Nietzsche, Foucault und die Medizin: Philosophische Impulse für die Medizinethik [1. Aufl.] 9783839428757

While Nietzsche's and Foucault's thinking belongs to the established canon of philosophical, sociological and

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Nietzsche, Foucault und die Medizin: Philosophische Impulse für die Medizinethik [1. Aufl.]
 9783839428757

Table of contents :
Inhalt
Was man aus Nietzsches und Foucaults. Werken in Bezug auf medizinethische Debatten lernen kann
MEDIZIN UND DIE PRODUKTION VON GESUNDHEIT / KRANKHEIT
Nietzsche und die „unzählige[n] Gesundheiten des Leibes“
Über Gesundheit und Krankheit im außermoralischen Sinn
In Verteidigung des Anormalen
Wie der Blick in Serie ging
MEDIZIN(-ETHIK) IM KONTEXT DER GESELLSCHAFT
Die Macht der Medizin
Die Sozialmedizin als kynisches Herz der Biopolitik und der Gouvernementalität
Über die Kunst, nein zu sagen
Biopolitische Betrachtungen zur Figur des Arztes in Nietzsches Philosophie
KONKRETE MEDIZINISCHE KONTEXTE
Einwilligungs(un)fähigkeit als ein juristisches und medizinisches Rechtfertigungskriterium psychiatrischer Praktiken
Zur diskursiv-moralischen Pathologisierung von Homosexualität
Nietzsche, Transhumanismus und drei Arten der (post)humanen Perfektion
Denken an Schnittstellen
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Autorinnen und Autoren

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Orsolya Friedrich, Diana Aurenque, Galia Assadi, Sebastian Schleidgen (Hg.) Nietzsche, Foucault und die Medizin

| Band 1

Orsolya Friedrich, Diana Aurenque, Galia Assadi, Sebastian Schleidgen (Hg.)

Nietzsche, Foucault und die Medizin Philosophische Impulse für die Medizinethik

Dem Mentoring-Programm der Ludwig-Maximilians-Universität und dabei besonders Frau Prof. Dr. Annette Keck danken wir (nicht nur) für die finanzielle Unterstützung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2875-3 PDF-ISBN 978-3-8394-2875-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Was man aus Nietzsches und Foucaults Werken in Bezug auf medizinethische Debatten lernen kann

Orsolya Friedrich, Galia Assadi, Diana Aurenque | 7

MEDIZIN UND DIE PRODUKTION VON G ESUNDHEIT / KRANKHEIT Nietzsche und die „unzählige[n] Gesundheiten des Leibes“

Diana Aurenque | 23 Über Gesundheit und Krankheit im außermoralischen Sinn

Werner Stegmaier | 39 In Verteidigung des Anormalen

Galia Assadi | 63 Wie der Blick in Serie ging

Tanja Prokić | 85

MEDIZIN(-ETHIK ) IM KONTEXT DER GESELLSCHAFT Die Macht der Medizin

Mike Laufenberg | 109 Die Sozialmedizin als kynisches Herz der Biopolitik und der Gouvernementalität

Hans-Martin Schönherr-Mann | 131 Über die Kunst, nein zu sagen

Hanna Meißner | 161 Biopolitische Betrachtungen zur Figur des Arztes in Nietzsches Philosophie

Vanessa Lemm | 183

KONKRETE MEDIZINISCHE KONTEXTE Einwilligungs(un)fähigkeit als ein juristisches und medizinisches Rechtfertigungskriterium psychiatrischer Praktiken

Orsolya Friedrich | 205 Zur diskursiv-moralischen Pathologisierung von Homosexualität

Nicole Lühring | 223 Nietzsche, Transhumanismus und drei Arten der (post)humanen Perfektion

Stefan L. Sorgner | 245 Denken an Schnittstellen

Anna L. Roethe | 269

S ERVICETEIL Autorinnen und Autoren | 295

Was man aus Nietzsches und Foucaults Werken in Bezug auf medizinethische Debatten lernen kann1 O RSOLYA F RIEDRICH , G ALIA A SSADI , D IANA A URENQUE

Betrachtet man die historische Entwicklung der Medizin in den letzten beiden Jahrhunderten, stellt man fest, dass sich die Handlungsfelder, Behandlungsmethoden und Eingriffsmöglichkeiten der Medizin kontinuierlich erweitert haben. Es werden mehr und vor allem wirksamere Medikamente entwickelt, die Behandlungsmöglichkeiten bei schwersten und akuten Erkrankungen nehmen drastisch zu, Organtransplantationen sind keine Seltenheit mehr, die Fortpflanzungsmedizin und die genetische Diagnostik boomen, bildgebende Verfahren sowie die Neurowissenschaften gewinnen vermehrt an Bedeutung etc. Darüber hinaus sind bezogen auf das letzte Jahrhundert auch im Bereich der wissenschaftlichen Hygiene sowie der Bakteriologie rasante Entwicklungen zu verzeichnen.2 Versucht man, die Ursachen dieser weitreichenden Veränderungsprozesse zu verstehen, lohnt es sich, nach deren Anfängen zu fragen. Hierbei zeigt sich, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts, also zu Lebzeiten Friedrich Nietzsches (1844-1900), bedingt durch Technisierungs- und Verwissenschaftlichungstendenzen sowohl die medizinische Praxis als auch das disziplinäre Selbstverständnis einen Wandel erfahren haben.

1

Bei der Verwendung der männlichen Form im Text sind stets alle Geschlechter gemeint. Die Herausgeber danken Frau Dorothee Wagner von Hoff für Übersetzungshilfen in einzelnen Texten und Herrn Johannes Pömsl für viele umsichtige Korrekturhinweise im Manuskript.

2

Vgl. M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft.

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Im Zuge der Entstehung moderner naturwissenschaftlicher Disziplinen – paradigmatisch der Chemie, der Biologie und der Physik – hat sich auch das Selbstbild der Medizin als Disziplin verändert, die fortan als ein naturwissenschaftlich orientiertes Fach galt. Sie erweiterte und modifizierte ihren Wissenskorpus und entwickelte im Lauf des 19. Jahrhundert ein neues Verständnis von Physiologie: „Erst im 19. Jahrhundert löst sich die Physiologie weitgehend von der Anatomie und wird in den Händen vieler Physiologen […] eine Physik und Chemie der Körperfunktionen.“3 Damit verbunden ist eine Reorganisation der medizinischen Perspektive, die sich sowohl auf die Diagnostik als auch auf die klinische Praxis und die Pathologie auswirkt und deren Erkenntnisraster nachhaltig transformiert. So stützt sich die Medizin, verstanden als Physiologie, auf ein materialistisches und funktionalistisches Konzept von Körperlichkeit, das sie mittels empirischer Untersuchungen konkretisiert. Dieser Zugriff gestattet eine neue Form der Objektivierung von Krankheiten, da diese nun als Komplex von körperlich lokalisierbaren und beobachtbaren Prozessen aufgefasst werden, deren Funktionalität wissenschaftlich überprüft werden kann.4 Im Gegensatz zur humoralpathologischen Lehre geht es in einer primär physiologisch und empirisch orientierten Medizin nicht mehr darum, Krankheiten im Rahmen eines holistischen Menschenbilds zu diagnostizieren und zu behandeln, sondern vielmehr um deren physisch und chemisch determinierbare Einzelaspekte. Der im Bereich der modernen Medizin zu beobachtende Fortschritt stellt also eine Fortführung dieser bereits im 19. Jahrhundert auftretenden Tendenzen dar, die durch die zahlreichen Innovationen im Bereich der (Medizin-)Technik eine neue Qualität annehmen.5 Diese Veränderungsprozesse werfen neben wissenschaftsgeschichtlichen Fragen vor allem vielfältige und neuartige politische, soziale und normative Fragen auf, um deren Beantwortung sich die junge Disziplin der Medizinethik bemüht. Deren Entstehung kann einerseits als Reaktion auf die immense Erweiterung der medizinischen Möglichkeiten und andererseits als Antwort auf den Verlust einheitlicher, weitgehend akzeptierter Wertvorstellungen interpretiert werden, an denen sich das gesellschaftliche Handeln orientierte. An die Stelle des moralischen Konformismus tritt in der Folge ein Pluralismus im Bereich der Werthaltungen und normativen Vorstellungen, um deren Reflexion und Vermittlung die Medizinethik ringt. Ihr Gegenstandsbereich ist so vielfältig wie die aktuellen medizinischen Handlungsfelder und Herausforderungen

3

K.E. Rothschuh: Geschichte der Physiologie, S. 2.

4

Vgl. M. Foucault: Die Geburt der Klinik.

5

Aspekte dieser Entwicklung wurden bereits aufgegriffen in D. Aurenque/O. Friedrich: Fragen einer technisierten Medizin.

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und umfasst eine Reihe weitreichender ethischer Fragestellungen, wie z.B.: Wie können und wollen wir den Anfang und das Ende des Lebens gesellschaftlich bestimmen? Unter welchen Voraussetzungen etwa soll das Sterben trotz bestehender Behandlungsmöglichkeiten der Medizin möglich sein? Dürfen wir an Stammzellen forschen? Wie stark dürfen wir uns als Menschen in unseren Anlagen verbessern wollen? Bringen Bilder über die Funktionsweise unseres des Gehirns unser Menschenbild und unsere moralischen Grundüberzeugungen ins Wanken? Wie sollen wir als Gesellschaft derartigen Entwicklungen in der Medizin gegenüberstehen? Welche Institutionen sollen wir mit der Klärung dieser Fragen beauftragen? Und was verstehen wir unter einem guten und gelungenen Leben?

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Zweifelsohne beinhalten die Werke Friedrich Nietzsches (1844-1900) und Michel Foucaults (1926-1984) spannende Denkmodelle und Methoden, anhand derer unkonventionelle Perspektiven eingenommen und neuartige Erkenntnisse hinsichtlich der aktuellen Herausforderungen der modernen Medizin(-Ethik) gewonnen werden können. Im Hinblick auf beide Denker lässt sich eine Vielzahl von konkreten Bezügen zu heutigen medizinischen Konzepten und Phänomenen herstellen, insbesondere zu den Neurowissenschaften und der Psychiatrie, aber auch zu neuen medizinischen Entwicklungen, die den Lebensanfang und das Lebensende betreffen. Ein besonderer Gewinn sowohl für den philosophischen als auch für den medizinethischen Diskurs resultiert aus der Beschäftigung mit den Werken der beiden Denker insofern, als diese eine kritische Auseinandersetzung mit der Produktion von Wissen, Objektivität und Wissenschaftlichkeit innerhalb der Medizin als eine grundlegend philosophische Frage erachten. Im Fall Nietzsches ergibt sich aus dem Verhältnis von Moralität und Krankheit eine zwar kritische, zugleich jedoch konstruktive Reflexion der Medizin, die traditionelle Konzeptionen von Medizin (und somit auch von Medizinethik) infrage stellt und erweitert. Damit eng verbunden sind Foucaults Thesen über die Beziehungen von Macht, Wissen, Subjektivität und Medizin, die sowohl hinsichtlich (kritischer) Überlegungen zur gesellschaftlichen Funktion der Medizin als auch bezüglich medizinethischer Fragestellungen anschlussfähig sind. Den Schriften der beiden Philosophen wird in den letzten Jahrzehnten von akademischer Seite vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Während Nietzsches Überlegungen nach einer vielfältigen Rezeptionsgeschichte gegenwärtig als fester Bestandteil philosophischer

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Auseinandersetzungen gelten, erfolgt die Rezeption Foucaults aktuell primär außerhalb der Philosophie, beispielsweise im Bereich der Soziologie bzw. der Kulturwissenschaften. In der Medizinethik befindet sich die Rezeption der beiden Autoren noch in den Anfängen. Um die philosophische und medizinethische Tragweite ihrer Ansätze weiterführend zu belegen und eine gezielte Rezeption zu intensivieren, stellen wir im Rahmen dieses Sammelbands die Bezüge dieser Denker zur Medizin dar und fassen einige Aspekte in der Einleitung zusammen. Nietzsche und die Medizin Zwischen Nietzsches Philosophie und den Fragen der Medizin findet ein außerordentlich fruchtbarer Austausch statt. Einerseits ergeben sich aus Nietzsches Schriften Fragen, die aktuell im Bereich der Medizinethik intensiv diskutiert werden, z.B. nach der „großen Gesundheit“, der konzeptionellen Verbindung von Gesundheit und Krankheit sowie einer angemessenen Diätetik. Darüber hinaus lassen sich aus seinen Schriften auch im Hinblick auf die Themenkomplexe Enhancement und Transhumanismus bzw. auf Überlegungen bezüglich der Produktivität von Leiden und Schmerz Erkenntnisse ziehen. Andererseits gilt es im Rahmen der Nietzsche-Forschung inzwischen als unumstritten, dass eine Reihe von Konzepten, Theorien und Rahmenbedingungen seiner Philosophie aus seiner aufmerksamen Rezeption der Wissenschaften seiner Zeit, insbesondere auch der Medizin resultieren. Das Repertoire an Nietzsches medizinischer Lektüre ist alles andere als homogen: Es reicht von fachlichen, naturwissenschaftlichen Werken bis hin zu populärwissenschaftlichen Texten und medizinischen Ratgebern. Seine intensive Lektüre medizinischer und naturwissenschaftlicher Texte war zweifellos dem Versuch geschuldet, Antworten auf spezielle philosophisch-epistemologische Fragestellungen zu entwickeln, die sich im Lauf seines denkerischen Lebens mehrfach verschoben und die bestimmten Phasen zugeordnet werden können. So beschäftigte er sich u.a. mit dem Problem der Wissenschaft und der Möglichkeit der Objektivität von normativen und deskriptiven Erkenntnissen ebenso wie mit dem Verhältnis neuer anthropologischer Erkenntnisse der Evolutionstheorie und der Sonderstellung des Menschen oder den materialistischen Tendenzen in der Philosophie, die dem Vitalismus Schopenhauers gegenübergestellt werden. Zu den Gründen für Nietzsches Zuwendung zur Medizin gehört jedoch auch seine

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eigene Leidensgeschichte. Nietzsches Pathografie ist zweifellos eine bedeutsame Voraussetzung für sein Interesse an der Medizin.6 Mit einer Naturalisierung bzw. Physiologisierung der Moral versucht Nietzsche zudem aufzuzeigen, dass moralische Phänomene stets auch eine außermoralische Dimension besitzen. Seine Moralkritik zielt daher vor allem darauf ab, die Moral als Problem sichtbar zu machen. Zu diesem Zweck bedient er sich der medizinischen Metaphorik.7 Nietzsches Denken wird spätestens ab 1870 deutlich von der vermehrt physiologischen, naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Medizin beeinflusst. Seine Auseinandersetzung mit der Medizin seiner Zeit muss deshalb auch vor dem Hintergrund der damals stattfindenden Revolution im Bereich des medizinischen Wissens interpretiert werden. Aus seinem Dialog mit den Naturwissenschaften und der Medizin resultieren mehrere Elemente seines Denkens – ein Aspekt der Entstehungsgeschichte seiner Werke, der im Rahmen der Nietzsche-Forschung bereits thematisiert wurde. So stehen beispielsweise seine kritische Anthropologie und seine Lehre vom Übermenschen in einem – wenn auch kritischen – Bezug zu Darwins Evolutionstheorie. Auch in seine Auffassung vom Willen zur Macht fließen Elemente ein, die er im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Roux’ Organismuskonzeption entwickelte; seine Konzeption und Kritik der „Decadence“ wurde nachgewiesenermaßen ebenfalls von der Physiologie beeinflusst.8 Wie kaum ein anderer Philosoph vor ihm beschäftigte sich Nietzsche intensiv mit der Naturwissenschaft und infolgedessen auch mit der physiologischen Medizin des 19. Jahrhunderts und integrierte seine dabei gewonnenen Erkentnisse positiv in sein philosophisches Denken. Er eignete sich medizinische Termini an und verwandelte sie in philosophische Konzepte. Deshalb bezeichnete er sich selbst auch als „Arzt“ sowie sein Philosophieren als eine „medicinische Wissenschaft“. Welchem Konzept diese medizinische Philosophie genau folgt, ist nicht immer klar ersichtlich, weswegen sich zahlreiche Kommentatoren um (teils wi-

6

So deutet beispielsweise Pia Daniela Volz Nietzsches Lehre der große[n] Gesundheit als eine Manifestation von Nietzsches „kompensatorische[n] Gegenentwürfe[n]“ aufgrund seines labilen Gesundheitszustands. P.D. Volz: Nietzsches Krankheit, S. 53. Vgl. auch P.D. Volz: Nietzsche im Labyrinth. 1950 weist Karl Jaspers wiederum darauf hin, dass Nietzsche die physischen Erkrankungen in seinem Leben existenziell interpretiert. Vgl. K. Jaspers: Nietzsche, S. 110.

7

Vgl. D. Aurenque: Nietzsches medizinische Deutung der Moral. Vgl. M. Pasley: Nietzsche’s Use of Medical Terms.

8

Vgl. W. Müller-Lauter: Nietzsches Lehre sowie Ders.: Der Organismus.

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derstreitende) Deutungsversuche bemühen. Diese Kategorisierungs- und Kommentierungsversuche umfassen sowohl die These von der Anwendung „medizinische[r] Metaphorik“9 als auch die Einschätzung, dass es sich im Fall Nietzsches um eine „medizinische Philosophie“10 bzw. eine „philosophy of medicine“11 handle; diese enorme Bandbreite an Rezeptionsoptionen spiegelt sich auch im Rahmen der Beiträge wider, die der vorliegende Sammelband umfasst. Nietzsches Philosophie ist daher ein ausgezeichnetes Beispiel für ein zweifaches Phänomen: einerseits dafür, dass Philosophie und Medizin eng miteinander kooperieren können und sich ihre Formen des Denkens gegenseitig befruchten können,12 was sich u.a. daran zeigt, dass sowohl die Medizinethik als auch die Medizintheorie fortwährend Elemente seiner Philosophie rezipieren.13 Andererseits erinnert eine Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie und deren Entstehungsgeschichte aber auch daran, dass philosophisches Denken und historischer Kontext nicht getrennt voneinander gedacht werden sollten. Foucault und die Medizin Foucaults Beträge zur soziologisch-philosophischen Debatte sind zahlreich. Seine von der Mikrophysik der Machttechniken bis zu den Möglichkeitsbedingungen der Wissensgewinnung reichenden Analysen bieten eine kritische Herangehensweise an, um die gegenwärtigen Diskurse zu Gesundheit und Krankheit sowie Programme zur Gesundheitsförderung im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Bedeutung und Funktion zu untersuchen und zu bewerten. Insbesondere für die neueren Entwicklungen im Bereich der Neurowissenschaften und der Psychiatrie stellen Foucaults Schriften eine reichhaltige Palette von Analyse- und Interpretationsmöglichkeiten bereit. Besonders hervorzuheben sind hierbei seine Analysen des Verhältnisses von Wissen, Macht und Wahrheit und seine Beiträge zum Verständnis von Subjektivierungsprozessen im Rahmen bestimmter Machttechnologien.14 Beide sind besonders hilfreich, wenn man spezifische medizinische Praktiken sowie Entwicklungsprozesse untersuchen und verstehen möchte. Einen Anschluss an Foucaults Werke herzustellen fällt dabei insofern leicht, als er seine grundsätzlichen Analysen zum Verhältnis von Wissen, Macht und Wahrheit

9

M. Brusotti: Wille zur Macht.

10 L. Cherlonneix: Philosophie médicale de Nietzsche. 11 T.A. Long: Nietzsche’s Philosophy of Medicine. 12 Vgl. D. Aurenque/O. Friedrich: Fragen einer technisierten Medizin. 13 Vgl. M. Bormuth: Nietzsche im Lichte der psychiatrischen Pathographie. 14 Vgl. B.S. Turner: From Governmentality to Risk.

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häufig anhand einer historischen Darstellung medizinischer Themen vornimmt oder mit deren Hilfe illustriert, beispielsweise in den Werken Wahnsinn und Gesellschaft, Die Anormalen, Die Geburt der Klinik, Der Wille zum Wissen und Die Sorge um sich. Besonders deutlich treten die Bezüge zur Medizin bei den Formen der Disziplinar- und Biomacht zum Vorschein. Während sich die Disziplinarmacht noch auf einzelne Körper und das Wissen über diese bezieht, zielt die Biomacht auf statistische Phänomene des physischen Lebens ab, die sich auf die gesamte Bevölkerung beziehen und hierbei insbesondere auf Themengebiete abstellen, deren detaillierte Kenntnis für die Realisierung moderner staatlicher Steuerungsinteressen essenziell ist; dazu zählen z.B. Erkenntnisse bezüglich der verfügbaren Arbeitskraft, der Fruchtbarkeit und der hygienischen Situation in einer bestimmten Bevölkerung bzw. einer spezifischen Schicht.15 In diesem Zusammenhang sind Normalisierungsprozesse von großer Bedeutung, da sie sich nicht an eindeutigen Ver- und Geboten orientieren, sondern gestatten, dass flexible Randbedingungen zum Gegenstand der Machttechnologie avancieren. Machtprozesse manifestieren sich dabei nicht mehr nur in Form der Disziplinierung einzelner Körper, sondern zusätzlich in Gestalt einer Regulation der Bevölkerung.16 Foucaults Analysen zeigen theoretische und soziale Bedingungen auf, die eine gesellschaftliche Rahmenordnung bilden, die Handlungen von Einzelnen (auch im medizinischen Bereich) erst ermöglichen und in spezifischer Weise formen. Zwar ist die individuelle Handlung im Rahmen dieser Auffassung auch als Antwort auf diese Ordnungen zu verstehen und damit, sofern man den FoucaultKritikern folgen möchte, kaum jenseits der von ihm dargestellten Machttechnologien und Wissen-Macht-Formationen denkbar. Foucaults Analysen erweitern jedoch die Perspektiven und Notwendigkeiten der (Medizin-)Ethik. Diese kann sich nicht darauf beschränken, individuelle Handlungen zu bewerten, sondern muss diese immer auch als Produkt der gesellschaftlichen Bedingungen betrachten. Die von Foucaults Werk ausgehende Frage nach disziplinierenden und regulierenden Prozessen innerhalb der Medizin, die sich zum einen durch Normalisierungszwänge und deren Effekte auf Einzelne, zum anderen aber auch auf gesellschaftliche Phänomene beziehen (und deren spezifische Form erst ermöglichen), macht bioethische Diskurse erforderlich, welche die gesellschaftliche Perspektive integrieren und sich nicht darauf beschränken, die Handlungen des ein-

15 Vgl. P. Gehring: Was ist Biomacht?, S. 11 sowie M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 287. 16 Vgl. P. Gehring: Was ist Biomacht?, S. 13 sowie M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 282-311.

14 | O RSOLYA F RIEDRICH, G ALIA ASSADI, D IANA AURENQUE

zelnen Akteurs in den Blick zu nehmen. Foucaults Analysen lassen sich hierbei für vielfältige medizinische Kontexte fruchtbar machen, etwa im Kontext mit diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen am Lebensanfang und am Lebensende, Praktiken im Bereich der Psychiatrie oder Formen des Umgangs mit Sexualität und Fortpflanzung.

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Der erste Teil des Bandes (I) umfasst Aufsätze, die sich mit der Produktion und Konzeption von Gesundheit und Krankheit beschäftigen und methodische Aspekte in Nietzsches und Foucaults Herangehensweise reflektieren. Im zweiten Teil (II) sind jene Aufsätze enthalten, die sich verstärkt dem Zusammenhang zwischen Entwicklungen und Phänomenen im Bereich der Medizin sowie gesellschaftlichen Machtverhältnissen und -techniken widmen. Im dritten Teil des Bandes (III) sind Aufsätze zu finden, die ausgehend von Nietzsches und/oder Foucaults Theorien Bezüge zu konkreten medizinischen Phänomenen herstellen. Der Inhalt der einzelnen Beiträge wird im Folgenden gemäß ihrer Reihenfolge im Band wiedergegeben.17 I. Medizin und die Produktion von Gesundheit/Krankheit In ihrem Beitrag Nietzsches Konzept der „unzählige[n] Gesundheiten des Leibes“: Perspektive und Probleme versucht Diana Aurenque den Pluralismus von Nietzsches Gesundheitslehre im Hinblick auf die wichtigsten Gesundheitstheorien der Gegenwart (Normativisten und Naturalisten) darzustellen, um dadurch eine neue Differenzierung eines Gesundheitspluralismus sowie mögliche Vorund Nachteile von Nietzsches Ansatz für aktuelle Fragestellungen und Themenfelder medizinischer bzw. medizinethischer Debatten anzubieten. Werner Stegmaiers Beitrag mit dem Titel Über Gesundheit und Krankheit im außermoralischen Sinn. Nietzsches und Foucaults philosophische Unterscheidungstechnik will sowohl auf die epistemologischen als auch auf die axiologischen Ebenen der medizinischen Begrifflichkeiten Krankheit und Gesundheit am Beispiel von Nietzsches und Foucaults Philosophien hinweisen, um deren philosophische Bedeutsamkeit und Methodologie hervorzuheben. 17 Die Zusammenfassungen der einzelnen Texte beruhen zum Teil auf den Entwürfen der jeweiligen Autoren, wofür sich die Herausgeber an dieser Stelle herzlich bedanken möchten. Ferner danken wir Johannes Pömsl für seine Unterstützung bei einigen Textpassagen.

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Der Aufsatz von Tanja Prokić Wie der Blick in Serie ging. Foucault und „Die Geburt der Klinik“ arbeitet ausgehend von der These Philipp Sarasins, Die Geburt der Klinik (1963) sei auch die Geburt der Diskursanalyse schlechthin, heraus, warum diese Einschätzung vor dem Hintergrund von Foucaults KantLektüre und seiner Auseinandersetzung mit seiner eigenen historischen Gegenwart der ausgehenden 50er Jahre an Profil gewinnt. Im Kontext dieser historischen Formation gelingt es nämlich, das innerhalb der Foucault-Rezeption viel diskutierte Verhältnis von Sichtbarkeit und Sagbarkeit, etwa bei Gilles Deleuze, neu zu beleuchten. Denn dass der Blick in Serie gehen konnte, scheint gleichermaßen Bedingung und Effekt der „Klinik“ zu sein. Die zentralen Thesen einer Verräumlichung und Versprachlichung verhelfen Foucault zu einer Reformulierung der klassischen Ideengeschichte respektive der Methodologie der Diskursanalyse. Dass sich Foucault überhaupt auf die Rolle des ärztlichen Blicks im Nexus von Tod-Raum-Sprache fokussieren kann, ist das Ergebnis einer weitreichenden medialen Umstrukturierung, die Walter Benjamin ausgehend von einem veränderten Wahrnehmungsdispositiv durch die Revolution der Kinematografie zur These vom „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ zuspitzt. Eine Wende, die gegen Ende der 50er Jahre das nicht hintergehbare Dispositiv zahlreicher Autoren darstellt und deren Arbeit quasi blind affiziert. In einer heuristischen Annäherung legt der Beitrag dieses zeitgenössische Apriori Foucaults offen. In seinem Beitrag Die Sozialmedizin als kynisches Herz der Biopolitik und der Gouvernementalität widerspricht Hans-Martin Schönherr-Mann der im Bereich der Foucault-Rezeption weitverbreiteten These, dass die Probleme der Medizin in Foucaults Werk primär als Anschub der Frage nach Wissensstrukturen und deren historischem Wandel und die späteren Texte zur Medizin nur noch als Nachhall seiner Anfänge zu verstehen seien. Stattdessen zeigt er mittels einer detaillierten Rekonstruktion, dass die Frage, wie Macht in ihrem Verhältnis zu Wissen zu denken und zu verstehen ist, bereits die Archäologie des Wissens durchzieht und von Foucault im Lauf seines Schaffens aus differenten Perspektiven beleuchtet wird. Schönherr-Mann folgt dabei der Argumentation, dass Macht und Wissen aus ihrem Zusammenspiel heraus ein neues, modernes Bild vom Menschen als lebendiges Wesen entwerfen, wobei insbesondere die neuzeitlichen Wissenschaften – und zwar primär in den Bereichen der Medizin im weiteren Sinn – das Verständnis vom Menschen nachhaltig verändern. Die Medizin stellt in Foucaults Werk demnach kein Randthema dar, sondern avanciert zum Herz der Biopolitik und wird sogar noch in der Lebenskunst wiederkehren. Im Rahmen ihres Beitrags In Verteidigung des Anormalen. Moderne Formen des Denkens über psychische Abweichungen und Wege zu dessen Überschrei-

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tung rekonstruiert Galia Assadi im Rückgriff auf die Ordnung der Dinge skizzenhaft die Architektur des modernen psychiatrischen Denkens. Da diese bis dato in der Foucault-Rezeption eine untergeordnete Rolle spielt, trägt Assadi zur Entdeckung des Potenzials dieser Schrift bei, indem sie ausgehend von Foucaults These bezüglich der paradoxalen Architektur der modernen Episteme das moderne psychiatrische Denken als eine Form der Antwort auf die Paradoxie des unterworfenen Souveräns rekonstruiert. Hierbei zeigt sie, dass sich die Differenzen zwischen den dominierenden naturalistischen bzw. normativistischen Krankheitsmodellen als Resultat der Anwendung differenter Strategien zur Auflösung der Paradoxie rekonstruieren lassen. Darüber hinaus plädiert sie für eine Erweiterung der kritischen Analyseperspektive um die Dimension der epistemischen Möglichkeitsbedingungen und offenbart, dass der Anschluss der Foucaultʼschen Analysen an bestehende ordnungsethische Theorien neue Formen ethischen Fragens und ethischer Kritik ermöglichen kann. II. Medizin(-Ethik) im Kontext der Gesellschaft Mike Laufenberg rekonstruiert in seinem Beitrag Die Macht der Medizin. Foucault und die soziologische Medikalisierungskritik Foucaults Genealogie der Medizin als gesellschaftstheoretisch fundierten Beitrag zur Medizintheorie, der bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Foucault zufolge seien Geburt und Aufschwung der modernen Medizin daran geknüpft gewesen, dass sich diese seit dem 18. Jahrhundert von einer individuellen Praxis zwischen Arzt und Leidenden in eine soziale Praxis verwandelt habe. Laufenberg arbeitet die dahinter liegende Ironie heraus, dass die moderne Medizin ihren Erfolg ausgerechnet dem Umstand verdankt, dass sie von den konkreten Körpersymptomen und Kranken zu abstrahieren beginnt, damit ihren eigentlichen medizinischen Radius verlässt und in Form von Hygiene, Ernährungslehre oder Sozialmedizin dazu übergeht, auf sämtliche Lebensverhältnisse einzuwirken. Die Medizin, so fasst Laufenberg Foucaults These zusammen, folge seit dieser Zeit einem Entwicklungsmodell, das sie als Durchgangspunkt biopolitischer Machtstrategien funktionieren lasse, welche auf eine Lenkung und Optimierung des Lebens von Individuum und Bevölkerung abzielten. Ausgehend von dieser Diagnose problematisiert Laufenberg verkürzte Formen der Medizinkritik, die, wie im Fall der soziologischen Kritik an einer Medikalisierung der Gesellschaft bzw. Entgrenzung der Medizin, lediglich die Irrtümer und Schattenseiten eines medizinischen Systems herausstellen würden, ohne dabei zu den Wurzeln des medizinischen Entwicklungsmodells und seiner genuinen Verschränkung mit politischen und ökonomischen Rationalitäten in der bürgerlichen Gesellschaft vorzudringen.

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Hanna Meißner geht in ihrem Beitrag Über die Kunst, Nein zu sagen. Plädoyer für eine gesellschaftskritische Verortung ethischer Fragen der Frage nach, wie sich mit Foucault Entscheidungssituationen in den konstitutiven Bedingungen einer historischen Macht-Wissen-Ordnung verorten lassen. Auf diese Weise gerät in den Fokus, wie das Subjekt von Erkenntnis und Entscheidung konstituiert wird, worüber es verfügen kann und was es als unverfügbare Bedingungen seiner Reflexion hinnimmt. Ethische Reflexion bleibt so nicht allein auf Entscheidungen über den Umgang mit einer gegebenen Situation beschränkt, sondern kann die Form einer Kritik der Entscheidungssituation annehmen. Im Mittelpunkt steht die (zeitdiagnostische) These, dass Entscheidungssituationen in aktuellen ethischen Deliberationen häufig in spezifischer Weise dekontextualisiert werden – beispielsweise, wenn technologische Entwicklungen oder ökonomische Bedingungen als äußere Ursache oder Anlass ethischer Probleme erscheinen, deren Auswirkungen, nicht jedoch deren Bedingungen und Logiken zum Gegenstand ethischer Deliberationen werden. Foucaults analytischer Blick auf die historische Konstitution von Entscheidungssituationen durch soziale Machtverhältnisse, ökonomische Interessen und politische Regulierungen eröffnet die Möglichkeit der kritischen Frage, ob diese Konfiguration in dieser Weise ethisch wünschenswert ist, ohne ein entsprechendes Urteil in grundlegenden, universellen Gewissheiten begründen zu müssen. Vanessa Lemm gibt an, in ihrem Text mit dem Titel Biopolitische Betrachtungen zur Figur des Arztes in Nietzsches Philosophie lediglich eine Ergänzung zur bereits existierenden Literatur über Nietzsche und die Biopolitik zu leisten. Im Folgenden entwickelt sie jedoch eine tief reichende Analyse der Figur des Arztes bei Nietzsche, indem sie immer wieder bereits hier erkennbare Spuren von Foucaults späterem Konzept der Biopolitik verfolgt. Weiterhin wird mit Espositos Konzept der „Hyperimmunität“ auch ein Blick auf die Schattenseiten von Nietzsches Denken ermöglicht, welches in Teilen der Idee einer totalitären Biopolitik entspricht. In anderen Momenten jedoch, insbesondere, wenn Nietzsche auf seine Vorstellung der „großen Gesundheit“ eingeht, identifiziert Lemm Formen einer affirmativen Biopolitik, die keineswegs einen dominierenden Ausschluss Schwächerer impliziert, sondern vielmehr alle Lebensformen unterschiedslos bejaht. III. Konkrete medizinische Kontexte Orsolya Friedrich geht in ihrem Beitrag Einwilligungs(un)fähigkeit als ein juristisches und medizinisches Rechtfertigungskriterium psychiatrischer Praktiken der Frage nach, inwieweit Einwilligungs(un)fähigkeit, als juristisch eingeforder-

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te und medizinisch festgestellte Normalitätsgrenze, als ein Angriffspunkt von Machttechnologien im Anschluss an Foucaults Werke interpretiert werden kann. Neben einer potenziellen Gefährlichkeit und der Ausweitung der psychiatrischen Diagnose auf vielfältige Verhaltensweisen könnte auch die Einwilligungsunfähigkeit dazu dienen, bestimmte Machttechnologien auf einzelne Körper sowie auf die gesamte Bevölkerung zu richten und damit durch die Produktion von Gesundheit den Schutz der Gesellschaft gegen Bedrohungen zu gewährleisten. Nicole Lühring widmet sich in ihrem Beitrag Zur diskursiv moralischen Pathologisierung von Homosexualität der Frage, inwiefern geschichtliche Transformationsprozesse dazu führten, dass Homosexualität in Teilen der westlichen Gesellschaften auch heute noch als pathologisches Phänomen verstanden wird. Hierfür wirft sie einen poststrukturalistischen Blick auf Sexualität(en) und zeigt die enge Relation zwischen dieser und der Geschlechtlichkeit auf. Des Weiteren beleuchtet sie die spezifische Rolle, die dem Subjekt innerhalb des Sexualitätsdiskurses zugeschrieben wird, und reflektiert die Funktion, die die Wissenschaft in diesem Zusammenhang einnimmt. Im Anschluss daran wird der spezifische Diskurs über Homosexualität zu Beginn der Industrialisierung sowie nach den Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts rekonstruiert, um deutlich zu machen, inwiefern gesellschaftliche Transformationsprozesse das Verständnis von Homosexualität präg(t)en. Auf der Grundlage der daraus resultierenden Erkenntnisse kann die Repressionshypothese, die besagt, dass die Sexualität der Subjekte durch Machttechniken im Lauf der Zeit immer weiter unterdrückt wird, im Anschluss an Foucault erneut verneint werden. Stefan Lorenz Sorgner skizziert in seinem Beitrag Nietzsche, Transhumanismus und drei Arten der (post-)humanen Perfektion verschiedene Positionen der transhumanistischen Denktradition und ihrer Vorstellungen von menschlicher Perfektionierung und einem guten Leben. Er unterzieht sowohl Nick Bostroms Konzeption eines Renaissanceideals als auch Julian Savulescus Common-SenseKonzept des Guten einer eingehenden Kritik, um schließlich für ein „radikal pluralistisches Verständnis des Guten“ zu plädieren, das u.a. für die Bewertung von Gesundheit und Krankheit weitreichende Auswirkungen hat. Entscheidend für diese Position sind auch Nietzsches Überlegungen zu den „Herrentugenden“, die bei Sorgner eine Erweiterung erfahren und eine „für alle Menschen [...] plausible Beschreibung des Guten“ darstellen können. Abschließend verweist Sorgner auf die gesellschaftspolitischen Implikationen seiner Überlegungen: Durch die Einsicht in die radikale Pluralität des Guten könne „die Gewalt gegen Individuen reduziert und das Florieren der Vielfalt des menschlichen Lebens gefördert“ werden.

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„Die thematische wie methodische Auseinandersetzung mit der Medizin seiner Zeit durchzieht [Nietzsches] Texte wie ein Wasserzeichen“, schreibt Anna L. Roethe in ihrem Beitrag Denken an Schnittstellen. Neurophilosophische Kulturmodelle bei Friedrich Nietzsche. Sie betrachtet Nietzsche als einen Denker zwischen den Wissenskulturen, der zum einen Philosoph und Kulturwissenschaftler ist, zum anderen aber auch die Erkenntnisse der im 19. Jahrhundert florierenden Medizindiskurse nutzt, wie sie die Anatomie, Physiologie und nicht zuletzt die im Entstehen begriffenen Neurowissenschaften bereithalten. Nietzsches Skizzierung von Kultur zeichne sich dabei nicht durch eine reine Transferleistung aus; vielmehr binde er die damaligen Wissenschaftsparadigmen ein „in ein holistisches Konzept von Kunst und Wissenschaft, Ratio und Emotio, Produktion und Interpretation, Subjektivität und Objektivität“. Anhand einer Analyse der neuroanatomischen Begriffe des „Zweikammersystems“ und des „Doppelgehirns“ bei Nietzsche skizziert Roethe die Entstehung einer neuen „fröhlichen Wissenschaft“: der Neurophilosophie.

L ITERATUR Aurenque, Diana: „Über Nietzsches medizinische Deutung der Moral: Das Leiden als Ursprung der Moralität bei Schopenhauer und Nietzsche“, in: Dieter Birnbacher/Andreas Urs Sommer (Hg.), Moralkritik bei Schopenhauer und Nietzsche (= Beiträge zur Philosophie Schopenhauers, Band 13), Würzburg: Königshausen und Neumann 2013, S. 45-60. Aurenque, Diana/Friedrich, Orsolya: „Anregungen aus der Philosophie zu Fragen einer technisierten Medizin“, in: dies. (Hg.), Medizinphilosophie oder philosophische Medizin? Philosophisch-ethische Beiträge zu Herausforderungen technisierter Medizin, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2013, S. 1-13. Bormuth, Mathias: „Nietzsche im Lichte der psychiatrischen Pathographie. Eine historische Skizze“, in: Weimar-Jena. Die große Stadt. Das kulturhistorische Archiv 4, Jena: Vopelius 2011, S. 18-30. Brusotti, Marco: „Wille zur Macht, Ressentiment, Hypnose. ‚Aktiv‘ und ‚reaktiv‘ in Nietzsches Genealogie der Moral“, in: Günter Abel/Werner Stegmaier (Hg.), Nietzsche-Studien 30, Berlin/New York: De Gruyter 2001, S. 107132. Cherlonneix, Laurent: Philosophie médicale de Nietzsche: la connaissance, la nature, Paris: Harmattan 2002.

20 | O RSOLYA F RIEDRICH, G ALIA ASSADI, D IANA AURENQUE

Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2011. Gehring, Petra: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt: Campus 2006. Jaspers,Karl: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin: De Gruyter 1981. Long, Thomas A. (1990): „Nietzsche’s Philosophy of Medicine“, in: Günter Abel/Werner Stegmaier (Hg.), Nietzsche-Studien 19, Berlin/New York: De Gruyter 1990, S. 112-128. Müller-Lauter, Wolfgang: „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht“, in: Mazzino Montinari/Wolfgang Müller-Lauter/Heinz Wenzel (Hg.), NietzscheStudien 3, Berlin/New York: De Gruyter 1974, S. 1-60. Müller-Lauter, Wolfgang: „Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluss von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche“, in: Mazzino Montinari/Wolfgang Müller-Lauter/Heinz Wenzel (Hg.), Nietzsche-Studien 7, Berlin/New York: De Gruyter 1978, S. 189-223. Ottmann, Henning: Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit: Eine medizinischbiographische Untersuchung, Würzburg: Königshausen und Neumann 1990. Pasley, Malcom: „Nietzsche’s Use of Medical Terms“, in: ders. (Hg.), Nietzsche: Imagery and Thought, Berkeley: University of California Press 1978, S. 123-158. Rothschuh, Karl Eduard: Geschichte der Physiologie, Heidelberg: Springer 1953. Turner, Bryan S.: From Governmentality to Risk. Some Reflections on Foucault’s Contribution to Medical Sociology, in: Alan Petersen/Robin Bunton (Hg.), Health and Medicine, London: Routledge 1997, S. IX-XXII. Volz, Pia Daniela: „Nietzsches Krankheit“, in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart: Metzler 2000, S. 53.

Medizin und die Produktion von Gesundheit/Krankheit

Nietzsche und die „unzählige[n] Gesundheiten des Leibes“ Aktualität und Kritik eines pluralistischen Gesundheitsverständnisses D IANA A URENQUE

G ESUNDHEIT

ODER

„G ESUNDHEITEN “?

Zweifellos gehören wir zu einem spezifischen Zeitalter, in dem die Gesundheit einen besonderen Stellenwert besitzt. Dabei scheint sich im Bereich der Medizin, dank einer Reihe wissenschaftlicher und technischer Fortschritte, weiterhin die Vorstellung zu etablieren, Gesundheit sei ein objektives Phänomen. Beispielsweise findet man heute im Internet eine längst unüberschaubare Quantität an Informationen sowie verschiedenste „Apps“, die „die“ Gesundheit zu fördern versprechen. Im Kontext einer solchen Gesundheitsförderung steht etwa das neue Projekt „Baseline Study“ des Internetkonzerns Google. Es will anhand der Sammlung von genetischen Informationen Forschern dazu helfen, „potenzielle Krankheiten wie Herzprobleme und Krebs weitaus früher aufzudecken“.1 Verschiedene Präventions- und Prädiktionsmethoden – vom Lebensstil bis hin zu prädiktiven genetischen Testungen auf Erkrankungsrisiken – sollen die Gesundheit gleichermaßen stärken. Nach genauer Betrachtung jedoch, erweist sich der Schein als trügerisch. Denn paradoxerweise ist die Singularität des Begriffes „Gesundheit“ zunehmend fraglich geworden. In Zeiten der gegenwärtigen Medizin verändert sich nämlich das Verständnis von Gesundheit (und so auch von Krankheit) u.a. auch aufgrund

1

A. Barr: Moonshot Project.

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jeweils unterschiedlicher Wertungen und Interpretationen des eigenen körperlichen und seelischen Zustands. Dadurch findet eine Pluralisierung des Gesundheitsbegriffes statt, die im Zusammenhang mit dem Verständnis bestimmter Zustände als ‚gesunde‘ Identitätsformen steht – z. B. in Bezug auf Behinderungen wie Gehörlosigkeit, auf psychische Erkrankungen oder auf bestimmte Störungen der Geschlechtsentwicklung (DSD). Im Hinblick darauf klingt Friedrich Nietzsches Rede von den „unzählige[n] Gesundheiten des Leibes“ hochaktuell. Denn diese Pluralisierung von Gesundheit, von der Nietzsche sprach, hat sich in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen Gehör verschafft. Seit den 1980er Jahren plädieren Gegner eines naturwissenschaftlich-medizinischen Models dafür, bestimmte physiologische oder psychische Zustände nicht mehr als medizinische Störungen zu interpretieren, sondern als eine gleichberechtigte Daseinsweise, d. h. als eine Form von Gesundheit. Adrianne Asch bringt dies auf den Punkt: „Most people with conditions such as spina bifida, achondroplasia, Down syndrome, and many other mobility and sensory impairments perceive themselves as healthy, not sick, and describe their conditions as givens of their lives – the equipment with which they meet the world.“2 Die Betroffenen empfinden diese Sichtweise vielfach als befreiend und fordern dementsprechend anstatt einer (Bio)medikalisierung und Pathologisierung ihres Daseins Anerkennung und Chancengleichheit mit ihrer individuellen Gesundheit. Seit Etablierung der Disability- und der Gender-Studies wird das sogenannte „soziale Model“ vertreten, das Behinderungen und biologische oder anatomische Abweichungen primär als soziale Konstruktionen versteht. Die Pluralisierung des Gesundheitsbegriffes zeigt sich aber nicht nur in Bezug auf individuelle Präferenzen, sondern auch in den Wert- und Glaubensvorstellungen unterschiedlicher Kulturen und Gesellschaften. Letztere Pluralisierung wirkt sich auf institutioneller und ökonomischer Ebene als eine Pluralisierung von Gesundheitssystemen aus. Medizinischer Pluralismus bedeutet in diesem Kontext, dass unterschiedliche medizinische Systeme nebeneinander koexistieren. Moderne und wertpluralistische Gesellschaften bedürfen dieses medizinischen Pluralismus wegen der zunehmenden Globalisierung in den letzten Jahrzehnten. So etabliert sich in Ländern mit multikulturellem Migrationshintergrund, wie etwa in Deutschland, Frankeich, USA, Kanada, etc., eine Vielfalt an Therapieformen, die jenseits der traditionellen Schulmedizin stehen – z.B. Traditional Chinese Medicine/TCM, Ayurveda, Homöopathie. Aufgrund dieser Erweiterung mussten auch bestehende Vorstellungen und Konzepte der Schulmedizin (vor allem bezüglich Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen) neu

2

A. Asch: Prenatal Diagnosis, S. 1651.

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überdacht werden. Daraus resultiert, dass in der heutigen Biomedizin zunehmend komplementäre und alternative Verfahren in den Krankenhäusern angewandt werden. Ausgehend von heutigen Tendenzen in der modernen Medizin möchte ich mich in diesem Beitrag mit dem Gedanken einer Pluralisierung des Gesundheitsbegriffes beschäftigen. Im Mittelpunkt des Beitrages steht die fundamentale Frage: Was heißt Gesundheit(en) heute? Da Nietzsche einen, wenn nicht sogar, den radikalsten Gesundheitspluralismus vertritt, möchte ich seine Gesundheitslehre systematisch vorstellen, und zwar mit dem Ziel, daraus Einsichten, neue Perspektiven sowie auch mögliche Grenzen eines pluralistischen Gesundheitskonzeptes zu gewinnen. Um die Bedeutung und Originalität von Nietzsches Gesundheitsverständnis angemessen zu kontextualisieren und genauer einzuschätzen, werde ich zunächst die zwei aktuell wichtigsten gegeneinander konkurrierenden Gesundheitstheorien in der Medizintheorie und -philosophie vorstellen – die Theorien von Christopher Boorse und Lennart Nordenfelt. Nach der Beschreibung der beiden Ansätze biete ich eine systematische Erörterung dessen, was die Begriffe Gesundheit und Krankheit in Nietzsches Philosophie bedeuten und versuche zudem, Ähnlichkeiten sowie Differenzen zu Boorses und Nordenfelts Theorien zu thematisieren. Nach den medizintheoretischen sowie begrifflichen Erklärungen werde ich in einem weiteren Schritt den Versuch unternehmen, wichtige konzeptuelle Differenzierungen bezüglich der Gesundheitspluralität einzuführen. Zuletzt vergleiche ich die ethischen Vor- und Nachteile einer Pluralisierung des Gesundheitsbegriffes.

