g d e s ä u ß e r e n F r e i h e i t s g e b r a u c h s taugt u n d d e s h a l b n i c h t in d i e R e c h t s l e h r e g e h ö r t 4 3

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Pufendorf, De jure naturae et gentium, (wie Anm. 4), II, 3, § 4. Ebd., I, 7, § 3: ..Actionem bonam dicimus, quae cum lege congruit: malam, quae ab eadem discrebat". Vgl. Welzel, Hans, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 4 1962, S. 137; Vanda Viorillo, Tra Egoismo e Socialità. Il Giusnaturalismo di Samuel Pufendorf, Neapel 1992, S. 145; siehe auch Behme, Thomas, Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie, ihrer Grundlagen und Probleme. Göttingen 1995, S. 54f. Wolff, Deutsche Ethik, (wie Anm. 6), §§ 9, 12; ders., Grundsätze, (wie Anm. 7), §§ 36, 38; ders., Philosophia practica universalis /, (wie Anm. 5), § 129. Zum Moralprinzip der Vollkommenheit vgl. Schröer, Christian, Naturbegriff und Moralbegründung. Die Grundlegung der Ethik bei Christian Wolff und deren Kritik durch Immanuel Kant, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, S. 84ff., 91ff., 107ff, 114ff. u. ö.; Winiger, Bénédict, Das rationale Pflichtenrecht Christian Wolffs. Bedeutung und Funktion der transzendentalen, logischen und moralischen Wahrheit im systematischen und theistischen Naturrecht Wolffs. Berlin 1992, S. 192f., S. 243ff.; Schwaiger, Clemens, Vollkommenheit als Moralprinzip bei Wolff, Baumgarten und Kant, in: Michael Oberhausen (Hg.), Vernunftkritik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 317-328. Vgl. hierzu Geismann, Georg, Ethik und Herrschaftsordnung. Tübingen 1974, S. 41 f.

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Im Unterschied zu der voluntaristischen Lehre Pufendorfs hat Wolff also die moralische Qualität des Handelns mit Bezug auf den Vollkommenheitsbegriff bestimmt: Bonum est, quicquid nos statumque nostrum perficit seu, quod perinde est, quicquid nos ac statum nostrum internum & externum perfectiores reddit (Psychol, emp. § 554). Quicquid enim bonum verum est, id nos statusque nostrum revera perficit (§ 557). (Psychol, empir. § 564) Quicquid nos statumque nostrum sive internum, sive externum imperfectiores reddit, malum est. (Psychol, empir. § 565) Was unsern so wohl innerlichen, als äusserlichen Zustand vollkommen machet, das ist gut (§ 422 Met.); hingegen was beyden unvollkommener machet, ist böse (§ 426 Met.). 4 4

Die „Vollkommenheit unser und unseres Zustandes" wird auch als „die letzte Absicht aller unserer freyen Handlungen, und die Haupt-Absicht in unserm ganzen Leben" bezeichnet. 45 Wolff selbst hat den Begriff der Vollkommenheit als die Quelle seiner praktischen Philosophie („fons philosophise meae practicas") bezeichnet. 46 Bei diesem Begriff handelt es sich der Sache nach um eine ontologische Kategorie, hier geht es aber um seine „praktische Nutzanwendung". 4 7 Diese ontologische Verankerung der Konzeption der natürlichen Verbindlichkeit dient dazu, den Unterschied von guten und bösen Handlungen „als unabhängig von der menschlichen Konvention und unabhängig von einer besonderen göttlichen Autorität aufzuzeigen", 4 8 letztlich also dazu, die Autonomie der praktischen Philosophie zu gewährleisten. Der zweite Aspekt der oben zitierten Selbsteinschätzung aus der Ausführlichen Nachricht über die Einführung des Begriffs der obligatio naturalis, der hier kurz angeführt werden soll, betrifft die im 17. und 18. Jahrhundert äußerst kontrovers diskutierte Frage des Verhältnisses von Atheismus und Moralität bzw. Wolffs Umgang mit der sogenannten hypothesis impossibilis athei. 49 Mit der Konzeption der obligatio naturalis greift Wolff zugleich das Erbe der Grotianischen Naturrechtslehre auf. Anders als Pufendorf kann sich Wolff die in Grotius' ,etiamsi da-

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Wolff, Deutsche Ethik, (wie Anm. 6), § 3; ders., Philosophia practica universalis I, (wie Anm. 5), § 55; ders., Grundsätze, (wie Anm. 7), §§ 13-15. Ders., Deutsche Ethik, (wie Anm. 6), § 40. Ders., Philosophia moralis sive Ethica, Pars V, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 5), Abt. II, Bd. 16 (1973), Prasfatio. Zu Wolffs Begriff der Vollkommenheit vgl. Schwaiger, Clemens, Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu den Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung [FMDA] II, 10), S. 93ff., der insbesondere den Einfluß von Leibniz' Kritik an Wolffs früher Ethikkonzeption herausarbeitet. Schwaiger, (wie Anm. 46), S. 94. Schröer, (wie Anm. 42), S. 144. Vgl. hierzu v. Vf., Die Grenzen der Toleranz, (wie Anm. 3), S. 239f.

Wolffs Begriff

der natürlichen

Verbindlichkeit

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remus' Formel ausgedrückte These des hypothetischen Atheismus zu eigen machen50 und betonen, daß die N o r m e n des Naturrechts e w i g und unveränderlich sind und deshalb auch v o n Gott nicht geändert werden können.5' Der besondere N u t z e n d i e s e s B e g r i f f s der o b l i g a t i o naturalis l i e g t n a c h W o l f f darin, d a ß i h m ein jeder vemünffiiger Mensch, auch ein Atheist selbst, Platz geben muß, und solchergestalt gewiesen wie man die Bewegungs-Gründe von der Schändlichkeit und Schädlichkeit der Laster, und im Gegentheile von der Vortrefflichkeit und dem Vortheile der Tugend darzu gebrauchen kan: wodurch diejenigen von den Atheisten beschämet werden, welche gern nach ihren Lüsten und Begierden leben wollen, und also meinen, wenn kein GOTT wäre, würde kein Unterschied mehr unter Tugenden und Lastern seyn. 52 D u r c h d i e A b l ö s u n g der M o r a l v o m g ö t t l i c h e n W i l l e n b z w . v o n der M o r a l t h e o l o g i e liefert W o l f f e i n e n w e s e n t l i c h e n B e i t r a g z u e i n e m n e u e n V e r s t ä n d n i s der M o ralität: d i e s e b e s t e h t für ihn - w i e später für K a n t - nicht in der Ü b e r e i n s t i m m u n g u n s e r e r H a n d l u n g e n m i t d e m natürlichen G e s e t z , s o n d e r n in der Ü b e r e i n s t i m m u n g u n s e r e s W i l l e n s , mit d e m , w a s d a s n a t ü r l i c h e G e s e t z fordert. Moralität ist a l s o für W o l f f d i e A u s r i c h t u n g d e s e i g e n e n W i l l e n s in Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t d e m natürlic h e n G e s e t z . In d i e s e m S i n n e erklärt W o l f f in der D e u t s c h e n Ethik: Weil wir durch die Vernunfft erkennen, was das Gesetze der Natur haben will; so braucht ein vernünftiger Mensch kein weiteres Gesetz [als das natürliche], sondern vermittels seiner Vernunft ist er ihm selbst ein Gesetz. 53 M a n c h e Interpreten s i n d in b e z u g a u f W o l f f s e t h i s c h e G e s e t z g e b u n g der A u f f a s s u n g , d a ß e s s i c h hierbei s c h o n u m e i n Konzept

der Autonomie,

d.h. der S e l b s t g e -

s e t z g e b u n g i m K a n t i s c h e n S i n n e h a n d e l e , w e i l j a a u c h W o l f f v o n der T h e s e a u s g e h t , d a ß der m o r a l i s c h e M e n s c h k e i n e a n d e r e n G e s e t z e anerkennt, a l s d i e j e n i g e n , d i e er s i c h s e l b e r gibt. S 4 In der Tat s i n d d i e Fortschritte d e s W o l f f s c h e n Moralitäts-

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Wolff, Deutsche Ethik, (wie Anm. 6), §§ 5, 20. - Zum Konzept des hypothetischen Atheismus siehe Schröder, Winfried, Die Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. I62f., der gezeigt hat, daß Grotius' Formel schon im 17. Jahrhundert zur Rechtfertigung atheistischer Lehren aufgegriffen wird. Ders., Philosophia practica universalis /, (wie Anm. 5), § 282: „Deus non potuit homini praescribere legem naturali contrarium"; ders., Deutsche Ethik, (wie Anm. 6), § 29. Ebd., Vorbericht zur dritten Auflage, § 4. Ebd., § 24; ders., Philosophia practica universalis /, (wie Anm. 5), § 268: „Homo ratione Valens & utens sibimetipsi lex est". - Schröer, (wie Anm. 42), S. 213: „Der Schlüssel zum Kern der Wolffischen Moralbegründung liegt somit in der These, der vernünftige Mensch sei kraft seiner Vernunft sich selbst das Gesetz und brauche darüber hinaus keine weiteren Gesetze", siehe auch Joesten, (wie Anm. 6), S. 27ff. Schmucker, Josef, Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen. Meisenheim am Glan 1961, S. 40. Ähnlich Poser, Hans, Die Bedeutung der Ethik Christian Wolffs für die deutsche Aufklärung, in: Theoria cum praxi. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis im 17. und 18. Jahrhundert. Akten des III. Internationalen LeibnizKongresses, Hannover, 12. bis 17. November 1977, B d . l : Theorie und Praxis. Politik, Rechtsund Staatsphilosophie. Wiesbaden 1980, S. 215f.

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begriffs nicht zu übersehen: Aus der Autonomie der Moralphilosophie folgt nicht unmittelbar eine Ethik der Autonomie. Es ist zwar richtig festzustellen, daß Wolffs praktische Philosophie auf dem Prinzip der Autonomie der Moralphilosophie, d.h. ihrer Unabhängigkeit von theologischen Voraussetzungen?55 Aber weder diese Autonomie der Moralphilosophie noch Wolffs Konzept der Moralität als innere Willensbestimmung des Menschen reichen hin, um aus seiner Moralphilosophie eine Ethik der Autonomie - jedenfalls im Kantischen Sinne - zu machen. Wolffs Aufstellung des Grundsatzes der Autonomie der Moral und der Bestimmung der Moralität als Gehorsam gegenüber dem selbstgegebenen Gesetz hat nichts mit Kants Formel der Autonomie des Willens als dem obersten Prinzip der Moral zu tun. Denn Wolffs oberster moralischer Grundsatz ist ein materiales Prinzip, das vom Standpunkt der Kantischen Ethik unter die Heteronomie des Willens fällt.56 Wolffs Ethik beruht vielmehr auf dem Prinzip der Selbstbindung, durch die sich der Mensch kraft eigener Vernunft unter das natürliche Gesetz stellt. Zwar ist es auch bei Wolff die Willensbestimmung durch eigene Vernunft, die das Wesen der Moralität ausmacht. Aber wozu diese Vernunft den Willen bestimmt, ist keineswegs die Übereinstimmung der Handlungsmaximen mit der „eigenen allgemeinen Gesetzgebung des Willens",57 sondern nur die Übereinstimmung der Maximen mit einem Gesetz, das dem Willen selbst als universale Norm vorausliegt.58 Wolffs Moralphilosophie beruht also nicht auf dem Prinzip der Selbstgesetzgebung, durch die der Mensch qua praktischer Vernunft sein Wollen und Handeln einem Gesetz unterwirft, sondern auf der von dem Prinzip der Autonomie zu unterscheidenden Prinzip der Selbstbindung an ein dem Willen systematisch vorhergehendes Gesetz, dessen Geltungsgrund nicht die praktische Vernunft, sondern die teleologische Verfaßtheit von Welt und Natur ist.59 Allerdings ist Wolffs Versuch, den Gedanken der Selbstbindung bzw. der Selbstverpflichtung des Individuums durch sich selbst in der praktischen Philoso55

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In diesem Sinne spricht Clara Joesten, (wie Anm. 6), S. 26ff. von der „Autonomie der Moral" bei Wolff. Daß die Aufstellung einer autonomen Moral (im Sinne der Bekämpfung anderer, z.B. theonomer Moralprinzipien) von Kants Setzung des Prinzips der Autonomie des Willens als alleinigem Prinzip der Sittlichkeit zu unterscheiden ist, hat mit Nachdruck Klaus Reich betont, siehe Klaus Reich, Kant und Rousseau, in: Neue Hefte für Philosophie 29 (1989), S. 86f. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Kant's Werke (Akademieausgabe), hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff., Abt. I, Bd. 4 (1911), S. 431. Zu dieser für das Verständnis des Unterschieds zwischen Wolffs und Kants praktischer Philosophie entscheidenden Differenz zwischen Selbstbindung und Autonomie vgl. Geismann, Georg, Sittlichkeit, Religion und Geschichte in der Philosophie Kants, in: Jahrbuch fur Recht und Ethik/ Annual Review of Law and Ethics 8 (2000), S. 44 If. Zum Verhältnis von Wolffs Vollkommenheitsprinzip zu Kants Begriff der Autonomie siehe auch Schröer, (wie Anm. 42), S. 196-206. Vgl. Rod, Wolfgang, Die deutsche Philosophie im Zeitalter der Aufklärung: I. Christian Wolff, in: Wolfgang Rod (Hg.), Geschichte der Philosophie, Bd. VIII: Die Philosophie der Neuzeit, 2: Von Newton bis Rousseau. München 1984, S. 252.

Wolffs Begriff der natürlichen

Verbindlichkeit

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phie zu etablieren, 60 mit einer Reihe von Problemen behaftet. Ich brauche hier nur an den Kantischen Einwand zu erinnern, daß das oberste Prinzip der Sittlichkeit unmöglich selbst materialer Natur sein kann. Zum anderen kann gefragt werden, was es bedeuten soll, daß die Natur die Quelle der natürlichen Verbindlichkeit ist und sie uns zu bestimmten Handlungen verpflichtet. Hierbei besteht das Problem nicht nur darin, wie wir erkennen können, was uns die Natur vorschreibt, sondern die Vorstellung, daß die Natur als solche einen gesetzgebenden bzw. normativen Willen haben könnte, ist selbst problematisch. 61 Ebenso unbefriedigend scheint mir schließlich Wolffs Verhältnisbestimmung von praktischer Philosophie und Moraltheologie zu sein. Während die rein rationale Begründung der Normen im Rahmen der Philosophia practica universalis die Verpflichtungskraft des Naturrechts allein aus dem „Wesen des Menschen und der Dinge" ableitet, betrachtet die Theologia naturalis die natürlichen Gesetze als Ausfluß des göttlichen Willens. Obwohl Wolff behauptet, daß der Grund der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes nicht im Willen Gottes liege, sondern „ihren hinreichenden Grund in dem Wesen und der Natur des Menschen und der Dinge" 62 hat, hat er immer daran festgehalten, daß man die Normen des natürlichen Rechts auch als Gebote Gottes und somit Gott als den Autor und den Gesetzgeber des natürlichen Gesetzes betrachten könne. 63 Dementsprechend thematisiert Wolff in der Theologia naturalis eine von der obligatio naturalis unterschiedene obligatio divina, dergemäß der Mensch verpflichtet ist, „seine freien Handlungen nicht nach seiner Willkür, sondern gemäß dem Willen Gottes einzurichten." 64 Der Grund für den Rückgriff auf Gott als Urheber und Gesetzgeber des natürlichen Gesetzes liegt in Wolffs Überzeugung, daß die Existenz der Menschen und der Welt im ganzen nicht an sich selbst notwendig ist, sondern als kontingente Erscheinungen auf Gott als ihre notwendige Ursache verweisen. 65 Dementsprechend erklärt er in der Deutschen Metaphysik: „Wenn Gott nicht wäre, so wären keine Menschen und auch kein Recht der Natur". 66 Beide Weisen der Begründung der Verbindlichkeit - die philosophische und die moraltheologische - stehen nach Wolffs Verständnis nicht in einer begründungstheoretischen Konkurrenz, sondern sie unterscheiden sich nur durch ihre jeweiligen Gesichtspunkte. Klammert man 60 61 62 63

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Joesten, (wie Anm. 6), S. 26ff. Vgl. hierzu Winiger, (wie Anm. 42), S. 271 ff. Wolff, Grundsätze, (wie Anm. 7), § 38; vgl. hierzu Winiger, (wie Anm. 42), S. 179. Wolff, Philosophia practica universalis l, (wie Anm. 5), §§ 273ff.; ders., Grundsätze, (wie Anm. 7), § 4 1 . Ders., Theologia naturalis, Pars II, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 5), Abt. II, Bd. 7.2 (1978), § 974: „Homo obligatus est ad actiones liberas non ex suo arbitratu, sed secundum voluntatem Dei determinandas". Bissinger, Anton, Zur metaphysischen Begründung der Wolffschen Ethik, in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Wolff 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hamburg 1983 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 4), S. 153. Wolff, Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik, (wie Anm. 14), § 364 Anm. Vgl. Bissinger, (wie Anm. 65), S. 154.

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die ontologische Problematik der Kontingenz der Welt allerdings aus, dann behält die praktische Philosophie den Charakter einer autonomen Wissenschaft. Dies wiederum bedeutet, daß der Rückgriff auf Gott als Urheber der Welt im Hinblick auf die Frage nach der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes systematisch überflüssig ist.67

III. Zum Zusammenhang von Psychologie und Moralphilosophie Eine Besonderheit von Wolffs praktischer Philosophie liegt in ihrer engen Verknüpfung mit der empirischen Psychologie. Diese Verknüpfung besteht genauer gesagt darin, daß Wolff in seiner praktischen Philosophie, insbesondere in seiner Verbindlichkeitstheorie, im umfassenden und systematischen Sinne Gebrauch von Begriffen und Konzeptionen macht, die zuvor in der empirischen Psychologie als einem Teil der Metaphysik entwickelt worden sind. Insbesondere die für die Ethik wie die Rechtslehre konstitutiven Lehren über den Willen und die Willensfreiheit haben hier ihren Ort. Diese Begründungsfunktion hat Wolff an verschiedenen Stellen seines Œuvres mit Nachdruck betont. In der Ausführlichen Nachricht von seinen eigenen Schriften, derjenigen Schrift, die gewissermaßen den Schlußstein seiner deutschsprachigen Werke bildet, hat Wolff auf die entsprechende Bedeutung der Psychologia empirica hingewiesen. Aus diesem Teil der Psychologie, der von demjenigen handelt, „was man von der Seele aus der Erfahrung erkennet", könnten - so Wolff - „wichtige Wahrheiten" abgeleitet werden, und zwar nicht nur die „Regeln der Logick, darnach der Verstand in Erkäntniß der Wahrheit geleitet wird, sondern auch die Regeln der Moral, darnach man den Willen des Menschen zum Guten lencket und vom Bösen zurücke hält". Diese Grundlagenfunktion der empirischen Psychologie erklärt Wolff ausdrücklich für „etwas neues [...] dessen [man] noch nicht gewohnet" sei.68 Auch in den Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik betont Wolff, daß „der Nutzen dessen", was in der empirischen Psychologie „gelehret wird, [...] sich hauptsächlich in der Moral" zeige.69 Auch in der Psychologia empirica selbst betont Wolff den besonderen, bisher aber noch nicht erkannten Nutzen der empirischen Psychologie in der Untersuchung und 67

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Wolff, Theologia naturalis II, (wie Anm. 64), § 975 Anm.: „Obligationen! hic deducimus ex volúntate Numinis tanquam Domini nostri, cum hic tantummodo agatur de obligatione divina, non autem de naturali, quam íIii contradistinctam explicabimus in Philosophia practica universali. Absit itaque ut quis sibi persuadet, nos in eorum abiisse sententiam, qui negata actionum intrinseca honestate ac turpitudine nullam in homine obligationem quoad directionem actionum liberarum agnoscunt, quam qu£e est a superiore." Ders., Ausführliche Nachricht, (wie Anm. 36), § 89; vgl. auch Psychologia empirica, (wie Anm. 14), § 509. Ders., Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik, (wie Anm. 14), § 55 (ad § 191 der Deutschen Metaphysik)·, vgl. auch § 69 (ad §§ 226f. der Deutschen Metaphysik) sowie § 131 (ad § 406ff. der Deutschen Metaphysik).

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Entwicklung des Begriffs des natürlichen Rechts und der natürlichen Verbindlichkeit, insbesondere aber ihren Nutzen im Hinblick auf die Pflichten gegen die Seele, die ohne die Erkenntnis der Seelenvermögen nicht angemessen aufgestellt werden könnten. 70 In § 945 der Psychologia empirica erklärt Wolff dieselbe zum „fundamentum philosophies moralis & civilis ac juris naturalis". Schließlich gibt auch Wolffs Definition der Philosophia practica unversalis als einer „Scientia affectiva practica dirigendi actiones liberas per regulas generalissimas", 71 also als einer „affektiven und praktischen Wissenschaft zur Lenkung der freien Handlungen durch allgemeinste Regeln" einen entscheidenden Hinweis: als scientia affectiva stützt sich die Philosophia practica universalis auf die Ergebnisse der empirischen Psychologie und thematisiert so die Art und Weise, wie der Wille zum Guten bestimmt wird. Wo liegt der Grund für diese enge Verknüpfung von Psychologie und Moralphilosophie? Auf den ersten Blick scheint eine solche Verknüpfung nichts Neues zu sein: so hatten Hobbes oder Pufendorf in unterschiedlichen Zusammenhängen in ihren Naturrechtslehren von psychologischen Voraussetzungen Gebrauch gemacht: Hobbes z. B. hatte seiner Lehre „de cive" eine Lehre „de homine" vorausgeschickt; Pufendorf hatte im Hinblick auf die Frage der juridischen Zurechenbarkeit von Handlungen eine ausfuhrliche Theorie der Freiheit des menschlichen Willens entwickelt. Dennoch bin ich der Auffassung, daß die Psychologie als Grundlagenoder Fundierungstheorie der praktischen Philosophie bei Wolff eine ungleich größere Bedeutung besitzt als bei seinen Vorgängern. Der Grund für diese tragende oder fundierende Rolle der Psychologie im Hinblick auf die praktische Philosophie liegt, so meine These, in Wolffs bereits angedeuteten Verständnis der Ethik im weitesten Sinne begründet, nämlich als einer praktischen Wissenschaft, durch welche der Mensch seine freien Handlungen gemäß dem natürlichen Gesetz einrichten kann.72 Der Rückgriff auf die empirische Psychologie erfolgt deshalb zur Beantwortung der Frage, welche Motive vorhanden sein müssen, um den Willen „zur Ausübung der Tugend und [zur] Verhinderung der Laster" zu bestimmen. 73 Damit die praktische Philosophie diese Steuerungs- bzw. Lenkungsleistung erbringen kann, müssen allerdings in psychologischer Hinsicht zwei Voraussetzungen gegeben sein,

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Ders., Psychologia empirica, (wie Anm. 14), Praefatio, p. 14*: „Habet etiam usum Psychologia empirica insignem, sed hactenus non animadversum in ipsa notione juris naturalis & oblig a t i o n s naturalis investigenda & evolvenda: qui denuo ex Philosophia practica universali elucescet. Immo in Jure naturali nobilissima pars officiorum erga seipsum, quie scilicet officia erga animam complectitur, nondum perspectis penitus a n i m a facultatibus rite constituí nequit". Ders., Philosophia practica universalis I, (wie Anm. 5), § 3; vgl. Winiger, (wie Anm. 42), S. 132. Ders., Ethica, (wie Anm. 46), I, Prolegomena, § 1 : „scientia practica, quo homo libere actiones suas ad legem naturae componere potest". Ders., Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik, (wie Anm. 14), § 55.

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1) daß der Intellekt den Primat über den Willen besitzt und folglich der Wille wie in der scholastischen Psychologie - als „appetitus rationalis", d.h. als vernunftbestimmtes Begehren verstanden werden muß, 74 2) und daß aus diesem Grunde der Wille durch die Vorstellung der guten oder bösen Folgen, die mit einer Handlung verbunden sind, bestimmt wird: „Motiv des Willens ist das durch den Intellekt vorgestellte". 75

IV. Das Problem der Indifferenz In Wolffs intellektualistischer Willenslehre erscheint der Wille als die „Neigung des Gemüthes gegen eine Sache um des Guten willen, das wir bey ihr wahrzunehmen vermeinen". Demgegenüber ist das Nicht-Wollen die „Zurückziehung des Gemüthes von einer Sache um des Bösen willen, das wir bey ihr wahrzunehmen vermeinen". 76 Das eigentliche Problem dieser von Wolff behaupteten Ausrichtung des Willens an der Vorstellung des Guten, das in den begehrten Objekten liege, liegt nun in der Frage, in welchem Verhältnis die Seele zu den von ihr vorgefundenen und ihrer Willensbildung vorausgehenden Motiven ihrer Handlungen steht. Wolff behauptet, daß der Wille durch die Vorstellung des Guten determiniert wird, so daß wir es hier nur mit der psychologischen Kausalität der Handlungen, ihrer durch die Vorstellung bedingten psychologischen oder motivationstheoretischen Notwendigkeit zu tun haben, ohne daß deutlich würde, wie sich diese psychologische Nötigung von einer irgendwie gearteten moralischen Nötigung unterscheidet. Weil die Beantwortung dieser Frage nach den Auswirkungen der Psychologisierung des Verbindlichkeitsbegriffs eine umfassende Darstellung von Wolffs empirischer Psychologie voraussetzen würde, die ich hier nicht leisten kann, möchte ich mich im folgenden statt dessen auf ein Sonderproblem der Wölfischen Psychologie beschränken, nämlich auf das Problem der Indifferenz. Dieses Problem läßt meines Erachtens einige Probleme der Wolffschen Psychologie besonders deutlich hervortreten und bildete - wie Bruno Bianco in seinem schon zitierten Beitrag gezeigt hat - denn auch einen der zentralen Streitpunkte in der Auseinandersetzung mit den Hallenser Theologen, weil hier die unterschiedlichen Auffassungen der Konfliktparteien über das Verhältnis des Willens zu den 74 75

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Ebd., § 155; ders., Psychologia empirica, (wie Anm. 14), § 880. Bissinger, (wie Anm. 65), S. 153. - Die für die empirische Psychologie wichtigen Unterscheidungen zwischen dem oberen und unterem Teil der Seele (Wolff, Christian, Oratio de Sinarum philosophia practica, hg. v. Michael Albrecht. Hamburg 1985, S. 35), zwischen dem appetitus sensitivus (vgl. ders., Psychologia empirica, [wie Anm. 14], §§ 579ff.) und appetitus rationalis und zwischen der idea boni confusa und distincta (ebd., § 890) soll hier nicht weiter betrachtet werden. Ders., Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik), in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 5), Abt. I, Bd. 2 (1983), §§492f.

Wolffs Begriff

der natürlichen

Verbindlichkeit

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i h m v o r a u s g e s e t z t e n M o t i v e n u n d ü b e r d a s P r o b l e m der M ö g l i c h k e i t e i n e r W i l l e n s e n t s c h e i d u n g bei g e g e b e n e r I n d i f f e r e n z der B e w e g u n g s g r ü n d e b e s o n d e r s d e u t lich z u T a g e treten. W a s d a s P r o b l e m der I n d i f f e r e n z u n d der W i l l e n s f r e i h e i t b e trifft, s o besteht unter d e n Interpreten i m w e s e n t l i c h e n Ü b e r e i n s t i m m u n g in der Ü b e r z e u g u n g , d a ß W o l f f d e n W i d e r s p r u c h z w i s c h e n d e m P r i n z i p der d u r c h g ä n g i g e n D e t e r m i n i e r t h e i t aller D i n g e i m R e a l z u s a m m e n h a n g der W e l t a u f der e i n e n , u n d der g l e i c h z e i t i g e n B e h a u p t u n g der S p o n t a n e i t ä t u n s e r e r W i l l e n s h a n d l u n g e n 7 7 a u f der anderen S e i t e , trotz aller B e t e u e r u n g e n n i c h t w i r k l i c h g e l ö s t hat. 7 8 Ich m ö c h t e h i n z u z u f ü g e n , d a ß er ihn a u f der G r u n d l a g e s e i n e r m e t a p h y s i s c h e n V o r a u s s e t z u n g e n a u c h gar n i c h t l ö s e n k o n n t e . Ich w e r d e v e r s u c h e n z u z e i g e n , daß d i e E i n w ä n d e s e i n e r G e g n e r , j e n s e i t s der p f a f f i s c h e n G e s i n n u n g , d i e in i h n e n z u m A u s d r u c k k o m m t , tatsächlich d i e s e n s y s t e m a t i s c h e n S c h w a c h p u n k t v o n

Wolffs

praktischer P h i l o s o p h i e g e t r o f f e n h a b e n . Im Z e n t r u m der z e i t g e n ö s s i s c h e n P o l e m i k s t e h e n u.a. d i e f o l g e n d e n , e n g m i t e i n ander v e r k n ü p f t e n B e h a u p t u n g e n W o l f f s ,

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d a ß der W i l l e a l s e i n e „ N e i g u n g d e s G e m ü t e s g e g e n e i n e S a c h e u m d e s G u t e n w i l l e n , d a s w i r bei ihr w a h r z u n e h m e n v e r m e i n e n " ( D e u t s c h e M e t . § 4 9 2 ) , verstanden werden müsse,

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daß e s keine Handlung o h n e B e w e g g r ü n d e gäbe bzw. „daß wir allzeit B e w e gungs-Gründe brauchen, warum wir etwas wollen",79

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Ders., Psychologia empirica, (wie Anm. 14), § 933: „Spontaneitas est principium sese ad agendum determinandi intrinsecum." Vgl. z. B. Arndt, Hans Werner, Einleitung, zu Wolff, Christian, Deutsche Ethik, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 5), Abt. I, Bd. 4, hier S. VIII: „Auf ontologischer Ebene gilt jedoch, daß die Kontingenz zwar die absolute Notwendigkeit der Wesenheiten der Dinge negiert, welche in allen möglichen Welten dieselbe ist, daß aber .Kontingenz' nur ein anderer Name für die .hypothetische' Notwendigkeit ist, unter der alles in dieser Welt Existierende und somit auch alles Geschehen, als durch den Realzusammenhang aufeinanderfolgender Weltzustände determiniert, unter der Voraussetzung eines ersten, von Gott geschaffenen Weltzustandes steht. Den Zwiespalt, der in Wolffs Philosophie besteht zwischen der Behauptung der Spontaneität unserer Willensakte und freien Handlungen einerseits, und der vollständigen Determiniertheit aller Ereignisse und Zustände der Dinge im Realzusammenhang andererseits, hat Wolff ebensowenig wie Leibniz überwunden." Ders., Ausßihrliche Nachricht, (wie Anm. 36), § 96; S. 265; vgl. auch ders., Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 6), § 508. - Vgl. hierzu schon Leibniz, Brief an des Bosses vom 8. Februar 1711: „Omnino statuo potentiam se determinandi sine ulla causa, seu sine ulla radice determinationis implicare contradictionem uti implicat relatio sine fundamento; ñeque hinc sequitur metaphysica omnium effectum necessitas. Sufficit enim, causam vel rationem non esse necessitatem metaphysice, etsi metaphysice necessarium sit, ut aliqua sit talis causa." (Leibniz, Gottfried Wilhelm, Die philosophischen Schriften, hg. v. C. I. Gerhardt. 7 Bde. Berlin 18751890, Bd. 2 [1879], S. 420) - Von daher erfolgt Wolffs Kritik am seiner Auffassung nach falschen Begriff der Freiheit als Überwindung der Indifferenz, vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 511 : „Falscher Begrif von der Freyheit. Es irren demnach diejenigen, welche die Freyheit erklären durch ein Vermögen aus zwey widersprechenden Dingen eines sowohl als das andere zu erwehlen, ohne das ein Bewegungs-Grund vorhanden, warum man eines für dem anderen er-

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daß gleichwohl die Seele durch das Vorliegen entsprechender Beweggründe nicht nezessitiert wird {Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik, § 165), und daß schließlich beim Vorliegen gleichwertiger Beweggründe keine Willensentscheidung möglich sei, weil es kein Motiv gäbe, das hier den Ausschlag geben könnte. 80

Es ist eigentlich die Anwendung des metaphysischen Prinzips des zureichenden Grundes auf das Problem der willentlichen Handlungen, das den Streitpunkt zwischen Wolff und seinen Gegnern bildet. Den Zusammenhang zwischen der Notwendigkeit des Vorliegens von Beweggründen für eine Willensentscheidung auf der einen und dem ontologischen Prinzip des zureichenden Grundes hat Wolff selbst an verschiedenen Stellen deutlich hervorgehoben. 81 Für eine solche Willenslehre, wie sie Wolff im Anschluß an Leibniz vertritt, mußte nun die alte Frage, ob es im Zustand der Indifferenz eine Entscheidung des Willens geben könne, von besonderem Interesse sein. Es ist nun kein Zufall, daß ausgerechnet das Problem der Indifferenz, bei welchem die metaphysischen Voraussetzungen der Wolffschen Psychologie besonders deutlich hervortreten, von Wolffs schärfstem Kritiker, dem Theologen Joachim Lange, zum zentralen Gegenstand seiner Denunziation gemacht wurde. 82 Im Unterschied zu Wolff sieht Lange nämlich in der Behauptung, daß irgendein Motiv als notwendiger Bestimmmungsgrund der Entschließung des Willens vorangehen müsse, den Inbegriff einer deterministischen Psychologie, die ihrerseits nur eine „mechanische Moral" zur Folge haben könne. Gerade eine von äußeren Bewegungsgründen unabhängige Willensentscheidung sei das Signum der Freiheit des menschlichen Willens: Ein anders ist etwas wollen, oder nicht wollen ohne alle Bewegungs-Gründe, und ein anders in gleichgültigen Bewegungs-Gründen von beyden Theilen dennoch etwas wollen, oder erwählen. Denn dort sind gar keine Bewegungs-Gründe: hie aber sind und bleiben sie dergestalt, daß die Bewegungs-Gründe des einen theils durch die Gleichgültigkeit des andern theils an sich selbst nicht aufgehoben werden. Und in solcher Gleichgültigkeit ist die Seele schuldig, dahin zusehen, ob sie nicht durch eine unparteyische Überlegung, oder berathfragung mit andern, es bey

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wehlet. Nehmlich vermöge dessen, was weitläufig ausgefuhret worden, ist dergleichen Vermögen sowohl der Vernunft (§ 369), als der Erfahrung (§ 325) zuwider." Ders., Psychologia empirica, (wie Anm. 14), § 889: „Sine motivis nulla datur in anima volitio, nulla nolitio. Sunt enim motiva rationes sufficientes actuum volitionis ac nolitionis (§ 887)"; ders., Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 6), § 510: „Wie nun vermöge des zureichenden Grundes kein Ausschlag bey der Wage erfolgen kan, wofeme nicht das eine Gewichte durch eine Zulage verstärcket wird; so kan auch von der Seele keines von beyden gewehlet werden, worferne nicht zu den bereits vorhandenen Bewegungs-Gründen von einer Seite noch etwas hinzu kommet." Siehe unten. Vgl. hierzu Schröder, Kurt, Das Freiheitsproblem bei Leibniz und in der Geschichte des Wolffianismus. Diss. Halle 1938, S. 87f. - Die Wurzeln des Indifferenzproblems reichen bis in die antike Philosophie zurück. Für Leibniz ist dieses Problem eng mit der Position des Skeptikers Kameadeas verknüpft, vgl. Theodizee, § 322.

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sich dahin bringen könne, daß sie zu dem einen Theil mehr bewogen werde, als zum andern. Kan sie es dahin nicht bringen; so bedienet sie sich ihrer Freyheit und erwehlet eines von beyden; und zwar insoweit aus ihrem blossen Gefallen, weil sie auch das andere erwehlen konte: aber doch an sich nicht ohne radones; als welche sie bey dem erwehlten Theile findet. Wenn man nun der Seele das Vermögen abspricht in der Gleichgültigkeit gleichsam hindurch zufahren und nach ihrem Gefallen eines vor dem andern zuerwehlen, so spricht man ihr ihre Freyheit ab. Welches unser Herr Auetor § 5 0 8 [der Deutsche Metaphysik] thut. [...] Die Freyheit ist dasjenige Vermögen der Seele, nach welchem sie ohne innere Nothwendigkeit und äussern Zwang erwehlet und thut, was und wie es ihr beliebet, also daß, was sie gethan, sie auch hätte lassen, und was sie gelassen, hätte thun können. 8 3

In der philosophischen Literatur des 17. und 18. Jahrunderts wird das Problem der Indifferenz durch zwei Gleichnisse illustriert. Das eine ist der berühmte Esel Buridans, anhand dessen Leibniz das Problem der Indifferenz diskutiert hatte: 84 Ein Esel, der zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten und auch sonst ununterscheidbaren Heubündeln stünde, müßte verhungern, weil es keinen Beweggrund gäbe, der seinen Willen in die eine oder andere Richtung bestimmen könnte. Weil die Heubündel als Objekte des Wollens wegen ihrer Ununterscheidbarkeit keine spezifischen Beweggründe aufweisen, sei der Wille des Esels in diesem Falle paralysiert. Keines der beiden Heubündel sei in der Lage, dem Willen ein Motiv für die Bevorzugung des einen vor dem anderen zu liefern. Andreas Dorschel hat darauf aufmerksam gemacht, daß es zunächst verdächtig erscheinen könnte, daß das Dilemma der Indifferenz ausgerechnet an dem Tier illustriert wird, das nach hergebrachter Auffassung als das dümmste gilt.85 Daß ausgerechnet der Esel diesen Part übernimmt, hängt mit der Funktion des Gleichnisses zusammen, nämlich die Behauptung zu konterkarieren, daß sich der vernünftige Wille nach der Qualität des begehrten Objekts richtet. Denn nimmt man diese Prämisse ernst, dann ergibt sich als unvernünftiges Resultat die Paralyse des Willens, weil von zwei gleichgearteten Objekten kein hinreichender Bestimmungsgrund für eine Willensentscheidung ausgeht. Das Gleichnis von Buridans Esel stellt also die Annahme, daß der Wille sich nach der Qualität seiner Inhalte richtet bzw. seine Entscheidung dadurch bestimmt würde, in Frage. Es bestreitet die Angemessenheit der Prämisse, indem es aus ihr eine absurde Schlußfolgerung zieht. Anders bei Leibniz, der in der Théodicée das Gleichnis von Buridans Esel disku-

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Lange, Joachim. Bescheidene und ausführliche Entdeckung der falschen und schädlichen Philosophie in dem Wolffianischen Systemate Metaphysico von Göll, der Welt, und dem Menschen [...], in: Wolff, Christian, Gesammelte Werke, Abt. III, Bd. 56 (1999), S. 134f„ 138 (Nachdr. der Ausgabe Halle 1724). Zum folgenden, besonders zur Rolle von Buridans Esel in der deterministischen Psychologie vgl. Dorschel, Andreas, Die idealistische Kritik des Willens. Versuch über die Theorie der praktischen Subjektivität bei Kant und Heget. Hamburg 1992, S. 92ff. - Zu Leibniz' Behandlung der Indifferenz vgl. Platz, Barbara, Fatum et libertas. Untersuchungen zu Leibniz' .Theodizee' und verwandten Schriften sowie Ciceros ,De fato'. Phil. Diss. Köln 1973, bes. S. 127ff. sowie Axelos, Christos, Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz. Berlin / N e w York 1973, S. 237ff., 324ff. Vgl. hierzu und zum folgenden Dorschel, (wie Anm. 84), S.92f.

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tiert, um es gegen die in ihm formulierten Einwände zu retten. Diese Rettung bestätigt aber im Grunde genommen die kritische Pointe des Gleichnisses, daß der Wille durch den Inhalt seines Wollens bestimmt würde, nur mit dem Unterschied, daß Leibniz die Schlußfolgerung der Willensparalyse bestreitet, weil wegen der Asymmetrie des Universums in der Wirklichkeit Situationen der Indifferenz nicht vorkommen könnten.86 Die Behauptung der völligen Indifferenz beruht darauf, daß diejenigen Eindrücke, die geeignet sind, die Waage aus dem Gleichgewicht zu bringen, auch ganz unmerklicher Art, „insensible", wie Leibniz sagt, sein können.87 Anders als Leibniz illustriert Wolff die Wirkungsweise der Motive auf den Willen nicht mit dem Gleichnis des Buridanschen Esels, sondern mit demjenigen der Waage, das ebenso häufig in der psychologischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts zu finden ist.88 Allgemein diente dieses Gleichnis zur Erläuterung der These von der Bestimmung des Willens durch den Willensinhalt und darüber hinaus im besonderen zur Verdeutlichung der Geltung des Satzes vom zureichenden Grund bezüglich der Willensentscheidungen. So wie die Waage nur nach der einen oder anderen Seite ausschlagen kann, wenn ein entsprechendes Gewicht vorhanden ist, das den Ausschlag gibt, so kann sich auch der Wille als eine „Neigung des Gemütes gegen eine Sache um des Guten willen, das wir bei ihr wahrzunehmen vermeinen" (Met. § 492), nur nach der einen oder anderen Seite neigen, wenn ein entsprechender Bewegungsgrund vorliegt. In der Deutschen Metaphysik (§ 494) heißt es folgendermaßen:

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Leibniz, Gottfried Wilhelm, Essais de Theodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l'Homme et l'Origine du Mal, in: ders., Die philosophischen Schriften, (wie Anm. 79), Bd. 6 (1885), § 49, S. 304; ders., Nouveaux Essais sur l'Entendement humain, in: ders., Die philosophischen Schriften, (wie Anm. 79), Bd. 5 (1882), II, 1, § 15: Leibniz bestreitet jedoch, daß „une entiere indifference dans les actions morales, comme celle de l'âne de Buridan" überhaupt möglich sei. Die Behauptung der völligen Indifferenz beruht nur darauf, daß diejenigen „impressions, capables d'incliner la balance", eben „insensibles", also unmerklich sind; vgl. auch ders., Théodicée, § 305: „Car quoique je ne voie pas toujours la raison d'une inclination qui me fait choisir entre deux partis qui paraissent égaux, il y aura toujours quelque impression, quoique imperceptible, qui nous détermine." - Vgl. hierzu die Position von Leibniz, dem Wolff in diesem Zusammenhang folgt: „Dans les choses indifferentes absolument, il n'y a point de choix, et par consequent point d'election ny volonté, puisque le choix doit avoir quelque raison ou principe" (Leibniz' viertes Schreiben, Antwort auf Dr. Clarkes dritte Erwiderung, § 1, in: Leibniz, Gottfried Wilhelm, Die philosophischen Schriften, [wie Anm. 79], Bd. 7 [1890], S. 371). Leibniz, Gottfried Wilhelm, Nouveaux Essais, (wie Anm. 86), II, 1, § 15: „Cependant je voy, qu'il en y a parmy ceux qui parlent de la liberté qui ne prenant pas garde à ces impressions insensibles, capables d'incliner la balance, s'imaginent une entiere indifference dans les actions morales, comme celle de l'âne de Buridan miparti entre deux près." - Ähnlich argumentiert Wolff (ders., Deutsche Metaphysik, [wie Anm. 76], § 508): „Denn es ist wohl zu mercken, daß die besondere Bewegungs-Gründe nicht allezeit jedermann in die Augen fallen, sondern unterweilen so vestecket sind, daß sie nur von einem Scharfsinnigen können hervor gesuchet werden, der nehmlich, wie oben (§ cit. [498]) erinnert worden, die Sachen genau zu betrachten gewohnet ist." Vgl. hierzu Dorschel, (wie Anm. 84), S. 86, 96f., 104.

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[...] Nehmlich [...] wenn wir wollen; so wird unser Gemiithe gegen die Sache geneiget: wenn wir nicht wollen, wird sie von ihr zurücke gezogen: wenn wir das Wollen unterlassen; so bleibet es gleichsam aufgerichtet und unbeweglich, daß es weder gegen die Sache geneiget, noch von ihr zurücke gezogen wird. Man kan es durch das Gleichniß von einer Wage erläutern. Wenn das Zünglein inne stehet; so ist es derjenige Zustand, welcher dem Zustande des Gemüthes gleichet, da wir weder wollen, noch nicht wollen. Giebet die Wage einen Ausschlag auf eine Seite, und das Zünglein neiget sich herüber; so ist es eben so, als wenn wir etwas wollen. Hingegen von der andern Seite, davon sich das Zünglein wegwendet, wird der Zustand vorgestellet, da wir nicht wollen. Und hiervon hat man die Redens-Arten genommen, wenn man von dem Willen redet. Das Problematische an der Verwendung dieses Gleichnisses liegt in der Vorstellung, daß Motive bzw. das stärkste Motiv, das die Entscheidung des Willens bestimmen soll, in dem Gleichnis als Realgründe, d.h. als Ursachen der Willensentscheidung gedacht werden. Deshalb legt dieses Gleichnis, ähnlich wie dasjenige von Buridans Esel, eine deterministische Theorie des Willens nahe, in welcher die Inhalte des Willens als dessen äußere, durch das Objekt bewirkte Ursache behandelt werden. Wie schon Hobbes, 8 9 Bayle 9 0 und Leibniz 91 ist auch W o l f f der Auffassung, daß die praktische Subjektivität in Analogie zur Funktionsweise der Waage vorgestellt werden könne: 92 So lange die Gewichte in beyden Wage-Schaalen gleich sind; so stehet die Wage inne, und kan auf keine Seite einen Ausschlag geben. Soll der Ausschlag erfolgen; so muß dem Gewichte auf der einen Seite etwas zugeleget werden. Die Wage stellet in diesem Gleichnisse die Seele vor, und die Gewichte sind auf die Bewegungs-Gründe zu deuten.93 Gegen diese, eine deterministische Konzeption des Verhältnisses des Willens zu den ihm vorausgesetzten Motiven implizierende Handlungstheorie wendet sich der Hauptwidersacher Wolffs, der Hallenser Theologe Joachim Lange: Das Gleichniß von der Wage scheinet zwar eine gute Erläuterung zugeben; es kan auch auf gewisse Art dazu nicht unfuglich gebrauchet werden: Wenn man es aber zuweit dehnet, so schicket es sich nicht mehr, sondern es verkehret die gantze Sache. Und das geschiehet sonderlich darinnen, wenn man, was bey der Wage nothwendig geschiehet, auch in gleicher notione der Nothwendigkeit auf die Seele appliciret. Denn da die Wage nicht ist ein Ding, so in seiner Freyheit stehet und handelt, also daß sie bey gleichem Gewichte in Bewegung kommen 89 90

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Hobbes, De cive, XIII, 16. Bayle, Pierre, Response aux questions d'un provençal, in: ders., Œuvres diverses, Hildesheim u.a. 1966 (Nachdruck der Ausg. Den Haag 1727), Bd. 3, Teil 2 (Dez. 1705), chap. 139, S. 782-785: „La liberté comparé à une balance". Leibniz, Gottfried Wilhelm, Fünftes Schreiben an Clarke, § 3 (Leibniz, Die philosophischen Schriften, [wie Anm. 79], Bd. 7, S. 389): „II est vray que les Raisons font dans l'esprit du sage, et les Motifs dans quelque esprit que ce soit, ce qui répond, à l'effect que les poids font dans une balance. On objecte, que cette notion mene à la nécessité et à la fatalité." Dorschel, (wie Anm. 84), S. 86, 96f.: „Der Kern des deterministischen Raisonnements [das im Gleichnis der Waage ausgesprochen wird] ist [...] dieser: Wie die Waage sich nicht nach einer Seite mehr als nach der anderen neigen könne, wenn die entgegengesetzten Gewichte gleich seien, könne ein Mensch sich nicht entscheiden, wenn die verschiedenen Motive gleichwertig seien." Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 76), § 509.

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und den Außschlag auf einer Seiten geben könne, sondern sich mit ihrem Zünglein n o t w e n dig in der Mitten halten; oder nach dem grössern Gewicht lencken oder sich ziehen lassen muß: Die Seele aber in der Freyheit stehet, daß, wenn sie die Bewegungs-Gründe von zwoen unterschiedlichen Handlungen betrachtet, sie nicht allein in der Gleichgültigkeit sich neigen kan, wohin sie will; sondern auch mit Misbrauch solcher ihrer Freyheit sich zu dem wenden kan, welches die schlechtesten und unförmlichsten rationes für sich hat: so siehet man wohl, daß sich daß Gleichniß von der Wage für die freye Handlungen der Seele gar nicht schicket. Solt aber die Seele besagte Freyheit, daß sie sich auch auf die Seite, so keine gültige rationes hat, wissentlich und vorsetzlich wenden könne, nicht haben; so fiele der Grund der Moralität über einen Haufen, und würde keine Imputation stat finden. Und diß ists, wohin der Herr Auetor mit diesem so sehr beliebten Gleichnisse gehet, oder führet. 9 4

Die Ausführungen Wolffs im § 510 der Deutschen Metaphysik lassen sich als Reaktion auf den Einwand Langes und anderer, daß das Gleichnis der Waage die Determination des Willens durch die Motive voraussetze und deshalb mit der Annahme der Willensfreiheit 95 unvereinbar sei, verstehen. Der Sache nach macht Wolff hierbei Gebrauch von der Leibnizschen Unterscheidung zweier Weisen der Notwendigkeit, gemäß welcher ein Motiv den Willen zwar zu einer Seite der Waage geneigt macht, aber ihn nicht nezessitiert: 96 Ich weiß wohl, daß einige in den Gedancken stehen, als wenn das Gleichniß von der Wage sich auf den Willen nicht schickte. Denn die Wage bewege sich nothwendig; hingegen die Seele sey im Wollen und nicht Wollen frey. Derowegen lasse sich ncht von dem nothwendigen auf das freye schliessen. Allein lieber! Wer schliesset von dem nothwendigen auf das freye? Wer sich dies einbildet, der verstehet das Gleichniß nicht. Die Vergleichung des Ausschlages der Wage mit dem Willen gehet nicht weiter, als in soweit sowohl jener als dieser einen zureichenden Grund haben muß (§ 30). Nehmlich so lange die beyden Gewichte gleich sind, wäre kein Grund vorhanden, warum die Wage vielmehr zur Rechten, als zur Linken einen Ausschlag geben solte. Und gleichergestalt verhält sichs mit dem Willen. So lange von beyden Theilen die Bewegungs-Gründe gleichgewichtig sind, wäre kein Grund vorhanden, warum man vielmehr das eine, als das andere erwehlete. Wie nun vermöge des zureichenden Grundes kein Ausschlag bey der Wage erfolgen kan, wofeme nicht das eine Gewicht durch eine Zulage verstärcket wird; so kan auch von der Seele keines von beyden gewehlet werden, wofeme nicht zu den bereits vorhandenen Bewegungs-Gründen von einer Seite noch etwas hinzu kommet. So weit gehet die Vergleichung, und bekümmert man sich wenig, ob bey der Wage der Ausschlag eine Nothwendigkeit hat: hingegen bey der Seele die Bewegungs-Gründe sie nicht nöthigen. Denn es ist nicht die Frage, ob die Bewegungs-Gründe ein Zwang sind, sondern ob einer von ihnen stärcker ist als der andere. Es schicket sich aber das Gleichniß von der Wage deswegen sehr wohl hieher, weil der Wille oben erkläret worden durch eine Neigung gegen die Sache vermöge des Guten, das wir in ihr wahrnehmen (§. 492) Denn diese Redens-Art ist genommen von einem Cörper, der durch eine Kraft von der senckrechten Linie gegen die Horizontal-Linie auf der einen Seite geneiget wird: welches auch bey dem Ausschlage der Wage geschiehet, wie bereits oben (§. 494) umständlich gezeiget worden. Unerachtet nun freylich dieses Wort eine besondere Bedeutung haben muß, wenn es von der Seele gebrauchet wird, weil die Begriffe der cörperlichen Dinge sich vor sie nicht reimen; so hebet doch dieses nicht die Aehnlichkeit auf zwischen demjenigen, was in der Seele zu finden, und dem cörperlichen,

94 95

96

Lange, (wie Anm. 74), S. 134f. [GW III, Bd. 56], Wolff, Psychologia empirica, (wie Anm. 14), § 941: „Animae libertas est facultas ex pluribus possibilibus sponte elegendi, quod ipsi placet, cum ad nullum eorum per essentiam determinata sit." Leibniz, Gottfried Wilhelm, Théodicée, in: ders., Die philosophischen Schriften, (wie Anm. 79), Bd. 6 (1885), S. 127 (§ 45).

Wolffs Begriff der natürlichen

Verbindlichkeit

165

als welche der Grund der Benennung ist. Worinnen aber die Neigung der Seele bestehe, kan alsdenn erst gezeiget werden, wenn ich die Natur der Seele werde erkläret haben. 9 7

Der Grund, daß Wolff gleichwohl am Gleichnis der Waage festgehalten und die These von der Notwendigkeit eines Motivs als Ausgangspunkt einer Willensentscheidung vertreten hat, ergibt sich systematisch zwangsläufig aus seiner Ontologie, nämlich aus der Anwendung des Prinzips vom zureichenden Grunde - „alles

97

Vgl. auch Wolff, Ausführliche Nachricht, (wie Anm. 36), § 96: „Indem ich die Indifferentiam perfecti asquilibri verwerffe, bediene ich mich, wie auch längst von andern geschehen, des Gleichnisses von der Wage. Damit man aber nicht wähnen möchte, als wenn man von materiellen Dingen auf die Seele schliessen wollen, so habe ich diesen Einwurff mit ausdrücklichen Worten umständlich gehoben und gezeiget, wie ohne dergleichen Schluß, den ich keineswegs billige, dieses Gleichnis zur Erläuterung des Willens dienen kan. Und demnach kommet es seltsam heraus, wenn man diesem Vorwurffe wider mich aufgezogen kommet als einer Sache, die ich nicht gesehen hätte, und erst von andern mir müsse vorgehalten werden. Noch wunderlicher aber kommet es heraus, wenn Herr D. Lange dieses thut und daraus gefährliche Consequentien ziehet, da er in seiner Medicina mentis dieses Gleichnis in dem anstößigen Verstände erkläret, den er mir aufbürden will." - Vgl. zur Kritik am Gebrauch des Gleichnisses von der Waage zur Illustration freier Willensentscheidungen auch Hommel, Karl Ferdinand, Über Belohnung und Strafe nach türkischen Gesetzen, hg. v. Heinz Holzhauer, Berlin 1970, § 20: „Ich weis gar nicht, welcher Schwindelgeist die Gelehrten herumgetrieben, daß sie die Wage als ein Bild der Freyheit vorgestellet haben. Es ist wahr, wenn kein Gewichte darinnen lieget, so sage ich: die Wage hänge frey. Sie ist nehmlich geschikt, sich zu rühren oder auch nicht zu rühren. Allein sie hat doch kein Vermögen sich selbst zu bewegen, worauf gleichwohl alles in allen ankommet. Denn, wenn ich ein Gewichte einlege, so muß die Wage sich schlechterdings bewegen. In Betrachtung dessen wüsste ich kein besser Vorbild, den Zwang und die N o t w e n digkeit anzudeuten, als eben die Wage, die man wunderbarer Weise als ein Beyspiel der Freyheit aufstellet [...]. Es ist nichts leichter zu bewegen, als eine Wage, und das Herniedersteigen der Schale so unumgänglich, daß nicht einmal das Gegentheil sich denken lässet. Ueberdies ist sie j a kein sich selbst bewegendes Ding, wie nach gemeiner Meynung die Seele, von der man glaubt, daß sie den Grund der Bewegung in sich selbst habe. Also ist die Wage ein ganz ungeschiktes Sinbild. Dieses Werkzeug, das nicht einer Pflaumfeder widerstehen kan, sol Freyheit bedeuten. Zwang, Schiksal, Nothwendigkeit läst sich darunter, nicht aber Freyheit bedeuten. [...] Was bey der Wage das Gewicht, dieses ist in der Geisterwelt und bey dem Willen eine gewisse Vorstellung des Verstandes, daß etwas zu thun gut sey; oder noch öfters, die Beschaffenheit meines Körpers, nehmlich thierische Triebe, so von den Säften und Geblüte abstammen. [...] Der eigentliche Begrif der Freyheit bestehet demnach nicht in der Geschiklichkeit, etwas zu wollen oder nicht zu wollen, sich zu bewegen oder nicht zu bewegen, etwas zu verlangen oder nicht zu verlangen, sondern in dem Vermögen etwas ohne eingelegtes Gewichte zu wollen und sich von selbst ohne äusere Triebe, kurz ohne alle Ursache, zu bewegen. Jenes nenne ich die leidende, dieses die thätige Freyheit. [...]" Im Unterschied zu Wolff interpretiert Hommel das Gleichnis der Waage - unter Anerkennung des Prinzips vom zureichenden Grunde - konsequent im Sinne des Determinismus: „Die eigentliche Frage lautet also: „ob unsere Seele ein Vermögen habe, ohne von ausen in sie erzeugte Vorstellungen, etwas von sich selbst zu thun? Dergleichen Vermögen ist in ihr nicht anzutreffen, weil sonst etwas ohne zureichenden Grund geschehen würde; sondern wie die Wage ohne eingelegtes Gewichte ewig stille stehet, so würde auch der menschliche Wille ewig tod seyn, wenn nicht von ausen her gewisse, durch nahe gelegte Dinge, entsprungene Vorstellungen ihn belebten. [...] Ich frage aber, ob es in der ganzen Welt auser Got, ein sich selbst bewegendes Ding d.i. ein solches gebe, das den Grund der Bewegung blos in sich selber habe?" (§ 22). Das „Gefühl der Freyheit" hält Hommel für ein bloßes Epiphänomen, vgl. § 22f.

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hat seinen zureichenden Grund, warum es ist"98 - auf die Lehre vom menschlichen Willen: 99 Denn wenn alles seinen zureichenden Grund haben muß, warum es vielmehr ist, als nicht ist; so muß es auch seinen zureichenden Grund haben, warum wir etwas wollen oder nicht wollen, gleichwie es unmöglich ist, daß eine Wage einen Ausschlag geben kan, wenn nicht ein Gewichte vorhanden, welches ihn verursachet. Diese Gründe nun des Wollens und nicht Wollens pflegen wir Bewegungs-Gründe zu nennen. 1 0 0

Dagegen würde die durch keinen in der Sache liegenden zureichenden Grund bestimmte Willensentscheidung eine Durchbrechung der Universalität des Kausalitätsgesetzes bedeuten und die Wolff dazu führt, Prozesse der Willensentscheidung in Analogie zum Verhältnis von Ursache und Wirkung im Naturgeschehen zu denken. Es ist also die zugrunde gelegte Vorstellung einer durchgängigen Bestimmtheit der Welt im Sinne eines durchgängigen Begründungszusammenhangs bzw. der durchgängigen Geltung des Satzes vom zureichenden Grunde, dessen Anwendung an dieser Stelle die Grundlage von Wolffs Psychologie bildet, keineswegs aber - wie Wolff intendiert - eine aus Erfahrung gewonnene Einsicht. Eine Willensentscheidung ohne Motiv erklärt Wolff für unmöglich, weil damit die universale Geltung des Satzes vom zureichenden Grunde aufgehoben wäre. Während Wolffs Verwendung des Gleichnisses der Waage eine deterministische Theorie des Willens zumindest nahelegt, tut er auf der anderen Seite alles, um diese deterministischen Konsequenzen abzuschwächen und zu verschleiern. Zum einen bestreitet er, daß mit den Bewegungsgründen eine „unvermeidliche Nothwendigkeit" einhergehe: Die Handlungen sind an sich nicht nothwendig, sondern nur zufällig; die Bewegungs-Gründe machen sie auch nicht nothwendig, sondern nur gewiß; und die Seele hat den Grund ihrer Handlungen in sich. [...] Sie bleibet auch von allem innerlichen Zwange, weil die BewegungsGründe keine unvermeidliche Nothwendigkeit haben, sondern die Seele auch noch davon abgehen kan, wie auch öfters wirklich geschiehet. 101

Auf der anderen Seite behauptet er zugleich, daß das Übergewicht eines Beweggrundes schon als solche die Entscheidung für die eine oder die andere Entscheidung herbeiführe, und zwar ganz unabhängig davon, ob sich das wählende Subjekt auch über die Gewichtung der Beweggründe ein deutliches Bewußtsein hat. Dies macht das von Wolff gegebene Beispiel deutlich, wonach jemand von zwei auf dem Tisch liegenden Dukaten bei der sonst unterstellten gleichen Beschaffenheit den „bequemer" liegenden ergreifen wird, weil „diese Bequemlichkeit" der bestim-

98 99 100 101

Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 76), § 3 1 . Vgl. hierzu Dorschel, (wie Anm. 84), S. 138f. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 76), § 496. Ebd., § 883.

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mende „Bewegungs-Grund" sei. Von diesem Beweggrund erklärt Wolff aber ausdrücklich, daß er dem Handelnden „verborgen bleibet". 102 Wolffs Psychologie leidet, so könnte man das Ergebnis der vorstehenden Überlegungen zusammenfassen, an einer durchgängigen „Konfusion über Ursachen und Gründe", in welcher die Gedanken, die sich jemand über die möglichen Gegenstände seiner Entscheidung macht und die insofern die Gründe seines Handelns sind, mit einer auf den Willen wirkenden Kausalität verwechselt werden, so als ob die Wahl mit den Ursachen, die angeblich auf den Willen wirken, zusammenfallen. 103 Die Erkenntnis, daß viele Willenstheorien des 18. Jahrhunderts auf einer „unstatthafte[n] Anwendung des Causalitätsverhältnisses auf Verhältnisse [...] des geistigen Lebens" beruhen, gehört einer späteren Epoche der Philosophiegeschichte an. Wir müßten dann über Hegel, von dem diese Kritik stammt, 104 und von seiner Philosophie des subjektiven Geistes sprechen, die u.a. eine Auflösung der Schwierigkeiten der rationalistischen Psychologie verspricht. 105 Das aber wäre ein anderes Thema.

102 103 104

105

Ebd., § 498. Dorschel, (wie Anm. 84), S. 139. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik (1812/13). Zweites Buch: Die Lehre vom Wesen, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968ff., Bd. 11 (1978), S. 400. Vgl. hierzu WolfT, Michael, Das Körper-Seele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389. Frankfurt/M. 1992.

ANDREAS THOMAS ( W u p p e r t a l )

Die Lehre von der moralischen Verbindlichkeit bei Christian Wolff und ihre Kritik durch Immanuel Kant I. Der Begriff der Verbindlichkeit ist ein Schlüsselbegriff der neuzeitlichen praktischen Philosophie, insofern diese den Begriff der Pflicht in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt und die Begründung und Entfaltung eines Systems von Pflichten des Menschen als den vorzüglichen Gegenstand ihrer Bemühungen annimmt. Der Begriff der Pflicht benennt eine bestimmte Handlung oder Handlungsweise, die für den Menschen notwendig ist, und zwar notwendig in praktischer Hinsicht, im Gegensatz zu einer Notwendigkeit, die durch Naturgesetze bestimmt ist. Der Begriff der Pflicht ist demnach der Begriff einer freien und doch zugleich praktisch oder moralisch notwendigen Handlung. Der Begriff der Verbindlichkeit wiederum bedeutet diese Notwendigkeit einer Pflicht-Handlung selbst, d.h. das Notwendig-Sein der Handlung für einen Menschen. Der Begriff der Verbindlichkeit bedeutet in diesem Sinne also einerseits das Sollen, unter dem ein Mensch steht, die Verpflichtung als das Verpßichtet-Sein, oder auch das praktische Genötigt-Sein des Menschen. In anderer Hinsicht besagt der Begriff der Verbindlichkeit zugleich aber auch das Gesollt-Sein (das Geboten- bzw. Verboten-Sein) einer Handlung, also deren praktische Notwendigkeit. Im Begriff der Verbindlichkeit werden somit zwei Aspekte unmittelbar verknüpft: einerseits nämlich das Verbunden- oder Verpflichtet-Sein des Menschen, andererseits das NotwendigSein einer Handlung. Der Begriff der Verbindlichkeit besagt somit, daß ein handelndes Subjekt zu einer bestimmten Handlung verpflichtet ist.1

Eine frühe terminologische Fixierung erfährt das im Deutschen mit „Verbindlichkeit" übersetzte lateinische Wort obligatio im Römischen Recht des Corpus Iuris Civilis durch die Bestimmung: „obligatio est iuris vinculum, quo necessitate adstringimur alicuius solvendae rei secundum nostrae civitatis iura" (Corpus Iuris Civilis: lnstitutiones Justiniani III, 13). Bezieht sich diese auf notwendige Weise bindende oder verpflichtende „Fessel des Rechts" im Römischen Recht in erster Linie auf privatrechtliche Schuldverhältnisse (etwa die Erbringung einer vertraglich vereinbarten Leistung), so gibt es doch auch in der Antike, nämlich schon bei seinem vermutlich ersten Auftreten bei Cicero, eine weitere Bedeutung des Begriffs obligatio, die sich auf allgemein sittliche Verhältnisse bezieht (etwa auf die institutionell nicht geregelte Dankesschuld). Im Zuge der scholastischen Diskussion des Begriffs der obligatio gewinnt dieser dann seine später maßgebliche Bedeutung im allgemeinen Sinne eines Unterworfenseins unter Normen (seien es naturrechtliche, ethische, religiöse etc.), in welchem Sinne sie dann in den Diskussionen des Naturrechts als obligatio naturalis, als natürliche Verbindlichkeit einen besonderen Stellenwert erlangt. Vgl. hierzu Schramm, Hans-Peter, „Obligatio" Verbindlichkeit. Die Bedeutungsentwicklung des Wortes „obligatio" zum ethischen Begriff bei Thomas von Aquin. Diss. Freiburg 1964. Vgl. ferner Härtung, Gerald, Die Naturrechtsdebatte. Ge-

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Angesichts dieser Zweiseitigkeit des Verbindlichkeitsbegriffs kann man diesen Begriff auch als den Begriff einer spezifischen Verbindung zwischen einer bestimmten Handlung oder Handlungsweise einerseits und dem Begehrungs- oder Handlungsvermögen des Menschen, d.h. dem Willen oder der Willkür, andererseits verstehen: Der Begriff der Verbindlichkeit besagt nichts anderes, als daß der Wille des Menschen - als Grund und Ursache aller seiner willkürlichen, d.h. auf seiner willentlichen Entscheidung beruhenden Handlungen - auf (praktisch) notwendige Weise mit einer bestimmten Handlung (oder Handlungsweise) verknüpft oder verbunden ist. Wenn ein Mensch unter einer Verbindlichkeit steht und ihm so eine bestimmte Handlung verbindlich ist, diese also notwendigerweise getan oder unterlassen werden soll, so wird sein Begehrungs- bzw. Handlungsvermögen an eine Handlung so gebunden, daß er diese notwendigerweise tun (oder unterlassen) soll. In den neuzeitlichen Moralphilosophien und Naturrechtslehren wird eine solche praktische Notwendigkeit für das Handeln auf unterschiedliche Weise begründet. Zumeist jedoch wird als Grund einer solchen Verbindlichkeit ein praktisches Gesetz verstanden, durch das eine Handlung notwendig gemacht wird.2 Das Gesetz macht eine Handlung notwendig, indem es aus der Menge der in einer Situation möglichen Handlungen eine bestimmte Handlung als notwendig zu tuende (oder zu unterlassende) ausweist und einem handelnden Subjekt die Ausführung (oder Unterlassung) dieser Handlung vorschreibt. Dabei kommt einem solchen praktischen Gesetz eine doppelte Funktion zu: es fungiert nämlich zum einen als eine allgemeine Regel zur Beurteilung von Handlungen daraufhin, ob diese Handlungen in moralischer Hinsicht richtig oder gut bzw. falsch oder böse sind. In dieser Hinsicht wird das Gesetz als principium diiudicationis von Handlungen verstanden. Das Gesetz fungiert jedoch zum anderen auch als Prinzip der Verbindlichkeit, indem es die als richtig oder gut beurteilte Handlung dem handelnden Subjekt vorschreibt. In diesem Sinne wird das Gesetz als eine Art Befehl oder als Grund eines Befehls aufgefaßt. Wenn wir den Begriff der Verbindlichkeit in moralphilosophischer Hinsicht untersuchen, so behandeln wir vordringlich die Frage, wie so etwas wie Verbindlichkeit überhaupt möglich ist. Wir untersuchen also, wie die im Begriff der Verbindlichkeit gedachte praktische Notwendigkeit einer Handlung begründet und wie

2

schichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg i.Br. / München 1998, v.a. S. 50ff. Vgl. z.B. Suárez, Francisco, Tractatus de legibus ac Deo legislatore, in: Corpus Hispanorum de Pace. Bde. 11-17. Madrid 1971-1977 (Nachdruck der Ausg. Coimbra 1612), I. c 5, § 20: „Lex est autem propria ratio obligationis"; Grotius, Hugo, De iure belli ac pacis libri tres, hg. ν. Β. J. A. de Kanter-van Hettinga Tromp. Aalen 1993 (Nachdruck der Ausg. Leiden 1939 [EA Paris 1625]), Lib. I, cap. I.IX: Lex est „Regula actuum moralium obligans ad id quod rectum est. Obligationem requirimus: nam Consilia et si qua sunt alia praescripta, honesta quidem sed non obligantia, legis aut iuris nomine non veniunt."

Die Lehre von der moralischen

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das Zustandekommen einer Verbindlichkeit erklärt werden kann. D.h. wir fragen danach, wie und unter welchen Bedingungen ein Gesetz Grund der Verbindlichkeit sein kann und auf welche Weise es dem Menschen eine bestimmte Handlung verbindlich macht, d.h. sein Begehrungsvermögen an eine bestimmte Handlung auf eine notwendige Weise bindet. Wenn wir sagen, daß ein Gesetz einem handelnden Subjekt eine Verbindlichkeit auferlegt, so behaupten wir, daß einem solchen Gesetz eine Art bindende oder verbindende Kraft zukommt, vermittelst deren der Mensch zu der Handlung verpflichtet wird. Wir müssen somit fragen, worin die den Willen eines handelnden Subjekts bindende Kraft moralischer Forderungen besteht und woher sie rührt. Wir müssen annehmen, daß mit dem Gesetz bzw. mit der Vorstellung des Gesetzes durch den Handelnden eine Triebfeder oder ein Motiv verbunden ist oder doch verbunden werden kann, das nicht nur zureichend sein kann, das Gesetz zu befolgen, sondern das auch tatsächlich einen zur Befolgung des Gesetzes anregenden und bewegenden Grund darstellt - selbst wenn es nicht notwendigerweise die Befolgung des Gesetzes garantieren kann. Denn wenn ein handelndes Subjekt aufgrund eines praktischen Gesetzes zu einer Handlung verpflichtet wird, so kann dies nur so gedacht werden, daß der Wille dieses Subjekts vermittelst eines solchen Gesetzes so an eine Handlung gebunden, d.h. zu einer Handlung verbunden wird, daß es für diesen Willen einen besonderen Grund gibt, der zureicht, das Subjekt zu dieser Handlung zu motivieren. Ein praktisches Gesetz spricht eine Notwendigkeit aus, in besonderer Weise zu handeln. Dabei handelt es sich aber, kantisch gesprochen, zunächst nur um eine „objektive" Notwendigkeit. Damit ein solches Gesetz aber darüber hinaus auch noch als ein Gebot oder Verbot, also als eine Art Befehl vorgestellt werden kann, muß dieses Gesetz selbst einen Grund enthalten oder mit einem Grund verknüpft werden können, der zu der in dem Gesetz gedachten oder aus diesem folgenden Handlung auch subjektiv nötigt, der also ein ausgezeichnetes Motiv darstellt, die Handlung zu tun. Ohne ein solches mit dem Gesetz verbundenes Motiv seiner Befolgung wäre das Gesetz ein gleichsam bloß theoretischer Satz oder ein Satz, der aussagt, was zufolge eines bestimmten Prinzips wünschenswert, vernünftig oder gut wäre zu tun, ohne daß darin so etwas wie eine praktische Notwendigkeit, eine vorschrifts- oder befehlsartige Nötigung, und also Verbindlichkeit gedacht und ausgesprochen wäre. Ohne ein ein praktisches Gesetz begleitendes und zumindest der Möglichkeit nach zu der Befolgung des Gesetzes antreibendes Motiv fehlte dem Gesetz somit jegliche verbindende Kraft. Das Problem einer philosophischen Begründung moralischer Verbindlichkeit überhaupt, bzw. das Problem der Begründung einer speziell ethischen sowie einer spezifisch natur- oder vernunftrechtlichen Verbindlichkeit, umfaßt also die Frage nach dem Inhalt dreier grundlegender, in der philosophischen Analyse zu unterscheidender Prinzipien sowie nach dem Verhältnis dieser Prinzipien und der Art ihres Fungierens. Diese Prinzipien sind (a) das principium diiudicationis, das zur Regel der Beurteilung von Handlungen hinsichtlich ihres Richtig- oder Gut-Seins

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dient, (b) das principium obligationis als der Grund der Verbindlichmachung von Handlungen nach einem Gesetz, und (c) das principium executionis, das einmal den handlungsmotivierenden Grund meint, der mit dem Gesetz verbunden ist oder verbunden werden kann, zum anderen aber auch den Grund, der ein handelndes Subjekt tatsächlich zum Handeln motiviert. (Diese letztere Unterscheidung ist insofern von Relevanz, als eine faktisch vorhandene und bestimmende Triebfeder zum gesetzmäßigen Handeln von einer mit dem Gesetz unmittelbar verbundenen oder gar in ihm selbst mit vorgestellten und vorgeschriebenen Triebfeder abweichen kann - wie dies z.B. in der Kantischen Ethik bei Handlungen der Fall ist, die zwar dem Gesetz gemäß sind, aber nicht um des Gesetzes willen ausgeführt werden.) In der philosophischen Tradition wird die verbindende Kraft praktischer Vorschriften auf unterschiedliche Weise konzipiert. Die verbindende Kraft wird z.B. gesehen in der Angst vor einem weltlichen oder göttlichen Gesetzgeber, der die Mißachtung seiner Vorschriften mit Strafe ahndet, oder in der Aussicht auf Belohnung, die für ein gesetzeskonformes Handeln in Aussicht gestellt wird. Hier ist es also die Angst vor Strafe oder die Aussicht auf Belohnung, durch die praktische Gesetze allererst ihre verbindende Kraft erhalten. Die Gesetze werden hier verstanden als Befehle, die ihren Befehlscharakter den durch den Gesetzgeber mit der Gesetzesbefolgung oder -Übertretung verbundenen Folgen des gesetzeskonformen bzw. gesetzwidrigen Handelns verdanken. Ähnliche Motive können sein die Erwartung eines persönlichen Vorteils, der nicht eine unmittelbare Belohnung gemäß dem Gesetz ist, oder die Vermeidung eines Übels, das nicht unmittelbar eine gesetzlich bedingte Strafe ist, wie es wesentlich utilitaristische Theorien annehmen. Man mag aber auch, wie es etwa in den Theorien eines moralischen Gefühls angenommen wird, eine spezifische, mehr oder weniger unmittelbare Lust, die aus der Befolgung des Gesetzes entspringt, als denjenigen Grund erkennen, der einer praktischen Regel ihre verbindende Kraft verleiht. In eine ähnliche Richtung gehen Theorien, die die verbindende Kraft praktischer Gesetze in die besondere Natur des Willens legen, ohne dabei aber so etwas wie einen besonderen moralischen Sinn oder ein spezifisch moralisches Gefühl vorauszusetzen. Eine solche Konzeption finden wir zum Beispiel in der Moralphilosophie des Christian August Crusius, 3 der im Rahmen seiner Moralphilosophie und Verbindlichkeitstheorie einen besonderen Trieb des Willens behauptet. Crusius nimmt an, daß das moralische Gesetz von Gott gegeben ist und daß erst durch den göttlichen Willen und durch das von diesem gegebene Gesetz Handlungen als gut oder schlecht bestimmt werden. 4 Er vertritt also eine voluntaristische Position

3

4

Vgl. Crusius, Christian August, Anweisung der Ausg. Leipzig 1744). Vgl. u.a. ebd., §§ 26f. und 172f.

vernünftig zu leben. Hildesheim 1969 (Nachdruck

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hinsichtlich der Bestimmung des Guten und seines Prinzips oder seiner Regel. Crusius behauptet darüber hinaus aber zugleich, daß dieses Gesetz seine verbindende Kraft allererst durch einen dem menschlichen Begehrungsvermögen innewohnenden Trieb zur Befolgung des göttlichen Moralprinzips erlangt. Crusius nennt diesen Trieb den „Gewissenstrieb".5 Erst dieser Trieb, vermittelst dessen wir unmittelbar eine Schuldigkeit zum Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz empfinden, verleiht dem göttlichen Gesetz die Eigenschaft, Grund einer gesetzlichen Verbindlichkeit zu sein und so den Menschen auf notwendige Weise zu entsprechenden Handlungen zu verbinden. Ohne einen solchen Trieb zur unmittelbaren Befolgung des göttlichen Gesetzes würden alle Gesetze nur eine Verbindlichkeit der Klugheit begründen. Eine solche Verbindlichkeit der Klugheit jedoch besteht allein darin, daß wir das Gesetz nur deshalb als einen uns als Motiv dienen könnenden Grund für unsere Handlungsbestimmung ansehen, weil wir durch ein entsprechend gesetzmäßiges Handeln einen spezifischen Nutzen, nämlich die Vermeidung von Nachteilen wie Strafe oder die Erzielung von Vorteilen wie Belohnung, erzielen.6 Der Grund der Verbindlichkeit liegt bei der Pflicht der Klugheit nur in „gewissen schon vorher von uns begehrten Endzwecken".7 Bei der wahren moralischen, nämlich der gesetzlichen Verbindlichkeit, der Verbindlichkeit der Tugend, liegt der Grund der Verbindlichkeit dagegen „in einem Gesetze und in unserer Schuldigkeit, dasselbe zu erfüllen". 8 Und diese Schuldigkeit wird erfahren durch und gründet selbst in einem spezifischen Trieb, nämlich einem Trieb, der uns zum Gehorsam gegenüber den göttlichen Gesetzen nötigt. Durch die Annahme eines solches Gewissenstriebs als Grund der Verbindlichkeit des von Gott gegebenen Naturgesetzes stellt sich Crusius sowohl gegen eine im letzten utilitaristische wie auch gegen eine strikt voluntaristische Begründungstheorie der moralischen Verbindlichkeit; er wendet sich damit aber explizit auch gegen eine auf das Prinzip des zureichenden Grundes gegründete Theorie praktischer Notwendigkeit und moralischer Verbindlichkeit, die einen moralischen Determinismus bedeutet, wie die Pietisten ihn Christian Wolff unterstellt haben.9 Auch Christian Wolff verankert die moralische Verbindlichkeit in der besonderen Natur unseres Begehrungsvermögens, ohne allerdings wie Crusius einen spezifischen Trieb des Willens anzunehmen, der dem Naturgesetz eine verbindende Kraft verleiht. Nach Wolff ist dem Willen aufgrund seines eigenen Wesens und 5 6 7 8 9

Vgl. v.a. ebd., §§ 132ff. und 174ff. Vgl. ebd., § 166. auch § 162. Ebd., § 1 6 2 . Ebd. ' Ohne daß Wolff ausdrücklich genannt wird, scheint Crusius an einigen Stellen mehr oder weniger direkt gegen Wolff Stellung zu nehmen. Vgl. u.a. ebd., § 27 und v.a. § 164. Inwiefern der Determinismus-Vorwurf gegen Wolff gerechtfertigt ist oder nicht, kann hier nicht diskutiert werden. Ebensowenig kann ich hier darauf eingehen, inwieweit die Gewissenstrieb-Theorie des Crusius nicht auch als eine besondere Variante der moral-sense-Theorie aufgefaßt werden kann.

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seiner Natur ein höchster und letzter Zweck vorgegeben, durch den alle seine besonderen Zwecksetzungen und Handlungen bestimmt werden. Es ist das den Willen leitende natürliche Streben nach Vollkommenheit, das zufolge der Wölfischen Konzeption ein handelndes Subjekt an bestimmte Pflichthandlungen bindet. Wie diese verbindlichkeitstheoretische Konzeption in ihren Grundzügen zu verstehen ist, soll im nachfolgenden Abschnitt II erläutert werden. Gegen eine derartige, in der Psychologie des Willens verankerte Theorie der Verbindlichkeit richtet sich die Moralphilosophie Immanuel Kants. Nach Kant kann die moralische Verbindlichkeit nicht durch die Annahme erklärt werden, daß der Wille durch ein bestimmtes, ihm natürlicherweise innewohnendes Interesse an bestimmte Zwecke oder Handlungen gebunden wird. Kants praktischer Rationalismus behauptet vielmehr, daß es die Vernunft selbst ist, die den Willen durch ihre apriorische praktische Gesetzgebung in Form von kategorisch gebietenden oder verbietenden Imperativen zu bestimmten Handlungen unmittelbar verbindet. Daß aber eine Regel der reinen praktischen Vernunft einen solchen Grund darstellt, der zureichend ist, den Willen zu einem bestimmten Handeln motivieren zu können, und so die reine praktische Vernunft den Willen durch ihre Gesetzgebung tatsächlich zu verbinden vermag, erklärt sich nach Kant durch die Autonomie des Willens, aufgrund deren der Wille eines vernunftbegabten Subjekts unmittelbar durch seine reine praktische Vernunft bestimmt werden kann und soll, wobei Kant als notwendiges Komplement zu seiner Lehre von der Autonomie die Lehre von dem Gefühl der Achtung entwickelt. Diesem besonderen Gefühl der Achtung vor der reinen praktischen Vernunft und ihrer Gesetzgebung, das durch die reine praktische Vernunft selbst gewirkt ist, wohnt diejenige motivationale Kraft inne, durch die der Mensch tatsächlich zu der Befolgung der Gesetze der reinen praktischen Vernunft bewegt werden kann.

II. Ich möchte in diesem Abschnitt sieben Gesichtspunkte der Moralphilosophie Christian Wolffs herausstellen, die für seine Theorie der Verbindlichkeit entscheidend sind. (1) Der erste wichtige Aspekt ist Wolffs Lehre von den an sich gut oder böse seienden Handlungen. Wolff unterscheidet zunächst zwischen sogenannten natürlichen und freien Handlungen. 10 Natürliche Handlungen sind solche, die durch das

10

Vgl. Christian Wolff, Philosophia practica universalis I, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u.a. 3 Abteilungen. Hildesheim u.a. 1962ff., Abt. II, Bd. 10.1 (1971) (Nachdruck der Ausg. Frankfurt u. Leipzig 1738), I, § 12, sowie ders., Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik),

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Wesen und die Natur von Körper und Seele notwendig bestimmt werden und die deshalb auch notwendige Handlungen genannt werden können. Diese natürlichen oder notwendigen Handlungen sind nicht in der Gewalt eines sich durch seinen freien Willen zum Handeln bestimmenden Subjekts; vielmehr erfolgen sie unabhängig von allen freien Entschließungen, indem sie allein aus den natürlichen, die Seele und den Körper regierenden Gesetzen resultieren. Als Beispiele solcher naturbedingter Handlungen fuhrt Wolff den Herzschlag oder die Absonderung des Urins in der Niere an. Die freien Handlungen stehen demgegenüber nicht so unter der Kausalität der Natur des Menschen und der Dinge, daß sie dadurch vollständig und hinreichend bestimmt werden. Diese Handlungen hängen insofern von der freien Seele ab, als sie erst aufgrund von Überlegung und durch einen willentlichen Entschluß des handelnden Subjekts getan werden. Da diese Unterscheidung von natürlichen und freien Handlungen und die Begründung der Möglichkeit von freien Handlungen erst eine praktische Zurechnung (imputatio) möglich macht, bildet sie eine grundlegende Voraussetzung aller praktischen Philosophie. Wichtig ist darüber hinaus aber, daß Wolff zufolge zwar das an sich bloß sinnliche Begehren oder Verabscheuen selbst nicht frei ist, sondern unter natürlichen Gesetzen steht, daß aber das vernünftige Begehren sich über die Bestrebungen der Sinne hinwegsetzen kann, insofern das Handeln nicht nur auf der Grundlage sinnlicher Vorstellungen, sondern auch durch vernünftige Erkenntnis bestimmt werden kann." Wolff nimmt nun an, daß die freien Handlungen an sich selbst entweder gut oder schlecht bzw. böse sind. 12 Handlungen sind aufgrund ihrer inneren Bestimmungen gut oder schlecht. Das Gut- oder Böse-Sein einer Handlung ergibt sich demnach nicht erst aus dem Verhältnis der Handlung zu einem Willen, durch dessen Bestimmungen die Handlung allererst gut oder böse wird. Es ist also nicht etwa ein menschlicher Wille, dessen Beschluß eine Handlung gut oder schlecht macht; und es ist auch nicht der göttliche Wille, durch dessen Ratschluß oder Befehl das Gut- oder Schlecht-Sein einer Handlung allererst entsteht. Die Güte einer Handlung ist eine innere wesentliche Eigenschaft der Handlung selbst und entspringt nicht aus irgendeiner Relation der Handlung zu einem Willen: „Per se bonum dicitur, quod bonum esse demonstran potest independenter a volúntate Dei vel hominis, qui nos obligandi jus habet." 13 Mit einer solchen Position wendet sich Wolff gegen einen Voluntarismus, der besagt, daß Handlungen nur aufgrund von

11 12

13

in: ders., Gesammelle Werke, (wie Anm. 10), Abt. I, Bd. 2 (1983) (Nachdruck der Ausg. Halle "1751 ['1720]), §§ 515 und 518. Vgl. ders., Philosophia practica universalis 1, (wie Anm. 10), § 14f. Vgl. ders., Vernünftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit (Deutsche Ethik), in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 10), Abt. I, Bd. 4, 1976, § 5 (Nachdruck der Ausg. Frankfurt u. Leipzig 4 1733 ['1720]). Ders., Philosophia practica universalis I, (wie Anm. 10), § 172.