G ESUNDHEITSTHEORIEN : B OORSE

VS .

N ORDENFELT

In der Medizintheorie sowie in der Philosophie der Medizin lassen sich viele unterschiedliche Definitionen von Gesundheit finden. Die WeltgesundheitsOrganisation (WHO) definiert etwa Gesundheit als „ein[en] Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen“ („a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity“).3 Mit der Definition der WHO erkennt man, dass Gesundheit mehr als bloße Abwesenheit von Krankheit ist; sie stellt aber ein kaum realisierbares Ideal von Gesundheit dar. So wurde diese Definition auch als „Grenzbegriff“ gedeutet.4 Es

3

World Health Organisation (WHO): Basic Documents, S. 1.

4

L. Hauser: Gesundheit und Krankheit, S. 176.

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gibt aber eine Reihe weiterer Gesundheitskonzepte. Schmidt stellt zum Beispiel zehn verschiedene Gesundheitsdefinitionen vor. Gesundheit kann demnach in vielen Hinsichten verstanden werden: als „Harmonie“, als „Kampf“, als „Moment eines dialektischen Prozesses“, „Hierarchie“, „Potentialität“, „kausaler Wirkmechanismus“, etc.5 So wie es vielfältige Definitionen von Gesundheit gibt, finden wir dementsprechend auch viele Gesundheitstheorien. Bei genauerer Betrachtung gehören jedoch die meisten Positionen entweder zur Position der Normativisten, die eine holistische Gesundheitstheorie vorstellen, oder zur Position der Naturalisten, die eine atomistisch-biologische Theorie als Fundament haben. Der bekannteste Verfechter der naturalistischen Position ist Christopher Boorse. In seiner Biostatistischen Theorie (Bio-Statistical Theory, BST) definiert Boorse zunächst die Krankheit im Sinne einer objektiven Störung der normalen statistischen Funktion eines Organismus bzw. Lebewesens. Boorse vetritt die These, Krankheit und Gesundheit seien wertfreie, empirische und objektive Konzepte, die auf natürlichen bzw. biologischen Funktionen basieren. Damit ist gemeint, dass Krankheit ein rein deskriptives Konzept ist, das keine Bewertungen beinhaltet: „The fundamental idea is that a pathological condition is a state of statistically species-subnormal biological part-function […], relative to sex and age.“6 Normalität und Natürlichkeit gehen für Boorse eng zusammen: „Very important is that the biostatistical theory (BST) is, and always has been, a dynamic account of normal physiology“.7 Ein Organimus, der normal und mit typischer Effizienz lebt, sei nach Boorse in der Lage, seine zwei grundlegenden Ziele zu erreichen: Überleben und Reproduktion. Dabei ist die Vorstellung statistischer Normalität zentral für die Feststellung der Gesundheit bzw. Krankheit eines Individuums. Krank kann eine Person sowohl im theoretischen, objektiven Sinne (disease) sowie im subjektiven Sinne (illnes) sein. Normal und gesund ist demzufolge ein Lebewesen, das der natürlichen bzw. biologischen Struktur der Spezies folgt. Boorse versteht Gesundheit daher stets negativ bzw. als Abwesenheit von Krankheit, wobei Krankheit auf eine Störung oder Beeinträchtigung der normalen, typischen Funktionen des Organismus verweist.8 Was die Gesundheit angeht, definiert Boorse diese wie folgt: „Health in a member of the reference

5

J.M. Schmidt: Gesundheit!, S. 539.

6

C. Boorse: Second Rebuttal, S. 684.

7

Ebd., S. 685.

8

C. Boorse: Health as a Theoretical Concept.

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class is normal functional ability: the readiness of each internal part to perform all its normal functions on typical occasions with at least typical efficiency.“9 Die zweite Gesundheitstheorie betrifft die Position der Normativisten. Zu dieser Richtung gehört die Mehrheit der Gesundheitstheoretiker, wobei alle Theorien die Gemeinsamkeit haben, Gesundheit und Krankheit als normative Begriffe zu verstehen. Im Gegensatz zu Naturalisten wie Boorse argumentieren Normativisten, dass in der Feststellung der Gesundheit/Krankheit keine objektiven, empirischen Fakten beschrieben werden, sondern diese stets subjektive, soziale, kulturelle und/oder ethische Bewertungen beinhalten. Um die Gesundheit eines Menschen zu bestimmen, reicht dieser Position nach keine Messung oder statistische Angabe, sondern diese setzt eine holistische Diagnose bzw. „evaluation of the general state of the person“ voraus.10 Einer der am meisten diskutierten normativistischen Ansätze ist die Theorie Lennart Nordenfelts (Holistic Theory of Health, HTH). Es ist sogar so, dass Boorse und Nordenfelt, wie Thomas Schramme richtig feststellt, die wichtigsten Gesundheitstheorien der Gegenwart darstellen.11 In Nordenfelts Theorie bedeutet Gesundheit nicht die Abwesenheit von Krankheiten, sondern sie betrifft die „Fähigkeit“ (ability), „vitale Ziele“ (vital goals) zu erreichen: „Disability is a negative notion presupposing the semantic content of its positive contrary, ability. This gives the analysis of ability a primary place in my theory of health“.12 In seiner Gesundheitslehre unterscheidet Nordenfelt zwischen Krankheit, Leiden, Schmerz und Behinderung und plädiert für die Zentralität des Begriffes „Behinderung“: „The assumption of a conceptual relation between pain and disability will be accepted in the present analysis: a person cannot experience great pain or suffering without evincing some degree of disability. But a person may have a disability, and even be generally disabled, without experiencing pain or suffering. There are some paradigm cases of illness where pain and suffering are absent. One obvious case is that of coma. Another is certain mental disabilities and illnesses. When a patient cannot reflect on his or her own situation, then the person’s disabilities need not have suffering as a consequence. In short, wherever there is great pain or suffering there is disability, but the converse is not true.“13

9

Ebd., S. 562.

10 L. Nordenfelt: Health and Ilness Revisited, S. 6. 11 T. Schramme: Naturalist Theory of Health. 12 L. Nordenfelt: Health, Science, Ordinary Language, S. 67. 13 L. Nordenfelt: Health as Ability, S. 48.

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Nach dieser Definition gilt eine Person als gesund, wenn sie gewisse Fähigkeiten besitzt, ein bestimmtes, allerdings kein willkürliches Ziel zu erreichen. So definiert Nordenfelt eine Befähigung: „Thus ability is a three-factor relation with the following terms: the agent involved/the goal of this agent/the circumstances in which the agent acts“.14 Nordenfelt etabliert also keine konkrete Auflistung der „vitalen Ziele“, sondern bietet diese drei formalen Voraussetzungen an, um jene Ziele zu identifizieren. Die „vitale[n] Ziele“ definiert Nordenfelt in Bezug auf ein langfristiges Glück : „A vital goal of a person, I suggest, is a state of affairs which is necessary for the realization of this person’s state of minimal long-term happiness.“15 Damit ist gemeint, dass Gesundheit die Voraussetzung dafür ist, ein erfülltes, gutes Leben zu führen. Darüber hinaus impliziert eine Krankheit nach Nordenfelt keine anatomische Abweichung von der Norm, wie im Fall Boorses Theorie, sondern eine subjektiv wahrgenommene problematische Situation: „My basic idea is that the notion of illness when it comes to humans has its basis in the existence of a perceived problem“.16 Die subjektive Anerkennung einer Situation oder eines Zustands als problematisch ist das Wesentliche, so Nordenfelt, für die Suche nach medizinischer Hilfe. Interessant ist, dass sowohl für Boorse als auch für Nordenfelt bestimmte Zustände (wie etwa Krebs) als pathologisch gelten – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: „For Boorse a cancer is a disease because it makes a statistically subnormal contribution to the subject’s survival. For me, however, a cancer is a disease because it tends to cause its bearer disability and suffering.“17 Nordenlfelt vergleicht seinen Ansatz mit Boorses Theorie wie folgt: „1. In the BST health is exclusively a function of internal processes in the human body or mind. In the HTH health is a function of a person’s abilities to perform intentional actions and achieve goals. 2. In the BST health is a concept to be defined solely in biological and statistical terms. In the HTH the concept of health presupposes extra biological concepts such as ‚person’, ‚intentional action‘ and ‚cultural standard‘. 3. In the BST health is identical with the absence of disease. In the HTH health is compatible with the presence of disease. The concept of disease, however, is logically related to

14 Ebd., S. 49. 15 Ebd. 16 L. Nordenfelt: Health and Illness Revisited, S. 7. 17 Ebd., S. 9.

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the concept of ill health (or illness) also according to the HTH. A malady is defined as a state or process which tends to reduce its bearer’s health.“18

Nietzsches Gesundheitslehre steht Nordenfelts Position näher als Boorses Theorie. Dennoch formuliert Nietzsche eine ganz eigene Version eines holistischen Gesundheitskonzeptes.

N IETZSCHES PLURALISTISCHES V ERSTÄNDNIS VON G ESUNDHEIT Nietzsche sieht in der Gesundheit ein höchst individuelles Phänomen. Gesundheit und Krankheit verweisen nach Nietzsche keineswegs wie bei Boorse auf bloße empirische, positive Zustände, die in legitimer Weise eine allgemeine bzw. überindividuelle Bewertung bekommen können. Vielmehr bildet die Gesundheit je nach Menschen ihre eigene Dynamik; Sie verweist auf einen individuellen Prozess, zu welchem stets Krankheit und Leiden gehören. An vielen Stellen präsentiert Nietzsche seine individuelle Gesundheitslehre. Einer der deutlichsten und bekanntesten Formulierungen seiner Gesundheitspluralität lässt sich im Aphorismus „Gesundheit der Seele“19 aus Die Fröhliche Wissenschaft finden: „Denn eine Gesundheit an sich giebt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definiren, sind kläglich missrathen.“20 Nietzsches Skepsis gegenüber einer überindividuellen Festlegung dessen, was gesund sei, steht im Rahmen seiner allgemeinen Kritik an der platonisch-christlichen Metaphysik und seinem Verständnis der Wahrheit im perspektivistischen Sinne: So wie es keine absoluten Werte, Phänomene und Wahrheiten gibt, dementsprechend gibt es auch keine absolute Gesundheit. „An sich“ findet man Gesundheit also nicht, da sie erst nach der individuellen, faktischen Konkretisierung möglich ist. In Menschliches, Allzumenschliches vergleicht Nietzsche die Individualität der Gesundheit mit der Meinungsfreiheit: „Mit der Freiheit der Meinungen steht es wie mit der Gesundheit: beide sind individuell, von beiden kann kein allgemein gültiger Begriff aufgestellt werden. Das, was das eine Individuum zu seiner Gesundheit nöthig hat, ist für ein anderes schon Grund zur Erkran-

18 Ebd. 19 F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 477. 20 Ebd.

30 | DIANA AURENQUE kung, und manche Mittel und Wege zur Freiheit des Geistes dürfen höher entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit gelten.“21

Nietzsche rät also, darauf zu verzichten, nach einer allgemein gültigen Definition von Gesundheit zu suchen. Vielmehr sollte man Gesundheit als eine höchst plastische Rhythmik im Leben interpretieren. Damit ist gemeint, dass ein Mensch die gegebenen Situationen und Erfahrungen (trotz Schmerz oder Leiden) auch produktiv deuten und integrieren kann, vorausgesetzt dieser Mensch weiß, wer er ist bzw. wer er werden soll. Nach Nietzsche ist Selbsterkenntnis fundamental, um eine Situation, eine Erfahrung oder einen „Zustand“ als gesund oder krank zu bewerten; denn je nach Mensch können einige von diesen Situationen als Manifestationen des Willens zur Macht verstanden werden, was das Schmerzhafte oder Krankhafte ins Gesunde transformiert. In diesem Sinne soll folgendes Zitat Nietzsches gelesen werden: „Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrthümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe.“22

Aus diesem Zitat können genauere Beschreibungen von Nietzsches pluralem Verständnis von Gesundheit gewonnen werden. Zunächst offenbart sich dabei, dass Nietzsche einen holistischen Begriff von Gesundheit vertritt. Entgegen des naturwissenschaftlichen Verständnis von Gesundheit der BST, die Gesundheit mit der Abwesenheit von anatomischen oder biologischen Funktionsstörungen identifiziert, sieht Nietzsche die Diagnostik in Bezug auf das gesamte Lebensspektrum eines Menschen. Darin nähert sich Nietzsches Ansatz Nordenfelts Theorie. Nietzsches Ansatz ist aber radikaler: ob etwas als „krank“ oder „gesund“ bezeichnet werden sollte, hängt von den partikulären Lebenszielen, Träumen, Interessen, Wünschen oder auch Ängsten eines jeweiligen Menschen ab. Eine zweite wichtige Beschreibung lässt sich in der Bedeutung des Leibes (und nicht etwa der Psyche oder des Körpers) finden. Das, „was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe“, definiert sich durch den Leib, was radikale Individualität verkörpert. „Den“ Leib gibt es im Grunde genommen nicht; man kann keine Metaphysik des Leibes entwickeln, da Leib eine art Principium individuationis ist. „Leib“ ist eine integrative Instanz, in der die materiale Beschaffenheit des Körpers sowie dessen emotionale und geistige Realisierung einig sind. So ist

21 F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, S. 233. 22 F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 477.

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der Leib eine integrative Vernunft, die nicht nur das Denken und die Kultur, sondern auch die Sensibilität, die Erfahrung und somit das Natürliche beinhaltet: „Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt.“23 Die Gesundheit bezieht sich daher nicht nur auf Teile des Menschen (seinen Körper, seine Seele oder seinen Geist), sondern auf das gesamte Konstrukt „Mensch“ und das heißt eben auf seinen Leib. Daher spricht Nietzsche von den „unzählige[n] Gesundheiten des Leibes“24. So wie es nicht den Leib im Allgemeinen gibt, so lässt sich genauso wenig Gesundheit im Allgemeinen feststellen. Nietzsche folgert daraus, dass sowohl „das Dogma von der ‚Gleichheit der Menschen‘“ sowie Vorstellungen der „NormalGesundheit“ und des „Normal-Verlauf[s] der Erkrankung“ aufzugeben sind.25 Gesundheit ist aber nicht gleich „grosse Gesundheit“. Im Rahmen seiner Übermensch-Lehre beschreibt Nietzsche das, was er „grosse Gesundheit“ nennt: „Um diesen Typus [den Übermenschen, D. A.] zu verstehen, muss man sich zuerst seine physiologische Voraussetzung klar machen: sie ist das, was ich die grosse Gesundheit nenne.“26 Im Gegensatz zum traditionellen Verständnis von Gesundheit im negativen Sinne (Abwesenheit von Krankheit), stellt Gesundheit für Nietzsche ein positives Phänomen dar. Positiv ist das Phänomen, da Gesundheit sich manifestiert; sie ist als Prozess verstanden, in dem die Krankheit, das Leiden und sogar die Sterblichkeit als sinnhafte und produktive Erfahrungen innerhalb des Lebens gedeutet werden. Das heißt nicht, dass Krankheit oder Leiden absichtlich gesucht werden, sondern, dass diese, wenn vorhanden, als Konstitutivum des (individuellen) Lebens angesehen werden. Abhängig von den jeweiligen Lebenszielen eines Menschen, ist eine Krankheit entweder als ein Übel oder als „Stimulans des Lebens“27 anzusehen. Um dies genauer zu verstehen, sollte man nicht vergessen, dass im Hintergrund dieser „grossen Gesundheit“ Nietzsches Lehre des Willen zur Macht steht. Hierzu hat Heidegger an einer Stelle den Punkt getroffen: „Der Übermensch läßt den Menschen der bisherigen Werte einfach hinter sich, ‚übergeht‘ ihn und verlegt die Rechtfertigung aller Rechte und die Setzung aller Werte in das Mach-

23 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 39. 24 F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 477. 25 Ebd. 26 F. Nietzsche: Der Fall Wagner (u.a.), S. 337. 27 Ebd., S. 22.

32 | DIANA AURENQUE ten der reinen Macht. Alles Handeln und Leisten gilt nur als ein solches, sofern es und soweit es der Rüstung und Züchtung und Steigerung des Willens zur Macht dient.“28

Die „grosse Gesundheit“ drückt im Grunde eine radikale Liebe zum eigenen Leben aus. Damit ist nach Nietzsche nicht gemeint, dass man das eigene Leben lange leben will – denn so würde etwa Schopenhauers „Wille zum Leben“ lauten. Liebe zum eigenen Leben heißt für Nietzsche amor fati; die Liebe zum eigenen Schicksal; die feste, stolze Überzeugung, dass das eigene Leben mitsamt all seinen problematischen Aspekten (Leiden, Schmerz, Tod) gut ist: „Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen –, sondern es lieben.“29

G ESUNDHEIT IN DER HEUTIGEN M EDIZIN : W IE VIELE ? W AS ? W O ? Bedenkt man die unterschiedlichen Gesundheitslehren, so lassen sich die Gesundheiten genauer einordnen. Von einer Pluralität der Gesundheit kann in wenigstens vier unterschiedlichen Themenfeldern gesprochen werden: Auf definitorischer Ebene: Eine Möglichkeit, Gesundheit im plural zu verstehen, bezieht sich auf die definitorische Ebene. Der Begriff „Gesundheit“ kann ein Doppeltes bedeuten. A) Sie kann als negativer Begriff verstanden werden bzw. als Abwesenheit von Krankheit wie etwa in Boorses Theorie. Somit verweist sie streng genommen auf kein Phänomen. B) Dagegen kann aber Gesundheit auch positiv gedeutet werden, wobei hier der Begriff nur prinzipiell bzw. theoretisch fassbar ist. Positiv verstanden, wird Gesundheit zu einer Art vorgestellte Voraussetzung für ein gutes, glückliches Leben (Nordenfelt). Gerade dieses prinzipielle Konzept gilt für den Gesundheitsbegriff der präventiven und prädiktiven Medizin, da sich beide auf einem idealen, vorgestellten Konzept von Gesundheit gründen. „Gesundheiten“ im medizinischen Modell: Ein plurales Verständnis von Gesundheiten kommt heute in der Medizin nicht nur in Bezug auf die spezifischdefinitorische Verwendung des Begriffes vor, sondern sie lässt sich auch im medizinischen Modell finden. Obwohl der größte Teil der Schulmedizin seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem ein biologisch-anatomisches Verständnis von Ge28 M. Heidegger: Nietzsche II, S. 40. 29 F. Nietzsche: Der Fall Wagner (u.a.), S. 54.

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sundheit vertritt – entsprechend Boorses Gesundheitstheorie – erlaubt sich die moderne Medizin inzwischen gewisse Revisionen. Ein gutes Beispiel dafür bringt die sogenannte individualisierte Medizin. Angesichts neuer Erkenntnisse im Bereich der Molekularbiologie wurde festgestellt, dass sich trotz der Einheit der Spezies homo sapiens ausgeprägte genetische Differenzen zwischen Menschen finden lassen. Daraus ergeben sich wichtige Unterschiede bezüglich der Auswirkung von Medikamenten und Therapien, sodass die individualisierte Medizin das Ziel verfolgt, Menschen in ihrer Individualität gerecht zu werden. Die Idee einer Pluralisierung von Gesundheit kann also auch mit dem biologischen Konzept der genetischen Diversität begründet werden. „Gesundheiten“ außerhalb des medizinischen Modells: Wenn Gesundheit nicht auf ein anatomisch-biologisch Phänomen verweist, sondern auf andere, nicht-medizinische Kriterien bezogen wird, dann ist ihre Pluralisierung eine unvermeidbare Folge. Ein gutes Beispiel dafür sind, wie am Anfang des Beitrages angeführt, die Gesundheitsverständnisse der Disability- sowie der Gender Studies. Beide vertreten ein soziales Model, um Behinderungen und sogenannte Abweichungen vom „Normalen“ zu interpretieren, und versuchen, die naturalistische Gesundheitskonzeption zu widerlegen. Diese Form, Gesundheit im Plural zu verstehen, steht aber in direktem Zusammenhang mit einer Pluralisierung der Werte und Präferenzen, ja genauer, der Lebensstile. Hierzu findet Nietzsches Gesundheitslehre einen wichtigen Anknüpfungspunkt. Denn nach Nietzsches Verständnis von Gesundheit können sowohl Boorses Ansatz sowie Nordenfelts – aber auch andere – nebeneinander koexistieren. Boorses Gesundheitstheorie geht implizit davon aus, dass ein gutes, erfolgreiches Leben ein im biologischen Sinne effizientes Leben sei bzw. ein Leben, wo Funktionen wie Reproduktion und Überleben des „normal“-typischen Körpers keinerlei Beeinträchtigung aufweisen. Eine andere Gesundheitslehre, etwa die der gehörlosen Gemeinschaft, sieht gerade in der Abweichung vom bloßen normalen Leben die Chance für ein gutes, glückliches Leben. Damit ist ein wichtiger Aspekt gemeint: weil es diverse Konzeptionen des guten Lebens gibt, die sowohl auf individueller sowie auf allgemeiner Ebene zu finden sind, koexistieren ebenfalls diverse Gesundheitskonzeptionen. Gerade mit einer solchen Pluralisierung der Wertvorstellungen und Weltanschauungen geht die Pluralisierung von Medizinsystemen einher. Die Medizinethnologie zeigt etwa, dass unterschiedliche Kulturen auch unterschiedliche Gesundheitskonzepte vertreten. So kann Gesundheit je nach Volksmedizin eigens definiert, genauer gesagt, erlebt werden.

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ABSCHLUSS : ALLES G ESUNDHEIT

ODER GAR KEINE

G ESUNDHEIT ?

Während der Krankheits-Begriff in der medizinethischen und -theoretischen Literatur differenzierter betrachtet wird – wie etwa bei Boorses Unterscheidung zwischen objektiver (disease) und subjektiver (Illness) Krankheit –, fehlt eine entsprechende Differenzierung des Plurals „Gesundheiten“ im Hinblick auf dessen jeweilige Indikatoren und in Verbindung mit neuen Trends und aktuellen medizinisch-technischen Innovationen. Dass Gesundheit selten systematisiert wurde, scheint sehr wahrscheinlich daran zu liegen, dass sie ein „verborgenes“ (Gadamer), unsichtbares Ding ist. Genauer gesagt scheint sie gar keine „Erfahrung“ zu sein: „Krankheit als menschliche Grunderfahrung und Gesundheit als menschliches Grundbedürfnis sind potenzielle Gegenstände aller Wissenschaften vom Menschen.“30 Auf allgemeiner Ebene gesehen, bringt die Pluralisierung von Gesundheit zweifellos neue ethische und konzeptionelle Probleme. Auf Ebene der Implementierung wird es zum Beispiel zunehmend schwieriger werden, überindividuelle Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge (Public Health) aufzustellen, ohne dadurch in Konflikt mit individuellen Freiheiten – wie subjektiven Vorstellungen, Präferenzen und Wertungen von Gesundheit und Lebensqualität – zu treten. Zudem und insofern Gesundheit und Krankheit keine bloßen Begriffe sind, sondern eine normative und juristische Bedeutung beinhalten, ist eine genaue Definition wichtig. Nur wenn bestimmte Störungen tatsächlich als „Krankheit“ bezeichnet werden, erhält der Betroffene eine differenzierte Behandlung, die auch besondere Rechte involviert: Etwa dass die Krankenkasse einige Kosten für die Behandlungen übernimmt oder dass man von bestimmten juristischen Pflichten aufgrund psychischer Störungen entlastet werden kann. Die Suche nach dem genaueren Verständnis und der Beschreibung dessen, was Gesundheit bedeutet, erweist sich deshalb als ein Thema, das nicht nur dem theoretischen Interesse des Philosophen oder Medizintheoretikers entspringt, sondern auch der praktischen Bedürftigkeit dient. Dies artikuliert Nordenfelt treffend: „These questions are not simply academic. They are of great practical and thereby ethical concern. The consequences for health care diverge considerably, not least in economic but also in social and educational terms, depending on whether health is understood as people’s happiness, or their fitness and ability to work, or instead just the absence of

30 W. Bruchhausen: Gesundheit/Krankheit, S. 336.

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obvious pathology in their bodies and minds. There are adherents of all these ideas in the modern theoretical discussion on health.“31

Ein schwerwiegendes Problem der von Nietzsche vertretenen radikalen Pluralisierung von Gesundheit besteht in der Auflösung des Konzeptes. Wenn Gesundheit stets subjektiv und nur individuell begriffen wird, etwa im Sinne eines Existenzmodus, dann könnten prinzipiell alle Existenzformen sowie biologischanatomische Phänomene als Ausdrucksweisen von Gesundheiten gedeutet werden. In einem solchen Szenario gibt es Gesundheit im strengen Sinne nicht mehr. Das Problem ist logischer Natur: Ein Begriff ohne Kriterien zur Differenzierung und Eingrenzung, wie zum Beispiel durch den Begriff der „Krankheit“, bleibt am Ende unvermeidbar leer. Sollte man deshalb nicht besser für die Singularität der Gesundheit argumentieren? Die Pluralisierung der Gesundheit bringt jedoch nicht nur einige konzeptionelle und pragmatische Probleme mit sich, sondern auch wichtige ethische Vorteile. Ein bedeutsamer Aspekt betrifft ihre entpathologisierende Wirkung. Wenn der Bereich des Gesunden erweitert wird, dann sind viele Phänomene oder Zustände, wie zum Beispiel bestimmte anatomische oder organische Abweichungen, nicht mehr als pathologisch anzusehen. Somit verliert der normale, durchschnittliche Körper an normativer Autorität. Es öffnet sich dadurch der Bereich des Andersseins, was die Ausübung wichtiger ethischer Tugenden ermöglicht. In diesem Sinne stärkt ein Gesundheitspluralismus vor allem den Wert der Toleranz gegenüber dem Anderssein; wenn Menschen mit gewissen körperliche Abweichungen nicht mehr als „Abnormale“ angesehen werden, ermöglicht dies den Raum für ihre gleichwertige Partizipation an der Gesellschaft. Das Paradigma der Normalität, die sich generell auf Basis der durchschnittlichen Mehrheit etabliert, wird dann altmodisch. Ob man „normal“ oder „anders“ ist, wäre in einer gesundheitspuralistischen Gesellschaft nicht mehr entscheidend. Zudem impliziert die Vorstellung von „Gesundheiten“ eine grundsätzliche Demokratisierung von Lebensformen und Weltauschauungen. Das Anderssein, das heißt anders als das biologisch-typische „Normale“, hat nun einen Platz, wobei mögliche Diskriminierungen oder Unterdrückungen vermieden werden können. Wenn unterschiedliche Partikulärinteressen im gesundheitlichen Bereich Anerkennung finden, wenn diese als berechtigte Daseinsformen angesehen werden, dann ist die Möglichkeit der freien Entfaltung gewährleistet. Zuletzt bedeutet „Gesundheiten“ ein Plädoyer für die Eigenverantwortung. Wie etwa Nietzsche vorschlägt, kann Gesundheit je nach Interessen und Lebens-

31 L. Nordenfelt: Health and Illness Revisited, S. 5.

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zielen eines Individuums angemessen festgestellt werden, wenn diese der Sicht des Betroffenen, als ein autonom entscheidendes Wesen, entstammen. Diese Interessen und Ziele können eine Gesundheitspraxis rechtfertigen, zwingen uns also zu bestimmten Handlungen, solange diese nicht von Außen (wie etwa von der Schulmedizin oder ähnlichen gesundheitlichen Autoritäten) bestimmt werden, sondern von den direkten Betroffenen. Nur so haben sie eine normative Bindung, die wir zu respektieren gezwungen sind. Ob alle Menschen für die eigene Gesundheit derart radikale Bildhauer sein möchten, bleibt zwar fraglich; doch für andere könnte dies gerade der Grund ihrer Existenzberechtigung sein.

L ITERATUR Asch, Adrianne: „Prenatal Diagnosis and Selective Abortion: A Challenge to Practice and Policy“, in: American Journal of Public Health 89 (1999), S. 1649-57. , Barr, Alistair: „Google s New Moonshot Project: the Human Body“, http://www.wsj.com/articles/google-to-collect-data-to-define-healthy-human -1406246214 vom 08.06.2015. Boorse, Christopher: „A Second Rebuttal On Health“, in: Journal of Medicine and Philosophy 39 (2014), S. 683-724. Boorse, Christopher: „Health as a theoretical concept“, in: Philosophy of Science 44 (1977), S. 542-573. Bruchhausen, Walter: „Gesundheit/Krankheit“, in: Eike Bohlken/Christian Thies (Hg.), Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, Stuttgart: J.B. Metzler 2009, S. 336-340. Hauser, Linus: „Gesundheit und Krankheit im Kontext einer philosophischtheologischen Anthropologie“, in: Peter Hensen/Christian Kölzer (Hg.), Die gesunde Gesellschaft. Sozioökonomische Perspektiven und sozialethische Herausforderungen, Heidelberg: Springer 2011, S. 169-179. Heidegger, Martin: Nietzsche II (1939-1946) (= Gesamtausgabe, Band 6.2), Frankfurt a.M.: Klostermann 1997. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra (= Kritische Studienausgabe, Band 4), München: dtv 1999. Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner u.a. (= Kritische Studienausgabe, Band 6), München: dtv 1999. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft (= Kritische Studienausgabe, Band 3), München: dtv 1999.

U NZÄHLIGE G ESUNDHEITEN

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Über Gesundheit und Krankheit im außermoralischen Sinn Nietzsches und Foucaults philosophische Unterscheidungstechnik W ERNER S TEGMAIER

P HILOSOPHISCHE N EUORIENTIERUNG DURCH B EGRENZUNG UND E NTGRENZUNG VON B EGRIFFEN Alltägliche und wissenschaftliche Begriffe begrenzen, limitieren Sinn. Sie grenzen einen Spielraum ein, in dem sie sinnvoll, d.h. passend für die jeweils Beteiligten, gebraucht werden können. Philosophen entgrenzen, de-limitieren alltägliche und wissenschaftliche Begriffe, um sie neu zu begrenzen, zu re-limitieren, und dadurch Neuorientierungen des Denkens im Ganzen in die Wege zu leiten, neuen Sinn zu schaffen. Damit können sie in der Philosophie selbst, im Alltag und der Wissenschaft mehr oder weniger und unterschiedlichen Erfolg haben, abhängig davon, wie weit dort die Bereitschaft und das Bedürfnis nach solchen Neuorientierungen besteht. Es kann ebenso sinnvoll sein, den Gebrauch von Begriffen in bestimmten Grenzen zu halten wie ihn zu delimitieren und zu relimitieren. Meist geschieht beides nebeneinander, und es kommt zu einem differenzierten Begriffsgebrauch im Alltag, in der Wissenschaft und in der Philosophie. In jedem Bereich kann sich der Begriffsgebrauch dann weiter differenzieren, und die Bereiche können voneinander getrennt bleiben oder wieder ineinander diffundieren. So ist kein einheitlicher, fest begrenzter und klar getrennter, sondern hoch komplexer Gebrauch von Begriffen zu erwarten, auch und gerade bei so häufig gebrauchten Begriffen wie Gesundheit und Krankheit. Anderes wäre nur unter starr geregelten kommunikativen und damit auch gesellschaftlichen Ver-

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hältnissen möglich. Davon sind moderne Gesellschaften jedoch weit entfernt. Ihre Dynamik lebt auch von laufenden begrifflichen Neuorientierungen und Differenzierungen.

P HILOSOPHISCHE N EURORIENTIERUNG DES B EGRIFFS G ESUNDHEIT DURCH DIE U NTERSCHEIDUNG EINER B EOBACHTUNG ERSTER UND ZWEITER O RDNUNG Nietzsche und Foucault spürten solche begrifflichen Neuorientierungen gezielt auf und suchten sie selbst zu lenken. Wie das Historische Wörterbuch der Philosophie ausweist, stand der Begriff Gesundheit philosophisch über Jahrtausende weitgehend fest, bis Nietzsche vor etwa 130 Jahren begann, ihn energisch zu deund relimitieren.1 Dabei konnte er sich seinerseits auf neue physiologische Forschungen, inbesondere Claude Bernards, stützen, die die traditionelle Unterscheidung von „gesund“ und „krank“ ins Wanken brachten. Zuvor meinte „gesund“ nicht nur physiologisch, sondern generell das, was in Ordnung ist, den Normalzustand, um den man sich, solange er besteht, nicht zu kümmern braucht. Man dachte sich Gesundheit als harmonisches Zusammenwirken aller dafür relevanten Lebensbedingungen, nicht nur im Körper, sondern auch in der Gesellschaft und in der Welt im Ganzen. Dieser von früh an sehr entgrenzte Begriffsgebrauch war nach Niklas Luhmann, dessen Verfahren, Unterscheidungen zu unterscheiden, wir hier in vielem folgen, das Zeichen eines starken „Weltvertrauens“, eines Vertrauens in eine immer schon waltende schöne und gute Ordnung der Welt (kósmos).2 Abweichungen von der gewohnten Ordnung wurden in leichteren Fällen als pittoresk oder monströs, in schwereren Fällen moralisch als böse oder religiös als dämonisch diskriminiert. Das Vertrauen in die prinzipielle Gesundheit der Welt schloss die hinreichende Kenntnis ihrer Bedingungen ein und der Weisen, wie sie zusammenwirken, oder doch den Glauben an diese Kenntnis. Dieser Glaube ist spätestens mit dem Beginn der Moderne verloren gegangen. In der Moderne ist die Weltkenntnis immer größer, die Welt dadurch aber immer unübersichtlicher geworden. An Anhaltspunkten wie der kopernikanischen Umstellung von der geozentrischen auf eine heliozentrische Perspektive in der Astronomie, der Entwicklung der Zentralperspektive in der Malerei, die erst

1

Vgl. F. Vonessen: Art. Gesund, Gesundheit. Das Lemma „Gesundheit“ ist selten in philosophischen Lexika.

2

N. Luhmann: Wie ist soziale Ordnung möglich?, S. 232.

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mit hochartifiziellen Mitteln eine „natürliche“ Sicht ermöglichte, und dem wachsenden Misstrauen gegenüber einer adäquaten Repräsentation der Welt sei es durch die Sinne, sei es durch den Verstand lernte man langsam, dass die Ordnung und selbst die Gegebenheit der Welt nicht „an sich“ festzustellen sind. Man sah ein, dass man, um beides festzustellen, sich nicht gottgleich über sie erheben konnte; gerade gottgleiche und damit ihrerseits nicht beobachtbare Standpunkte wurden fragwürdig, religiöse ebenso wie metaphysische und transzendentale. So hatte man davon auszugehen, dass jede Feststellung einer Gegebenheit und Ordnung der Welt ihrerseits Teil des Weltgeschehens ist und damit immer zugleich die Welt verändert (so wie eine unübersichtliche Situation, in der man sich orientiert hat, nicht mehr dieselbe Situation ist). Seither hat jede Beobachtung der Welt sich zugleich daraufhin zu beobachten, ob und wie sie das, was sie beobachtet, durch ihre bloße Beobachtung schon verändert (nicht nur im berühmten Fall der Quantenphysik, sondern etwa auch im Alltag der Medizin, wo das bloße Aussprechen der Diagnose einer Krankheit neue Bedingungen, günstigere oder ungünstigere, für die Therapie schaffen kann). Das Weltverhältnis wird selbstbezüglich, wird komplex: Man hat seine Unterscheidungen selbst zu unterscheiden und sich bewusst für oder gegen sie zu entscheiden. Das ist keineswegs immer nötig, und darum wird der Verzicht auf eine theoretische Position jenseits der Welt zugunsten komplexer Reflexionen ihrer Beobachtung im Alltag und in den Wissenschaften und selbst in manchen Teilen der Philosophie auch nicht immer mitvollzogen. Man geht man zumeist der Einfachheit halber weiter davon aus, dass es an sich gibt, was Begriffe begrenzen, bleibt bei der sogenannten „natürlichen Einstellung“. Luhmann hat sie, seinerseits im Anschluss an Heinz von Foersters Kybernetik zweiter Ordnung, als Beobachtung erster Ordnung, also von vermeintlich an sich gegebenen „Dingen“ aus einer vermeintlich unbedingten theoretischen Position, von einer Beobachtung zweiter Ordnung, also der Beobachtung von Beobachtungen oder der Unterscheidung von Unterscheidungen, unterschieden. Dabei müssen alle Beobachtungen, auch die zweiter Ordnung, wenn sie glaubhaft sein sollen, selbst beobachtbar sein. Akzeptiert man das, findet man sich in einem flexiblen Netzwerk von Beobachtungen von Beobachtungen wieder, die einander relativieren, einander aber auch halten, weniger überschaubar, aber eben wirklich beobachtbar. Auch schon Nietzsche und Foucault orientierten sich der Sache nach an der Unterscheidung von Beobachtungen erster und zweiter Ordnung. Sie fragten nicht mehr einfach, „welchen Sinn hat dieser Begriff, was bedeutet er?“, sondern „welchen Sinn, welche Bedeutung hat es, dass jemand diesem Begriff diesen Sinn, diese Bedeutung gibt?“. So betrieben sie, was Nietzsche im Blick auf die moralische und epistemische Konfiguration einerseits von Personen, andererseits

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von Gesellschaften „Psychologie“ und „Genealogie“, Foucault im Blick auf Wissenssysteme oder diskursive Formationen überhaupt „Archäologie“ einer „Episteme“ nannte. In dieser Beobachtung zweiter Ordnung wurden sie, statt auf festen Begriffen zu bestehen, offen für begriffliche Neuorientierungen. Sie folgten, sofern Beobachtungen zweiter Ordnung sehr viel komplexere begriffliche Verhältnisse und dadurch auch sehr viel komplexere Welt- und Lebensverhältnisse denkbar machen, damit einem zentralen Bedürfnis moderner Gesellschaften, der Eröffnung größerer Komplexität – auch im Denken von Gesundheit und Krankheit. Modernität scheint gerade in der Steigerung der Komplexität der Begriffs-, Welt- und Lebensverhältnisse zu bestehen. Nietzsche und Foucault haben sie ein Stück weiter voranzutreiben versucht.

D E -ASYMMETRISIERUNG DER U NTERSCHEIDUNG VON G ESUNDHEIT UND K RANKHEIT Geht die Beobachtung erster Ordnung davon aus, dass Begriffe sich auf scheinbar vorgegebene Dinge beziehen, so die Beobachtung zweiter Ordnung, dass beobachtete Dinge erst durch Begriffe begrenzt und Begriffe ihrerseits durch Unterscheidungen bestimmt werden. Unterscheidungen aber haben – darum sind sie im Wortsinn „Scheidungen“ – stets zwei Seiten, von denen die eine (nicht immer, aber oft) positiv, die andere negativ bewertet ist. Insofern sind sie asymmetrisch. Ihre Asymmetrie hilft, in Orientierungssituationen leicht und rasch zu entscheiden, welche Seite der Unterscheidung vorzuziehen ist. Die Asymmetrie in Unterscheidungen gibt auf diese Weise der Orientierung den „Halt“, den sie braucht und fortwährend sucht, sei es auf vertrautem Boden mit kleinen, kaum merklichen, sei es in luftigen Höhen mit großen und auffälligen Spielräumen. Die Orientierung „hält“ in ihrem Suchprozess buchstäblich beim positiven Wert einer sich anbietenden Unterscheidung „an“ und „hält sich“ fürs erste „an“ ihn.3 Eines der schlagendsten Beispiele dafür ist eben die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit: Jeder will gesund, nicht krank sein; glaubt man, gesund zu sein, ist alles gut, man sucht, man fragt nicht weiter, hält inne mit der Suche und Frage nach Gründen, ist beruhigt. Auf die andere Seite der Unterscheidung, zum negativen Wert der Krankheit, geht man nur über, wenn Umstände dazu zwingen, man sich unwohl fühlt, Schmerz empfindet, leidet, sich in einem beunruhigenden Zustand befindet, dem man zu entkommen sucht. Krankheit beunru-

3

Zur Sprache des Halts in der Orientierung über Orientierung vgl. W. Stegmaier: Philosophie der Orientierung, S. 226-236.

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higt, Gesundheit beruhigt, und dies ist die Grundunterscheidung aller Orientierung: Bevor die wissenschaftliche Erkenntnis nach Wahrheit und Falschheit unterscheidet, unterscheidet die Orientierung nach Beruhigung und Beunruhigung und so auch darüber, ob wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt aufgerufen wird, man also zum Beispiel zum Arzt geht. Beruhigen können dann auch Halbwahrheiten, Fiktionen, Illusionen. Dagegen sind nach Nietzsche auch wissenschaftliche und philosophische „Wahrheiten“ nicht gefeit: Beunruhigende „physiologische Bedürfnisse“ können sich, schrieb er, „bis zum Erschrecken weit“ „unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen“ verstecken, so dass man den Verdacht äußern und „den Satz wagen“ könne, „bei allem Philosophiren handelte es sich bisher gar nicht um „Wahrheit“, sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben…“.4 Der Wille zur Gesundheit, aber auch der zur Krankheit beruhigt sich mit passenden „Wahrheiten“; „der Wille zur Gesundheit selbst, die Schauspielerei der Gesundheit“ kann schon ein „Heilmittel“ sein.5 Der positive Wert einer orientierenden asymmetrischen Unterscheidung kann jedoch seinerseits schwer zu fassen sein. Das gilt gerade für die Gesundheit. Im Begriff des „positiven Werts“ einer Unterscheidung kreuzen sich zwei Unterscheidungen, die philosophisch auseinandergehalten werden müssen, zum einen die axiologische Unterscheidung durch Wertungen und zum andern die epistemologische Unterscheidung durch Feststellungen: Bedeutet der axiologisch „positive“ Wert, dass er gewöhnlich spontan vorgezogen, und der axiologisch „negative“, dass er entsprechend abgewiesen wird, so der epistemologisch „positive“ Wert, dass er grundsätzlich durch bejahende Prädikate, der „negative“, dass er durch verneinende Prädikate bestimmt wird, die ihrerseits axiologisch wertfrei sein können. So lässt sich die positiv bewertete Gesundheit bekanntlich kaum positiv bestimmen, sondern am ehesten negativ als Ausbleiben von Krankheiten. Das erklärt sich leicht: Krankheiten erfährt man weitgehend unmittelbar durch Schwächung oder Schmerz oder anderweitige Störungen (es sei denn, sie bleiben zunächst verborgen), und man geht dann daran, ihre Ursachen zu erforschen. Gesundheit dagegen bleibt, solange sie besteht, unauffällig, und man nimmt sie als selbstverständlich hin. Damit de-asymmetrisiert sich die axiologische Unterscheidung schon epistemologisch: Man muss sich, wenn es um die hoch geschätzte Gesundheit geht, aus schlicht epistemologischen Gründen mit wenig geschätzten Krankheiten befassen, beunruhigenderweise, weil eben nur die epistemologisch zugänglicheren Krankheiten sich tatsächlich bemerkbar machen. Die

4

FW, Vorrede 2, KSA 3.348.

5

Nachlass 1885, 40[65], KSA 11.665, korr.

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Unterscheidungen erster Ordnung geraten ins Wanken, die Orientierung ist genötigt, in die Beobachtung zweiter Ordnung überzugehen und die Unterscheidungen selbst zu beobachten. Und dann können Unterscheidungen auch reflexiv, selbstbezüglich werden, kann man z.B. eine epistemologische Diagnose (Beobachtung erster Ordnung) axiologisch bewerten (Beobachtung zweiter Ordnung), also einschätzen, wie „ernst“ sie zu nehmen ist, und kann dann auch von „gesunden Einschätzungen“ oder von ihrerseits „krankhaften Überbewertungen“ sprechen. Das gilt nicht nur für die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit. Zu den axiologisch positiven, epistemologisch aber nur negativ oder reflexiv, durch einen Selbstbezug der Unterscheidung bestimmbaren Begriffen gehören auch Begriffe wie Würde, Frieden oder Gerechtigkeit, ebenso Leben und der Begriff der Orientierung selbst. Auch bei ihnen kann man leicht sagen, was sie beeinträchtigt, aber sehr viel schwerer, was sie unbeeinträchtigt sind. Wie Krankheiten kann man auch Demütigungen, Gewalttätigkeiten, Ungerechtigkeiten, Todesfälle, Desorientierungen oft epistemologisch positiv auf klar bestimmbare Ursachen zurückführen und Schuldige haftbar machen, die jeweilige axiologisch positive Gegenseite dagegen nur, wie Wittgenstein es ausdrückt, „feiern“, also schlicht als positiv hervorheben. Da Würde, Frieden, Gerechtigkeit, unbeinträchtigtes Leben, gelingende Orientierung und so auch Gesundheit in modernen demokratischen Gesellschaften allesamt einen hohen moralischen und politischen Stellenwert haben, müssen sie umso mehr axiologisch positiv herausgestellt werden, je weniger sie epistemologisch positiv fassbar sind. Der Begriff der Gesundheit lässt sich daher, auch für Biologen und Mediziner, kaum in den engen Grenzen eines nur physiologischen Begriffs halten; der mit ihm verbundene moralische und politische Anspruch lässt das nur begrenzt zu. So oszillieren die Begriffe: die Begriffe Würde, Frieden oder Gerechtigkeit zwischen der moralischpolitischen Dimension, in der sie gefeiert werden, und der juridischen Dimension, in der sie schwer festzumachen sind, der Begriff Gesundheit ebenfalls zwischen der moralisch-politischen Dimension und der physiologischen Dimension, die vielfältige, oft aber auch weit auseinandergehende Erklärungen anbietet. All diese Begriffe sind somit zugleich moralische und politische und nichtmoralische und nicht-politische und damit, wenn nicht widersprüchliche und paradoxe, so doch oszillierende und dadurch irritierende Begriffe. Das macht sie für die Orientierung nicht untauglich, sondern im Gegenteil, weil es ja um beunruhigendste Dinge geht, besonders attraktiv. Man muss, heißt das, laufend über sie reden. Mit Foucaults Begriff halten sie unablässige Diskurse in Gang. Hier lohnt ein Blick in Wikipedia, das von vielen Seiten Informationen zusammentragende und seinerseits vielseitig benutzte, sich selbst „frei“ nennende,

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d.h. nicht an sorgfältig ausgewählte wissenschaftliche Expertise gebundene, sondern weitgehend von jedem, der mag, zu ergänzende und zu korrigierende Internet-Lexikon, also einen exemplarischen Foucaultʼschen Diskurs, den Foucault selbst so noch nicht kannte. Hier kann man am ehesten ablesen, wie aktuell von Gesundheit gesprochen wird, kurz: den sich laufend aktualisierenden Diskurs der Gesundheit beobachten. Der einschlägige deutsche Artikel „Gesundheit“6 setzt gleich ein mit der Nicht-Definierbarkeit der Gesundheit bzw. ihrer Definierbarkeit nur über ihre Negation: „Die Gesundheit des Menschen ist ein (undefinierter) Zustand des körperlichen wie geistigen Wohlbefindens und somit die Nichtbeeinträchtigung durch eine Krankheit.“ Dann werden doch positive Definitionen angeboten, an erster Stelle die regelmäßig zitierte Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO, die als Organisation, die nicht nur für die weltweite Bewältigung und Abwehr von Krankheit, sondern auch präventiv für Gesundheit sorgen soll, einen positiven Begriff von Gesundheit braucht und sich nicht anders helfen kann, als auf die vormoderne, kaum verändert in die Moderne übernommene Bestimmung eines „well-being“ zurückzugreifen: „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“ Um mit dieser Definition zu arbeiten, müsste man, wie oft schon eingewandt wurde, wiederum wissen, was ein „complete physical, mental and social well-being“ sein kann und was seine vollständigen Bedingungen wären; sie könnten noch weniger als vormals die vollständigen Bedingungen der kosmischen Weltordnung benannt und, wäre dies doch der Fall, noch weniger planmäßig hergestellt werden. Der deutlich verlegenen positiven Definition – denn offensichtlich ist doch zuerst an „the absence of disease or infirmity“ gedacht – haben sich viele andere Organisationen, insbesondere Behörden, angeschlossen, soweit sie ebenfalls für Gesundheitsförderung zuständig sind. Sie brauchen eine solche Definition, ob sie nun stichhaltig ist oder nicht. Der Ausreißer ist im deutschen Wikipedia-Artikel, wie im Eintrag des Historischen Wörterbuchs der Philosophie und vielleicht von ihm abhängig, Nietzsche.7 Ihm wird als fiktives Zitat – er hat das so nicht gesagt – diese Bestimmung zugeschrieben: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“ Tendenziell ist das

6

Ich orientiere mich der Übersicht halber am vergleichsweise knappen deutschen Artikel (Stand 20.1.2015). Die englischen und französischen Artikel sind weit ausführlicher, differenzierter und wissenschaftlicher angelegt, halten sich aber in einem vergleichbaren begrifflichen Rahmen.