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Gesetzen eines menschlichen oder göttlichen Gesetzgebers gut oder schlecht genannt werden können. Eine Handlung wird nach Wolff dann gut genannt, wenn sie zur Vollkommenheit des Menschen und der Welt überhaupt beiträgt. 14 Dies ist bei den freien Handlungen dann der Fall, wenn die Handlung mit dem Wesen und der Natur des Menschen bzw. der Dinge zusammenstimmt; und dies wiederum bedeutet, daß die Handlung in ihren wesentlichen Bestimmungen mit den in der Natur der Dinge liegenden Zweckbestimmungen übereinstimmt. Eine freie Handlung ist somit dann vollkommen, wenn sie aus denselben sie bestimmenden Finalgründen (rationes finales) erfolgt, wie die natürlichen Handlungen. 15 Denn da die natürlichen Handlungen als solche auf die Vollkommenheit des Menschen und der Dinge überhaupt ausgerichtet sind, die Vollkommenheit aber die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen nach einem Prinzip oder Grund ist,16 so dienen die freien Handlungen dann der Vollkommenheit, wenn ihre Gründe mit denen der natürlichen Handlung übereinstimmen. Eine Handlung wird mithin dann gut genannt, wenn sie in ihren wesentlichen inneren Eigenschaften mit der Natur des Menschen und der Dinge übereinstimmt. Demnach bestimmt sich die Güte einer Handlung aus ihrem Verhältnis zur Ordnung der Natur, die auf Vollkommenheit ausgerichtet ist, und das bestimmende Prinzip, die Regel oder das Kriterium der moralischen Qualität einer Handlung ist eben diese Vollkommenheit, mit der die Handlung zusammenstimmt oder nicht. (2) Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die Frage nach der Erkenntnis des Guten durch den Menschen. Handlungen können durch den Menschen auf zweierlei Weise als gut vorgestellt und erkannt werden. 17 Eine Handlung kann einerseits durch eine durch die Sinne gegebene Vorstellung als gut angesehen werden. Vermittelst unserer sinnlichen Natur empfinden wir angesichts der Vorstellung einer bestimmten Handlung ein Gefühl der Lust oder Unlust. Allein aufgrund dieser Lust- oder Unlustempfindung nehmen wir an, daß die Handlung gut, d.i. unserer oder anderer oder der Natur Vollkommenheit befördert. Bei dieser sinnengeleiteten Beurteilung einer Handlung können wir uns jedoch leicht täuschen, da die Sinne uns nur eine mehr oder weniger dunkle und verworrene Vorstellung von der moralischen Qualität der Handlung vermitteln. Etwas, z.B. die Vorstellung vom Genuß einer bestimmten Speise, kann uns ein Lustgefühl bereiten, das uns den wirklichen Genuß als eine gute Handlung erscheinen läßt. In Wirklichkeit aber mag der Genuß der Speise nur vorübergehend lustvoll sein, jedoch mit sehr unangenehmen Folgen behaftet. Die auf den Sinnen beruhende Erkenntnis der moralischen Qualität einer

14 15 16 17

Vgl. ebd., § 53; Deutsche Ethik, (wie Anm. 12), § 3. Ebd., §§ 125f. und 154f. Vgl. ders., Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 10), § 152. Vgl. ebd., §§ 404ff.

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Handlung ist also jederzeit der Gefahr unterworfen, eine bloße Scheinerkenntnis des Guten oder Schlechten zu sein, so daß die Handlung selbst nur scheinbar gut und der Vollkommenheit förderlich ist, in Wahrheit aber schlecht und der Vollkommenheit abträglich ist. Eine wirkliche, eine wahrhaftige oder wahre Erkenntnis von der Güte einer Handlung kann ich erst dann haben, wenn meine Erkenntnis auf rationalen Vorstellungen beruht. Nur dann kann ich mich über eine Handlung nicht täuschen und also eine sichere und ausfuhrliche Erkenntnis von ihr haben, wenn ich eine klare und deutliche Vorstellung von der Handlung habe und somit auch mir der Gründe klar und deutlich bewußt bin, gemäß denen die Handlung als gut oder schlecht bestimmt ist. Es ist die rationale Erkenntnis der Handlung, nämlich diejenige Erkenntnis, die ich vermittelst von Gründen habe, bei der ich mich nicht über die moralischen Eigenschaften der Handlung täuschen kann und die somit die alleinige sichere Grundlage eines wirklich guten Handelns sein kann. Dementsprechend garantiert auch nur eine deutliche Erkenntnis des Guten bzw. Vollkommenen eine dauerhafte Lust: „Nehmlich ein wahres Gut ist, so eine beständige Lust gewehret, die niemahls in Unlust verkehret wird: hingegen ein Schein-Gut, so nur eine veränderliche Lust bringet, die öfters in eine grössere Unlust verkehret wird." 18 Somit ist Vollkommenheit nicht nur das Prinzip im Sinne eines Wesensgrundes des wahrhaft Guten; es ist auch das einzig sichere Erkenntnisprinzip des wahrhaft Guten (und somit Garant der Lust), während die sinnenbedingte Lustempfindung jederzeit in der Gefahr steht, nur eine Scheinerkenntnis des Guten und Vollkommenen hervorzubringen. (3) Nach Wolffs Auffassung besteht das Naturgesetz als das allgemeine, oberste Prinzip der Moralphilosophie in der uns verbindenden Vorschrift: diejenigen Handlungen auszuführen, die an sich selbst der Vollkommenheit unserer selbst und der unseres Zustands dienen, bzw. die zur entsprechenden Unvollkommenheit fuhrenden Handlungen zu unterlassen. 19 Wir werden also durch dieses Naturgesetz einer entsprechenden Verbindlichkeit unterworfen: wir sollen die Vollkommenheit unserer selbst und unseres Zustandes befördern, bzw. wir sollen Handlungen vermeiden, die unserer und unseres Zustands Vollkommenheit nachträglich ist. Worin liegt nun die verbindende Kraft dieses Gesetzes der Natur? Warum sollen wir die Vollkommenheit als das Gute befördern? Wolff macht zunächst einmal deutlich, daß diese Kraft nicht aus einem gesetzgeberischen Akt eines gesetzge-

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19

Ebd., § 424. In einer entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung sieht Clemens Schwaiger die Unterscheidung von wahrer und scheinbarer Vollkommenheit als (etwa gegenüber Leibniz) durchaus originelle Leistung Wolffs - vgl. Schwaiger, Clemens, Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu den Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung [FMDA] II, 10), S. 113-120. Vgl. Wolff, Philosophiapractica universalis /, (wie Anm. 10), §§ 127f., 152.

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benden Willens resultiert, also nicht unmittelbar durch einen Akt des göttlichen Willens. 20 Das Gesetz der Natur, das uns in bestimmter Weise zu handeln vorschreibt, hat demnach Gültigkeit unabhängig von der Existenz und dem Willen Gottes; es hat diese Gültigkeit, weil es in der Natur der Dinge selbst gegründet liegt, die an sich rational ist und durch unsere Vernunft erkannt werden kann. Gesetze, die bloß aus einem gesetzgeberischen Akt eines Willens folgen, nennt Wolff gegenüber dem Gesetz der Natur und den daraus abgeleiteten besonderen Vorschriften des natürlichen Rechts positive Gesetze, deren Verbindlichkeit nur von dem Willen eines rationales Wesens abhängt und als eine Art der positiven Verbindlichkeit von einer natürlichen Verbindlichkeit unterschieden werden muß. Wie aber ist die natürliche Verbindlichkeit des Naturgesetzes zu verstehen? (4) Zur Klärung dieser Frage möchte ich zunächst als vierten Punkt den Begriff der Verbindlichkeit, wie Wolff ihn faßt, darstellen. Wolff unterscheidet nämlich zwischen einer aktiven und einer passiven Verbindlichkeit, zwischen einer obligatio activa und einer obligatio passivai Der Begriff der passiven Verbindlichkeit ist der Begriff einer moralischen Notwendigkeit in dem Sinne, wie ich den Begriff der Verbindlichkeit zu Beginn ganz allgemein erläutert hatte. Nach Wolff ist moralisch notwendig das, dessen Gegenteil moralisch unmöglich ist. Diese moralische Unmöglichkeit unterscheidet sich nun nach Wolff von einer natürlichen oder ontologischen Unmöglichkeit dadurch, daß das moralisch Unmögliche nicht an sich und aufgrund der Prinzipien von Wesen und Natur der Dinge und des Menschen unmöglich ist, sondern das moralisch Unmögliche ist unmöglich allein aufgrund einer spezifischen Bedingung. Als Bedingung der moralischen Unmöglichkeit fuhrt Wolff im Rekurs auf seine Theologia rationalis22 ein die Bedingung, daß die Handlung Richtigkeit haben muß. Eine Handlung ist dann moralisch unmöglich, wenn sie nicht unbeschadet ihrer Richtigkeit erfolgen kann. Diese Richtigkeit aber besteht in der Zusammenstimmung der Handlung mit den wesentlichen Eigenschaften des handelnden Subjekts. 23 Nun zeigt der Zusammenhang, in dem Wolffs

20

21 22

23

Vgl. ebd., §§ 129-151, v.a. 147ff., sowie 290. Wolff steht mit dieser Auffassung in der Tradition des berühmt-berüchtigten „etiamsi daremus" des Hugo Grotius, der behauptet hatte, daß das von ihm angenommene allgemeine Gesetz der Natur seine Gültigkeit und seine verbindende, verbindlichmachende Kraft auch dann besäße, wenn es Gott nicht gäbe. Vgl. Grotius, (wie Anm. 2), Prolegomena 11 : „Et haec quidem quae iam diximus, locum aliquem haberent etiamsi daremus, quod sine scelere dari nequit, non esse deum, aut non curari ab eo negotia humana" („Diese hier dargelegten Bestimmungen würden auch Platz greifen, selbst wenn man annähme, was freilich ohne die größte Sünde nicht geschehen könnte, daß es keinen Gott gäbe oder daß er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht bekümmere.") (dt. in der Übersetzung von Walter Schätzel. Tübingen 1950). Vgl. Wolff, Philosophiapractica universalis I, (wie Anm. 10), §§ 115ff. Vgl. ders., Theologia naturalis I, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 10), Abt. II, Bd. 7.1 (1978) (Nachdruck der Ausg. Frankfurt u. Leipzig 1739), § 952; vgl. auch ders., Philosophia practica universalis I, (wie Anm. 10), § 157. Vgl. ebd., § 64f. und Theologia naturalis /, (wie Anm. 22), § 950.

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Bestimmung des moralisch Unmöglichen und der daraus abgeleiteten Bestimmung des moralisch Notwendigen in seiner Natürlichen Theologie steht,24 daß eine Handlung deshalb richtig sein soll, weil er seine Handlungen so einrichten muß bzw. soll, wie es dem Willen Gottes gemäß ist, d.h. er ist verbunden, seine Handlungen nach dem Willen Gottes einzurichten. Und er ist dazu als ein Geschöpf, oder wie es heißt, als Knecht Gottes verbunden. Er ist also auch durch den Willen Gottes selbst verbunden. 25 Wenn Wolff aber in der Philosophia practica universalis ein auch durch Gott gegebenes Gesetz ein positives Gesetz nennt und ein solches von einem Gesetz der Natur mit einer natürlichen Verbindlichkeit unterscheidet, so muß es, wenn es (wie Wolff es selbst auch behauptet) ein uns unter eine natürliche Verbindlichkeit stellendes Gesetz der Natur geben soll, einen anderen, und zwar „natürlichen" Grund der Verbindlichkeit geben, einen Grund also, der nicht im Willen Gottes liegen kann und darf. Von der passiven Verbindlichkeit - der moralischen Notwendigkeit, eine bestimmte Handlung zu tun oder zu unterlassen - unterscheidet Wolff die aktive Verbindlichkeit. Diese aktive Verbindlichkeit besteht in der Verbindung eines Motivs mit einer Handlung. 26 Sie ist also gleichsam der Akt der Verbindlichmachung und liegt als ein solcher Akt der Auferlegung der moralischen Notwendigkeit der passiven Verbindlichkeit zugrunde. Die obligatio passiva entspringt der obligatio activa und hat diese also zur Voraussetzung. 27 Wie aber kann ein solcher Akt der Verbindung, der Verbindlichmachung einer Handlung verstanden werden, wenn er nicht dem Willen eines menschlichen oder göttlichen Gesetzgebers als einem Befehlshaber entstammt? Denn diese können nur eine positive Verbindlichkeit zustandebringen, nämlich dadurch, daß sie ein bestimmtes Handeln unter Strafe stellen oder mit einer Belohnung verbinden, so daß diese Strafe oder Belohnung dasjenige Motiv bildet, das mit der Handlung so verknüpft wird, daß aus diesem Akt der Verbindung als der aktiven Verbindlichkeit oder Verbindlichmachung die passive Verbindlichkeit entsteht. (5) An dieser Stelle kommt nun der fünfte Gesichtspunkt zum Tragen. Wenn es so etwas wie ein Gesetz der Natur mit einer natürlichen Verbindlichkeit soll geben können, also ein Gesetz, das nicht dem gesetzgebenden Willen eines Befehlshabers menschlicher oder göttlicher Natur entstammen und also eine bloß positive Verbindlichkeit haben soll, wie es in der voluntaristischen Theorie der Verbindlichkeit gedacht wird, gegen die sich Wolff mit seinen Ausführungen richtet, so muß es eine besondere Art der aktiven Verbindlichkeit, der Verbindlichmachung geben 24

25 26 27

In dem Abschnitt „De Jure Dei in Creaturas", ders., Theologia naturalis I, (wie Anm. 22), pars 2, cap. VI, §§ 950-1003. Vgl. ebd., §§ 970ff., v.a. 974. Vgl. ebd., § 118. Vgl. ebd., § 119.

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können. Und da die aktive Verbindlichkeit in der Verknüpfung eines Motivs mit der Handlung besteht, so muß es ein besonderes Motiv geben, durch das Handlungen, von denen das Naturgesetz sagt, daß ich sie tun soll, notwendig gemacht werden. Dieses Motiv muß ein solches sein, das nicht willkürlicherweise durch einen besonderen Willensakt mit der Handlung verbunden wird, sondern das gleichsam natürlicherweise mit der Handlung als verbunden gedacht werden muß. Es muß ein gleichsam natürliches Motiv geben, das so mit den durch das Naturgesetz vorgeschriebenen Handlungen verbunden ist, daß dem Naturgesetz tatsächlich eine verbindende Kraft zukommt. Wolff behauptet, daß es ein solches natürliches Motiv zur Ausführung guter Handlungen tatsächlich gibt: Der Wille des Menschen nämlich ist von Natur aus auf Vollkommenheit ausgerichtet, d.h. es gehört zum Wesen und zur Natur des Menschen, daß er seine eigene Vollkommenheit will. Es ist somit sein eigenes Wesen und seine eigene Natur, die den Menschen zu solchen Handlungen verbindet, die der Vollkommenheit dienen. Sein Wollen ist deshalb an bestimmte Handlungen gebunden, weil er natürlicherweise die Vollkommenheit erstrebt. Ein handlungsbewegendes Motiv ist dieses natürliche Interesse an der Vollkommenheit deshalb, weil die Vorstellung der Vollkommenheit in uns ein Gefühl der Lust hervorbringt. Diese Lust an der als vollkommen bzw. die Vollkommenheit befördernd vorgestellten Handlung bewegt uns dann auch, diese Handlung auszufuhren. Wir werden somit durch das Gefühl der Lust an der Vollkommenheit zu einer entsprechenden Handlung motiviert und auf diese Weise an diese Handlung gebunden. (6) Wolff vertritt dabei eine Position, wie sie sich schon bei Piaton finden läßt: was immer der Mensch tut, so handelt er nach dem Prinzip des Guten, das Wolff mit der Vollkommenheit identifiziert. Der Mensch handelt immer sub ratione boni. Wann immer ein Mensch eine Handlung als gut bzw. vollkommen erkennt, so richtet er sich in seinem Handeln an dieser Erkenntnis aus. Der Wille wird durch die Erkenntnis der Handlung als gut notwendig zum entsprechenden Handeln bestimmt, so wie er durch die Erkenntnis der Handlung als schlecht notwendig zum Unterlassen dieser Handlung bestimmt wird. Eine solche Auffassung wird gewöhnlich Intellektualismus genannt. Der Intellektualismus in der praktischen Philosophie behauptet, daß der Wille vollständig von dem Erkenntnisvermögen abhängt, so, daß alle Willensbestimmungen erfolgen aufgrund dessen, was hinsichtlich der möglichen Handlungen vom Erkenntnisvermögen vorgestellt wird. Der Wille wird also nicht als ein eigenständiges, von der Bestimmung durch das Erkenntnisvermögen unabhängiges praktisches Gemütsvermögen vorgestellt. Und demzufolge gibt es keinen Widerstreit zwischen dem, was durch das Erkenntnisvermögen als gut vorgestellt wird, und den willentlichen Bestrebungen als solchen, und es kann einen solchen Widerstreit zwischen Erkenntnisvermögen und Willen nicht geben.

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Hier stellen sich nun aber zwei Fragen: Es ist doch offensichtlich, daß unsere Handlungen nicht immer gut sind und die Vollkommenheit befördern. Wie ist das möglich? Und zum anderen: welche Funktion kann im Rahmen einer solchen Position ein Naturgesetz haben, das uns Vorschriften darüber macht, wie wir zu handeln haben, wenn wir doch von Natur aus in unserem Handeln immer auf das Gute ausgerichtet sind? (7) Die Antwort, und damit komme ich zum siebten wichtigen Gesichtspunkt der Wölfischen Naturrechtslehre, liegt in dem möglichen Irrtum über das Gut- oder Schlecht-Sein von Handlungen. Wie schon unter Punkt (2) dargelegt, können wir uns in unserer Vorstellung von der Handlung über deren Gut- oder Schlecht-Sein deshalb täuschen, weil unsere Erkenntnis nicht jederzeit eine rationale Erkenntnis ist. Wir mögen also eine Handlung als gut vorstellen, dabei aber einer Scheinerkenntnis unterliegen. Die Handlung ist nur scheinbar gut, gemäß einer wahrhaft rationalen Erkenntnis aber erweist sich die Handlung in Wirklichkeit als schlecht. Nur dadurch, daß wir uns aufgrund unserer von den Sinnen herrührenden Vorstellungen unmittelbar durch unsere sinnlichen Bestrebungen leiten lassen, ist es möglich, daß wir an sich schlechte Handlungen ausführen. Damit aber handeln wir gerade nicht gemäß unserem Wesen und unserer Natur, die uns ja an tatsächlich oder an sich gute Handlungen strebend bindet, und nicht an bloß als gut vorgestellte oder für uns bloß gut erscheinende Handlungen. Angesichts der Wölfischen Willenspsychologie und Handlungstheorie muß das Naturgesetz demnach als eine Handlungsvorschrift angesehen werden, die zwar richtiges und gutes Handeln gebietet, aber eigentlich eine Aufforderung, ein Gebot zur richtigen, d.h. rationalen Erkenntnis der von uns auszuführenden Handlung ist. Denn wenn das Wollen immer durch unsere Vorstellung von der moralischen Qualität der Handlung bestimmt wird, so, daß die Vorstellung vom Guten ein hinreichendes Motiv des Wollens, die Vorstellung vom Schlechten aber ein hinreichendes Motiv des Nicht-Wollens ist, so kann es einzig und allein darum gehen, eine richtige Erkenntnis von den wesentlichen Eigenschaften der Handlung zu erlangen. Wenn Wolff aber im Gefolge des Grotius das Naturrecht als ein Gebot der rechten Vernunft (dictamen rectae rationis) darstellt, 28 so kann er demnach nicht meinen, daß wir nur die guten Handlungen wollen sollen, da wir dies natürlicherweise immer schon tun. Es kann sich nicht um ein Gebot der rechten Vernunft gegenüber dem Wollen handeln, da es nicht der Wille ist, der die an sich guten oder schlechten Handlungen erkennt. Das allgemeine Gesetz das Natur, das uns vorschreibt, Handlungen, die zur Vollkommenheit führen, auszufuhren, und Handlungen, die der Vollkommenheit widerstreiten, zu unterlassen, muß also eigentlich als ein Gesetz verstanden werden, das uns vorschreibt, nur aufgrund einer ausführlichen und gewissen, aufgrund einer rationalen Erkenntnis der moralischen Quali28

Ebd., § 135.

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tät der Handlung zu handeln. Es ist seinem Wesen, seinem systematischen Sachgehalt nach eine Vorschrift, nur eine rationale Erkenntnis als den Bestimmungsgrund unseres Handelns zuzulassen.

III. Ich komme nun zum dritten Teil meiner Ausführungen, nämlich zur Kritik der Wölfischen Theorie der Verbindlichkeit von einem Kantischen Standpunkt aus. Kants Auseinandersetzung mit der praktischen Philosophie von Christian Wolff und seiner Schule und insbesondere mit der Wölfischen Theorie der praktischmoralischen Verbindlichkeit schlägt sich auch in seinen veröffentlichten Schriften zur praktischen Philosophie nieder. Dies geschieht allerdings in einer Art und Weise, die die wirkliche Bedeutung dieser Auseinandersetzung nicht allzu deutlich zum Vorschein bringen läßt.29 Unter Kants vorkritischen Schriften findet sich überhaupt nur eine Arbeit, in der er in erkennbar systematischer Absicht ausfuhrlicher zu Problemen der Moralphilosophie Stellung nimmt, nämlich in der Schrift Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral?0 Diese Schrift ist Kants Beitrag zu einer 1761 auf das Jahr 1763 ausgeschriebenen Preisfrage der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, entstanden gegen Ende des Jahres 1762, veröffentlicht 1764, und diese Schrift behandelt im wesentlichen, nämlich in drei von vier Hauptabschnitten, Probleme einer philosophischen Methodologie überhaupt. Erst in dem zweiten Abschnitt des vierten Hauptteils befaßt sich Kant mit Grundlegungsfragen der Moral; und zwar untersucht Kant hier speziell den Begriff der Verbindlichkeit, der in seinen Augen ein paradigmatisches Beispiel für die methodologischen Schwierigkeiten in der Moralphilosophie und somit ein wichtiger Ansatzpunkt und auch zentraler Gegenstand für seine Kritik an bisherigen Konzeptionen ist. Während der Name Wolffs in dieser Schrift überhaupt nur einmal ausdrücklich, nämlich nur im Rahmen der methodologischen Überlegungen in bezug auf die philosophischen Wissenschaften überhaupt und in bezug auf die Metaphysik genannt wird, so zeigen Kants Ausführungen zum Begriff der Verbindlichkeit gleichwohl, daß sich seine Kritik an den bisherigen Konzeptionen der moralischen Verbindlichkeit auch und gerade gegen Wolff (und die Vertreter einer wolffianischen praktischen Philosophie) richtet. Ist dieser Text schon an sich ein29

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Womit ich keineswegs behaupten möchte, daß Kant hier bewußt indirekte Abhängigkeiten oder Einflüsse kaschieren wollte; vielmehr gibt es überhaupt nur wenige Stellen in seinen veröffentlichten Schriften, an denen er sich ausfuhrlich und systematisch mit den Positionen seiner Vorgänger befaßt. Kant, Immanuel, Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, in: Kant's Werke (Akademieausgabe), hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1902ff„ Abt. 1, Bd. II, S. 273-301.

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schlägig und von außerordentlicher Bedeutung fur die Entwicklungsgeschichte praktischen Philosophie Kants, weil er als der nahezu einzige Anhaltspunkt systematischen Überlegungen zugleich notwendig der Referenztext für eine konstruktion seiner Position darstellt, so ist er für eine Untersuchung über Verhältnis Kants zu Wolffs Verbindlichkeitstheorie ebenso einschlägig.

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Auch in Kants Hauptwerken zur praktischen Philosophie, der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aus dem Jahre 1785, der Kritik der praktischen Vernunft aus dem Jahre 1788 und schließlich der Metaphysik der Sitten aus dem Jahre 1797 kommt der Name Wolffs nur zwei mal im Zusammenhang mit systematisch relevanten Überlegungen vor. 31 Einmal in der Vorrede zur Grundlegung, in der Kant seine Absicht, eine reine praktische Philosophie zu entwickeln, also sein Projekt einer wirklichen Metaphysik der Sitten, von der Art praktischer Philosophie abgrenzt, wie sie in Wolffs Philosophia practica universalis anzutreffen ist, und in der er Wolff dafür kritisiert, nicht zwischen empirischen und rein vernünftigen Bestimmungsgründen unterschieden und deshalb auch keinen wirklich moralischen Begriff einer praktischen Verbindlichkeit aufgestellt zu haben. In der zweiten Kritik wiederum taucht der Name Wolffs nur in der Tafel der sogenannten „Praktischen materialen Bestimmungsgründe im Prinzip der Sittlichkeit" auf, in der Wolff als Vertreter des Prinzips der Vollkommenheit genannt und damit auch hier als Vertreter einer bloß empirischen, also nicht reinen, d.h. im strengen Sinne metaphysisch begründeten Moralphilosophie kritisiert wird. 32 An beiden Stellen also wird zwar der, wie noch zu zeigen sein wird, entscheidende Kantische Kritikpunkt an der praktischen Philosophie Wolffs und seinem Begriff der Verbindlichkeit genannt, aber die Kürze und Dichte seiner diesbezüglichen Überlegungen machen eine ausführliche Erläuterung und systematische Rekonstruktion seiner angeführten Einwände durchaus notwendig. Zugleich lassen Kants nur stichwortartige kritische Bemerkungen gegenüber Wolff hier nicht erkennen, in welcher Weise die Auseinandersetzung mit der Wölfischen Theorie der Verbindlichkeit die Entstehung seiner eigenen, philosophiegeschichtlich gerne und

31

32

Ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Akademieausgabe, (wie Anm. 30), Abt. I, Bd. 4, S. 390; ders., Kritik der praktischen Vernunft, in: ders., Akademieausgabe, (wie Anm. 30), Abt. I, Bd. 5, S. 40. Zwar faßt Kant das moralphilosophische Prinzip der Vollkommenheit sowohl in der Grundlegung als auch in der Kritik der praktischen Vernunft als ein rationales Prinzip auf und stellt es als rationales Prinzip empirischen Prinzipien gegenüber (ders., Grundlegung, [wie Anm. 31 ], S. 442ff.; ders., Kritik der praktischen Vernunft, [wie Anm. 31], S. 41); in verbindlichkeitstheoretischer Hinsicht müssen Moralphilosophien, die auf das Prinzip der Vollkommenheit gegründet sind, deshalb aber gleichwohl als empirisch aufgefaßt werden, da die Vollkommenheit nur unter Voraussetzung eines dem Willen vorgegebenen Zweckes ein möglicher Bestimmungsgrund des Handelns sein kann. Aus diesem Grunde muß auch die Vollkommenheit als ein Prinzip der Heteronomie verstanden werden. (Vgl. ders., Kritik der praktischen Vernunft, [wie Anm. 31], S. 41 in Verbindung mit S. 39 u. 64 sowie ders., Grundlegung, [wie Anm. 31], S. 389ff. u. 442ff.) Vgl. hierzu den nachfolgenden Punkt (4).

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auch zurecht als revolutionär bezeichneten Moralphilosophie des kategorischen Imperativs beeinflußt hat. Wie sehr jedoch die Entwicklung von Kants ureigener Moralphilosophie und damit insbesondere seiner Lehre vom reinen praktischen Vernunftgesetz als einem kategorisch gebietenden Imperativ der Sittlichkeit und als dem Prinzip und dem Grund moralischer Verbindlichkeit unmittelbar durch die intensive Auseinandersetzung mit der wolffianischen Lehre von der obligatio tatsächlich bestimmt wurde, zeigt sich erst und dort aber in besonderer Weise in den überlieferten Nachschriften von Kants Vorlesungen zur Moralphilosophie und zum Naturrecht. Nun ist es bekannt, daß Kant jahrzehntelang seine Vorlesungen über praktische Philosophie nach den Lehrbüchern zweier Wolffianer gehalten hat, nämlich Vorlesungen zur „Allgemeinen praktischen Philosophie" (oder auch „Praktischen Philosophie", „Moral") und „Ethik" nach Alexander Gottlieb Baumgartens Initia philosophiae practicae primae und Ethica philosophica und das Naturrecht nach Gottfried Achenwalls Prolegomena iuris naturalis bzw. lus naturae',33 dies hat aber nicht dazu gefuhrt, die von Kant in diesen Vorlesungen geführte Auseinandersetzung mit der wolffianischen Verbindlichkeitstheorie näher zu untersuchen. Ich kann an dieser Stelle nicht diese Untersuchung leisten. Ich möchte hier vielmehr im Ausgang von der Kantischen Konzeption einer reinen, metaphysischen Moralphilosophie diejenigen Argumente herausarbeiten, die sich von einem Kantischen Standpunkt aus gegen die Wölfische Moralphilosophie und speziell gegen Wolffs Theorie der Verbindlichkeit vorbringen lassen können. (1) Auch nach Kant gibt es moralisch an sich gute oder schlechte Handlungen. Die moralische Qualität einer Handlung kann aber nach Kant, im Gegensatz zu Wolff, nicht allein aus ihren inneren Eigenschaften und den sich aus der Handlung ergebenden Folgen erkannt werden. Die moralische Qualität einer Handlung ergibt sich vielmehr aus ihrem Verhältnis zu der Freiheit des eigenen Willens bzw. zu der Freiheit anderer Personen. Eine Handlung ist richtig bzw. gut, wenn sie dem Vernunftgesetz der Freiheit gemäß ist. Um zu beurteilen, ob eine Handlung gut oder schlecht ist, müssen wir demzufolge die Maxime einer Handlung daraufhin betrachten, ob sie in gesetzlicher Weise, d.h. mit durch Vernunft erkennbarer Notwendigkeit, mit der eigenen Willensfreiheit und der äußeren Freiheit anderer zusammenstimmt. Eine Handlung muß demzufolge dann als gut angesehen werden, wenn die ihr als Bestimmungsgrund zugrundeliegende Regel, nämlich ihre Maxime, eine Regel ist, die für alle vernünftigen Wesen als Regel des Handelns gelten kann, d.h. wenn sie dem kategorischen Imperativ als Gesetz der Gesetzlichkeit der Maxime gemäß ist. Kant kehrt somit das Bestimmungsverhältnis zwischen dem Begriff des Guten und dem normativen Prinzip oder Gesetz des Handelns um: 33

Vgl. Arnoldt, Emil, Kritische Exkurse im Gebiete der Kantforschung, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Otto Schöndörffer. Bd. 4-5. Berlin 1908f.

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während in der Tradition der Philosophie und so auch bei Wolff der Begriff des Guten der Bestimmung eines praktisches Gesetzes in der Weise vorhergeht, daß das Gesetz mindestens seinem Inhalte nach aus dem Begriff des Guten abgeleitet wurde, leitet Kant die Bestimmung des Begriffs des Guten aus dem Begriff einer gesetzlichen Bestimmung des Willens ab. Gut ist diejenige Handlung oder Maxime, die nach Maßgabe eines Vernunftgesetzes bestimmt wird, und gut ist derjenige Wille, der sich durch ein Gesetz der Vernunft bestimmt. Gut ist dasjenige, was einem vernünftigen Gesetz gemäß ist.34 Mit dieser Konzeption folgt Kant einer Einsicht, die er im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Rousseaus Theorie des Gesellschaftsvertrags gewonnen hat. Die Frage, unter welchen Bedingungen ich durch mein Handeln einem anderen nicht unrecht tun kann, beantwortet Kant mit dem Prinzip eines Allgemeinen Willens: ich kann einem anderen dann und nur dann auf notwendige Weise oder a priori nicht unrecht tun, wenn mein Wille mit dem Willen aller anderen in einer notwendigen Übereinstimmung steht, das heißt wenn ich das will, was ein jedes vernünftige Wesen gemäß dem Urteil seiner Vernunft auch wollen kann bzw. sogar wollen muß.35 Und eben aus diesem Gedanken ergibt sich als allgemeine Regel der Willensbestimmung: bestimme deinen Willen auf eine solche Weise, daß die der Willensbestimmung zugrundeliegende Regel eine Regel ist, die für alle vernünftigen Wesen eine Regel ihrer Willensbestimmung sein kann. Die subjektive Regel der Willensbestimmung nennt Kant „Maxime". Deshalb kann das oberste Sittengesetz auch als eine Regel der Gesetzlichkeit der Maxime formuliert werden: Handle nach einer Maxime, die als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung für den Willen gelten kann, d.h. handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz für die Willensbestimmung eines jeden vernünftigen Wesens fungieren kann. Kant lehnt damit eine Position wie die Wolffs ab, derzufolge es an sich, nämlich allein aus ihrer inneren Beschaffenheit und den aus ihr resultierenden Folgen im Rahmen der allgemeinen Ordnung der Natur, als gut erkennbare Handlungen gebe, weil Kant zufolge nur im Willen selbst bzw. in der der Willensbestimmung zugrundeliegenden Regel das Prinzip der Güte gefunden werden kann, also Handlungen als „an sich gut oder böse" nur mit Blick auf die zugrundeliegende Willensbestimmung erkannt werden können. 36

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Vgl. den ersten Abschnitt der Grundlegung, (wie Anm. 31), v.a. S. 399ff., sowie 412f.; Kritik der praktischen Vernunft, (wie Anm. 31), v.a. S. 8f. u. 57ff. Vgl. die Vorlesungsnachschrift Moral Mrongovius II, in: ders., Akademieausgabe, (wie Anm. 30), Abt. I, Bd. 29.1.1, S. 608f. „Das Oute oder Böse bedeutet aber jederzeit eine Beziehung auf den Willen, sofern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird, sich etwas zu seinem Objekte zu machen [...]. Das Gute oder Böse wird also eigentlich auf Handlungen, nicht auf den Empfmdungszustand der Person bezogen; und sollte etwas schlechthin (und in aller Absicht und ohne weitere Bedingung) [also gleichsam ,an sich'] gut oder böse sein oder dafür gehalten werden, so würde es nur die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst, als guter oder böser Mensch, nicht aber eine Sache [d.h. auch eine an sich selbst allein ihrer inneren, nach Natur-

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(2) Damit komme ich zu einem zweiten Einwand Kants: Nach Kant kann das Prinzip der Vollkommenheit nicht als Kriterium zur Beurteilung der moralischen Qualität einer Handlung dienen: Der Begriff der Vollkommenheit - bestimmt als die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu einem - ist derart allgemein, formal und inhaltsleer, daß er nicht dazu taugt, notwendig zu tuende Handlungen zu bestimmen.37 Denn durch diesen Begriff allein ist es nicht möglich, zu entscheiden, welche Handlung tatsächlich der Vollkommenheit dient; es bedarf hierzu vielmehr zusätzlicher Prinzipien, vermittelst deren bestimmt werden kann, inwiefern einer Handlung eine spezifische Vollkommenheit zukommt. Aber selbst wenn man annähme, daß das Prinzip der Vollkommenheit als ein Kriterium zur Beurteilung der moralischen Qualität von Handlungen dienen könnte, taugt dieser Begriff in Kants Augen nicht als ein Prinzip der Moralphilosophie als einer Metaphysik der Sitten. Den Grund dafür liefert ein weiteres Argument, das ich als vierten und letzten und nach Kant entscheidenden Einwand anfuhren werde, nachdem ich zuvor noch einen dritten Einwand gegen die Moralphilosophie Wolffs darstellen werde. (3) Dieses dritte Argument richtet sich gegen den Intellektualismus Wolffs: Zufolge der Kantischen Konzeption wird der Wille nicht notwendig durch die vom Erkenntnisvermögen als gut erkannte Handlung bestimmt. Der Wille ist gegenüber den durch den Verstand bzw. die Vernunft gegebenen Handlungsgründen insofern frei, als die Entscheidung über den handlungsbestimmenden Grund allein im Willen selbst liegt. Kant trifft hier zunächst eine wichtige Unterscheidung zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Arten von handlungsmotivierenden Gründen.38 Zwar behauptet auch Kant, daß wir immer aufgrund einer Vorstellung unsere Handlung bestimmen, die eine Handlung als für uns gut erscheinen läßt.39 Es besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied zwischen Handlungen, die bloß für uns gut sind und die eigentlich angenehme Handlungen genannt werden müssen, da uns diese Handlungen ein Gefühl der Annehmlichkeit oder ein Gefühl der Lust bereiten. Davon grundsätzlich verschieden sind Handlungen, die den Namen gut zurecht haben, weil sie nicht allein aufgrund unserer jeweiligen bloß subjektiv gültigen Neigungen und Interessen und deshalb aus bloß empirischen Gründen von uns selbst als (für uns) gut erklärt werden. Bei den objektiv als gut zu bestimmenden

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und Wirkungsprinzipien beschreibbaren Beschaffenheit nach betrachteten Handlung] sein, die so genannt werden könnte." (ders., Kritik der praktischen Vernunft, [wie Anm. 31 ], S. 60). Vgl. ders., Grundlegung, (wie Anm. 31), S. 442ff.; ders., Kritik der praktischen Vernunft, (wie Anm. 31), S. 41. Vgl. ders., Grundlegung, (wie Anm. 31), S. 413; ders., Kritik der praktischen Vernunft, (wie Anm. 31), S. 57ff. Vgl. ebd., S. 59.

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Handlungen gibt es vielmehr einen Grund a priori, der sie zu guten Handlungen macht, und dieser Grund ist die unserer Willensbestimmung zugrundeliegende Maxime, die ihrer Form nach eine Maxime ist, die zu einer allgemeinen Gesetzgebung taugt. Unserem Willen ist nun, wie Kant es in der Religionsschrift nennt, ein natürlicher Hang zum Bösen angeboren, 40 der darin besteht, daß wir jederzeit bereit sind, solche Handlungen auszuführen, die zwar für uns gut, d.h. angenehm sind, aber dem Vernunftgesetz moralischen Handelns widerstreiten. Wir sind, mit anderen Worten, unserer Natur nach auf unsere Glückseligkeit ausgerichtet - aber darin sieht Kant noch kein Problem, weil es eben zu unserer endlich-menschlichen und das heißt eben auch sinnlich bestimmten Natur gehört, durch unser Handeln unsere Glückseligkeit zu verfolgen; das Problem besteht vielmehr darin, daß unser Streben nach Glückseligkeit jederzeit im Gegensatz zu dem stehen kann, was uns durch unsere Vernunft geboten ist. Unser Streben nach Glückseligkeit kann uns jederzeit zu einem pflichtwidrigen Handeln verleiten, und zwar auch dann, wenn wir ein Bewußtsein davon haben, was nach unserer Vernunft zu tun notwendig ist. Die rein rationale Erkenntnis des zu Tuenden reicht folglich nach Kant keineswegs aus, daß wir auch tatsächlich vernünftig handeln. Gibt es nach der Auffassung von Wolff kein Handeln wider besseres Wissen, so ist es nach Kant vielmehr oft oder sogar in den meisten Fällen so, daß wir wider besseres Wissen handeln, weil unsere sinnlichen Interessen das Interesse der Vernunft überwiegen. Ein solcher Widerstreit zwischen sinnlichen, neigungsbedingten Interessen einerseits und den Vorschriften der reinen praktischen Vernunft andererseits und ein Überwiegen der ersteren gegenüber letzteren kann aber nur deshalb jederzeit möglich sein, weil Kant eine Unabhängigkeit des Willens von der Bestimmung durch die Vernunft annimmt und somit beide als voneinander unabhängige Gemütsvermögen konzipiert. (4) Damit komme ich mit dem abschließenden Argument nun zum Schluß meiner Ausführungen. Dieses Argument gegen die Wolffsche Verbindlichkeitstheorie betrifft den Problemaspekt eines möglichen Grundes der Verbindlichkeit, d.h. die Frage, wie nach Kants Meinung Verbindlichkeit möglich ist, d.h. aus welchem Grund und wie Handlungen verbindlich gemacht werden können. In Kants Augen kann im Rahmen der Wolffschen Moralphilosophie das Prinzip der Vollkommenheit nur deshalb unser Handeln bestimmen, weil sie ein dem Willen natürlicherweise gegebener Zweck ist. Als ein solcher Zweck ruft die Vorstellung der Realisierung von Vollkommenheit durch mein Handeln eine Lust hervor, die der eigentlich bewegende handlungsbestimmende Grund unseres Handelns darstellt. Nur deshalb kann Vollkommenheit als eine handlungsbestimmende Regel fungieren, weil wir ein Interesse an der Vollkommenheit haben. Dieses Interesse 40

Vgl. ders., Die Religion innerhalb der Grenzen ausgabe, (wie Anm. 30), Abt. I, Bd. 4, S. 28ff.

der bloßen

Vernunft,

in: ders.,

Akademie-

188

Andreas Thomas

aber richtet sich auf die erwartete Lustempfindung. Damit erweist sich in Kants Augen auch das Wölfische, scheinbar rationale Prinzip der Vollkommenheit als eine Spielart des Prinzips der Glückseligkeit, durch das der Wille auf eine heteronome Weise bestimmt wird. Das Naturgesetz kann uns nur deshalb zum Handeln verbinden, weil wir ein natürliches Interesse an Handlungen haben, die der Vollkommenheit dienen. Es ist das Interesse an unserer Glückseligkeit, das Handlungen so mit einem motivierenden Grund verbindet, daß wir in unserem Wollen an dieses Handeln gebunden werden. Diese Bindung ist aber nach Kant eine bloß empirische und damit gegenüber einer aus Vernunftgründen apriorischen oder notwendigen Verbindung nur eine zufallige. Eine solche zufallige Verbindung von Handlung und zur Handlung bewegendem Motiv erwirkt aber keinerlei Verbindlichkeit, die als moralische Verbindlichkeit gerade der Begriff einer apriorischen, unbedingten Notwendigkeit zu Handlungen ist. Verbindlichkeit ist nach Kant nur aufgrund eines a priori und unbedingt (und nicht aus natürlichen Gründen bloß relativ oder bedingt) notwendigen Handlungsmotivs möglich. Glückseligkeit aber kann niemals ein nach Vernunftprinzipien notwendiges Handlungsmotiv darstellen, weil es jederzeit beliebig und zufallig ist, worin ein endliches Sinnenwesen, wie es auch der Mensch ist, seine Glückseligkeit setzt; denn was uns Lust bereitet und somit zu unserer Glückseligkeit beiträgt, hängt allein von den zufalligen Neigungen ab, die wir haben, und kann demzufolge auch nur empirisch erkannt werden. Nach Kant besteht also Verbindlichkeit nicht dadurch und darin, daß der Wille vermittelst des Interesses an der erwarteten Lust zu einer als gut vorgestellten Handlung zur Ausführung dieser Handlung bewegt werden kann. Die in reinen praktischen Vernunftgesetzen gelegene Verbindlichkeit muß Kant zufolge vielmehr als ein Faktum der reinen praktischen Vernunft angesehen werden, das nicht weiter analysierbar und begründbar ist.4' Das moralische Sollen besteht allein in dem Bewußtsein der in einem praktischen Gesetz ausgesprochenen Notwendigkeit, das für uns Menschen, deren Wille nicht notwendig allein durch die reine praktische Vernunft bestimmt wird, sondern der auch aufgrund von Vorstellungen, die ihren Ursprung in den Sinnen und also in den aus seiner endlichen Natur entspringenden empirischen Interessen haben, affiziert und zum Handeln bewegt werden kann. Allerdings sieht sich auch Kant genötigt, seine rationalistische Theorie der Verbindlichkeit um eine psychologische Motivationstheorie zu ergänzen. Dieses notwendige Supplement ist die Theorie des Gefühls der Achtung.42 Wird in seiner Theorie nämlich die Verbindlichkeit allein durch die Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft als ein unhintergehbares Faktum des Sollens begründet, so muß Kant doch (nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Humeschen Theorie der Vernunft als einer bloßen Dienerin der Sinne) zeigen, wie es möglich ist, daß die Vernunft allein durch ihre moralische Gesetzgebung den Willen bestimmen kann 41 42

Vgl. ders., Kritik der praktischen Vgl. ders., Kritik der praktischen

Vernunft, (wie Anm. 31), S. 31 f., 42f. Vernunft, (wie Anm. 31 ), S. 73ff.

Die Lehre von der moralischen

Verbindlichkeit

189

und damit einen reinen vernünftigen Grund der Handlungsbestimmung liefert. Denn ohne die Möglichkeit, allein aufgrund der Vorstellung reiner praktischer Vernunftgesetze auch wirklich zum gesetzmäßigen Handeln motiviert werden zu können, könnte die Bindung des Willens an bestimmte Handlungen nach einem Gesetz wiederum nur durch ein besonderes, nicht aus der reinen Vernunft selbst stammendes Interesse (und somit nur durch ein nur empirisch erkennbares Gesetz der Natur unseres Willens) 43 erklärt werden, was in Kants Auffassung alle strikte moralische Verbindlichkeit unmöglich macht. Und so ist es die Theorie des Gefühls der Achtung, die zwar nicht zeigt, daß moralische Verbindlichkeit möglich und worin sie begründet ist, aber doch, wie und unter welchen hinzukommenden Bedingungen sie überhaupt möglich ist, d.h. als mit einem möglichen Grund zu handeln verbunden vorgestellt werden kann. So nämlich, daß dieses Gefühl allererst durch die Vorstellung reiner praktischer Vernunftgesetze und das Unterworfen-Sein des handelnden Subjekts unter die kategorischen Gebote und Verbote der Vernunft hervorgerufen wird, daß also dieses Gefühl der Achtung ein rein vernunftgewirktes Gefühl einer besonderen Lust und Unlust ist, ohne dessen unterstellte motivationale Kraft reine praktische Vernunft niemals durch ihre Gesetze handlungsbestimmend wirklich werden könnte und alle im strengen Sinne moralische Verbindlichkeit nur eine Illusion sein würde.

43

Vgl. ebd., S. 444.

STEFANIE BUCHENAU

(Paris)

Sinnlichkeit als Erkenntnisvermögen. Zum Begriff des Vernunftähnlichen in der Psychologie Christian Wolffs Vor allem Wolffs Schüler Alexander Gottlieb Baumgarten hat dem Begriff des Vernunftähnlichen zu einer gewissen Bekanntheit verholfen, denn Baumgarten nennt seine Ästhetik auch eine Kunst des vernunftähnlichen Denkens, ars analogi rationis (Aesthetica, § 1). Daß dieser Begriff aber aus der antiken und genauer noch der scholastischen Tradition stammt, hat man in der Forschung offensichtlich bisher nicht erkannt. So enthält der Artikel „analogon rationis" in Ritters Historischem Wörterbuch der Philosophie1 keinen Hinweis auf den scholastischen Ursprung. Dabei vermerkt Wolff in den zentralen Abschnitten der psychologischen Schriften und in den Anmerkungen zur Metaphysik ausdrücklich, daß er den Begriff des Vernunftähnlichen von den „Alten" bzw. von den „scholastischen Weltweisen" entlehnt habe, deren Meinungen, behauptet Wolff, so falsch nicht seien. Wenn auch die antiken und scholastischen Philosophen versäumt haben, ihre Thesen philosophisch zu rechtfertigen, d.h. durch Gründe zu untermauern, so sei doch eine solche Rechtfertigung oft prinzipiell möglich. Und Wolff möchte offensichtlich das Versäumte nachholen und die scholastische Terminologie zur Psychologie philosophisch fundieren. Diese These werde ich in drei Schritten ausführen. Zunächst möchte ich die Wolffsche und die scholastische Problemstellung und These zum Vemunftähnlichen kurz vorstellen. In beiden Fällen dient der Begriff des Vernunftähnlichen zunächst zur Erklärung gewisser tierischer Verhaltensmuster, und allgemeiner zur Bezeichnung eines Vermögens der sinnlichen Seele. Während Wolff die scholastische Einteilung der Seelenvermögen weitgehend übernimmt, lehnt er die philosophische Begründung dieser Einteilung ab. Im zweiten Teil und dritten Teil soll es deshalb um die moderne philosophische Begründung dieser These gehen. Im zweiten Teil werde ich zunächst die Leibnizsche These zur Vernunft oder Unvernunft der Tiere untersuchen und im dritten Teil Leibniz' und Wolffs Thesen vergleichen, um die (relative) Eigenständigkeit Wolffs herauszustellen. Es soll dabei gezeigt werden, inwiefern Wolff mit seinem Begriff vom Vernunftähnlichen zwar explizit, und expliziter als Leibniz, auf die scholastische Tradition zurückgreift, aber gleichzeitig seine metaphysische Begründung dieser Einteilung der Psychologie neue Perspektiven eröffnet. Wolffs Begriff des Vernunftähnlichen weist auf eine grundlegende Neubestimmung der menschlichen sinnlichen Wahrnehmung

Vgl. Franke, Ursula, Artikel „Analogon rationis", in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches terbuch der Philosophie. Basel / Stuttgart 1971, S. 229f.

Wör-

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(aisthesis) nach Descartes und Leibniz hin. Sinnliche Wahrnehmung kann beim Menschen als eine eigene Form von Erkenntnis betrachtet werden, die insofern vernunftähnlich ist, als daß sie in Kontinuität zu der Vernunfterkenntnis steht und nicht im strikten Sinne von ihr abgegrenzt werden kann.

I. Wolffs analogon rationis und die facultas aestimativa der Scholastiker Wolffs Ausführungen zum Thema Vernunftähnliches befinden sich in der Psychologia rationalis,2 in der Psychologia empirica,3 in den entsprechenden Kapiteln der Deutschen Metaphysik4 und in dem zugehörigen Band mit den Anmerkungen zur Metaphysik,5 Es handelt sich zunächst um eine tierpsychologische These, d.h. um den Versuch, bestimmte tierische Verhaltensmuster zu erklären. Daß bestimmte, höher entwickelte Tiere, d.h. Vierbeiner wie Pferde und Hunde, nicht aber Austern, Schnecken, Fliegen oder andere Insekten, 6 eine gewisse Form von praktischem Urteilsvermögen besitzen, wird beispielsweise an dem Verhalten eines Hundes deutlich, dem man einen Stock zeigt. Wenn der Hund beim Anblick des Stockes schleunigst das Weite sucht, so ist das als Hinweis auf ein bestimmtes praktisches Urteilsvermögen zu werten. Lassen solche Verhaltensmuster nicht gar den Rückschluß auf ein Vernunftvermögen des Tieres zu? Wolff zufolge zeigt das Verhalten des Tieres ein vernunftähnliches Vermögen an. Dieses besteht in der „Erwartung ähnlicher Fälle". Eine nähere Erklärung findet sich im Paragraphen 872 des Kapitels über rationelle Psychologie in der Deutschen Metaphysik. Dort erklärt Wolff, daß zur „Erwartung ähnlicher Fälle" die Tier und Mensch gemeinsamen Vermögen der sinnlichen Seele hinreichend seien. Da nun auch die Erwartung ähnlicher Fälle nicht mehr als Sinnen, Einbildungs=Kraft und Gedächtnis erfordert ohne allen Verstand (§ 376), so kann man sie auch den Thieren beilegen (§ 870) Da nun dieselbe der Vernunft in etwas ähnlich ist (§ 374); so haben die Thiere etwas der Vernunft ähnliches [...].

2

3

4

5

6

Wolff, Christian, Psychologia rationalis, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u.a. 3 Abteilungen. Hildesheim u.a. 1962ff., Abt. II, Bd. 6 (1972). Ders., Psychologia empirica, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 2), Abt. II, Bd. 5 (1968). Ders., Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik), in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 2), Abt. I, Bd. 2(1983). Ders., Der vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen (Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik), in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 2), Abt. I., Bd. 3 (1983). Ders., Psychologia rationalis, (wie Anm. 2), § 750.

Zum Begriff des

Vernunftähnlichen

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Inwiefern nun sind die sinnlichen Vermögen, d.h. Sinne, Einbildungskraft und Gedächtnis der Vernunft ähnlich? Wie die Vernunft, die Wolff als „das Vermögen den Zusammenhang der Wahrheiten einzusehen" 7 definiert, so eröffnen auch diese sinnlichen Vermögen eine gewisse Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten: Da nun die Vernunft eine Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten darstellet, als bey dem Hunde die Erblickung des Prügels, die Schläge und die dadurch verursachten Schmerzen (§ 870), so ist sie der Vernunft hierinnen ähnlich, und gleichsam der niedrigste Grad der Vernunft, oder die nächste Staffel zur Vernunft, oder auch der Anfang der Vernunft. (Ebd.)

Des weiteren bemerkt Wolff in diesem Zusammenhang, daß die Meinungen der Alten sich deutlich erklären lassen, und nicht ohne Grund sind, ob sie gleich solche nicht haben zeigen können: wie ich denn fast durchgängig finde, daß die duncklen Wörter der Schul=Weisen sich gar verständlich erklären lassen, auch naturmäßige Bedeutung haben und man sie in Wissenschaften mit Nutzen gebrauchen kann.

Im § 117 der Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik (ad § 374) kommentiert er außerdem seine Ausführungen zum Vernunftähnlichen wie folgt: Hier wird der Grund geleget, das Analogum rationis der scholastischen Weltweisen auf eine verständliche Art zu erklären, wie hernach (§ 377) geschiehet, und erhellet zugleich, daß die Benennung sehr wohl eingerichtet, indem sich der Name vortrefflich zu der Sache schicket.

Nach der eklektischen Methode, die Wolff und seinen Zeitgenossen eigen ist und die Wolff zufolge darin besteht, das man „zu keiner Fahne schwöret sondern alles prüfet und dasjenige behält, was sich miteinander in der Vernunfft verknüpffen [...] lässet", 8 möchte Wolff also mit seinem Begriff des Vernunftähnlichen auf einen Begriff der antiken und scholastischen Psychologie zurückkommen, und offensichtlich gleichzeitig auch allgemeiner die scholastische Terminologie zur Seele rehabilitieren. Inwiefern kann Wolff mit seiner Bestimmung der Vermögen an diese Schulen anknüpfen? Er verweist ja einerseits allgemein auf die „Alten", andererseits spezifisch auf die Scholastiker. Unter den antiken Philosophien kommt wohl neben Aristoteles vor allem die stoische dem Wolffschen Begriff von Vernunftähnlichen nahe. Die Stoiker erklären die Tieren und Menschen gemeine Tendenz zur Selbsterhaltung durch einen natürlichen Selbstbezug. Das Tier verfugt über die angeborene Fähigkeit, aufgrund seiner Sinnlichkeit, die die Selbstwahrnehmung mit einschließt, über die jeweilige Nützlichkeit oder die Schädlichkeit eines Objekts zu urteilen und dementsprechend zu handeln. Der Gegenstand, zu dem das Tier sich hinwendet, wird als dem Selbst zugehörig (okeion) empfunden. 9 Dieses Urteilsvermögen 7 8 9

Ders., Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 4), § 368. Ders., Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik, (wie Anm. 5), § 412. Vgl. beispielsweise Diogenes Laertius, 7. 85-86, und allgemeiner zu dem Thema: Pohlenz, Max, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. Göttingen 7 1992, S. 115.

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erlaubt es dem Tiere, der Natur gemäß zu leben. In diesem Sinne ist es der menschlichen Vernunft ähnlich, denn diese ist ja das Vermögen das es dem Menschen erlaubt, der Natur gemäß zu leben. Direkter als auf die Stoiker nimmt aber Wolff hier auf die scholastische Psychologie und ihre Einteilung Bezug. Die mittelalterliche Scholastik fuhrt den Begriff des Vernunftähnlichen (oder genauer: eines der menschlichen Vernunft entsprechenden Vermögens) ebenfalls als Erklärungsmuster für bestimmte tierische Verhaltensmuster ein. Das Schaf flieht vor dem Wolf, in dem es instinktiv eine Gefahr erkennt. Es stellt sich die Frage: woher weiß es, daß es vor dem Wolf fliehen muß, das heißt, wie kann es beurteilen, was nützlich und was schädlich für es ist? Die Scholastik trägt diesem „vernunftähnlichen" Urteilsvermögen der Tiere Rechnung, indem sie der sinnlichen Seele (die Tier und Mensch gemein ist) ein Schätzungsvermögen, d.h. eine facultas aestimativa, zuschreibt. Dieses Vermögen ist nach dem Zeugnis von Roger Bacon zuerst von Avicenna eingeführt worden. Dessen Psychologie soll deshalb im folgenden kurz beschrieben werden. 10 Die facultas aestimativa folgt auf die sinnlichen Vermögen des Gemeinsinnes (sensus communis) und auf die sinnliche (oder im Falle des Menschen vernünftige) Einbildungskraft. Alle diese Vermögen befinden sich an verschiedenen Stellen des Gehirns. Die drei erstgenannten haben es aber mit Formen zu tun, während die facultas aestimativa Intentionen wahrnimmt. Die Wahrnehmung von Form unterscheidet sich insofern von Wahrnehmung von Intention, als daß Form immer zuerst über die äußeren Sinne wahrgenommen wird. Das ist bei der Intention nicht der Fall. Aufgabe des Gemeinsinnes ist zunächst, die den fünf äußeren Sinnen aufgedrückten und an ihn weitergeleiteten Formen zu empfangen. Es handelt sich hier um ein rein rezeptives Vermögen. Das Gedächtnisvermögen bewahrt seinerseits diese Formen auf, d.h. hält sie auch in Abwesenheit der Gegenstände gegenwärtig. Funktion der Einbildung ist es, Dinge in der Vorstellungskraft voneinander zu trennen und neu zu kombinieren. Die facultas aestimativa hat es nun, wie oben schon erwähnt, nicht mit sinnlichen Formen, sondern mit nicht-sinnlichen Intentionen zu tun. Sie ist wie der Gemeinsinn ein rezeptives Vermögen, aber sie empfangt nicht Formen, sondern die dem sinnlich wahrnehmbaren besonderen Gegenstand innewohnenden Intentionen. Für die Scholastiker sind also die Intentionen objektive Eigenschaften des Gegenstandes. Beispielsweise gehört zum objektiven Sein des Wolfes seine Gefährlichkeit für das Schaf und zu dem des Kindes seine Liebenswürdigkeit. 11

10

11

Eine englische Übersetzung von Avicennas Traktat zur Psychologie liegt vor: Avicenna's De Anima, being the psychological part of Kitâb al-shifa', hg. v. Fazlur Rahman. London 1952. Auf die facultas aestimativa folgt nun wiederum ein Vermögen, das die Intentionen auch bei Abwesenheit des Gegenstandes aufbewahrt. Das Verhältnis dieses Vermögens zum Schätzungsvermögen entspricht dem des Gemeinsinnes zum Gedächtnisvermögen. In beiden Fällen gehört zu dem rezeptiven Vermögen (der Wahrnehmung der Formen oder Intentionen) ein Gedächtnisvermögen.

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Vernunftähnlichen

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Die facultas aestimativa weist nun bestimmte Ähnlichkeiten mit der Vernunft auf. Wie die Vernunft in ihrem praktischen Teile, so dient auch die facultas aestimativa der Bildung von praktischen Vorhaben. Wie die Vernunft in ihrer theoretischen Funktion universale Formen empfängt, die teils immaterial sind, teils noch von der Materie abgesondert werden müssen, so empfangt die facultas aestimativa Intentionen, die zwar in Materie enthalten sind, aber in sich selbst nicht materialer Natur sind. Worin bestehen nun die Affinitäten zwischen Wolff und Avicenna? Zunächst versuchen beide, eine philosophische Erklärung „vernünftiger" tierischer Verhaltensschemata zu finden. Zweitens stützen beide ihre These auf eine fast identische Einteilung der Seelenvermögen, das den niedrigeren sinnlichen Seelenvermögen ein vernunftähnliches Vermögen folgen läßt. Zu diesen beiden Punkten im folgenden noch eine kurze Erläuterung. Zum ersten Punkt: Wolff geht von ähnlichen tierpsychologischen Beobachtungen aus wie Avicenna. Er bezieht sich seinerseits auf ein anderes, auch klassisches Beispiel. Ein Hund ergreift beim Anblick eines Stockes das Weite, weil er ihn als gefahrlich erkennt. Die Fragestellung ist insofern leicht verändert, als daß es Wolff nicht darum geht zu erklären, woher ein Tier instinktiv weiß, was schädlich oder nützlich ist; nicht darum, um dies in das scholastische Beispiel zurückzuübersetzen, woher das Schaf instinktiv weiß, daß es vor einem Wolf fliehen muß, sondern darum, woher es weiß, daß es vor einem Wolf fliehen muß, nachdem es schon einmal einen Wolf gesehen hat. D.h. es geht ihm nicht um die Erklärung von instinktivem Verhalten, sondern um die von gewohnheitsmäßigem Verhalten oder Lern verhalten. Zum zweiten Punkt: Wolff übernimmt die scholastische Einteilung der Seelenvermögen und die These von der facultas aestimativa. Das vernunftähnliche Schätzungsvermögen gründet sich auch für ihn auf die sinnlichen Vermögen Sinne, Einbildungskraft und Gedächtnis. Wir werden später sehen, daß er außerdem auch auf den Gemeinsinn der Scholastiker zurückkommt. Die facultas aestimativa ist höhergestellt als die zuerst genannten Vermögen, gehört aber trotzdem noch der sinnlichen Seele an.

II. Leibniz' moderne philosophische Begründung der scholastischen These Wolff bezieht sich in seinen Ausführungen zum Analogon rationis fast ausschließlich auf die antike und scholastische Tradition. Die Vernunft oder Vernunftähnlichkeit der Tierseele war aber schon vor Wolff wieder in den Brennpunkt des philosophischen Interesses geraten. Die Bestimmung der Tierseele hatte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine heftige Kontroverse ausgelöst. Der Artikel „Rorarius" aus Bayles Wörterbuch von 1695-1697 beschreibt diverse Streit-

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punkte und Lösungsansätze, darunter Leibniz' These der prästabilierten Harmonie, und veranlaßte Leibniz' zu einer bzw. mehreren Antworten zur weiteren Erläuterung seiner Thesen zu dem Thema. Wolff, den Leibniz in einem Brief auf diese Schriften hingewiesen hat,12 zitiert auch vereinzelt aus diesen Werken. 13 Es steht daher außer Zweifel, daß Wolff mit dieser Debatte vertraut war. Warum bezieht er sich also auf die Scholastiker statt direkt auf Leibniz, von dem er doch offensichtlich den Begriff des Vernunftähnlichen entlehnt? Ich möchte im folgenden zeigen, daß Wolffs Verweis auf die Scholastiker philosophisch motiviert ist und nicht nur einer rhetorischen Strategie entspricht. In anderen Worten, es geht Wolff nicht so sehr darum, sein Epigonentum (sein „Abschreiben" Leibnizscher Thesen) zu vertuschen, als darum, eine tatsächliche Affinität zu den Scholastikern stärker herauszukehren. Diese Hypothese möchte ich im folgenden durch eine nähere Untersuchung von Leibniz' und Wolffs Argument begründen. Es soll zunächst das Leibnizsche Argument in seinem Kontext und auch in seiner Abhängigkeit zur Scholastik kurz dargestellt werden. Wenden wir uns erst einmal Bayle und seinem Artikel „Rorarius" zu, der die Tierseelendebatte und Leibniz' Position zu dem Thema sehr ausführlich beschreibt. Bayle präsentiert sein Argument als eine Rezension von Hieronymus Rorarius' Schrift Rorarius, quod ammalia bruta rationis utanur melius homine von 1654. Der Titel des rezensierten Werkes enthält auch die These des Autors: Rorarius möchte beweisen, daß die Tiere vernunftbegabt sind, ja daß sie sogar die Vernunft besser als die Menschen gebrauchen. Bayle ist offensichtlich der Ansicht, daß diese These ernst genommen werden muß. Er hebt in diesem Zusammenhang mehrere tierische Verhaltensschemata hervor, die den Rückschluß auf eine solche animalische Vernunft zu gestatten scheinen: Un chien, battu sur un morceau de viande, n'y touche plus quand il voit son maître le menaçant d'un bâton. [...] si l'action de ce chien est accompagnée de connaissance, il faut nécessairement que le chien raisonne: il faut qu'il compare le présent avec le passé, et qu'il en tire une conclusion; il faut qu'il se souvienne et des coups qu'on lui a donné, et pourquoi il les a reçus, il faut qu'il connaisse qu'il se ruait sur le plat de viande qui frappe ses sens, il ferait la même action pour laquelle on l'a battu; et qu'il conclue que pour éviter des nouveaux coups de bâtons, il doit s'abstenir de cette viande. 14

Bayle kommentiert dieses Verhaltensmuster wie folgt: N'est-ce pas un véritable raisonnement? Pouvez-vous expliquer ce fait par la simple supposition d'une âme qui sent, mais sans réfléchir sur ses actes, mais sans réminiscence, mais sans comparer deux idées, mais sans tirer nulle conclusion?

12

13 14

Vgl. C. 1. Gerhardt (Hg.), Briefwechsel zwischen 1971 (Nachdruck der Ausg. Halle 1860), BriefVl, Vgl. Wolff, Psychologia rationalis, (wie Anm. 2), Bayle, Pierre, Artikel „Rorarius", in: Dictionnaire S. 588-622, hier: Note Β, S. 590.

Leibniz und Christian Wolff. Hildesheim S. 32 § 762. historique et critique, Bd. ΧΠ. Genf 1969,

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In Bayles Augen haben die Philosophen bisher vor allem versucht, diese empirischen Tatsachen zu leugnen, ob es sich nun um die von Aristoteles begründete „Sekte" handelt oder um die cartesianische. Während die Cartesianer dem Tiere jegliche Seele absprechen, so behaupten die Peripatetiker, diese besäßen zwar Sinnlichkeit und Gedächtnis, nicht aber Vernunft: „ceux-là nient que les bêtes aient une âme; ceux-ci soutiennent qu'elles en ont une douée de sentiment et de mémoire, mais non pas de raison." Beide Antworten sind in Bayles Augen unbefriedigend. Die peripatetische Berufung auf die sinnliche Seele ist unzureichend, um die reflexiven Akte zu begründen, die im Verhalten des Hundes offenbar werden. Aber die cartesianische Antwort ist es nicht minder. Zwar stellt sie einen klaren Unterschied zwischen Mensch und Tier fest und sichert die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, indem sie das Tier zu einer Maschine herabstuft. Sie ist aber leider höchst unwahrscheinlich, und widerspricht der empirischen Evidenz: „c'est dommage que le sentiment de M. Descartes soit si difficile à soutenir, et si éloignée de la vraisemblance". 15 Leibniz hingegen kommt, so Bayle, das Verdienst zu, in dieser Frage neue Perspektiven eröffnet zu haben: „M. Leibniz, l'un des plus grands esprits d'Europe, ayant bien connu ces difficultés, a fourni des ouvertures qui méritent d'être cultivées." 16 Der Besprechung dieses Philosophen widmet Bayle auch deshalb eine sehr lange Fußnote.17 Tatsächlich spricht Leibniz den Tieren spätestens von 1678/79 an und sehr explizit im Discours de métaphysique von 1686 eine Seele zu. Schon in der Frühschrift Novus methodus von 166718 setzt er sich mit dem Thema der Rationalität bzw. der Gelehrigkeit (docilitas) der Tiere auseinander und zitiert auch einschlägige Passagen aus Rorarius und Justus Lipsius. Die These von der sinnlichen Seele der Tiere enthält seines Erachtens eine doppelte Schwierigkeit: „Admissa autem in brutis anima sentiente, et mirificis in ea rationis simulacris, restât ingens difficultas eaque duplex". 19 Da eine solche Seele notwendigerweise unkörperlich ist, muß einerseits erklärt werden, wie sie nach dem Tode aufhört zu existieren. Eine unkörperliche Substanz aber kann nicht aufhören zu existieren, weil sie sich nicht in verschiedene Teile auflösen kann. Andererseits nötigt die These von der Seele der Tiere den Philosophen zur Abgrenzung der tierischen von der menschlichen vernünftigen Seele. Er muß rechtfertigen, warum er dann nicht auch dem Tier Vernunft zuspricht: „altera difficultas est cur ergo non et rationem brutis concedamus, cum et incorpóreas habeant animas, et admirandos effectus edant." 15 16 17

18 19

Ebd., S. 588. Ebd., S. 589. Der Artikel besteht ohnehin größtenteils aus Fußnoten. Der Text selbst ist nur etwa eineinhalb Seiten lang, die Fußnoten hingegen etwa dreißig Seiten. Ich danke Jeongwoo Park für den wertvollen Hinweis auf diese Schrift. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae, Herbst 1667, Druck C. Frankfurt 1667, in: ders., Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1923ff, Reihe 6, Bd. 1 (1930), S. 261-364, hier S. 268, Fußnote mit Variante.

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Zur Lösung dieser Schwierigkeiten wirft Leibniz schon hier die Hypothese der Unverweslichkeit der Tiere auf, die er von der menschlichen Unsterblichkeit unterscheidet. Die Frage bleibt aber noch ungelöst. Auch der Brief an Conring vom 1 9 29. März 1678 bietet noch keine Lösung. Hier schreibt Leibniz, es sei möglich, daß Gott eine dem Tiere ähnliche Maschine hätte bilden können. Mit Gewißheit beweisen könne aber diese Hypothese niemand, außer durch Offenbarung. Beobachtungen lassen eher das Gegenteil vermuten: z.B. zeigt sich der Affe im Spiele oft dem Menschen an List überlegen, was darauf hinweist, daß er nicht einfach wie eine Maschine funktioniert. Erst im Discours de Métaphysique von 1686 gibt Leibniz eine eindeutige Antwort auf die Frage der Tierseele. Von diesem Moment ab fuhrt Leibniz seine Position an zahlreichen Stellen seiner Schriften aus.20 Zur Beschreibung der tierischen Seele bedient sich Leibniz insofern noch der Terminologie der Scholastiker, als daß er den Begriff der substantiellen Formen rehabilitiert und auch auf gewisse scholastische Seelenvermögen zurückkommt. Gleichzeitig setzt er dem Realismus der Scholastiker einen idealistischen Seelenbegriff entgegen, der jeglichen äußeren Einfluß auf die Seele ausschließt. Genauer gesagt, besitzen die Tiere, Leibniz zufolge, wie die Menschen eine Seele. Die Seele nennt Leibniz auch eine Monade: jede einzelne von ihnen repräsentiert in sich spiegelgleich das Universum, d.h. sie ist keinem anderen äußeren Einfluß unterworfen als der göttlichen Kausalität, insofern als daß Gott diese Substanz zusammen mit anderen in einer prästabilierten Harmonie geschaffen hat. Daß diese Substanzen keine Fenster besitzen, durch die etwas hinein- oder heraustreten kann, unterscheidet sie grundlegend von den Substanzen der Scholastiker. Wie Leibniz in seiner Monadologie erklärt, können die Akzidenzien sich nicht von den Substanzen loslösen und außerhalb ihrer herumspazieren, wie es damals die species sensibiles der Scholastiker taten. Daraus folgt, daß weder Substanz noch Akzidenz von außen in eine Monade hineinkommen kann (Monadologie, § 7). Alle Veränderungen der Monade rühren, da aller äußerer Einfluß ausgeschlossen ist, von einem inneren Prinzip, d.h. von einer eigenen spontanen Kausalität her. In diesem Sinne ist diese Substanz (d.h. sowohl die menschliche als auch die tierische Seele) eine Kraft. Das Tier besitzt Leibniz zufolge Sinnlichkeit, „du sentiment", d.h. „perception". Diese Vermögen bezeichnen den inneren Zustand der Monade, in dem sie sich äußere Dinge vorstellt: „l'état intérieur de la monade représentant les choses externes". Da sie äußere Dinge als in der Zeit identische erfaßt, müssen außerdem Gedächtnisvermögen und Einbildungskraft angenommen werden (Principes, § § 4 , 5). Außer der Perzeption besitzen Tiere Leibniz zufolge 20

Z.B. im Discours de métaphysique, § 12 und § 34: „De la différence des esprits et des autres substances, âmes ou formes substantielles, et que l'immortalité qu'on demande importe le souvenir", in seiner Antwort an Foucher (Réponse aux objections de Foucher), in der Antwort an Bayle, im Systeme nouveau, in den Principes de la nature et de la grace, in der Monadologie und der Commentano de anima brutorum von 1710.

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eine bestimmte sinnliche Art von Begehrungsvermögen. In § 12 der Monadologie heißt es: „Die Tätigkeit oder das innere Prinzip, welches den Wechsel oder den Übergang von einer Perzeption zur anderen bezeichnet, kann als Begehren bezeichnet werden." Daraus, daß die Seelensubstanz keinem äußeren Einfluß ausgesetzt ist, folgt weiterhin, daß sie unverweslich ist. Besitzen nun aber die Tiere eine vernünftige Seele? Leibniz verwendet einen Vergleich, um die Form von „Rationalität" zu beschreiben, die den Tieren eigen ist: er vergleicht die Tiere mit einer medizinischen Sekte. Offensichtlich unterscheidet er mit Bezug auf die griechische Tradition dreierlei Sekten, die methodischen, die empirischen und die vernünftigen Ärzte. Die Besonderheit der Methodiker besteht darin, daß sie jegliche Bezugnahme auf Erfahrung ablehnen, „les simples méthodiques ne se soucioient guère des observations ou expériences, ils croyoient avoir tout réduit aux causes ou raisons." (Réponse aux objections de Foucher). Die beiden anderen Sekten stützen sich hingegen auf die Erfahrung. Ihre Vorhersagen beruhen allein auf empirischen Kenntnissen. Aufgrund solcher empirischer Kenntnis glauben sie, mit Sicherheit feststellen zu können, daß ein Fall einem früheren ähnelt und daher ähnliche Konsequenzen nach sich ziehen muß. „cette secte se contente de faits ou expériences pour dire: ceci a servi ou nui, donc il pourra encore servir ou nuire dans des cas semblables." Mit dieser letztgenannten Sekte von Ärzten vergleicht nun Leibniz die Tiere: auch sie besitzen eine beschränkte, empirische Kenntnis der Dinge: „J'ai montré qu'il suffit que les bêtes soient seulement empiriques pour faire tout ce qu'ils font." Leibniz beschreibt aber noch genauer, worin die Ähnlichkeit der tierischen Seelenvermögen mit der Vernunft besteht. Bei der Erfahrungserkenntnis spielen die tierischen Vermögen Gedächtnis und Einbildungskraft eine besondere Rolle, denn mittels dieser Vermögen ist das Tier imstande, eine empirische Verkettung oder Konsekution zwischen den Perzeptionen herzustellen. Dieses Verkettungsvermögen hat nun Leibniz zufolge „einige Ähnlichkeit mit der Vernunft." (Principes, § 5). Zur Veranschaulichung seiner These fuhrt Leibniz das „klassische", schon oben zitierte Beispiel vom Hund an. Der Anblick des Stockes treibt den Hund in die Flucht, weil er die gegenwärtige Vorstellung mit einer ähnlichen aus der Vergangenheit verknüpft, mit der er eine Schmerzempfindung assoziiert: „c'est ainsi qu'un chien fuit le bâton dont il a été frappé, parce que la mémoire lui représente la douleur que ce bâton lui a causé." Sein Vermögen der Perzeption erlaubt es nun dem Tiere, bestimmte zukünftige Ereignisse vorherzusehen. Indem es die Ähnlichkeit zwischen der gegenwärtigen und der vergangenen Situation erkennt, kann es mithilfe des Gedächtnisses ähnliche Folgen vorhersehen. Inwiefern unterscheidet sich nun animalische von menschlicher Rationalität? Der Mensch kann einerseits auch wie ein Tier handeln. Darauf weist schon der Vergleich des Tieres mit den empirischen Ärzten hin: Leibniz geht zur Klärung der tierischen Verhaltensmuster von menschlichen Verhaltensmustem aus. Außerdem bemerkt Leibniz ausdrücklich, daß „wir einen Großteil unseres Lebens als Empiri-

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ker handeln." „Nous sommes empiriques dans les trois quarts de nos actions." {Monadologie, § 28). Zum Beispiel erwarten wir, daß es morgen früh wieder hell werde, weil dies bisher immer der Fall war. Jedoch ist eine solche Vorausschau lediglich in einem faktuellen Gedächtnis begründet („n'est fondée que dans la mémoire des faits") und bleibt nur wahrscheinlich. Der Mensch ist aber überdies mit Apperzeption oder Selbstbewußtsein ausgestattet: „l'homme doué de l'aperception qu'est la conscience ou la connaissance de son état intérieur." Aufgrund dieser spezifisch menschlichen Vermögen kann er außerdem zukünftige Ereignisse durch die Erkenntnis der Ursachen voraussehen. Er ist zu eigentlichen Vernunftschlüssen („raisonnements") imstande, die ihm Einsicht in notwendige und ewige Wahrheiten gewähren: solche, die die Ideen unzweifelhaft verbinden und unfehlbare Folgen darstellen („des vérités nécessaires et indubitables qui font les connexions indubitables des idées et les conséquences immanquables"). So sieht der Astronom beispielsweise die Regelmäßigkeit des Sonnenaufgangs nicht bloß durch Erfahrungskenntnis, sondern durch Vernunftgründe ein (ebd.). Ein solches Vernunftvermögen ist für Leibniz die Grundlage für Freiheit und Persönlichkeit. Aufgrund dieses Vermögens sind wir nicht nur Teil eines mechanischen Weltzusammenhangs, sondern auch, innerhalb der natürlichen Welt, Teil einer moralischen Welt; wir sind Teil eines nexus finalis, oder einer von Gott regierten Monarchie. Schon vor Wolff liefert Leibniz daher eine Begründung der tierpsychologischen Beobachtungen, die auf ein animalisches, vernunftähnliches Vermögen schließen lassen. Zwar zeugen vor allem die Frühschriften von Leibniz' Auseinandersetzung mit der scholastischen Psychologie. Der Bezug zur scholastischen Philosophie ist in den späteren Schriften weniger explizit als in den früheren Texten aus seiner Jugend und Studienzeit. Er bleibt nichtsdestotrotz präsent. Der Schwerpunkt bei Leibniz liegt dabei meist auf der Abgrenzung von Mensch und Tier. Es geht ihm darum, herauszustellen, was menschliche und tierische Erkenntnisvermögen oder „Rationalität" voreinander trennt. Diese These ist vor dem Hintergrund der theologischen Debatten seiner Zeit zu verstehen. Die Vernunft soll als Grundlage von Persönlichkeit und Unsterblichkeit als spezifisch menschliche Eigenschaft begründet werden. Dieser Umstand wird auch von Bayle besonders hervorgehoben. Leibniz, so Bayle, gelinge es durch diese neue Unterscheidung, die menschliche Unsterblichkeit zu sichern. In Wolffs Psychologie läßt sich nun, wie wir im folgenden sehen werden, eine wesentliche Akzentverschiebung erkennen. Während Leibniz in erster Linie den Gegensatz zwischen empirischer Konsekution und Vernunfteinsicht betonte, weist Wolff auf ihre Verbindung hin: die Konsekution ist ihm Grundlage der Vernunfteinsicht. Daher kehrt Wolff expliziter als Leibniz zu den sinnlichen Vermögen der Scholastiker zurück, und eröffnet gleichzeitig neue Perspektiven.

Zum Begriff des

Vernunftähnlichen

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III. Wolffs These von der Kontinuität zwischen sinnlichen und Verstandesvermögen Die Parallelen zwischen Wolffs und Leibniz' These sind offensichtlich. Zum einen folgt Wolff Leibniz in seiner Bestimmung der Tiernatur. Auch Wolff spricht dem Tier eine Seele zu, definiert sie als einfache, unverwesliche, mit Perzeption und Gedächtnis ausgestattete Substanz. Zum anderen scheint er auch dessen Bestimmung der tierischen Erkenntnisvermögen zu übernehmen. Denn auch Wolff unterscheidet zwischen zwei Arten von Verkettung, von denen die eine vermittelst des Gedächtnisses, der Sinne und der Einbildungskraft hergestellt wird, und die andere vermittelst der Vernunft. Auch schreibt er den ersten Typ dem Tiere zu, und den zweiten dem Menschen. Ja, Wolff übernimmt selbst das Beispiel des den Stock fliehenden Hundes von Leibniz. 21 Jedoch legt Wolff im Gegensatz zu Leibniz den Akzent fast immer auf die Ähnlichkeit und nicht auf den Gegensatz zwischen den beiden Typen von Verkettung. So im § 375 der Deutschen Metaphysik'. [Die Erwartung ähnlicher Fälle] vertritt aber in dem größten Theile der Handlungen der Menschen nicht allein die Vernunft, sondern kan auch der Vernunft gleichgültig, ja gar gemäss werden, wenn man die Umstände richtig determinieret, unter welchen etwas geschieht. Denn so erkennt man, daß der Ausgang mit den Umständen zusammenhänget, ob man gleich nicht begreiffet, wie solches zugehet, und also in den Zusammenhang keine deutliche Einsicht hat.

Im anfänglich z.T. zitierten § 872 der Deutschen Metaphysik beschreibt Wolff den Unterschied zwischen Mensch und Tier deshalb auch als einen graduellen: er behauptet, die Erwartung ähnlicher Fälle sei der Vernunft insofern ähnlich, als daß auch sie eine Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten gewähre. Die Erwartung ähnlicher Fälle sei deshalb „gleichsam der niedrigste Grad der Vernunft, oder die nächste Staffel der Vernunft oder auch der Anfang der Vernunft." Zur Veranschaulichung dieser These bedient sich Wolff übrigens wiederum eines Beispiels von Leibniz, dessen ursprünglichen Sinn er jedoch umkehrt: Daß die Sonne morgens frühe wiederum aufgeht, erkennen die meisten Menschen aus der Erfahrung, und sie können nicht sagen, warum es geschieht. Hingegen ein Sternkundiger, der die Ursache der himmlischen Bewegungen und den Zusammenhang der Erde mit dem Himmel einsiehet, erkennet solches durch die Vernunft, und kann es demonstrieren, daß, warum und zu welcher Zeit es geschehen muß.

Während für Leibniz das Vermögen der Erwartung ähnlicher Fälle d.h. die Fähigkeit, eine regelmäßige Abfolge von Ereignissen mit Wahrscheinlichkeit vorherzusagen, nicht auf Erkenntnis im strengen Sinne, sondern auf Gewohnheit begründet ist, da Erkenntnis gewiß sein muß, bestimmt Wolff schon die Erwartung ähnlicher Fälle als Erkenntnis. Denn empirische Erkenntnis stellt neben der Vernunfter21

Vgl. Wolff, Deutsche

Metaphysik,

(wie Anm. 4), § 870.