7

Nicht so im französischen und im englischen Artikel.

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immerhin richtig; wie wissenschaftliche Lexika mit echten Zitaten belegen,8 hat Nietzsche, in heutiger Sprache, ungefähr das gemeint. Nietzsche deasymmetrisierte die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit ganz bewusst, ging gezielt auf ihre andere Seite und von der Krankheit als Normalzustand aus; wir kommen gleich darauf zurück. Diesem Ansatz folgen nach Wikipedia – und wir lassen das so stehen, ohne es weiter zu vertiefen – dann eher die Wissenschaften, die ihre Aufgabe darin sehen, scheinbar selbstverständlich vorgegebene Unterscheidungen auf ihre Haltbarkeit hin zu reflektieren. Da heißt es dann in begrifflicher Anlehnung an Niklas Luhmann und unter sachlicher Berufung auf den amerikanisch-israelischen Soziologen Aaron Antonovsky (19231994), der sich in berühmt gewordenen Untersuchungen mit Frauen befasste, die Konzentrationslager zu aller Erstaunen objektiv und subjektiv gesund überstanden hatten: „Gesundheit und Krankheit sind beobachterabhängige Konstrukte, wobei sich die Beobachtung von Gesundheit und Krankheit durch soziale Systeme wie die Medizin oder die Wissenschaft von der Beobachtung durch das Individuum unterscheiden kann.“

Antonovsky stellte von „Pathogenese“ auf „Salutogenese“ um, fragte nicht mehr vorrangig, wie Krankheiten entstehen, sondern wie sich Gesundheit aus schwersten Gefährdungen immer wieder herstellen kann.9 Er setzte einen „sense of coherence“ an, die Fähigkeit, jeweils gebotene Ressourcen zu nutzen, um sich gegen immer neue Gefährdungen gesund zu erhalten. Diese Fähigkeit erstreckt sich weit über die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit hinaus; sie ist Teil aller Orientierung, der tierischen ebenso wie der menschlichen. Beide, die Gesundheit des Leibes und die Orientierung in der Welt, sind beständig gefährdet und in einer Beobachtung zweiter Ordnung wie der wissenschaftlichen und philosophischen darum hoch unwahrscheinliche und immer nur temporäre Zustände. Weit mehr noch als ihre Gegensätze sind sie selbst erklärungsbedürftig. Je mehr dabei ihre Gefährdungen deutlich werden, desto weniger kann man sie als selbstverständliche Normalzustände voraussetzen. Stattdessen muss man nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Unwahrscheinlichkeit, einschließlich der Bedingungen ihres Selbstverständlich-Werdens, fragen. Und das werden wiederum eher Kranke als Gesunde tun. Die „Erkenntniss des Leidenden“, so Nietz-

8

Vgl. V. Caysa: Art. Gesundheit/Krankheit, S. 242 f.; A. Horn: Art. Gesundheit/Krankheit, S. 132 f.

9

Vgl. A. Antonovsky: Unraveling the mystery of health.

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sche, schafft eine „ungeheure Spannung des Intellectes, welcher dem Schmerz Widerpart halten will“, sie „[…] macht, dass Alles, worauf er nun blickt, in einem neuen Lichte leuchtet: und der unsägliche Reiz, den alle neuen Beleuchtungen geben, ist oft mächtig genug, um allen Anlockungen zum Selbstmorde Trotz zu bieten und das Fortleben dem Leidenden als höchst begehrenswerth erscheinen zu lassen. Mit Verachtung gedenkt er der gemüthlichen warmen Nebelwelt, in der der Gesunde ohne Bedenken wandelt.“10

Von Kranken lassen sich nicht nur mehr, sondern auch schärfere und tiefere Fragen an die Gesundheit erwarten als von Gesunden. Und wenn sie chronisch krank und laufend quälenden, bis zum Selbstmord treibenden Schmerzen ausgesetzt sind, werden sie entschlossener zur De-Asymmetrisierung der Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit bereit sein.

N IETZSCHES F UNKTIONALISIERUNG DER K RANKHEIT FÜR DIE S CHAFFUNG EINER „ GROSSEN G ESUNDHEIT “, EINER NEUEN M ORAL UND EINER NEUEN G ESELLSCHAFT Das war Nietzsche. Nietzsche hat viel und vielfältig über Gesundheit geschrieben, und darüber ist wiederum so vieles geschrieben worden, dass wir hier nicht darauf eingehen können.11 Seine Unterscheidungstechnik war dabei jedoch nicht Thema. Für sie sind der programmatische und darum auch oft zitierte Aphorismus Nr. 120 aus der ersten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1882 und ein spätes Notat von 1888 – dazwischen liegen Also sprach Zarathustra, Jenseits von Gut und Böse, das V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft und Zur Genealogie der Moral – besonders bezeichnend. In FW 120 verwirft Nietzsche, ausgehend von der traditionellen moralischen Metaphorisierung des physiologischen

10 M 114, K 3.115. Vgl. P.D. Schmücker: Die „große Gesundheit“, S. 227. Sie knüpft den Salutogenese-Ansatz ausdrücklich an Nietzsche an und arbeitet dabei mit Orientierungsbegriffen. Im Übrigen stellt sie noch einmal Nietzsches Leidensgeschichte dar. 11 Der Schwerpunkt liegt bei der französischen Nietzsche-Forschung. Vgl. M. Faustino: Auf der Suche nach der „grossen Gesundheit“. Die umfassendsten Arbeiten zu Nietzsches Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit hat Laurent Cherlonneix vorgelegt, der versucht, gleich die ganze Philosophie Nietzsches aus ihr zu verstehen (s. L. Cherlonneix: Nietzsche: Santé et Maladie.).

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Gesundheitsbegriffs („Die beliebte medicinische Moralformel (deren Urheber Ariston von Chios ist): ‚Tugend ist die Gesundheit der Seele‘“), die ihr zugrunde liegende Vorstellung der Einheit und Bestimmtheit der Gesundheit: Man müsse sie „wenigstens“ pluralisieren, „unzählige Gesundheiten des Leibes“ annehmen. Dies verhinderte eben ihre moralische Metaphorisierung; die Normal-Moral mit ihrem „Dogma von der ‚Gleichheit der Menschen‘“ führte auch unter „Medicinern“ zum „Begriff einer Normal-Gesundheit, nebst Normal-Diät, NormalVerlauf der Erkrankung“. Befreie man sich aus ihrem Bann, so zeige sich, dass die Gesundheit „bei dem Einen so aussehen [kann] wie der Gegensatz der Gesundheit bei einem Anderen“. Wird der Begriff der Gesundheit entmoralisiert, de-asymmetrisiert sich auch ihre Unterscheidung von der Krankheit, und so stellt sich die neue „grosse Frage“, „[…] ob wir der Erkrankung entbehren könnten, selbst zur Entwickelung unserer Tugend, und ob nicht namentlich unser Durst nach Erkenntniss und Selbsterkenntniss der kranken Seele so gut bedürfe als der gesunden: kurz, ob nicht der alleinige Wille zur Gesundheit ein Vorurtheil, eine Feigheit und vielleicht ein Stück feinster Barbarei und Rückständigkeit sei.“12

In der Beobachtung zweiter Ordnung wertet Nietzsche die Krankheit aufgrund ihres höheren Erkenntnisrangs um. Er funktionalisiert sie für die wissenschaftliche und philosophische Erkenntnis und eröffnet damit auch schon den Horizont für Foucaults großes historisches, wissenschaftliches und philosophisches Forschungsprogramm. In der Anmerkung zur I. Abhandlung der Genealogie der Moral hat er es auf erstaunliche Weise vorformuliert: Nachdem es gelungen sei, das sonst „so misstrauische Verhältniss zwischen Philosophie, Physiologie und Medicin in den freundschaftlichsten und fruchtbringendsten Austausch umzugestalten“, könne die „Frage: was ist diese oder jene Gütertafel und ‚Moral‘ werth?“ zukunftsträchtig angegangen werden. Ein knappes Jahr später, im Frühjahr 1888, notierte sich Nietzsche in ausdrücklicher Anlehnung an den damals hochberühmten und natürlich auch Foucault bestens bekannten französischen Physiologen Claude Bernard (18131878): „Gesundheit und Krankheit sind nichts wesentlich Verschiedenes, wie es die alten Mediziner und heute noch einige Praktiker glauben. Man muß nicht distinkte Principien, oder Entitäten daraus machen, die sich um den lebenden Organismus streiten und aus ihm ihren

12 FW 120, KSA 3.477.

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Kampfplatz machen. Das ist altes Zeug und Geschwätz, das zu nichts mehr taugt. Thatsächlich giebt es zwischen diesen beiden Arten des Daseins nur Gradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonie der normalen Phänomene constituiren den krankhaften Zustand. Claude Bernard.“13

Kurz darauf präzisiert und bekräftigt er das noch: „Nun haben wir verlernt, inzwischen, zwischen gesund und krank von einem Gegensatze zu reden: es handelt sich um Grade, – meine Behauptung in diesem Falle ist, daß was heute ‚gesund‘ genannt wird, ein niedrigeres Niveau von dem darstellt, was unter günstigen Verhältnissen gesund wäre… daß wir relativ krank sind…“14

Er geht nun davon aus, dass es zwischen Gesundheit und Krankheit keinen Gegensatz, sondern nur Gradunterschiede gibt. Man kann dann ebenso wie Krankheiten als Gradunterschiede von Gesundheit auch Gesundheiten als Gradunterschiede von Krankheit verstehen, also, in einer Beobachtung zweiter Ordnung, Gesundheit und Krankheit unterschiedlich logisch ordnen. Solche logischen Umordnungen, genauer: Transformationen von Kontradiktionen in Subordinationen, gehören zu den Grundzügen von Nietzsches Unterscheidungstechnik. Er hat sie, vor allem in seinen Notaten, an philosophisch so grundlegenden Unterscheidungen wie Leben und Tod, Wahrheit und Irrtum, Logik und Unlogik und Moral und Unmoral erprobt. Dabei wird der positive Wert ein „Spezialfall“ des negativen, z.B. das „Lebende“ ein Spezialfall des „Todten“: „Wir können uns das Werden nicht anders denken als den Übergang aus einem beharrenden ‚todten‘ Zustand in einen anderen beharrenden ,todten‘ Zustand. Ach, wir nennen das ,Todte‘ das Bewegungslose! Als ob es etwas Bewegungsloses gäbe! Das Lebende ist kein Gegensatz des Todten, sondern ein Spezialfall.“15

Was die „Wahrheit“ betrifft, so hat sich, seit wir wissen, dass es sie im alten Sinn einer Übereinstimmung unserer Begriffe mit Dingen an sich außer ihnen gar nicht geben kann, die „Aufgabe der Wissenschaft“ umgekehrt: „Nicht wie ist der Irrthum möglich, heißt die Frage, sondern: wie ist eine Art Wahrheit trotz der fundamentalen Unwahrheit im Erkennen überhaupt möglich?“16 Die „Wahrheit“

13 Nachlass 1888, 14[65], KSA 13.250f. 14 Nachlass 1888, 14[119], KSA 13.297. 15 Nachlass 1881, 11[150], KSA 9.499. 16 Nachlass 1881, 11[325], KSA 9.568.

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ist dann kein „Gegensatz zum Irrthum“, sondern „die Stellung gewisser Irrthümer zu anderen Irrthümern, etwa daß sie älter, tiefer einverleibt sind, daß wir ohne sie nicht zu leben wissen und dergleichen.”17 Der Irrtum ist zum Oberbegriff, die Wahrheit zum Spezialfall geworden. Im noch gravierenderen Fall der Unterscheidung von Logik und Unlogik seien wir, schreibt Nietzsche dann in einem für die Öffentlichkeit bestimmten Aphorismus des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft, nicht mehr „geneigt“, „unsrer menschlichen Logik […] einzuräumen, dass sie die Logik an sich, die einzige Art Logik sei (wir möchten vielmehr uns überreden, dass sie nur ein Spezialfall sei, und vielleicht einer der wunderlichsten und dümmsten –).“18 Unsere Logik könnte eine spezielle Art dessen sein, was wir für tierische Unlogik zu halten gewohnt sind, die Unlogik also wiederum der Oberbegriff und nicht der Gegensatz der Logik sein. Ebenso könnte, wie Nietzsche ausführlich in Zur Genealogie der Moral darlegt, unsere Moral ein Spezialfall von Unmoral sein, eine Rückwendung der Grausamkeit gegen andere auf sich selbst, die sich als schlechtes Gewissen, Ressentiment gegen sich selbst und, produktiv, als asketisches Ideal äußert.19 Vorbereitend notiert sich Nietzsche dazu: „Nun bringe ich eine neue Auslegung, eine ,unmoralische‘, im Verhältniß zu der unsere bisherige Moral als Spezialfall erscheint.“20 Im oben zitierten Notat von 1888 verknüpft er dann die aus einer Kontradiktion in eine Subordination transformierte Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit mit der in gleicher Weise transformierten Unterscheidung von Moral und Unmoral. Galt Moral traditionell als gut und gesund und Unmoral als böse und krank und das Gesunde wiederum als physiologisches Gleichgewicht und das Kranke als physiologische Ausuferung, so setzt Nietzsche nun gerade hier, bei der physiologischen Ausuferung an und stuft das Gesunde qua moralisch Gute als deren Hemmung ein. Es wird dann zur physiologischen Schwächung, die wiederum als moralisch gut gedeutet wird: „So gut das Böse betrachtet werden kann als Übertreibung, Disharmonie u[nd] Disproportion, so gut kann das Gute eine Schutzdiät gegen die Gefahr der Übertreibung, Disharmonie und Disproportion sein […]. Die Schwächung als Aufgabe: Schwächung der Be-

17 Nachlass 1885, 34[247], KSA 11.503. 18 FW 357, KSA 3.599. Zur Interpretation des Aphorismus in seinen Kontexten vgl. W. Stegmaier: Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 355-384. 19 Vgl. W. Stegmaier: Nietzsches ‚Genealogie der Moral’. 20 Nachlass 1885, 39[15], KSA 11.626. Vgl. Nachlass 1888, 14[103]2, KSA 13.282, und 14[137], KSA 13.321.

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gehrungen, der Lust- und Unlustgefühle, des Willens zur Macht, zum Stolzgefühl, zum Haben und Mehr-haben-wollen; die Schwächung als Demuth; die Schwächung als Glaube; die Schwächung als Widerwille und Scham an allem Natürlichen, als Verneinung des Lebens, als Krankheit und habituelle Schwäche […] die Schwächung als Verzichtleisten auf Rache, auf Widerstand, auf Feindschaft und Zorn.“21

Wenn aber die Hemmung der physiologischen Ausuferung – in der Regeltechnik die negative Rückkopplung – eine Schwächung ist, ist das Ausufern selbst eine Voraussetzung von Stärke. Es muss dann wohl beherrscht werden, damit es nicht zu einem Zerfall kommt, darf aber nicht gelähmt, sondern muss mit Hilfe der negativen Rückkopplung gezielt freigesetzt, die Hemmung selbst also spezifisch gehemmt, die De-Limitierung spezisch limitiert werden – so wird das Ausufern zum Wachstum und damit lebensfördernd, lebenssteigernd. Auf Lebenssteigerung aber legt Nietzsche es in seiner ganzen Philosophie, vor allem aber seiner späten Philosophie an. In ihr wird alles zur Funktion, Gesundheit und Krankheit, Moral und Moral, Wahrheit und Irrtum. Nietzsche nennt das auch die „grosse Form des Lebens“.22 Mit dem Begriff des Lebens macht er die De-Asymmetrisierungen und logischen Transformationen der Unterscheidungen von Gesundheit und Krankheit und Moral und Unmoral denkbar. Das Leben ist weder gesund noch krank und weder moralisch noch unmoralisch, sondern kann immer beides sein, laufend von einer Seite der Unterscheidung zur andern wechseln und auch beide Unterscheidungen miteinander verschränken. Und dennoch wird es im Ganzen positiv bewertet. Aber der Begriff „Leben“ gehört, wie bereits erwähnt, zu den axiologisch positiven und epistemologisch doch nicht positiv bestimmbaren Begriffen – und hat, sofern auch der Tod zum Leben gehört, ja, das Lebende epistemologisch ein Spezialfall des Toten ist, auch keinen Gegensatz mehr. Er ist der Begriff eines Ganzen, das sich selbst nicht abgrenzen lässt, und eben dadurch der Begriff, der immer neue Begrenzungen und Entgrenzungen, Limitierungen und De-Limitierungen ermöglicht. Nietzsche hat denn auch „Leben“ immer wieder neu und immer wieder anders, in einer Beobachtung erster Ordnung also widersprüchlich bestimmt, und wenn es der Sinn des Begriffs in Nietzsches Unterscheidungstechnik ist, immer wieder andere Bestimmungen zu ermöglichen, wird man ihm das in einer Beobachtung zweiter Ordnung nicht vorwerfen, sondern gerade zugutehalten. Und in demselben Sinn hat Nietzsche auch seinen späteren Begriff des Dionysischen

21 Nachlass 1888, 14[65], KSA 13.250f. 22 FW 344, KSA 3.576.

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oder, personifiziert, des Dionysos konzipiert.23 Leben oder Dionysos ist immer auf beiden Seiten der Unterscheidungen, durch die man etwas zu ordnen versucht, und kann, wenn man eine Unterscheidung asymmetrisiert, um Halt in der Orientierung zu finden, immer wieder nötigen, auf die andere Seite zu gehen, um sie erneut zu de-asymmetrisieren. „Leben“ ist kein logisch ordentlicher Begriff und soll es nicht sein, sondern der Begriff eben dessen, was versuchte logische Ordnungen immer wieder umwirft. Die Philosophie aber ist nach Nietzsche genau dann lebendig, wenn sie diesem Sinn des Lebens folgt, und wahr, soweit sie dem entspricht. Im Sinn dieser „grossen Form des Lebens“ hat Nietzsche dann auch eine „grosse Gesundheit“ gedacht.24 Das Prädikat „groß“ hat wiederum vor allem beim späten Nietzsche einen dreifachen Sinn. Er gebraucht es sowohl im gewohnten quantitativen Sinn, nach dem etwas eine Eigenschaft mehr als üblich, überragend zukommt, z.B. jemand einfach körperlich größer ist oder größeres Glück hat als ein anderer, als auch im gewohnten qualitativen, wertenden Sinn, nach dem etwas „bedeutender“, eindrucksvoller, wirkungsvoller als üblich ist, z.B. ein Ereignis oder eine Persönlichkeit. Aber Nietzsche gebraucht „groß“ noch in einem dritten, für seine Unterscheidungstechnik besonders interessanten rekursiven Sinn, nämlich so, dass etwas den Gegensatz, den es ausschließt, wieder einschließt, so eine Not zu einer Tugend macht und dadurch seine Lebensmöglichkeiten steigert. Das gilt etwa für die berühmte „grosse Vernunft“ des Leibes aus Also sprach Zarathustra, die ihre traditionelle Gegnerin, die leibabgewandte „kleine Vernunft“ der philosophischen Aufklärung, zu ihrem „Werkund Spielzeug“ macht,25 für den „grosse[n] Ernst“, der in Nietzsches Philosophie auch noch die Fröhlichkeit für sich einzusetzen versteht26 und für die „grosse Politik“,27 die auf dem Feld der Weltpolitik die „kleine Politik“ von Staaten, deren letztes Mittel der Krieg ist, zum Mittel eines „Geisterkriegs” macht, Geist in Gestalt von Moral, Religion, Wissenschaft, Philosophie, Ideologie, in deren Namen Kriege dann geführt – oder gestoppt werden. So bedient sich auch die „grosse Gesundheit“ ihres Gegensatzes, der Krankheit, um stärker, um „gefährlich-gesund“ zu werden.28 Gesundheit, aber auch Krankheit werden dann selbst-

23 Vgl. EH, Za 6. 24 Vgl. FW 382 u.ö. Zur kontextuellen Interpretation aller Textbelege vgl. M. Faustino: Nietzsche e a Grande Saúde. 25 Vgl. Za I, Von den Verächtern des Leibes. 26 Vgl. FW 382. 27 Vgl. EH, Warum ich ein Schicksal bin 1. 28 Vgl. FW 382.

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bezügliche, reflexive Begriffe, nach dem ebenfalls berühmten Satz aus Der Fall Wagner: „Die Krankheit selbst kann ein Stimulans des Lebens sein: nur muss man gesund genug für dies Stimulans sein!“29 Man kann die „grosse Gesundheit“ auch eine Gesundheit zweiter Ordnung nennen, sofern sie Gesundheit und Krankheit so unterscheidet, dass sie beide Seiten, auch die Krankheit, zu ihrer Erhaltung und Steigerung nutzen kann. Und aus dieser Perspektive lassen sich dann wieder gesunde und kranke Unterscheidungen unterscheiden, als Unterscheidungen, die zur großen Gesundheit beitragen oder nicht. Ausgangspunkt ist dann immer der Mensch als „das kranke Thier“, das Tier, das „kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter [ist] als irgend ein Thier sonst“ und das eben deshalb „der grosse Experimentator mit sich“ sein und sich dabei unbegrenzt steigern, aber ebenso auch zugrunde richten kann.30 Von „großer Moral“ spricht Nietzsche nicht, aber von „Selbstaufhebung der Moral“31, und in GM III 27 verknüpft er mit einer solchen Selbstaufhebung sowohl das Prädikat „groß“ als auch den Begriff des Lebens: „Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der nothwendigen ,Selbstüberwindung‘ im Wesen des Lebens.“

Eine solche sich selbst aufhebende, rekursive Moral wird zu einer Moral im Umgang mit Moral oder einer Moral zweiter Ordnung: Sie respektiert begrenzte Moralen unter begrenzten Lebensumständen, ist dabei aber über deren Grenzen hinaus und dadurch fähig, moralische Erwartungen anderer zu erfüllen, ohne dasselbe von ihnen zu erwarten, also vornehm auf Gegenseitigkeit zu verzichten.32 Das verlangt statt bloßer Orientierung an gleichgesinnten Anderen eigenverantwortliche moralische Entscheidungen oder, wie Nietzsche sie nennt, „souveraine“ Individuen.33 Sie wären, so dachte es sich Nietzsche, imstande, für die Gesellschaft im Ganzen gesunde von kranken Unterscheidungen so zu unterscheiden, dass die Übrigen sich an ihnen orientieren können und dadurch die Gesundheit der Gesellschaft im Ganzen gesteigert wird in dem Sinn, dass deren

29 WA 5. Vgl. EH, Warum ich so weise bin 2. Man könnte ebensogut umgekehrt formulieren: „Die Gesundheit selbst kann ein Stimulans des Lebens sein: nur muss man krank genug für dies Stimulans sein!“ 30 Vgl. GM III 13. 31 M, Vorrede 4. 32 Vgl. W. Stegmaier: Philosophie der Orientierung, S. 597-626. 33 Vgl. GM II 2; vgl. O. Giacoia Junior: Zu Nietzsches Satz, S. 156-177.

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Handlungs- und Lebensmöglichkeiten überhaupt vielfältiger und komplexer werden. Wie das aussehen könnte, hat er nicht mehr deutlich gemacht. Er hat es beim Pathos ihrer Ausrufung belassen.

F OUCAULTS F UNKTIONALISIERUNG DER U NTERSCHEIDUNG VON G ESUNDHEIT UND K RANKHEIT FÜR DIE E INSICHT IN DIE „B IO -P OLITIK “ DER G ESELLSCHAFT Foucault hat für die Steigerung der Gesundheit der Gesellschaft im Ganzen den ebenso realistischen wie Schauder erregenden Begriff der „Bio-Politik“ geprägt.34 Er resultiert aus Foucaults ebenso materialreichen wie tiefgründigen Analysen einer neuen Unterscheidungstechnik, die sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ausgebildet und zu einer neuen Ordnung des Wissens geführt habe. Foucault zeigt das unter anderem in einer „Archäologie des Wissens“ der Medizin, das sich damals in Spitälern für die Krankenversorgung organisierte. Zuvor waren Kranke, meist Arme, zusammen mit anderen für die Gesellschaft nicht Produktiven wie Vagabunden, Irren und Verbrechern in gemeinsame Anstalten weggesperrt worden, bis dann immer mehr spezifische Anstalten errichtet wurden, um dort, wo es an der Vernunft, dem Willen oder der Kraft fehlte, in den Dienst der Gesellschaft zu treten, korrigierend und disziplinierend einzugreifen. Dazu wurden nun auch, so Foucaults Zugang, Anstalten wie Gefängnisse, Kasernen und Schulen errichtet. Die europäische Gesellschaft, die sich Schritt für Schritt demokratisierte, begriff sich immer mehr als Anstalt der Erziehung ihrer Bürger zur Förderung ebenso ihres eigenen wie des Gemeinwohls. Dabei wurde

34 Heute vielleicht sein berühmtester Begriff, hat ihn Foucault selbst doch nur wenig ausgearbeitet. Das lässt vielfachen Interpretationen Raum. Zu einer präzisen Situierung in Foucaults Werk vgl. P. Sarasin: Michel Foucault zur Einführung, S. 166-171, und P. Gehring: Bio-Politik/Bio-Macht, S. 230-232. Zu den gegensätzlichen Interpretationen vgl. C. Geyer (Hg.): Biopolitik. Die Positionen; zu historischen Hintergründen des Begriffs (auch dazu, dass nationalsozialistisch gesonnene Wissenschaftler ihn zuerst gebraucht zu haben scheinen) M. Stingelin (Hg.): Biopolitik und Rassismus. Zur ebenfalls vielfach erörterten Frage von Foucaults Verhältnis zu Nietzsche vgl. zuletzt M. Brusotti: „Lauter dunkle Machtbeziehungen“, der im Durchgang durch das Werk Foucaults kritisch den erfindungsreichen Gebrauch nachzeichnet, den er von Nietzsche machte. Im Blick auf Foucaults Unterscheidungstechnik kann und muss all das nicht neu thematisiert werden.

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die Produktion gesunder, tüchtiger Körper zu einer vorrangigen Aufgabe der Politik. Die Idee einer organisierten Produktion von Gesundheit aber setzt deren ständige Gefährdung durch Krankheit voraus. So wurde die Gesellschaft im Ganzen meist stillschweigend – erst Nietzsche tat das mit schonungsloser Direktheit – für krank erklärt, damit sie organisiert geheilt werden konnte. Organisiert geheilt hieß dann nicht mehr einfach gesund, sondern brauchbar, funktionsfähig in nun spezifisch bestimmbaren Hinsichten; von der Bestimmbarkeit der Gesundheit wurde jetzt politisch Gebrauch gemacht. Das zielte nicht nur auf die Erhaltung und Vermehrung der Bevölkerung, wozu die Sexualität von Staats wegen zur Sprache gebracht und geregelt werden musste, sondern auch auf die Steigerung ihrer ökonomischen Produktivität in Konkurrenz mit anderen Gesellschaften, in der man sich immer wieder auch in Kriegen zu behaupten hatte, die hohe körperliche Fitness verlangten. Das ist inzwischen, mit der Zeit in vielem abgewandelt, selbstverständlich, wenn auch weiterhin wenig ausgesprochen geworden. Foucault wollte mit dem Begriff der Bio-Politik nicht anklagen, so sehr er moralisch irritiert. Denn zur gesellschaftlich organisierten Bio-Politik gehörte inzwischen auch moralisch so hoch Geschätztes wie Seuchenbekämpfung, Impfkampagnen, flächendeckende medizinische Versorgung, allgemeine Krankenversicherung, Familienförderungs- und Einwanderungspolitik, Entdiskriminierungs- (z.B. Homosexualität) und Diskriminierungspolitik (z.B. Kindesmissbrauch), auf die moderne demokratische Gesellschaften keinesfalls verzichten wollen. Auch wenn man erfahren musste, wie entsetzlich Bio-Politik in staatlich organisierte Eugenik, Rassismus, ethnische Säuberung, Völkermord ausufern kann, ist auf Bio-Politik schlechthin nicht mehr zu verzichten.35 Die neue Unterscheidungstechnik, die Bio-Politik denkbar machte, war auch in der Medizin auf Entmoralisierung angelegt, der Foucault nun ihre Entpathetisierung folgen ließ. Sie gelang ihm durch seine Arbeit einerseits in Archiven,

35 V. Lemm: Nietzsche‘s Animal Philosophy, S. 152-156, re-moralisiert das Konzept der Bio-Politik, wenn sie bei Foucault eine positive und eine negative Bio-Politik unterscheidet und sich dazu auf Nietzsches „abgründlichen Antagonismus von Cultur und Civilisation“ beruft (Nachlass 1888, 16[10], KSA 13.485f.): Kultur stehe für die kreative „Sorge um sich selbst“ des lebenskräftigen Individuums und sei zu fördern, Zivilisation stehe für die Domestizierung und Versklavung der Gesellschaft und sei zu bekämpfen. Aber weder Nietzsches noch Foucaults Texte geben das her. Moralische Korrektive der Bio-Politik sind jenseits der spezifisch deutschen Unterscheidung von Kultur und Zivilisation am ehesten durch eine ausgeprägte demokratische Kultur zu sichern, für die zumindest Nietzsche kein Garant ist.

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andererseits in den Anstalten, von denen er handelte, inbesondere einer psychiatrischen Klinik, in der er ein zweijähriges Praktikum absolvierte. Er startete so schon mit Beobachtungen zweiter Ordnung, systematischen Beobachtungen von Beobachtungen dort der schreibenden, hier der praktizierenden Ärzte. Sein Ziel war, wie er am Ende des Vorworts zu Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks von 1963 schrieb,36 „ohne jede wertende Intention die Bedingungen der Möglichkeiten der medizinischen Erfahrung, wie wir sie seit dem vorigen Jahrhundert kennen, zu bestimmen.“ Mit der Einrichtung der Kliniken und ihren neuen, organisierten Diagnose- und Therapiemöglichkeiten sei auch ein neuer „ärztlicher Blick“, also eine neue ärztliche Unterscheidungstechnik entstanden, für deren Analyse und an deren Beispiel Foucault seine eigene historisch-wissenschaftlich-philosophische Unterscheidungstechnik ausbildete, die damit selbstbezüglich wurde. Wie schon seine vorigen Bücher zum Wahnsinn war auch sein Buch zur Klinik „ein Versuch, […] zu einer Methode zu gelangen“,37 einer Methode, die sich an ihren Gegenständen laufend selbst korrigieren sollte. Foucault lernte am sich professionalisierenden „klinischen Blick“ der Mediziner den eigenen, zugleich medizinisch, historisch und strukturalistisch geschulten philosophischen Blick zu professionalisieren und dabei, als „Archäologe“, den Boden aufzuwühlen, auf dem er selbst stand. Der Gegenstand seiner Analyse, der „klinische Blick“, organisierte sich, wie Foucault eingangs zusammenfasst, „vom Raum, von der Sprache und vom Tod“ her.38 Vom Raum: Um die Wende zum 19. Jahrhundert sei auch die Krankheit de-ontologisiert worden; statt Identitäten, Wesen und Gründe der Krankheiten in der Tiefe zu suchen, habe man sich darauf konzentriert, Symptome zu beobachten, die sich auf Körperoberflächen ausbreiten, in laufenden Metamorphosen einer Krankheit wechselnde Kombinationen eingehen und wiederum im Raum, auf Tableaus, übersichtlich geordnet werden können. Foucault de-asymmetrisierte auch die Unterscheidung von Tiefe und Oberfläche, die Philosophen bis hin zu Heidegger weite Forschungsgründe erschloss und auf der auch Nietzsche noch bestanden hatte. In der Klinik konnte man aus der familiären Umgebung isolierte Patienten distanziert, kühl, regelmäßig und vor allem vergleichend beobachten; sie boten sich hier leichter und stärker als wissenschaftliche Objekte dar. Im „seriellen Zusammenhang“ des „pathologischen Faktums“39 erscheint dessen Wahr-

36 M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 17. Wir werden hier, wo es um Gesundheit und Krankheit geht, bei dieser Schrift bleiben. 37 Ebd., S. 206. 38 Ebd., S. 7. 39 Vgl. ebd., S. 123.

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heit statt in einer unergründlichen Tiefe in der variierten „Wiederholung“ als „Kollektion“ auf Oberflächen;40 beobachtet werden in einer Skala zwischen dem Normalen und dem Pathologischen (Georges Canguilhem) lediglich Unterschiede des Verlaufs und des Grades von Krankheiten. Von der Sprache: Um wiedererkannt zu werden, müssen die Beobachtungen benannt werden. Die Sprache – seine strukturalistische Schulung lässt Foucault das besonders betonen – hält nicht nur fest, was man sieht, sondern führt auch den Blick. Ärzte müssen darum nicht nur in ihrem klinischen Blick, sondern auch sprachlich diszipliniert werden. Die klinische Sprache soll „das zum Sprechen bringen, was jedermann sieht, ohne es zu sehen, und zwar soll sie es nur für die zum Sprechen bringen, die in die wahre Rede eingeweiht sind.“41 Die „Beschreibungsformel“ ist zugleich „Enthüllungsgeste“.42 Sprachlich geordnet, werden aus Symptomen diakritische Zeichen, durch die Krankheiten schließlich diagnostiziert, also identifiziert werden können. Im Ansatz bei der gezielten Beobachtung von Oberflächen repräsentiert die Sprache nicht mehr, sondern registriert. Der Beschreibung wird bewusst, dass sie immer vor der Wahl von Unterscheidungen steht, dass Unterscheidungen sich nicht von selbst anbieten, sondern über sie entschieden wird. Die „Logik von Operationen“,43 die sich aus der Durchdringung von professionellem Blick und professioneller Sprache ergibt, findet die Wahrheit nicht vor und deckt sie auf, sondern erzeugt sie, der ärztliche Blick, die Unterscheidungstechnik wird „souverän“.44 Sie genügt sich selbst. Vom Tod: Krankheiten sind selbst eine Art der Auflösung, griechisch der Analyse. Am Auseinanderfallen kann man studieren, wie die Dinge zusammenhängen.45 Aber erst bei Toten ist die (medizinische) Analyse dieser (physiologischen) Analyse vollständig möglich. Die Zusammenhänge können sich nicht wiederherstellen, und man kann die Leichen öffnen. Foucaults Untersuchung kreist im Ganzen um Xavier Bichat (1771-1802), der entschlossen obduzierte und als Begründer der Pathologie und Histologie gilt. Der Tod, so Foucault, wurde durch ihn mehr noch als die Krankheit zum Erkenntnismittel; nunmehr bildeten „Leben, Krankheit und Tod eine technische und begriffliche Dreifaltigkeit“,46 den Horizont der neuen Unterscheidungstechnik. Dabei ist „Leben“ auf

40 Vgl. ebd., S. 124. 41 Ebd., S. 129. 42 Vgl. ebd., S. 207. 43 Vgl. ebd., S. 123. 44 Vgl. ebd., S. 131. 45 Vgl. ebd., S. 158. 46 Ebd.

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beobachtbares physiologisches Leben zurückgenommen und damit wieder Gegensatz zum Tod, nun aber in einer ihrerseits de-asymmetrisierten Unterscheidung, in der der Tod den epistemologischen Vorrang hat (und nicht nur ihn: das 19. Jahrhundert kultivierte den Tod auch in der schönen Literatur). Mit der Umwertung des Todes in der Pathologie begann die eigentlich „positive Medizin“: „,Positiv‘ ist hier im vollen Sinn des Wortes zu verstehen. Die Krankheit löst sich von der Metaphysik des Übels, mit der sie jahrhundertelang verbunden war, und findet in der Sichtbarkeit des Todes die adäquate Form, in der ihr Gehalt positiv erscheint.“47

In der ärztlichen Unterscheidungstechnik, wie Foucault sie beschreibt, kann man leicht seine eigene wiedererkennen. Auch er muss das, was er beschreibt, um es hinreichend beschreiben zu können, als tot voraussetzen oder es abtöten. Jede wissenschaftliche, entmoralisierte, entpathetisierte Beschreibung muss das, wenn ihre Objekte ihr nicht quirlig entgleiten sollen. Dabei ist jede Unterscheidungstechnik auf ihre eigene Sprache, ihre eigenen Entscheidungen für Unterscheidungen angewiesen, die sie sehend für bestimmte Objekte, aber auch blind für andere macht. Und jede Analyse muss, wenn sie Übersicht über ihre Unterscheidungen gewinnen will, sie flächig auf einem Tableau ordnen, in denen sie Strukturen bilden und, wo immer nötig, wieder umbilden kann. Foucault hat das auf die Konzepte des „Diskurses“ und seiner Formationen oder der „Episteme“ geführt. Ein Diskurs umfasst das, was an etwas beobachtet und über es gesagt wird; „etwas“ besteht eben in dem, was an ihm beobachtet und über es gesagt wird. Dazu gehören alle dabei ins Spiel kommenden Unterscheidungen, die Umstände dieses Ins-Spiel-Kommens und die Bedingtheit dieser Umstände, aber auch das so Unterschiedene und die so Unterscheidenden. Sie spielen im Diskurs mit, ohne ihn zu beherrschen; sie können ihrerseits in ihm unterschieden werden oder auch nicht. Subjekte, Menschen haben in ihm keine ausgezeichnete Stellung; Foucault hat seine weiteren Diskursanalysen auf den „Tod“ des Subjekts und des Menschen hinauslaufen lassen, sie von ihm her organisiert. Das bedeutet, dass man philosophisch, wenn man von „etwas“, was auch immer, spricht, von Unterscheidungen auszugehen und die Techniken zu beobachten hat, nach denen sie gebraucht werden, was selbst wieder nur durch eine Technik der Unterscheidung möglich ist. Die Unterscheidungstechnik ist danach das Letzte, was der Beobachtung zur Verfügung steht, die letzte beobachtbare Realität – für eine Unterscheidungstechnik.

47 Ebd., S. 207.

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So ebnen sich auch die Ebenen der Beobachtung erster und zweiter Ordnung wieder ein: Sie oszillieren im Netzwerk der Beobachtungen so stark, dass sie ebenfalls immer erst eigens unterschieden werden müssen, wenn und soweit es die Unterscheidungstechnik fördert. Foucault hat diese Einebnung in den Begriff des Machtdispositivs gefasst: Dass ein Diskurs so abläuft, wie er abläuft, ist einer Struktur zu verdanken, die sich mit der Zeit eingespielt, durchgesetzt und verfestigt hat und nun regelt, was sich wie beobachten und sagen lässt. Foucault transformiert damit Nietzsches Gedanken von Willen zur Macht, die nach ihm alle Formierungen, individuelle wie soziale, bestimmen, und kühlt auch ihn herab – mit dem Begriff des Dispositivs, der bloßen raum-zeitlichen Verteilung dessen, was ins Spiel kommen kann oder darf. Danach sind es solche Machtdispositive, die die Diskurse einer Gesellschaft organisieren, auch die über ihre Gesundheit. Es ist dann nicht die Frage, ob man gegen sie aufbegehrt oder sich in sie schickt, denn auch Empörungen und Resignationen werden durch Machtdispositive geregelt. Und auch deren Analytiker können sich ihnen nicht entziehen. Aber sie können sie durch eine geeignete Unterscheidungstechnik beobachten, sichtbar machen und aussprechen – und eben damit auch schon, wenn auch nur in Spielräumen, verändern. Nach Foucault ist es die Medizin, von der man das zunächst lernen kann, die Medizin, der sich in modernen Gesellschaften von klein auf niemand entziehen kann.

L ITERATUR Antonovsky, Aaron: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen: dgvt 1997. Brusotti, Marco: „‚Lauter dunkle Machtbeziehungen‘. Foucault, Nietzsche und die Diskontinuität“, in: Steffen Dietzsch/Claudia Terne (Hg.), Nietzsches Perspektiven. Über Dichten und Denken in der Moderne. Festschrift für Renate Reschke, Berlin/Boston: de Gruyter 2014, S. 346-363. Caysa, Volker: „Gesundheit/Krankheit“, in: Henning Ottman (Hg.), NietzscheHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 242-243. Cherlonneix, Laurent: Nietzsche: Santé et Maladie, l'Art, Paris: Editions L'Harmattan 2002. Cherlonneix, Laurent: Philosophie Medicale de Nietzsche: la Connaissance, la Nature, Paris: Editions L'Harmattan 2002. Faustino, Marta: Nietzsche e a Grande Saúde. Para uma Terapia da Terapia, Diss. Lissabon 2013.

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Faustino, Marta: „Auf der Suche nach der ‚grossen Gesundheit‘. Französische Neuerscheinungen zum Thema Gesundheit und Krankheit im Denken Nietzsches“, in: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 639-646. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (1963) [abgekürzt: GK], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. Gehring, Petra: „Bio-Politik/Bio-Macht“, in: Clemens Kammler/Rolf Pfarr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar: Carl Ernst Poeschel Verlag 2008, S. 230-232. Geyer, Christian (Hg.): Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Giacoia, Oswaldo Junior.: „Zu Nietzsches Satz ‚autonom‘ und ‚sittlich‘ schliesst sich aus‘ (GM II 2)“, in: Nietzsche-Studien 40 (2011), S. 156-177. Horn, Anette: „Gesundheit/Krankheit“, in: Christian Niemeyer (Hg.), NietzscheLexikon, Darmstadt: WBG 2011, S. 132-133. Lemm, Vanessa: Nietzsche‘s Animal Philosophy. Culture, Politics, and the Animality of the Human Being, New York: Fordham University Press 2009. Luhmann, Niklas: „Wie ist soziale Ordnung möglich?“, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd. 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 195-285. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, München/Berlin/New York: dtv 1980 (EH = Ecce Homo, Bd. 6; FW = Die Fröhliche Wissenschaft, Bd. 3; GM = Zur Genealogie der Moral, Bd. 5; M = Morgenröthe, Bd. 3; WA = Der Fall Wagner, Bd. 6; Nachlass, Bd. 7-13). Sarasin, Philipp: Michel Foucault zur Einführung, Hamburg: Junius 2005. Schmücker, Pia D.: „Die ‚große Gesundheit‘ als Salutogenese oder Krankheit als Stimulanz des Lebens“, in: Volker Caysa/Konstanze Schwarzwald (Hg.), Nietzsche – Macht – Größe. Nietzsche – Philosoph der Größe der Macht oder der Macht der Größe, Berlin/Boston: de Gruyter 2012, S. 225-243. Stegmaier, Werner: Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft, Berlin/Boston: de Gruyter 2012. Stegmaier, Werner: Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘. Werkinterpretation, Darmstadt: WBG 1994. Stegmaier, Werner: Philosophie der Orientierung, Berlin/New York: de Gruyter 2008. Stingelin, Martin (Hg.): Biopolitik und Rassismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.

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Vonessen, Franz: „Gesund, Gesundheit“, in Joachim Ritter/Karlfried Gründer/ Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, Basel/Darmstadt: Schwabe Verlag/WBG 1974, Sp. 559-561.

In Verteidigung des Anormalen Skizze eines ordnungsethischen Forschungsprogrammes im Anschluss an Foucault GA L IA AS S A D I Die Erörterung mußte hastig das Schicksal oder die Neigung des modernen Denkens reduplizieren, um schließlich den Scheitelpunkt zu erreichen: diese heutige, noch blasse, aber vielleicht entscheidende Klarheit, die uns wenn auch nicht völlig das Umgehen, so doch wenigstens die fragmentarische Beherrschung und Meisterung dessen gestattet, was von dem an der Schwelle des modernen Zeitalters gebildeten Denken noch bis zu uns reicht, uns einhüllt und als kontinuierliches Fundament für unseren Diskurs dient. M. FOUCAULT: ORDNUNG DER DINGE, S. 307.

E INLEITUNG Betrachtet man die Fülle der Literatur, die in den letzten Jahrzehnten zu Michel Foucaults Werk erschien und achtet hierbei auf die Quantität an theoretischen Anschlüssen, zeigt sich, dass einige Werke fruchtbarere Werkzeugkisten1 als an-

1

Foucault selbst ermutigt seine Leser, seine Werke als Werkzeugkästen zu nutzen und somit als theoretische Instrumente, mit Hilfe derer am Projekt einer Demontage aktueller Machtsysteme gearbeitet werden kann. „Alle meine Bücher, sei es ‚Wahnsinn

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dere darstellten. So regten bspw. das 1976 erschienene Überwachen und Strafen, die Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität aus den späten 1970ern, sowie die ab 1987 publizierte dreibändige Schriftenreihe Sexualität und Wahrheit vielfältige (und teils kontroverse) inhaltliche Auseinandersetzungen an, die sich vor allem im Bereich der Soziologie, der Politologie sowie der Kultur- und Literaturwissenschaften auffinden lassen.2 In methodischer Hinsicht boten insbesondere Die Archäologie des Wissens aus dem Jahre 1973 und die 1970 am Collège de France gehaltene Antrittsvorlesung Die Ordnung des Diskurses ergiebige Instrumente an, so dass sich eine Tradition der an Foucault anschließenden Form der Diskursanalyse3 etablieren konnte. Während die genannten Werke wie Katalysatoren auf die bestehende geisteswissenschaftliche Diskurslandschaft wirkten und deren Ordnung nachhaltig veränderten, produzierten andere Werke zwar zahlreiche, jedoch kurzfristige Effekte. So löste bspw. die 1966 publizierte Ordnung der Dinge zum Zeitpunkt ihres Erscheinens eine kontrovers geführte Diskussion aus, die u.a. im sog. ‚Humanismusstreit‘4 zwischen Michel Foucault und Jean-Paul Sartre resultierte. Gegen Ende der 1970er jedoch verringerte sich das Interesse an der weiterführenden Auseinandersetzung mit dem Werk und jenseits der Reproduktion der bekannten These vom ‚Tod des Menschen‘ finden sich wenige weiterführende Anschlussversuche5.

und Gesellschaft‘ oder dieses da, sind, wenn Sie so wollen, kleine Werkzeugkisten. Wenn die Leute sie aufmachen wollen und diesen oder jenen Satz, diese oder jene Idee oder Analyse als Schraubenzieher verwenden, um die Machtsysteme kurzzuschließen, zu demontieren oder zu sprengen, einschließlich vielleicht derjenigen Machtsysteme, aus denen diese meine Bücher hervorgegangen sind – nun gut, um so besser.“ (M. Foucault: Schriften II, S. 679) 2

Vgl. bspw. U. Bröckling/S. Krassmann/T. Lemke: Gouvernementalität der Gegenwart, L. Gertenbach: Die Kultivierung des Marktes, S. Opitz: Gouvernementalität im Postfordismus, M. Pieper/E. Gutiérrez Rodriguez: Gouvernementalität sowie J. Butler: The Psychic Life of Power.