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Stefanie

Buchenau

kenntnis eine der beiden Erkenntnismethoden dar. Durch empirische oder historische Erkenntnis erkennen wir, was ist und geschieht: „cognitio eorum, qua in mundo materiali sunt atque fiunt." 22 Das heißt, daß Erfahrungserkenntnis zwar nicht wie die philosophische Erkenntnis die Erkenntnis des Grundes dieser Tatsache mit einschließt, aber nichtsdestoweniger die Tatsache selbst erkennt: hier nicht nur ein singuläres Ereignis, sondern eines, in dem schon eine gewisse allgemeine Regel manifest wird. Das Vermögen zur Erwartung ähnlicher Fälle ist auf einer solchen empirischen Erkenntnis der Dinge gegründet, so wie auch das Vermögen zur Begriffsbildung d.h. die Einordnung eines Gegenstandes bezüglich seines Artund Gattungsbegriffes auf empirischer Erkenntnis gründet. Durch Gedächtnis und Einbildungkraft nehmen wir die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Dingen wahr. 23 Die empirische Erkenntnis liefert in diesem Sinne der philosophischen die Grundlage. Deshalb soll Wolff zufolge das connubium zwischen beiden „in der ganzen Philosophie heilig sein". 24 Diese Form von Empirismus erinnert tatsächlich an die aristotelische und scholastische empirische Tradition. Wie Aristoteles, nimmt Wolff eine Kontinuität zwischen Sinneswahrnehmung und Vernunfterkenntnis an. Wie Aristoteles, vertritt er die These, daß die Erfahrung des Einzelnen schon ein Allgemeines in sich enthält, und daß diese von einem aktiven Seelenvermögen abhängt, das erst erworben werden muß. So spricht Aristoteles in den Zweiten Analytiken (II, 19) von einem habitus der Erfahrung, der nur durch eine große Anzahl an sinnlichen Wahrnehmungen erworben werde könne. Dem entspricht bei Wolff die These, daß man sich sein empirisches Urteilsvermögen erst durch Übung erwirbt: Es kommet nun eben darauf an, daß man zu urtheilen weiß, ob entweder alle oder doch die meisten Umstände einerley, keine aber anders befunden werden, ob man zwar einige gar nicht erkennet, wie sie beschaffen sind. 25

Daneben nimmt Wolff auch die aristotelisch-scholastische These von einem sinnlichen Gemeinsinn auf. 26 Denn zu den sinnlichen Vermögen zählt er auch das Vermögen, mit dem Gegenstand zugleich die Wahrnehmung des Gegenstandes wahrzunehmen und die einzelnen Gegenstände der einzelnen äußeren Sinne zu unterscheiden. Diese Wahrnehmung ist eine Art von Selbstwahrnehmung, die sich darauf gründet, daß wir uns als von den Außendingen verschieden wahrnehmen. Wir sind uns unserer bewußt, „wenn wir den Unterschied unserer und der anderen Dinge mercken, deren wir uns bewußt sind." 27 Dieser Unterschied wird zunächst verworren wahrgenommen.

22 23 24 25 26 27

Ders., Discursus praeliminaris de philosophia in genere, Kap. 1, § 1. Ders., Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 4), § 273. Ebd., § 12. Ders., Anmerkungen, (wie Anm. 5), § 192: „Worauf die Erwartung ähnlicher Fälle beruhet." Vgl. Aristoteles, De anima III 2. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 4), § 730.

Zum Begriff des

Vernunftähnlichen

203

Wolff greift also im Vergleich zu Leibniz expliziter auf die Thesen der „Schul=Weisen" 28 zurück. Dieser Rückgriff auf die alten Thesen geschieht aber in einem modernen Kontext. Es geht Wolff um die Klärung der Voraussetzungen dessen, was Leibniz Vernunfterkenntnis oder deutliche Erkenntnis nennt. Die Erkenntnis einer neuen Wahrheit ist, so behauptet Wolff, immer zunächst eine Sinneserkenntnis, immer zunächst verworren, niemals gleich deutlich. Deutlichkeit wird erst durch Analyse erlangt, indem das Subjekt in einem zweiten Schritt den in seiner Erkenntnis enthaltenen impliziten Vernunftschluß in seine einzelnen Bestandteile zerlegt. Deshalb muß die sinnliche Empfindung schon ein Typ von Erkenntnis sein. Die sinnliche Erkenntnis muß notwendig als in Kontinuität zur deutlichen Erkenntnis stehend gesehen werden. Und damit verbunden ist auch die Annahme einer Kontinuität zwischen sinnlicher Selbstwahrnehmung und menschlichem Selbstbewußtsein. Wolffs These von der Kontinuität zwischen Sinnlichkeit und Vernunft mag nun aber den Eindruck vermitteln, als gäbe es nur einen graduellen Unterschied zwischen Tier und Mensch. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß Wolff ja dem Tier ausdrücklich ein Bewußtsein zuspricht. Diese Sicht begründet er wie folgt: [...] da Klarheit und Deutlichkeit der Empfindungen verursacht, daß wir uns unserer und dessen, was wir empfinden, bewußt sind, so kann man auch begreifen, daß die Thiere sich ihrer und dessen, was sie empfinden, müssen bewusst sein, d.h. ein Thier weiß es, daß es siehet oder höret oder fühlet. 29

Es scheint, als vertrete Wolff eine radikalere These als die aristotelisch-scholastische Tradition, und eine, die aus theologischer These nicht ungefährlich ist. Kann man wirklich ein solches Kontinuum zwischen Sinnes- und Vernunfterkenntnis annehmen? Bedeutet diese These nicht, daß Tiere erkennen können und Selbstbewußtsein besitzen? Und stellt das nicht die spezifische Vemunftnatur des Menschen, auf die sich wiederum seine Freiheit und Unsterblichkeit gründen, in Frage?30 Was macht denn dann eigentlich noch die spezifisch menschliche Vernunft aus? Spezifisch menschlich, behauptet Wolff, ist das Vermögen zur deutlichen Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten. Genauer gesagt kann man Wolff zufolge Vernunft in einem weiteren und in einem engeren Sinne verstehen. Im weiten

28 29 30

Ebd., § 872. Ebd., § 794. Oliver-Pierre Rudolph wies mich darauf hin, daß diese Frage bzw. dieser Vorwurf auch von einem Zeitgenossen Wolffs erhoben wurde, nämlich von dem Oberst von Bequignole, vgl. Ludovici, Carl Günter (Hg.), Sammlung und Auszüge der sämmtlichen Sireilschriften wegen der Wolffischen Philosophie, Anderer Teil, in: Wolff, Christian, Gesammelle Werke, (wie Anm. 2), Abt. III, Bd. 2.2 (1976), S. 1-42: Ludovici Carl Günther, Kurlzer Entwurffeiner vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie (1736), in: Wolff, Christian, Gesammelte Werke, (wie Anm. 2), Abt. III, Bd. 1.1 (1977), S. 650.

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Sinne des Wortes umgreift sie eigentlich alle Erkenntnisvermögen einschließlich der unteren. Wolff wehrt sich aber gegen eine solche weite Verwendung des Begriffs: Man siehet aber ohne mein Erinnern, daß man nicht alles natürliche Vermögen zu erkennen Vernunft nennen kann; denn so gehören die Sinnen, die Einbildungskraft, der Verstand, der Witz auch zur Vernunft, und müssten als Arten der Vernunft angesehen werden, welches doch aber niemand einräumet. Und daher kann man auch nicht alle natürliche Erkäntnis, die der Mensch hat, zur Vernunffî rechnen, und alle Urtheile die er fallet als Urtheile der Vernunfft ansehen. 31

Im engeren Sinne ist die Vernunft die deutliche Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten, d.h. eine Einsicht, die sich auf den Verstand, d.h. auf das Vermögen, das Mögliche deutlich vorzustellen, gründet. Dieses Vermögen besitzt das Tier in Wolffs Augen nicht. „Thiere haben keine Vernunft."32 Sie entbehren der Vernunft, da ihnen die Sprache fehlt. Da die Thiere gar wenige Veränderungen in ihrer Stimme haben, dadurch sie einiges, was ihren Zustand betrift, anzeigen: hingegen man bey ihnen keine förmliche Töne verspüret, dadurch sie die Sachen anzudeuten pflegten, die sie sich vorstellen; so kan man daraus abnehmen, weil nehmlich die Seele und der Leib in einer beständigen Harmonie sind (§ 765, 789), daß sie ihre Empfindungen und Einbildungen nicht viel überdencken und keine große Aufmerksamkeit darauf haben (§ 272), folgends es ihnen an der Deutlichkeit fehlet, die zur Vernunft erfordert wird (§ 865, 866). Derowegen kan man auch ihnen keine Vernunft zuschreiben.

Daß der Mensch hingegen Vernunft bzw. das Vermögen deutlicher Erkenntnis besitzt, zeigt sich an seinem Sprachvermögen. Genauer: er kann sprechen, weil er denken kann und kann denken, weil er sprechen kann. Vernunft ist von dem Gebrauch sprachlicher Zeichen abhängig, da nur mithilfe der Sprache größere Zusammenhänge auf einmal erfaßt werden können, und damit eine deutlichere Erkenntnis erlangt werden kann. Die Sprache dient außerdem als ein Vehikel, in dem ein bestimmtes Wissen von einer Generation an die nächste unmittelbar weitergegeben wird. Dies geschieht insofern unmittelbar, als daß die Sprache von Anfang an die menschliche Sinnesempfindung strukturiert. Denn sie erlaubt dem Menschen, eine Empfindung mit einem Namen zu verknüpfen. Dies läßt sich aus Wolffs Beschreibung des menschlichen Spracherwerbs in der Deutschen Metaphysik entnehmen: Wir empfinden nehmlich die Dinge und hören ihren Nahmen öfters zugleich. Dadurch werden wir vermögend uns durch die Einbildungs=Kraft den Nahmen wieder vorzustellen, indem wir

31 32

Wolff, Anmerkungen, (wie Anm. 5), § 192. Ders., Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 4), § 869, Psychologia § 762.

rationalis,

(wie Anm. 2),

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Vernunftähnlichen

205

das dadurch bedeutete Ding uns vorstellen, und hingegen dieses uns vorzustellen, wenn wir jenes hören oder daran gedencken. 33

Daß wir unsere Empfindungen mit Wörtern verknüpfen, erlaubt es uns, richtige Art- und Gattungsbegriffe der Dinge zu bilden bzw. indirekt von der Sprachgemeinschaft, in der wir leben, zu übernehmen. Anders ausgedrückt: die Sprache, die eine Art von Spiegel der Vernunft oder der Vernünftigkeit eines Zeitalters darstellt, beeinflußt die Natur der Sinnesempfindung. Sie vermittelt dem Individuum eine erste implizite, sinnliche bzw. verworrene Erkenntnis der Dinge. Die sinnliche Empfindung, durch die das Individuum in einen menschlichen Bedeutungszusammenhang versetzt ist, ist aber dann, da sie schon eine (verworrene) Erkenntnis darstellt, spezifisch menschlich. Diese Empfindung ist auch nicht statisch, sondern entwickelt sich parallel zur deutlichen Vernunfterkenntnis und zur Sprache d.h. mit fortschreitender Einsicht in den Gesamtzusammenhang der Welt. Die reine Vernunft, d.h. die deutliche Erkenntnis des Universalnexus, ist das Ziel oder der (ideale) Endpunkt dieser Entwicklung. Allein der Mensch als sprachbegabtes Wesen ist daher der Vernunft fähig. Obgleich „unrein", gewährt ihm sein Erkenntnisvermögen in zunehmendem Maße Einsicht in den Gesamtzusammenhang der Welt und damit auch in die Natur seines Selbst (d.h. seines Platzes innerhalb dieses Zusammenhangs). Dadurch kann er allmählich zu einem spezifisch menschlichen Selbstbewußtsein, d.h. zum deutlichen Bewußtsein oder zur deutlichen Erkenntnis seiner selbst als Person, gelangen. Und für den (mit Sprache begabten) Menschen gibt es daher eine Stufenleiter zwischen verworrenem und deutlichem Selbst- und Weltbewußtsein und zwischen verworrener und deutlicher Einsicht in den Universalnexus. Abschließend läßt sich daher feststellen, daß Wolffs Anleihe an die scholastische Terminologie zwar in vieler Hinsicht nur einen von Leibniz vorgeprägten Gedanken entwickelt. Indem jedoch Wolff im Gegensatz zu Leibniz den Schwerpunkt auf die empirische, sinnliche Grundlage der menschlichen Vernunfterkenntnis legt, schafft er die Grundlage für neue Reflexionen über die Natur der sinnlichen Erkenntnis. Es geht Wolff, wie seinen Zeitgenossen der Frühaufklärung Christian Thomasius und seiner Schule - übrigens auch, letztendlich um die Rehabilitierung der Erfahrungserkenntnis oder „sinnlichen" Erkenntnis als eines konstitutiven Bestandteils einer jeden menschlichen Vernunfterkenntnis, die sich uns zunächst als „verworrene" darstellt. Wenn er in diesem Sinne auf die Seelenvermögen der Scholastiker zurückkommt, so bringt dies gleichzeitig eine ganz und gar neuartige Begründung und eine Öffnung der alten Theorie mit sich. In den von Wolff abgesteckten Rahmen lassen sich nun auch neue, spezifisch menschliche Vermögen integrieren. So wird die Anzahl der unteren Seelenvermögen in Baumgartens Metaphysica eine be-

33

Ebd., § 297.

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trächtliche Erweiterung erfahren, und auch das vernunftähnliche Vermögen des Menschen weiter ausdifferenziert werden. Baumgarten fugt den vernunftähnlichen Vermögen beispielsweise ein menschliches Dichtungs- und Bezeichnungsvermögen hinzu. Denn durch den Zeichenzusammenhang einer vollkommen sinnlichen Rede, d.h. eines Gedichts, erschließt sich uns verworren eine eigene Welt, d.h. ein eigener Weltnexus der Dichtung. Aber auch diese neue „Ästhetik" beruht auf den neuen Voraussetzungen von Wolffs Seelenmetaphysik.

G I D E O N STIENING

(Gießen)

„Partes Metaphysicae sunt duae: Deus & Mentes." Anmerkungen zur Entstehung und Entwicklung der Psychologie als Metaphysica specialis zwischen Rudolph Goclenius und Christian Wolff „Partes Metaphysicae sunt duae: Deus & Mentes. Mentes sunt intelligentiae: vel anima rationalis a corpore secreta." 1 Diese Passage aus Rudolph Goclenius' „metaphysischer Grundschrift" 2 in Peripateticorum Metaphysica

et Scholasticorum

Primam

Philosophiam,

qua dici

Isagoge consueuit

von 1598 zeigt unmißverständlich an, daß spätestens mit den Schrif-

ten des Marburger Philosophen eine bestimmte Wissenschaft wiederum zum Gegenstand der Metaphysik werden konnte und sollte, die sich explizit erneut aus aristotelischen und platonischen Elementen zusammensetzte: die Psychologie. Eine solche metaphysische Betrachtung der Seele ist zum Zeitpunkt des späten 16. Jahrhunderts aus folgendem Grunde innovativ und daher bemerkenswert: Das Fach .Psychologie' bewegte sich während des 16. Jahrhunderts 3 weitgehend „innerhalb der Grenzen der Naturphilosophie", 4 und zwar sowohl im Gefolge der einfluß-

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2

3

4

Goclenius, Rudolph, Isagoge in Peripateticorum et Scholasticorum Primam Philosophiam, qua dici consuevit Metaphysica. Hildesheim 1976 (Nachdruck der Ausg. Frankfurt 1598), Praefatio, S. 9 (§ 22f.). So die angemessene Einordnung dieser Schrift in das Werk des Marburger Philosophen durch Leinsle, Ulrich G., Das Ding und die Methode. Methodische Konstitution und Gegenstand der frühen protestantischen Metaphysik. Augsburg 1985, Bd. 1, S. 175-196; vgl. jetzt auch Schmidt-Biggemann, Wilhelm, §10: Die Schulphilosophie in den reformierten Territorien, in: Grundriß der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa. Völlig neubearbeitete Ausgabe, hg. von Helmut Holzhey / Wilhelm SchmidtBiggemann. Basel 2001, S. 392^447, insb. S. 4 0 2 ^ 0 6 . Zur Psychologie des 16. Jahrhunderts vgl. auch Schüling, Hermann, Bibliographie der psychologischen Literatur des 16. Jahrhunderts. Hildesheim 1967, sowie de Angelis, Simone, Zwischen generatio und creatio. Zum Problem der Genese der Seele um 1600 - Rudolph Goclenius, Julius Caesar Scaliger, Fortunio Liceti, in: Lutz Danneberg / Sandra Pott / Jörg Schönert / Friedrich Vollhardt (Hg.), Naturforschung als Gottesdienst? Säkularisierung der Wissenschaften in der Frühen Neuzeit. Berlin / New York 2002, S. 94-144, sowie Boenke, Manuela, Körper - Spiritus - Geist. Psychologie vor Descartes. Stuttgart-Bad Cannstatt [im Druck]. So Keßler, Eckhard, Von der Psychologie zur Methodenlehre. Die Entwicklung des methodischen Wahrheitbegriffes in der Renaissancepsychologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 41 (1987), S. 548-570, hier S. 549; vgl. auch ders., The Intellective Soul, in: Charles B. Schmitt (Hg.), The Cambridge History of Renaissance Philosophy. Cambridge / New York 1992, S. 485-534; ders. / Park, Katharine, The Concept of Psychology, in: ebd., S. 455^163, insb. S. 457; de Angelis, Simone, Zur Galen-Rezeption in der Renaissance mit Blick auf die Anthropologie von Juan Luis Vives. Überlegungen zu der Konfiguration einer

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reichen Schriften Pietro Pomponazzis und der in ihnen ausgeführten Destruktion jeglicher philosophischen Unsterblichkeitsproblematik 5 als auch aufgrund des Melanchthonischen Verdikts über alle Metaphysik, deren Inhalte fur den Praeceptor germaniae vollständig der Theologie zuzuschlagen waren und daher nicht in der Philosophie abgehandelt werden konnten bzw. durften.6 Es war also noch 1598 nicht ganz leicht, im Rahmen protestantischer Schulphilosophie erneut die Möglichkeit, ja Notwendigkeit von Metaphysik als philosophischer Wissenschaft insbesondere einer Psychologie als Metaphysik - zu behaupten. Genau diesen Status einer Scientia fundamentalis schreibt Goclenius aber der Metaphysik wieder zu. Die u.a. von Walter Sparn und Ulrich G. Leinsle herausgearbeitete „Wiederkehr der Metaphysik"7 in der protestantischen Philosophie des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts, die Panajotis Kondylis und Ludger Honnefelder als überkonfessionelles Phänomen der europäischen Philosophiegeschichte dieses Zeitraums nachweisen konnten,8 vollzog sich in durchaus konfliktuösen Bahnen, war aber u.a. durch die vom Ramismus inaugurierte ,Methodendiskussion' 9 nicht zu verhindern. Vor allem Leinsle hat mehrfach und ausführlich gezeigt, daß diese Wiederkehr der Metaphysik, die zunächst eine Wiederkehr der Ontologie beinhaltete, 10 wenn nicht ausschließlich, so doch in besonderer Weise auf ramistische und semi-ramistische Einflüsse zurückzufuhren ist." Im Rahmen dieses Prozesses ge-

5

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8

9

10

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,Wissenschaft vom Menschen' in der Frühen Neuzeit, in: Manuel Baumbach (Hg.), Tradita et Inventa. Beiträge zur Rezeption der Antike. Heidelberg 2000, S. 91-109. Vgl. u.a. Pomponazzi, Pietro, Abhandlungen über die Unsterblichkeit der Seele. Lateinisch deutsch, übersetzt und eingeleitet von Burkhard Mojsisch. Hamburg 1990; sowie Burkhard Mojsisch, Epistemologie im Humanismus - Marsilio Ficino, Pietro Pomponazzi und Nikolaus von Kues, in: Enno Rudolph (Hg.), Die Renaissance und ihre Antike. Tübingen 1998, S. 5778. Vgl. hierzu zusammenfassend Frank, Günter, Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1497-1560). Hildesheim 1995. Vgl. hierzu Sparn, Walter, Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1976; Leinsle, Das Ding und die Methode, (wie Anm. 2). Vgl. hierzu Honnefelder, Ludger, Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit. Hamburg 1990, insb. S. 200ff. sowie Kondylis, Panajotis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik. Stuttgart 1990, insb. S. 129ff. Vgl. hierzu Schmidt-Biggemann, Wilhelm, Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983, S. 84ff.; Kondylis, (wie Anm. 8), S. 107ff.; die enge Verknüpfung der Methodendebatte mit der Entfaltung der Psychologie betont Keßler, Von den Psychologie zur Methodenlehre, (wie Anm. 4), S. 568: „Dieses generelle Interesse für die Methodenproblematik dürfte der Grund dafür gewesen sein, daß die Psychologie sich mit einem deterministisch-rezeptiven Erkenntnismodell nicht mehr zufrieden geben konnte." Vgl. hierzu u.a. Rompe, Elisabeth Maria, Die Trennung von Ontologie und Metaphysik. Der Ablösungsprozeß und seine Motivierung bei Benedictus Pererius und anderen Denkern des 16. und 17. Jahrhunderts. Bonn 1968. Vgl. Leinsle, Das Ding und die Methode, (wie Anm. 2); sowie ders., Methodologie und Metaphysik bei den deutschen Lutheranern um 1600, in: Eckhard Keßler / Charles H. Lohr / Walter

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specialis

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hört Rudolph Goclenius, der unter dem Einfluß spezifischer Ausrichtungen des Renaissance-Aristotelismus - u.a. Scaligere und Zabarellas - stand, 12 zu den ersten Philosophen, die an der neuerlichen Ausarbeitung einer Prima Philosopha sive Ontologia und ihrer Integration in das ,System' des philosophischen Fächerkanons beteiligt waren. Nun schreibt Goclenius allerdings nicht nur an einer Wiederkehr der Ontologie, spätestens seit der zweiten Hälfte der 1580 Jahre nimmt die Zahl der unter seinem Vorsitz verteidigten, daher zumeist von ihm geschriebenen Disputationes zu Fragen der Psychologie nachweislich zu.13 Auffallend schon an den Titeln dieser Texte ist, daß sie - nachdem diese psychologischen Traktate in der 80er Jahren noch weitgehend im Rahmen der vollständig der Physik zugehörigen Anima-Lehren, die im Anschluß an Melanchthons Standardwerk verfaßt wurden, stehen schon in der 90er Jahren die folgenden Titel tragen: Disputatio physica et metaphysical Abgehandelt wird in diesen kurzen Texten u.a. die Frage nach den ideae innatae bzw. den notiones communes. Die Bedeutung der Theorien über Ursprung und Geltung solcher ,nichtempirischer' Ideen bzw. Begriffe für die Ausbildung einer Psychologie als Metaphysik soll im folgenden noch genauer betrachtet werden. Einen sichtbaren Ausdruck dieser Transformation der Psychologie aus dem Gebiet der rein naturphilosophischen Anima-Lehren in eine sowohl ,physische' als auch ,metaphysische' Lehre vom Geist und der Seele des Menschen bildet die durch Goclenius entscheidend vorangetriebene ,Autonomisierung' der Psychologie als eigenständigem Gegenstand philosophischer Reflexion:' 5 Dieser Prozeß zeigt sich u.a. an der Tatsache, daß Goclenius im Jahre 1590 den ersten Band herausgab,

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Spam (Hg.), Aristotelismus und Renaissance. In memoriam Charles B. Schmitt. Wiesbaden 1988, S. 149-161. Vgl. hierzu Mulsow, Martin, Die wahre peripatetische Philosophie in Deutschland. Melchior Goldast, Philipp Scherb und die akioamatische Tradition der Alten, in: Helwig SchmidtGlintzer (Hg.), Fördern und Bewahren. Studien zur Europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 1996, S. 4 9 - 7 6 , insb. S. 53f.; Jensen, Kristian, Protestant Rivalry Metaphysics and Rhetorik in Germany c. 1590-1620, in: Journal of Ecclesiastical History 41.1 (1990), S. 24-43; sowie Stiening, Gideon, Rudolph Goclenius und die Rezeption der italienischen Renaissancephilosophie in Marburg, in: Martin Mulsow (Hg.), Spätrenaissance Philosophie in Deutschland 1570-1650. Wiesbaden [im Druck], Vgl. hierzu Stiening, Gideon, Psychologie, in: Barbara Bauer (Hg.), Philipp Melanchthon und die Marburger Professoren. Ausstellungskatalog. Marburg 1999, Bd. I, S. 315-344. Vgl. hierzu den Text: Disputatio Physica et Metaphysica: I. An notitiae naturales theoreticae & practicae nobiscum nascantur, an vero extrinsecus tantum ad animum afferantur. II. An natura seu substantia, qua substantia sit bona, cum aliis & Astronomicis, & Logicis, & Rhetoricis, & Ethicis. Ad cuius themata, Trinuno auxiliante Deo: Praestite clarissimo Philosopho, Rudolpho Goclenio, τ ρ ό π ο υ π α ι δ ε ί α ς in illustri Cattorum Academia Professore ordinario, publicè κ α τ ά τό δ υ ν α τ ό ν respondebit Eberhardus Venator Mussenhimensis VVedderavius. Marburg 1592. Vgl. hierzu auch Scheerer, Eckhart, Psychologie, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt 1989, Bd. 6, Sp. 1599-1653, insb. Sp. 1599.

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der im Titel den Begriff der Psychologia führte.16 An einem kurzen Beitrag des Herausgebers dieses als frühneuzeitlicher Sammelband zu bezeichnenden Werkes läßt sich nämlich aufzeigen, daß die Eigenständigkeit der Psychologie und ihre Aufnahme in die Sachfragen einer Metaphysica specialis aufs engste mit der NeuEntstehung und Entwicklung der Metaphysik überhaupt verbunden ist, und umgekehrt: es sind offenbar drängende psychologische Probleme, die Goclenius zu der bestimmten Form seiner Metaphysik veranlassen. Dabei läßt sich aufzeigen, daß eine Betrachtung der nationalen' Psychologie des Goclenius im Hinblick auf Christian Wolffs Auffassungen dieser Wissenschaft deshalb von besonderem Interesse ist, weil sie - trotz mannigfacher Unterschiede in einzelnen Gebieten - in Grundlegungsfragen Gemeinsamkeiten aufweisen. Gerade weil aber zwischen Goclenius und Wolff die ersten machtvollen Varianten einer Erkenntnistheorie der Aufklärung (Descartes, Locke und Leibniz) entstehen, führen - so die wichtigste These dieses Beitrages - die bei Goclenius entwickelten Momente rationaler Psychologie bei Wolff zu unbehebbaren Konzeptionsbrüchen.

I. Rudolph Goclenius (1547-1629) kann in bestimmter Hinsicht durchaus als .Christian Wolff des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts bezeichnet werden.17 Nicht nur hat er sich in nahezu allen Teilgebieten der Philosophie publizierend geäußert, und dies mehrfach sowie in oftmals umfangreichen Kompendien, er hatte zu Lebzeiten auch eine enorme Anziehungskraft auf die studierende Jugend (immerhin soll er um die 600 Disputationen abgenommen haben) und über seinen Tod hinaus nachhaltigen Einfluß auf die philosophische Entwicklung im 17. Jahrhundert, insbesondere im Bereich der Logik.18 Es ist u.a. seinen Schriften und deren Einfluß zuzuschreiben, daß sich eine Trennung von Philosophie und Theologie auch im Rahmen der protestantischen Universitäten anbahnte' 9 - auch wenn er diese von ihm häufig akklamierte Trennung nicht immer eingehalten hat. In grundlegendem Sachzusammenhang ist diese Trennung aber für seine Psychologie kon16

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Goclenius, Rudolph (Hg.), ΨΥΧΟΛΟΓΙΑ, hoc est hominis perfectione, animo & in primis ortu huius. Marburg 1590 (2. veränd. Auflage 1597). Eine ausführliche Würdigung des Philosophen Rudolph Goclenius steht noch aus, einige biobibliographische Angaben finden sich z.Z. nur unter Freudenthal, Jacob, Art. Goclenius, in: Allgemeine deutsche Biographie 9 (1879), S. 308-312; Kremer, Diana, „Von Erkundung und Prob der Zauberinnen durchs kalte Wasser". Wilhelm Adolf Scribonius aus Marburg und Rudolf Goclenius aus Korbach zur Rechtmäßigkeit der „Wasserprobe" im Rahmen der Hexenverfolgung, in: Geschichtsblätter,ßr Waldeck 84 (1996), S. 141-168; Wolfes, Mathias, Art. Goclenius, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 18 (2001), Sp. 514-519; SchmidtBiggemann, Die Schulphilosophie (wie Anm. 2), S. 402^t07. Vgl. hierzu Risse, Wilhelm, Die Logik der Neuzeit. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964/70, Bd. I, S. 450; sowie Leinsle: Das Ding und die Methode, (wie Anm. 2), S. 178ff. Vgl. hierzu Rompe, (wie Anm. 10), S. 203-218, Kondylis, (wie Anm. 8), S. 253ff.

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stitutiv. Neben der Psychologie, der Metaphysik und den Schriften zur Logik und Ethik ist es vor allem das Lexicon Philosophicum von 1613,20 das seinen Einfluß durch das 17. Jahrhundert hindurch festigte und das noch von Wolff ausführlich zu Rate gezogen wurde. 2 ' Doch kann ein solcher Vergleich mit Wolff durchaus nicht zu weit getrieben werden: kam Goclenius zumindest eine Zeit lang ein prägender Einfluß auf philosophische Debatten des frühen 17. Jahrhunderts zu, der dann auch Wolff hundert Jahre später zuschreibbar ist, so unterscheiden sich beide Philosophen doch nachhaltig in der systematischen Dichte ihrer Theorien, in spezifischer Hinsicht gilt Goclenius ganz zu Recht als eklektizistischer Vielschreiber, der bei Bedarf die eigenen Positionen verwarf und wieder aufnahm. 22 Dennoch läßt sich an seinen Texten zur Psychologie die Entwicklung von Fragen nachzeichnen, die zu einer Konzeption dieser Wissenschaft führte, welche sie als Metaphysica specialis einerseits und als Physik andererseits bestimmen mußte, mithin der Sache nach zu einer Kombination von Psychologia rationalis und Psychologia empirica - und diese Differenzierung, ihre Begründung und Ausarbeitung macht Goclenius zu mehr als einem bloßen ,Wolff des 16. Jahrhunderts', nämlich zu einem Vorläufer in Sachen Psychologie als philosophischer Wissenschaft. In seinem kurzen Beitrag zur ΨΥΧΟΛΟΓΙΑ von 1590,23 in dem es - wie in den meisten anderen Texten - um die Frage nach dem Ursprung - d.h. hier Grund und / oder Ursache - der (menschlichen) Seele geht, führt Goclenius folgendes aus: Keineswegs könne die Natur durch den natürlichen Zeugungsprozeß (generatio) als Ursprung der Seele angenommen werden, weil die anima damit ihres zugleich erforderlichen Status der Substantialität - damit aber ihrer Eigenschaft als reiner Immaterialität - verlustig ginge. Die für alle neuzeitliche Psychologie 24 bedeutende Frage nach der Verursachungsinstanz der Seele ist mithin für Goclenius nicht im Rahmen eines naturphilosophischen Kategoriensystems zu erklären. Sie ist aber für den Marburger Philosophen ebensowenig als durch eine Gottesinstanz verursacht zu erläutern - sei diese nun mit Hilfe eines theologischen oder eines philosophischen Begriffs entfaltet. Denn von Gott könne die Seele ebensowenig in ihrer Existenz verursacht worden sein, weil per definitionem der creatio dei stets eine creatio ex nihilo inhäriere, was als genuin theologische Begründung im Rahmen

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Goclenius, Rudolph, Lexicon Philosophicum, quo tanquam clave Philosophiae Fores aperiuntur, Informatum opera & studio Rudolphi Goclenii senioris, in Academia Mauritiana, quae est Marchioburgi, Philosophiae Professons primarij. Quae Seculo alteri prosunt, sere arbores. Frankfurt 1613. Vgl. hierzu die Nachweise bei Ruello, Francis, Christian Wolff et la Scholastique, in: Traditio. Studies in ancient and mediaval History, Thought and Religion 19 (1963), S. 4 1 1 - 4 2 5 , Leinsle, Das Ding und die Methode, (wie Anm. 2), S. 575, und Honnefelder, (wie Anm. 8), S. 296ff. Vgl. hierzu Freudenthal, (wie Anm. 17), S. 3 lOf. Goclenius, Rudolf, De ortu animi, in: ders., ΨΥΧΟΛΟΓΙΑ, (wie Anm. 16), S. 3 0 1 - 3 0 4 ; dieser Beitrag wird unverändert in die veränderte 2. Auflage von 1597 übernommen, ebd., S. 3 7 7 380. Vgl. hierzu Keßler, Von der Psychologie zur Methodenlehre, (wie Anm. 4), S. 549ff.

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Gideon

Stiening

der philosophischen Wissenschaften für unzulässig erklärt wird. In der Philosophie gelte nämlich - wie Goclenius in der Metaphysik ausführt - der Grundsatz: „Nam ex nihilo nihil fit, sed ex aliquo aliquid." 25 Im Hinblick auf das Verhältnis von Ontologie und Psychologie als ,Teile einer Metaphysik' kann also schon fur Goclenius - trotz terminologischer Unklarheiten von der begriffslogischen Sache her festgehalten werden, daß er u.a. als Inaugurator der Ontologie 2 6 deutlich zwischen einer Metaphysica generalis und einer Metyphysica specialis unterscheidet. Die - von ihm auch bezweifelte - „Einheit" der wissenschaftlichen Metaphysik garantiert Goclenius jedoch in der nachgewiesenen Identität ihrer Prinzipen, die jene hierarchisierende Unterscheidung ihrer Teile durch die jeweiligen Gegenstände nicht nur erlaubt, sondern erfordert. Gegen anderslautende Behauptungen - auch des Goclenius selbst 27 - erweist sich das Grundgerüst der neuen, weder empirischen noch theologischen, vielmehr apriorisch-philosophischen Wissenschaften als eine nach Allgemeinheit und Besonderheit unterschiedene, in sich differenzierte Einzelheit. N o c h fur Christian W o l f f wird sich diese Unterscheidung von Metaphysica generalis und Metaphysica specialis als tragfahig erweisen. 2 8

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Goclenius: Metaphysica, (wie Anm. 1), S. 165; daß die grundlegend konstitutive Bedeutung dieses Grundsatzes (,ex nihilo nihil fit') und seiner logisch-ontologisehen Konsequenzen zentrale Gehalte der Metaphysik (wie gesehen auch ihres psychologischen Moments) Goclenius' mit der Metaphysik des Rationalismus verbindet, u.a. derjenigen René Descartes' (Prinzipien der Philosophie. Übersetzt und erläutert von Artur Buchenau. Hamburg 71965, S. 17: „Wenn wir aber anerkennen, daß unmöglich aus Nichts Etwas werden kann, dann gilt der Satz: Aus Nichts wird Nichts nicht als ein existierendes Ding und auch nicht als Zustand eines Dinges, sondern nur als eine ewige Wahrheit, welche in unserem Geiste ihren Sitz hat und ein Gemeinbegriff oder ein Axiom genannt wird."), Baruch de Spinozas (ders., Briefivechsel, hg. v. Manfred Walther, Hamburg 31986, S. 41 : „ ,Aus nichts wird nichts.' Diese und ähnliche Lehrsätze werden eben schlechthin ewige Wahrheiten genannt [...].") oder eben Christian Wolffs (ders., Vemünfftige Gedancken von Gott, der Weit und auch der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [Deutsche Metaphysik], in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u.a. Hildesheim 1962ff, Abt. I, Bd. 2 [1983], S. 15 [§ 28]: „Was weder ist, noch möglich ist, nennent man Nichts. Da nun das unmögliche nicht seyn kann, folgends nicht zu etwas werden kann; so kann auch nicht Nichts zu etwas werden, oder auch Nichts etwas werden."), läßt sich präzise rekonstruieren. Vgl. hierzu auch Honnefelder, (wie Anm. 8), S. 312, S. 326ff. sowie Stiening, Gideon, Substanz und Grund bei Spinoza, in: Societas rationis. Festschrift für Burkhard Tuschling zum 65. Geburtstag, hg. von Dieter Hüning / Gideon Stiening / Ulrich Vogel. Berlin 2002, S. 61-82. So zu Recht Vollrath, Ernst: Die Gliederung der Metaphysik in eine Metaphysica generalis und eine Metaphysica specialis, in: Zeitschrift für philosophische Forschung XVI (1962), S. 258-284, hier S. 266f.; Rompe, (wie Anm. 10), S. 216f.; Kondylis, (wie Anm. 8), S. 254, Honnefelder, (wie Anm. 8), S. 314; Schmidt-Biggemann, Die Schulphilosophie, (wie Anm. 2), S. 405. Vgl. hierzu meine Ausführungen auf S. 217. Auch fur Wolff gilt diese Gliederung, weil eine Einheit dieser in sich differenzierten Wissenschaft der Metaphysik ihre Unterscheidung in einen allgemeinen und mehrere besondere Teile eben nicht verhindert. Honnefelders Versuch (Scientia transcendens, [wie Anm. 8], S. 314, S. 322ff. u.ö.) einer Marginalisierung der Bedeutung dieser Unterscheidung für Wolff (gestützt auch durch dessen terminologische Zurückhaltung) scheint mir an der recht unspektakulären

Psychologie

als Metaphysica

specialis

D a r ü b e r h i n a u s ist Ernst V o l l r a t h n a c h d r ü c k l i c h h i n s i c h t l i c h der

213 Annahme

zuzustimmen, daß die allgemeine Entstehung und spezifische Gliederung frühneuz e i t l i c h e r M e t a p h y s i k k e i n e s w e g s a u f t h e o l o g i s c h e o d e r gar r e l i g i ö s e G r ü n d e z u r ü c k z u f ü h r e n ist. 2 9 E s ist v i e l m e h r - g a n z i m S i n n e B l u m e n b e r g s - e i n e m M a n g e l an E r k l ä r u n g s l e i s t u n g der T h e o l o g i e - a u c h i m H i n b l i c k der Erklärung u n d B e gründung empirischer Forschungsergebnisse - geschuldet, daß sich die Psycholog i e erneut zur M e t a p h y s i k e n t w i c k e l t . 3 0 A u s der d e u t l i c h e n A b w e n d u n g v o n e i n e r t h e o l o g i s c h e n P s y c h o l o g i e sub creationis

specie

dei f o l g e r t G o c l e n i u s in s e i n e r P s y c h o l o g i e n u n m e h r : „ A u t n e c e s s e est,

ut dicatur, a n i m u m ñ e q u e creari, n e q u e generari: itaque inter c r e a t i o n e m & g e n e r a t i o n e m h i c m e d i u m s e u tertium e s s e . Q u i d n a m illud fuerit?" 3 1 Fraglos stehen Goclenius noch nicht die begriffs- und argumentationslogischen Instrumente d e s R a t i o n a l i s m u s -

d a b e i v o r a l l e m der r a t i o n a l i s t i s c h e G o t t e s b e -

g r i f f 3 2 - zur V e r f ü g u n g . V o r a l l e m k a n n G o c l e n i u s n o c h n i c h t a u f d i e rationalistis c h e n T h e o r i e n d e s S u b j e k t s z u r ü c k g r e i f e n , d i e e s s c h o n L e i b n i z erlaubten, f o l genden Grundsatz -

in i m p l i z i t e r B e a n t w o r t u n g der Frage d e s M a r b u r g e r s -

zu

formulieren: Dieser Gedanke meiner selbst, der ich mir der Sinnesobjekte und meiner eigenen, hieran anknüpfenden Tätigkeit bewußt werde, fugt zu den Gegenständen der Sinne etwas hinzu. [...] Es ist ferner die Betrachtung meiner selbst, die mir auch andere metaphysische Begriffe, wie die der Ursache, Wirkung, Tätigkeit, Ähnlichkeit usw., j a selbst die Begriffe der Logik und der

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Binnendifferenzierung, die, der Tradition entnommen, von der Wolffschen Philosophie vervollständigt und systematisiert wird, abzuprallen. Vollrath, (wie Anm. 26), S. 278. Vgl. dazu Blumenberg, Hans, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt/M. 1974, S. 134f.: „Eine Religion, die über Heilserwartungen und Rechtfertigungsvertrauen hinaus geschichtlich ihrem Anspruch nach zum ausschließlichen System der Welterklärung geworden ist, die aus der Grundidee der Schöpfung und aus dem Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen die Angemessenheit seines Erkenntnisvermögens an die Natur folgern konnte, aber schließlich in der mittelalterlichen Konsequenz ihrer Sorge um die unendliche Macht und absolute Freiheit ihres Gottes die Bedingung selbst zerstörte, die sie für das Weltverhältnis des Menschen vorgegeben hatte, eine solche Religion bleibt unausweichlich mit dieser widersprüchlichen Abwendung von ihren Voraussetzungen dem Menschen das Seinige schuldig. Ich beschreibe mit dieser Vorwegnahme der Hauptthese des zweiten Teils nicht die gesamte Geschichte des Christentums, sondern ihre endmittelalterliche Krise, also die Voraussetzungen für die Formierung der neuzeitlichen Rationalität." Zur Möglichkeit, j a Notwendigkeit der Anwendung der Blumenbergschen Distinktionen auf den Prozeß der Entwicklung friihneuzeitlicher Anthropologie vgl. Stiening, Gideon, Verweltlichung der Anthropologie? Von Casmann und Magirus bis Descartes und Hobbes, in: Danneberg u.a., (wie Anm. 3), S. 174-218. Goclenius, De ortu animi, (wie Anm. 23), S. 304 („Oder es ist sogar notwendig, daß man sage, die Seele werde weder erschaffen, noch [durch bzw. in der Natur] erzeugt, und deshalb sei hier zwischen Schöpfung und Erzeugung ein Mittleres oder Drittes anzunehmen. Doch was wäre jenes?" - Übersetzung G.S.) Zu den Leistungen und Grenzen dieser Instanz und ihrer spezifisch rationalistischen Variante vgl. Rod, Wolfgang, Der Gott der reinen Vernunft. Die Auseinandersetzung um den ontologischen Gottesbeweis von Anselm bis Hegel. München 1992.