3

Vgl. bspw. R. Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse sowie R. Keller/A. Hirseland: Diskursforschung.

4

Für ausführliche Informationen bezüglich der philosophischen und politischen Hintergründe und Auswirkungen dieser Auseinandersetzung vgl. M. Richter: Freiheit und Macht.

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Eine äußerst interessante Form der Weiterentwicklung, die die archäologische Methodik Foucaults nutzt, um Erkenntnisse bezüglich der theoretischen und praktischen Be-

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Da die Quantität der Rezeption jedoch keinesfalls Rückschlüsse über den theoretischen Reichtum eines Werkes zulässt, wird im Rahmen dieses Artikels ein Beitrag zur weiteren Erschließung des Potentials der Ordnung der Dinge geleistet. Zu diesem Zweck wird der Vorschlag gemacht, Foucaults Erkenntnisse bezüglich der Ordnung der modernen episteme als Heuristik zu nutzen, um die Architektur des modernen psychiatrischen Diskurses zu untersuchen und diesen als in sich differenzierten Antwortversuch auf die paradoxale Konfiguration der modernen episteme zu rekonstruieren. Abschließend wird der Versuch unternommen, diese Form der Rekonstruktion in (medizin-)ethischer Hinsicht fruchtbar zu machen und aufzuzeigen, in wie fern ein an Foucault anschließender ordnungsethischer Zugriff zur Überwindung der engen Grenzen der Individualethik genutzt werden kann6. Somit kann einerseits ein Beitrag zur philosophischen Debatte geleistet werden, der sich orthogonal zu den bestehenden Konflikten im Bereich der Modelle von Gesundheit und Krankheit positioniert, indem er auf deren gemeinsame Grundlagen reflektiert. Andererseits kann ausgehend von diesem argumentativen Fundament das ethische Kritik- und Lösungspotential eines ordnungsethischen Modells, mit Hilfe dessen Subjektivität und Sozialität in ihren Wechselwirkungen gedacht werden können, nachgewiesen werden. Hierzu wird in einem ersten Schritt kurz Foucaults Beschreibung der Architektur der modernen episteme skizziert (2). Aufbauend auf dieser Grundlage wird in einem zweiten Schritt kurz die Ordnung des philosophischen Diskurs zum Themenkomplex psychische Krankheit skizziert, um aufzuzeigen, in wie fern die innerhalb des Diskurses vertretenen differenten Positionen als unterschiedliche Lösungsansätze zum Umgang mit der paradoxalen Figur des modernen Subjekts rekonstruiert werden können. Darüber hinaus wird aufgezeigt, dass der aktuelle Diskurs über systematische Leerstellen in Hinblick auf die Reflexion der Zusammenhänge zwischen Wissens-/Gesellschafts- und Krankheitsordnung verfügt, die mit Hilfe des Foucaultʼschen Instrumentariums geschlossen werden könnten. Indem neben den konkreten theoretischen und praktischen Bedingungen, die Wissensproduktion und Machtausübung gestatten, auch die epistemischen Möglichkeitsbedingungen als deren Grundlage berücksichtigt werden, kann eine weitreichendere Perspektive auf die Funktionsweise der modernen Psychiatrie eingenommen werden und differente Möglichkeiten zu deren Kritik

dingungen, die das Erscheinen von Begriffen und Diskursen ermöglichen, zu gewinnen, bietet Ian Hacking an. Vgl. I. Hacking: Historische Ontologie. 6

Einen ersten Entwurf, der aufzeigt, in wie fern Foucaults Analysen für den aktuellen Diskurs um die Novellierung des DSM fruchtbar gemacht werden können, bieten auch G. Assadi/O. Friedrich: Was ihr wollt.

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aufgezeigt werden. Hierzu können Foucaults Analysen mit bereits entwickelten ordnungsethischen Konzeptionen verbunden werden, wodurch eine Form der ethischen Reflexion entwickelt werden kann, die einen substantiellen, sozialphilosophischen und ordnungsethischen Beitrag zur normativen Diskussion um die gesellschaftlichen Grundlagen und Funktionen der Psychiatrie leistet und der ethischen Debatte neue Orientierung zu geben vermag (3).

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Versucht man sich einem Verständnis des Pathologischen zu nähern, bieten sich zwei Wege an. Erstens kann das Pathologische als eigenständiges Gebiet in den Fokus genommen werden, dessen Analyse Rückschlüsse über die normale Funktionsweise zulässt7. Zweitens kann das Pathologische als Ausnahme verstanden werden, die erst vor der Hintergrundfolie des Normalen in Erscheinung treten kann, womit das Normale als Ausgangspunkt der Analyse gesetzt und in seinem hegemonialen Status bestätigt wird. Da der Terminus des Pathologischen, ebenso wie dessen Genese und Klassifikation innerhalb der differenten Diskurse über psychische Pathologien umstritten sind, wird im Rahmen dieses Artikels der zweite Weg eingeschlagen. Ausgehend von der Annahme, dass das Pathologische ohne die gleichzeitig vertretene Idee der Normalität nur eingeschränkt erkannt werden kann, wird im Folgenden kurz Foucaults Skizze der Ordnung der Moderne und somit normaler moderner Subjektivität rekonstruiert, um zu demonstrieren, dass den inter- und intradisziplinären Differenzen eine Ebene der geteilten Möglichkeitsbedingungen zugrunde liegt. Wie also versteht die Moderne das normale Subjekt? Im Rahmen der Ordnung der Dinge entwickelt Foucault mittels der Kontrastierung der Wissenskonfigurationen (episteme) dreier historischer Epochen (Renaissance, Klassik und Moderne) eine Beschreibung der Ordnung der Möglichkeitsbedingungen, auf deren Grundlage sowohl theoretische Ordnungen der

7

Diese Form der Wissensproduktion findet sich insbesondere im medizinischen Kontext häufig. Man denke hierbei z.B. an den Neurologen Oliver Sacks, dessen Schilderung über die pathologischen Effekte spezifischer Hirnschädigungen einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Hirnfunktionen leisteten. Vgl. z.B. O. Sacks: Der Mann bzw. Derselbe: Der Tag.

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Wahrheitsproduktion als auch soziale Ordnungen der Gesellschaftsorganisation basieren.8 Hierbei konkretisiert er den Begriff der episteme wie folgt: „Unter Episteme versteht man in der Tat die Gesamtheit der Beziehungen, die in einer gegebenen Zeit die diskursiven Praktiken vereinigen können, durch die die epistemologischen Figuren, Wissenschaften und vielleicht formalisierten Systeme ermöglicht werden; den Modus, nach dem in jeder dieser diskursiven Formationen die Übergänge zur Epistemologisierung, zur Wissenschaftlichkeit und zur Formalisierung stattfinden und sich vollziehen […]. Die Episteme ist keine Form von Erkenntnis und kein Typ von Rationalität, die, indem sie die verschiedensten Wissenschaften durchdringt, die souveräne Einheit eines Subjekts, eines Geistes oder eines Zeitalters manifestierte; es ist die Gesamtheit der Beziehungen, die man in einer gegebenen Zeit innerhalb der Wissenschaften entdecken kann, wenn man sie auf der Ebene der diskursiven Regelmäßigkeiten analysiert.“9

Er argumentiert hierbei, dass sich im Zeitraum zwischen 1775 und 1825 eine Transformation im Bereich der Wissenskonfigurationen nachzeichnen lässt, in deren Verlauf die auf Repräsentation basierende Wissensordnung der Klassik (1650-1775) abgelöst wird. Im klassischen Zeitalter wurde die Errichtung von theoretischen und praktischen Ordnungen dadurch ermöglicht, dass der Repräsentation das Potential zugeschrieben wurde, die geteilte Seinsweise von Dingen und Worten zu definieren, zu analysieren und zu klassifizieren. Da Worte und Dinge als Resultate desselben Ordnungsprinzips verstanden wurden, konnte einer universalen Ordnungswissenschaft, der mathesis bzw. der taxinomia, das Vermögen attestiert werden, diese mit denselben Methoden zu analysieren und in einem gemeinsamen Wissensraum zu positionieren. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verliert diese Konfiguration der Möglichkeitsbedingungen von Wissen

8

„Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird. Am entgegengesetzten Ende des Denkens erklären wissenschaftliche Theorien oder die Erklärungen der Philosophen, warum es im Allgemeinen eine Ordnung gibt, welchem allgemeinen Gesetz sie gehorcht, welches Prinzip darüber Rechenschaft ablegen kann, aus welchem Grund eher diese Ordnung als jene errichtet worden ist. Aber zwischen diesen beiden so weit auseinanderliegenden Gebieten herrscht ein Gebiet, das obwohl es eher eine Zwischenrolle hat, nichtsdestoweniger fundamental ist.“ (M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 22-23)

9

M. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 272-273.

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ihre selbstverständliche und unhinterfragte Gültigkeit; eine These, die Foucault anhand der Analyse der Publikationen des Ökonomen David Ricardo, des Sprachwissenschaftlers Franz Bopp, des Biologen Georges Cuvier ebenso wie Kants 1781 erschienener Kritik der reinen Vernunft belegt.10 Foucault beschreibt den Übergang zwischen den epistemai nicht als kontinuierlichen, reformatorischen Transformationsprozess, sondern als diskontinuierliches, unerklärbares und revolutionäres Ereignis im Raum des Wissens. Nach dem Bruch mit der klassischen episteme zeichnet sich dieser durch eine unaufhebbare Spaltung zwischen Denken und Sein aus. Trennt man jedoch den Konnex zwischen Denken und Sein und löst die durch das gemeinsame Ordnungsprinzip gewährleistete Bindung zwischen ihnen, eröffnet sich in Hinblick auf beide Bereiche die Frage nach dem Garanten der Ordnung, die im Zuge der epistemischen Umwälzungen in neuer Form beantwortet wird. Im Bereich des Denkens wird das transzendentale Subjekt als souveräner Erkenntnisgarant und alleiniger Urheber von und Verantwortlicher für soziale Ordnung konstituiert und gleichzeitig entstehen im Bereich des Seins in Gestalt von Arbeit, Leben und Sprache Quasi-Transzendentalien, die die Einheit, Ordnung und somit das Erscheinen der Positivitäten erst ermöglichen. Während die Kantische Theoriebildung aus wohlbegründeten Überlegungen heraus von einer konstitutiven, unaufhebbaren Differenz ausging, die zwischen dem der Erfahrung zugänglichen Bereich der empirischen Erkenntnisinhalte und den die Erfahrung ermöglichenden Bereich der Erkenntnisformen, dessen Ordnung und Funktionsweise mittels vernünftiger Reflexion erkannt werden kann, scharf trennte, kommt es im Verlauf der nachkantischen Theoriebildung zu einer Aufhebung dieser Differenz. Die moderne episteme erfindet sich den Menschen als empirisch-transzendentale Dublette und somit fungiert nicht mehr das erfahrungsunabhängige, ahistorische, transzendentale Subjekt als Garant der Erkenntnis, sondern das den Gesetzmäßigkeiten der Positivitäten unterworfene konkrete historische Subjekt. Der Mensch in Gestalt der paradoxen Figur der empirisch-transzendentalen Dublette betritt die historische Theoriebühne, die er bis zum heutigen Tage nicht verlassen hat. „Erst als die Naturgeschichte zur Biologie, die Analyse der Reichtümer zur Ökonomie und vor allem die Reflexion der Sprache zur Philologie wird und jener klassische Diskurs er-

10 An dieser Stelle kann aufgrund des thematischen Zuschnitts und der inhaltlichen Begrenzung dieses Artikels Foucaults komplexe Argumentation nur in Umrissen wiedergegeben werden. Eine ausführliche Rekonstruktion findet sich in G. Assadi: Ordnung durch Verantwortung, S. 21-52.

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lischt, in dem das Sein und die Repräsentation ihren gemeinsamen Platz fanden, erscheint in der tiefen Bewegung einer solchen archäologischen Veränderung der Mensch mit seiner nicht eindeutigen Position als Objekt für ein Wissen und als Subjekt, das erkennt: Unterworfener Souverän, betrachteter Betrachter […].“11

Die moderne episteme lässt sich demnach als eine Wissenskonfiguration beschreiben, die sich dadurch auszeichnet, dass sie dem Menschen die Position des Souveräns zuschreibt, der sowohl über das Vermögen verfügt, als Garant der Erkenntnis zu fungieren, als auch die Rolle des Konstrukteurs und Realisators einer guten und gerechten Sozialordnung auszufüllen. Gleichzeitig entdeckt sich der Mensch als in zweifacher Hinsicht endliches Wesen, da er sowohl in Bezug auf seine Erkenntnismöglichkeiten beschränkt ist, wie Kant nicht müde wird zu betonen, als auch in Hinblick auf sein Verhältnis zu den Positivitäten Arbeit, Leben und Sprache, deren Gesetzmäßigkeiten er als arbeitendes, lebendes und sprechendes Wesen unterworfen ist. Indem er diese Form der epistemischen Architektur als paradoxal rekonstruiert, kann Foucault Theoriemodelle, die Aussagen über die Wahrheit des Erkenntnissubjekts zu treffen suchen, als Antworten auf die Herausforderungen der Paradoxie des modernen Menschen rekonstruieren. Er unterscheidet hierbei zwischen zwei Lösungsstrategien, der positivistischen und der eschatologischen Reflexionsform. Die positivistische Lösungsstrategie denkt ausgehend von der Bedingtheit des den Gesetzmäßigkeiten von Arbeit, Leben und Sprache unterworfenen Erkenntnissubjekts und löst die Paradoxie aus Souveränität und Unterwerfung dadurch auf, dass sie auf ahistorische, natürliche Bedingungen der Erkenntnis rekurriert. Da diese als axiomatischer Anker fungieren, wird das Subjekt hierbei primär als bedingtes und unterworfenes in den theoretischen Blick genommen. Die eschatologische Denkform hingegen beantwortet den Widerspruch dadurch, dass sie ausgehend von der Souveränität des Erkenntnissubjekts denkt, dessen Wahrheit unter Rekurs auf die Geschichte der Erkenntnisformen entschlüsselt werden könne und insofern immer als eine zukünftige, noch zu erreichende Erkenntnis gedacht wird. Trotz der Differenzen zwischen beiden Modellen, betont Foucault deren Gemeinsamkeiten, indem er darauf verweist, dass sie nur vor dem Hintergrund der sie ermöglichenden epistemischen Rahmenordnung als Lösungsstrategien adäquat verstanden werden könnten. Überträgt man diese Thesen auf das moderne psychiatrische Denken und nutzt Foucaults Erkenntnisse als Heuristik, eröffnet sich eine neuartige Perspektive auf die Auseinandersetzung zwischen naturalistischen und normativistischen Krankheitsmodellen, die im Folgenden entfaltet wird.

11 M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 377.

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DES PHILOSOPHISCHEN ÜBER PSYCHISCHE ANORMALITÄT

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Nach den großen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Funktion, die Legitimationsgrundlage und die Krankheitsdefinitionen und -therapien der Psychiatrie, die sich während der 1960er und 70er Jahre vollzogen,12 rückte die kritische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex 'Psychiatrie' an den Rand des öffentlichen und philosophischen Bewusstseins. Erst die durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften aufgeworfenen Fragen und insbesondere die Novellierung des Standardwerkes psychiatrischer Klassifikation, DSM-5, boten Anlass zu einem breitgefächerten, kritischen, öffentlichen Diskurs, der sich aus journalistischen, psychiatrischen, soziologischen und philosophischen13 Beiträgen zusammensetzte. Innerhalb des philosophischen Diskurses, lassen sich zwei inhaltliche Schwerpunkte bestimmen, deren kontroverse Diskussion den Diskurs dominiert und thematisch strukturiert. Ein diskursiver Hauptstrang bildet die wissenschaftstheoretische Debatte, die sich epistemologischen und ontologischen Fragen nach den Grundbegriffen des psychischen Krankheitsbegriffs und der psychiatrischen Wissenschaft widmet. Von besonderem Interesse erweisen sich hierbei Fragen nach der philosophisch fundierten Grenzziehung zwischen dem Bereich des Normalen und des Pathologischen,14 den Grenzen der psychopathologischen Methodik15 und der psychiatrischen Anthropologie.16 Abhängig vom zugrundeliegenden Argumentationsmodell, wird diese Frage in drei differenten Formen beantwortet. Während Vertreter naturalistischer Positionen,17 wie z.B. Christopher Boorse, von einer objektiv messbaren, körperlichen Dysfunktionalität als Ursache psychischer Erkrankungen ausgehen, argumentieren Vertretern

12 Als prominenteste Vertreter dieser Form der Psychiatriekritik, deren Reichweite sich sowohl auf die konzeptionellen Grundlagen psychischer Krankheiten als auch auf deren institutionelle Behandlung fokussiert, sind David Cooper und Ronald D. Laing zu nennen. Vgl. bspw. D. Cooper: Psychiatrie und Antipsychiatrie bzw. R. Laing: Das geteilte Selbst. 13 Vgl. bspw. M. Aragona: Mental disorder sowie P. Singy: How to be a pervert. 14 Vgl. bspw. G. Canguilhem: Das Normale und das Pathologische sowie W. Vollmöller: Was heißt psychisch krank? 15 Vgl. bspw. K. Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. 16 Vgl. bspw. M. Bormuth/F. Schneider: Psychiatrische Anthropologie; H. Emrich: Psychiatrische Anthropologie. 17 Vgl. bspw. C. Boorse: Gesundheit.

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normativistischer Positionen, wie bspw. Tristram Engelhardt, dass die psychiatrische Diagnostik als Resultat gesellschaftlicher Normierungsprozesse18 zu interpretieren sei. Eine dritte, intermediäre Position, wie sie bspw. von Thomas Schramme vertreten wird, versucht ausgehend von einem naturalistischen Fundament dessen Limitation zu überwinden und Erkenntnisse der normativistischen Position zu integrieren, um somit zu einer umfassenderen Definition zu gelangen. Betrachtet man diese Diskurskonstellation vor dem Hintergrund der Foucaultʼschen Ausführungen bezüglich der Wissensordnung des modernen Denkens, lassen sich die divergenten Positionen als Resultate der Anwendung differenter Lösungsstrategien, mittels derer die Paradoxie moderner Subjektivität bearbeitet werden soll, rekonstruieren. Während Vertreter naturalistischer Theorien eine positivistische Reflexionsform anwenden und die Wahrheit des psychisch kranken Subjekts an bzw. in dem Körper desselben abzulesen suchen, insistieren Vertreter normativistischer Theorien darauf, dass keine universell, objektiv feststellbare Wahrheit psychischer Krankheit existiere, sondern diese immer als Resultat einer kontingenten, historisch wandelbaren gesellschaftlichen Zuschreibung zu verstehen sei. Denkt man psychische Krankheit demnach im Rahmen eines naturalistischen Paradigmas und fasst diese als Resultat körperlicher Funktionsstörungen auf, konstruiert man das kranke Subjekt in erster Linie als den Gesetzen des Lebens unterworfenes und bearbeitet die Paradoxie moder-

18 Eine kritische Auseinandersetzung mit Fragen des Zusammenhangs zwischen einer als repressiv und disziplinierend erachteten, modernen Gesellschaftsstruktur und einer dieser korrespondierenden Psychopathologie lässt sich ab Beginn den 1960er Jahre beobachten. Die im Umfeld der sog. ‚Antipsychiatrie’-Bewegung von Soziologen wie Erving Goffman und Psychiatern wie bspw. Ronald D. Laing, Thomas Szasz, Franco Basaglia und David Cooper entwickelten Thesen verfügten zwar über einen anhaltenden Einfluss auf die sozialwissenschaftlichen und politischen Diskurse, erwiesen sich im Bereich der Philosophie jedoch nur als eingeschränkt anschlussfähig. Vgl. F. Basaglia: Die negierte Institution, D. Cooper: Psychiatrie, E. Goffman: Asyle; R. Laing: Das geteilte Selbst sowie T. Szasz: Geisteskrankheit. Einen bis in heutige Diskurse nachwirkenden philosophischen Beitrag leisteten hierbei z.B. Gilles Deleuze und Félix Guattari, die mit ihrem Werk Anti-Ödipus den Fokus auf die Korrespondenz zwischen der Form der Wirtschaftsordnung und den Formen psychischer Erkrankung lenkten. Vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Anti-Ödipus. Dieses Erklärungsmodell erweist sich aktuell insbesondere im Zusammenhang mit der Diskussion um die steigende Anzahl an Depressions- und ‚Burn-out’-Diagnosen als fruchtbar. Vgl. bspw. A. Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst bzw. S. Neckel/G. Wagner: Leistung und Erschöpfung.

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ner Subjektivität, indem man die Souveränität der Unterwerfung nachordnet. So verfügt das Subjekt modellgemäß über Möglichkeiten, sich zu seiner Krankheit zu verhalten und kann insofern als souverän erachtet werden, jedoch beschränkt sich seine Handlungsmacht teilweise auf den Modus des Umgangs mit seiner Krankheit, jedoch nicht auf die grundsätzliche Infragestellung seiner Diagnose, da ihm diese als objektiv gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis bezüglich seines biologischen Körpers entgegentritt. Versteht man psychische Krankheit hingegen von einem normativistischen Standpunkt aus, wählt man eine eschatologische Reflexionsform und ordnet die Unterwerfung des Subjekts dessen Souveränität nach. Indem die Macht gesellschaftlich variabler Normen betont wird, mittels derer eine Krankheit erst als solche erzeugt wird, wird das abnorme Subjekt als dasjenige konstruiert, dessen vorgängige Freiheit des Ausdrucks seiner Emotionen und Gedanken im Rahmen von Taten mittels gesellschaftlicher Normierung limitiert, diszipliniert oder auch gänzlich unterdrückt wird. Die Wahl der Strategie zeitigt hierbei jedoch nicht nur Konsequenzen im Bereich der psychiatrischen Erkenntnis, sondern entscheidet darüber hinaus auch über die Notwendigkeit, die Form und die ethische Legitimation psychiatrischer Therapiemaßnahmen. Während vor einem naturalistischen Hintergrund als Zielscheibe der medizinischen und ethischen Intervention der als dysfunktional konstruierte Einzelne fungiert, dessen Verwandlung im Rahmen der Therapie angestrebt wird, hebt eine normativistische Position auf die Dysfunktionalitäten und Defekte der Gesellschaft ab und drängt konsequenterweise auf deren Transformation. Eine an Foucault angelehnte Analyse des Diskurses, die hier nur in Umrissen skizziert werden konnte, kann hingegen zeigen, dass die gemeinhin als unvereinbar wahrgenommenen Positionen trotz aller Differenzen eine geteilte, epistemische Basis aufweisen. Zu der sie ermöglichenden Paradoxie verhalten sich die beiden Positionen zwar in unterschiedlicher Weise, keine von ihnen verfügt jedoch über das Potential, diese aufzulösen, weswegen Foucault auch mit dem berühmten Diktum vom ‚Tod des Menschen‘ für deren Überwindung plädiert. Reflektiert man demnach mit Foucault auf die historischen Apriori unserer Gegenwart und interpretiert sein Werk als Kritik an den Möglichkeitsbedingungen der gegenwärtigen Wissens-, Gesellschafts- und Subjektivitätsordnung, können seine Analysen innovative Lösungsmöglichkeiten gerade im Bereich der (Medizin-)Ethik inspirieren, da sie deren Gegenstandsbereich signifikant erweitern, indem sie sowohl auf die diskursiven, politischen und ökonomischen als auch die epistemischen Rahmenbedingungen abzielen. Inkludiert man diese in das ethische Kalkül, verändern sich einerseits sowohl die Form der ethischen Kritik als auch – daran anknüpfend – die Lösungsvorschläge, die nicht nur auf

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den Einzelnen fokussieren, sondern immer auch Beiträge zur Veränderung des Gesamtensembles an Bedingungsordnungen zu leisten suchen. Nutzt man den Foucaultʼschen Werkzeugkasten in dieser Form, können seine Analysen ein neues Modell ethischer Reflexion inspirieren. Um dazustellen, inwiefern eine an Foucaults Analysen anschließende ethische Reflexion den aktuellen Diskurs zur Ethik der Psychiatrie in gewinnbringender Weise erweitern könnten, soll dieser im Folgenden kurz skizziert werden.

E THIK Im Fokus der (medizin-)ethischen Aufmerksamkeit im Bereich der Psychiatrie stehen primär Fragestellungen der Ethik der Psychiatrie, der Psychotherapie sowie der therapeutischen Beziehung.19Von spezieller thematischer Relevanz erwiesen sich hierbei erstens Fragen nach der Reichweite und den Grundlagen eines adäquaten Persönlichkeits- und Autonomiebegriffs, der sowohl neurowissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung trägt als auch psychopathologische Episoden zu integrieren gestattet.20 Zweitens werden Fragen der differenten Krankheitskonzeptionen von Arzt und Patient, als auch daran anknüpfend Fragen der therapeutischen Tugenden diskutiert. Ausgehend von dieser argumentativen Grundlage, werden sowohl Kritik an bestehenden psychiatrischen Wissensmodellen, als auch an diesen korrespondierenden therapeutischen Praktiken geübt. Aufbauend auf dieser Kritik werden ethische Lösungsvorschläge erarbeitet bzw. differente Praxisformen aufgezeigt, mit Hilfe derer die Autonomie der pathologischen Persönlichkeit gestärkt werden kann. Betrachtet man den aktuellen philosophischen Diskurs zum Themenkomplex psychische Krankheit, kann die These aufgestellt werden, dass der philosophische Diskurs spezifischen perspektivischen und konzeptionellen Einschränkungen unterliegt. Diese wirken sich negativ auf dessen Anschluss- und Gestal-

19 Vgl. bspw. J. Mittelstraß: Philosophie in der Psychiatrie, R. Hutterer-Krisch: Fragen der Ethik, W. Pöldinger/W. Wagner (Hg.): Ethik in der Psychiatrie, H. Helmchen/N. Sartorius (Hg.), Ethics in Psychiatry, S. Toomb: The meaning of illness; J. Radden/J. Sadler (Hg.): The virtuous psychiatrist sowie L. Zoja: Ethics & Analysis. 20 Eine intensive Diskussion um diese Fragen findet insbesondere im Bereich der Neuroethik statt, die sich als akademisch-ethisches Lösungsangebot für die durch den Fortschritt der Neurowissenschaften generierten erkenntnistheoretischen und ethischen Probleme interpretieren lässt. Vgl. bspw. T. Metzinger: Der Ego-Tunnel, S. Schleim: Die Neurogesellschaft, N. Levy: Neuroethics sowie O. Friedrich: Persönlichkeit.

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tungsfähigkeit im öffentlichen Diskurs aus, da er sowohl in Hinblick auf die erkennbaren Probleme, als auch damit korrespondierend, die entwickelbaren Lösungen Limitationen unterliegt. Als Rahmenordnung, die als Ausgangspunkt für Kritik und Modifikation der bestehenden Wissensordnungen und Praxismodelle dient, fungieren mehrheitlich individualethische Modelle, die vom isolierten, rationalen und autonomen Subjekt ausgehen und somit das bereits konstituierte Subjekt als Ausgangspunkt der Reflexion wählen. Psychische Krankheit erscheint vor diesem Hintergrund ausschließlich als zu überwindende Episode der Unterbrechung moderner, autonomer Lebensführung. Dieser Zugriff weist der Ethik jedoch einen spezifischen, limitierten Gegenstandsbereich zu, der sich auf die Handlungen einzelner Akteure bzw. die Beziehungen differenter, isolierter Akteure konzentriert. Aus dem theoretischen Blickfeld und dem gesellschaftlichen Einflussbereich fallen aufgrund dieses Zugriffs jedoch die handlungsermöglichenden und -strukturierenden Bedingungen. Die Dominanz des individualethischen Modells innerhalb des philosophischen Diskurses zur Psychiatrie verfügt demnach zwar einerseits über ein bedeutendes Kritik- und Lösungspotential in Hinblick auf Fragen der Restriktion und Förderung individueller Autonomie. Andererseits jedoch generiert sie blinde Flecken in Hinblick auf Fragen der Sozialethik und des Zusammenhangs zwischen Sozial- und Individualethik. Um die Bedingungen und die Wechselwirkungen zwischen Bedingungsordnung, Handlungsoptionen und Seinsformen in das ethische Kalkül zu importieren und somit innovative Impulse für die ethische Debatte über das Themenfeld Psychiatrie zu liefern, kann Foucaults Werk als Analyse der epistemischen, diskursiven, ökonomischen und politischen Möglichkeitsbedingungen interpretiert werden, die ihrerseits den normativen Möglichkeitsraum der Subjektkonstitutionsoptionen abstecken. Greift man unter dem Aspekt der Möglichkeitsbedingungen auf sein Werk zu, kann der Zusammenhang zwischen Wissensordnung, Gesellschaftsordnung, Wirtschaftsordnung und Subjektivitätsordnung aufgezeigt werden, indem diese als Ensemble ineinander verschränkter Bedingungsordnungen rekonstruiert werden. Foucault selbst beschreibt sein Werk als multiaxial21 und verweist darauf, dass seine Analysen des diskursiven, politischen und historischen Gesamtensembles an Wissens-und Praxisformen jeweils unterschiedliche Achsen des Dreiecks Wissen-Macht-Subjekt beleuchten. Um eine alternative Perspektive auf seine Analysen aufzuzeigen, werden diese als kritische, kohärente Analyse interferierender Bedingungsordnungen rekonstruiert, die die Formen die Wissen, Macht und Subjektivität zu bestimmten historischen Zeitpunkten annehmen können, bestimmen. Darüber hinaus können seine Erkenntnisse mit

21 Vgl. bspw. M. Foucault: Das Subjekt und die Macht.

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bereits bestehenden Konzeptionen, die die Ethik ausgehend von den lebens- und handlungsermöglichenden Bedingungen22 denken, in fruchtbarer Weise verbunden werden. In Ergänzung dazu könnte unter Rekurs auf das von Foucault entwickelte Konzept der ethischen Subjektkonstitution durch Praktiken der Selbstsorge23 ein konzeptionelles Angebot formuliert werden, das die Entstehungsbedingungen des ethischen Subjekts in inter-und intrapersonellen Beziehungen berücksichtigt. Dieses Konzept kann dazu dienen, sowohl der Debatte um ethische Verpflichtungen als auch dem Diskurs um Therapieziele bzw. -optionen innovative, philosophisch fundierte Orientierungshilfen zu bieten. Hierbei kann in drei Schritten vorgegangen werden. Erstens kann auf Foucaults Analysen bezüglich der diskursiven und gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen der Psychiatrie zurückgegriffen werden. In diesem Zusammenhang erweisen sich primär fünf Publikationen von besonderem Interesse, innerhalb derer Foucault unter differenten Analyseperspektiven rekonstruiert, welche diskursiven, politischen und ökonomischen Bedingungen das Erscheinen der Phänomene psychische Krankheit und Psychiatrie historisch ermöglicht haben. Kombiniert man die Ergebnisse der Einzelanalysen, kann aufgezeigt werden, wie diese drei differenten Arten von Möglichkeitsbedingungen die Konstitutionsbedingungen des psychiatrischen und – damit korrelierend des „normalen“ Subjekts – formieren und somit den Raum der gesellschaftlich lebbaren Seinsmöglichkeiten begrenzen. Wahnsinn und Gesellschaft wird hierbei als Rekonstruktion der epistemischen und diskursiven Möglichkeitsbedingungen, die den Übergang von Konzeptionen des Wahnsinns als integrativem Bestandteil

22 Konzeptionen, innerhalb derer den ermöglichenden, normativen Bedingungen ein konstitutiver theoretischer Status zugewiesen wird, finden sich bspw. bei Karl Homann, Judith Butler und Tatjana Schönwälder-Kuntze, wenn auch unter differenten theoretischen Vorzeichen. Vgl. K. Homann/A. Suchanek: Ökonomik, J. Butler: Kritik der ethischen Gewalt, T. Schönwälder-Kuntze: Order Ethics. 23 Auf das Potential Foucaults, entscheidende Impulse für eine Renaissance einer Lebenskunstphilosophie zu geben, verweist im deutschen Diskurs insbesondere Wilhelm Schmid. Unter Rekurs auf Foucaults Ausführungen bezüglich der Selbstsorge als Möglichkeitsbedingung der ethischen Subjektkonstitution und seinen Hinweisen bezüglich des Zusammenhangs von Selbstsorge und Selbstbestimmung, konstruiert Schmid ein neues Modell der Lebenskunst, wobei er sich primär auf individualethische Aspekte fokussiert. Vgl. hierzu Schmid: Lebenskunst. Die ethische und politische Bedeutung, die dem Konzept der parrhesia, dem mutigen Freisprechen, das Foucault in seinen letzten Lebensjahren entwickelte, stellen insbesondere Petra Gehring und Andreas Gelhard heraus. Vgl. hierzu P. Gehring/A. Gelhard: Parrhesia.

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sozialer Ordnungen zu Konzeptionen psychischer Krankheit als zu exkludierender Störung ermöglichten, interpretiert. Die Vorlesungsreihe Die Macht der Psychiatrie wird als Analyse der gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen, die das Funktionieren der modernen psychiatrischen Disziplin ermöglichen und ihr eine spezifische Rolle innerhalb des gesellschaftlichen Ensembles zuweisen, verstanden. Hierbei kann gezeigt werden, dass Foucault einen konstitutiven Zusammenhang von Gesellschaftsordnung und Ordnung der Psychiatrie expliziert und dadurch der Psychiatrie eine ordnungsstiftende und -garantierende Funktion24 zuschreibt, mit Hilfe derer eine spezifische Form der Gesellschaftsordnung sowie der Wirtschaftsordnung stabilisiert und reproduziert werden kann. Kombiniert man die Erkenntnisse, die im Rahmen der Macht der Psychiatrie dargelegt werden, mit den Thesen über die diskursiven Möglichkeitsbedingungen des modernen ökonomischen Denkens sowie die Funktionsweise moderner Wirtschaftsordnungen, die Foucault im Rahmen der Vorlesungsreihe Die Geburt der Biopolitik darlegt, können die aktuellen Entwicklungen vor dem Hintergrund der sie ermöglichenden diskursiven, politischen und ökonomischen Bedingungen als prinzipiell variable Effekte verstanden werden. Im Anschluss daran kann die These aufgestellt werden, dass die Ordnung und Funktionsweise der Psychiatrie als wissenschaftlicher Disziplin und medizinischer Praxis nur vor dem Hintergrund und in Wechselwirkung mit der gesellschaftlichen Ordnung verstanden werden kann. Nachdem Foucault im Rahmen der zitierten Werke das Funktionieren der modernen, westlichen Psychiatrie unter der epistemischen und der politischen Perspektive analysierte, wendet er sich in der Vorlesungsreihe Die Anormalen der Darstellung der Möglichkeitsbedingungen der psychiatrischen Subjektkonstitution zu, indem er deren Erscheinen als Effekt der Transformation diskursiver und gesellschaftlicher Möglichkeitsbedingungen verständlich zu machen sucht. Zweitens können die im Rahmen der späten Schaffensperiode entstanden Werke und Vorlesungen, die sich den Möglichkeitsbedingungen der ethischen Subjektkonstitution in der antiken Philosophie widmen, fruchtbar gemacht werden. In diesem Zusammenhang erweisen sich drei Werke Foucaults von besonderer Relevanz. Im Rahmen der Hermeneutik des Subjekts expliziert er, dass in der Antike die Praxis der Selbstsorge als Möglichkeitsbedingung der ethischen

24 Liest man diese Ausführungen in Verbindung mit den im Rahmen der Vorlesungsreihe Sicherheit, Territorium, Bevölkerung entwickelten Überlegungen, so kann die These aufgestellt werden, dass die Psychiatrie einen Teil der gesellschaftlichen Ordnungsfunktionen übernimmt, die bis zum 18. Jahrhundert der Polizei zukamen. Vgl. M. Foucault: Sicherheit.

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Subjektkonstitution interpretiert wurde, indem er den Status, der der Selbsterkenntnis als Wissensform, Praxis der Selbstsorge und Möglichkeitsbedingung der Subjektkonstitution zukommt, rekonstruiert. Um die These der Verschränkung der differenten Bedingungsordnungen zu stützen, wird ausgehend hiervon aufgezeigt, dass die Bedingungen, denen die ethische Subjektkonstitution unterliegt mit den Bedingungen der Konstitution von diskursiven Ordnungen korrelieren. Die Vorlesungsreihe Die Regierung des Selbst und der Anderen verändert hingegen die Perspektive und wird als Nachweis der Verschränkung von intraund intersubjektiven Bedingungen der Subjektkonstitution und den Bedingungen der politischen Regierungsausübung verstanden. Greift man in dieser Form auf das Foucaultʼsche Werk zu, lässt sich die These der Interdependenz der Bedingungen, die bestimmte Formen der Subjektivitätskonstitution ermöglichen und der Bedingungen, die spezifische Formen der Regierungspraxis ermöglichen, verifizieren. Basierend auf diesen Annahmen, wird die Vorlesungsreihe Der Mut zur Wahrheit, die sich der Analyse des antiken Konzepts der parrhesia, des freien, mutigen Wahrsprechens, widmet und Grundrisse einer Historie des Wahrsprechens zeichnet, als Analyse der intrasubjektiven Möglichkeitsbedingungen der kritischen, aufklärerischen Intervention im Dienste der Veränderung gesellschaftlicher Prozesse25 verstanden. Ein Zugriff über die Möglichkeitsbedingungen gestattet es darüber hinaus, einerseits dem freien, mutigen, kritischen Sprechen einen möglichen Gegenstandsbereich in Gestalt der diskursiven, normativen und normativierenden Bedingungen zuzuordnen. Andererseits können Wege aufgezeigt werden, wie Veränderungen im Bereich der Bedingungsordnung der Subjektivität, die durch die Einnahme einer parrhesiastischen Sprecherposition vollzogen werden, zu Veränderungen im Bereich der Wissensordnung, der Wirtschaftsordnung sowie der politischen Ordnung beitragen können. Drittens können seine Erkenntnisse mit bestehenden ethischen Konzeptionen, die individuelles, institutionelles und kollektives Handeln ausgehend von der Bedingtheit des Subjekts denken und in ihren Abhängigkeiten und Wechselwirkungen theoretisieren, in gewinnbringender Weise vermittelt werden. Darüber hinaus kann dargelegt werden, in wie fern eine an Foucault angeschlossene Ordnungsethik, den Radius des bestehenden ordnungsethischen Diskurses erwei-

25 Interessante und innovative Möglichkeiten des philosophischen und politischen Anschlusses an das Parrhesiakonzept Foucaults zeigen Gehring und Gelhard im Rahmen der von ihnen herausgegebenen Publikation Parrhesia, Foucault und der Mut zur Wahrheit, auf. Vgl. P. Gehring/A. Gelhard: Parrhesia.

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tert und somit neue Möglichkeiten der Kritik und der gesellschaftlichen Veränderung im Dienste der Ethik zu denken gestattet. Um dieses Ziel zu erreichen, kann die Möglichkeit untersucht werden, wie sich fruchtbare Anschlüsse an bestehende, ordnungsethische Ansätze, wie sie bspw. Karl Homann26, Ingo Pies und Dominik Heiß27 vorgelegt haben, konzipieren lassen. Homann, Pies und Heiß gehen bei ihren konzeptuellen, an die Spieltheorie angelehnten Überlegungen von zwei Prämissen aus, da sie erstens das Subjekt als individuellen, rationalen Akteur innerhalb eines Spiels konzipieren, der im Rahmen einer Konkurrenzsituation seine Interessen zu maximieren sucht. Damit korrespondierend, gehen sie zweitens von zwei möglichen Formen der Interaktion aus, Konkurrenz und Kooperation. Darauf aufbauend entwickeln sie eine dreistufige Ordnungsethik, die zwischen der Prozessebene der Spielregeln, der Ebene der Rahmenordnung des eigenen Handelns und der Ebene des Diskurses, innerhalb dessen gemeinsame Regelinteressen gefunden werden können, differenziert.28 Darüber können u.a. auch die Werke Hannah Arendts29, Judith Butlers30 und Tatjana Schönwälder-Kuntzes,31 die wichtige konzeptuelle Bausteine vorgelegt haben mit Hilfe derer eine ethische Konzeption entwickelt werden kann, die ausgehend von den lebens- und handlungsermöglichenden Bedingungen denkt, auf mögliche Schnittstellen und Anschlussoptionen geprüft werden. Während Arendt konzeptuell von konstitutiven, invariablen Möglichkeitsbedingungen des menschlichen Lebens ausgeht, akzentuieren Butler32 und Schönwälder-Kuntze die Bedeutung variabler, normativer Bedingungen, die als Möglichkeitsbedingung der Subjektkonstitution und der Konstitution jeder konkreten gesellschaftlichen Ordnung gedacht werden. Foucaults Überlegungen bieten die Möglichkeit den bestehenden ordnungsethischen Diskurs zu erweitern, da er sowohl die Genese der normativen, diskursiven und ökonomischen Bedingungsordnungen als auch das individuelle

26 Vgl. K. Homann/A. Suchanek: Ökonomik. 27 Vgl. D. Heiß: Verantwortung in der modernen Gesellschaft. 28 Vgl. M. Beckmann/I. Pies: Ordnungsverantwortung, Steuerungsverantwortung, Aufklärungsverantwortung. 29 Vgl. H. Arendt: Vita activa. 30 Vgl. J. Butler: Kritik der ethischen Gewalt. 31 Vgl. T. Schönwälder-Kuntze: Deconstructive Ethics. 32 Eine Rekonstruktion der Ethikansätze Arendts und Butlers als Ethiken, die ausgehend von der Prämisse der durch Bedingungen ermöglichten Subjektivität denken, bietet bspw. G. Assadi: Ordnung durch Verantwortung.

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Selbstverhältnis, das als Antwort auf die verschränkten Bedingungsordnungen gelesen werden kann, genealogisch analysiert. Seine Analysen bieten demnach zwei Vorteile, da sie erstens die konzeptuellen Beschränkungen des ordnungsethischen Denkens von z.B. Homann, Pies und Heiß zu überwinden helfen, indem sie den Zusammenhang zwischen Wissens-, Wirtschafts-, und Subjektivitätsordnung aufzeigen und somit die Wechselwirkungen zwischen diesen deutlich machen. Zweitens eröffnet der ordnungsethische Anschluss an Foucaults archäologische und genealogische Untersuchungen, die Möglichkeit, die konzeptuellen Überlegungen Arendts, Butlers und Schönwälder-Kuntzes zu ergänzen, da die von ihm analysierten diskursiven, politischen, ökonomischen und moralischen Bedingungen, die aktuell den Rahmen der gesellschaftlich anerkennbaren und anerkannten Subjektivitätsformen abstecken, einer kritischen Reflexion in aufklärerischer Absicht unterzogen werden können. Da von einer Vermittlung zwischen Subjektivitätsordnung, Wissensordnung und Gesellschaftsordnung ausgegangen wird, kann darüber hinaus aufgezeigt werden, dass Veränderungen der Bedingungen der Subjektkonstitution und somit der Entstehung neuer Formen von Subjektivität zu Veränderungen in Hinblick auf neue diskursive, politische und ökonomische Möglichkeitsbedingungen beitragen können, womit ein Vorschlag zur Vermittlung von Individual- und Sozialethik dargelegt werden kann. Ausgehend von der Analyse der Bedingungsordnung kann beschrieben werden, welche Formen der Verbindung von Subjektivitätsordnung und Gesellschaftsordnung denkbar werden, womit sich die Differenzierung zwischen Gesellschaft und dieser konzeptuell entgegengestelltem, isoliertem Subjekt aufheben lässt. Auf dieser Grundlage lassen sich die im aktuellen Diskurs vorhandenen blinden Flecken in Hinblick auf Fragen der Verbindung von Subjektivität und Sozialität und des Zusammenhangs zwischen Sozial- und Individualethik erkennen und beheben. In diesem Zusammenhang können Vorschläge für die Gestaltung von Bedingungsordnungen entwickelt werden, die das Ziel verfolgen, individuelle und kollektive Freiheitsräume zu erweitern. Indem das Individuum von Foucault als auf die Bedingungsordnung und die durch diese etablierten gesellschaftlichen, interpersonellen und intrapersonellen Relationen Antwortendes konzipiert wird und somit als Wesen, das immer nur in Verbindung mit einem spezifischen Bedingungsensemble verstanden werden kann, können darüber hinaus Möglichkeiten aufgezeigt werden wie das einzelne – normale oder pathologische – Subjekt seinen Freiheitsraum durch den Einsatz von Praktiken der Selbstsorge vergrößern kann. Hierzu können Optionen geprüft werden, ob und wenn in welcher Form Foucaults Konzept der Selbstsorge und der parrhesia an bestehende Konzeptionen im Bereich der Existenzphilosophie bzw. der Lebenskunstphilosophie angeschlossen werden kann. Gelänge es nach-

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zuweisen, dass dem Subjekt durch gezielte Selbstpraktiken eine Veränderung der individuellen Subjektkonstitutionsbedingungen und somit der Subjektivitätsform ermöglicht wird, könnte diese Erkenntnis auch einen Impuls zur Diskussion um die Therapiemöglichkeiten für Menschen mit psychischen Leiden liefern. Als philosophisch besonders gewinnbringend erweist sich dieses Vorgehen vor allem auch in Hinblick auf die Darstellung des philosophischen Potentials und der Anschlussfähigkeit der Arbeiten Michel Foucaults, die im philosophischen Diskurs bis dato zu wenig Rezeption und Weiterentwicklung erfuhren.

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Wie der Blick in Serie ging Foucault und Die Geburt der Klinik T ANJA P ROKIĆ Hier soll die Analyse eines bestimmten Diskurses versucht werden, des Diskurses der medizinischen Erfahrung einer Epoche, in der er – vor den großen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts – weniger seine Inhalte als seine systematische Form geändert hat. Die Klinik ist sowohl eine neue Gliederung der Dinge wie auch das Prinzip ihrer Artikulierung in einer Sprache, in der wir die Sprache einer ‚positiven Wissenschaft‘ zu sehen pflegen. M. FOUCAULT: DIE GEBURT DER KLINIK, S. 15.

1972, neun Jahre nach Ersterscheinen von Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, seiner zweiten Studie nach Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (1961) wird Foucault anlässlich einer Neuauflage zwei Eingriffe an dieser Textstelle vornehmen, die im Hinblick auf sein weiteres Denken signifikant sind. Der Text von 1963 lautete nämlich noch: „Hier soll eine strukturale Analyse eines Signifikats – des Signifikats der ärztlichen Erfahrung – einer Epoche versucht werden“1. Dieser redaktionelle Eingriff ist auf die methodische Grundlegung der vorhergehenden Arbeiten durch Die Archäologie des Wissens (1969) zurückzu-

1

M. Foucault: Naissance de la clinique, S. XIII. Vgl. D. Eribon: Michel Foucault, S. 263f. sowie P. Sarasin: Michel Foucault zur Einführung, S. 42.