214

Gideon

Stiening

Moral liefert. Demnach kann man sagen, daß nichts im Verstände ist, das nicht aus den Sinnen käme, ausgenommen der Verstand selbst oder das verstehende Subjekt. 3 3

Es bleibt mithin wenig überraschend, daß Goclenius seine Frage nach einer weder natürlichen noch göttlichen Ursache der Seele letztlich nicht beantworten wird. Gleichwohl läßt sich festhalten, daß es ebendiese hier angeführten naturphilosophischen und ontologischen Prämissen und Grundsätze sind, die ihn dazu veranlassen, eine Theorie der mens, die mehr ist als eine Theorie des menschlichen Geistes, als Teil der Metaphysik zu entwerfen. Historisch, aber auch systematisch bedeutend ist dies vor allem der Melanchthonischen Anima-Lehre gegenüber, die unter anderem von Goclenius' Marburger Kollegen Johannes Magirus in einem umfangreichen Kommentar noch 1603 uneingeschränkt bestätigt wird. Der Seelenlehre des protestantischen Grundlagentheologen entsprechend kann und darf es niemand anderes als Gott sein, der Ursprung fur Existenz und Essens der menschlichen Seele sein muß, um nämlich u.a. die verheerenden Folgen des Sündenfalls für die Erkenntnisfahigkeit des Menschen zu kompensieren. 34 Dabei ist entscheidend, daß Goclenius die Psychologie nicht nur aufgrund der allgemeinen Substantialität und Immaterialität der Seele zu einer Metaphysica specialis ausbaut, 35 sondern im besonderen auf der Grundlage seiner Theorie der notiones communes, die das spezifische Verhältnis von Psychologia rationalis und Psychologia empirica - d.h. ihr notwendig gegenseitiges Ergänzungsverhältnis konstituiert und eben dadurch die Notwendigkeit und genaue Gestalt einer rationalen Psychologie zu konturieren vermag. Genau dieses Theorieelement einer rationalen Erkenntnis/eAre wird in ganz ähnlicher Weise bei Wolff wieder auftauchen, und zwar mit ebenfalls analogen Funktionen für die gesamte psychologische Systematik.

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Leibniz, Gottfried Wilhelm, Von dem, was jenseits der Sinne und der Materie liegt (Brief an Königin Sophie Charlotte von Preußen, 1702), in: ders., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. 2 Bde, hg. von Ernst Cassirer. Hamburg 3 1966, Bd. II, S. 410-422, hier S. 413f.; Hervorh. im Text. Magirus, Johannes, Anthropologia, hoc est: Commentarius Erudissimus in aureum Philippi Melanchthonis libellum de Anima. Frankfurt/M. 1603; zu diesem Text vgl. auch Stiening, Psychologie, (wie Anm. 13), S. 334-341 sowie ders., Verweltlichung der Anthropologie?, (wie Anm. 30), S. 191-194. Übrigens bedient sich Goclenius entgegen der Tradition (vor wie nach ihm) nicht des Begriffs der Unsterblichkeit der menschlichen Seele als Moment einer rationalen Psychologie, denn diese Frage ist für den Marburger Philosophen nun endgültig eine solche, die in den Zuständigkeitsbereich der Theologie fallt. Der Sachverhalt selber, mithin die Unsterblichkeit der Seele, wird im Lexicon von 1613 unter philosophischen Gesichtspunkten ausdrücklich verneint, vgl. Goclenius, Lexicon, (wie Anm. 20), S. 104: ,^4nima nostra aliquando non est anima." (Hervorh. im Text.). Es sind derartige Passagen, die Goclenius zu Recht den Ruf eintrugen, zwischen Theologie und Philosophie jene Trennlinie einzuziehen, die erst der Aufklärung vollends durchzusetzen gelang.

Psychologie als Metaphysica

specialis

215

Ohne die Stationen der Entwicklung der Auseinandersetzung des Goclenius an dieser Stelle vorzustellen, 36 soll hier nur die letztgültige Variante dieses Theorems skizziert werden, die er im Lexicon Philosophicum ausführt. Im Artikel Notio weist er ausdrücklich eine Verursachung der allgemeinen, d.h. nicht-empirischen Begriffe - und zwar überhaupt und in bezug auf ihren vollständigen Gehalt - sowohl durch Gott als auch durch die Natur zurück und behauptet, daß die Fähigkeit zur Erkenntnis der Prinzipien - nichts anderes sind die allgemeinen Begriffe - in unserem Geist ein angeborenes Vermögen sei. Mit allem Nachdruck wird darauf hingewiesen, daß dieses Vermögen zwar mit der Erzeugung hervorgebracht, jedoch nicht durch den natürlichen Zeugungsprozeß verursacht würde: „Facultas cognoscendi principia tanquam lumen legitima in mente est naturalis ( δ ύ ν α μ ι ς σύμφυτος)." 3 7 Schon in einem vorherigen Text hatte Goclenius von einer Vis iudicaria gesprochen, mithin einem allgemeinen Vermögen der Urteilskraft, und deutlich abgrenzend festgestellt, daß nur dieses uns angeboren sei.38 Solch ein Vermögen muß aber durch die unterschiedlichen Formen sinnlicher Erfahrung aktualisiert werden. Letztere erhält mithin gegenüber jenem Vermögen der Begriffe einen durchaus eigenständigen Status. Deshalb spricht Goclenius auch vom „Sinn als erstem Lehrer des Menschen". 39 Vor allem die eigentümliche Konstitution der Prämissen, ihre Kombination sowie einzelne Theoreme legen eine enge systematische Verbindung zur Psychologie Christian Wolffs nahe. Geradezu aufmerken läßt insbesondere die These des Goclenius, daß Essenz und Existenz der Seele nicht nur, aber auch durch die Sinne erkannt werden können und müssen. 40 Es gibt also schon fur Goclenius die Möglichkeit, ja Aufgabe, die Seele durch das, „was wir von ihr wahrnehmen", 4 ' zu erfassen. Damit vollzieht er auch in erkenntnismethodischer Hinsicht jenen Schritt, der die Wolffsche Psychologia empirica insofern auszeichnen wird, als ihre Ergebnisse nicht nur die sinnlichen Vermögen der Seele zum Gegenstand haben, sondern vor allem durch das Instrument der sinnlichen Wahrnehmung

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Vgl. hierzu ausfuhrlicher Stiening, Gideon, „Deus vult aliquas esse certas noticias". Philipp Melanchthon, Rudolph Goclenius und das Theorem der notitiae naturales in der Psychologie des 16. Jahrhunderts, in: Philipp Melanchthon und die Marburger Professoren, hg. v. Bauer, Barbara. Marburg 2 2 0 0 0 , Bd. 2, S. 7 5 7 - 7 8 7 ; sowie de Angelis, (wie Anm. 3), S. 112ff. Goclenius, Lexicon, (wie Anm. 20), S. 771: „Die Fähigkeit zur Erkenntnis der Prinzipien sowie das rechtmäßige Licht sind natürlich im Geiste (ein angeborenes Vermögen)." - Übersetzung, G.S. Goclenius, Disputatio Physica et Metaphysica, (wie Anm. 14), § 47: ,,τό γ ν ώ σ ο ύ τ ο υ θ ε ο ύ [Rom. 1 , 1 9 ] cadit potissimum sub vim ο υ σ ι ώ δ η ς κριτικής." Goclenius, Lexicon, (wie Anm. 20), S. 772: ,JSensus primus hominum magister." Hervorh. im Text. Vgl. u.a. ebd., S. 771 : „Anima enim quid qualisque sit, ex eius actionibus, quae sub sensum veniunt, animadvertitur." So natürlich Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 25), 3. Capitel, S. 106ff. und nicht Goclenius. Der Sache nach aber hat schon der Marburger Vorgänger dieses methodische Konzept postuliert.

216

Gideon Stiening

selbst ermittelt werden. 42 Neben der unhinterfragt bedeutenderen Funktion der Psychologie, die Substantialität und Immaterialität der Seele zu begründen und die spezifische facultas der mens zur Ausbildung allgemeiner Begriffe zu erläutern, bedarf diese Wissenschaft mithin in ihren beiden Teilen eines auch methodisch rein empirischen Vorgehens, das zu Ergebnissen gelangt, die durch metaphysische Deduktionen nicht zu ermitteln sind. 43 Allem hier gegebenenfalls aufleuchtenden empiristischen Anschein zum Trotz muß deutlich festgehalten werden, daß Goclenius mit dieser ,dogmatischen' Gesamtkonzeption zugleich ein ,kritisches' Interesse verbindet, das er sowohl mit Melanchthon als auch mit Wolff durchaus teilt. In kaum einem seiner Texte zur Psychologie, die sich mit der Erkenntnislehre und daher mit den notiones communes beschäftigen, fehlt die ausdrückliche Widerlegung des sensualistischen Grundsatzes, „nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu". 44 Hatte jedoch Melanchthon zur Abwehr dieses Grundsatzes auf theologische Prämissen rekurrieren können, 45 so mußte sich Goclenius anders behelfen. Es läßt sich nachzeichnen, daß er in der Entwicklung seiner Texte zur Psychologie den Zuständigkeitsbereich sinnlicher Erfahrung zwar stets weiter ausdehnte, schon 1592 formuliert er geradezu zurückhaltend, ja abwehrend: „Non omnia quae sciuntur à sensu ad animum afferri." 46 Aber genau diese Grenzen der Erfahrung sollen präzise ausgemessen werden. Deshalb scheint zugleich die Inauguration der Psychologie als Metaphysica specialis vor allem der Abwehr einer konsequent sensualistischen Erkenntnislehre geschuldet zu sein, die seit Pomponazzi, verstärkt noch durch eine Renaissance des Sextus Empiricus seit den 1560er Jahren, neue Bedeutung gewonnen und Erwar-

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Vgl. hierzu den kurzen aber präzisen Oberblick über die Wolff-Baumgartensche Psychologie und Metaphysik bei Klemme, Heiner F., Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Hamburg 1996, S. 1 3 - 2 4 . Vgl. hierzu auch die präzisen Ausführungen bei Lutterbeck, Klaus-Gert, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht. Stuttgart-Bad Cannstatt 2 0 0 2 , S. 15 Iff. Vgl. u.a. Goclenius, Disputatio Physica et Metaphysica, (wie Anm. 14), § 8ff.; zum historischen Kontext dieses berühmten Grundsatzes vgl. Paul F. Cranefield: On the Origin of the Phrase nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu, in: Journal of the History of Medicine 25 (1970), S. 7 7 - 8 0 sowie Stiening, Deus vult, (wie Anm. 36). Vgl. hierzu Melanchthon, Philipp, Liber de anima, in: Corpus Reformatorum. Philippi Melanchthonis Opera quae supersunt omnia, hg. v. Carolus Gottlieb Bretschneider / Henricus Ernestus Bindseilt, 28 Bde. Halle / Braunschweig 1 8 3 4 - 1 8 5 9 , hier Bd. XIII, S. 144ff.: „Nec turbemur vulgari dicto: Nihil est in intellectu, quin prius fuerit in sensu. Id enim nisi dextre intelligeretur, valde absurdum esset. N a m universales noticiae et diiudicatio non prius fuerunt in sensu." Goclenius, Disputatio Physica et Metaphysica, (wie Anm. 14), § 39: „Nicht alles, was gewußt wird, wird von den Sinnen an die Seele herangetragen." - Übersetzung G.S.

Psychologie als Metaphysica

specialis

217

tungen geweckt hatte.47 Eine Scientia psychologiae als Metaphysica specialis sollte mithin - u.a. durch das Theorem der notiones communes - in die Lage versetzen, die uneingeschränkte Geltung logischer, ontologischer, vor allem aber moralischer Grundbestimmungen zu garantieren, ohne auf theologische Prämissen zurückgreifen zu müssen. Daß ebendiese Funktion einer rationalen Abwehr des Empirismus und Skeptizismus der Wissenschaft der Psychologie noch bei Wolff zukommt, wird sich im folgenden noch zeigen. Die vorstehende Skizze zur Psychologie des Goclenius abschließend muß betont werden, daß die Entwicklung der Metaphysik und ihrer Ausdifferenzierung bei dem Marburger zugleich noch weit entfernt ist von der Wölfischen Systematik und deren Vollständigkeit. In der Metaphysik von 1598 behauptet Goclenius beispielsweise unter anderem, daß die Prima Philosophia (sive Ontologia) und die Metaphysik zwei unterschiedliche Wissenschaften seien. Ausdrücklich hält er daher - wie oben zitiert - fest, daß die Gegenstände der Metaphysik ausschließlich deus et mentes seien, die Prima Philosophia dagegen „scientia Entis universalis". 48 Ernst Vollrath hat auf die Widersprüche dieser Konzeption hingewiesen, insofern nämlich alle Ontologie stets Metaphysik bleibt,49 und zu Recht hat sich dieser Teil der terminologischen Vorschläge des Goclenius nicht durchgesetzt. Der Autor selbst schwankt auch bei der Verwendung des Metaphysikbegriffes für die Ontologie mehrfach. Diese Unsicherheiten sind entwicklungsgenetisch weniger auf Übernahme dieser Distinktionen aus den Werken Benedictus Pererius' 50 als vielmehr auf den allgemein ramistischen Hintergrund jener Wiederkehr der Metaphysik zurückzuführen; die Methodologie des Ramismus ist nämlich stets Metaphysik ohne davon zu wissen.51 Die hier bemühte Differenz zwischen Metaphysica generalis und Metaphysica specialis für eine Bestimmung der Position des Rudolph Goclenius ist gleichwohl nur unter Vorbehalten anwendbar.

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Vgl. hierzu u.a. Schmitt, Arbogast, Anschauung und Denken bei Duns Scotus. Über eine für die neuzeitliche Erkenntnistheorie folgenreiche Akzentverlagerung in der spätmittelalterlichen Aristoteles-Deutung, in: Rudolph, (wie Anm. 5), S. 7-34. Goclenius, Metaphysica, (wie Anm 1), Praefatio, S. 10, (§ 28). Vollrath, (wie Anm. 26), S. 266ff. sowie darstellend Schmidt-Biggemann, Die Schulphilosophie (wie Anm. 2), S. 405. Diese Bedeutung Pererius' für Goclenius wird seit Vollrath, (wie Anm. 26), S. 267f. und Rompe, (wie Anm. 10), S. 203ff. weitgehend ungeprüft wiederholt, so bei Kondylis, (wie Anm. 8), S. 251 IT. oder Honnefelder, (wie Anm. 8), S. 314. Es bedürfte gleichwohl einer erneuten Überprüfung dieser These vor allem deshalb, weil mir zwar Pererius, nicht aber Goclenius diese Trennung von Ontologie und Metaphysik systematisch betreibt. Vgl. dazu u.a. Varani, Giovanni, Die ramistischen Spuren in Leibniz' Gestaltung der Begriffe ,dialéctica', ,topica', ,ars inveniendi', in: Studia Leibnitiana XXVII/2 (1995), S. 135-156; sowie Danneberg, Lutz, Logik und Hermeneutik: Die Analysis logica in den ramistischen Dialektiken, in: Uwe Scheffler/ Klaus Wuttich (Hg.), Terminigebrauch und Folgebeziehung. Festschrift zu Ehren von Prof. Horst Wessel. Berlin 1998, S. 129-157.

Gideon

218

Stiening

II.

Daß Christian Wolff unter cartesischem Einfluß der Metaphysik ihre vollständige Gliederung und Gestalt gibt, indem er nach der Ontologie als Metaphysica generalis die Kosmologie neben die schon bei Goclenius inthronisierte Psychologie und rationale Theologie zu einem Teil der Metaphysica specialis erhebt, 52 ist bekannt 53 und wird auch ganz zu Recht von Wolff als eine ihm eigentümliche Leistung in Anspruch genommen. 54 Tatsächlich setzt Wolff die grundlagentheoretische Innovation des Descartes, die Substantialisierung der Materie, durch seine Aufnahme der Kosmologie in den Gegenstandsbereich der Metaphysik in angemessener Weise um. 55 Daß diese gegenüber Goclenius zu verzeichnende Erweiterung der Metaphysica specialis auf Gehalt und Begründungsstruktur der drei schon zuvor enthaltenen Teilgebiete der Metaphysik nachhaltige Einwirkungen zeitigte, läßt sich en detail nachzeichnen. 56 Aber diese Differenzen der Wolffschen zur allgemeinen Metaphysikkonzeption des Goclenius können hier nicht im Zentrum der Betrachtung stehen, ebensowenig wie die differenzierten Prozesse, die zu ihnen führten. 57 Vielmehr soll im folgenden eine auffällige Gemeinsamkeit zwischen beiden Konzeptionen zur Psychologie näherhin analysiert und interpretiert werden: Auch bei Wolff findet sich nämlich wenngleich an verdeckter Stelle - das Theorem der notiones communes; in § 819 der Deutschen Metaphysik fuhrt der Autor aus: Weil die Seele durch ihre ihr eigentümliche Kraft die Empfindungen hervorbringet (§ 765.); so kommen die Bilder und Begriffe der cörperlichen Dinge nicht von aussen hinein, sondern die Seele hat sie in der That schon in sich, nehmlich auf die Art und Weise, wie es in ihr als einem endlichen Dinge (§ 783.) möglich ist, nicht würcklich, sondern bloß dem Vermögen nach (§ 106.), und wickelt sie nur gleichsam in einer mit dem Leibe zusammenstimmenden Ordnung aus ihrem Wesen heraus, indem sie sich selbsten determinieret das mögliche würcklich zu machen. 58

Nun scheint diese starke These, daß die Begriffe und Bilder nicht von außen in einem verursachenden Empfindungsprozeß an die Seele herangetragen werden

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53 54

55 56 57

58

Gegen Honnefelders Einwände (vgl. hierzu meine Ausführungen in Anm. 28) wird im folgenden mit dieser systematisch zutreffenden Unterscheidung in bezug auf Wolffs Metaphysik gearbeitet. Vollrath, (wie Anm. 26), S. 280ff.; Kondylis, (wie Anm. 8), S. 271 f. Wolff, Christian, Discursus Praeliminaris de Philosophia in genere / Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. Historisch-kritische Ausgabe. Übersetzt, eingeleitet und hg. v. Günter Gawlick / Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 66ff. (§ 55ff). Vgl. erneut zu Recht Kondylis, (wie Anm. 8), S. 271. Vgl. hierzu vor allem Vollrath, (wie Anm. 26), passim. Vgl. hierzu u.a. Leinsle, Ulrich G., Reformversuche protestantischer Metaphysik im Zeitalter des Rationalismus. Augsburg 1988 sowie Marion, Jean-Luc, The Idea of God, in: The Cambridge History of Seventeenth Century Philosophy, hg. v. Daniel Garber/ Michael Ayers 2 Bde. Cambridge 1998, Bd. 1, S. 265-304. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 25), S. 508.

Psychologie

als Metaphysica

specialis

219

k ö n n e n , s o n d e r n s i e a l s V e r m ö g e n in der S e e l e v o r h a n d e n s i n d , z w a r der P o s i t i o n des Goclenius verwandt, doch schlicht auf die substantielle Trennung v o n Körper u n d S e e l e z u r ü c k f u h r b a r z u s e i n , d i e d e m V o r g ä n g e r v ö l l i g u n b e k a n n t war. Im H i n t e r g r u n d d i e s e r A n n a h m e steht n i c h t nur der C a r t e s i s c h e S u b s t a n z e n d u a l i s m u s , der a u c h b e i S p i n o z a 5 9 z u j e n e m b e r ü h m t e n p s y c h o - p h y s i s c h e n P a r a l l e l i s m u s führte, w e l c h e r s i c h n o c h bei W o l f f in der f o l g e n d e n , j e d e m E m p i r i k e r absurd 6 0 erscheinenden Überzeugung niederschlug: § 843. Wiederum, da ich schon mehr als einmahl erinnert, daß, so ofte wir uns Worte gedencken, auch aus der Bewegung im Gehirne, die mit ihnen zusammenstimmet, die gleichstimmende Bewegung in den Gliedermassen der Sprache, dadurch die Worte gebildet werden, erfolge (§. 836.); so siehet man, daß auch aus der Kraft des Leibes der Mund alle zu den Vernunft-Schlüsser erforderten Worte vorbringen kan, ohne daß sich die Seele mit darein mischet. 61 O h n e b e s o n d e r e M ü h e läßt s i c h an d i e s e r S t e l l e v o r a l l e m d i e v o n W o l f f - w e n n gleich mit kritischem Abstand62 -

geteilte Leibnizsche L ö s u n g dieses

Sachpro-

b l e m s e i n e s p s y c h o - p h y s i s c h e n S u b s t a n z e n d u a l i s m u s m i t h i l f e d e s T h e o r e m s der prästabilierten H a r m o n i e e r k e n n e n . 6 3 E i n R e k u r s a u f die v o r a u f k l ä r e r i s c h e n - d.h. v o r der c a r t e s i s c h e n

Subjektkonzeption beanspruchten -

T h e o r i e n der n o t i t i a e

naturalis z u Erläuterung e i n i g e r B e s o n d e r h e i t e n der W o l f f s c h e n Psychologia nalis

ratio-

s c h e i n t m i t h i n ü b e r f l ü s s i g , w e n n n i c h t gar f a l s c h . D a r ü b e r h i n a u s hat j e n e r

§ 8 1 9 d o c h e i n e n e h e r u n s c h e i n b a r e n Charakter u n d d e s h a l b o f f e n b a r b e i H a n s W e r n e r A r n d t z u d e m Urteil geführt, W o l f f h a b e e i n e „ A b n e i g u n g

59

60

61 62

63

gegenüber

Vgl. de Spinoza, Baruch, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch - deutsch, neu übersetzt, hg. und mit einer Einleitung versehen v. Wolfgang Bartuschat. Hamburg 1999. In Klammem wird hinter der Seitenzahl dieser Ausgabe der Paragraph vermerkt mit folgenden Abkürzungen: Ethica pars (in römischen Ziffern), prop, (in arabischen Ziffern), demo., coro., etc., hier S. 108ff. (Ethica II, prop. 7); vgl. hierzu auch Gilead, Alfred, Spinoza's Two Causal Chains, in: Kant-Studien 81 (1990), S. 4 5 4 - 4 7 5 sowie Rod, Wolfgang, Benedictas de Spinoza. Eine Einführung. Stuttgart 2002, S. 195ff. Es sind eben solche theoretischen Konsequenzen, daß „der Mund vernünftig reden kann ohne den Einfluß der Seele" (Wolff, Deutsche Metaphysik, [wie Anm. 25], S. 521), die es einem ebenso wissenschaftspolitisch übermotivierten wie wissenschaftstheoretisch dilettantischen Empirismus beispielsweise eines Johann Gottlob Krüger einfach machten, gegen die Wolffische Philosophie zu polemisieren (vgl. hierzu u.a. ders., Träume, abgedruckt in: Schade, Georg, Die unwandelbare und ewige Religion [1769]. Dokumente, hg. v. Martin Mulsow. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 475-501); von den begründungstheoretisch komplexen Sachfragen, die den wenig überzeugenden Ergebnissen Spinozas, Leibnizens und auch Wolffs zugrunde liegen, ist diese Kritik allerdings - wie alle anthropologisch fundierte Kritik am Rationalismus - weit entfernt. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 25), S. 521. Vgl. hierzu Honnefelder, (wie Anm. 8), S. 297 und die dort (Anm. 22) angegebene weiterfuhrende Literatur zum komplexen Verhältnis zwischen Leibniz und Wolff. Zur Leibnizschen Theorie angeborener Ideen, Prinzipien und Wahrheiten vgl. Schüßler, Werner, Leibniz' Auffassung des menschlichen Verstandes (intellectus). Eine Untersuchung zum Standpunktwechsel zwischen „système commun" und „système nouveau" und dem Versuch ihrer Vermittlung. Berlin / New York 1992, S. 74-105 u. S. 170ff.

220

Gideon

Stiening

e i n e m pointierten Innatismus" deutlich dokumentiert, weil dieser „die subjektbed i n g t e G r u n d l a g e d e s E r k e n n e n s in e t w a s a n d e r e m s i e h t a l s in der F ä h i g k e i t , s i c h der W a h r h e i t d e s Erkannten m i t t e l s e i n e r d e m o n s t r a t i v e n S y s t e m a t i k z u v e r s i c h e r n , d i e s i c h a u f E r f a h r u n g stützt." 6 4 N u n s c h e i n e n m i r a l l e r d i n g s e i n i g e M o d i f i k a t i o n e n an d i e s e m b e k a n n t e n B i l d d e s W o l f f s c h e n R a t i o n a l i s m u s erforderlich z u s e i n . S c h o n e i n kurzer B l i c k in d i e Ausfiihrlichen

Anmerkungen

zur Deutschen

Metaphysik

kann nämlich belegen, daß

s i c h W o l f f in der A n m e r k u n g z u g e n a u d i e s e m § 8 1 9 , der s i c h zur Frage äußert, „ o b d i e i d e a e innatae sind?", f o l g e n d e r m a ß e n f e s t l e g t : Unter den Alten hat Plato, wie bekant, Ideas innatas vertheidiget, da hingegen Aristoteles gelehret, daß sie von aussen erst in die Seele hinein kämen. Ich pflichte hier dem Piatoni bey, und gehe von dem Aristotele ab, wie ich im folgenden § 820 auch erinnere. Es ist aber bekant, was das heisset, die Seele habe ihre Ideas oder Begriffe schon in sich: man muß es verstehen, wie es die Natur der Seele leidet, nicht aber nach der Einbildung erklären, als wenn sie gleichsam wie Bilder in einem Kasten da lägen, und von ihr nach und nach hervor gelanget würden. Solche Gedancken finden von einem einfachen Wesen nicht statt. Da das einfache Wesen bloß eine Krafft hat, wodurch es sich beständig wiircksam erzeiget; so hat es weiter nichts zu sagen, als daß diese Krafft so beschaffen ist, daß sie diese Ideas nach einander hervor zu bringen aufgelegt ist, ohne daß sie von neuem erst dazu durch eine auswärtige Krafft determiniret werden darff, wie es auch die angeführte Raison gar eigentlich zeiget. 65

U m den vollständigen Zusammenhang dieser Argumentation zu s o l l t e n o c h der v o n W o l f f in d e n Anmerkungen schen

Metaphysik

verdeutlichen,

s c h o n a n g e f ü h r t e § 8 2 0 der

Deut-

in B e t r a c h t g e n o m m e n w e r d e n , w e i l erst a u s d e m G e s a m t aller

drei P a s s a g e n ( § 8 1 9 / 8 2 0 der Deutschen

Metaphysik

u n d § 3 0 6 der

Anmerkungen)

d i e s c h o n für G o c l e n i u s t r a g e n d e u n d kritische F u n k t i o n der n o t i o n e s c o m m u n e s u n m i t t e l b a r e r s i c h t l i c h wird: Unterdessen da dem Ansehen nach die Seele von dem Leibe leidet, wenn sie empfindet, hat sowohl vor diesem Aristoteles, als in neuern Zeiten Locke in Engelland sich eingebildet, als wenn die Begriffe der cörperlichen Dinge von aussen in die Seele hinein kämen, und also die Seele keinen davon haben könte, wenn sie nicht einen Leib hätte. Und hat Aristoteles deswegen die Seele mit einer wächsernen Tafel verglichen, die für sich gantz glat ist und bleibet, wenn nicht durch eine auswärtige Kraft Figuren darein gedrucket werden. Warum ihre Beweißthümer, die sie anführen, nicht schliessen, ist aus demjenigen zu zeigen [...], weil die Empfindungen eben den Grund haben, warum sie aus einander erfolgen, den der veränderliche

64

65

Arndt, Hans Werner, Rationalismus und Empirismus in der Erkenntnislehre Christian Wolffs, in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Wolff 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der Wolff-Literatur. Hamburg 1983 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 4), S. 31^17, hier S. 38; vgl. ähnlich auch Engfer, Hans-Jürgen, Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophischen Schemas. Paderborn 1996, S. 268-283, insb. S. 276. Wolff, Christian, Der Vernünjftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerkungen, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 25), Bd. 3. Hildesheim 1983, S. 511 (§ 306).

Psychologie als Metaphysica

specialis

221

Zustand der Dinge, die wir empfinden, in der Welt hat. Sie schicket sich für diejenigen, die sich alles einbilden wollen, aber nicht gerne viel nachdencken. 6 6

Insbesondere die Abgrenzungen gegenüber Locke einerseits sowie gegenüber der Begriffs- und Bilderkasten-Variante theologisch-stoischer Provenienz andererseits können das Wolffsche Konzept der Ideae innatae präzise erläutern und dabei begründen, warum von der von Arndt diagnostizierten „Abneigung" doch wohl keine Spur zu entdecken ist. Tatsächlich hatte John Locke nicht nur einen erkenntnistheoretischen Empirismus auf bisher unerreichtem Kohärenzniveau entfaltet, er hatte sich zur Erläuterung und auch zur Durchsetzung seiner Position in einem eigenen Buch der Widerlegung der Theorien von angeborenen Ideen und Prinzipien bedient.67 Zwar erwiesen sich zügig die Grenzen der Lockeschen „Kritik am Innatismus", 68 und zwar an der Herleitung moralischer Dispositionen des Menschen, die auch der konsequente Empirist offenbar nicht der historischen und kulturellen Bedingtheit und damit Relativität der Erfahrung überlassen wollte. Darüber hinaus zeigt sich bei näherem Zusehen, daß Lockes Alternativkonzeption „von der kritisierten Position nicht allzuweit entfernt" ist.69 Doch war Locke stets klar,70 gegen welche Formen und Gestalten des Innatismus er sich konsequent richtete: ebenjenen Gehaltsinnatismus, 71 den - wie zitiert - auch Wolff scharf ablehnte und den schon Descartes deutlich verworfen hatte.72 Genau diese Position verbindet aber Wolff sowohl mit Descartes als auch mit Locke oder eben schon mit Goclenius. Wie dieser, so setzen sich auch Wolff oder Locke 73 von der - vor allem theologischen - Variante der notiones communes ab, nach der diese Begriffe als inhaltlich bestimmte von Gott in die Seele des Menschen hineingelegt worden seien. Ausgeführt wurde diese Position nicht nur von Melanchthon und den Ver66 67

68

69 70 71

72

73

Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 25), Abt. I, Bd. 3, S. 508f. Vgl. Locke, John, Versuch über den menschlichen Verstand. In 2 Bänden hg. v. Reinhard Brandt, 4. durchgesehene Aufl. Hamburg 1981, S. 29-105. Vgl. hierzu und zum Folgenden Rod, Wolfgang, Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau, in: ders. (Hg.), Geschichte der Philosophie, Bd. 7. München 1984, S. 32ff. Ebd., S. 33. Locke, (wie Anm. 67), S. 41 ff. Vgl. hierzu auch Specht, Rainer, Über Angeborene Ideen bei Locke. Essay I, ii-iv; 11, i, in: Udo Thiel (Hg.), John Locke. Essay über den menschlichen Verstand (Klassiker Auslegen 6). Berlin 1997, S. 39-63. Vgl. Descartes, René, Dritte Einwände und Erwiderungen, in ders., Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Zum erstenmal vollständig übersetzt und hg. v. Artur Buchenau. Hamburg 1972, S. 171: „Wenn ich schließlich behaupte, daß eine Idee uns eingeboren sei (oder daß sie unseren Seelen von Natur eingeprägt ist), so verstehe ich darunter nicht, daß sie von uns stets bemerkt wird, auf diese Weise nämlich gäbe es überhaupt keine eingeborene Idee, sondern nur, daß wir in uns selbst die Fähigkeit haben, sie hervorzubringen." Vgl. hierzu die präzise Zusammenfassung bei Specht, (wie Anm. 71), S. 39: „Lockes Position wirkt auf den ersten Blick klar: Wir bringen keine fertigen Ideen und keine fertigen praktischen oder theoretischen Prinzipien mit, sondern nur natürliche Fähigkeiten (faculties), die uns zur Bildung von Ideen befähigen." Sowohl Descartes und Wolff als auch Goclenius oder Cusanus teilten genau diese Annahmen.

222

Gideon Stiening

tretern einer frühneuzeitlichen Anthropologie und Psychologie, die sich der theologischen Einhegung wissenschaftlich innovativer Erkenntnisse verschrieben hatten,74 sondern auch von den Verfechtern einer neustoischen Erkenntnislehre, die sich auf Cicero berufen konnten, der ausdrücklich festgestellt hatte: Damit steht bei allen Menschen auf der ganzen Welt die Hauptsache fest: alle haben nämlich einen angeborenen und gleichsam in die Seele eingemeißelten Glauben an die Existenz von Göttern. 75

Diesem letztlich theologischen Konzept wird die Annahme von einem oder auch mehreren allgemeinen Vermögen entgegengesetzt, deren Konkretionen je aktualisiert werden müssen. Hier setzt die unersetzliche Funktion der Erfahrung ein: „Die Erfahrung ist allerdings notwendig, damit die Seele zu diesen oder jenen Gedanken bestimmt werde und auf die in uns vorhandenen Ideen acht habe [...]." Dieses Argument Leibnizens für die Einständigkeit der Erfahrung wird aber umgehend eingesetzt fur eine Kritik des strengen Empirismus: „[...] aber wie können denn Erfahrungen und Sinnlichkeit Ideen geben [...]. Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu, excipe: nisi ipse intellectus." 76 Weder Wolff noch gar Goclenius greifen auf dieses subjektivitätstheoretische Argument zurück, dennoch spielt vor allem das Theorem der notiones communes und weniger die weiteren allgemeinen metaphysischen Bestimmungen der Seele, wie die Kraft, die Substantialität, die Immaterialität und Unteilbarkeit eine entscheidende Rolle bei der von beiden anvisierten Aufgabe, einen jeden Sensualismus in die Schranken zu verweisen. In einer - problematischen - Anlehnung an die berühmte Leibnizsche Formel könnte man also für Goclenius und Wolff behaupten, daß nichts im Verstand ist, was nicht zuvor in den Sinnen war, außer dem Vermögen der notiones communes. Deshalb muß - wie für Goclenius - noch für Wolff das Theorem der notiones communes als ein zentrales Beweiselement für die Notwendigkeit einer Psychologia rationalis, und zwar in systematischer wie in methodischer Hinsicht, erkannt werden: Dieses Vermögen ist weder aus der Erfahrung zu gewinnen noch ist es selbst mit den Mitteln der Wahrnehmung zu erfassen.77 Es ist in seiner Essenz und Existenz nur rational zu bestimmen und d.h. 74

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77

Vgl. hierzu beispielsweise Casmann, Otto, Psychologia Anthropologica; sive Animae Humanae Doctrina. Hanau 1594, insb. S. 122ff. Cicero, De natura deorum Π, 12: „Itaque inter omnis omnium gentium summa constat; omnibus enim innatum est et in animo quasi insculptum esse deos." Beide Zitate aus Leibniz, Gottfried Wilhelm, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Übersetzt, eingeleitet und erläutert v. Ernst Cassirer. Hamburg 3 1971, S. 84. Insofern muß der Versuch Hans-Jürgen Engfers, Wolffs rationale Psychologie zu einer die Ordnung und den Geltungsstatus der Ergebnisse der empirischen Psychologie festlegenden ,Wissenschaftstheorie' herabzustimmen und damit das letztlich ungelöste Verhältnis der streng rationalistischen zu den empiristischen Momenten der Wolffschen Philosophie zugunsten eines gleichsam ,kritischen Empirismus' aufzulösen, durchaus zurückgewiesen werden. (Vgl. insb. Engfer: [wie Anm. 64], S. 280: „Die rationale Psychologie ist also bei Wolff nicht, wie man nach der späteren Kritik Kants an dieser Disziplin vermuten könnte, eine im Kantischen

Psychologie

als Metaphysica

specialis

223

lückenlos zu deduzieren. Wieviel näher W o l f f dabei Goclenius bleibt als dem Leibnizschen Subjektivitätssubstanzialismus, soll abschließend beleuchtet werden.

III. W o l f f hat es nämlich erheblich schwerer als Goclenius, gerade weil er diejenige voraufklärerische Konzeption der ideae innatae nahezu unmodifiziert übernimmt, die in dieser spezifischen Variante nicht erst bzw. ausschließlich von Goclenius, sondern u.a. schon von Nicolaus Cusanus 7 8 begründet wurde, 7 9 allerdings von jeder tatsächlich erkenntnistheoretischen Grundlegung untangiert geblieben war. Es müssen - so die folgende These - vor diesem Hintergrund insbesondere zwei eng miteinander verbundene Gründe für die erheblichen Schwierigkeiten namhaft gemacht werden, in die W o l f f mit seiner fur sein System zugleich notwendigen Konzeption der ideae innatae gerät: der lückenlose Deduktionsanspruch einerseits und die Begründungsfunktion eines letztlich empiristischen

Bewußtseinsbegriffes

andererseits. Tatsächlich hatte es Christian W o l f f nämlich nicht mehr nur wie Goclenius mit zumeist vermögenspsychologisch argumentierenden sensualistischen Erkenntnislehren zu tun, sondern mit einer empiristischen Erkenntnis/Äeor/e, vor allem der Lockes und Leibnizens. 8 0 Solche Erkenntnistheorie aber leitete ihre Bestimmungen nicht mehr aus systematisch vorgängigen Naturphilosophien oder Theologien ab wie dies vor Descartes üblich war, 81 sondern behauptete eine allgemeine Grundle-

78

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81

Sinne apriorische und von aller Erfahrung unabhängige Wissenschaft, sondern beansprucht nur, das zuvor in der empirischen Psychologie Gefundene ontologisch in den Grundbestimmungen des einfachen Dinges zu fundieren und systematisch geordnet darzustellen.") Spätestens am Theorem der Ideae innatae erweist sich Wolffs rationale Psychologie als metaphysischer Apriorismus, der keineswegs in die Tradition des Empirismus zu integrieren ist, wie Engfer dies vorführt. Vgl. hierzu de C'usa, Nicolai, Idiota de mente / Der Laie über den Geist, hg. v. Renate Steiger. Hamburg 1995, S. 30ff.: „Non est igitur credendum animae fuisse notiones concreatas, quas in corpore perdidit, sed quia opus habet corpore, ut vis concreata ad actum pergat. [...] In hoc igitur Aristoteles videtur bene opinan animae non esse notiones ab initio concreatas, quas incorporando perdiderit. Verum quoniam non potest proficere, si omni caret iudicio, [...], quare mens nostra habet sibi concreatum iudicium, sine quo proficere nequiret. Haec vis iudiciaria est menti naturaliter concreata, per quam iudicat per se de rationibus, an sint debiles, fortes aut concludes. Quam vim si Plato notionem nominavit concreatam, non penitus erravit." Es sei dies u.a. deshalb eigens erwähnt, weil mit den vorliegenden Überlegungen ausrücklich keine quellenpositivistischen Ansprüche erhoben werden. Zu dieser systematisch entscheidenden Differenz vgl. Keßler, Intellective Soul, (wie Anm. 4), passim oder auch Mulsow, Martin, Frühneuzeitliche Selbsterhaltung. Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance. Tübingen 1998, S. 201 ff., aufschließend, ja unerläßlich ist diese Unterscheidung auch für die Anthropologie des Thomas Hobbes; vgl. hierzu Stiening, Gideon, Psychologie und Handlungstheorie im Leviathan, in: 350 Jahre Leviathan, hg. v. Dieter Hüning, in Vorbereitung (Wolfenbütteler Forschungen). Vgl. Boenke, (wie Anm. 3), passim.