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führen, d.h. auf die begriffliche Reflexion seiner analytischen Praxis, die er, so die These Sarasins, mit seinem kleinen, kaum beachteten Buch von 1963 entwickelt. Die Geburt der Klinik sei nämlich, so Sarasin, die Geburt der Diskursanalyse schlechthin2, Pate für diese Geburt habe der Mediziner Xavier Bichat mit seiner schlichten, aber folgenreichen Äußerung „Öffnen Sie ein paar Leichen!“3 gestanden. Obwohl sich diese Idee ungleich elegant ausnimmt, möchte ich eine paar andere Argumente ins Feld führen, die dennoch Sarasins These von der „Geburt der Diskursanalyse“ konturieren. Zum Verständnis des Verhältnisses von Sichtbarem und Sagbarem, welches Foucault in Die Geburt der Klinik wesentlich umtreibt, trage außerdem die Beschäftigung mit dem Werk des Literaten Raymond Roussel bei,4 die einzige Studie zu einem Künstler, die in Buchform, nicht als Essay, erfolgt und am selben Tag wie Die Geburt der Klinik erscheint. Trotz der unübersehbaren Differenz der beiden Schriften, so bestätigt auch Didier Eribon, sei von einer „außerordentlichen Konvergenz der beiden Ebenen“5 auszugehen. Beiden Schriften jedoch geht unmittelbar die Veröffentlichung der französischen Übersetzung von Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1798 mit einer gekürzten Einführung (1961) vorher. 6 In der ursprünglichen Fassung stellte diese Arbeit seine Ergänzungsschrift, die thèse complémentaire7 zu seiner Doktorarbeit Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (1961) dar; sie wurde erst 45 Jahre später vollständig veröffentlicht, und gibt erst spät Aufschluss über die tatsächliche Bedeutung Kants für das Werk Foucaults. In der Einleitung setzt sich Foucault mit der Stellung der Anthropologie Kants in seinem Gesamtsystem sowie mit der Anthropologie als verschriftlichte

2

P. Sarasin: Michel Foucault zur Einführung, S. 42.

3

M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 156.

4

M. Foucault: Raymond Roussel.

5

D. Eribon: Michel Foucault, S. 237.

6

Die Recherchearbeiten erfolgen zwischen 1959 und 1960 in Hamburg. Die Übersetzung wird 1964 veröffentlicht, die Einleitung wird, zwar über die Bibliothek der Sorbonne als Original-Schreibmaschinen-Typoskript zugänglich, erst 45 Jahre später in breit zugänglicher Druckform (dt. Übersetzung 2010) erscheinen.

7

Die Erlangung des Doktortitels erforderte zu dieser Zeit in Frankreich die Vorlage zweier schriftlicher Arbeiten, eine Hauptarbeit (thèse principale), Foucault reichte zu diesem Zweck Wahnsinn und Gesellschaft ein und eine kleinere Arbeit (thèse complémentaire), die Introduction à l’Anthropologie de Kant. Vgl. dazu D. Eribon: Michel Foucault, S. 163.

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Vorlesung auseinander. Eine Vorlesung, die Kant binnen fünfundzwanzig Jahren,8 vom Wintersemester 1792/93 an, immer wieder gehalten hat und in der sich die Sedimente seiner gesamten Philosophie abgesetzt haben. Da sich in ihr die Sedimente der präkritischen, der kritischen und der postkritischen Phase niedergeschlagen haben dürften, ist diese Schrift für Foucault von besonderem Interesse, sie trägt gewissermaßen die Spuren des Verhältnisses von Kritik und der Möglichkeit einer Anthropologie. Wie Andrea Hemminger in ihrem Kommentar zur deutschen Erstveröffentlichung der Einführung anmerkt, hat sich im Zuge dieser vertieften Kant-Lektüre für Foucault die Notwendigkeit eines redaktionellen Eingriffs in den Titel der Neuauflage seiner ersten Studie Psychologie und Geisteskrankheit (1961) ergeben, lautete dieser doch zuvor noch Psychologie und Persönlichkeit (1954).9 Diesen Eingriff führt sie darauf zurück, dass es Foucault fortan nicht mehr möglich schien, den Wahnsinn gegenständlich zu denken. Ebendiese Wende schlägt sich in der Doktorarbeit nieder. Zwei redaktionelle Änderungen, die offensichtlich dort um eine Korrektur bemüht sind, wo Foucault angeblich nicht um Kontinuität und Identität bemüht war: im Denken?10 Was ihn dennoch – und das heißt jenseits von Eitelkeiten eines „Autors“, der sich in den nächsten Jahren von der diskursiven Figur des Autors verabschieden wird,11 – zu diesen Korrekturen bewegt haben mag, so die Hypothese, scheint von einer anderen „Bemühung“ als der um eine Einheit im Werk getrieben. Es geht um nichts weniger als um „die“ Geschichte selbst, die ihm in zweifacher Weise zum Schicksal wird. Einerseits durch seine Zeitgenossenschaft mit seiner eigenen Gegenwart, die sich breitflächig mit den Folgen der Verunsicherung durch das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und das

8

Die Anthropologie war Gegenstand einer Vorlesung Kants, die Herausgabe fällt erst mit der Beendigung der Vorlesungen und der Emeritierung Kants zusammen. Foucault skizziert die Entstehung des Textes und den Zusammenhang mit anderen Schriften, siehe M. Foucault: Geschichtlicher Abriss (1964).

9

Während in seinem ersten veröffentlichten Buch Psychologie und Persönlichkeit von 1954 die Geisteskrankheit noch als objektiver Seinszustand beschrieben wird, manifestiert sich nach der Kant-Lektüre eine folgenschwere Neukonzeption: Foucault ändert den Titel des Buchs in Psychologie und Geisteskrankheit und korrigiert sämtliche Stellen, in denen die Geisteskrankheit als objektiver Seinszustand verhandelt wird. Siehe dazu A. Hemminger: Nachwort, S. 127f.

10 „Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben!“ (M. Foucault: Die Archäologie des Wissens, S. 29) 11 Siehe dazu: M. Foucault: Was ist ein Autor? Sowie M. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 20-22.

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heißt der Serialisierung beschäftigt. Andererseits durch die Möglichkeit von geschichtlichem Denken per se, das ihm als ein diskursiver Effekt der in Die Geburt der Klinik verhandelten Jahre zwischen 1770 und 1820 ins Auge sticht. Diese beiden Berührungen mit „der“ Geschichte führen dazu, dass er nach einer anderen Form von Historiografie im Sinne der Diskursanalyse sucht. In diesem Sinne ist das Ringen um die Begrifflichkeit, das Die Geburt der Klinik auszeichnet, von der doppelten Bewegung gekennzeichnet, das Sichtbare sagbar zu machen sowie das Sagbare sichtbar zu machen. Während die erste Bewegung die Veränderung des zeitlichen und räumlichen Denkens in der Medizin betrifft, es Foucault also darum geht, die Veränderung des (ärztlichen) Blicks im Nexus von Raum-Sprache-Tod darzustellen, also die Geburt der Klinik nachzuzeichnen, geht es in der zweiten Bewegung darum, diese Verschiebung in der Technologie des Blicks für die Leser anschaulich zu machen, sodass letztlich sichtbar wird, was nicht einfach zu sagen ist, nämlich dass die Geschichtsschreibung ebenso wenig zu vergegenständlichen ist, wie ihr „Gegenstand“. Mit der Rekonstruktion dieser doppelten Bewegung suchen die folgenden Ausführungen die Bedingungen für und die Effekte von Foucaults Archäologie des ärztlichen Blicks zu ergründen.

V ERRÄUMLICHUNG

UND

V ERSPRACHLICHUNG Man wird die ursprüngliche Verteilung des Sichtbaren und des Unsichtbaren befragen müssen, wo sie mit der Teilung zwischen dem sich Aussprechenden und dem Verschwiegenen zusammenhängt. Dann wird in einer einzigen Figur zum Vorschein kommen, wie sich die medizinische Sprache und ihr Objekt ineinander fügen. M. FOUCAULT: DIE GEBURT DER KLINIK, S. 9

Programmatisch lautet der erste Satz der Die Geburt der Klinik (1963) vorangestellten Vorrede „In diesem Buch ist die Rede vom Raum, von der Sprache und vom Tod. Es ist die Rede vom Blick“.12 Bezeichnenderweise fallen die Begriffsreihe „Arzt-Kranker-Mediziner-Krankheit“ erst eine Seite später, die Begriffe „Medizin“, „Kliniker“ knappe drei Seiten später, der Begriff der Klinik hingegen erst sieben Seiten später. Damit ist bereits mit der Vorrede eine weittragende

12 M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 7.

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Entscheidung zementiert, nämlich den Gegenstand der Untersuchung, die Entstehung der Klinik von den Rändern her, in einem zunächst kontraintuitiven Ermöglichungszusammenhang zu denken. Ein neues Verständnis vom Raum und der Sprache, die Entdeckung der Endlichkeit des Menschen und die Erfindung eines von den physischen Bedingungen des menschlichen Auges gelösten Blicks, so wird sich innerhalb der zehn Kapitel zeigen, bedingen die „Geburt“ der Klinik. Die Klinik antwortet auf ein Problembewusstsein, das im Kontext neuer Anforderungen an die Vereinbarkeit von Kapital und Ausbildung sowie von Prävention und Fürsorge die Konzeption von Krankheit neu ordnet. Obzwar, wie Eribon festhält, dieses frühe Werk Foucaults „noch den Prinzipien der ,Strukturgeschichte‘, in der verschiedene Ebenen – ökonomische, soziale, politische, ideologische, kulturelle – zueinander in Beziehung gesetzt werden, folgt, geht es Foucault vor allem darum, eine Transformation im Wissen nachzuzeichnen, die den Gesamtkomplex der Sprech- und Sehweisen betrifft, genauer: um das, was in einer gegebenen Epoche zu sagen und zu sehen möglich ist, das Sichtbare und das Sagbare“13. Um diese Neuordnung jedoch entsprechend aufzuzeigen, folgt Foucault nicht einer klassisch ideengeschichtlichen Darstellung, das heißt der Nachzeichnung „der thematischen Inhalte oder der logischen Modalitäten“.14 Er dringt vielmehr auf eine Ebene vor, welche die Ideengeschichte selbst kontaminiert. Es geht ihm darum, die Beziehung zwischen den Dingen und den Wörtern zu verstehen, eine Beziehung, die in der Ideengeschichte als eine unveränderbare angenommen wird, eine Beziehung, die somit gerade in den blinden Fleck der Ideengeschichte fällt. Foucault geht aber von der Beobachtung aus, dass bevor es zu einer Medizin kommt, „in der sich unsere Wissenschaft“15 wiedererkennt, die Beziehung zwischen den Dingen und den Wörtern eine andere war, als sie es heute ist bzw. als sich zum ersten Mal ein medizinisches Denken durchsetzt, das unseres vorbereitet. „Man muß sich jener Region zuwenden, in der die ,Dinge‘ und die ,Wörter‘ noch nicht getrennt sind, wo die Weise des Sehens und die Weise des Sagens auf der Ebene der Sprache noch eins sind“.16 Die in der Vorrede vorangestellte Gegenüberstellung von zwei verschiedenen Modi der Versprachlichung von Krankheiten dient gerade dazu, das veränderte Verhältnis von Sprache und „Phänomen“ aufzuzeigen; hinter der Art und Weise die Krankheit in Worte zu fassen, steht eine veränderte Erfahrung der Medizin: „Es ist von entscheidender und bleibender Bedeutung für unsere Kultur, daß ihr

13 D. Eribon: Michel Foucault, S. 237. 14 M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 9. 15 Ebd. S. 11 16 Ebd. S. 9.

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erster wissenschaftlicher Diskurs über das Individuum seinen Weg über den Tod nehmen mußte.“17 Foucault begreift die neue Klinik als jenen Ort, der der Sprache Raum gibt, den Tod zu sehen. Die Klinik versteht er demnach nicht vorrangig als eine bestimmte und begrenzte materielle Räumlichkeit, sondern vielmehr als Ermöglichungsraum, in welchem Tod, Körper, Sprache und ärztlicher Blick in einer besonderen Konstellation aufeinandertreffen. „In einigen Jahren, den letzten des Jahrhunderts, sollte die Klinik eine einschneidende Restrukturierung erfahren: herausgerissen aus dem theoretischen Kontext ihrer Entstehung sollte sie ein Anwendungsfeld finden, in dem das Wissen nicht nur gesagt wird, sondern in dem es entsteht, sich bewährt und sich vollendet: die Klinik sollte mit dem Ganzen der medizinischen Erfahrung eins werden. Aber dazu muß sie noch mit neuen Machtvollkommenheiten ausgestattet werden, sie muß von der Sprache gelöst werden, in der sie ihre pädagogische Funktion erfüllte, und zu einer Entdeckungsbewegung befreit werden.“18

Besagte Entdeckungsbewegung ergibt sich durch eine besondere UrsacheWirkung-Ursache-Struktur. In Folge diskontinuierlicher ökomonomischer, politischer und akademischer Verschiebungen ergibt sich die Klinik als Ort, der wiederum Räume und Zeitlichkeiten gliedert; eine solche Folge der räumlichen Gliederung ermöglicht die rasch auf den Tod des Individuums folgende Obduktion. In der Obduktion wird der Körper selbst zur räumlichen Erfahrung, in der es in den Organen und Geweben den Verlauf der Krankheit zu rekonstruieren gilt. Resultat dieser räumlichen Ermöglichung und dieser Verzeitlichung der Krankheit über den Tod des Individuums hinaus ist die Erkenntnis, dass der Tod als „vielfältig und zeitlich gestreut“19 erfasst wird. So treten die Zeit des Menschen und die Zeit der Krankheit durch die neue räumliche Teilung (an einem Ort) auseinander: „Im medizinischen Denken des 18. Jahrhunderts war der Tod sowohl das absoluteste wie auch das relativste aller Phänomene: Er war das Ende des Lebens, aber auch das Ende der ungünstig verlaufenen Krankheit. Mit ihm war die Grenze erreicht, war die Wahrheit vollendet und befreit: im Tod verstummte die an das Ende ihres Ablaufes gelangte Krankheit und wurde dem Gedächtnis anheimgegeben.“20

17 Ebd. S. 207. 18 Ebd. S. 78. 19 Ebd. S. 156. 20 Ebd. S. 154.

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Die räumliche Teilung ermöglicht dem Arzt fortan die Beobachtung der Krankheit jenseits des Todes des Individuums, was zu einer folgenreichen Verschiebung in der medizinischen Erfahrung führt: „Nicht weil der Mensch krank geworden ist, stirbt er, sondern weil er sterben kann, geschieht es dem Menschen, daß er krank wird“.21 Mit der Öffnung der Leichname, die Bichat anempfiehlt, vervielfältigt sich der Tod und wird über die verschiedenen Zonen des Körpers gestreut. Die Raumkonfiguration der Klinik ermöglicht es durch die Obduktion, Körper und Krankheit in räumlichen Dimensionen zu begreifen; diese Verräumlichung findet Niederschlag in einer völlig neuartigen Beschreibungssprache: „Man muß sich ein für alle Mal auf die Ebene der fundamentalen Verräumlichung und Versprachlichung des Pathologischen begeben, also dorthin, wo der beredte Blick, den der Arzt auf das giftige Herz der Dinge richtet, entsteht und sich sammelt.“22

Die Sprache muss zum Medium dieser Verräumlichung werden.23 „Zwischen den Wörtern und den Dingen knüpfte sich ein neues Bündnis“24, gerade deshalb, weil dem Arzt durch das invertierte Verhältnis von Krankheit, Tod und Leben ganz neue Zusammenhänge ersichtlich werden, die zuvor unsichtbar waren. Und hier wird entscheidend, dass sowohl die Krankheit als auch die medizinische Tätigkeit als ein Prozess erfasst werden: Es gilt nicht mehr in den vom Patienten geäußerten Symptomen eine Krankheit wiederzuerkennen, sondern im Dialog mit dem Patienten die Symptome als Stationen einer Krankheit zu erfassen, die es noch zu erkennen gilt. So stößt das die Praktik der Humoral-Pathologie strukturierende Tableau, das heißt die endliche Klassifikation der Krankheitsarten, auf seine Grenzen, denn das „Tableau verhilft nicht dazu, etwas zu erkennen, sondern höchstens wiederzuerkennen“, es hat „die Aufgabe, das Sichtbare innerhalb einer schon gegebenen begrifflichen Konfiguration zu verteilen“.25 Die Krankheit ist so ein objektiver Seinszustand, den es vom Arzt lediglich wiederzuerkennen gilt. Die Sprache und das Phänomen sind demnach identisch; „die gemeinsame Struktur, die gliedert und artikuliert, was gesehen und gesagt wird“,26 verhindert also, dass die Idee einen Leichnam zu obduzieren, einen anderen

21 Ebd. S. 169. 22 Ebd. S. 9. 23 Siehe zu diesem Verhältnis auch: A. Schäfer: Diskurse der Biopolitik. 24 M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 10. 25 Ebd. S. 127. 26 Ebd. S. 17.

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Grund haben kann als noch einmal das zu erkennen, was bereits wiedererkannt wurde. „Die Analyse der anatomisch-klinischen Wahrnehmung deckt also drei Bezüge auf (Lokalisierung, Krankheitsherd, Ursprünglichkeit), welche die wesentlich zeitliche Lektüre der Klinik modifizieren. Das systematische Durchsuchen der Organe und die Bestimmung der fixen aber wuchernden Punkte eliminieren nicht die Tiefe der pathologischen Geschichte zugunsten einer bloßen anatomischen Oberfläche; sie integrieren sie vielmehr in den spezifizierten Raum des Körpers.“27

Wird der Körper des Kranken jedoch als ein Organismus begriffen, gilt es auch – und nicht zuletzt, weil die Klinik die Unterrichtsform inkorporiert hat – den Körper und die Krankheit als einen Organismus zu beschreiben: Organe wandeln sich mit der Krankheit, Gewebe verändern sich, die Krankheit legt vom Entstehungsherd bis zum sichtbaren Ausbruch einen Weg zurück, den es zu rekonstruieren gilt. Das Medium dieser Nachbildung wird die Sprache, auf ihrer Basis wird eine Sammlung und Vergleichbarkeit der Krankheiten und der durch sie veränderten Körper möglich. Jedoch erst mit der Entdeckung eines vielfältigen und gestreuten Todes wird es möglich, den Verlauf der Krankheiten auch als einen individuellen zu begreifen; nicht jeder Patient, der an derselben Krankheit leidet, muss in Folge derselben Insuffizienz der Organe sterben. So haben sich die „Formen der Sichtbarkeit“28 durch die Verräumlichung in der Klinik und durch die Klinik, d.i. die Distribution der Individuen als Lehrfälle und Präzedenzfälle sowie die neue Räumlichkeit des Körpers in der Pathologie, verändert. Der tote Körper muss da zum Sprechen gebracht werden, wo das lebendige Individuum nicht mehr sprechen kann. Aber auch die klinische Sprache trägt zu dieser Verräumlichung bei, indem sie den neuen Raum erst sichtbar macht: „Ein absolut neuer Gebrauch des wissenschaftlichen Diskurses wurde damit definiert: eine unbedingte Treue gegenüber den Nuancierungen der Erfahrung – man sagt, was man sieht; aber auch eine Begründung und Konstituierung der Erfahrung – man macht sichtbar, indem man sagt, was man sieht; man mußte die Sprache auf jenem anscheinend sehr oberflächlich, in Wirklichkeit aber tiefen Niveau ansiedeln, auf dem die Beschreibungsformel zugleich Enthüllungsgeste ist.“29

27 Ebd. S. 153. 28 Ebd. S. 206. 29 Ebd. S. 206f.

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Die Sprache muss zu einer sehenden werden. Foucault zeigt, dass das Wahrscheinlichkeitsdenken der Medizin der Epidemien sich mit der Nachfrage der Klinik deckt.30 Die Verräumlichung der Krankheit im Körper zieht nicht mehr länger die Entzifferung eines Typs oder gar die „hierarchische[] Stellung und [...] die Auffindung einer wesenhaften Kohärenz“ nach sich, sondern vielmehr die Analyse einer Serie, „um die nuancierte Wahrnehmung eines komplexen historischen und geographischen Raumes“31 zu ermöglichen. Damit geht eine wesentliche Öffnung einher: Die Endlichkeit des Lebens trifft auf eine unabgeschlossene Beschreibung, die zu jedem Zeitpunkt fortgesetzt werden kann und sich wesentlich nach dem (räumlichen) Verlauf der Krankheiten richten muss. An die Stelle der „erschöpfend[en] und abgeschlossen[en]“ Tableaus treten die Listen, „die offen sind und endlos weitergeführt werden können“.32 Die Unabgeschlossenheit der Liste ermöglicht dennoch eine für die Wahrscheinlichkeitsrechnung zentrale Grundlage: eine Vergleichbarkeit und Messbarkeit der dem kranken Körper enthobenen Daten.33 Die Umstellung von wiederzuerkennenden Arten auf registrierte Ereignisse, von enzyklopädischem Aufschreibesystem34 zu einer fortlaufenden und ständig zu revidierenden Serie von Informationen setzt die Loslösung des Blicks vom Auge frei.

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GING [D]ie Zeit des Ereignisses und das Gesetz der Serie sind ineinander verschlungen. F.A. KITTLER: BLITZ UND SERIE, S. 164.

Wie Foucault festhält, fällt „zum ersten Mal in der Geschichte des medizinischen Denkens die Zeit der Krankheit mit dem feststellbaren Durchlaufen der organisierten Massen zusammen“.35 Gerade dieser Zusammenfall von Zeit der Krankheit mit dem Raum des Körpers macht es möglich, den Tod als einen zu denken,

30 Vgl. ebd. S. 112. 31 Ebd. S. 42. 32 Ebd. S. 45. 33 Siehe hierzu R. Schäfer: Medizin, Macht und Körper. 34 Den Begriff führe ich auf F. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, zurück. Er impliziert, dass bestimmte Aufzeichnungs- und Notationssysteme Techniken sind, welche die Art und Weise unseres Denkens programmieren. 35 M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 153.

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der sich in (miteinander zu verbindenden) Ereignissen vollzieht. Ein Blick, der sich auf das konkrete kranke Individuum und den Verlauf seiner Krankheit im Körper richtet, muss über den konkreten Einzelfall hinaus, diesen in Informationen transformieren, die der Serie zuarbeiten.36 Der Blick ist konkret auf den Körper bezogen und abstrahierend in Bezug auf die systematische Form des Wissens zugleich: „Der Blick des Klinikers richtete sich auf Abfolgen und Gruppierungen pathologischer Ereignisse; er mußte synchronisch und diachronisch sein: jedenfalls gehorchte er dem Gesetz der Zeit; er analysierte eine Serie.“37 So wird das Primat der Sprache, welches Martin Jay Foucault unterstellt,38 hinfällig, offenbart das Denken von Ereignis und Serie doch, dass die Sprache „Hilfsmittel des Blicks“39 geworden ist, die sich seiner Eroberung und Durchwanderung des Raums und der verschiedenen Kontexte möglichst formnah anzupassen hat. „Hier liegt auch der Grund für die Wendung der medizinischen Sprache. Es geht nicht mehr darum, in eindeutiger Entsprechung das Sichtbare ins Lesbare zu übersetzen und ihm mittels der Universalität einer konditionierten Sprache Bedeutung zu verleihen, sondern darum, die Worte auf eine qualitative, möglichst konkrete und individuelle Differenzierung hin zu öffnen; daher wird die Farbe, die Konsistenz, das ,Korn‘ so wichtig; daher wird die Metapher der Messung vorgezogen, wird der Schwierigkeitsgrad einfacher Operationen (zerreißen, zerdrücken) so bedeutsam; daher werden synästhetische Qualitäten (glatt, fettig, löchrig) ebenso geschätzt wie empirische Vergleiche und Anspielungen auf die Alltagserfahrung (dunkler als im Normalzustand; eine Empfindung, ,die zwischen der Empfindung von einer feuchten und halb mit Luft gefüllten Blase, wenn man sie mit den Fingern drückt, und der Empfindung, vom natürlichen Rauschen eines gesunden Lungengewebes liegt‘).“40

Der durch die verschiedenen Momentaufnahmen gegliederte Körper muss durch die Bewegung der Sprache wieder zusammengeführt werden. Dabei muss sie die Sprünge, Rekursionen und Zufälle der Entdeckungen laufend verarbeiten; sie

36 Vgl. ebd. S. 179. 37 Ebd. S. 176. 38 M. Jay: Downcast Eyes, S. 381-434. Übergreifend macht er einen die visuelle Dimension von Kultur exkludierenden Logozentrismus für die gesamte französische Philosophie der 60er Jahre aus. 39 P. Sarasin: Michel Foucault zur Einführung, S. 60. 40 M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 182.

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muss in der Lage sein, die ständige Verräumlichung zu versprachlichen, sie muss das Gesehene in zukünftig (von Studierenden und Kollegen) Sichtbares transformieren. Während die Sprache mit ihrem Organischwerden beschäftigt ist, vollzieht sich in ihrem Rücken eine Wende, die eine ganze Technologie des Blicks freisetzt. „Aber der Blick des Arztes organisiert sich doch auch ganz neu. Einmal ist er nicht mehr der Blick irgendeines Beobachters, sondern der eines von einer Institution gestützten und legitimierten Arztes, welcher entscheiden und eingreifen kann. Sodann ist dieser Blick nicht mehr an das enge Raster der Struktur (der Form, Disposition, Anzahl, Größe) gebunden, sondern er kann und muß die Farben, die Variationen, die kleinsten Anomalien erfassen, indem er ständig Abweichungen auflauert. Schließlich ist es ein Blick, der sich nicht mit der Feststellung des unmittelbar Sichtbaren begnügt; er muß Chancen und Risiken erschließen helfen; es ist ein kalkulierender Blick.“41

Der medizinische Blick ist präventiv ausgerichtet, er ist kalkulierend und ökonomisch, es ist ein statistischer Blick,42 der analysiert43 und freilegt44 statt zu lesen und zu entziffern, es ist auch ein skopischer Blick. So wird das Spital zum Spektakel: „Das Spital wird für die Privatinitiative in dem Augenblick rentabel, da das hilfesuchende Leiden zum Schauspiel geworden ist. Dank den Kräften des klinischen Blicks zahlt sich das Helfen schließlich aus.“45 Letztlich lässt sich gerade hier sehen, dass auch die Klinik einem breiten Medienwandel unterworfen ist, der sich in der Sattelzeit zwischen 1770 und 1825 vollzieht. Foucault beschreibt diesen Wandel an einer Bewegung vom planen Blick,46 der letztlich nur wiedererkennt und sich in einer endlosen Spirale bewegt, hin zu einem dreidimensionalen Blick, der sich in einem synästhetischen Raum bewegt und in diesem Sinne eine Kartographierung des Unsichtbaren vornimmt. „Der anatomisch-klinische Blick gliedert ein Volumen; er hat es mit komplexen räumlichen Gegebenheiten zu tun, die – zum ersten Mal in der Geschichte der Medizin – dreidimensional sind. Implizierte die klinische Erfahrung ein Gewebe von Sichtbarem und Les-

41 Ebd. S. 103. 42 Vgl. M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 117. 43 Ebd. S. 123. 44 Ebd. S. 134. 45 Ebd. S. 100. 46 Ebd. S. 23-26.

96 | TANJA P ROKIĆ barem, so beruht die neue Semiologie auf einer Triangulierung der Sinne: zum ersten Mal verbinden sich das Hören und das Berühren mit dem Sehen.“47

Der Weg vom planen Blick hin zum seriell gefertigten dreidimensionalen Blick ist der Weg vom monomedialen Blick der Schrift zum multimedialen Blick des Kinos, den bereits zahlreiche protokinematographische Medien schon zwischen 1770 und 1820 imaginieren.

B EDINGUNGEN UND E FFEKTE : S ERIALITÄT UND S ERIALISIERUNG Nur ein Jahr nach Entstehen von Die Geburt der Klinik bringt Marshall McLuhan einen Verdacht, den schon seine frühen Studien wie etwa GutenbergGalaxis. Das Ende des Buchzeitalters von 1962 antizipieren, mit der Erfolgsformel „the medium is the message“48 auf den Punkt. Die Studien im Umkreis der Toronto School untersuchen weitflächig die Effekte von Medienrevolutionen auf kognitive und gesellschaftliche Strukturen, werden aber von Foucault nicht weiter rezipiert.49 Dennoch ist seine Studie von einem gewissen Zeitgeist – auf einer tieferen Ebene ginge es also gerade darum, den Zeitgeist als diskursive Matrix aufzudecken – durchtränkt, der vielleicht unter Zuhilfenahme von Friedrich Kittlers Überlegungen zum Zusammenhang von Literatur und optischen Medien deutlich wird.50 Luthers „Sola scriptura, sola fidei“ und das damit einhergehende Buchdruckmonopol provozieren, so Kittler, die Gegenreformation dazu, das Illusionstheater der fünf Sinne, das sich im Innern, d.h. im Geist der Schlüsselfigur Ignatius von Loyola zuträgt, auch für ein Massenpublikum verfügbar zu machen.51 Eine mediale Wende, die Kittler an Athanasius Kircher52 festmacht, trägt dazu bei, dass diese sprichwörtliche Vision zu realisieren ist. Die

47 Ebd. S. 176. 48 „The medium is the message“, weil es das Medium ist, „that shapes and controlls the scale and form of human association and action“ (M. McLuhan: Understanding Media, S. 9). 49 Foucault hat offensichtlich Notiz von McLuhan genommen, misst dessen Ansatz aber keine weitere Aufmerksamkeit bei. Vgl. M. Foucault: Wahnsinn, Literatur, Gesellschaft, S. 155. 50 F.A. Kittler: Die Laterna magica. Siehe auch: F.A. Kittler: Optische Medien. 51 Vgl. F.A. Kittler: Optische Medie, S. 97. 52 A. Kircher: Ars magna.

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Erfindung der Laterna magica „vereinfacht, veräußerlicht, mechanisiert“ und ist schließlich „massenanwendbar“ an die Stelle von Luthers schlichtem Wort getreten. Garantierte das Wort noch den unmittelbaren Zugang zum Glauben, tritt nun an seine Stelle das Höllenspektakel, das die Gläubigen anziehen und gleichzeitig die Gegenwärtigkeit Gottes durch Lichterscheinungen, begleitet von Weihrauchwolken und Feuerflammen, verfügbar machen soll.53 Sensu Kittler resultieren die ersten großen Massenmedien aus einem jahrhundertelangen Glaubensund Bilderkrieg.54 Eine Innovationswelle wird in die Architektur und malerischen Innenausstattungen der Jesuitenkirchen transportiert; der Blick soll randlos in den Himmel (Himmelsdeckengemälde) gleiten, Linearperspektive wie trompe-l’oeil-Effekt sollen den planen Blick in einen dreidimensionalen übersetzen. Die Literatur arbeitet sich fortan am Primat des Auges ab55 und versucht sich über eine Semantisierung der Sinne hinausgehend an der Evokation eines synästhetischen Erlebnisses: „Texte müssen künftig so verfasst sein, daß es Lesern möglich ist, auch ohne eigene Anschauung des bedichteten Gegenstandes eine Anschauung zu rekonstruieren.“56 Die Literatur um 1800 sieht sich von dieser neuartigen visuellen Konkurrenz herausgefordert und eignet sich im Modus der Sprache eine neuartige Plastizität und Sinnlichkeit an. Kittler spitzt diese Tendenz entsprechend zu der These zu, dass die „Literatur der Romantik selber zur Laterna magica wurde“57. Wie die Literatur zum Protokino wird, so wird auch die Klinik zum Spektakel, zum Ort einer neuen Synästhesie der Medizin, ging es doch gerade darum, an die Stelle eines planen Blicks, der die Symptome als Zeichen einer Krankheit wiedererkennt und diese lediglich ausspricht, einen Blick zu setzen, der in den Raum vordringt und durch die entsprechende Beschreibungssprache diese räumliche Erfahrung der Krankheit zu versprachlichen imstande ist; eben etwas zur Anschauung zu bringen, was zuvor nicht in den Bereich der Anschauung fiel. „Die gesamte Analyse entfaltet sich auf der Ebene einer Ästhetik. Aber diese Ästhetik definiert nicht nur die ursprüngliche Form jeder Wahrheit, sie schreibt gleichzeitig auch Vollzugsregeln vor und wird damit auf einer zweiten Ebene Ästhetik in dem Sinne, daß

53 Vgl. F.A. Kittler: Optische Medien, S. 97. 54 Vgl. Ebd. S. 99. 55 Siehe dazu M. Titzmann: Wissen und Sprache in der Goethezeit; P. Utz: Das Auge und das Ohr. 56 F.A. Kittler: Optische Medien, S. 116. 57 Ebd. S. 118.

98 | TANJA P ROKIĆ sie die Normen einer Kunst aufstellt. Die sinnliche Wahrheit öffnet sich nun – mehr als den Sinnen selber – einer schönen Sinnlichkeit […].“58

Obwohl Foucault nicht den Umweg über eine Medientheorie nimmt, die ihm (zu) zeitgleich ist, scheint doch die Geburt seiner Diskursanalyse in ein und demselben Ermöglichungszusammenhang lokalisiert wie die Geburt der Medientheorie (im Kontext der Toronto School). Ein Ermöglichungszusammenhang, der ganz offensichtlich durch die verzögerte Druckwelle des Einbruchs der „technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks“59 in das Gefüge des Wissens erfasst wurde. Die Verabschiedung von einer sofortigen, monokausalen Zeitigung neuer Ideen, Konzepte, Erfindungen und Instrumente sowie die Hinwendung zu einer rekursiven Kausalität zeichnen demnach nicht nur Foucaults Archäologie des ärztlichen Blicks aus, sondern auch eine andere für die Wissenschaftsgeschichte folgenreiche Schrift. So zeigt auch Hans Blumenberg in Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit von 1965, sein Kommentar zu Galileis Schrift Siderius Nuncius von 1610, dass (Nicht-)Sehen als historische Konstruktion abhängig vom historischen Wissen und seinen Instrumenten zu verstehen ist und dass die Durchsetzung eines Instruments vom entsprechenden „Diskurs“ abhängt; d.h. die Erfindung eines neuen Instruments allein reicht zu dessen Durchsetzung nicht aus, es bedarf er der entsprechenden Legitimierung durch den Diskurs.60 Das Denken der 60er Jahre, seine Wahrnehmungs- und Wissensstruktur steht im Zeichen einer neuen Sichtbarkeit, die es ihm erlaubt, den tiefen Zusammenhang von Sichtbarkeit und Sagbarkeit respektive den „Boden, auf dem sie ruht“61 selbst wiederum durch ein neues Verhältnis zur Sagbarkeit zu visibilisieren. Wenn es also in Die Geburt der Klinik gerade darum geht, im Durchgang durch die Positivitäten das der (Ideen-) Geschichte Unverfügbare verfügbar zu machen, dann wiederholt sich die Bewegung des ärztlichen Blicks auf abstraktem, theoriegeschichtlichen Niveau. Es geht darum, das Sichtbare in Sagbares zu transformieren; Sagbares im Sinne einer differenzorientierten Begrifflichkeit, die ebendort, wo eine auf Kontinuität fixierte Ideengeschichte immer dasselbe wiedererkennt, nun eine zeitliche Abweichung erkennen kann. Die Gesetze der Klinik werden als etwas Neues im Verhältnis zum Alten, d.h. Vergangenen gefasst und erklärt; wodurch es schließlich auch möglich wird, die Nähe und Distanz der Jahrhun-

58 M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 135. 59 W. Benjamin: Das Kunstwerk. 60 Joseph Vogl wird ausgehend von Blumenbergs Kommentar zu der These gelangen, dass es Medien nur im Sinne eines Medium-Werdens gibt (J. Vogl: Medien-Werden). 61 M. Foucault: Die Archäologie des Wissens.

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dertwende 1800/1900 zu beobachten. Die Zeit zwischen 1770 und 1820 verabschiedet sich in rekursiven Schleifen von der Idee der goldenen Kette (catena aurea) „als ontologischer, kosmologischer und theologischer Grundfigur“62, nach der die Ordnung der Welt durch ein jenseits der Welt stehendes, aber über sie verfügendes Wesen prästabiliert ist. Die Vorstellung der catena aurea fasst „jedes Glied bedingt durch die vorherigen und bedingend gegenüber den folgenden“63. Historische und gesellschaftsstrukturelle Umwälzungen führen jedoch dazu, dass dieser vorausgesetzte Zusammenhang nachhaltig irritiert wird, die Vorstellung von einem unbedingten Bedinger gerät zunehmend unter Verdacht, die Stellung des Menschen in der goldenen Kette wird obsolet.64 Die Krankheiten gelten nach und nach als solche, die es zu verhindern und zu beherrschen gilt; Tode lassen sich verhindern. Die Idee der goldenen Kette wird dahingehend brüchig, als die Art und Weise die Krankheit zu beobachten, die vorgegebene Ordnung zu einer veränderbaren wird. Der Mensch löst sich doppelt aus der Kette heraus, insofern er sich als einen begreift, der sich selbst als Glied, als bemerkenswerte Zwischenstufe dieser Kette beobachten kann, und insofern er sich als einen begreift, der offensichtlich den Lauf der Ordnung beeinflussen und irritieren kann. Er wird, wie Foucault folgenreich in seiner späteren Schrift Die Ordnung der Dinge konstatiert, zum Objekt und Subjekt des Denkens: „Erst als jener klassische Diskurs erlischt, [...] erscheint in der tiefen Bewegung einer solchen archäologischen Veränderung der Mensch mit seiner nicht eindeutigen Position als Objekt für ein Wissen und als Subjekt, das erkennt: Unterworfener Souverän, betrachteter Betrachter.“65

Jener betrachtende Betrachter ist ein Synonym für die Doppelrolle des Klinikers, verkörpert sein ärztlicher Blick doch gerade die Spaltung in ein wissendes, sammelndes, fügendes, verknüpfendes Subjekt und in ein potenzielles Objekt, insofern er als biologisches, endliches Wesen nicht außerhalb der Kette des Lebens steht. Er ist mithin nicht aktuelles Objekt einer Krankheit, die er untersucht, aber potenzielles Objekt. Sein Zugriff auf die Krankheit ist serieller Natur, insofern der Arzt durch das Aufschreibesystem (Sichtbarkeit/Sagbarkeit/Notation)

62 P. Stoellger: Series, Sp. 872. Siehe dazu auch: J. Halfwassen/A. von der Lühe: Series; H. Krah: Serie. 63 P. Stoellger: Series, Sp. 874. 64 Mit dem einhergehenden Repräsentationsproblem, das Foucault konstatiert, beschäftigen sich auch: M. Hagner: Zwei Anmerkungen; A. Schäfer: Das Gewebe. 65 M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 377.

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Wissen nicht nur produziert, sondern reproduzierbar macht. Die neue Technologie „Blick-Sprache-Notation“ der Klinik birgt gewissermaßen die Disposition zu Benjamins technischer Reproduzierbarkeit: „Mehr als jeder andere hat möglicherweise Walter Benjamin die heterogene Struktur der Ereignisse und Objekte entworfen […]. In den verschiedenen Fragmenten seiner Schriften treffen wir auf einen veränderlichen und sich wandelnden Betrachter, der durch neue städtische Räume, Technologien und neue ökonomische wie symbolische Funktionen von Bildern und Produkten geprägt ist. […] Für Benjamin war Wahrnehmung zutiefst komplementär und kinetisch – er macht deutlich, daß die Moderne einen kontemplativen Betrachter erst gar nicht mehr zuläßt.“66

Eine Technologie also, die Dasselbe ins Gleiche verlagert, die sammelt, reiht, fügt, verknüpft und hinzufügt67, mit der einhergehenden Absage an Originalität, Aura, Singularität, unbedingte Schöpfungsprozesse, Fortschritt oder kausale Verkettung der Elemente einer Serienproduktion. Christine Blättler zeigt auf, dass die Absagen des Strukturalismus bzw. des Poststrukturalismus, d.h. die Absage an ein „über die Welt verfügendes Wesen“, die Absage an die „Idee von Fortschritt und Teleologie“ sowie die Absage an „die Ursache-WirkungsRelation“ auf dem Konzept der Serialität beruhen: „Die Elemente einer Serie sind nicht kausal miteinander verbunden, es geht um eine vornehmlich synchrone, teils auch räumliche Anordnung und entsprechende Nachbarschaftsbeziehungen. Aber auch diachron ist das Kausalitätsprinzip suspendiert, wenn das einzelne Element als Wiederholung gefasst wird. Dass damit sowohl Fortschritt wie Teleologie verabschiedet werden, versteht sich von selbst. Zugleich wird auch ein mit sich identisches souveränes Subjekt suspendiert.“68

Während Blättler Serialität hinsichtlich der Sphären Produktion, Präsentation und Rezeption differenziert, scheint es doch produktiver, Serialität als eine Matrix zur Wissensgenerierung zu konzeptualisieren. In diesem Sinne beobachtet Foucault die „Geburt“ der Klinik vor dem Hintergrund des Einzugs des seriellen Denkens in die Medizin. Der Körper wird durch den ärztlichen Blick in Zonen zerstückelt, diese Zerstückelung garantiert aber eine wiederholbare Beobachtbarkeit. Die wiederholbare Beobachtbarkeit wird durch eine formalisierte Be-

66 J. Crary: Techniken des Betrachters, S. 30f. 67 Siehe dazu F. Kluge/E. Seebold: Serie. 68 C. Blättler: Wiederholung, Differenz, Geschichte, S. 84.

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schreibungssprache gleichzeitig garantiert und in eine Praxis transformiert: Eine Praxis, die Zusammenhänge unterstellt und produziert. Die Repetition der Krankheit durch die Beobachtung des Arztes unterläuft so die Vorstellung des Repräsentationsgedankens: Die Krankheit bzw. das Symptom steht nicht für etwas anderes, sondern sie etabliert eine eigene Ordnung. Erstmals wird es so möglich, den individuellen Verlauf der Krankheit zu beobachten und zugleich generelle Aussagen über eine bestimmte Form von Krankheit zu machen. Serielle Beobachtungen korrespondieren mit einem „Verfahren serieller Deskription“69; diese impliziert notwendig eine Offenheit, damit wird eine Re-Aktualisierung der Zusammenhänge zwischen den Elementen möglich. So wird durch die Episteme der Liste zwar zunächst Kontinuität, Sukzessivität und Kausalität betont, gleichzeitig eröffnet sich dadurch aber auch die Möglichkeit, Störungen wahrzunehmen, Rearrangements vorzunehmen sowie Rekursionen zu beobachten. Damit ließe sich zwischen einer Mechanik der Serialität und einer lebendigen Serialität unterscheiden:70 Während die mechanische Serialität einen Modus der Wissensproduktion und -präsentation darstellt, ist mit dem Einbruch der technischen Reproduzierbarkeit die Möglichkeit eröffnet, die Effekte der mechanischen Serialität als Operationsbasis zu funktionalisieren: Sie fragt eben nach Automatismen, Ordnungen, Relationen, Rekursionen etc. Das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit erreicht erstmals eine kritische Qualität in den 50er Jahren; es ist demnach nicht verwunderlich, wenn gerade die Denker des (Post-)Strukturalismus von der Matrix der Serialität erfasst werden. Foucault wird in seiner Antrittsvorlesung genau diese Matrix explizit für seine Methodologie funktionalisieren: „Die geringfügige Verschiebung, die hier für die Geschichte der Ideen vorgeschlagen wird und die darin besteht, daß man nicht Vorstellungen hinter den Diskursen behandelt, sondern Diskurse als geregelte und diskrete Serien von Ereignissen – diese winzige Verschiebung ist vielleicht so etwas wie eine kleine (und widerwärtige Maschinerie (sic), welche es erlaubt, den Zufall, das Diskontinuierliche und die Materialität in die Wurzel des Denkens einzulassen. Drei Gefahren, die eine bestimmte Form der Historie zu bannen versucht, indem sie das kontinuierliche Ablaufen einer idealen Notwendigkeit erzählt. Drei Begriffe, mit denen sich an die Praxis der Historiker eine Geschichte der Denksysteme

69 R. Warning: Physiognomik und Serialität, S. 87. 70 Diese Unterscheidung ist entlehnt aus: H. Winkler: Technische Reproduktion und Serialität.

102 | TANJA P ROKIĆ anknüpfen lassen müßte. Drei Richtungen, denen die theoretische Ausarbeitung wird folgen müssen.“71

Die Revolution der optischen Medien, die Benjamin so tief verunsichert, erreicht mit der Einführung des Fernsehens und den Inventionen des Kinos (Farbe, Cinemascope etc.) ab den 50er Jahren ein völlig neues Spektrum, was auch bei Denkern wie Foucault zu einer „konsequente[n] Verneinung jeder Naturalisierung des Sichtbaren“72 führen muss. Das Sehen und der Blick werden durch die neue Radikalisierung der seriellen Kunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit zum Objekt: Die Serialisierung des Blicks, die Foucault für den Kontext der Klinik zwischen 1770 und 1820 ausmacht, ist so gewissermaßen der historische Boden der Methode der Archäologie, gleichzeitig ermöglicht diese erst die Zuspitzung der optotechnischen Revolution seit dieser Zeit, die letztlich zu einer (neuen) Sagbarkeit des (historisch) Sichtbaren führt. Die „Wahrnehmungs- und Wissensstruktur, welche die klinische Anatomie und seither jede Medizin leitet, ist die der unsichtbaren Sichtbarkeit“73: Eine Sichtbarkeit, die es der Reihe nach offenzulegen gilt, die aber per se unsichtbar ist.74 „Denn die Sichtbarkeiten mögen ihrerseits nie verborgen sein, sie sind darum nicht unmittelbar wahrnehmbar oder sichtbar. Sie sind sogar unsichtbar, solange wir bei den Objekten, den Dingen oder den Sinnesqualitäten stehenbleiben, ohne bis zu der Bedingung vorzustoßen, die sie öffnen.“75

Der Weg vom ärztlichen Blick, der zunächst nur mit einer neuen Sprache bewaffnet die Gefilde des Körpers durchquert, zu den bildgebenden Verfahren76 der Medizin der Gegenwart ist damit insofern konsequent, als dass auch hier keine sprechenden Bilder produziert werden, sondern eine unsichtbare Sichtbarkeit im Bild verborgen liegt, die es sichtbar zu machen gilt. Der Blick des Klinikers zeichnete sich so nicht durch „identische Repetition“ aus, sondern durch

71 M. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 38. 72 S. Scholz: Vision revisited. 73 M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 179. 74 Eine Bewegung, die Foucault dann in Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses weiterverfolgt. Auch hier geht es darum, das per se Unsichtbare, nämlich die Seele, in Sichtbarkeit zu materialisieren. 75 G. Deleuze: Foucault, S. 81. Vgl. auch: G. Deleuze: Wesentliche Begriffe, S. 270-281. 76 Siehe auch: S. Scholz: (Re-)Produzierte Sichtbarkeit.

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„miteinander in Relationen stehende Differenzen“77. Dass auch die Sprache des Arztes sich verschiebt, ist dem Umstand geschuldet, dass die Klinik von Objekt oder Substanz auf Relationen umstellt78, und eben auf diese Relationen rekursiver Natur kann Foucault wiederum seinen Blick richten, weil er in einer historischen Formation steht, in der schon längst von mechanischer auf lebendige Serialität umgestellt wurde. Dass diese wiederum in den blinden Fleck seiner Selbstbeobachtung fallen, so lautet die durchaus plausible Diagnose Kittlers, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass „seine historischen Analysen alle unmittelbar vor dem Zeitpunkt haltmachten, wo andere Medien und andere Posten das Büchermagazin durchlöcherten. Für Tonarchive oder Filmrollentürme wird Diskursanalyse unzuständig“79. Eine Weiterführung seiner Diskursanalyse, die auf unilinearen und monokausalen Bedingungsverhältnissen beruht, geht dann notwendig an Foucaults Gedanken vorbei; viel treffender scheinen methodische Modelle, die auf zirkuläre Bedingungsverhältnisse oder Substitutionsprozesse aufbauen, die Medien, Praxen und Diskurse als Technologien der Wissensgenerierung zusammenfassen und keinem eine apriorische Stellung einräumen.80

L ITERATUR Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Detlev Schöttker (Hg.), Medienästhetische Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 351-383. Blättler, Christine: „Überlegungen zu Serialität als ästhetischem Begriff“, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 49 (2003), S. 502-517. Blättler, Christine: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Kunst der Serie. Die Serie in den Künsten, München: Wilhelm Fink 2010, S. 7-14. Blättler, Christine: „Wiederholung, Differenz und die Frage nach der Geschichte“, in: Thomas Ebke/Matthias Schloßberger (Hg.), Dezentrierungen. Zur

77 C. Blättler: Überlegungen zu Serialität, S. 512 mit Bezug auf G. Deleuze: Differenz und Wiederholung. 78 Vgl. C. Blättler: Einleitung, S. 9. 79 F.A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 13. 80 Vgl. hierzu etwa das Konzept der Mediologie: R. Debray: Einführung in die Mediologie; R. Debray: Für eine Mediologie.; A. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr.

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Medizin(-Ethik) im Kontext der Gesellschaft

Die Macht der Medizin Foucault und die soziologische Medikalisierungskritik M IKE L AUFENBERG Seit dem 18. Jahrhundert hat die Medizin nicht aufgehört, sich mit dem zu beschäftigen, was sie nicht betrifft, das heißt mit dem, was sich nicht auf die verschiedenen Aspekte der Kranken und der Krankheiten bezieht. M. FOUCAULT: KRISE DER MEDIZIN, S. 67.

E INLEITUNG Im Herbst 1974 hielt Michel Foucault drei Vorträge am Institut für Sozialmedizin der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro.1 Thematisch behandelten die Beiträge die Geschichte und Gegenwart der modernen Medizin in Europa, deren Entstehung und Siegeszug Foucault in den gesellschaftlichen Umbrüchen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts verortet. Foucault entwickelt im Verlauf der Vorträge eine dezidiert machtanalytische Medizinkritik: Er charakterisiert die zeitgenössische Medizin als eine soziale Praxis, die seit ihren Anfängen konstitutiv und unauflöslich mit politischen und ökonomischen Rationalitäten verschränkt ist, die nach einer geeigneten Lenkung und Nutzbarmachung des Lebens suchen. Um die Ausführungen zeithistorisch und politisch einzuordnen, sind Ort und Zeitpunkt der Vortragsreihe äußerst aufschlussreich. Foucault wird an das Institut für Sozialmedizin eingeladen, als sich in Brasilien die ersten Kon-

1

Vgl. M. Foucault: Krise der Medizin, Ders.: Die Geburt der Sozialmedizin sowie Ders.: Die Einbindung des Krankenhauses.

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turen einer von Intellektuellen, Gewerkschaften und Ärzteorganisationen getragenen demokratischen Gesundheitsbewegung abzeichnen, die sich gegen die staatliche Gesundheitspolitik der seit einem Jahrzehnt herrschenden Militärdiktatur richtet. Der brasilianische Public Health Sektor war während dieser Zeit insbesondere durch zentralistische Präventionsprogramme wie das 1973 eingeführte National Immunization Program (NIP) charakterisiert, das eine flächendeckende Impfung von Säuglingen und Kleinkindern zur Bekämpfung der Ausbreitung von Pocken, Masern, Fieber usw. durchsetzte. Diese präventionslogische „Staatsmedizin“ wurde auf der anderen Seite durch eine Privatisierung und Vermarktlichung von Gesundheits- und Versorgungsleistungen begleitet, die das ohnehin sozial zerklüftete öffentliche Gesundheitssystem weiter aushöhlten. Die brasilianische Sozialmedizin konstituiert sich in den 1970er Jahren als Gegendiskurs zu diesem staatlich-ökonomisch-medizinischen Komplex und beruft sich hierbei gleichermaßen auf lateinamerikanische (Salvador Allende, Juan B. Justo, Ernesto Guevara) wie europäische (Rudolf Virchow) Vordenker.2 Die Sozialmedizin fordert einerseits ein universales soziales Recht auf Gesundheitsversorgung. Andererseits betont der sozialmedizinische Diskurs die Bedeutung der sozialen Umwelt für die Entstehung und Verbreitung von Krankheiten, insbesondere sozioökonomische Faktoren wie Armut, Arbeits- und Wohnverhältnisse und Ernährungsweisen. Der Erhalt von individueller und kollektiver Gesundheit durch die erfolgreiche Bekämpfung und Prävention von Krankheiten bedürften entsprechend umfassender Analysen und Veränderungen der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse. Die Sozialmedizin fordert damit eine Abkehr von einer auf den Austausch von Arzt/Ärztin und Krankem reduzierten Individualmedizin hin zu einer Medizin, die soziale Aufgaben übernimmt und die gesellschaftlichen Verhältnisse mit gestaltet.3 Eben dieser sozialmedizinische Gegendiskurs, welcher als Kritik am bestehenden medizinischen System emergiert, bildet die zeithistorische Kulisse, vor der Foucault an der Universität von Rio de Janeiro spricht. Die Unterscheidung in eine individuelle privative und eine soziale öffentliche Medizin weist er mit Blick auf die europäische Medizingeschichte dabei als eine falsche Alternative zurück. Mehr noch, Foucault argumentiert, dass der Gegendiskurs der sozialmedizinischen Kritik nicht nur so alt sei wie die moderne Medizin selbst, sondern sich ironischerweise als ein Teil ihres inneren Gefüges erweist, wenn er die Medizin als soziale Disziplin zu redefinieren sucht:

2

Vgl. H. Waitzkin et al.: Social Medicine.

3

Vgl. M. Foucault: Krise der Medizin, S. 59.

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„Ich möchte [...] zeigen, dass die Medizin zumindest seit dem 18. Jahrhundert eine soziale Aktivität darstellt. In einem gewissen Sinne gibt es keine Sozialmedizin, weil sämtliche Medizin sozial ist. Die Medizin ist immer eine soziale Praxis gewesen. Es gibt keine individuelle Medizin, es gibt keine individualistische, klinische Medizin, es gibt nicht die Medizin als singuläre Beziehung.“4

Ausgehend von Foucaults Vorlesungen in Brasilien rekonstruiert der vorliegende Beitrag auf den nächsten Seiten Foucaults Argument einer genuinen Sozialität der Medizin als Beitrag zu einer machtkritischen Analyse moderner Wissensformen und Praktiken der Medizin. Ähnlich wie bei Foucault dient der zeitgenössische medizinkritische Diskurs, wie er sich in der soziologischen Medikalisierungskritik manifestiert, hierbei als Kontrastfolie, gegen die Foucaults genealogische Analyse der Medizin als Alternative gelesen wird. Abschließend wird zusammengefasst, welche Schlussfolgerungen sich aus Foucaults Analyse für eine gesellschaftstheoretisch fundierte Kritik der Medizin ergeben.

K RITIK DER M EDIKALISIERUNG ODER K RITIK DER M EDIZIN ? Interessanterweise setzen Foucaults Ausführungen zur Geschichte und Gegenwart des medizinischen Komplexes nicht mit der Medizin selbst ein, sondern mit einer seinerzeit populären Form der Medizinkritik, genauer mit Ivan Illichs Enthüllungen über die Schädlichkeit einer von ärztlicher Autorität und ökonomischen Interessen geprägten Medizin.5 Illichs materialreiche Abhandlungen legen die negativen Folgen einer industriell und technologisch aufgerüsteten Medizin dar, welche ihm zufolge – etwa durch wagehalsige chirurgische Operationen oder Nebenwirkungen von Medikamenten – an einen Punkt gelangt sei, an dem sie mehr Krankheiten und Tode verursache, als diese zu lindern bzw. abzuwenden. Foucault bescheinigt Illichs spektakelhafer Abrechnung mit der Medizin nun zwei gravierende Mängel: Erstens bezögen sich Illichs Resultate „auf die Geschicklichkeit oder die Unwissenheit von Ärzten, ohne die Medizin selbst in ihrer Wissenschaftlichkeit in Frage zu stellen“.6 Zweitens, und daraus resultierend, verstricke sich Illichs Medizinkritik in eine Gegenüberstellung von einer guten und einer schlechten Medizin und bleibe damit einem medizinischen Diskurs

4

Ebd.

5

Vgl. I. Illich: Medical Nemesis.

6

Vgl. M. Foucault: Krise der Medizin, S. 61.

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verhaftet, den sie eigentlich zu kritisieren sucht. Foucault führt dies auf ein allgemeines Problem zurück, vor das sich kritische Untersuchungen der Medizin gestellt sehen: „Das Teuflische an der derzeitigen Situation ist, dass wir, wenn wir auf einen Bereich zurückgreifen wollen, den man für der Medizin äußerlich hält, feststellen müssen, dass er medizinisiert worden ist. Und wenn man der Medizin ihre Schwächen, ihre Nachteile und ihre schädlichen Wirkungen entgegenhalten möchte, geschieht dies im Namen eines noch vollkommeneren, verfeinerteren und stärker verbreiteten medizinischen Wissens.“7

Foucault veranschaulicht dies an einem Beispiel: „Illich und seine Schüler zeigen, dass die therapeutische Medizin, die eingreift, um auf eine Symptomalogie zu antworten und die augenscheinlichen Symptome einer Krankheit zu blockieren, eine schlechte Medizin sei. Sie schlagen im Gegenentwurf eine entmedizinisierte Gesundheitskunst vor, das heißt Hygiene, Ernährung, Lebensrhythmus, Arbeitsbedingungen, Wohnen usw.“8

Für Foucault greift eine solche Form der Kritik zu kurz, da sie auf einem naiven und reduktionistischen Verständnis von Medizin beruht. Denn medizinisches Wissen und medizinische Praktiken sind keinesfalls bloß dort anzutreffen, wo Ärzte/Ärztinnen agieren, Medikamente verabreicht werden und Krankheitssymptome behandelt werden. Vielmehr sind wir in den wissenschaftlich-technisch rationalisierten Gesellschaften mit einer Vielzahl von Regeln und strategischen Beziehungen konfrontiert, „die durch ein biologisches und medizinisches Wissen aufgestellt und kodifiziert wurden“.9 Die von der Sozialmedizin gegen das biomedizinische Krankheitsmodell in Stellung gebrachten Strategien: von der Verbesserung der Hygiene über die Überprüfung der Ernährung bis zur Umstellung der Arbeits- und Lebensgewohnheiten, stellen hier für Foucault gerade keinen Gegenentwurf zur Medizin dar, sondern sind selbst als Durchgangspunkte der medizinischen Durchdringung des Lebens zu betrachten. Hierin besteht Foucault zufolge das Dilemma von Illich und der Medizinkritik: „Die Antimedizin kann der Medizin nur Tatsachen oder Entwürfe entgegensetzen, die in eine bestimmte Form von Medizin gekleidet sind“.10 Statt wie Illich von einer Krise der Medizin

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10 Ebd.

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zu sprechen, hätten wir daher eher eine Krise der Medizinkritik zu beklagen, wie der ironische Titel des Vortrags in Rio, „Krise der Medizin oder Krise der Antimedizin?“, bereits vorwegnimmt. Trotz der offensichtlichen Defizite in Illichs Medizinkritik übte diese neben den Texten der Antipsychiatrie11 einen großen Einfluss auf die in den 1970er Jahren an Fahrt gewinnende soziologische Medikalisierungsforschung aus. Das soziologische Konzept der Medikalisierung zielt auf die Kritik an einer wachsenden medizinischen Definitionsmacht über Körperprozesse und Verhaltensweisen,12 durch die soziale Problemlagen auf medizinisch-biologische Phänomene reduziert und damit dem politischen Diskurs entzogen würden. Anhand der Medikalisierung von beispielsweise Alkoholismus, Homosexualität, Depression oder ADHS wurde argumentiert, dass der Medizin eine bestimmte soziale Kontrollfunktion innerhalb gesellschaftlicher Ordnungs- und Steuerungsprozesse zukommt.13 Medikalisierungsprozesse werden hierbei konzeptionell auf drei Analyseebenen verortet: In epistemischer Hinsicht richtet sich die Kritik gegen einen biomedizinisch-somatischen Begriff von Krankheit und damit einhergehend gegen eine Medizin, die Diagnostik und Therapeutik einseitig an einem naturwissenschaftlichen Verständnis von Gesundheit und Pathologie ausrichtet. In institutioneller Hinsicht wird insbesondere der Einschluss und die Verwahrung von Betroffenen – Kranke, Psychiatrisierte, Alte, Pflege- und Assistenzbedürftige – in Kliniken und Anstalten kritisiert. In machtanalytischer Perspektive wird zudem die Herrschaft der Ärzteschaft problematisiert, die sich in der Deutungshoheit des Expertentums über Fragen von Gesundheit, Normalität und Abweichung manifestiert. Im Vergleich zu früheren Arbeiten, die insbesondere die Macht der ärztlichen Profession und des medizinischen Systems kritisierten, stellen jüngere Arbeiten die „wandelnden Motoren der Medikalisierung“14 heraus. So werden die Interessenspolitik sozialer Akteure wie Selbsthilfeorganisationen, etwa Alzheimervereinigungen,15 die bereitwillige ‚Selbstmedikalisierung‘ von Subjekten16 sowie eine fortschreitende Ökonomisierung des Gesundheits- und Pflegesektors als treibende Kräfte hinter Medikalisierungsprozessen hervorgehoben.17 Die Ent-

11 Vgl. T. Szasz: The Manufacture of Madness. 12 Vgl. I. Zola: Medicine as an Institution. 13 Vgl. P. Conrad: Medicalization sowie P. Conrad/J. Schneider: Deviance. 14 Vgl. P. Conrad: Shifting Engines. 15 Vgl. R. Adelman: The Alzheimerization sowie C. Mykytyn: A History. 16 Vgl. N. Rose: Beyond Medicalisation. 17 Vgl. P. Conrad: Shifting Engines sowie A. Petersen/K. Seear: In Search.

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stehung einer vom Diktum des „Healthism“18 durchdrungenen „Gesundheitsgesellschaft“,19 die mit einer Ausweitung bzw. „Entgrenzung der Medizin“20 und ihrer Diagnosen und Deutungen auf sämtliche Lebenslagen einhergehen, wird als dynamischer Prozess analysiert, der von einer Vielzahl von Institutionen, Diskursen und Interaktionen gestützt ist. Überraschenderweise besteht eine der grundlegenden konzeptionellen Schwächen des soziologischen Medikalisierungsbegriffs jedoch in der gesellschaftstheoretischen Unterbestimmtheit der Medizin selbst. So bleibt das Verhältnis zwischen Medizin und Medikalisierung in der Tat vage, wie das aktuelle Beispiel von Willy Viehövers und Peter Wehlings Begriff der „Entgrenzung der Medizin“ verdeutlicht, den sie als Aktualisierung und zugleich Erweiterung und Ausdifferenzierung des soziologischen Medikalisierungskonzepts vorschlagen.21 Wehling und Viehöver machen vier Dynamiken aus, die als richtungsweisend für zeitgenössische Formen der Entgrenzung des medizinischen Feldes betrachtet werden könnten:22 die „Ausweitung medizinischer Diagnosen“ auf Phänomene, die zuvor nicht als medizinisch relevant galten; die „krankheitsunabhängige Verbreitung medizinischer Techniken“ etwa in der Anti-Aging-Medizin oder der ästhetischen Chirurgie; die „Entzeitlichung von Krankheit“ wie sie in der am asymptomatischen Körper ansetzenden prädiktiven Diagnostik zum Ausdruck kommt; sowie die „direkte Optimierung des menschlichen Körpers“, mit der die aktuelle Medizin endgültig einen Wandel „von der ärztlichen Heilkunst zur biotechnologischen Optimierung des Menschen“23 vollziehe. Wehling und Viehöver fassen zusammen: „Alle vier Dynamiken weisen in Richtung der Erosion und Entgrenzung der Unterscheidungen von Krankheit vs. Gesundheit sowie Therapie vs. Enhancement […]. Insgesamt ergeben sie das Bild einer Medizin, die sich offenbar immer weniger an klaren begrifflichen und institutionellen Abgrenzungen orientieren kann und deren Zielsetzungen sich zur Optimierung des menschlichen Körpers hin zu erweitern scheinen.“24

18 R. Crawford: Healthism. 19 I. Kickbusch: Die Gesundheitsgesellschaft. 20 P. Wehling/W. Viehöver: Entgrenzung. 21 Vgl. ebd., S. 26. 22 Vgl. ebd., S. 16ff. 23 Ebd., S. 29. 24 Ebd., S. 25.

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Wehling und Viehöver räumen zwar ein, dass die von ihnen beschriebenen Entgrenzungsdynamiken historische Vorläufer haben mögen und aktuelle Entwicklungen der Medizin dementsprechend nicht sämtlich neuartig seien.25 Doch, so die Diagnose, die Entgrenzungen der Medizin beschleunigten und vervielfältigten sich gegenwärtig.26 Die Begriffe der Medikalisierung und Entgrenzung suggerieren zweifelsohne, dass es eine andere als jene Medizin gab oder geben könnte, die im Prozess der Entgrenzung und Medikalisierung in Erscheinung tritt: Eine nicht oder zumindest weniger entgrenzte Medizin; mithin eine Medizin, die sich ausschließlich mit pathologischen Zuständen befasst und nicht in ‚gesunde‘ Körper interveniert; eine Medizin, die sich auf ihre ureigene Kompetenz des Heilens konzentriert, anstatt sich an der Normierung und Optimierung des Lebens zu beteiligen. Spätestens seit Illichs Nemesis der Medizin kennzeichnet medikalisierungskritische Interventionen vor diesem Hintergrund ein gewisser Hang zur Nostalgie. Man zeichnet entweder das vage Bild einer Medizin, die irgendwann einmal persönlicher, weniger kommerziell und irgendwie humaner gewesen sein soll.27 Oder man imaginiert eine andere, eine sozialere, eine stärker naturbasierte Medizin für die Zukunft, die jedoch – wie oben anhand von Foucaults Kritik an Illichs Antimedizin illustriert wurde – die biologisch-medizinische Durchdringung des Lebens auf anderer Ebene fortsetzt, ohne an deren Grundlagen zu rütteln. Damit soll keinesfalls suggeriert werden, dass die soziologische Medizinund Medikalisierungskritik insgesamt irrt; eher geht sie in der Mehrheit der Fälle nicht weit genug. Denn die soziologische Medizinkritik durchdringt weniger die Medizin an sich – als gesellschaftliche Beziehung und als strukturelles Machtverhältnis – als sie sich gegen bestimmte Entwicklungen und Phänomene richtet, die ihr als problematische Auswüchse des medizinischen Feldes über seinen als legitim erachteten Handlungsbereich hinaus gelten. Auf der Basis einer solchen Machtanalytik, die kaum die Medizin selbst, sondern in der Hauptsache deren „expansive Tendenzen“28 problematisiert, entspannt sich ein Aufklärungsdiskurs über die Schattenseiten des medizinischen Fortschritts. Ein Ensemble skandalöser Geschichten wird angeführt, mit der eine „maßlose Medizin“29 als historische

25 Vgl. ebd., S. 30. 26 Eine Aussage, die in der Folge allerdings weniger empirisch belegt als performativ gesetzt wird, u.a. durch die inflationär gebrauchte Attribuierung einer „zunehmenden“ (ebd., S. 8, 9, 19, 21, 22, 27, 34, 36, 40) Entgrenzung des medizinischen Feldes. 27 Vgl. T. Osborne: On Anti-Medicine, S. 29. 28 P. Wehling/W. Viehöver: Entgrenzung, S. 27. 29 R. Flöhl: Maßlose Medizin?

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Abirrung entlarvt werden soll. So empört man sich angesichts der pharmazeutischen (Selbst-)Optimierung von Schüler_innen und Student_innen, der Misere der Schönheitschirurgie oder dem unternehmerischen Promoting von Social Freezing und zeichnet damit das kleinteilige Bild einer monströsen medizinischtechnischen Kultur, die ihre Kinder auffrisst. In den Hintergrund treten dabei grundsätzlichere Fragen nach dem Verhältnis von Medizin und Gesellschaft sowie nach der eigentlichen Beziehung zwischen der Medizin einerseits und ihren vermeintlichen Auswüchsen und Entgrenzungen andererseits. Lassen sich Medizin und Medikalisierung überhaupt analytisch trennen? Oder ist die Entgrenzung nicht seit jeher der Existenzmodus der modernen Medizin? Die Frage, ob die Grenzziehungen zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen Heilkunst und Körperoptimierung heute stärker erodieren als zuvor, ist äußerst komplex, sobald wir – wie Foucault bereits gegen Illich anführte – nicht nur solche Indikatoren zur Begründung heranziehen, die im engeren Sinne krankheitsbezogen sind, etwa die Zunahme von pathologisierenden Diagnosekategorien, therapeutischen Prozeduren und medizinischen Einrichtungen. Wenn im Folgenden Foucaults Thesen zum Verhältnis von Medizin und Medikalisierung skizziert werden, dann nicht, um die These von der zunehmenden Entgrenzung des medizinischen Feldes empirisch zu überprüfen. Vielmehr soll das Verhältnis der Medizin zu ihrer Entgrenzung gesellschaftstheoretisch bestimmt werden, um das soziologische Medikalisierungstheorem auf dieser Basis einer konzeptionellen Revision zu unterziehen.

D IE G EBURT DER M EDIZIN : E INE GENEALOGISCHE P ERSPEKTIVE IM ANSCHLUSS AN F OUCAULT Die Medizin ist immer eine soziale Praxis gewesen. M. FOUCAULT: KRISE DER MEDIZIN, S. 59.

Von Nietzsche inspiriert entwickelt Foucault eine genealogische Methodik, die auf dem Grundsatz beruht, dass aktuelle institutionelle und epistemische Formationen nicht auf punktuelle Ursprünge verweisen, sondern aus einer Geschichte heterogener Ereignisse und Verhältnisse geboren werden. Wenn wir von dem Staat, dem Gefängnis oder eben der Medizin so sprechen, als handele es sich bei ihnen jeweils um homogene Entitäten, dann verwenden wir „mythifizierte Abs-

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traktion[en]“,30 in denen die Heterogenität ihrer Entstehungskontexte zum Verschwinden gebracht wird. Die Genealogie sucht dies sichtbar zu machen, indem sie die vermeintliche Homogenität eines Phänomens oder einer Institution als Oberflächeneffekt eines hybriden, zusammengesetzten Gefüges aus diskursiven, institutionellen und materiellen Praktiken entlarvt. Diskurse wie Institutionen sind das Ergebnis von „Schichtungen“, um Foucaults archäologische Metaphorik aufzugreifen, wobei die Elemente der einzelnen Schichten – Aussagen, Werkzeuge, Gesetzestexte, Techniken, Erkenntnisse, Rationalitäten, Machtstrategien, Regierungspraktiken etc. – mannigfaltige Entstehungskontexte und Entwicklungslinien aufweisen. So kann das Gefängnis nicht einfach aus der Justiz abgeleitet werden, das Krankenhaus ist nicht allein das Ergebnis einer Institutionalisierung medizinischen Wissens. In ihnen manifestieren sich jeweils ‚feldfremde‘ Rationalitäten und Praktiken. Das Gefängnis konstituiert sich daher nicht als reine Strafanstalt, sondern materialisiert sich zeitgleich als humanistische Erziehungsanstalt und therapeutisches Setting, während die Klinik nicht nur der Pflege und Heilung dient, sondern auch einen Ort der Verwissenschaftlichung des Lebens, der Moral, der Überwachung und der Disziplin verkörpert. Foucaults Überzeugung ist, dass diese heterogenen Logiken nicht erst nachträglich zu einer Institution wie der Klinik oder dem Gefängnis hinzutreten, sondern zu deren „innerem Gefüge zu gehören scheinen – so eng waren sie immer mit [ihnen] verknüpft“.31 Entsprechend fungieren auch die Akteure dieser Institutionen als multiple Durchgangspunkte verschiedener Rationalitäten und Praktiken. Richter, Lehrer oder Ärzte interessieren Foucault als historische Funktionsmodelle, die in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft quer zu Diskursen und Institutionen agieren und damit helfen, unterschiedliche Rationalitäten miteinander zu vernähen und in den Alltagsverhältnissen der Menschen zu verankern. So treffen wir den Arzt nicht nur am Krankenbett, sondern auch im Gewand des Richters oder in der Ermahnung des Vaters gegenüber seinen Kindern an; der Polizist hütet nicht nur die Ordnung auf den Straßen, sondern agiert als Lehrer, Arzt und Fabrikbesitzer zugleich in der Schule, dem Krankenhaus und der Fabrik, wo er das Kommando über die Kinder, die Kranken und die Arbeiter_innen ausübt. Die genealogische Untersuchungsmethode unterscheidet sich damit signifikant von der konventionellen Historiographie. Denn die Genealogie betreibt mit Foucault gesprochen keine „absteigende“, sondern eine „aufsteigende“ Analy-

30 M. Foucault: Sicherheit, S. 163. 31 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 299.

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se.32 Sie nimmt die Medizin daher nicht zum Ausgangspunkt der Analyse, so als habe diese seit Jahrtausenden (wenn auch in unterschiedlichen Formen) existiert, sondern betrachtet sie als das ort- und zeitgebundene Ergebnis eines ganzen Bündels verschiedenartiger Praktiken und Machtmechanismen – Heilen, Überwachen, Normieren, Forschen/Untersuchen, Disziplinieren, Pflegen, Sorgen, Verwalten, Optimieren. Die Genealogie sucht als Methode sichtbar zu machen, wie diese heterogenen Praktiken und Mechanismen, die allesamt „ihre eigene Geschichte, ihren eigenen Weg, ihre eigene Technik und Taktik haben […] von immer allgemeineren Mechanismen und globaleren Herrschaftsformen besetzt, kolonisiert, verwendet, umgebogen, transformiert, verlagert und ausgedehnt wurden und immer noch werden“.33 Die Medizin stellt für Foucault einen solchen verallgemeinerten Machtmechanismus dar, und zwar zunächst in dem Sinne, dass sie sich in der modernen Gesellschaft als Kristallisations- und Durchgangspunkt von normativen Techniken konstituiert, mit denen in das Leben von Individuum und Bevölkerung interveniert wird. Die moderne Medizin war demnach nie eine reine Heilkunst gewesen. Ihre Untersuchungsmethoden und therapeutischen Ansätze konstituieren sich seit dem 18. Jahrhundert in einem gesellschaftlichen Raum, in dem sie untrennbar mit dem politisch-ökonomischen Machtapparat der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft verknüpft sind, von der richterlichen Wahrheitssuche über die Normierung der alltäglichen Handlungsweisen bis zur Steigerung und Verfeinerung des Arbeitsvermögens.34 Foucault macht uns darauf aufmerksam, dass die Medizin somit nie ein Feld mit „klaren begrifflichen und institutionellen Abgrenzungen“35 war, das sich in der Folge ausweiten und entgrenzen würde. Die moderne Medizin steht demnach nicht am Anfang einer Entgrenzung ihrer selbst, sondern sie markiert das vorläufige, stets offen bleibende Ergebnis einer komplexen Neuordnung von Wissen, Raum und sozialen Beziehungen am Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft. Um die gegenwärtigen Entwicklungen der Medizin richtig einzuordnen und gesellschaftstheoretisch zu fundieren, müssen wir Foucault zufolge daher „die Frage nach dem Entwicklungsmodell der Medizin ausgehend vom 18. Jahrhundert stellen, das heißt, als sich das ereignete, was man den ‚Aufschwung‘ der Medizin nennen könnte“.36 Was hat diesen Aufschwung bewirkt, womit hängt er zusam-

32 M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 46. 33 Ebd., S. 44f. 34 Vgl. M. Foucault: Die Geburt der Sozialmedizin. 35 P. Wehling/W. Viehöver: Entgrenzung, S. 25. 36 M. Foucault: Krise der Medizin, S. 59.

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men und wie lassen sich daraus Erklärungen für aktuelle Phänomene und Entwicklungen der Medizin ableiten? Medizin als Sozialtechnologie Im 18. Jahrhundert verwandelt sich die Medizin von einer individuellen Praxis zwischen Ärzten und Kranken in eine soziale Praxis. Damit ist eine Reihe von Neuerungen verbunden, die der vormodernen Medizin fremd waren. Die medizinische Sorge um das Wohlergehen der Menschen wird auf die Ebene staatlicher Politik gehoben; Gesundheit und Krankheit werden unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet und problematisiert. Die moderne Medizin, so lassen sich Foucaults Untersuchungen zusammenfassen, tritt als Sozialmedizin in Erscheinung. Diese ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht mehr im klassischen Sinne medizinisch handelt und denkt. Und hierin ist für Foucault überhaupt der Grund für ihren Aufschwung zu sehen, der sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts kennzeichnet und zu einer tragenden Instanz des gesellschaftlichen Lebens werden lässt. Diese Schlussfolgerung entbehrt nicht der Ironie: Während die mittelalterliche Medizin, die noch ganz auf die Nachfrage und den Leidensdruck der Kranken reagierte, mit der kurativen Fokussierung des kranken Körpers nur mäßige Erfolge in der Bekämpfung grassierender Krankheiten erzielte, besteht der Erfolg der modernen Medizin gerade darin, dass sich die ärztliche Praxis allmählich von einer vorrangig krankheitsbezogenen Technik in eine soziale Technologie wandelt. So wurden die großen pandemischen und epidemischen Infektionskrankheiten des 18. und 19. Jahrhunderts wie Pest, Tuberkulose und Cholera bereits vor Pasteur und vor der Erfindung des Impfens erfolgreich durch die Medizin bekämpft. Jedoch nicht, weil die mikrobiologischen Grundlagen und Übertragungswege der Erkrankungen verstanden worden wären, nicht weil die medizinische Diagnostik und Therapeutik den Sieg über die Erreger brachte, konnten Pest und Cholera Einhalt geboten werden, sondern weil man dazu überging, disziplinierende und bevölkerungspolitische Maßnahmen einzuführen – von der polizeilichen Durchsetzung der Hygiene über die Parzellierung und Überwachung des Raums bis hin zur pädagogischen und moralischen Führung der individuellen Körper und Verhaltensweisen. Die Erfolgsgeschichte der modernen Medizin ist an diese Transformation zu einer Sozialtechnologie geknüpft, die auf die Regulierung der Bevölkerung und Lenkung der individuellen Lebensweisen zielt. Kurzum, erst in dem Moment, da die Medizin über die individuelle Interaktion zwischen Heiler_innen und Kranken hinaus geht und den engeren Fokus auf die symptombezogene Behandlung des leidenden Menschen

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überwindet, kann sie diese gesellschaftliche Bedeutung für die Aufrechterhaltung und Verbesserung des Lebens erhalten, die ihr bis heute zugestanden wird. Foucault illustriert die Formierung der modernen Medizin durch ihre Einbindung in die ihr zeitgenössische politisch-ökonomische Machtordnung am Beispiel des Hafens. Dieser wird im 18. Jahrhundert nicht nur zu einem bedeutenden Umschlagsplatz für die Warenzirkulation, sondern auch zu einem Ort der Ansteckung, der Desertion und des Schmuggels, zu einer „Kreuzung gefährlicher Vermengungen“ und einem „Treffpunkt verbotener Verkehrsströme“.37 Die Errichtung von Hafenspitälern betrachtet Foucault gemäß der oben erläuterten genealogischen Perspektive als Effekt heterogener Rationalitäten und Strategien: Das Hafenkrankenhaus setzt sich aus Diskursen und Praktiken unterschiedlicher Herkunft zusammen; es ist nicht allein aus dem medizinischen Feld und der Logik des Heilens entstanden, sondern durch die Verbindung mit sozialen, administrativen, rechtlichen und polizeilichen Rationalitäten. Die potenziell bedrohliche Menge – „ihr diffuses Herumschweifen, […] ihre unnütze und gefährliche Anhäufung“38 – soll durch die Einbindung des Krankenhauses in die Kontrollund Sicherheitsmechanismen so aufgeteilt und angeordnet werden, dass potenzielle oder tatsächliche Übertragungswege identifiziert und kontrolliert werden können. Das Hafenspital, so Foucault, „[…] muss dieser beweglichen und wimmelnden Masse Herr werden, indem es das Durcheinander von Gesetzwidrigkeit und Krankheit entwirrt. Die medizinische Überwachung der Krankheiten und der Ansteckungen geht Hand in Hand mit anderen Kontrollen: mit der militärischen Kontrolle der Deserteure, mit der fiskalischen Kontrolle der Waren, mit der administrativen Kontrolle der Heilmittel, der Verpflegung, der Abwesenheiten, der Heilungen, der Todesfälle, der Verstellungen.“39

Durch diese Verkettung medizinischen Denkens und Handelns mit politischadministrativen Strategien und ökonomischen Interessen habe sich Foucault zufolge allmählich „ein administrativer und politischer Raum zu einem therapeutischen Raum [verfeinert], der die Körper, die Krankheiten, die Symptome, die Leben und die Tode zu individualisieren sucht“.40

37 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 184f. 38 Ebd., S. 183. 39 Ebd., S. 185. 40 Ebd.

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Vor diesem Hintergrund erhält Foucaults Schlussfolgerung, die moderne Medizin habe sich von Beginn an als soziale Praxis konstituiert,41 eine sehr weitgehende Bedeutung. Wenn Foucault die Produktion und Entfaltung eines „therapeutischen Raums“42 in der Gesellschaft beschreibt, dann zielt er darauf ab, eine konstitutive Resonanz zwischen medizinischem und gesellschaftlichem Raum aufzuzeigen. Es reicht daher nicht, auf einen sozialen Kontext hinzuweisen, von dem aus die moderne Medizin zu erklären wäre; sie ist nicht lediglich gesellschaftlich bestimmt, wie Nikolas Rose im Anschluss an Foucault hervorhebt.43 Vielmehr stehen Gesellschaft und Medizin in einem reziproken Verhältnis der Co-Produktion: So, wie die Medizin um 1800 als politische und soziale Disziplin hervorgebracht wird, konstituiert sich Gesellschaft im Gegenzug als medizinisch-therapeutische Realität: „Society, as it is historically invented, is immediately accorded an organic form and thought in medical terms. As a social body it is liable to sickness: that is to say, it is problematized in the vocabulary of medicine. As a social body it needs to be restored to health: that is to say, its government is conceptualized in medical terms. And, in relation to these forms of government, medical personnel enter into relations with many other authorities who come to concern themselves with issues of sickness and of health, and medical techniques such as the segregation of the sick and the monitoring of contagion are accorded a special place.“44

Dass die Medizin seit dem 18. Jahrhundert zu einer der bedeutendsten und wirkmächtigsten Wissens- und Interventionstechniken für die Regulation moderner Gesellschaften avanciert, verläuft simultan zur Diskursivierung von Gesellschaft als kontingentes, lebendiges und vom biologischen Zustand der Bevölkerung abhängiges Gebilde. Das Leben der Gesellschaft, auf das sich Politik seit der Neuzeit bezieht, wenn von Bevölkerungen und Individuen die Rede ist, existiert nicht losgelöst von den biologisch-medizinischen Diskursen und Praktiken, durch die es in seiner spezifischen Gestalt sagbar und sichtbar geworden ist. Um die Bedeutung und Funktion der Medizin innerhalb der modernen Gesellschaften zu erklären, müssen wir uns daher der biopolitischen Konstitution dieser Gesellschaften selbst widmen.

41 Vgl. M. Foucault: Krise der Medizin, S. 59. 42 Ebd. 43 Vgl. N. Rose: Medicine. 44 Ebd., S. 49.

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Medizin und Biomacht: Zur Entstehung der Normalisierungsgesellschaft Eine der grundlegenden Thesen Foucaults lautet, dass wir die moderne Medizin von den Machttechniken her denken müssen, die ihr zeitgenössisch sind. Die politische Macht, die sich Ende des 18. Jahrhunderts simultan zur Entstehung der modernen Medizin zu formieren beginnt und seit dem 19. Jahrhundert zu einer vorherrschenden Form der Machtausübung avanciert, zielt laut Foucault auf die Lebensprozesse selbst: Es handelt sich um eine Biomacht, deren Handlungsfelder und Zielscheiben die Körper der Individuen und die Zusammensetzung und Entwicklung der Bevölkerung sind.45 Foucault hat wiederholt bemerkt, dass die Entstehung der Biomacht „ein unerlässliches Element bei der Entwicklung des Kapitalismus“46 war. Er sieht ihre Kunst unter anderem darin begründet, das Leben selbst produktiv zu machen. Durch Techniken der Disziplin und der Normalisierung werden die Fähigkeiten und Leistungen der individuellen Körper entwickelt und potenziert; durch bevölkerungspolitische Maßnahmen werden die demografischen Entwicklungen beeinflusst und eine „Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapitalakkumulation“47 vorgenommen. Die Gesellschaftsformation, in der sich die Verteidigung und Verbesserung des Lebens am erfolgreichsten als biopolitisches Leitprinzip umsetzen und legitimieren lässt, ist laut Foucault der Liberalismus. Er setzt Schutz und Optimierung des Lebens weniger autoritär von oben nach unten durch, sondern beruht wesentlich auf subjektivierenden Prozeduren der Selbstverpflichtung und Selbstregierung. Gegenüber vergangenen politischen Formationen wie Absolutismus und Disziplinargesellschaft wird Macht in der liberalen Gesellschaft somit subtiler, indirekter und ressourcenschonender ausgeübt. Weil Biopolitik unmittelbar auf die Körper und das Gesundheitsverhalten von Individuen zielt, spricht Foucault polemisch von einer „Somatokratie“,48 die mit der Durchsetzung der kapitalistischen Organisationsweise der bürgerlichen

45 Beide Körperformationen – der individuelle Organismus wie der Bevölkerungskörper – sind hierbei als Realitäten zu verstehen, die erst durch die Diskurse und Problematisierungsweisen der Medizin, der Humanwissenschaften und der Bevölkerungs- und Staatswissenschaften sowie der hierauf beruhenden Interventionen in ihrer spezifischen Gestalt hervorgebracht werden (vgl. S. Schultz: Hegemonie, S. 54ff.; M. Laufenberg: Sexualität, S. 83ff.). 46 M. Foucault: Sicherheit, S. 168. 47 Ebd. Vgl. ausführlich M. Laufenberg: Sexualität, S. 245ff. 48 M. Foucault: Krise der Medizin, S. 58.

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Gesellschaft entsteht. Die Medizin wird in diesem Zusammenhang als ein herausragendes Dispositiv beschrieben, das an der Durchsetzung dieser somatischen „Herrschaftsform“49 wesentlich beteiligt war: „Die Kontrolle der Gesellschaft über die Individuen wird nicht nur über das Bewusstsein oder durch die Ideologie, sondern ebenso im Körper und mit dem Körper vollzogen. Für die kapitalistische Gesellschaft war vor allem die Bio-Politik wichtig, das Biologische, das Somatische und das Körperliche. Der Körper ist eine bio-politische Wirklichkeit; die Medizin ist eine bio-politische Strategie.“50

Medizinische und gesundheitsbezogene Beziehungen und Interaktionen breiten sich seit dem 18. Jahrhundert explosionsartig aus, zum einen quantitativ, indem die ärztlichen Kontakte durch die Einführung der Niederlassungen und ihrer koordinierten Verteilung auf sämtliche Landkreise zunehmen, zum anderen qualitativ, indem die Sorge um die Gesundheit und ihren Erhalt in nahezu alle Beziehungsweisen Eingang findet und handlungsrelevant wird, ob innerhalb der Familien, der Schulen, der Fabriken oder der Armeen. Diese dezentralisierte, ‚medizinisierte‘ Regulierung des Lebens von Individuum und Bevölkerung beruft sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weniger auf Gesetze, die verbieten; ebenso wenig setzt sie nun primär auf Disziplinen, die unterwerfen. Die liberale Biopolitik des Bürgertums beruht weitgehend auf einer Selbstregierung der Menschen durch Normen und damit auf Werte, die unmittelbar der medizinischbiologischen Episteme entstammen. Durch die beschriebene Medizinisierung der alltäglichen Beziehungen und Interaktionen erstreckt sich auch der Wirkungsbereich der Normen allmählich auf das gesamte soziale Feld: „Die Machtwirkungen der Medizin bekommt man überall zu Gesicht: sei es in der Familie, in der Schule, in der Fabrik, in den Gerichtssälen, wenn es um die Sexualität, die Erziehung, die Arbeit oder um das Verbrechen geht. Die Medizin ist zu einer allgemeinen sozialen Funktion geworden.“51

Auch wenn medizinische Normen nicht schlicht verbietend wirken, treten sie dennoch mit der Forderung auf, ihnen gerecht zu werden, und machen damit einen Machtanspruch geltend. Es ist nicht verboten, krank zu werden, dennoch ist dafür Sorge zu tragen, dass sich die Lebensgewohnheiten der Menschen und das

49 Ebd. 50 M. Foucault: Die Geburt der Sozialmedizin, S. 275. 51 M. Foucault: Die Gesundheitspolitik, S. 101.

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sie umgebende Milieu so transformieren, dass die Risikofaktoren für Erkrankungen minimiert werden. Es ist nicht gesetzlich untersagt, in schmutzigen Wohnungen zu hausen und sich einseitig zu ernähren; doch dort, wo ein fahrlässiger Umgang mit dem eigenen Körper und ein maßloses Ernährungsverhalten überhandnehmen, greifen normalisierende Mechanismen der Pathologisierung, treten Agent_innen der Moralisierung auf den Plan, drohen soziale und ökonomische Sanktionen.52 „Die Norm ist nicht einfach ein Erkenntnisraster; sie ist ein Element, von dem aus eine bestimmte Machtausübung begründet und legitimiert werden kann. Ein polemischer Begriff – sagt Canguilhem. Vielleicht könnte man ihn auch einen politischen nennen. In jedem Fall […] bringt die Norm zugleich ein Prinzip der Bewertung und ein Prinzip der Korrektur mit sich. Die Funktion der Norm besteht nicht darin, auszuschließen oder zurückzuweisen. Sie ist im Gegenteil immer an eine positive Technik der Intervention und Transformation, an eine Art normatives Projekt gebunden.“53

Dieses normative Projekt orientiert sich an statistischen Berechnungen, die an der Gesamtheit der Bevölkerung vorgenommen werden. Im 19. Jahrhundert kommt es in diesem Zusammenhang zu einer Intensivierung der Wissensproduktion und Forschung zu den Lebensverhältnissen der Menschen und deren Verhaltensweisen. Von der Geburten- und Sterberate über das Gesundheitsniveau und die Krankheitshäufigkeiten bis hin zum Fortpflanzungsverhalten, den Ernährungsweisen und den Wohnverhältnissen wird die Verteilung von Werten in der Gesellschaft statistisch erfasst und tabellarisch festgehalten. Die demografische, ökonomische und biomedizinische Quantifizierung von Körper und Bevölkerung produziert Durchschnittswerte und Mittelmaße in Bezug auf sämtliche Lebensvollzüge. Vom durchschnittlichen Sterbealter über die durchschnittliche Produk-

52 Die Bedeutung der Normen für die Ausübung der Biomacht hervorzuheben, bedeutet nicht, dass gesetzliche und disziplinierende Maßnahmen gänzlich obsolet würden. Gesetz, Disziplin und Norm lösen am Übergang vom feudalen zum liberalen Staat nicht einander ab, sondern werden neu zusammengesetzt und kombiniert. So zeigt beispielsweise das Nichtraucherschutzgesetz, dass der liberale, auf Selbstverpflichtung setzende Regulationstyp durchaus Repression und Disziplin integriert, um im Namen des Lebens der Einen das Handeln der Anderen einzuschränken und zu unterbinden. Allerdings hat sich die Legitimationsbasis gegenüber früheren Formen politischer Macht verschoben: Das Gesetz soll nun nicht mehr das Leben des Souveräns schützen, sondern das der Bevölkerung (vgl. M. Laufenberg: Kritik). 53 M. Foucault: Die Anormalen, S. 72.

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tivität einer Arbeitskraft und die durchschnittliche Leistung von Schüler_innen bis hin zur durchschnittlichen Häufigkeit, Sex zu praktizieren, werden Verhalten, Gewohnheiten und Leistungen der Menschen auf ein vergleichbares Maß gedrückt. Die Norm selbst, das heißt der – weniger gelebte als idealisierte – Durchschnitt, weckt dabei seltener Interesse als die Vielzahl von Abweichungen. Diese Anomalien zeigen innerhalb einer Normalverteilung sowohl die Steigerungsund Entwicklungsfähigkeit einer Sache an, als sie auch die Möglichkeit eines vermeintlichen Rückschritts in sich tragen. Wenn das Prinzip der Norm in der Herstellung von Vergleichbarkeit liegt, so werden innerhalb eines Normalitätsspektrums insbesondere jene Körper und Verhaltensweisen als ‚Fälle‘ individualisiert, die von der Norm in die eine oder andere Richtung abweichen. Die Quantifizierung von Intelligenz in Form des Intelligenz-Quotienten lenkt beispielsweise die Aufmerksamkeit weniger auf den durchschnittlichen IQ. Das Interesse von Forschung und Politik richtet sich weit mehr auf dessen Abweichungen, auf extrem hohe und extrem niedrige IQs sowie auf die Frage, wie diese großen Abstände zustande kommen. Handlungsanleitend für politische, soziale oder medizinische Interventionen ist in diesem Fall, das Risiko einer geringen Intelligenzausbildung zu vermindern, während die Bedingungen für die Ausbildung einer hohen Intelligenz verbessert werden sollen. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, weshalb sich die Normalisierungsgesellschaft historisch im Spannungsfeld von biologisch-medizinischen Diskursen und Wissenspraktiken herausgebildet hat, die das Leben als prinzipiell entwicklungsfähig aber auch verletzlich und verfallsgefährdet begreifen. Degenerationstheorien auf der einen und Machbarkeitsphantasien hinsichtlich der Optimierbarkeit menschlichen Lebens auf der anderen Seite bilden die beiden Gesichter einer Macht, die sich auf das Leben richtet. Die zahlreichen Versuche, mittels verschiedener Techniken wie Medizin und Pädagogik, Normalität herzustellen und im besten Fall, das Normalitätsniveau eines Merkmals insgesamt anzuheben, basieren auf einem Lebenskonzept, das Körper – den Körper des Individuums wie den Körper der Gattung – entwicklungslogisch fasst. Biomacht, die auf dem Prinzip der Entwickelbarkeit des Lebens beruht, wird somit erst durch einen biologisch-medizinischen Lebensbegriff operabel, der das präskriptive Staatsvolk in eine dynamische Bevölkerung verwandelt und aus dem statischen Körper des Mittelalters einen veränderlichen und entwicklungsfähigen Organismus macht. Als Effekt und zugleich Durchgangspunkt der Biomacht wird die medizinische Praxis an Machttechniken gekoppelt, die sich seit dem 18. Jahrhundert immer weiter ausbreiten. Mittels der Überwachung und Durchsetzung von Normen

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werden weniger die konkreten unerwünschten Ereignisse und Verhaltensweisen selbst bearbeitet, als ‚Risiken‘ analysiert und präventiv bearbeitet werden, die diese Ereignisse und Verhaltensweisen begünstigen und hervorbringen. Dies geht mit einer Multiplikation und Expansion von Kontrollmechanismen einher, sofern nun „[b]eliebig viele soziologische, ökonomische, kulturelle [und biologische, ML] Daten […] in Korrelation zu einem ‚unerwünschten‘ Verhalten gesetzt werden“54 können. Das feinmaschige Kontrollnetz, das sich dadurch in die Alltagswelten der Menschen hineinwebt, reguliert in der Folge nicht mehr nur die problematisierten Fälle, etwa das konkrete Auftreten einer konkreten Krankheit bei einem konkreten Individuum, sondern bezieht eine maximale Menge von Akteur_innen, Lebensweisen und Prozessen mit ein, die sich als negativ oder gar gefährlich für das Wohlbefinden der Allgemeinheit erweisen könnten. Die wie die Medizin auf der Analyse und Stabilisierung von Normbereichen beruhenden Sozialtechnologien wirken „zentrifugal“, wie Foucault sagt, sie haben die Tendenz, „sich auszudehnen“ und „immer weiträumigere Kreisläufe zu organisieren“.55 Der Aufschwung sowie die diskursive und institutionelle Ausbreitung der Medizin seit dem 18. Jahrhundert ist synchron zu dieser Ausdehnung der Sicherheits- und Kontrollmechanismen in der Normalisierungsgesellschaft zu sehen, durch die das Leben geschützt und in seinem Vermögen gesteigert werden soll. Als Gatekeeper der Normalitätszonen des Lebens verwandelt sich die Medizin in eine auf den individuellen Organismus und den ‚Körper‘ der Bevölkerung gleichsam einwirkende – und diese damit immer mit hervorbringende – politische Technologie, die synchron zur Logik der Norm „allmählich keinen Bereich mehr hat, der ihr äußerlich ist“.56 So wie das Leben selbst in der biopolitischen Gesellschaft zum primären Wert avanciert, verankert sich die normative biomedizinische Erkenntnis von der Gefährdetheit, Schutzbedürftigkeit und Optimierbarkeit des Lebens in sämtlichen Lebensbereichen und wird dadurch zum ständigen Bezugspunkt, um auf dieses Leben einzuwirken.