224

Gideon

Stiening

gungsfunktion der Erkenntnistheorie fur alles Wissen und alle Wahrheit. Deshalb konnte und wollte Wolff seine Metaphysik nicht mehr schlicht mit der Definition des Satzes vom Widerspruch oder dem des Grundes beginnen lassen, wie dies u.a. noch Spinoza mit der Defintion der causa sui unternommen hatte. 82 Wolff mußte offenbar vielmehr mit einem empirischen Bewußtseinsargument seinen Text eröffnen; er akzeptiert damit - wie auch Leibniz - die Leistungen einer auf Erfahrung basierenden Erkenntnistheorie; 83 anders aber als Leibniz, der j a durchaus der Erfahrung eigenständige Fähigkeiten zuschrieb, ohne empiristisch alle weitere Erkenntnis auf diese Erfahrung aufzubauen, 84 vollzieht Wolff dies unter Übernahme eines empiristischen Bewußtseinsbegriffes Lockescher Provenienz. Das mag überraschen, läßt sich aber dadurch belegen, daß „Bewußtsein" nach Wolff sich immer als aktuale Vergegenwärtigung der Vorstellung und des Vorstellungsgegenstandes realisiert. In der Deutschen Metaphysik heißt es dazu: § 192. Damit man doch aber wisse, was man wahrzunehmen hat; so ist zu mercken, daß ich durch die Seele dasjenige Ding verstehe, welches sich seiner und anderer Dinge ausser ihm bewußt ist, in so weit wir uns unserer und anderer Dinge als ausser uns bewußt sind. [Hervorh. G.S.] 85

Diese ausdrückliche Bestimmung entspricht aber genau der empiristisch-aktualistischen Definition des Bewußtseins als wesentlichem Moment der menschlichen Seele, die John Locke aus seinen erkenntnistheoretischen Vorgaben herausgearbeitet hatte. Im berühmten Kapitel über „Identität und Verschiedenheit" der Untersuchungen über den menschlichen Verstand hält Locke nämlich hinsichtlich der Identität der Person fest: Denn durch sein Bewußtsein von seinen g e g e n w ä r t i g e n Gedanken und Handlungen ist es [das persönliche Ich] a u g e n b l i c k l i c h fiir sich sein eigenes Ich. Es bleibt dasselbe Ich sow e i t sich dasselbe Bewußtsein auf vergangene oder künftige Handlungen erstrecken kann. [Hervorh.: kursiv im Text; gesperrt, G.S.] 86 82

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86

Vgl. Spinoza, Ethik, (wie Anm. 59), S. 4; zur Interpretation des Anfangs der Ethik durch Wolff vgl. Cramer, Konrad, Christian Wolff über den Zusammenhang der Definitionen von Attribut, Modus und Substanz und ihr Verhältnis zu den beiden ersten Axiomen von Spinozas Ethik, in: ders. u.a. (Hg.), Spinozas Ethik und ihre frühe Wirkung. Wolfenbüttel 1981, S. 67-106. Zu Wolffs Erfahrungs- resp. Beobachtungsbegriff vgl. auch - wenngleich im Hinblick auf dessen Widersprüche unkritisch - Hinske, Norbert, Wolffs empirische Psychologie und Kants pragmatische Anthropologie. Zur Diskussion über die Anfange der Anthropologie im 18. Jahrhundert. In: Aufklärung 11/1 (1999), S. 97-107. Vgl. hierzu u.a. Leibniz, Von dem, was jenseits der Sinne und der Materie liegt, (wie Anm. 33). Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 25), S. 107; die Bedeutung dieses Paragraphen auch für die von ihm traktierte methodologische Problematik des Verhältnisses von empirischer und rationaler Psychologie verkennt allerdings: Scheib, Andreas: Psychotogia empirica versus rationalis. Zur frühen Theorie beobachtender Psychologie bei Chr. Wolff, in: Jürgen Jahnke / Jochen Fahrenberg / Reiner Stegie / Eberhard Bauer (Hg.): Psychologiegeschichte - Beziehungen zu Philosophie und Grenzgebieten. Wien 1998, S. 45-59, insb. S. 54f. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, (wie Anm. 67), Bd. I, S. 421 (II, 27, 10); vgl. auch ebd., S. 122: „Bewußtsein ist die Wahrnehmung dessen, was im eigenen Geiste vor-

Psychologie als Metaphysica

specialis

225

Beinahe wörtliche Entsprechungen lassen sich auch im § 16 der Wolffschen Psychologia empirica nachweisen. Auf dieser Grundlage muß Wolff aber auch bis weit in die Ausführungen zur rationalen Psychologie hinein die Dimensionen seines Bewußtseinsbegriffes ausführen, und zwar bis hin zu den Formen der Selbsterkenntnis (§ 7 3 0 f f ) . Dann aber ist er gezwungen, nahezu übergangslos zu den Bestimmungen der Psychologie als Metaphysica specialis überzugehen, was unter anderem zu der überraschenden Einführung und daher durchaus ungenügend abgeleiteten Begründung für die Annahme der Seele als substanzieller Einheit führt (§ 742). Entwickelt die Deutsche Metaphysik letztlich noch bis zum § 741 die Bestimmungsmomente des Bewußtseinsbegriffes, so fallt die Einheit und wesenhaften Potentialität der Seele überraschend in den Lauf der Begründung ein: Und da aus den Beweisen der angeführten Gründe überhaupt erhellet, daß die Gedancken keinem zusammengesezten Dinge zukommen können, so muß die Seele ein einfaches Ding sein. 87

Weder Gründe überhaupt noch Gründe im speziellen sind in den Ableitungen zum Bewußtsein hinsichtlich der Einheit der Seele zu entdecken. Die Einheit der Seele anders als die Einheit des empirischen Bewußtseins - ist nur und ausschließlich aus der spezifischen Variante des Satzes vom zureichenden Grunde zu deduzieren. Zwar hatte Wolff ausdrücklich - hier gegen Descartes argumentierend - festgehalten, daß er nicht „behaupten wolle, als wenn nichts in der Seele seyn könnte, dessen sie sich nicht bewußt wäre: denn es wird sich unten das Widerspiel zeigen." 88 Nichts anderes als die Theorie der notiones communes wird an dieser Stelle angekündigt, was noch deutlicher aus der folgenden Passage ersichtlich wird: Und daher ist es kommen, daß die Cartesianer vermeinen, das Bewußtseyn mache das ganze Wesen der Seele aus, und könnte in ihr nichts vorgehen, dessen wir nicht bewußt wären. 8

Und das lehnt Wolff ab. Welche Bedeutung aber diese Momente der Seele, die ihr nicht bewußt sein können, im Rahmen des Begründungssystems haben und in welchem Verhältnis sie zu den der Seele bewußten Momenten ihrer selbst stehen, wird nicht ausgeführt - und kann auch nicht ausgeführt werden. Vermittlungslos stehen sich die letztlich empiristischen Ableitungen zum Bewußtsein (und damit die Psychologia empirica) und die - das streng rationalistische Moment der Deduktion aller Systemteile aus der Ontologie umsetzende, daher notwendige - Psychologia rational is gegenüber. Von einem harmonischen Conubium, gern bemühte

87 88 89

geht." (II, 1, 19). Zu diesem für Lockes Individualitätskonzept entscheidenden Theorieelement vgl. die präzisen Ausführungen von Thiel, Udo, Individuation und Identität. Essay Il.xxvii, in: ders., (Hg.): John Locke. Essay über den menschlichen Versland. Berlin 1997 (Klassiker Auslegen 6), S. 149-167, insb. S. 163ff. Wolff, Deutsche Metaphysik, (wie Anm. 25), S. 463 (§ 742). Ebd., S. 107f.(§ 193). Ebd., S. 109 (§ 197).

226

Gideon Síiening

Metapher schon Wolffs sowie der neueren Forschung bezüglich der vermeintlichen Vermittlung von Empirismus und Rationalismus,90 kann also keinen Rede sein. Wolff ist - so mithin ein Resultat dieser Überlegungen - den Sirenengesängen des Lockeschen Empirismus erlegen und konstruiert eine empirische Psychologie, die gar im Bewußtseinsbegriff eine allgemeine Begründungsfunktion erhalten soll, ohne allerdings eine erkenntnistheoretische Grundlegung aller Philosophie wirklich umzusetzen.91 Genau dies war Leibniz gelungen, ohne zugleich Empirist zu werden.92 Der allgemeine Anspruch einer in der streng rationalistischen Ontologie des Nihil-sine-ratione-Prinzips gegründeten Metaphysik bleibt aber bei Wolff ebenso erhalten und konstituiert eine streng rationale Psychologie. Doch muß dies als dem Bewußtsein verschlossen bewußtlos bleiben.

90

91 92

Vgl. hierzu u.a. Engfer, (wie Anm. 64), S. 279; sowie Cataldi Madonna, Luigi, Vernunft und Erfahrung. Zur Entwicklung der empirischen Methodologie in der rationalistischen Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts, in ders., Christian Wolff und das System des klassischen Rationalismus. Hildesheim 2001, S. 4 7 - 8 2 . Vgl. hierzu Honnefelder, (wie Anm. 8), S. 325. Vgl. hierzu ausführlich Kaehler, Klaus Erich, Leibniz ' Position der Rationalität. Die Logik im metaphysischen Wissen der „natürlichen Vernunft". Freiburg / München 1989.

W O L F FEUERHAHN ( L y o n )

Die Wolffsche Psychometrie Die Begriffsgeschichte bereitet dem Historiker der Psychologie Überraschungen. Dieser vertritt für gewöhnlich die Meinung, daß die Psychometrie als ein Kind des 19. Jahrhunderts zu betrachten sei. Als ihr Begründer gilt ihm Gustav Theodor Fechner, der eine Psychologie nach wissenschaftlichem Vorbild entworfen hat. Der Begriff „Psychometrie" fallt aber zum ersten Mal bereits 130 Jahre vor dem Erscheinen von Fechners Elementen der Psychophysik (1860) im Werke des Philosophen Christian Wolff. 1 Wie ist dieses Faktum zu verstehen? Müssen wir in Wolff einen Vorläufer Fechners sehen? Es besteht die Gefahr, im vorliegenden Fall von der Homonymie zweier Begriffe zu Unrecht auf ihre Synonymie zu schließen. 2 Ein Begriff ist untrennbar mit dem Begriffssystem des Werkes, in dem er auftritt, mit seinem breiteren metaphysischen, wissenschaftlichen und sogar sozialen Kontext verbunden. Die Begriffsgeschichte bekommt ihren Sinn erst im Rahmen einer Wissenschafts- und Sozialgeschichte. Georges Canguilhem hat deswegen nach J.T. Clark vor dem „Virus des Vorläufers" gewarnt: Ein Vorläufer wäre ein Denker aus verschiedenen Zeiten, seiner und derjenigen oder denjenigen Zeite[n], die man ihm als seine Fortsetzer zuweist, als die Befehlsempfänger seines unvollendeten Unternehmens. 3

Der Vorläufergedanke verneint die geschichtlichen Unterschiedlichkeiten, er beraubt die Wissenschaftsgeschichte ihres spezifischen Gegenstandes. 4 Wolff zurecht als Vorläufer Fechners betrachten zu dürfen, setzte voraus, daß Wolffs und Fech-

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4

Vgl. Witte, Wilhelm, Artikel „Psychometrie", in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, S. 1678-1681 ; Ramul, Konstantin, The problem of measurement in the psychology of the eigteenth century, in: The american psychologist 15 (1960), number 4, S. 256-265; Métraux, Alexandre, An Essay on the Early Beginnings of Psychometrics, in: Georg Eckardt / Lothar Sprung (Hg.), Advances in historiography of psychology. Berlin 1983, 5. 241-247. Fechner benutzt zwar meistens den Begriff „Psychophysik", aber „Psychometrie" finden wir zum Beispiel in Zend-Avesta 2 (1851), S. 373ff. oder in Elemente der Pychophysik 1.2 (1860). „Un précurseur ce serait un penseur de plusieurs temps, du sien et de celui ou de ceux qu'on lui assigne comme ses continuateurs, comme les exécutants de son entreprise inachevée." Vgl. Canguilhem, Georges, L'objet de l'histoire des sciences, in: ders., Etudes d'histoire et de philosophie des sciences concernant les vivants et la vie. Paris 1994 ['1968], S. 21; Clark, J.T., The philosophy of science and history of science, in: Clagett Marshall (Hg.), Critical Problems in the history of science. Madison, 2 1962, S. 103, zitiert in Canguilhem (diese Aiim.), S. 20. Die Wissenschaftsgeschichte sollte auf keinen Fall die Geschichtlichkeit unberücksichtigt lassen. Dieser Appell impliziert jedoch nicht die Auffassung, daß es keine Kontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte gäbe.

228

Wolf Feuerhahn

ners wissenschaftliche Wege die gleichen wären. 5 Eine solche Behauptung würde unter einem Anachronismus leiden. In diesem Artikel möchten wir eine solche Rückblicksillusion vermeiden und den historischen Sinn der Wolffschen Psychometrie untersuchen. Erst danach kann festgestellt werden, inwiefern Christian Wolff eine wissenschaftliche Psychologie bereits im 18. Jahrhundert projektiert hat und was er damit meinte.

Die „Psychometria" bei Wolff: eine mathematische Erkenntnis der psychischen Kräfte Der Terminus „Psychometria" erscheint bei Wolff zum ersten mal 1732 in seiner Psychologia empirica und in dem ersten Band seiner Philosophia practica universalis. Er beweist aber schon zuvor, 1728, im Discursus Praeliminaris de philosophia in genere,6 der Einleitung zu seinem lateinischen Œuvre, die Möglichkeit einer mathematischen Erkenntnis der geistigen Vorgänge. In § 14 definiert Wolff die mathematische Erkenntnis als Erkenntnis der Quantität der Dinge. Er gibt vier Beispiele dieser Erkenntnis: die mathematische Erkenntnis der Mittagshitze der Sonne, der Bewegung eines Flusses in seinem Bett, der Bewegung eines sich in seiner Bahn bewegenden Planeten und der Aufmerksamkeit. Diese mathematische Erkenntnis der empirischen Phänomene ist möglich, denn „insofern [...] etwas endlich ist, kann es vermehrt oder vermindert werden" und deswegen „kommt [ihm] eine bestimmte Quantität zu" (Discursus praeliminaris, § 13). Die mathematische Erkenntnis mißt die Größenvariation. So zum Beispiel diejenige der Aufmerksamkeit: Derjenige hat mathematische Erkenntnis der Aufmerksamkeit, der das Verhältnis oder die Proportion derjenigen Aufmerksamkeit, die eine längere Demonstration erfordert, zu derjenigen, die fiir eine kürzere ausreicht, erkannt hat. (Discursus praeliminaris, § 17, S. 15)

Die Messung der Aufmerksamkeit soll analog zu derjenigen der Mittagshitze erfolgen, die auf dem Vergleich zwischen der Mittagshitze zur Winter- und Sommersonnenwende beruht. Die Aufmerksamkeit als psychische Kraft verlangt zu ihrer

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Bedeutungslos ist sicherlich nicht, daß Fechner einen geschichtlichen Begriff benutzt hat. Dieses Faktum erlaubt dem Psychologiehistoriker, die historiographische These einer scharfen Trennung zwischen philosophischer und wissenschaftlicher Psychologie in Frage zu stellen. Wir haben diese These kritisiert in: Feuerhahn, Wolf, Entre métaphysique, mathématique, optique et physiologie. La psychométrie au XVIIIème siècle (im Erscheinen begriffen). Aber der genannte Umstand erlaubt uns nicht, Wolffs und Fechners Verwendung des Psychometriebegriffs als synonym zu betrachten. Wolff, Christian, Discursus Praeliminaris de philosophia in genere = Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Günter Gawlick / Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung [FMDA] I, 1 ).

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Messung keine abweichende spezielle Methode. Physische wie psychische Phänomene sind meßbar. Daß ein höheres Erkenntnisvermögen (vgl. zur Aufmerksamkeit: Deutsche Metaphysik, § 268-272) Gegenstand einer mathematischen Erkenntnis sein kann, zeigt, daß endliche Realitäten sowohl materielle wie „immaterielle Dinge" („in rebus immaterialibus", Discursus praeliminaris, § 13) bezeichnen. Vermögen wie die Aufmerksamkeit können deswegen auch unterschiedliche Grade an Intensität aufweisen. Durch freie Übung kann man z.B. höhere Grade der Aufmerksamkeit erreichen (Deutsche Metaphysik, § 270). Die mathematische Erkenntnis kennt also bei Wolff keine Grenzen. Wolffs Beweisführung beruht auf der Idee der universellen Anwendbarkeit der Mathematik. 7 Er denkt Physik und Psychologie in Analogie zueinander und stellt sich vor, daß, genau so, wie die Physik mathematisiert wurde, auch die empirische Psychologie mathematisiert werden kann. Es gibt fur ihn dabei kein ontologisches Hindernis. Die mathematische Psychologie ist eine Physik der „immateriellen Dinge". Diese neue Wissenschaft entspricht Wolffs Absicht, die Philosophie mit der Mathematik zu verbinden. Im ersten Kapitel des Discursus Praeliminaris unterscheidet er drei Erkenntnisarten. Die historische Erkenntnis ist Erkenntnis dessen, was ist und geschieht, sei es in der materiellen Welt oder in den immateriellen Substanzen" (Discursus praeliminaris, § 3), die philosophische Erkenntnis ist „die Erkenntnis des Grundes dessen, was ist oder geschieht" (ebd., § 6) und die mathematische Erkenntnis „die Erkenntnis der Quantität der Dinge" (ebd., § 14). Diese Erkenntnisarten sind aufeinander bezogen: die historische Erkenntnis „bestätigt" die philosophische Erkenntnis (ebd., § 26) und diese „schöpft [...] völlige Gewißheit aus der mathematischen" (ebd., § 27). Erst durch die Verbindung zwischen philosophischer und mathematischer Erkenntnis wird die „höchstmögliche Gewißheit" erreicht (ebd., § 28). Die „Gewißheit" ist Ziel der Wolffschen Metaphysik: in § 28 behauptet Wolff, daß „nichts [...] uns mehr am Herzen [liegt] als Gewißheit". Diese Behauptung wird klar, wenn wir Wolffs Ausbildung und Laufbahn berücksichtigen. Die Idee einer Anwendung der Mathematik auf die Philosophie hat Wolff schon früh von Tschirnhaus (1651-1708) übernommen. 8 Wolff hat Tschirnhaus' Medicina mentis (1687) bereits gekannt, bevor er Leibniz' Werk entdeckt hat.

Diese universelle Anwendbarkeit der Mathematik wird Kant in seiner Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786) ablehnen. Seiner Meinung nach haben die psychischen Vorgänge nur eine Dimension: sie sind Erscheinungen des inneren Sinnes. Die mathematische Erkenntnis seinerseits erfordere eine Synthesis der Apprehension, die die Zeitfolge der psychischen Erscheinungen auf die Einheit eines Moments reduzieren würde. Die Psychologie könne also höchstens eine historische Erkenntnis, eine pragmatische Anthropologie werden, aber keineswegs eine Wissenschaft im strengen Sinne. Über die Debatte um Kants Urteil vgl. Feuerhahn, (wie Anm. 5). Vgl. Wundt, Max, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitaller der Aufklärung. Tübingen 1945, S. 150.

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Wolf Feuerhahn

Die philosophisch-mathematische Erkenntnis der immateriellen Dinge hat eine wissenschaftsgeschichtlich relevante Dimension. Wolff behauptet dieses Erbe nämlich gegen den Halleschen Pietismus Langes, der 1723 Wolffs Vertreibung aus Halle erwirkt hatte. Lange hatte 1704 seinem Buch Tschirnhaus' Titel Medicina mentis gegeben, um gegen die übertriebene Rolle der Mathematik in der Metaphysik zu kämpfen. Im Discursus Praeliminaris bleibt allerdings offen, wie man die Grade der Aufmerksamkeit oder gar die Grade eines jeden beliebigen seelischen Vermögens messen kann. Es findet sich bei Wolff bloß der zitierte Hinweis, daß zu einer solchen Messung das Verhältnis zweier quantitativ unterschiedlicher Zustände eines Vermögens untersucht werden müsse. Im Jahre 1728 ist die mathematische Psychologie ohnehin noch ein bloßes Programm. Erst 1732 tritt der Terminus „Psychometria" auf, und zwar in den Paragraphen 522 und 616 der Psychologia empirica und in den Paragraphen 607 und 608 der Philosophia practica universalis I. In der Anmerkung zu § 522 der Psychologia empirica heißt es: Wenn wir diese Theoreme im mathematischen Stil vorstellen möchten, sollten wir sagen, daß: 1. Die Lust [voluptas] in einem rationalen Verhältnis zu den Vollkommenheiten [perfectionum], deren wir bewußt sind und zu der Gewißheit unserer Urteile über diese Vollkommenheiten steht. 2. Die Unlust [taedium] in einem rationalen Verhältnis zu den Unvollkommenheiten [imperfectionum], deren wir bewußt sind und zu der Gewißheit unserer Urteile über diese Unvollkommenheiten steht. [...]. Die Lust oder die Unlust stehen in einem Verhältnis zu der Vollkommenheit oder der Unvollkommenheit, deren wir bewußt sind. Diese Theoreme führen uns zu einer Psychometrie, die uns eine mathematische Erkenntnis des menschlichen Geistes [mentis humanae] zu Verfügung stellt und bisher erwünscht ist. [...] Diese Forschungen führe ich nur um verständlich zu machen, daß eine mathematische Erkenntnis des menschlichen Geistes und also eine Psychometrie möglich ist und, daß die Seele auch in diesen mathematischen Wahrheiten, das heißt in der Arithmetik und der Geometrie, die mit Quantitäten arbeiten, den mathematischen Gesetzen folgen: diese mathematischen Wahrheiten sind nicht weniger mit den kontingenten Dingen im menschlichen Geiste verbunden als mit der materiellen Welt.9

Der vorliegende Paragraph zeigt, inwiefern Wolff ein altes mit einem jüngeren Vorhaben kombiniert. Der Scholastik entlehnt er das Projekt einer Messung der Formen;10 von Tschirnhaus übernimmt er die Idee einer Übertragung der mathematischen Methode auf die Philosophie. Die Psychometrie ist somit das Ergebnis eines spezifischen Erbes. Einerseits war hierbei von Bedeutung, daß Wolff in seiner Geburtsstadt, dem schlesischen Breslau, ausgebildet wurde - einer Stadt, in 9

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Wolff, Christian, Psychologia empirica, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Jean Ecole u.a. 3 Abteilungen. Hildesheim 1962ff., Abt. II, Bd. 5, § 522, S. 403^104. Für diese Bemerkung danke ich Anne-Lise Rey. In ihrer Doktorarbeit über Leibniz' Dynamik folgt sie diesem Projekt sehr genau: Leibniz hat an dieses scholastische Vorhaben angeknüpft, um sowohl physische Fragen als auch Fragen über die Handlung zu lösen. Die Spezifizität von Leibniz' Ansatz liegt darin, aus der Handlung einen ambivalenten, sowohl physisch als auch metaphysisch interpretierbaren Begriff zu machen. Die Leibnizsche Dynamik sieht eine Quantifizierung der Handlung wie auch der Kraft vor.

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der eine empirische Scholastik noch stark ausgeprägt war. Andererseits las er früh Tschirnhaus und wurde zunächst Mathematiker. 11 Diese Spannung bestimmte sehr stark Wolffs Werk, wie Max Wundt betont: Geistesgeschichtlich und im Hinblick auf eine spätere Lehre gesehen, ist es vor allem die Spannung zwischen der hier [in Breslau] noch stärker fortwirkenden Scholastik und der modernen, auf Mathematik gegründeten Wissenschaft, die die Geisteshaltung des jungen Wolff kennzeichnet. Sie sollte für seine Lehre entscheidend bleiben. 1 2

Die Möglichkeit einer Psychometrie beruht auf der universellen Anwendbarkeit der Mathematik. Ohne Ausnahme kann also auch der menschliche Geist Objekt einer mathematischen Erkenntnis werden. Zwar teilt Wolff in seiner empirischen Psychologie den menschlichen Geist in unterschiedliche Vermögen, und präziser in untere und höhere Erkenntnisvermögen sowie untere und höhere Begehrungsvermögen ein. Aber betrachtet man die Anwendung des Terminus' „Psychometrie" im Werke Wolffs näher, so stellt man fest, daß alle geistigen Vorgänge Objekte der Psychometrie werden können. In § 14 des Discursus Praeliminaris spricht Wolff von einer mathematischen Erkenntnis der Aufmerksamkeit, die zu den höheren Erkenntnisvermögen gehört. In § 242 der Psychologia rationalis erklärt er, daß das „psychometrische Prinzip" dazu dient, die Güte des Gedächtnisses zu schätzen. Das Gedächtnis gehört zum unteren Teil der Erkenntnisvermögen (Psychologia empirica, § 173-233). In § 522 ist es die Lust oder die Unlust, in § 616 die Freude, die Objekt der Psychometrie ist, und beide gehören zum unteren Begehrungsvermögen. In der Philosophia practica universalis I, 173813 (§ 607-608) wird die Psychometrie angewandt, um eine mathematische Erkenntnis der Freiheit, die zum höheren Begehrungsvermögen gehört (Psychologia empirica, §§ 926-946), zu erlangen. Der Geist ist also nach Wolff keine Ausnahmeerscheinung innerhalb der Natur. Sogar die Freiheit kann Objekt der mathematischen Psychologie werden. Aber das Doppelerbe der Scholastik und Tschimhausens reicht nicht hin, um die Geburt der Psychometrie zu erklären. Die Anwendung der Mathematik auf alle endlichen Dinge wurde von einer weiterreichenden metaphysischen Reform begleitet.

" 12 13

Wolff wurde Professor der Mathematik, zuerst in Leipzig ( 1 7 0 3 - 1 7 0 6 ) , dann in Halle ( 1 7 0 7 1714). Wundt, (wie Anm. 8), S. 126. Schon 1741 wird der wolffsche Begriff in dem zu der Zeit berühmten Zedler-Lexikon erwähnt: sychometria, ist eine zur Zeit noch nicht in Schriften vorhandene Wissenschaft, welche die mathematische Erkänntniß der Seele ausmachet, und von dem Herrn Christian Wolff in Vorschlag gebracht worden, in seiner Philosoph. Pract. Univ. P. I. § 607. u. f. welche §§ daher nachzulesen sind." (Zedier, Heinrich, Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 29. Leipzig / Halle 1741, col. 1090.)

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Wolf Feuerhahn

Eine metaphysische Reform der Monadologie Die Gründung der „Psychometrie" beruht auf Wolffs Postulat, daß die Mathematik auf alle endlichen Dinge anwendbar sei. Um dieses Postulat zu begründen, das sonst als willkürlich erscheinen könnte, mußte Wolff zuerst zeigen, wie die psychischen Vorgänge als endliche Dinge betrachtet werden können. Sowohl materielle als auch immaterielle Dinge sind in § 522 der Psychologia Empirica als „kontingente Dinge" definiert, deren quantitative Konstanten der Psychologe zu bestimmen hat. Er versucht also, die Beziehungen zwischen diesen Konstanten festzulegen. Die Geburt der Psychometrie ist der epistemologische Widerhall einer ontologischen Revolution Wolffs gegenüber Leibniz' Metaphysik. Wolff bricht mit Leibniz' Panperzeptionismus: Auch wenn wir mit Leibniz behaupten - eine These die wir selber nicht verteidigen - daß die Monaden, die die Elemente der Körper bilden, konfuse Perzeptionen haben, wollen wir deswegen trotzdem nicht sagen, daß seiner Hypothese gemäß die Seelen aus einem körperlichen Element entspringen. (Psychologia rationalis, § 712)

Bei Leibniz können alle Monaden wahrnehmen, wenn auch einige, was für die einfachsten unter ihnen gilt, nur konfus. Dagegen haben die „Elemente der Körper" keine „konfusen Perzeptionen" bei Wolff. Die leibnizianische Kontinuität gibt es bei ihm nicht mehr. In der Monadologie sind alle Substanzen „Monaden" mit zwei Attributen: „appétition" und „perception". Es gibt eine Hierarchie der Monaden, die in kontinuierlichen Graden realisiert ist. Die „entéléchies" (Monadologie, § 19) sind einfache Substanzen mit einfacher, undeutlicher Perzeption. Die „Arnes" [Seelen] haben distinktere Perzeptionen und ein Gedächtnis. Nur die „Ames raisonnables ou Esprits" (Monadologie, § 29) sind zur Apperzeption fähig. Auch bei Wolff sind alle Substanzen „einfache Dinge" („ens simplex"). Er trennt sie jedoch in zwei ontologisch verschiedene Gruppen. Erstens gibt es die „Elemente" der materiellen Dinge, die keine Perzeptionen aufweisen, sondern nur die Eigenschaft haben müssen, einfach zu sein. In der Psychologia Rationalis (§ 644) erklärt er: „Für die Elemente der materiellen Dinge beanspruche ich nur die Einfachheit und was die Natur der Kraft betrifft, lasse ich die Frage offen." Zweitens gibt es die „Monaden", welche wahrnehmen können. Dieser ontologische Dualismus führt aber zu keinem epistemologischen Dualismus, wie man vielleicht erwarten könnte. Nicht die Perzeption ist der gemeinsame Nenner der Substanzen wie bei Leibniz, sondern die Einfachheit und die Kausalität. Das zugrunde liegende Wissenschaftsmodell ist also nicht das einer auf einen Endzweck hin ausgerichteten Wissenschaft wie bei Leibniz, sondern das einer

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kausalen Wissenschaft. 14 Die Physik als Wissenschaft der materiellen Dinge wird also zur Norm der wissenschaftlichen Praxis überhaupt, also auch der Erklärung psychischer Prozesse. Als endliche Dinge können daher auch alle „einfachen Dinge" gemessen werden: „jedem Endlichen als solchen [muß] eine bestimmte Quantität zugesprochen werden." (Discursus praeliminaris, § 13). Sowohl „immaterielle Dinge" (Discursus praeliminaris, § 14) als auch materielle Dinge können Objekte einer mathematischen Erkenntnis werden. Wir sehen also, wie der Übergang von der Leibnizschen Monadologie zur Wolffschen Psychologie eine kausale Psychologie ermöglicht. Doch diese mathematische Physik der psychischen Vorgänge wurde nicht nur dank einer metaphysischen Revolution, sondern auch dank der Geburt einer neuen Wissenschaft, der Photometrie, möglich.

Die Photometrie: ein Muster für die Psychometrie Wolff gründet seine Psychometrie auf die Resultate der Optik, bzw. einer Optik, die die Grade des Lichtes mißt, um zu erklären, warum wir ein Licht mehr oder weniger gut sehen. In § 76 der Psychologia empirica bezieht er sich auf die Arbeiten von Alhazen (ca. 965-1039), einem arabischen Mathematiker, der auch unter dem arabischen Namen Ibn Al Haitham bekannt ist und als Begründer der „physiologischen Optik" gilt.15 Er hat in der Tat als erster bewiesen, daß im Prozeß des Sehens etwas vom Objekt ausgeht, das das Auge dann erreicht. Diese Auffassung steht in Gegensatz zu dem, was die antiken Optiker glaubten, nämlich, daß das Licht vom Auge kommt und zu den Objekten gelangt. Wolff beruft sich auf das erste Buch von Alhazens Optik.[b In diesem ersten Buch hat der Verfasser verschiedene Versuche dokumentiert, die heutzutage als erste Schritte der „visuellen Sensitometrie" gelten. 17 Er hat bewiesen, daß eine zu starke oder zu schwache Beleuchtung oder auch das Dazwischentreten von Flammen unter bestimmten Bedingungen die Objekte 14

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Vgl. Engfer, Hans-Jürgen, Von der leibnizschen Monadologie zur empirischen Psychologie Wolffs, in: Wolff, Christian, Gesammehe Werke, (wie Anm. 9), Abt. III, Bd. 31 : Sonia Carboncini / Luigi Cataldi Madonna (Hg.), Nuovi Studi sul pensiero di Christian Wolff (1992), S. 193-215. Vasco, Ronchi, Histoire de la lumière, traduit par Juliette Taton, éd. par Jacques Gabay. Paris 1996 ['1956], S. 33. Risnerus, Fredericus, Opticae thesaurus Alhazeni Arabis libri Septem, nunc primum editi. Eiusdem liber De Crepusculis et Nubium ascensionibus. Item Vitellionis Thuringopoloni Libri X. Omnes instaurati, fìguris illustrati et aucti, adiectis etiam in Alhazenum commentariis. Basileae 1572, lib. I, η. 32, S. 20. Es ist nicht bekannt, wie Alhazens Optik verbreitet wurde. Sie wurde erst 1572 von Frédéric Risner ins Lateinische übersetzt und veröffentlicht. Seine Optik wurde zusammen mit Vitellions Optik veröffentlicht, welche im 13. Jahrhundert geschrieben wurde und Alhazens Resultate wiederaufnahm, ohne ihn zu zitieren. Vgl. Vasco, Ronchi, (wie Anm. 15), S. 36.

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unsichtbar macht oder wenigstens manche ihrer Eigentümlichkeiten verwischt, die unter normalen Lichtverhältnissen sichtbar wären. Gerade dieser Beweis ist von Belang für die Begründung der Wolffschen Psychometrie (Psychologia empirica, not. § 76, S. 42). Die ersten photometrischen Arbeiten haben zum Ziel, die Wahrnehmbarkeit eines Objektes zu messen. Friedrich Risner, der Übersetzer und Herausgeber von Alhazens Optik, hat in seiner eigenen Publikation gleichen Titels, 1606 veröffentlicht, 18 diesen Satz erweitert. In diesem Zusammenhang wird er auch von Wolff zitiert (Psychologia empirica, not. § 76, S. 42). Im zweiten Buch (lib. 2, η. 20) seiner genannten Optik beweist Risner das Prinzip: „visibile majus officit minori" (Psychologia empirica, not. § 76, S. 42), d.h. „was sichtbarer ist, hemmt was weniger sichtbar ist." Wolff verallgemeinert dieses Gesetz noch weitergehend und gelangt zu folgendem Satz: „Eine stärkere Empfindung verdunkelt eine schwächere, so daß wir die schwächere nicht mehr wahrnehmen können." (Psychologia empirica, § 76) Wolff gibt also hier eine implizite Antwort auf die Frage, wie man die Stärke einer Empfindung messen kann. Eine Empfindung taucht nie allein auf. Es gibt Grade der Empfindungen. Das von uns Empfundene hat demnach schon immer eine schwächere Empfindung verdrängt. Der Wahrnehmung kann also die Rolle einer Skala, nach der wir die Stärke der Empfindungen messen können, zukommen. In dieser Hinsicht ist der Einfluss des französischen Physikers Pierre Bouguer spürbar. 19 Bouguer (1698-1758) gilt als Begründer der Photometrie, der Technik der Lichtmessung. Wie Wolff zitiert er Alhazen und Vitellion im Vorwort des Essai d'optique sur la gradation de la lumière (1729, S. XIII). 1721 hatte Jean Jacques d'Ortous de Mairan eine Frage gestellt, für deren Antwort die Kenntnis der relativen Quantität des Sonnenlichtes in zwei verschiedenen Höhenlagen notwendig war. Am 23. November 1725 konnte Bouguer das Licht des Vollmonds messen, indem er es mit dem einer Kerze verglich. Bouguer benutzte das menschliche Auge als Null-Indikator („mesures de zéro"), um die Gleichheit oder Ungleichheit der Helligkeit zweier Flächen zu messen. Um eine Gleichheit zu erreichen, stützt sich Bouguer auf das Keplersche Gesetz,20 nach welchem die Stärke des Lichts der Inversion des Quadrates der Entfernung zwischen Lichtquelle und

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19 20

Risnerus, fredericus, Optìcae libri quatuor ex voto Petri Rami novissimo per Fridericum Risnerum ejusdem in Mathematicis adjutorem olim conscripti. Nunc demum auspiciis Illustris et Potentiss. Principis ac Domini, Dn. Maurìtii Hassiae Landgravii [...] e situ et tenebris in usum et lucem publicam producti. Casellis 1606, lib. 2, η. 20, S. 148. Fridericus Risnerus ( t l 5 8 0 / 8 1 ) ist ein deutscher Mathematiker, der als Herausgeber und Obersetzer der Optik von Alhazen bekannt ist. Allerdings haben wir in Wolffs Werken keine direkte Anspielung auf Bouguer gefunden. Kepler, Johannes, Paralipomènes à Vitellion (1604), chap. 1, prop. 9 (übers, v. C. Chevalley, Paris 1980): „[...] la force de la lumière décroît comme l'inverse du carré de la distance séparant la source de l'écran qu'elle éclaire", zitiert nach Michel Saillard, „Introduction" zu Lamberts Photométrie, S. Vili.

Die Wolffsche

Psychometrie

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Leinwand gleicht21 (Bouguer 1729, 3). Das Auge kann zwar das Verhältnis zweier ungleicher Eindrücke nicht messen, aber es kann dabei helfen, die Gleichheit zweier nebeneinandergelegter Flächen festzustellen, was Bouguer die „Null-Messung" nennt. In seinem Essai d'optique sur la gradation de la lumière (1729) benutzte er diese Methode, um die Stärke zweier Lichtquellen zu vergleichen, und, um die Stärke herauszufinden, die eine Lichtquelle aufweisen muß, um ein gegebenes schwächeres Licht zu hemmen. U m zum Beispiel zu entdecken, wieviel stärker das Licht einer bestimmten Fackel als das einer Kerze ist, müssen wir uns demnach von der Fackel entfernen bzw. der Kerze nähern, bis beide in gleicher Stärke zu leuchten scheinen. Gesetzt, wir sollten uns dann 4 mal näher bei der Kerze als bei der Fackel befinden, so können wir schließen, daß ihr Licht 16 mal schwächer war, denn wir müßten es bei einer 4 mal kleineren Distanz 16-fach vermehren, um es dem der anderen Lichtquelle anzugleichen (Bouguer 1729, 4).

Es läßt sich nun leicht verstehen, wie Wolff die photometrische Fragestellung für eine psychologische Fragestellung fruchtbar zu machen versucht. So wie der Physiker das Auge für den Vergleich der Stärke zweier Lichtquellen gebraucht, so soll der Psychologe die normale menschliche Wahrnehmung benutzen, um die Stärke der verschiedenen Empfindungen zu vergleichen. Wolff möchte sowohl die Größe der Vollkommenheit als auch die Genauigkeit des Urteils messen (Psychologia empirica, § 522). Wolffs Ziel ist mehr als ein einfacher Vergleich. Wolff wendet eine spezifische Methode in Bezug auf ein anderes Objekt als das ihr eigentümliche, nämlich auf alle immateriellen Dinge an. Aus der Abhängigkeit der Wolffschen Psychometrie von der Photometrie Bouguers könnte der Psychometrie aber auch ein epistemologischer Einwand erwachsen. Bouguer schließt von der Natur der Wahrnehmung des Lichtes auf die Natur des Lichtes. Für ihn gilt unsere Wahrnehmung als objektive Referenz. Man muß sich fragen, ob ein entsprechendes Postulat im Kontext der Psychometrie haltbar ist. Man sollte bei der Beantwortung dieser Frage aber im Auge behalten, daß die Psychometrie bei Wolff nur als Programm und noch nicht als bereits realisierte Wissenschaft auftritt. Das bezeugen sowohl der Paragraph 522 der Psychologia Empirica („die bislang noch Desiderat geblieben ist") wie der Paragraph 607 der Philosophia practica universalis I („hactenus desiderata", S. 449). Die Meßmethoden sind noch nicht entwickelt worden: „diese Theoreme können nicht benutzt werden, bis jede dieser Messungen erfunden ist." (Psychologia empirica, § 522). Als Programm ist die Psychometrie „möglich", „logisch unwidersprüchlich": die Bestimmung der Natur in mathematischer Sprache schließt nicht die geistigen Vorgänge aus, sie macht auch keine speziellen Gesetze nötig, wie das der Fall bei Wundt mit dem Prinzip der schöpferischen Synthese sein wird.22 Es stellt sich aber 21 22

„ [ . . . ] la force de la lumière est c o m m e l'inverse du carré de la distance de la source à l'écran." Vgl. Wundt, Wilhelm, Logik 111. Logik der Geisteswissenschaften. Stuttgart 3 1 9 0 8 , S. 277.

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die Frage der Etablierbarkeit der Psychometrie als Wissenschaft. Fechner mag wohl Bouguer in dem historischen Teil seiner Elemente der Psychophysik zitieren, der Erfinder der Photometrie wird aber mitten in einer Reihe von anderen Wissenschaftlern erwähnt.23 Wolff selber wird nicht von Fechner zitiert. Diese historische Untersuchung zeigt, daß Philosophiegeschichte und Wissenschaftsgeschichte vorsichtig mit der Homonymie der Begriffe umgehen sollten, wenn sie nicht, wie in unserem Falle, in Wolff voreilig den direkten Vorläufer Fechners sehen wollen. Die Wolffsche Psychometrie ist das Ergebnis einer bisher unbeachteten Fusion von Metaphysik, Mathematik und Optik. Zwischen Wolff und Fechner ist das Feld der psychometrischen Untersuchungen wesentlich komplexer geworden, und die Psychophysik wird bei Fechner nicht mehr nur als ein Programm dargestellt, sondern als eine existierende Wissenschaft.

23

Fechner, Gustav Theodor, Elemente der Psychophysik, Teil 2. Tokyo 1998 (Reprint der Ausg. Leipzig 1860), S. 548-549.

OLIVER-PIERRE RUDOLPH ( H a l l e )

Die Psychologie Christian Wolffs und die scholastische Tradition

Die Bezüge der Metaphysik Christian W o l f f s zur scholastischen Tradition blieben über lange Zeit ein von der Wolff-Forschung vernachlässigtes Thema. Die wenigen bis zum Jahre 1988 erschienenen Arbeiten, die sich dieser Fragestellung widmeten, fanden zunächst kaum Beachtung. 1 Erst ab 1989 begann die Forschung sich eingehender mit den systematischen Bezügen der Wölfischen Metaphysik zur Scholastik zu beschäftigen, wobei die Ontologie im Mittelpunkt des Interesses stand. 2 Die Psychologie wurde dabei jedoch nicht berücksichtigt. 3 Da Christian W o l f f bei der Ausarbeitung seines Systems der Philosophie ein eklektisches Konzept verfolgt hat, ist für das Verständnis seiner Psychologie eine genaue Kenntnis der von ihm rezipierten Autoren und philosophischen Traditionen von großer Bedeutung. 4 Daß man sich bei der Erforschung dieser Quellen bislang auf die Philosophie der Neuzeit beschränkt hat, dürfte sich der Tatsache verdanken, daß zwei neuzeitliche Theorien, nämlich der cartesianische Substanzendualis-

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Zu nennen sind hier Ruello, Francis, Christian Wolff et la Scolastique, in: Traditio 19 (1963), S. 411—425; Casula, Mario, Die Beziehungen Wolff - Thomas - Carbo in der Metaphysica latina. Zur Quellengeschichte der Thomas-Rezeption bei Wolff. In: Studia Leibnitiana 11 (1979), S. 98-123. So z.B. Honnefelder, Ludger, Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Duns Scotus - Suárez Wolff - Kant - Peirce). Hamburg 1990; Carboncini, Sonia, Transzendentale Wahrheit und Traum. Christian Wolffs Antwort auf die Herausforderung durch den Cartesianischen Zweifel. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung [FMDA] II, 5), S. 95-103; dies., L'ontologia di Wolff tra Scolastica e Cartesianismo [1989], in: Wolff, Christian, Gesammelte Werke, hg. ν. Jean Ecole u.a. Hildesheim u.a. 1962ff., Abt. III, Bd. 65: Autour de la philosophie Wolfßenne, hg. v. Jean Ecole (2001), S. 70-94; Ecole, Jean, Une étape de l'histoire de la métaphysique: l'apparition de l'ontologie comme discipline séparé, in: ebd., S. 95-116; ders., La place de la Metaphysica de ente, quae rectius Ontosophia dans l'histoire de l'Ontologie et sa réception chez Christian Wolff [1999], in: ebd., S. 117-130; ders., Contribution à l'histoire des propriétés transcendantales de l'être [1996], in: ebd., S. 131-158. Jean Ecole klammert in seinem jüngsten Aufsatz zum Verhältnis der Wolffschen zur scholastischen Metaphysik die Psychologie ausdrücklich aus. Vgl. Ecole, Jean, Christian Wolffs Metaphysik und die Scholastik, in: Vernunftkritik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts, hg. v. Michael Oberhausen. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 115128. Vgl. Wolff, Christian, Der Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen (Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik), § 19 ad § 43, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 2), Abt. I, Bd. 3 (1983), S. 47: „Ich bin weder ein Verächter des Alten noch des Neuen; sondern ich prüfe alles, und das Gute behalte ich, es mag angetroffen werden, wo es will."