54 S. Schultz: Hegemonie, S. 227. 55 M. Foucault: Sicherheit, S. 73. 56 M. Foucault: Krise der Medizin, S. 68.

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S CHLUSS Wie dargelegt zeichnet Foucault die Entstehung und den Aufschwung der europäischen neuzeitlichen Medizin als Ergebnis einer „endlosen Medizinisierung“57 der alltäglichen Lebensverhältnisse. Seine Kritik richtet sich hierbei jedoch nicht gegen den sozialen Medikalisierungsprozess an sich. Nicht eine wie auch immer geartete Entgrenzung des medizinischen Feldes stellt das Problem dar, sondern das biopolitische Modell, nach dem sich die Medizinisierung vollzieht – ein Modell, durch das Leben in ein Normales und ein Pathologisches, ein Erfolgreiches und ein Irrtümliches, ein Vermögendes und ein Wertloses, ein Schützenswertes und ein Abzuwehrendes geteilt wird. Foucault stellt hierbei nicht in Abrede, dass die medizinische Praxis sich gerade dadurch, dass sie sozial wird und ihren kurativen Fokus auf den kranken Körper überschreitet, immer erfolgreicher geworden ist. Es geht ihm in seiner Genealogie der Medizin vielmehr darum, den hohen Preis dieser Erfolgsgeschichte herauszustellen. Insofern für ihn Aufschwung und Triumph der europäischen Medizin seit dem 18. Jahrhundert an die Durchsetzung biopolitischer Menschenführung und Bevölkerungsregulierung gekoppelt ist – das eine ist ohne das andere nicht denkbar – gehen Erkenntnisgewinn und technologischer Fortschritt in der Medizin grundsätzlich mit einer Intensivierung und Somatisierung der Machtausübung einher. Während die soziologische Medikalisierungskritik dazu neigt, Medizin und Macht miteinander zu identifizieren, stellt Foucault seinem Publikum in Rio De Janeiro mit Blick auf den dort emergierenden Diskurs der Sozialmedizin eine andere Frage: Wäre eine soziale Medizin denkbar, die hinsichtlich einer Verlängerung der Lebensdauer und eines größeren Schutzes vor Krankheiten ähnliche Erfolge erzielte wie die europäische Medizin, ohne hierbei die tragische Geschichte von Normierung, Disziplinierung und Zwang zu wiederholen, in die das biopolitische Modell einer ‚somatokratischen‘ Medizin eingelassen war und ist? Für Foucault ist dies das eigentliche Problem, vor dem die brasilianische Gesundheitsbewegung steht. Es geht nicht darum, der entgrenzten eine weniger entgrenzte Medizin gegenüberzustellen, der individuellen eine soziale Medizin, der Schulmedizin einen „paramedizinischen Bukolismus“.58 Es geht darum, das politisch-ökonomische Modell der Macht zu analysieren, durch das sich die europäische Medizin als biopolitisches Regulativ der kapitalistischen Gesellschaft

57 Ebd., S. 65. 58 Ebd., S. 75.

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konstituierte, um auf Basis dieser Analyse zu überprüfen, inwiefern man dieses Modell „abwandeln kann“:59 „Schließlich könnte man in Anbetracht von Gesellschaften, die dieses Entwicklungsmodell der Medizin nicht kennen, die aufgrund ihrer kolonialen oder halbkolonialen Situation nur eine ferne oder sekundäre Beziehung zu diesen medizinischen Strukturen haben und die heute nach einer Medizinisierung verlangen, zu der sie das Recht haben, weil sie von Infektionskrankheiten betroffen sind, die Millionen Personen befallen, nicht das Argument anbringen, demzufolge – im Namen eines antimedizinischen Bukolismus – diese Länder, wenn sie nicht mehr an diesen Infektionen leiden würden, im Anschluss an Europa die Erfahrung denaturierter Krankheiten durchmachen würden. Es gilt zu bestimmen, ob das medizinische Entwicklungsmodell, das Europa im 18. und 19. Jahrhundert gekannt hat, als solches reproduziert oder abgewandelt werden muss: Man muss versuchen herauszubekommen, unter welchen Bedingungen es wirkungsvoll, das heißt ohne die uns bekannten negativen Folgen, auf diese Gesellschaften angewandt werden kann.“60

Wie eine soziale Medizin aussehen könnte, die sich nicht ohne Weiteres als normalisierendes Regulativ in die politische Ökonomie von Körpern und Bevölkerungen einpassen lässt, hat Foucault in Brasilien tunlichst offen gelassen. In dem Moment, wo der Blick auf die Geschichte die Gegenwart in ein anderes Licht stellt, eröffnet sie die Möglichkeit anderer Zukünfte: „[W]ie Nietzsche sagte, gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit zu wirken, zugunsten einer […] kommenden Zeit“61 – mit dieser Hoffnung endet die Arbeit des Genealogen Foucault und die Arbeit der sozialen Bewegungen beginnt. Denn die Fragen und Problemstellungen, die die Genealogie der Medizin uns hinterlässt, berühren Zusammenhänge von Wissen, Macht und Subjektivität, die tief in unsere Gesellschaften und unser Sein eingelassen sind. Eine Medizinkritik, die an diesen Zusammenhängen rühren will, um die Herrschaft der „Somatokratie“ zu beenden, kann weder theoretisch-abstrakt bleiben, noch einem Expert_innentum vorbehalten sein. Sie muss ein fester Bestandteil kollektiver und situierter Praktiken werden, die nach einem anderen Modell, einem anderen Verhältnis von Politik, Ökonomie und Leben suchen.

59 Ebd. 60 Ebd., S. 75f. 61 G. Deleuze: Was ist ein Dispositiv?, S. 160.

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Die Sozialmedizin als kynisches Herz der Biopolitik und der Gouvernementalität H ANS -M ARTIN S CHÖNHERR -M ANN

Probleme der Medizin durchziehen Foucaults Werk von seinen Anfängen bis in seine letzten Vorlesungen aus den Jahren 1983-84. Trotzdem könnte man es für ein Randthema halten. Gemeinhin betrachten seine Interpreten die Phase der sechziger Jahre als die Zeit, in der Foucault unter dem Schlagwort Archäologie einen Zugang zur Geschichte sucht, der sich von den bis dahin üblichen historischen Methoden unterscheidet. So subsumiert man seine beiden frühen Bände Wahnsinn und Gesellschaft und Die Geburt der Klinik gerne unter die Frage nach unterschiedlichen epistemologischen Strukturen, die sich seit dem 17. Jahrhundert entfalten. Dagegen gelten die siebziger Jahre als jene der Genealogie, wenn Foucault nach dem Zusammenhang von Wissen und Macht fragt. In den Achtzigern vollzieht er vorgeblich eine Wende von der Frage der Macht hin zur Frage individueller Lebenskunst. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Probleme der Medizin ursprünglich primär nur als Anschub der Frage nach Wissensstrukturen und deren historischem Wandel und die späteren Texte zur Medizin nur noch als Nachhall seiner Anfänge. Doch dem ist keineswegs so. Bereits in Wahnsinn und Gesellschaft stellt sich die Frage der Macht in ihrem Verhältnis zum Wissen. Macht und Wissen entwerfen aus ihrem Zusammenspiel heraus ein neues, ein modernes Bild vom Menschen als lebendigem Wesen. Die neuzeitlichen Wissenschaften verändern das Verständnis vom Menschen, und zwar primär in den Bereichen der Medizin im weiteren Sinn. Derart avanciert die Medizin zum Herz der Biopolitik und wird sogar noch in der Lebenskunst wiederkehren.

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AUS DEM

W AHNSINN

Bis zur frühen Neuzeit gibt es keine scharfe Trennung zwischen dem Denken bzw. der Vernunft und dem Wahnsinn. Doch im 16. Jahrhundert beginnt man die Narren wie Kranke und Obdachlose zunehmend in Kliniken einzusperren. So heißt es im Edikt von 1656, das Signalwirkung für die große Einsperrung hatte: „Wir verbieten ausdrücklich allen Personen, gleich welchen Geschlechts, wie alt und woher, welcher Abkunft und welchen Standes sie auch sein mögen, seien sie Invaliden oder nicht, krank oder gesund, heilbar oder unheilbar, in der Stadt und den Foubourgs von Paris, ebenso wie in den Kirchen und vor deren Toren, an Haustüren und auf den Straßen oder an anderen öffentlichen Stellen bei Tage oder Nacht zu betteln […].“1

Die Polizei, die daraufhin Obdachlose und Vagabunden zu Tausenden festnimmt und in die Gemäuer der Salpetrière, der Pitié, der Savonnerie oder jener in Bicêtre „einpfercht“, wird von den Betroffenen schnell als die „Häscher vom Hopital“ bezeichnet. Der Wahnsinn wird gewissen Zeitgenossen attestiert und konsolidiert sich langsam zu einem Krankheitsbild. Doch dabei handelt es sich nicht um einen festen Gegenstand. Die Beziehungen, die Aussagen rings um den Wahnsinn ausdrücken, ergeben primär Regeln des praktischen Umgangs, die ihn als Gegenstand bestimmen. Stabil sind für Foucault dabei solche Gegenstände des Diskurses nicht, nicht der Wahnsinn, nicht die Krankheit, nicht das Wissen. Gegenstände werden nicht durch Gründe als Entitäten konstituiert – Wahnsinn hat keinen bestimmten Grund in einem geistigen Defekt –, sondern Gegenstände verdanken sich Regeln des Umgangs: Den Wahnsinn hat es vor dem 17. Jahrhundert nicht gegeben. Eine solche diskursive Praxis – der Umgang mit den Irren im 17. Jahrhundert – ist der Ort, wo sich eine verschachtelte Vielfalt von Gegenständen formiert, die Foucaults archäologischer Blick diagnostiziert: Der Wahnsinn aus philosophischer Perspektive bei Descartes; der Wahnsinn als polizeiliche Angelegenheit; der Wahnsinn als medizinischer Gegenstand. Diskurse sind für Foucault nämlich Praktiken, nicht Gesamtheiten von Zeichen, von Begriffen oder von festen Gegenständen, sind also keine autonomen Entitäten. So hebt die Archäologie die Verbindung von Wort und Sache auf, wie es zuvor schon der späte Wittgenstein2 oder der späte Heidegger3 konstatieren: Wahnsinn ist kein Begriff, keine be-

1

M. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 83.

2

Vgl. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 35 Nr. 43.

3

Vgl. M. Heidegger: Sprache, S. 25.

S OZIALMEDIZIN , B IOPOLITIK UND G OUVERNEMENTALITÄT

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stimmte Krankheit, sondern entspringt einem Beziehungsgeflecht unterschiedlicher Umgangsweisen, dem medizinischen, polizeilichen oder juristischen Diskurs. Wahnsinn verdankt sich einem neuen epistemologischen Paradigma, wird Thomas S. Kuhn mit diesem Begriff 1962, also ein Jahr nach Foucaults Studie über den Wahnsinn, die positivistischen Wissenschaftstheorien erschüttern.4 Im Zeitalter der Aufklärung konstituiert sich die Vernunft dadurch, dass sie sich vom Wahnsinn abgrenzt, seine Worte zurückweist wie diesen als das ihr Andere disqualifiziert. Foucault schreibt in Wahnsinn und Gesellschaft: „Die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schweigen errichten können.”5 Nicht nur dass man die Wahnsinnigen hinter den Mauern der Anstalten verschwinden lässt – die große Einsperrung, wie es Foucault nennt – man dementiert, je mit diesen gesprochen zu haben. Vernunft lässt sich verstehen, spricht klar und deutlich, während der Wahnsinn unverständlich stammelt. Solchen Wahnsinn will die Vernunft unter allen Umständen vermeiden, das, umso mehr, als sie von ihrer früheren Nähe zum Wahnsinn durchaus noch ahnt und sie sich selbst dadurch in Frage gestellt sieht. Die Ablehnung des Wahnsinns konstituiert für Foucault sein Gegenteil, die Vernunft. Descartes gelangt zu seinem berühmten „ich denke, also bin ich“ dadurch, dass er alles andere als mögliche Sinnestäuschung oder als bösen Traum bzw. Wahn ausschließt. Aber nur durch diesen Ausschluss schafft er die Klarheit des „ich denke“, des Subjekts bzw. der Vernunft. Wahnsinn und Vernunft gehören trotz, genauer ob dieses Ausschlusses reziprok zusammen, verdanken sich einander. Ja, im Grunde leitet sich die Vernunft direkt aus dem ihr Anderen, dem Wahn her. So skizziert Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft nicht nur die Geschichte des Wahnsinns, sondern auch die Geschichte der Vernunft allerdings. Die Vernunft hat ihre Schattenseiten, ihre dunklen Vergangenheiten wie ihre arroganten Gegenwarten. Als Georges Couthon, Gefolgsmann von Robespierre, Bicêtre besuchte, um dort versteckte Feinde der Revolution zu enttarnen, steht einerseits der brutalste Vertreter der wahnsinnigen terreur den Wahnsinnigen gegenüber, die just als Opfer des Vernunftwahns erscheinen. „Sein Toben war wahnsinniger, unmenschlicher als der Wahnsinn der Dementen. So ist der Wahnsinn auf die Seite der Wächter gewechselt, und diejenigen, die die Irren wie Tiere einschließen, verfügen jetzt über die ganze animalische Brutalität des Wahnsinns. In

4

Vgl. T. Kuhn: Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 57.

5

M. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 8.

134 | HANS-M ARTIN SCHÖNHERR-M ANN ihnen tobt das Tier, und bei den Geisteskranken erscheint dies nur noch als verwirrter Reflex.“6

Als andererseits danach der Menschenfreund Philippe Pinel die Wahnsinnigen von ihren Ketten befreit, bleibt der Wahn trotzdem im Dunkel, geht es Pinel darum, die Irren wieder zur Vernunft und zur Moral zu bringen. Für Foucault lassen sich aus diesen vielschichtigen Prozessen und Ereignissen keine homogenen Geschichtsverläufe ableiten, die auf einen Fortschritt zur Humanität deuten. Dabei folgt er durchaus der marxistischen Kapitalismuskritik seines Lehrer Louis Althussers, wenn er 1970 schreibt: „Der Geisteskranke ist nicht die endlich entdeckte Wahrheit des Wahnsinns, sondern dessen spezifisch kapitalistische Ausprägung innerhalb der ethnologischen Geschichte des Irren.“7 Der psychiatrische Diskurs entwickelt just durch diese Ausgrenzung des Wahnsinns seine Macht, die wie im medizinischen, pädagogischen oder militärischen Diskurs sich aus Mikrostrukturen heraus entwickelt, sich von unten aufbaut und nicht von oben herabsteigt. Vielmehr verdankt sich die Macht einem Gegendiskurs, dem des Wahnsinns, der sich literarisch bei den avanciertesten Dichtern ihrer jeweiligen Epoche ausdrückt.

S EXUALITÄT

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Doch der medizinische Diskurs spielt nicht nur eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der modernen Vernunft aus dem Wahnsinn heraus, indem diese als Medizin Macht entfaltet. Damit prägt er auch das Verständnis des Menschen, der seit der frühen Neuzeit nicht mehr primär als geistliches Wesen, sondern als körperliches betrachtet wird. 1976, also in seiner genealogischen, machtanalytischen Phase widerspricht Foucault im ersten Band seines umfänglichen Werkes Sexualität und Wahrheit, der den bezeichnenden Titel Der Wille zum Wissen trägt, Freuds Repressionshypothese, dass die natürliche Sexualität von der Kultur unterdrückt wird. Natürlich dementiert Foucault nicht, dass es Verbote, Verneinungen und Verweigerungen von sexuellen Aktivitäten durchaus im großen Stil bei der Erziehung und im gesellschaftlichen Leben gibt. Aber – so Foucault – es ging und geht dabei nicht allein um Unterdrückung durch gesellschaftliche Mächte. Im 17. und 18. Jahrhundert begann man indes möglichst viel über Sexu-

6

Ebd., S. 498.

7

Ebd., S. 632.

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alität wissen zu wollen – daher der Titel Der Wille zum Wissen –, um die Sexualität entsprechend lenken zu können. Foucault schreibt: „Der Sex, das ist nicht nur eine Sache der Verurteilung, das ist eine Sache der Verwaltung. Er ist Sache der öffentlichen Gewalt, er erfordert Verwaltungsprozeduren, er muss analytischen Diskursen anvertraut werden. Der Sex wird im 18. Jahrhundert zu einer Angelegenheit der ‚Polizei’. Allerdings im vollen und starken Sinne, den das Wort zu dieser Zeit besaß – nicht Unterdrückung der Unordnung, sondern verordnete Steigerung der kollektiven und individuellen Kräfte. […] Polizei des Sexes: das ist nicht das strikte Verbot, sondern die Notwendigkeit, den Sex durch nützliche und öffentlichen Diskurse zu regeln.“8

Damit avanciert die Sexualität zu einer Aufgabe der Verwaltung, gerade auch der Medizin, die damit konstruktiv und keineswegs bloß oppressiv umgeht. Man kann zudem die Sexualität nicht als schlicht unterdrückte begreifen, da man nicht weiß, wie sich denn eine naturgegebene Sexualität auswirken würde. Nur von einer solchen Vorstellung aus ließe sich sagen, was denn an dieser unterdrückt erscheint. Freuds Kulturtheorien sind auch nicht mehr als Mutmaßungen, sicher intelligente und spannende Interpretationen vor dem Hintergrund der sexuellen Unterdrückung – ich lasse das Wort mal so stehen – im 19. Jahrhundert, das eines der prüdesten war. Der Protestantismus ebnete dazu den Weg, wenn er die katholische Doppelmoral aufheben will und eine konsequente Sexualmoral durchsetzt, die keine Schlupflöcher mehr zulässt. Die Einstellung gegenüber der Sexualität ändert sich im 17. Jahrhundert aus verschiedenen Gründen. Einerseits hatten die religiösen Bürgerkriege die Bevölkerung so drastisch dezimiert, dass ein schnelles Bevölkerungswachstum vonnöten schien. Deswegen schaltete man die Hebammen weitgehend aus, verfügten sie schließlich über Wissen zur Verhütung von Schwangerschaften. Gleichzeitig galten sie dem aufsteigenden Stand der Ärzte als Konkurrenz. Mit der beginnenden Aufklärung und der Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaften wächst dabei das Interesse am Menschen in vielerlei Richtungen: in biologischer, medizinischer, psychologischer, moralischer, pädagogischer und auch politischer Perspektive, avanciert dabei die Sexualität zu einem zentralen Thema. Sexualität begreift Foucault jedenfalls nicht als eine schlichte Eigenschaft des Menschen. Vielmehr entsteht sie überhaupt erst dadurch – das ist seine frappierende These –, dass man sie seit dem 17. Jahrhundert zum Gegenstand des Wissens macht, dass man plötzlich davon alles zu wissen versucht, natürlich vor allem medizinisch, aber auch moralisch, juristisch und politisch. Der frühneu-

8

M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 36.

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zeitliche Staat entdeckt darin ein Mittel der Bevölkerungspolitik, die ohne medizinische Kenntnisse nicht möglich gewesen wäre, so dass er diverse gesundheitspolitische Maßnahmen ergreifen kann. Im mittelalterlichen Christentum erklärte man die Lust des Fleisches dagegen zur schlichten Sünde, über die man auch nichts Genaues wissen will. Das Wissen um Sexualität war auch kein öffentliches Wissen, sondern ein eher geheimes der weisen Frauen und Hebammen, die damit vorsichtig umgehen müssen. Auch taugt der Begriff der Sexualität nicht dazu, die Eigenheiten der antiken griechischen Kultur zu erfassen. Denn bei dem, was man heute Sexualität nennt, ging es Sokrates nicht um Fortpflanzung, sondern um Lust, die man sich mit dem eigenen wie mit dem anderen Geschlecht verschaffen kann. Foucault: „Was in den Augen der Griechen die ethische Negativität schlechthin darstellt, ist nicht, dass man beide Geschlechter liebt; auch nicht, dass man sein eigenes Geschlecht dem andern vorzieht; sondern dass man gegenüber den Lüsten passiv bleibt.“9 Dass Enthaltsamkeit ein Wert an sich ist, das erfanden erst die Christen. In der frühen Neuzeit entsteht dagegen die Sexualität als ein Diskurs, der diese als Heterosexualität versteht und andere Formen des Gebrauchs der Lüste als unnatürlich disqualifiziert. Der Diskurs über die Sexualität verdankt sich nicht nur den Reden, die man darüber schwingt. Dazu gehören vielmehr genauso die Instrumente, die der Biologe, der Anatom, der Gynäkologe benutzen, die Institutionen, in denen diese arbeiten, die Verwaltungen, die sich Praktiken zur Familienplanung und Bevölkerungsentwicklung ausdenken. Diskurse besitzen für Foucault ja nicht nur sprachliche, sondern durchaus auch praktische und institutionelle Seiten. Dabei reicht der Sexualitäts-Diskurs bis in Politik und Gesellschaft und von hier aus begegnet er der Ökonomie. So wird erst im 19. Jahrhundert die Ehe zum alleinigen Ort eines legalen Sexuallebens, durften zuvor viele Bevölkerungsgruppen gar nicht heiraten. Wenn man die Einschränkungen der Ehe aufhebt, wenn alle Bevölkerungsgruppen heiraten dürfen, dann wächst die Bevölkerung. Das hilft nicht nur, den Produktionsapparat zu vergrößern. Parallel dazu entwickelt das 19. Jahrhundert auch einen gewaltigen Destruktionsapparat. Das Zeitalter der Massenheere und Großbevölkerungen bringt auch die Massenvernichtungswaffen hervor, eine Epoche, die sich zugleich akribisch und ausufernd vor allem in der Medizin und der Psychologie mit dem Sex beschäftigt, die Sexualität überhaupt erst als solche, d.h. als ein Diskurs hervorbringt:

9

M. Foucault: Gebrauch der Lüste, S. 113.

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„Nie waren die Kriege blutiger als seit dem 19. Jahrhundert und niemals richteten die Regime – auch bei Wahrung aller Proportionen – vergleichbare Schlachtfeste unter ihren eigenen Bevölkerungen an. Aber diese ungeheure Todesmacht kann sich zum Teil gerade deswegen mit solchem Elan und Zynismus über alle Grenzen ausdehnen, weil sie ja nur das Komplement einer positiven ‚Lebensmacht‘ darstellt, die das Leben in ihre Hand nimmt, um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren.“10

Weder der Sex noch die Lust werden unterdrückt, sondern durch gesundheitspolitische, medizinische, psychologische und polizeiliche Maßnahmen so generiert, dass Sex, Lust und diese Mächte zusammengehören, sich dabei eine Richtung geben, so dass sich Lust und Sex kanalisieren, daraus eine Lebensmacht entsteht, mit der die staatliche Verwaltung Bevölkerungspolitik betreiben kann. Das heißt, die Steigerung der Lust vergrößert die Macht. Umgekehrt intensiviert die Macht wiederum die Lust. Beinahe nebenbei steuert sie die Lust, indem sie sie als Heterosexualität mit der Fortpflanzung verknüpft und zu bestimmten Zeiten auch noch versuchte, das auf einige Bevölkerungsgruppen zu begrenzen, z.B. Arier. Sex schließt an gesellschaftliche Machtstrukturen an, ist nicht bloßes Objekt der Politik. Sexualität organisiert sich als Macht durch bestimmte Zugriffe auf die Körper, durch die Produktion und Destruktion von Lüsten, durch bestimmte Empfindungen, durch Erzählungen und Berichte, durch Psychoanalysen, Gynäkologien, Dermatologien, Urologien, die alles offenbaren. Damit wendet sich Foucault gegen das traditionelle Verständnis der Sexualität als einer biologisch immer schon gegebenen Eigenschaft des Menschen. Sexualität charakterisiert die Natur des Menschen so maßgeblich, dass jeder Mensch eine bestimmte Geschlechtsidentität braucht, die ihn einer bestimmten Volksgruppe zuordnet. Man kann nicht ohne Geschlechtsidentität leben, und zwar aus bürokratischen Gründen. Der Pass ordnet jeden Menschen entsprechend zu. Für Foucault ist die Sexualität jedenfalls keine natürliche Eigenschaft des Menschen.

V OM P ASTORAT

ZUR GOUVERNEMENTALEN

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Diese neue Form der Politik, die seit dem 17. Jahrhundert entsteht, bezeichnet Foucault als Biopolitik, die er zusammen mit seinem anderen wichtigen Begriff der Gouvernementalität in seinen Vorlesungen am Collège de France in den Jah-

10 M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 163.

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ren 1977-79 ausarbeitet. Diese gouvernementale Regierungstätigkeit, bei der sich politische Herrschaft in Form von Verwaltungshandeln – beispielsweise und besonders im Gesundheitswesen – präsentiert, hat ihren Zweck in der Logik der Bevölkerung, nicht mehr in einer abgehobenen herrschaftlichen Souveränität. Nicht nur die Bevölkerung wird vom Staat entsprechend gehegt und gepflegt. Diese biopolitische Orientierung ermöglicht überhaupt erst den gouvernementalen Staat. Dieser kann in viel stärkerem Maße noch als im 18. Jahrhundert die Bevölkerung zu ihrem Gegenstand der Verwaltung, besonders gesundheitspolitischer Maßnahmen machen. Denn er greift in die Körper wie die Seelen ein. Die Psychiatrie avanciert längst zu einem wesentlichen Teil der Medizin, die heute das psychosomatische Modell vertritt. Dabei spielt die Psyche zwar wieder eine bedeutendere Rolle. Doch erscheint sie rückgekoppelt an die Gesundheit bzw. Krankheit des Körpers. Umfassend verwaltet das Gesundheitswesen damit sowohl die Körper wie die Seelenreste. Die Gouvernementalität entsteht vor allem auch in der Ökonomie. Dementsprechend definiert Foucault die Gouvernementalität: „Ich verstehe unter ‚Gouvernementalität‘ die aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.“11 Das ebnet nicht nur den Weg in die politische Ökonomie des 19. Jahrhunderts, wenn die Ökonomie sowohl staatlich gelenkt werden soll, als auch umgekehrt zunehmend ökonomische Kategorien in die Verwaltungstätigkeit einziehen, ein Prozess, den man heute besonders signifikant im Gesundheitswesen vorgeführt bekommt. In seinem zweiten frühen Buch Die Geburt der Klinik aus dem Jahr 1963 spielt die Ökonomie bei der Entstehung des Krankenhauswesens eine entscheidende Rolle. Hatten zuvor Spitäler zumeist einen karitativen seuchenpolitischen Hintergrund – die Leprosorien des späten Mittelalters stehen nach der erfolgreichen Bekämpfung der Lepra bei der „großen Einsperrung“ zur Verfügung, – so entwickelt sich die Medizin als auch das Krankenhauswesens zunehmend zu einem lukrativen Geschäft: „Das Spital wird für die Privatinitiative in dem Augenblick rentabel, da das hilfesuchende Leiden zum Schauspiel geworden ist. Dank den Kräften des klinischen Blicks zahlt sich das Helfen schließlich aus.“12 Kasernierung oder Ausschluss und Kontrolle galten bereits früher als wirksames Mittel gegen Lepra und Pest. So wurde das Spital

11 M. Foucault: Gouvernementalität I, S. 162. 12 M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 100.

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nicht nur zu einer lukrativen Unternehmung, sondern auch zu einer staatlich wirksamen Verwaltungsmaßnahme im städtischen Raum und wird sich von dort auf das Land ausbreiten: „Auf jeden Fall soll das Spital zu einem funktionalen Element in einem urbanen Raum werden, in dem es möglich sein muss, seine Wirkungen zu messen und zu kontrollieren.“13 Mit der gesteigerten Effektivität der Medizin sowohl bei der Heilung von Krankheiten als auch bei der Lebensverlängerung ermöglicht sie nicht nur die gouvernementale Biopolitik. Sie schaltet nicht nur alternative Heilkünste wie die der Hebammen aus. Sie spielt auch eine wesentliche Rolle bei der Zurückdrängung der Religion. Eine ähnliche Beobachtung macht Michael Walzer 1983 in Sphären der Gerechtigkeit: War im Mittelalter für das Seelenheil aller überall gesorgt, war das Land mit einem flächendeckenden System von Kirchen und Kirchenvertretern übersäht, so soll heute für das Körperheil möglichst aller gesorgt werden, gilt es als ein staatliches Fehlverhalten, wenn das Gesundheitssystem nicht funktioniert: „Zu Zeiten des Mittelalters sah es in Europa wie folgt aus: die Betreuung der Seelen, die Seelsorge, war eine öffentliche Angelegenheit, die der Körper hingegen Privatsache. Heute ist die Situation in den meisten europäischen Ländern umgekehrt; eine Verschiebung, die sich am besten erklären lässt als ein grundsätzlicher Wandel im allgemeinen Verständnis von Seele und Körper. In dem Maße, in dem wir das Vertrauen in die Heilung unserer Seelen verloren, ist unser Glaube, wenn es nicht bereits eine Obsession ist, an die Heilbarkeit unserer Körper gewachsen.“14

So bemüht sich die gouvernementale Biopolitik um die Lenkung der Körper, indem sie die Seele bzw. das Individuum auf diesen ausrichtet. Es geht nicht mehr um das jenseitige Heil der Seele. Die Medizin ist an die Stelle der Religion getreten. So bestimmt Foucault 1977: „Für die kapitalistische Gesellschaft war vor allem die Bio-Politik wichtig, das Biologische, das Somatische und das Körperliche. Der Körper ist eine bio-politische Wirklichkeit; die Medizin ist eine biopolitische Strategie.“15 Dabei diagnostiziert Foucault einen religiösen Wegbereiter der Gouvernementalität, der nicht nur die Ökonomie, sondern auch die Medizin betrifft, wie überhaupt alle anderen Bereiche der Biopolitik, nämlich das Pastorat. Die moderne Regierungskunst der Gouvernementalität wurde im Hirtenstall des alten

13 M. Foucault: Die Gesundheitspolitik, S. 924. 14 M. Walzer: Sphären der Gerechtigkeit, S. 138. 15 M. Foucault: Die Geburt der Sozialmedizin, S. 275.

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Orients erfunden. Der Hirte sorgt für seine Schafe, damit sie gedeihen. Er kann sie nicht kommandieren. Er kann sie aber so lenken, dass es der Herde – und d.h. jedem einzelnen Tier – gut geht. Derart greift das Pastorat auf der Mikroebene ein, nicht auf der Ebene des Souveräns, der sich fern der einzelnen Menschen aufhält. Macht entfaltet sich durch den konkreten Eingriff und bestimmt so das Leben aller Menschen als ein biologisches. So beschreibt Foucault, wie sich dabei auch ein Prozess der Individualisierung langfristig anbahnt: „Doch gleichzeitig […] hat der abendländische Mensch in Jahrtausenden gelernt, was zweifellos kein Grieche je zuzugestehen bereit gewesen wäre, in Jahrtausenden hat er gelernt, sich als Schaf unter Schafen zu betrachten. Er hat in Jahrtausenden gelernt, sein Heil von einem Pastor zu erbitten, der sich für ihn opfert.“16

„Die sonderbarste und charakteristischste Machtform des Abendlandes“,17 so Foucault, entsteht auf der mikrologischen Ebene. Der enge Zusammenhang zwischen Hirte, Herde und einzelnem Schaf wiederholt sich unter modernen Umständen im Verhältnis von Arzt und Patient. Der Arzt erwartet vom Patienten, dass er seine Ratschläge oder Befehle aus Eigeninteresse befolgt, kennt der Arzt das Körperwohl wie der Pastor das Seelenheil des Patienten. Ja sogar viel besser, weil er sich auf wissenschaftliche Prinzipien stützen kann und nicht nur auf die Auslegung von alten Überlieferungen. So schreibt Foucault in jenen Jahren: „In den meisten Fällen zwingt sich die Medizin dem Individuum, ob es nun krank ist oder nicht, als Akt einer Autorität auf.“ 18 Dieser Übergang von der Religion zur Medizin und im weiteren zur gouvernementalen Politik besitzt denn auch eine interne Logik just im christlichen Pastorat, dem es um die konkrete Lenkung der Gläubigen geht, nicht so sehr um die Wegbereitung ins Jenseits, um das Seelenheil zu sichern. So bemerkt Foucault: „Dieser Machttyp fand durch das Christentum Eingang in den Okzident und nahm dort im Hirtenamt der Kirche institutionelle Gestalt an. Das Lenken und Regieren der Seelen wurde in der christlichen Kirche zu einer zentralen Tätigkeit, die Gelehrsamkeit erfordert und für das Seelenheil jedes einzelnen unerlässlich ist.“19

16 M. Foucault: Gouvernementalität I, S. 194. 17 Ebd. 18 M. Foucault: Krise der Medizin, S. 65. 19 M. Foucault: Gouvernementalität I, S. 521.

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Der Hirte entspricht der Logik der Herde, wenn er sie möglichst erfolgreich hegen und pflegen will, just das was die Gouvernementalität seit dem 17. Jahrhundert betreibt, nämlich nicht mehr in souveräner Ferne Macht zu entfalten, sondern „nahe am Menschen“. So entwickelt sowohl der Glaube als auch die Wissenschaft ein entsprechendes Programm für das Selbstverständnis der Menschen. Allerdings beteiligen sie sich selbst daran, gleichgültig ob als Gemeindemitglied oder als Patient, so dass man gerade die Medizin als verlängertes Pastorat begreifen kann: „Die moderne Medizin ist eine soziale Medizin, deren Grundlage eine bestimmte Technologie des Gesellschaftskörpers ist; die Medizin ist eine soziale Praxis und nur einer ihrer Aspekte ist individualistisch und wertet die Beziehungen zwischen Arzt und Patient auf.“20

Just in diesem Sinn ist denn auch der Pastor so wenig Tyrann wie der Arzt. Der Pastor befolgt das göttlich gegebene Gesetz und hält die Menschen dazu an, dieses Gesetz zu befolgen, der Arzt dementsprechend das natürliche der Körper. Das Pastorat „leitet also“, so Foucault, „Individuen und Gemeinschaft auf dem Weg des Heils. Zweitens, das Pastorat hat eine Beziehung zum Gesetz, da es ja, damit die Individuen und die Gemeinschaften ihr Heil erreichen können, darauf achten muss, dass sie sich tatsächlich dem unterwerfen, was die Weisung, der Befehl, der Wille Gottes ist.“21

Wer auf der Seite des Heils stehen will, der muss sich dem Gesetz unterwerfen, wer nach Körperheil trachtet, der muss sich an die natürlichen bzw. medizinischen Regeln halten.

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Das natürliche Gesetz überzeugt ähnlich wie das göttliche mit zukünftigen Hoffnungen, ist jede medizinische Behandlung ein Wechsel auf eine ungewisse Zukunft, die aber wenigstens in einer absehbaren Zeit eintritt, so dass eine gewisse Überprüfbarkeit entsteht. Aber nicht viel anders beherrscht das göttliche Gesetz die Welt so, dass es sich von selbst versteht, sich ihm anzupassen, ist eine Über-

20 M. Foucault: Die Geburt der Sozialmedizin, S. 275. 21 M. Foucault: Gouvernementalität I, S. 244.

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prüfung in absehbarer Zukunft schlicht überflüssig. Derart erweist sich pastorale Politik als Vorläufer einer Gouvernementalität, die just dadurch ihren biopolitischen Grundzug verstärkt, indem sie durch die Medizin ihrem Verwaltungshandeln einen objektivierenden Charakter verleiht. Medizinische Praktik – aber diese nicht alleine – verbindet die gouvernementale Biopolitik mit dem Leben, den Bürgern und der Bevölkerung insgesamt. So schreibt Foucault an derselben Stelle weiter: „Schließlich, drittens, hat das Pastorat eine Beziehung zur Wahrheit, da man im Christentum, wie in allen Schriftreligionen, sein Heil freilich nur erreichen kann und sich dem Gesetz nur unter der Bedingung unterwirft, dass man eine bestimmte Wahrheit anerkennt, an sie glaubt und sie kundtut. Beziehung zum Heil, Beziehung zum Gesetz, Beziehung zur Wahrheit. Der Pastor führt zum Heil, er verfügt das Gesetz, er lehrt die Wahrheit.“ So wahr wie das göttliche Gesetz ist die medizinische Praktik. Wo Unsicherheiten bestehen, bemüht sich die Medizin um bessere Kausalitäten, diskutierte die Scholastik die biblischen Wahrheiten ähnlich akribisch. Die Medizin erlaubt der politischen Macht, nicht nur pastoral seelisch, sondern pastoral körperlich zu handeln, aber ähnlich konzentriert einerseits auf die Bevölkerung als ganze und andererseits auf das Individuum. Die Politik sichert das einzelne Leben und die Gesundheit der Bevölkerung. Dadurch vermehrt diese sich, was wiederum die gouvernementale Macht stärkt. Foucault schreibt Ende der siebziger Jahre: „Das Auftauchen einer Gesundheitspolitik muss zudem mit einem sehr viel allgemeineren Prozess in Verbindung gebracht werden: mit dem Prozess, der aus dem ‚Wohlergehen‘ der Gesellschaft eines der wesentlichen Ziele der politischen Macht machte […]. Eine traditionelle Vorstellung zweifellos, die aber zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert einen sehr viel dichteren und präziseren Sinn annimmt als von der Vergangenheit her.“22

So entsteht eine neue Regierungskunst mit einer eigenen Logik, in der die Polizei eine zentrale Rolle spielt. Im 18. Jahrhundert soll sich die Polizei praktisch um alles kümmern, nicht nur das Leben schützen, sondern sich auch um das gute Leben kümmern, eine Aufgabe, die bis heute der Sozialstaat übernahm. Die Polizei entsteht zunächst in den Städten, die ohne sie nicht hätten überdauern können, und dehnt im weiteren ihre Macht auf das ganze Territorium aus, urbanisiert quasi das Land. Mit der Sorge um das Wohl der Bevölkerung entsteht Macht, verändert sich die politische Macht, erhält sie eine andere Grundlage und eine andere Perspektive. Sie wird zur Bio-Macht, die sich neben der Polizei auf die

22 M. Foucault: Die Gesundheitspolitik, S. 912.

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Medizin stützt bzw. die beide miteinander zusammenspielen. So bemerkt Foucault: „Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzende Entwicklung der Medizinischen Polizei, hygiène publique oder social medicine musste in den Rahmen einer neuen ‚Biopolitik‘ gestellt werden, die in der ‚Bevölkerung‘ ein Ensemble von Lebewesen mit spezifischen biologischen und pathologischen Merkmalen sah, für die jeweils spezifische Wissensbereiche und Techniken zuständig waren. Und diese ‚Biopolitik‘ musste ihrerseits im Rahmen eines seit dem 17. Jahrhundert entwickelten Themas verstanden werden: der Verwaltung der staatlichen Kräfte.“23

Die Gesundheitsbehörden besitzen polizeiliche Macht bzw. stützen sich auf die polizeiliche Gewalt. So verbindet sich unter Biopolitik eine umfassende polizeiliche Ordnung, bei der die Gesundheitsbehörden genauso wichtig sind wie die Justiz, die Polizei oder die spätere Sozialversicherung und die sich als eine politische Ordnung ausgibt. Im 18. Jahrhundert entstehen die Grundlagen dieses biopolitischen Systems in Europa und bald wird man schon politische Kritik unter psychiatrischen Verdacht stellen, müssen die Ordnungskräfte präventiv dafür sorgen, dass die Ordnung stabil bleibt: „Die Gesamtheit der Mittel, die man einsetzen muss, um über die Ruhe und die richtige Ordnung hinaus dieses ‚öffentliche Wohl‘ zu sichern, ist das, was man im Großen und Ganzen in Deutschland und in Frankreich ‚Policey‘ genannt hat […]. So verstanden, dehnt die Polizei ihren Bereich sehr weit über die Überwachung und Aufrechterhaltung der Ordnung hinaus aus.“24

Die Polizei beobachtet wie der Arzt jeden einzelnen Körper, um den sozialen Körper gesund zu erhalten, wie der Pastor jede einzelne Seele in die Beichte holte, um die Gemeinde zu erhalten. Diese Perspektiven finden sich bei Foucault in den siebziger Jahren durchgängig, in denen er ja seine Machtanalytik intensiviert, was sich jedoch auch schon in Die Geburt der Klinik und in Wahnsinn und Gesellschaft finden lässt. Es besteht somit zumindest eine gewisse Kontinuität im Foucaultʼschen Denkens, die sich besonders in seinen medizinischen Texten anzeigt. So breitet sich das Gesundheitswesen in den letzten Jahrhunderten immer weiter aus und dominiert die Bevölkerung wie jeden einzelnen, macht jeden zu einem strukturellen Patienten, wie jeder Mensch in pastoraler Perspektive ein

23 M. Foucault: Gouvernementalität I, S. 525. 24 M. Foucault: Die Gesundheitspolitik, S. 913.

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Gläubiger ist, um dessen Seelenheil sich der Pastor auch interventionistisch, also gegen den Willen des Betroffenen, kümmert. Das Gesundheitswesen verlängert die pastorale Perspektive, konstituiert sich im Gesundheitswesen die Biopolitik in der Gouvernementalität: „Die Fürsorge wird in Richtung einer Medizinisierung umgebogen, die für sie unter dem Anspruch, sie rational und wirkungsvoll zugleich zu machen zum Gesetz wird. Die Medizin indessen kann nach verschiedenen Graden der Unter- oder Beiordnung in einem administrativen System Platz nehmen, das für sich das Wohl und die Gesundheit einer Bevölkerung als explizites Ziel festschreibt.“25

So erweist sich für Foucault die Medizin immer als soziale, nicht weil sie humanitäre Ansprüche entfaltet – das höchstens nebenbei – sondern weil sie seit der frühen Neuzeit gouvernemental auf die Gesellschaft ausgerichtet ist, die sie biopolitisch sichern soll. Dabei steht die Familie als ein wesentliches Objekt der medizinischen Praktiken im Vordergrund. Sie soll sich im Besonderen um das Wohl der Kinder zu kümmern, eine Verpflichtung, die es in dieser Hinsicht zu früheren Zeiten nicht gab. Die Kontrolle darüber übernehmen die diversen Gesundheitsbehörden, in erster Linie aber der Arzt selbst. „Der Arzt wird, wenn schon nicht in der Kunst des Regierens, dann zumindest in der des Beobachtens, des Korrigierens und Verbesserns des sozialen ‚Körpers‘ und seiner Erhaltung in einem permanenten Gesundheitszustand, zum großen Ratgeber und großen Experten.“26 Wenn er nicht direkt regiert, so regiert er zumindest indirekt, nehmen die Individuen gemeinhin die ärztlichen Ratschläge gerne an, scheinen sie ihrer eigenen Gesundheit zu dienen. Das erweist sich allerdings als ein langsamer Lernprozess der Medizin selbst. Nicht nur macht sie selbst ständig Fehler. Auch ihre Lokalitäten, die Hospitäler lassen zu wünschen übrig, gelten sie lange Zeit selber als Krankheitsherde, sind sie auch gemeinhin schlecht ausgestattet – Klagen die bis heute keineswegs verstummt sind. Ihre Aufgabe kristallisiert sich jedoch zunehmend heraus, die bis heute besteht: „Es geht nicht mehr bloß darum, die Krankheit da, wo sie auftaucht, zu beseitigen, sondern ihr zuvorzukommen; besser noch, jeder Krankheit, welcher auch immer, soweit wie möglich zuvorzukommen.“27 Doch die Medizin überschreitet seit den Anfängen ihren vermeintlichen Heilungsauftrag. Vielmehr entwickelt sie wie die Religion ein Modell von Gesund-

25 Ebd., S. 915. 26 Ebd., S. 921. 27 Ebd., S. 909.

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heit, von gesundem Leben, somit vom gesunden Menschen, das zweifellos konstruktive und normative Effekte nach sich zieht. Die Bevölkerung als ganze hat wie jedes Individuum eigentlich so zu leben, wie es den medizinischen Vorstellungen vom richtigen Menschen entspricht. Gerade damit greift sie natürlich nicht bloß präventiv in das Leben jedes einzelnen ein, sondern entwickelt vielmehr ein Normalitätsdispositiv, das als Regime gegenüber jedem wirkt. Gar nicht so selten wird eine Abweichung von solcher Normalität bestraft, und sei es durch erhöhte Zuzahlungen oder erhöhte Versicherungsprämien. So schreibt die Medizin letztlich an Stelle von Religion und Ethik das gute Leben vor. Foucault schreibt bereits in Die Geburt der Klinik: „Die Medizin darf nicht mehr bloß die Gesamtheit der therapeutischen Techniken und des dazu erforderlichen Wissens sein; sie wird auch eine Erkenntnis des gesunden Menschen einschließen, d.h. sowohl eine Erfahrung des nichtkranken Menschen wie eine Definition des Modellmenschen. In der Lebensführung der Menschen beansprucht sie eine normative Rolle, die sie nicht bloß zur Erteilung von Ratschlägen für ein vernünftiges Leben befugt, sondern sie zur Lehrmeisterin für die physischen und moralischen Beziehungen zwischen dem Individuum und seiner Gesellschaft macht. Sie situiert sich in der für den modernen Menschen maßgeblichen Randzone, in welcher ein bestimmtes organisches, leises, leidenschaftsloses und muskulöses Glück ganz eng mit der Ordnung einer Nation, mit der Stärke ihrer Armeen, mit der Fruchtbarkeit eines Volkes und mit dem langsamen Gang seiner Arbeit verbunden ist.“28

Die Medizin spielt also in der biopolitischen Gouvernementalität nicht einfach eine beiläufige Rolle. Sie wird nicht schlicht in den Dienst staatlicher Gewalten genommen. Sie realisiert die Biopolitik wie keine andere Institution. Ja, in ihr entfaltet sich gerade auf der mikrologischen Ebene die Macht des Staates vor Ort, um die es Foucault ja in besonderem Maße geht, wenn Macht sich weder auf die Gewehrläufe stützt, noch eine über den Ausnahmezustand entscheidende Souveränität darstellt, sondern im Individuum siedelt, in seinem Körper genauso wie in seiner Seele, die beide aus dem Zusammenspiel von Individuum, Familie, Schule, Militär und Medizin erzeugt werden. So schreibt er 1976: „Man könnte behaupten, dass erst in unserer Zeit deutlich geworden ist, was sich in Wirklichkeit seit dem 18. Jahrhundert in Vorbereitung befand, und das ist eben keine Theokratie, sondern eine ‚Somokratie‘. Wir leben unter einer Herrschaftsform, für die die Pflege

28 M. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 52.

146 | HANS-M ARTIN SCHÖNHERR-M ANN des Körpers, die körperliche Gesundheit, die Beziehung zwischen Krankheit und Gesundheit usw. zu den Zielsetzungen des staatlichen Eingreifens gehört.“29

Medizin bestimmt im Rahmen der Biopolitik nicht nur das gute und gesunde Leben, klagt man somit nicht zu Unrecht über einen Verlust ethischer Orientierungen, an deren Stelle längst medizinische getreten sind. Nicht die Ethik bestimmt mehr die Humanität, sondern die Medizin, indem sie sowohl den individuellen als auch den sozialen Körper entwirft, ist für Foucault Medizin immer Sozialmedizin, allerdings nicht in jenem sozialen Sinn einer klassenlosen Medizin, sondern weil sie sich nicht primär um das Individuum, sondern um die Bevölkerung kümmert. „Die Medizin ist von der Analyse der Milieus zur Analyse der Auswirkungen des Milieus auf den Organismus und schließlich zur Analyse des Organismus selbst übergegangen.“30 Es ging den europäischen Staaten seit dem 17. Jahrhundert immer um eine Lenkung der Bevölkerung als ganzer, selbst wenn im pastoralen Sinn das Individuum dabei auch Beachtung finden sollte. Aber wie es schon Rousseau erkannte: Das Individuum muss sich selbst freiwillig in die staatliche Organisation einfügen. So spricht auch Rousseau vom Gesellschaftskörper als einem organischen Wesen wie zuvor schon Hobbes, auf den sich Foucault bezieht: „Der ‚Gesellschaftskörper‘ ist nun keine bloß juristischpolitische Metapher mehr (wie man sie etwa im Leviathan findet), sondern erscheint als biologische Realität und als ein Bereich medizinischen Eingriffs.“31 Die Rede von einem sozialen oder staatlichen organischen Körper bleibt zwar grundsätzlich eine haltlose Metapher. Doch die Medizin befindet sich heute vielleicht umso mehr auf dem Weg, diese haltlose Idee zu realisieren und sie somit zu bewahrheiten.