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mus und die Leibnizsche Monadenlehre, die Wolffsche Seelenlehre so grundlegend prägen, daß sich viele Probleme ihrer Interpretation auf die Frage zurückführen lassen, in welcher Weise Christian Wolff in seiner Psychologie cartesianische und leibnizianische Elemente erweitert, modifiziert und miteinander verbunden hat. Daher liegt die Annahme nahe, daß man bei einer Untersuchung der Wölfischen Psychologie auf die Berücksichtigung antiker und scholastischer Quellen verzichten kann. Auf dem Wege einer rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung zur Psychologie Christian Wolffs beabsichtigen wir jedoch zu zeigen, daß eine Interpretation, welche nur die neuzeitlichen Quellen Wolffs berücksichtigt, zu kurz greifen muß. Zu diesem Zwecke wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf eine bislang kaum beachtete Rezeptionslinie der Wolffschen Metaphysik richten, welche die Psychologie in besonderem Maße betrifft: Die Rezeption in den katholischen Ländern Europas in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts am Beispiel Italiens. Christian Wolff begann ab 1728 damit, seine bis dahin in deutscher Sprache erschienenen Werke in einer stark erweiterten lateinischen Fassung herauszugeben. Er verfolgte damit das Ziel, ein größeres europäisches Publikum zu erreichen. Den Erfolg seines Unternehmens sah Wolff dadurch bestätigt, daß ein italienischer Verleger bereits wenige Jahre nach Erscheinen der Erstausgaben die ersten Bände einer Neuausgabe der lateinischen Metaphysik zu Verona publizierte. 5 Wie sich aus einem Brief von Christian Wolff an den Grafen Manteuffel vom 7. Juni 1739 erschließen läßt, gewannen in Italien zu dieser Zeit die materialistische Philosophie und der Skeptizismus von England aus stark an Einfluß. Dieser Entwicklung, so erfahren wir aus besagtem Brief, trachtete die hohe Geistlichkeit entgegenzuwirken. Da sich die damals vorherrschende scholastische Philosophie aber als ungeeignet erwies, um den unerwünschten Tendenzen argumentativ entgegenzutreten, „verlegten" sich die Theologen auf die Wolffsche Philosophie, wie Wolff seinem Freund und Gönner in besagtem Brief referiert: Erst mit letzterer Post habe ich von einem guten Freunde vernommen, daß der Portugiesische Minister in Rom, P. Evora, bey dem ich so wohl angeschrieben, als nur möglich, ihm diese Ursache gesagt, warum insonderheit bei der hohen Geistlichkeit und anderen gelehrten Theologis meine Philosophie in Italien in so großes Ansehen kommen, als er in anderen Ländern noch nicht gefunden. Es wäre nämlich durch die Principia der heutigen berühmten Engelländer der Materialismus und Scepticismus in Italien überall gewaltig eingerissen. Man hatte sich nicht im Stande gefunden aus der Scholastischen Philosophie demselben zu begegnen. Daher hätte man sich mit Macht auf meine Philosophie legen müssen, weil man darinnen die Waffen gefunden, wodurch man diese Monstra bestreiten und besiegen kann. 6

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Vgl. Wolff, Christian, Eigene Lebensbeschreibung, hg. v. Heinrich Wuttke, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 2), Abt. I, Bd. 10 (1980), S. 163 u. 175. Zitiert nach Ostertag, Heinrich, Der Philosophische Gehalt des Wolff-Manteuffeischen Briefwechsels, in: Wolff, Christian, Gesammelte Werke, (wie Anm. 2), Abt. III, Bd. 14 (1980), S. 38.

Wolffs Psychologie und die scholastische

Tradition

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Andere Zeugnisse bestätigen die günstige Aufnahme der Werke Wolffs in den Kreisen der hohen Geistlichkeit in Italien. Nach der Auskunft Gottscheds wurden die lateinischen Werke Wolffs „mit der in Italien gewöhnlichen strengen Zensur, ohne alle Schwierigkeiten ans Licht gestellet." 7 Sie wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark rezipiert, wobei sich die daraus hervorgegangenen wolffianisch geprägten Werke italienischer Philosophen wiederum der Approbation erfreuten - zum Teil mit der ausdrücklichen Begründung, daß der Verfasser die Lehren Wolffs vertritt.8 Daß sich die römische Kurie gerade der Wölfischen Philosophie öffnen konnte, um dem unerwünschten Materialismus und Skeptizismus zu begegnen, ist aber nur unter einer doppelten Bedingung verständlich. Einerseits mußte die Wolffsche Philosophie sich im Gegensatz zur scholastischen Lehre als mögliche Waffe gegen Materialismus und Skeptizismus empfehlen; andererseits durfte sie sich nicht in einen Gegensatz zu der im Italien der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorherrschenden scholastischen Philosophie begeben haben, da auszuschließen ist, daß die italienische hohe Geistlichkeit eine Philosophie empfehlen konnte, die der traditionellen Lehre unvermittelt gegenüberstand. Sie mußte den Theologen vielmehr als anschlußfähig erscheinen können. Um zu bestätigen, daß die erste Teilbedingung erfüllt war, gilt es wiederum zwei Aspekte zu berücksichtigen. Zunächst muß nachgewiesen werden, daß sich die Wolffsche Philosophie durch einschlägige Argumente gegen Materialismus und Skeptizismus auszeichnet. Darüber hinaus gilt es aber auch die Interessen der gedachten Adressaten zu berücksichtigen. Die römische hohe Geistlichkeit mußte davon ausgehen können, daß die Wolffsche Philosophie denjenigen, die sich von der scholastischen Tradition abwendeten, eine Alternative zu den unerwünschten Lehren des Materialismus' und Skeptizismus' würde bieten können. Insofern muß sich die Philosophie Wolffs von der scholastischen Philosophie unterscheiden. Sie darf sich jedoch auch nicht völlig von der scholastischen Lehre verabschiedet haben, um auch der zweiten Teilbedingung gerecht zu werden. Wolffs Philosophie mußte sich also als Kompromiß zwischen Erneuerung und Tradition verstehen lassen. Im folgenden wollen wir im Ausgang von einem Gedankengang der Psychologia rationalis untersuchen, auf welche Weise Wolffs Philosophie diesen Anforderungen genügt.

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Gottsched, Johann Christoph, Historische Lobschrift des weiland hoch- und wohlgebohrnen Herrn Christians, des H.R.R. Freyherrn von Wolff in: Wolff, Christian, Gesammelte Werke, (wie Anm. 2), Abt. I, Bd. 10 (1980), S. 98. Siehe z.B. die dem Werk unpaginiert vorangestellten „Approbationes" des Zensors Andreas Simioli in: Explorator, Egenus, De essentia et natura rerum potissimum spiritualium ac simplicium earumque nexu et actione praelusio. Napoli 1781. Einen vorläufigen Überblick über die Rezeption der Werke Wolffs in den katholischen Ländern erlaubt Jansen, Bernhard, Philosophen katholischen Bekenntnisses in ihrer Stellung zur Philosophie der Aufklärung, in: Scholastik \ 1 (1936), S. 1-51.

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Tatsächlich widmet Wolff dem Problem des Materialismus' und Skeptizismus' einen umfassenden Argumentationsgang. Der systematische Ort einer Auseinandersetzung mit dem Materialismus ist sachgemäß die Psychologie, denn bei einer Widerlegung des Materialismus' gilt es vornehmlich zu zeigen, daß mentale Phänomene, an deren Existenz auch der Skeptiker nicht zweifelt, nicht auf materielle Prozesse zurückgeführt werden können. Christian Wolff diskutiert und widerlegt den Materialismus dementsprechend in seiner Psychologia rationalis. In dem fraglichen Argumentationsgang diskutiert er auch den Skeptizismus, dem er seine eigene Lehre entgegenstellt und von welchem er sich ausdrücklich distanziert. 9 Den für die Widerlegung zentralen Beweis, daß ein Körper nicht denken kann, stützt er wesentlich auf die Ergebnisse seiner Psychologia empirica und seiner Cosmologia generalis,10 Der Argumentationsgang beginnt mit der Definition der Begriffe „Monistae" als „philosophi, qui unum tantummodo substantiae genus admittunt" (§ 32) und „Materialistae" als „philosophi, qui tantummodo entia materialia, sive corpora existere affirmant" (§ 33). In § 34 folgert Wolff aus diesen Definitionen „Materialistae [...] Monistae sunt." § 35 verdeutlicht, worin die Materialisten von der traditionellen Lehre abweichen: „Materialistae igitur animam pro ente materiali habent." Christian Wolff distanziert sich deutlich von den Materialisten, indem er erläuternd hinzufügt: „Qui adeo demonstrat animam esse ens immateriale, Materialismum evertit: id quod mox a nobis fiet." Im weiteren widmet sich Wolff neben anderen „philosophischen Sekten" auch den Skeptikern, die er als „qui metu erroris commitendi veritates universales insuper habent, seu nihil affirmant, nihil negant in universali" definiert. Auf eine vollständige Übersicht aller unterscheidbaren Richtungen - von den Skeptikern unterscheidet Wolff die Dogmatiker, welche er in Monisten (Materialisten und Idealisten mit dem Extremfall der Egoisten) und Dualisten unterteilt - folgt Christian Wolffs Widerlegung des Materialismus'. Sie umfaßt zwei Schritte: Wolff versucht zu beweisen, daß Körper erstens nicht aus eigener Kraft denken können und ihnen zweitens das Denken nicht von einer anderen Substanz - also auch nicht von Gott - mitgeteilt werden kann. In § 44 soll zunächst gezeigt werden, daß Körper nicht denken können. Wolff stützt sich dabei auf Grundlehren seiner Ontologie, Kosmologie und empirischen Psychologie. Er erinnert zunächst an seine zweistufige Rekonstruktion des Denkvorganges. Demzufolge basiert der Denkvorgang auf zunächst unbewußten Vorstellungen („repraesentationes") von Gegenständen außer mir. Die gesamte zu einem Zeitpunkt gegebene Vorstellung wird durch das sukzessive Lenken der Aufmerksamkeit über die objektiv unterschiedlichen Teilvorstellungen der gesam9

10

Vgl. Wolff, Christian, Psychologia rationalis, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 2), Abt. II, Bd. 6 (1986), §§ 32-52, besonders §§ 33-35 u. 50 bzw. 41f. Vgl. ebd., § 44. Die Psychologia empirica Christian Wolffs findet sich in ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 2), Abt. II, Bd. 5 (1968), die Cosmologia generalis in ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 2), Abt. II, Bd. 4 (1964).

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ten Vorstellung und ein jeweiliges Vergleichen und Unterscheiden der Teilvorstellungen zu Bewußtsein gebracht. Nun erinnert Wolff an seinen Befund bezüglich der möglichen Veränderungen von Körpern. Sie kommen nach Wolff exklusiv durch die Bewegung der Teile der Körper zustande. Durch eine sich verändernde Anordnung der Teile eines Körpers kann nach Wolff zwar das Zustandekommen einer Folge wechselnder Vorstellungen erklärt werden, nicht aber das Bewußtsein einer solchen Reihe von Vorstellungen in dem Sinne, daß die vorgestellten Gegenstände mir als Gegenstände außer mir bewußt sind. Mentale Prozesse können demnach nicht materiell rekonstruiert werden - Körper können also nicht denken. Es folgt in § 45 der Beweisversuch dafür, daß einem Seienden kein Attribut durch ein anderes mitgeteilt werden kann. Wolff stützt sich dabei auf das Prinzip des zureichenden Grundes. Wenn einem Seienden ein Prädikat mitgeteilt werden würde, dem ein bestimmtes Attribut seiner Natur nach nicht zukommt, wäre der zureichende Grund dafür in seinem Wesen nicht enthalten. Ihm würde also etwas zukommen, wofür es in ihm keinen zureichenden Grund gäbe. Vom allgemeinen Satz, daß eine solche Mitteilung unmöglich ist, schließt Wolff sodann in § 46, daß auch einem Körper das Denkvermögen nicht mitgeteilt werden kann, da es ihm nach dem vorigen Beweis per se nicht zukommt. Den Beweisgang wird Wolff dementsprechend mit dem Ergebnis beschließen können: „Anima materialis, seu corpus esse nequit" (§ 47), ergo: „Materialismus falsa hypothesis." (§ 50) Wir müssen hier nicht darüber entscheiden, ob Wolffs Widerlegung des Materialismus' schlüssig ist. Im Kontext unserer Fragestellung gilt es allein zu untersuchen, inwiefern der Wolffsche Beweisgang bzw. die Wolffsche Psychologie insgesamt geeignet erscheinen konnte, einen zum Materialismus oder Skeptizismus neigenden italienischen Philosophen des 18. Jahrhunderts von der Wahrheit des Dualismus' zu überzeugen. Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir, nachdem wir gezeigt haben, daß Wolff dem Materialismus und Skeptizismus argumentativ entschieden entgegentritt, untersuchen, inwiefern Wolffs Psychologie Erfolg bei den aus der scholastischen Tradition heraustretenden Philosophen versprechen konnte. Im nächsten Schritt soll daher nach den Motiven der Abkehr italienischer Philosophen von der scholastischen Philosophie zu Gunsten des Materialismus' oder Skeptizismus' gefragt werden. In Vorbereitung dazu gilt es, die Unterschiede zwischen dem Wolffschen und dem scholastischen Dualismus zu verdeutlichen. Dieser Unterschiede war sich Christian Wolff durchaus bewußt. Zu § 51 mit dem Marginalientitel ,yinimaprorsus differì a corpore" merkt er nämlich an: „Differentiam animae a corpore Aristotelici non satis distincte exposuerunt; accuratius illam ab hoc distinxit Car tes lus." Nach einer Aufzählung der Leistungen Descartes' zur Unterscheidung von Körper und Geist fahrt Wolff fort: „Recte omnia sese habent, sed ostendendum erat, modificationes animae non esse explicabiles per eandem principia, per quae explicantur modificationes corporis: quod magis sumere quam probare videtur Cartesius, nos vero in superioribus evicemus (§. 44. 46.), ut adeo nostra de

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anima philosophia Cartesianam non subvertat sed eandem illustret & corroboret. Patebit idem ex subsequentibus, ubi ad specialia digrediemur."

Wolff schließt sich also ausdrücklich an Descartes an, meint diesen jedoch sowohl bezüglich seiner Argumente gegen den Materialismus als auch im Hinblick auf seine Theorie der Seelenkraft an Beweiskraft zu übertreffen. Den Scholastikern hält er vor, Körper und Geist nicht hinreichend unterschieden zu haben. Worin nun differieren der von Wolff vertretene cartesianische und der scholastische Dualismus? Wir haben bereits gesehen, daß Wolffs cartesianischer Dualismus Körper und Geist genau insofern als zwei verschiedene Substanzen betrachtet, als sie kein Prädikat miteinander gemeinsam haben oder einander kommunizieren können. Der aristotelisch-scholastische Dualismus betrachtet Körper und Seele des Menschen auch als unterschiedliche Substanzen, folgt dabei aber im Gegensatz zu Wolff dem Modell des von Aristoteles in De anima explizierten, einheitsstiftenden Hylemorphismus. Demnach verhalten sich Körper und Geist wie Materie und Form zueinander. Die Seele ist in diesem Modell die substantielle Form des materiellen Körpers. Ihr wird nicht nur die Funktion zu denken zugesprochen, sondern auch die Wahrnehmung und die Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen. Aristoteles gliedert die Seele gemäß diesen Funktionen in Pflanzen-, Tier- und Vernunftseele. Die Seele ist somit nicht nur - wie bei Wolff - dasjenige, was in uns denkt, sondern das allgemeine Lebensprinzip eines jeden belebten Körpers. Obgleich die Seele als Formprinzip in der aristotelisch-scholastischen Philosophie dem materiellen Körper gegenübergestellt wird, gehört die Psychologie im Aristotelismus zur Naturphilosophie, nicht - wie bei Wolff - zur Metaphysik, welche nach aristotelisch-scholastischer Auffassung als Lehre vom „ens inquantum ens" bis in die Spätscholastik hinein thematisch auf die allem Seienden gemeinsamen Eigenschaften begrenzt ist." Die Integration der Seelenlehre in die Naturphilosophie ist innerhalb des Aristotelischen Systems der Philosophie aber auch unproblematisch, da sich Aristoteles' Naturbegriff nicht mit demjenigen der modernen Naturwissenschaft deckt. Es sei daran erinnert, daß sich die Begründer der modernen Naturwissenschaften gerade deswegen gegen die aristotelische Physik richteten, weil diese die Natur wie eine Welt zielstrebig handelnder Wesen betrachtete. Die neuzeitliche Erkenntnis, daß physikalische Vorgänge mit großem wissenschaftlichen Erfolg als bloß materielle Prozesse interpretiert werden können, war es, mit welcher der Materialismus und Skeptizismus sich verbreiten konnten. Warum, so konnte man sich fragen, sollten nicht auch mentale Prozesse materiell

11

Mit diesem Argument wendet physicae gegen die Aufnahme Disputationes metaphysicae, 2 Bd. 1, Disp. I, Sect. 1, § 14f„ S.

sich z.B. Francisco Suárez in seinen Disputationes metader Seelenlehre in die Metaphysik - vgl. Suárez, Francisco, Bde. Hildesheim 1998 (Nachdruck der Ausg. Paris 1866), 6f. u. § 19f., S. 18f.

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verstanden werden können, wenn eine solche Interpretation auf dem Gebiet der Physik erfolgreich war? Ein Blick auf die italienische Philosophiegeschichte läßt erkennen, daß um die Mitte des 18. Jahrhundert die moderne anti-aristotelische Naturphilosophie einen großen Aufschwung nahm, was sich vor allem dem Einfluß Newtons verdankt. 12 Vor diesem Hintergrund wird mit Rücksicht auf unsere bisherigen Ausführungen deutlich, daß sich in Italien und in anderen zuvor von der scholastischen Philosophie beherrschten Ländern die materialistischen und skeptischen Tendenzen verstärken konnten. Viele Denker wollten auch in diesen Ländern die modernen naturwissenschaftlichen Ansätze Newtons fruchtbar machen. Da diese mit der scholastisch-aristotelischen Naturlehre unvereinbar waren, mußte man letztere verabschieden. Insofern die Psychologie nach der scholastischen Auffassung ein Teil der Naturlehre war, geriet sie in den Verdacht, ebenfalls obsolet geworden zu sein. So wird verständlich, daß sich viele in der Erwartung, daß man auf dem Boden der empirischen Naturwissenschaft schließlich auch mentale Phänomene würde erklären können, dem Materialismus zuwandten. Andere hingegen verloren das Vertrauen in die alte Metaphysik und neigten dem Skeptizismus zu. Wir wollen nun kurz beleuchten, inwiefern Wolffs Psychologie im Gegensatz zur scholastischen Lehre mit den innovativen naturwissenschaftlichen Ansätzen kompatibel war bzw. sich diese sogar anzueignen verstand und auf diese Weise als Alternative zur Abkehr vom Dualismus in Betracht kam. Es ist hinreichend bekannt, daß Wolff den naturwissenschaftlichen Fortschritt seiner Zeit als Mitglied bedeutender Akademien der Wissenschaft nicht nur aufmerksam verfolgt, sondern ihn u.a. als Verfasser einer mehrbändigen Experimentalphysik auch fruchtbar gemacht hat.' 3 Daß seine Metaphysik ihm dies erlaubte, erhellt aus unseren bisherigen Ausführungen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß Christian Wolff dem cartesianischen Konzept des Substanzendualismus folgt. Dadurch schließt er eine Übernahme mentalistischer Vorstellungen in den physikalischen Diskurs von vornherein aus und sichert so der Naturwissenschaft ihre Unabhängigkeit. Wolff geht bei der Berücksichtigung seiner naturwissenschaftlichen Interessen in der Psychologie jedoch über eine bloße Trennung von Physik und Seelenlehre hinaus. Als einer der ersten hat er naturwissenschaftliche Methoden auf die Psychologie übertragen. So entwarf er das Konzept einer Psychometrie als Wissen-

12

13

Vgl. dazu v.a. Ferrane, Vincenzo, Scienza, natura, religione. Mondo newtoniano e cultura italiana nel primo Settecento. Napoli 1982, sowie Manzoni, Claudio, Il „Cattolicesimo illuminato " in Italia tra Cartesianismo, Leibnizismo e Newtonismo-Lockismo nel primo settecento (1700-1750). Note di ricerca sulla recente storiografia. Trieste 1992, bes. Kap. II, S. 61-86. Vgl. Wolff, Christian, Allerhand nützliche Versuche, dadurch zu genauer Erkäntnis der Natur und Kunst der Weg gebähnet wird (Deutsche Experimentalphysik), in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 2), Abt. I, Bd. 20, Teile 1-3 (1982).

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schaft zur quantitativen Bestimmung der Intensität mentaler Phänomene.' 4 Auch diesseits einer solchen quantitativen Psychologie verfolgte Wolff mit seiner Psychologia empirica die Idee einer der Experimentalphysik vergleichbaren Wissenschaft. 15 Dem physikalischen Experiment entspricht in diesem Konzept die gezielte Beobachtung der eigenen Bewußtseinsvorgänge. Dieses Verfahren ist Grundlage der gesamten Psychologia empirica. Die bisherigen Untersuchungen hatten zu zeigen, daß man in der Wölfischen Philosophie eine Waffe gegen den Materialismus und den Skeptizismus hatte sehen können, insofern Wolffs Psychologie einerseits argumentative Mittel bereitstellt, die auf die Widerlegung dieser Richtungen zugeschnittenen sind, und andererseits den innovativen Interessen der sich von der scholastischen Philosophie entfernenden Philosophen entgegenkam. Es soll nun darüber hinaus verdeutlicht werden, inwiefern die Wolffsche Philosophie trotz der namhaft gemachten Abweichungen von der scholastischen Lehre in einem wissenschaftspolitisch sehr konservativ geprägten Milieu gebilligt und sogar gefördert werden konnte. Dazu möchten wir den Blick auf eine Fußnote des bereits diskutierten § 45 lenken, die als paradigmatisch für Wolffs Verhalten gegenüber der Scholastik gelten darf. Es heißt dort erläuternd zum Wölfischen Beweis der Inkommunikabilität von Attributen zwischen verschiedenen Substanzen: Hanc incommunicabilitatem attributorum dudum agnovere Scholastici, etsi principium rationis sufïïcientis distincte non agnoverint, nec ejus aliquem usum fecerint in philosophia prima. Sane si quis admittere velit, quae ex suppositione, per quam ens concipitur tanquam possibile quid & in numerum entium refertur (§. 142. Ontol.), minime consequuntur, seu distincte ratiocinio legitime colligi nequeunt; is quidlibet pro arbitrio fingere poterit, securus omnímodo ne refutetur. Nec quicquam erit adeo evidens, quin in dubitationem adduci possit. Scepticis adeo principium communicabilitatis attributorum sese probare debet (§. 41.), non dogmaticis (§. 40.). Si qui ad omnipotentiam Dei tanquam sacram anchoram confugit; ii, quam abjecte de eadem sentiant, in Theologia naturali intelligent.

Wolff verweist also ausdrücklich darauf, daß er den Begriff und die Lehre der Inkommunikabilität von Attributen aus der scholastischen Philosophie übernimmt. Zugleich weist er aber auch darauf hin, daß die Scholastiker diese Lehre im Gegensatz zu ihm nicht hinreichend beweisen konnten, da sie, so Wolff, das Prinzip des zureichenden Grundes - eines der zwei Grundprinzipien der Wölfischen Philosophie - nicht kannten. Wolff macht somit darauf aufmerksam, daß er in der Sache der scholastischen Lehre folgt; nur tut er dies seiner Meinung nach insofern mit besseren Argumenten, als er einen auf das Prinzip des zureichenden Grundes 14 15

Vgl. hierzu den Beitrag von Wolf Feuerhahn in diesem Band. Vgl. Wolff, Psychologia empìrica, (wie Anm. 10), § 4 Anm. u. ders., Philosophia rationales sive Logica, Pars I: Discursus praeliminaris de philosophia in genere, in: ders., Gesammelle Werke, (wie Anm. 2), Abt. II, Bd. 1.1 (1983) bzw. ders., Discursus praeliminaris de Philosophia in genere = Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung [FMDA] I, 1 ), § 111 Anm.

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gestützten Beweis fuhrt, statt mit Autoritäten zu argumentieren. Dieser Beweis mag sich zwar fur dogmatische Philosophen erübrigen, ist aber nach Wolffs eigener Aussage dringend erforderlich, um den Skeptiker zu widerlegen. Symptomatisch für Wolffs Verständnis seines Verhältnisses zur Scholastik ist die Auffassung, daß er den verworrenen scholastischen Begriffen zur Klarheit und Deutlichkeit verhelfe, was zum Teil in sachlicher Übereinstimmung, zum Teil aber auch mit erheblicher Abweichung einhergeht. Ein signifikantes Beispiel fur letzteren Fall ist Wolffs Umgang mit dem Begriff der species impressa. Wolff begründet seine Abweichung auch hier mit der Undeutlichkeit der scholastischen Begriffe. „Parum vero soliciti sumus, quid Scholastici species sensibiles ac in specie impressas species dixerint, propterea quod notorium est ipsos earum, quae ad animam spectant, notiones ciaras atque distinctas non habuisse." (§ 112) Wolff definiert die species impressa als eine Bewegung, die einem Sinnesorgan mitgeteilt wird: „Motum ab objecto sensibili organo impressum dicemus posthac Speciem impressami6 Dem scholastischen Philosophen muß der Terminus „species impressa" sofort als vertraut ins Auge springen; Wolffs Definition dürfte ihn jedoch befremden, da der Begriff in der scholastischen Philosophie keine mechanische Kraft, sondern eine vom Wahrnehmungsobjekt ausgehende, den Geist zur Erkenntnis des Gegenstandes befähigende Information bezeichnet. 17 Im Hintergrund dieser unterschiedlichen Auffassungen stehen zwei verschiedene Konzeptionen des Verhältnisses von Körper und Seele. Wolff sieht aufgrund seines cartesianischen Substanzendualismus eine der Hauptschwierigkeiten der Philosophie in der Erklärung des Zusammenhanges zwischen Körper und Geist. Als einzige konsistente Lösung des Problems schlägt er das Leibnizsche System der prästabilierten Harmonie vor, welches er allerdings nicht als bewiesen betrachtet. Für die scholastischen Philosophen besteht eine vergleichbare Schwierigkeit nicht. Da sie das Verhältnis von Körper und Seele als Verhältnis von Materie und Form interpretieren, ist ein Zusammenhang der beiden Substanzen bereits durch das in Anschlag gebrachte Denkmodell vorausgesetzt. Wolff unterscheidet sich in seinem praktischen Umgang mit den Folgelasten des cartesianischen Dualismus allerdings entschieden von Leibniz. Obwohl er die Möglichkeit eines wechselseitigen Einflusses von Körper und Seele aufeinander bestreitet, räumt er der Betrachtung der „Schnittstelle" zwischen den beiden Substanzen einen erheblichen Raum ein. So diskutiert er z.B. die fünf Sinne des Menschen ausführlich mit Rücksicht auf die körperlichen Voraussetzungen der Wahrnehmung. In diesem Sinne ist auch das Auftreten des Begriffes der species impressa bei Wolff zu verstehen. Trotz der Meinungsdifferenz bezüglich der Fra16 17

Wolff, Psychologia rationalis, (wie Anm. 9), § 112. Es gibt keine allen scholastischen Richtungen gemeinsame Theorie der Wahrnehmung. Zudem ist das scholastische Modell der Wahrnehmung sehr komplex. Wir orientieren uns hier an der thomistischen Auffassung. Vgl. dazu Jean Ecoles Anmerkung in: ebd., S. 748 (zu S. 496, Z. 8-13).

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ge, ob ein Influxus zwischen Körper und Seele möglich sei, kommt es zu einer praktischen Annäherung zwischen der Wolffschen und der scholastischen Seelenlehre. Denn - wie oben ausgeführt - haben die scholastischen Philosophen sich bis in das 17. Jahrhundert hinein an das von Aristoteles in De anima vorgegebene Themenspektrum gehalten. So kommt auch bei ihnen der Behandlung der Sinnesorgane und deren Funktion bei der Wahrnehmung eine große Bedeutung zu. Daß Wolffs Psychologie sich in weiten Teilen kaum von seiner Zurückweisung der Influxustheorie beeinflußt zeigt, führte dazu, daß die Wölfische Seelenlehre von den aus der scholastischen Tradition hervorgehenden katholischen Philosophen des 18. Jahrhunderts in weiten Teilen übernommen werden konnte. Man brauchte sich bloß in dem von Wolff angebotenen Lösungsvorschlag des LeibSeele-Problems, dem System der prästabilierten Harmonie, zugunsten einer erneuerten Influxustheorie zu distanzieren. 18 Diese Übernahme wurde dadurch begünstigt, daß Wolff einen großen Teil des Themenspektrums der scholastischen Seelenlehre übernahm. Bei der Definition seiner Begriffe hielt er sich an die Vorgaben scholastischer Lehrwerke. Deutlich wird dies durch ein Studium der im von Jean Ecole herausgegebenen Index zum metaphysischen Œuvre Wolffs angegebenen Stellen.19 So läßt sich auch mit bezug auf die Psychologie ein Diktum Wolffs bestätigen, wonach er bei der Ausarbeitung seines philosophischen Systems sowohl aus der neuzeitlichen als auch aus der traditionellen scholastischen Philosophie geschöpft hat: [Ob man mit Recht die Scholastische Philosophie gantz verwirfft.] Es ist schlimm, daß heute zu Tage Leute große Kirchen-Lehrer abgeben wollen, welche die Systemata ihrer Vorfahren noch nicht verstehen gelernet, j a nicht einmal den Vorsatz haben, sie verstehen zu lernen, unter dem nichtigen Vorwande, daß viele Scholastische Philosophie darinnen enthalte wäre, gleich als wenn es schlimm wäre, was man in der Scholastischen Philosophie gelehret, und diejenigen recht getan hatten, welche das Kind mit dem Bade ausgegossen. [Art des Autoris] Ich bin weder ein Verächter des Alten noch des Neuen; sondern ich prüfe alles, und das Gute behalte ich, es mag angetroffen werden, wo es will. 20

Eine entscheidende Frage bleibt mit diesem Ergebnis allerdings noch ungeklärt: Warum hat erst die Wolffsche, nicht jedoch bereits die Cartesianische Philosophie dem neuzeitlichen Dualismus in Italien zum Erfolg verhelfen können, da Wolff

18

19

20

Ein Beispiel für viele ist Fortunatus a Brixia, Philosophia mentis, 2 Bde. Brixiae 1741. Hingegen ist uns kein katholischer Aufklärer bekannt, der das System der prästabilierten Harmonie übernommen hat. Vgl. Ecole, Jean, Index auctorum et locorum Scripturae Sacrae ad quos Wolffius in opere metaphysico et logico remittit, in: ders., Gesammelte Werke, (wie Anm. 2), Abt. III, Bd. 10 (1985). Man beachte die für die Psychologie relevanten Einträge zu Aristoteles, den „Aristotelici", Rudolph Goclenius, Franciscus de Oviedo, Johannes Poncius, den „Scholastici" Francisco Suárez und Thomas von Aquin. Die meisten Begriffe übernimmt Wolff aus Goclenius, Rudolph, Lexicon philosophicum, quo tanquam clave philosophiae fores aperiuntur. Frankf u r t / M . ] 1613. Wolff, Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik, (wie Anm. 4), § 19 ad § 43.

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nach unseren bisherigen Ausführungen doch im wesentlichen dem Cartesianischen Modell folgt? Zur systematischen Beantwortung dieser Frage müssen wir auf Wolffs Begründung des cartesianischen Dualismus' rekurrieren, um sie mit Descartes' Argumentation zu vergleichen. Dabei geht unser Interesse nunmehr nicht nur darauf, zu sehen, daß Wolff den Materialismus widerlegt, sondern wie und an welcher systematischen Stelle er dies tut. Wir stützen unsere Überlegungen auf die folgende Synopsis des entsprechenden Beweises der Immaterialität der Seele in Descartes' Meditationes de prima philosophia,2i Descartes beginnt seine Meditationes bekanntlich mit einem schrittweise ausgeweiteten methodologischen Zweifel. Dieser bringt ihn schließlich dazu, alle bisher für wahr gehaltenen Meinungen so zu behandeln, als seien sie falsch. Denn es wäre möglich, daß ein böser Dämon ihn immer dann, wenn er etwas für wahr hält, täuschen könnte. Diesem allumfassenden Zweifel entrinnt Descartes in der zweiten Meditation mit dem berühmten Cogito-Argument: Wiesehr der Dämon ihn auch immer täuschen möge, so kann er ihn doch nicht darin täuschen, daß er als Denkender existiert. Denn „sich täuschen" ist selbst ein mentaler Akt, so daß die Vorstellung, man täusche sich gegenwärtig (im Vollzuge dieser Vorstellung) darüber, daß man als Denkender existiere, sich selbst widerspricht. Somit steht für den Verfasser der Meditationes bereits mit Abschluß der zweiten Meditation fest, daß er als Denkender existiert, wann immer er sich darauf besinnt. Während Descartes also darin, daß er denkt und als Denkender existiert, eine erste und unbezweifelbare Wahrheit gefunden hat, kann er jedoch weiterhin an der Existenz materieller Dinge zweifeln. Nachdem er sein Wahrheitskriterium der Klarheit und Deutlichkeit entwickelt hat, geht Descartes von diesem Befund aus aber einen entscheidenden Schritt weiter, indem er feststellt, daß er, insofern er klar und deutlich erkenne, daß er sich als denkendes Wesen ohne Rekurs auf die Materie verstehen könne, auch tatsächlich von seinem Körper real verschieden ist: [...] ac proinde, ex hoc ipso, quod sciam me existere quodque interim nihil plane aliud ad naturam sive essentiam meam pertinere animadvertam praeter hoc solum, quod sim res cogitans, recte concludo meam essentiam in hoc uno consistere, quod sim res cogitans. Et quamvis fonasse [··•] habeam corpus, quod mihi valde arete coniunctum, quia tarnen ex una parte claram et distinetam habeo ideam mei ipsius, quatenus sum tantum res cogitans, non extensa, et ex alia parte distinetam ideam corporis, quatenus est tantum res extensa, non cogitans, certum est me a corpore meo revera esse distinctum et absque ilio posse existere. 22

Descartes schließt, so läßt sich zusammenfassend festhalten, ohne eine eigene Untersuchung der Frage, wie Denken möglich ist, darauf, daß es von der Ausdehnung verschieden ist, und folglich die denkende von der ausgedehnten Substanz real verschieden sein muß. Ganz anders verfahrt hingegen Christian Wolff. 21

22

Descartes, René, Meditationes de prima philosophia, in quibus Dei existentia, & animae humanae à corpore distinetio, demonstrantur, in: ders., Œuvres, hg. v. Charles Adam u. Paul Tannery. 13 Bände, und ein Supplement. Paris 1897-1913, Bd. 7 (1904). Ebd., S. 78 (6. Meditation).

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Wir haben bereits erwähnt, daß Wolff seine Widerlegung des Materialismus auf die Ergebnisse seiner Psychologia empirica und seiner Cosmologia generalis stützt. Dies sieht näher betrachtet so aus, daß Wolff seinem Beweis eine Untersuchung der Frage, aus welchen einzelnen Akten sich der Denkprozeß zusammensetzt und wie die Ausübung dieser Akte selbst möglich ist, vorausschickt. In seiner Psychologia empirica analysiert er das Denken, indem er an ihm zwei elementare Prozesse unterscheidet: Den Akt der perceptio als das mentale Repräsentieren eines Gegenstandes und den Akt der apperceptio als ein Zu-Bewußtsein-bringen der perceptio.23 In der Psychologia rationalis versucht Wolff diesen zweistufigen Prozeß in seiner Genese zu verstehen, d.h. er versucht zu erklären, wie es möglich ist, daß Bewußtsein entsteht. 24 Erst auf der Grundlage dieser Untersuchungen tritt Christian Wolff seinen Beweisversuch dafür an, daß Körper nicht denken können. Anders also als Descartes schließt er nicht aus einer rein logischen Analyse des Gehaltes der Begriffe des Denkens und der Ausdehnung auf die substantielle Verschiedenheit von denkender und ausgedehnter Substanz. Vielmehr versucht er, die reale Verschiedenheit der Seele vom Körper zu demonstrieren, indem er an seine Analyse des Denkprozesses und seine Untersuchung dessen, was in der Körperwelt möglich ist, erinnert, um den Versuch einer rein materiellen Rekonstruktion des Denkens auf dieser Basis als unmöglich zurückweisen. 25 Der entscheidende Unterschied zwischen Descartes und Wolff besteht, wie in bezug auf den vorgestellten Beweis des Dualismus' deutlich wird, darin, daß Descartes auf eine Psychologie als Wissenschaft der immateriellen Seele verzichtet, während diese Wissenschaft bei Wolff nicht nur essentieller Bestandteil der Argumentation für den Dualismus, sondern seiner Philosophie überhaupt ist. Man kann Descartes mit einem gewissen Recht vorwerfen, seinen Substanzendualismus ganz gezielt und ohne wirkliches Interesse am Beweis der Immaterialität der Seele entwickelt zu haben, um eine nicht-aristotelische Naturwissenschaft zu begründen. Einem solchen Verdacht sieht sich Christian Wolff nicht ausgesetzt. In seiner Psychologie kommt - trotz des Vorherrschens einer neuzeitlichen Methodik und der Dominanz neuzeitlicher Grundtheoreme - dem Kanon der alten scholastischen Themen und Lehren wie Immaterialität und Unsterblichkeit der Seele ein großer Stellenwert zu. So ist es Christian Wolff gelungen, die traditionelle Seelenlehre auf eine neue Grundlage zu stellen. Genau in diesem Sinne verbindet seine Psychologie das Alte mit dem Neuen.

23 24 25

Vgl. Wolff, Psychologia Vgl. Wolff, Psychologia Vgl. ebd., § 44.

empirica, (wie Anm. 10), §§ 23-25. rationalis, (wie Anm. 9), §§ 10 u. 21f.

Personenregister

Achenwall, Gottfried 184 Alhazen [d.i. Ibn Al-Haitham, Abu Ali Hasan] 233f. Aristoteles 58, 128, 132ff., 136, 193, 197, 202, 207, 220, 223, 242, 246 Arnauld, Antoine 81 Avicenna 194f. Baumgarten, Alexander Gottlieb 191, 205f. Bacon, Roger 86,194 Bayle, Pierre 163, 195ff., 200 Bequignole, Oberst von 203 Bouguer, Pierre 234ff. Budde, Johann Franz 79 Buridan 161 ff.

184,

Cicero 169,222 Conring, Hermann 198 Crusius, Christian August 172f. Cusanus, Nicolaus 221, 223 Descartes, René 3ff., 10, 13f., 17, 19, 22f„ 26ff., 32, 34ff., 41, 4 4 f f , 60, 66, 81, 84, 89, 120f., 123f., 132, 136ff„ 192, 197, 210, 212, 218f„ 221,223, 225, 241 f., 247f. Fechner, Gustav Theodor 7, 227f., 236 Fichte, Johann Gottlieb 49, 97 Fortunatus a Brixia 246 Franciscus de Oviedo 246 Goclenius, Rudolph

7, 207ff., 246

Gottsched, Johann Christoph 239 Grotius, Hugo 145, 149, 152f., 178, 181 Hegel, Gottfried Wilhelm Friedrich 34, 167 Hobbes, Thomas 128, 140, 150, 157, 163,223 Huet, Pierre Daniel 79 Huyghens, Christiaan 38 Kant, Immanuel 6, 33, 49, 58ff„ 79, 130, 137, 139, 141f„ 151, 153ff„ 172, 174, 182ff„ 222, 229 Kepler, Johannes 234 Krüger, Johann Gottlob 219 Lange, Joachim 6, 143, 160, 163f., 230 Leibniz, Gottfried Wilhelm 2, 4ff., 8, 10, 22f., 31, 36, 38ff., 44ff., 50, 76ff„ 87ff., 92ff., 97, 99ff„ 105ff., 109ff., 113, 118, 120f., 124ff„ 132, 140, 144, 152, 160ff., 177, 191f., 195ff., 210, 213, 219, 222ff., 226, 229f., 232, 238, 245 Lipsius, Justus 128,197 Locke, John 5, 75ff., 87, 89ff., 132, 210, 220f., 223ff. Magirus, Johannes 214 Malebranche, Nicolas 14, 36f., 44, 75, 81, 84, 126 Manteuffel, Ernst Christoph Graf von 238

250 Melanchthon, Philipp 208f., 214, 216, 221 Newton, Isaac 243 Ortous de Mairan, Jean Jacques d' 234

Scaliger, Julius Caesar 209 Sextus Empiricus 216 Simioli, Andreas 239 Spinoza, Benedictus de 5, 83ff., 120, 122ff., 127f., 132, 136f., 140, 142, 212,219, 224 Suárez, Francisco de 242, 246

Pererius, Benedictus 217 Platon 4 2 , 1 8 0 , 2 0 7 , 2 2 0 , 2 2 3 Pomponazzi, Pietro 208,216 Poncius, Johannes 246 Pufendorf, Samuel 6, 143ff., 147f„ 15 Off, 157

Thomas von Aquin 34, 90, 246 Thomasius, Christian 6, 92, 144, 205 Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von 5, 77, 79, 82ff., 93, 97, 132, 229ff.

Ramus, Petrus 208,217 Risner, Frédéric 233f. Rorarius, Hieronymus 128, 196f. Rousseau, Jean-Jacques 185

Zabarella, Jacobus

Vitellion

233f. 209