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Damit klinkt sich Foucaults Analyse des Gesundheitswesens nicht nur in sein Konzept der Gouvernementalität ein, sondern auch in jenes der Disziplinargesellschaft, das er in den frühen siebziger Jahren entwickelt und das 1975 in seinem wohl bekanntesten Werk Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses gipfelt. Während einerseits im 18. Jahrhundert das Bürgertum, die Juden, in der Französischen Revolution sogar schon die Frauen und die Arbeiter

29 M. Foucault: Krise der Medizin, S. 58. 30 M. Foucault: Die Geburt der Sozialmedizin, S. 291. 31 M. Foucault: Entwicklung des Begriffs, S. 576.

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nach Emanzipation streben, während die sich gründenden USA die Menschenrechte deklarieren, halten die Südstaaten Sklaven, werden Frauen und Arbeiter gleich wieder unterworfen, die Juden zur Assimilation gezwungen und das Bürgertum reiht sich in die Marschkolonnen der Grande Armée des Kaisers Napoleon ein. Der neue Traum einer humanen Gesellschaft stützt die propagierte Freiheit auf Disziplin, die wenig mit Mündigkeit zu tun hat, sondern sogar weitgehend blinden Gehorsam verlangt. So beschreibt Foucault eine Entwicklung, die sich weit ins 20. Jahrhundert hineinzieht, die aber in der Pädagogik, im Militär, im Gefängnis und zuvor schon in der Medizin ihren Anfang nahm. Daraus entstehen die Institution der Schule, ein verändertes, angeblich humaneres Gefängniswesen, die Medizin als Züchtungsanstalt und natürlich das Militär, das endlich jenen Gehorsam erzeugt, der den Soldaten blind ins Verderben rennen lässt, so dass ein individueller Mut nicht mehr grundsätzlich vonnöten ist: „Das Verhältnis des Zuchtmeisters zum Zögling läuft über Signale: es geht nicht um das Verstehen des Befehls, sondern um die Wahrnehmung des Signals und die alsbaldige Reaktion darauf entsprechend einem vorgegebenen Code. Die Körper befinden sich in einer kleinen Welt von Signalen, denen jeweils eine einzige obligatorische Antwort zugeordnet ist: es handelt sich um eine Dressurtechnik, die despotisch die winzigste Vorstellung und das geringste Murmeln ausschließt’; der disziplinierte Soldat ‚beginnt zu gehorchen, was immer man befiehlt […].’“32

Im Grunde setzt sich der militärische Traum durch, der die Gesellschaft als eine Maschine behandelt, deren Räder es sorgfältig zu montieren gilt. Derart werden die Menschen in allen sozialen Bereichen ohne Unterlass abgerichtet, um automatisch ohne Nachdenken zu gehorchen. Das Militär braucht den Gehorsam, der die Sorge um die eigene Existenz verdrängt, das Gefängnis soll den Verbrecher an soziale Standards anpassen, die Schule eine aufmüpfige Jugend ihren Eltern und Lehrern unterwerfen. Alle zusammen, die Schule, die „Schule der Nation“ und das Gefängnis sollen die Menschen in die gesellschaftlich akzeptierten Lebensformen einpassen. Davor verblassen die großen politischen Ideen der Aufklärung: die Gleichheit, die Menschenrechte, das Allgemeinwohl, und vor allem eine Demokratie, an der sich die Menschen wirklich beteiligen können. Diese Entwicklung hätte ohne die Medizin schwerlich stattgefunden. Während die Entwicklung einer Sozialmedizin in Frankreich im 18. Jahrhundert schnell voranschreitet, entsteht im unterentwickelten Preußen zunächst unter staatlicher Aufsicht eine von Foucault so genannte Staatsmedizin. So kann er

32 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 214.

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feststellen: „Frankreich normierte seine Geschütze und seine Lehrer, Deutschland normierte seine Ärzte.“33 Die Militarisierung der Gesellschaft, die im 19. Jahrhundert sicher ihren Höhepunkt erreicht, beschleunigt ihrerseits die Medizinisierung der Gesellschaft, indem auch das Militär ein Stück weit religiöse Funktionen übernimmt, wenn die Religion letztlich dem Militär dienen muss. Vor allem aber lernt die Medizin vom Militär – man denke an die strammen Hierarchien in heutigen Kliniken: „Das militärische Modell ist somit an die Stelle des religiösen Modells gesetzt worden. Im Grund hat die militärische Revision und nicht die religiöse Purifizierung im Wesentlichen als Modell für diese politischmedizinische Organisation gedient.“34 Biopolitik heißt Militarisierung, Medizinisierung, Polizisierung, die alle zusammen an der Disziplinierung und damit der Formung des Individuums wie der Bevölkerung beteiligt sind. Durch diese disziplinierenden Technologien des Selbst wie der Macht verliert die Seele ihre religiöse Dimension. Sie gewinnt daher keineswegs eine Autonomie, die ihr die Religion streitig gemacht hätte, oder die es jetzt endlich zu vollenden gelte, wenn sie trotz der Befreiung von der Religion immer noch an gesellschaftliche Systeme angeschlossen scheint. So widerspricht Foucault nicht nur marxistischen Hoffnungen, sondern auch jenen linken Visionen des Sozialstaates, die aus der Medizin heraus eine solidarische Gesellschaft schaffen wollten. „Der Mensch“, so Foucault, „von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ‚Seele‘ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers.“35

Die Seele produziert längst das Medizinwesen, nicht nur durch den Körper, sondern indem es ein Bewusstsein erzeugt, das sich in die medizinischen Vorschriften freiwillig schickt. Die von Foucault so genannte „Mikrophysik der Macht“ entfaltet sich in der Straf- und Erziehungsgewalt, die in den Körpern moderne Seelen erzeugen, denen es primär um das Körperheil geht. Damit setzt die Disziplinarmacht durch, dass die Körper ausführen, was man von ihnen verlangt. Galt einst der Körper als Gefängnis der Seele, so formt nun die Seele den Körper, indem sie ihrer Formierung zustimmt, sie begeistert mitmacht: Zum Arzt

33 M. Foucault: Die Geburt der Sozialmedizin, S. 280. 34 Ebd., S. 286. 35 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 42.

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geht man freiwillig, nicht gezwungenermaßen. Der autoritäre Charakter, den Adorno beschreibt, wünscht seine Unterwerfung und wünscht andere zu unterwerfen. Nicht nur die Nazis hassten all jene, die sich dem Gehorsam zu entziehen trachteten, die sich nicht in die gängigen gesellschaftlichen Lebensformen einfügen wollen. Alle – ob Kinder, Soldaten, Arbeiter, Kranke, Kolonisierte wie Bürgertum und Adel selbst – binden sich an die großen Maschinen von Militär, Verwaltung und Produktion und lassen sich dabei ein Leben lang – von der Wiege bis zur Bahre – kontrollieren – und zwar durch sich selbst, durch die Seele. Parallel zu Foucault möchte Ivan Illich in den siebziger Jahren die Schule genauso abschaffen wie das Gesundheitswesen, das Auto wie die Herrschaft der Experten, zu denen auch die Lehrer gehören. Illich schreibt: „Lebenslange ärztliche Beaufsichtigung […] macht das Leben zu einer ununterbrochenen Folge gefährlicher Altersstufen, von denen jede ihre eigene Form der Bevormundung braucht. Von der Wiege bis ins Büro, vom Ferienlager des Club Méditerranée bis ins Leichenschauhaus wird jede Alterskohorte durch ein Milieu konditioniert, das definiert, was für die einzelnen Altersgruppen als Gesundheit zu gelten hat. […] Für Arme wie Reiche wird das Leben zu einer Pilgerfahrt, deren Kreuzwegstationen – Sprechzimmer und Wartezimmer – zurück zum Ausgangspunkt führen: in die Krankenstation.“36

Dem würde Foucault zweifellos nicht zustimmen, impliziert Illich doch damit auch die Möglichkeit einer Abkehr, an der Foucault zweifelt. Aber umgekehrt führt Illich vor, wie sich mikrologisch und produktiv nach Foucault die Macht medizinisch als Biopolitik entfaltet. Der Soldat wurde zum Leitbild der Epoche – musste man in Preußen im 19. Jahrhundert Leutnant der Reserve sein, um gesellschaftliche Anerkennung zu finden. Die Disziplinierung prägt die Innerlichkeit und äußert sich körperlich. Der disziplinierte Mensch braucht keine Gewehrläufe mehr: Die Macht gründet und wirkt detailverliebt und feingliedrig im jedem Bewusstsein der einzelnen Menschen, die automatisch gehorchen, die dadurch selber Macht entwickeln, die wiederum der Macht dient, die sich durch die ganze Gesellschaft hindurchzieht. Biopolitik als Umsetzung der Bio-Macht braucht keine Gewalt, sondern wird gewünscht als eine Politik, in die sich das Individuum einklinken kann, die diesem Individuum selber dient. Eine neue Seele, ein neues Subjekt wird erzeugt und erzeugt sich selbst. In gewisser Hinsicht setzt sich die protestantische Ethik durch, wie sie Kierkegaard beschreibt, wenn die Ethik nicht mehr allein der Ge-

36 I. Illich: Nemesis der Medizin, S. 95.

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sellschaft dient, sondern der Selbstkonstitution.37 Nur dass sich das Individuum damit selbsttätig an die Gesellschaft ethisch anschließt und im Grunde keine besondere, sondern eine normierte Selbstkonstitution betreibt. Insofern bleibt Foucault nicht nur gegenüber Illich skeptisch, dessen Buch Die Nemesis der Medizin 1975 erscheint, sondern auch gegenüber allen Formen der Alternativ- oder Antimedizin – zu letzterer könnte man Illich rechnen. „Man schafft es nicht, aus der Medizinisierung herauszukommen, und sämtliche in diesem Sinne betriebenen Anstrengungen begeben sich wieder in die Hände eines medizinischen Wissens.“38 Das untermauert auch die weitere Entwicklung. Wer sich von der Humanmedizin ab- und der Naturheilkunde zuwendet, der muss noch extensiveren Lebensregeln folgen. Er entgeht damit der Medizin gerade nicht, sondern kehrt nur in eine andere Medizin ein. Auch die sozialen Hoffnungen auf ein solidarisches Gesundheitswesen haben sich nicht erfüllt, die gerade in den siebziger Jahren sehr populär waren. Das Gegenteil ist eingetreten. Das Gesundheitswesen führt heute eher zu einer Entsolidarisierung der Gesellschaft. So präsentieren sich Foucaults Worte von 1976 als weitsichtig: „Die gesellschaftlichen Umverteilungen, die man sich von den Systemen der Sozialversicherung erhoffte, haben die erwartete Funktion nicht erfüllt.“39 Soziale wie auch ganzheitliche Hoffnungen erweisen sich als bodenlos.

D IE S ELBSTMÄCHTIGKEIT

DES I NDIVIDUUMS

Nicht nur dass sich Foucault von der Medizin keinen wesentlichen Beitrag zur Humanität erwartet. Man scheint ihr so wenig zu entgehen wie der Schule oder dem Militär. Mit einem solchen Fatalismus konnten sich viele an Adorno geschulte Interpreten in den siebziger Jahren durchaus abfinden, konnten dem zustimmen. Umso mehr überraschte sie Foucaults späte Wende in den achtziger Jahren, die er selber in seiner letzten Vorlesung am Collège de France jedoch dementiert. Jedenfalls sieht Foucault gewisse individuelle Lebensperspektiven in einer Lebenskunst, die sich an der antiken Ethik orientiert, wie Foucault sie im zweiten und dritten Band von Sexualität und Wahrheit auslegt. Die antike Ethik versteht Foucault als Empfehlung, wie man zu sich selbst ein selbstmächtiges, also selbstverantwortliches Verhältnis gewinnt. Dabei kehrt denn auch das Thema Macht wieder. Das Individuum soll seiner selbst mächtig und verantwortlich

37 Vgl. S. Kierkegaard: Furcht und Zittern, S. 63. 38 M. Foucault: Krise der Medizin, S. 70. 39 Ebd., S. 74.

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sein, um sich von seinen Lüsten nicht hinreißen zu lassen. Es braucht also eine eigene Macht, die es freisetzt gegenüber den eigenen Wünschen, eine Macht, die bis in die Politik hineinstrahlt. Nur freie Bürger können sich nach Aristoteles für die Sache der Polis einsetzen. Die Ethik der individuellen Selbstkonstitution beruht also auf individueller Macht mit einer politischen Auswirkung, so dass diese Macht in der Tat eine positive Bedeutung erlangt. Daher stützt sich Macht auf „[…] eine Ästhetik der Existenz. Darunter ist eine Lebensweise zu verstehen, deren moralischer Wert nicht auf ihrer Übereinstimmung mit einem Verhaltenscode und auch nicht auf einer Reinigungsarbeit beruht, sondern auf gewissen Formen oder vielmehr auf gewissen allgemeinen formellen Prinzipien im Gebrauch der Lüste.“40

Im zweiten Band von Sexualität und Wahrheit Die Sorge um sich diagnostiziert Foucault in den ersten Jahrhunderten eine Verschiebung des ethischen Interesses. Die Bemühung um die Lust tritt zurück, während die Ratschläge zur ehelichen Treue und zur geschlechtlichen Askese zunehmen. Doch das führt Foucault nicht auf den Einfluss des entstehenden Christentums zurück, sondern darauf, dass die Menschen in der römischen Kaiserzeit ein zunehmendes Interesse am eigenen Selbst entwickeln, das es zu schützen und zu entfalten gilt. Auch dabei kommt die Macht wieder ins Spiel, aber nicht in Form allgemeiner Regulierungen, strenger allgemeiner Gebote, wie sie das Christentum später durchsetzen wird, sondern wie schon in den Jahrhunderten zuvor als Selbstmächtigkeit, Selbstbeherrschung, die Selbstverantwortung ermöglicht und damit die persönliche Freiheit eröffnet. Foucault schreibt: „Diese Vermehrung der sexuellen Sittenstrenge in der Moralreflexion äußert sich nicht in Form eines enger angezogenen Codes, welcher die verbotenen Akte definierte, sondern in Form einer Intensivierung des Selbstbezuges, durch den man sich als Subjekt seiner Handlungen konstituiert.“41

Insofern ändert Foucault seinen Machtbegriff nicht, sondern wechselt nur das Terrain. Macht breitet sich einerseits als ein horizontales Geflecht von Anpassungs- und Unterwerfungsstrukturen aus, denen niemand, auch die Eliten nicht, entgeht. Andererseits verdankt sie sich auch der Fähigkeit des Individuums, sich selbst zu beherrschen, so dass das Individuum den Ansprüchen fremder Mächte trotzdem begegnen kann. In beiden Fällen entsteht Macht aus mikrologischen

40 M. Foucault: Gebrauch der Lüste, S. 118. 41 M. Foucault: Sorge um sich, S. 56.

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Prozessen heraus und akkumuliert sich sozial oder politisch. Inwieweit sich das Individuum dabei aber dem Gesundheitswesen zu entziehen vermag, muss trotzdem bezweifelt werden. Allzu weit reicht seine Macht im Sinn von Foucault demgegenüber wahrscheinlich nicht. Das zeigt auch in seinen letzten Vorlesungen in den Jahren 1982-84 ein ambivalentes Gesicht. In ihnen geht es um den antiken Begriff der parrhesia, um die Tugend des Wahrsprechens, die man braucht um sich selbst zu beherrschen und um andere zu regieren. So bemerkt Foucault: „Das Wahrsprechen des anderen als wesentlicher Bestandteil der Regierung, die er über uns ausübt, ist eine der wesentlichen Bedingungen dafür, dass wir die angemessene Beziehung zu uns selbst bilden können, die uns Tugend und Glück verleihen wird.“42 Zu den Zeiten von Sokrates und Platon bedeutet die parrhesia ein Recht bzw. ein Privileg, das zunächst primär den Monarchen zustand, oder zumindest den Vornehmen und Hochstehenden, durch das sie am politischen Leben teilnehmen konnten, was überhaupt nur wenigen erlaubt war. In der weiteren Entwicklung stellt die parrhesia sowohl eine individuelle quasi private Freiheit dar, als auch eine öffentliche, politische Tugend. Der Athener Bürger um 400 v.Chr. braucht beides. Foucault sagt: „Mir scheint, dass man durch die Untersuchung des Begriffs parrhesia sehen kann, wie sich die Analyse der Veridiktionsmodi, die Untersuchung der Techniken der Gouvernementalität und die Bestimmung der Formen der Selbstpraxis zusammenfügen. Die Gliederung zwischen den Veridiktionsmodi, den Techniken der Gouvernementalität und der Selbstpraktiken ist im Grunde das, was ich immer zu beschreiben versucht habe.“43

Das Wahrsprechen klinkt das Individuum nicht aus der Gouvernementalität und der Biopolitik aus. Aber es besitzt dadurch auch die Fähigkeit sich über Ungerechtigkeit zu beklagen, dagegen zu protestieren, wenn es sich selbst zu regieren vermag, wenn es eine Lebenskunst entwickelt. Es ist also nicht hilflos den biopolitischen Mächten ausgeliefert. Doch Opposition, Widerstand und Protest befreien die Individuen nicht von den gouvernementalen Strukturen, gehören diese Praktiken in das System der Politik. Trotzdem erscheint ein gewisses Maß an Emanzipation durchaus möglich.

42 M. Foucault: Regierung des Selbst, S. 68. 43 M. Foucault: Mut zur Wahrheit, S. 23.

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V OM

KYNISCHEN ZUM MEDIZINISCHEN I NTERVENTIONISMUS Aber just im Kontext der parrhesia tauchen auch Tendenzen auf, die der Emanzipation entweder widerstreiten oder diese umlenken. Sokrates hat noch eine Art ethische Mission, den Menschen zu helfen, sich um sich selbst zu sorgen. In Platons Laches erscheint dieses Ethos als Pädagogik, die sich um die Erziehung und Bildung der jungen Leute sorgt. Es geht um den Freimut, die Prüfung der Seele und die Selbstsorge. Sokrates „ist es, der die Pflicht haben wird, sich um die jungen Leute zu kümmern, und an ihn werden sich die Eltern wenden, damit er sich auf dieselbe Weise um die Kinder kümmert, wie die Kinder sich ihrerseits um sich selbst kümmern sollen.“44 Denn häufig lassen die Väter ihre Kinder im belanglosen Müßiggang sich ausleben, während sie selbst ihren Geschäften nachgehen. Sokrates stellt nur Fragen und möchte mit Ironie und vorsichtiger Pädagogik die Zeitgenossen zum Denken anregen, was sich noch emanzipatorisch deuten ließe. Wahrsprechen ist auf der zwischenmenschlichen Ebene aber nicht nur eine Aufgabe der Philosophen, sondern auch der Ärzte. So empfiehlt Galen, dass man sich um das Urteil eines reifen Mannes mit gutem Ruf bemühen soll, der die Fähigkeit der parrhesia besitzt. Dieser ist denn auch dazu verpflichtet, dem anderen wahrheitsgemäß Auskunft zu geben: die Pflicht des Lehrers gegenüber dem Schüler, der seinerseits die Pflicht hat, dem Lehrer über sich alles zu sagen. Die Kyniker jedoch, die Foucault zu den parrhesiastischen Bewegungen zählt, geben Ratschläge besonders gerne in medizinischer Hinsicht, ohne dass sie dazu aufgefordert oder bloß gefragt wurden. Sie halten sich für befugt und fähig, die Menschen auf den rechten Lebensweg zu weisen, fordern sie auf, ihr Leben zu ändern, so dass Foucault von einem medizinischen Interventionismus spricht, der an das moderne Gesundheitswesen erinnert. Zwar sagt der Kynismus weitgehend dasselbe, wie die anderen Philosophien. Doch er stellt aus einem anderen Grund für Foucault eine Ausnahmeerscheinung dar, nämlich ob seines Mutes zur Wahrheit. Das ist zwar auch ein altes Thema. Aber der Kynismus realisiert es auf andere Weise. Er lebt nämlich seinen Mitmenschen vor, dass sie nicht nach ihren eigenen Werten leben. „Man exponiert sein Leben nicht durch seine Reden, sondern durch dieses Leben selbst.“45 Die Kyniker bezeugen die Wahrheit durch ihre materielle Existenz. Foucault greift dazu auf den Begriff martyron tes aleteias zurück, den er mit „Zeuge der Wahr-

44 Ebd., S. 165. 45 Ebd., S. 305.

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heit“ übersetzt. Es verwundert dann nicht, wenn es zahlreiche Verbindungen zwischen dem Kynismus und dem Christentum gibt und zwar speziell zwischen der kynischen Lebensform und der christlichen Askese. Im Mönchstum fand der Kynismus eine Verlängerung, in den verschiedenen Bewegungen im Mittelalter, besonders in den Bettelorden. Kyniker und Bettelmönche wandern in einfachen Kleidern ohne Schuhe umher und rufen die Zeitgenossen harsch dazu auf, sich um ihre Seele zu sorgen. Die Nacktheit wird von christlichen Spiritualen als die Nacktheit Christi fortgeschrieben. Nacktheit verkörpert dabei einerseits die völlige Entsagung von den irdischen Dingen und andererseits ein absolutes Eintreten für die nackte Wahrheit. Der Kyniker lebt jedoch ohne Schamgefühl, unzüchtig wie die Hunde ein Leben in der Öffentlichkeit, im Unverborgenen, macht alles offen, was andere verbergen, die Notdurft genauso wie die Lust. Krates heiratete erst, als seine Frau in den öffentlichen Gebrauch der Lüste einwilligte. Kyniker wie Bettelmönche leben das wahre Leben wie die wahre Liebe – Aspekte, die sich im christlichen Platonismus verschmelzen –, die das Leben allerdings keineswegs bunt, begierdenreich, vielfältig werden lassen. Im Gegenteil: „Das Leben mit der Wahrheit ist also der gerade Weg.“46 Das Thema des wahren Lebens bleibt das des anderen Lebens, das aber von den Kynikern mit Mut vorgelebt wird, allerdings auch auf gängige Weise. Denn in vielen Kulturen gilt das Leben in Armut als das wahre Leben. Andererseits besaß die Armut im antiken Denken einen erheblich geringeren Stellenwert als im Mittelalter. Das kynische Leben schickt sich nicht in eine bestimmte gängige Armut, die sozial weit verbreitet ist, in die man sich wie Sokrates fügt und die man womöglich noch schätzt: der ehrbare kleine Mann. Das kynische Leben will die Armut nicht um sich vor diversen Wechselfällen des Lebens zu schützen oder um Christus nachzufolgen. Der Kyniker sucht schlicht ständig danach, sein Leben einfacher, ärmer zu gestalten, will er die Armut um der Armut willen. „Daher erscheint das philosophische Leben gegenüber allen anderen Lebensformen als radikal anders.“47 Der Entblößte, der sich als die nackte Wahrheit präsentiert – ob Diogenes, der nackte Jesus oder auf Facebook – demonstriert Souveränität. So fühlt sich der Kyniker als König, allerdings ohne die königlichen Privilegien, ein AntiKönig, der diese Privilegien vielmehr zu verunsichern versucht. Als Alexander Diogenes aufsuchte, kam er denn auch ohne Insignien und ohne Gefolge. Umgekehrt präsentieren sich Rousseau und Nietzsche am Ende ihres Lebens literarisch

46 Ebd., S. 295. 47 Ebd., S. 332.

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als die einzigen wahren Menschen.48 Sie schwingen sich zu Königen auf. Ob es sich dabei um eine Selbstentblößung handelt, darf indes bezweifelt werden. Derart souverän will der Kyniker nur sein, um anderen zu dienen und sieht sich just daher zu aufdringlichen Interventionen berechtigt. Das wird sich mit der christlichen Philosophie in der Spätantike radikalisieren, die die parrhesia von der Philosophie löst, bei der die Askese nicht mehr der Selbstbeherrschung, sondern der Abkehr von der Welt und der Unterordnung unter einen moralischen Code dient. In der christlichen parrhesia soll man nicht mehr sich selbst regieren, um die anderen zu leiten. Vielmehr wird aus der parrhesia eine Pflicht, alles von sich zu offenbaren, alle Fehler und Sünden zu gestehen, um das Seelenheil zu erlangen, also um gerettet zu werden – eine Struktur, die allerdings auch Vorläufer in der klassischen Antike besitzt: man bekennt und nimmt das Urteil der anderen an. In der radikalen Selbstentblößung verlängert diese christliche parrhesia damit die kynische. Die Selbstentblößung kehrt im asketischen Protestantismus wieder, oder heute in der Psychoanalyse und selbstverständlich in der Arzt-Patient-Beziehung. Es führt ein Weg von der kynischen über die christliche parrhesia und das Pastorat zur biopolitischen Gouvernementalität, somit zur Medizin. Die Kyniker beanspruchen Universalität, möchten die Gesellschaft interventionistisch belehren, indem sie dieser die kynische Lebensform vorleben. Daraus ist im Lauf von 2000 Jahren Christentum ein ethischer wie ein medizinischer Interventionismus geworden, der wie der selbst bekennende Sokratiker und katholische Existentialist Gabriel Marcel den Menschen wieder die alten Sitten lehren möchte sowie Verhütungsmittel und Abtreibungen verbieten,49 oder ein elitär etatistischer, der wie der konservative Soziologe Helmut Schelsky 1955 dem Volk eine Diskussion über Sexualmoral gleich ganz verbieten möchte.50 Doch vom kynischen Interventionismus führt auch ein Weg jenseits der Hauptströme des Denkens. Denn man muss die Behandlung des Themas des wahren Lebens bei den Kynikern von derjenigen in der platonisch aristotelischen Tradition der Philosophie unterscheiden. Dem guten Leben, dem Leo Strauss im Anschluss an Platon huldigt,51 das in der christlichen untertänigen parrhesia wieder auftaucht, schneiden die Kyniker eine Fratze, die Foucault auch als karnevalesk bezeichnet, so dass man diese Tendenz in diverse moderne Bewegungen der Bohème oder des Außenseitertums hinein verlängern kann. Vor allem

48 Vgl. J.-J. Rousseau: Träumereien, S. 50; F. Nietzsche: Ecce Homo, S. 272. 49 Vgl. G. Marcel: Erniedrigung des Menschen, S. 85. 50 Vgl. H. Schelsky: Soziologie der Sexualität, S. 7. 51 Vgl. L. Strauss: What is Political Philosophy, S. 10.

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jene emanzipatorischen Bewegungen, die Universalismus beanspruchen, pflegen selber einen aggressiven Interventionismus – man denke dabei durchaus auch an die analytische Philosophie. Also kann sich die Bemühung um Lebenskunst und Selbstregierung, um Selbstverantwortung auch einem medizinischen Interventionismus annähern, verbindet sich beispielsweise das Thema Ökologie ständig mit dem der Gesundheit, denken beide universell und global, was beinahe zwangsläufig in bevormundenden Interventionismus führt, der seine emanzipatorischen Ansprüche dadurch nicht mehr einzulösen vermag. Foucault selber versucht sich diesem interventionistischen Universalismus zu entziehen. In einer frühen Schrift Einführung in Kants Anthropologie aus dem Jahr 1964 führt die so populäre Frage nach dem Menschenbild zwar in kein allgemeines Wesen des Menschen, sondern in die Frage, wie sich der Mensch als Individuum konstituiert: durch die Frage nach der Wahrheit, durch Machtstrukturen sowie durch die Umwandlung beider, also von Macht und Wahrheit durch das Individuum, durch die entsprechenden asketischen, parrhesiastischen Praktiken, somit durch Diätetik und – im übertragenen Sinn durch Psychosomatik – durch Die Regierung des Selbst und der anderen in körperlicher wie geistiger Hinsicht, so dass ein Hauch von Interventionismus erhalten bleibt. Damit integriert Foucault zu einem frühen Zeitpunkt Kant indirekt in sein späteres Unternehmen einer Philosophie als Lebenskunst. Im Zentrum von Foucaults Interesse steht nämlich Kants Beziehung zur Diätetik und zur Medizin, die Foucault in ein Verhältnis zu Kants praktischer Philosophie setzt, die er als Universalmedizin bezeichnet, geht es hier Kant durchaus um eine „Alltagskunst der Gesundheit“. Diese Universalmedizin, „die zwar nicht allen für alles hilft, aber doch in keiner Vorschrift fehlen darf“, ist „in Beziehung auf die Medizin das negative Allgemeine (sie hält die Krankheit fern) – während sie in Beziehung auf die Diätetik das positive Allgemeine ist (sie definiert im Spiel der Gesundheit die Gesetze zur Gesunderhaltung).“52 Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zielt auf eine Erkenntnis, in der Vernunft und Sinnenwelt zusammenfließen. Es geht nicht darum, was die Natur aus dem Menschen macht, sondern darum, was man vom Menschen selbst erwarten kann und was der Mensch aus sich selbst machen kann und soll. Foucault denkt in diesem Sinne in Der Mut zur Wahrheit an „eine Geschichte der Philosophie, der Moral und des Denkens, die als Leitfaden die Lebensformen, die Lebenskünste, die Verhaltensweisen, Haltungen und Seinsweisen“53 nimmt. Damit setzt er Kants „Anthropologie“ fort, indem er nicht nach dem

52 M. Foucault: Einführung in Kants Anthropologie, S. 42. 53 M. Foucault: Mut zur Wahrheit, S. 371.

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Menschen als natürlichem Wesen fragt, sondern nach dem Menschen als künstlichem. Foucault bemüht sich darum, diese antike Tradition in einer individuellen Perspektive emanzipatorisch nutzbar zu machen. Denn es geht dabei nicht nur um die Prüfung der Seele, sondern auch darum, dem Leben selber eine bestimmte Form zu geben. „In dieser Dualität zwischen dem ‚Sein der Seele‘ und dem ‚Stil der Existenz‘ zeichnet sich, glaube ich, für die abendländische Philosophie etwas Wichtiges ab.“54 Damit möchte Foucault seinem Begriff einer Ästhetik der Existenz eine Geschichte des Lebens als Schönheit, als Formung, als Gestaltung, als Äußerlichkeit zuschreiben, also eine Geschichte der Emanzipation eines selbstbewussten Individuums, während die metaphysische Geschichte der Seele wie des medizinisch erfassten Körpers die Geschichte des Lebens als Schönheit und des mündigen Individuums bis heute weitgehend verdeckt hat. Trotzdem helfen Die Regierung des Selbst wie die Lebenskunst gegenüber der Biopolitik und dem Gesundheitswesen höchstens in sehr beschränktem Maße. Das wird manchen wiederum pessimistisch erscheinen und den Pessimisten vielleicht helfen, sich mit Foucault wieder zu arrangieren. Man könnte es aber auch als realistisch bezeichnen. Eine postmedizinische Gesellschaft ist absolut nicht absehbar und hätte Foucault anders als Illich nicht mal angedacht. Hilflos gegenüber der Medizin muss man sich allerdings auch nicht fühlen. Es gibt eine einfache Lösung für das Problem: nicht krank werden!

L ITERATUR Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit Bd. 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. Foucault, Michel: Der Mut zur Wahrheit – Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983-84, Berlin: Suhrkamp 2010. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982-83, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. Foucault, Michel: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. Foucault, Michel: Einführung in Kants Anthropologie, Berlin: Suhrkamp 2010.

54 Ebd., S. 212.

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Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. Foucault, Michel: „Die Entwicklung des Begriffs des ‚gefährlichen Menschen‘ in der forensischen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts (1978)“, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits Band III 1976-1979, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Foucault, Michel: „Die Geburt der Sozialmedizin (1977)“, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits Band III 1976-1979, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Foucault, Michel: „Die Gesundheitspolitik im 18. Jahrhundert (1979)“, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits Band III 1976-1979, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Foucault, Michel: „Krise der Medizin oder Krise der Antimedizin? (1976)“, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits Band III 1976-1979, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Foucault, Michel: „Wahnsinn und Gesellschaft (Vortrag 1970)“, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits Band III 1976-1979, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Heidegger, Martin: Die Sprache; in: Ders., Unterwegs zur Sprache, Pfullingen: Günther Neske 1982. Illich, Ivan: Die Nemesis der Medizin. Von den Grenzen des Gesundheitswesens, Reinbek: Rowohlt 1981. Kierkegaard, Sören: Furcht und Zittern. Gesammelte Werke 4. Abteilung, Düsseldorf/Köln: Grevenberg 2004. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. Marcel, Gabriel: Die Erniedrigung des Menschen, Frankfurt am Main: Knecht 1957. Nietzsche, Friedrich: Ecce Homo. Kritische Studienausgabe Bd. 6, München: dtv 1999. Rousseau, Jean-Jacques: Träumereien eines einsam Schweifenden, Berlin: Matthes & Seitz 2012. Schelsky, Helmut: Soziologie der Sexualität. Über die Beziehungen zwischen Geschlecht, Moral und Gesellschaft, Reinbek: Rowohlt 1955.

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Strauss, Leo: What is Political Philosophy and other studies, New York/London: University of Chicago Press 1959. Walzer, Michael: Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Campus 1992. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971.

Über die Kunst, nein zu sagen Plädoyer für eine gesellschaftskritische Verortung ethischer Fragen H ANNA M EISSNER

„Ein wesentliches Ziel ethischer Reflexion in der Medizin besteht darin, in schwierigen Entscheidungssituationen ethisch gut begründete Lösungen herauszuarbeiten.“1 An den Begriff der Entscheidungssituation anknüpfend, will ich im Folgenden für eine gesellschaftsanalytische Situierung ethischer Problematisierungen plädieren. Mit Foucault lassen sich Entscheidungssituationen in den konstitutiven Bedingungen einer historischen Macht-Wissen-Ordnung verorten und auf diese Weise als spezifische Fragen ihrer Zeit ausweisen, die mit spezifischen Möglichkeiten des Antwortens einhergehen. Diese Möglichkeiten des Antwortens erschöpfen sich nicht allein in Entscheidungen über den Umgang mit einer gegebenen Situation sondern können auch die Form einer Kritik der Entscheidungssituation annehmen. Ethisch begründete Analysen/Reflexionen können daher unter Umständen auch darauf zielen, bestimmte Entscheidungssituationen in der bestehenden Form zu problematisieren. Dass Entscheidungssituationen nicht unabhängig von ihren historischen Bedingungen zu verstehen sind, ist vermutlich weitgehend unstrittig. So ist ethische Reflexion in der Medizin angesichts des zunehmenden Einsatzes technischer Diagnose- und Therapieverfahren mit großen Herausforderungen konfrontiert; Entscheidungssituationen sind komplexer geworden, die Eindeutigkeit von Körpergrenzen und -integrität verschwimmt, das Leben selbst wird in bestimmten Situationen zu einer Frage der Entscheidung.2 Zugleich haben Prozesse gesell-

1

G. Marckmann/R.J. Jox: Ethik in der Medizin, S. 442.

2

Vgl. A. Manzei: Körper, Technik, Grenzen sowie S. Samerski: Entscheidungsfalle.

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schaftlicher Differenzierung und Individualisierung zu einer zunehmenden Verflüssigung oder gar Auflösung verbindlicher Wertordnungen geführt. Angesichts der Anerkennung gesellschaftlicher Heterogenität erscheint die Berufung auf fundamentale Gewissheiten oder verbindliche Wahrheiten zur Begründung allgemeiner ethischer Prinzipien als problematisch, da diese dem je Besonderen, Partikularen nicht gerecht werden können.3 Von besonderem Interesse ist hier allerdings die Frage, wie diese Prozesse und Entwicklungen im Hinblick auf ethische Reflexion verstanden und kontextualisiert werden; so werden sie derzeit zumeist als veränderte (äußere) Rahmenbedingungen diskutiert, die neue und komplexe Entscheidungssituationen hervorbringen und – im Sinne einer angemessenen Reaktion – Veränderungen und Anpassungen ethischer Reflexionsverfahren erforderlich machen: „Insbesondere die Topoi des „Drucks“ und der „Herausforderung“, die eine unmittelbare Notwendigkeit und Dringlichkeit suggerieren, tauchen im bioethischen Diskurs immer wieder auf.“ 4 Allerdings bedeutet dies eine, so will ich hier argumentieren, spezifische Einhegung ethischer Reflexionen, denn diese Topoi „leisten dabei vor allem eines, nämlich eine diskursive Ent-Kontextualisierung von Wissenschaft und Technologie.“ 5 Von der These einer diskursiven Ent-Kontextualisierung (medizin-)ethischer Debatten ausgehend, will ich fragen, wie sich mit Rückgriff auf Foucault die spezifische Formierung ethischer Reflexion in historischen Dispositiven thematisieren lässt. Auf diese Weise kommt die spezifische historische Verfasstheit von Entscheidungssituationen in den Blick, die historischen Verschränkungen von epistemischen, ökonomischen, sozialen und technologischen Bedingungen, die bestimmte Entscheidungen überhaupt erst möglich (und notwendig) machen, Individuen in bestimmter Weise als Subjekte von Reflexion und Entscheidung konstituieren und bestimmte Regeln des Verhandelbaren hervorbringen. Es geht also um die grundsätzlichen Fragen, was überhaupt eine Entscheidungssituation konstituiert, wer das Subjekt von Erkenntnis und Entscheidung ist, worüber dieses Subjekt verfügen kann und was es als unverfügbare Bedingungen seiner Reflexion hinnimmt. Mit Foucault weiter getrieben soll hier aber gefragt werden, ob wir diese Entscheidungsdispositive, die uns in ganz bestimmter Weise zu Subjekten von Entscheidungen werden lassen, so, auf diese Weise, hinnehmen müssen – und wollen. Die Herausforderung ethischer Reflexion ginge insofern über eine angemessene Beschreibung von je besonderen Entscheidungssituationen hinaus in

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Vgl. S. Salloch/J. Schildmann/J. Vollmann: Prinzip und Urteilskraft.

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S. Lettow: Biophilosophien, S. 39.

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Ebd.

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eine Kritik der Entscheidungssituation über. Gegenstand ethischer Reflexion wäre insofern nicht nur, wie wir angesichts gegebener Probleme bestimmte Entscheidungen begründen, sondern vielmehr ob wir Entscheidungssituationen so, wie sie sich uns als vermeintlich gegeben oder unausweichlich präsentieren, hinnehmen müssen und wollen. Um eine in dieser Weise an Foucault anschließende Haltung einer Kritik der Entscheidungssituation zu begründen, skizziere ich im ersten Schritt Ansatzpunkte, die ich als wichtig für eine gesellschaftskritische Kontextualisierung ethischer Debatten erachte. Im zweiten Schritt stelle ich Befunde aus der Forschung von Kathrin Braun und ihren Kolleg_innen zur Durchsetzung eines neuen gouvernementalen Ethikregimes dar, um die Problematik von Kontextualisierung und Ent-Kontextualisierung zu illustrieren.6 Wie Braun et al. zeigen, kann dieses gouvernementale Ethikregime in gewisser Weise als Realisierung einer postkonventionellen Ethik gedeutet werden. Allerdings sei dies mit einem spezifischen Preis verbunden: „[D]as Ethikregime sagt uns nicht, was wir tun sollen, es gibt keine Handlungsanweisungen an Wissenschaft, BürgerInnen oder Politik, sondern es strukturiert die Art und Weise, in der über die Entwicklungen in Medizin, Wissenschaft und Technologie gesprochen werden kann.“7 Im dritten Schritt skizziere ich, wie Braun et al. an Foucaults Analysen (neoliberaler) Gouvernementalität anschließen, um diese Frage nach der Konstituierung eines „richtigen“ ethischen Sprechens im Kontext sozioökonomischer Machtverhältnisse zu situieren und so als Effekt praktischer (politischer) Grenzziehungen erkennbar zu machen. Um diese Analyse im Sinne einer Kritik der Entscheidungssituationen zuzuspitzen, gehe ich im vierten Schritt näher auf Foucaults Ausführungen zum performativen Siegeszug einer spezifischen (neoliberalen) sozialen Ontologie ein, da sich hier spezifische Kriterien der Kritik dieser historischen Konstellation finden lassen.

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Aus der Einsicht in die historische Komplexität ethischer Deliberation lässt sich die Konsequenz ziehen, dass es entscheidend ist, die je besondere Situation angemessen zu erfassen: „Jede ethische Reflexion muss mit einer genauen Beschreibung der Entscheidungssituation einschließlich der verfügbaren Hand-

6

Vgl. K. Braun/S.L. Herrmann/S. Könninger/A. Moore: Bioethik in der Politik, Dies.: Ethical Reflection sowie Dies.: Science Governance.

7

K. Braun /S.L. Herrmann/S. Könninger/A. Moore: Bioethik in der Politik, S. 46.

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lungsoptionen mit ihren Folgen beginnen.“8 Dies verweist allerdings auf ein komplexes Zusammenspiel von „Theorie und Praxis, Normativität und Empirie, wissenschaftlicher Betrachtungsweise und gesellschaftlicher Realität“,9 da zu berücksichtigen ist, „dass empirische Informationen über den zu beurteilenden Sachverhalt nicht unabhängig von bestimmten methodologischen Voraussetzungen gewonnen werden, denen wiederum wissenschaftstheoretische und/oder normative Vorannahmen zu Grunde liegen“.10 Die Beschreibung einer Entscheidungssituation ist insofern nicht von der (eventuell implizit bleibenden) Dimension der Problembestimmung zu trennen: Was wird von wem, unter welchen Prämissen als Problem gesehen und welche abweichenden oder konträren Sichtweisen anderer gibt es in dieser Hinsicht? Dies lässt sich zunächst als eine methodische Frage der angemessenen Problemerfassung begreifen, in der es um die Offenlegung der ihr zugrunde liegenden anthropologischen und epistemologischen Prämissen geht,11 also der Klärung von „ethisch relevanten Vorannahmen [...] die bereits bei der Auswahl und Darstellung bestimmter empirischer Sachverhalte in der Angewandten Ethik eine Rolle spielen“.12 Eine derzeit geläufige Kontextualisierung ethischer Reflexion besteht im Verweis auf den Prozess technologischer Entwicklungen, im Zuge dessen moderne Grenzziehungen und Dichotomien faktisch verschwinden und neue fundamentale Unwägbarkeiten entstehen. So argumentiert Margrit Shildrick, dass „in the period we might term the era of postmodernity, precisely our time, the problems created by a bioscience that has become highly technological, with its ever-accelerating, expanding, and unpredictable datasets, are intrinsically unfamiliar.”13 Eine auf philosophischen Modellen der Moderne fußende „konventionelle Ethik“ sei vor diesem Hintergrund insofern unzulänglich, als sie auf unhinterfragten normativen Annahmen beruhe und mit spezifischen Annahmen operiere – Rationalität, Deontologie und binäre Gegensätze (richtig/falsch, gut/schlecht) – die keine Offenheit für das Unbenennbare, für unerwartete Möglichkeiten zulassen. Statt ethische Urteile in vermeintlichen Gewissheiten zu begründen, plädiert Schildrick für eine postkonventionelle Ethik, die uns auffordert, anders zu denken, eine Ethik, die Reflexion zur unabschließbaren Herausforderung macht, uns dem Unentscheidbaren zu stellen. Ethik erscheint somit als Fra-

8

G. Marckmann: Gute ethische Analyse, S. 88.

9

A. Esser/S. Salloch: Angewandte Ethik, S. 229.

10 S. Salloch/J.Schildmann /J.Vollmann: Prinzip und Urteilskraft, S. 259. 11 Vgl. S. Schicktanz: The way we consider the body, S. 4. 12 A. Esser/S. Salloch: Angewandte Ethik, S. 231. 13 M. Shildrick: Beyond the Body, S. 3.

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ge ihrer Zeit und das Subjekt der Entscheidung als konstitutiv mit diesen Bedingungen verbunden, an spezifische Entscheidungsdispositive, die zugleich auch Kriterien angemessener epistemischer und methodischer Verfahrensweisen konstituieren. Wie Susanne Lettow argumentiert, kann eine solche Kontextualisierung allerdings insofern aber wiederum zu einer spezifischen Ent-Kontextualisierung führen, als Technologieentwicklung als äußere Ursache oder Anlass ethischer Probleme erscheint, deren Auswirkungen, nicht jedoch deren Bedingungen und Logiken, zum Gegenstand ethischer Deliberationen werden. Aus dem Blick geraten auf diese Weise die spezifischen Konstitutionsbedingungen technologischer Entwicklungen in ihren ökonomischen, soziokulturellen und politischen Zusammenhängen.14 Wie also bestimmte Entscheidungssituationen durch soziale Machtverhältnisse, ökonomische Interessen und politische Regulierungen konfiguriert werden und ob diese Konfiguration selbst ethisch wünschenswert ist, wird auf diese Weise nicht verhandelbar. Wie ich im Folgenden zeigen will, ließe sich mit Foucault argumentieren, dass ein Verständnis von Ethik als Frage ihrer Zeit und eine damit verbundene unabschließbare Prozessualisierung von Urteilen durchaus mit der Frage verbunden werden kann, wie spezifische Domänen des Unentscheidbaren in historischen Konstellationen hervorgebracht werden. Was in welcher Weise und mit welchen Begründungen als untentscheidbar gilt, kann auf diese Weise in den Zuständigkeitsbereich ethischer Reflexion einbezogen werden. In gewisser Weise werden soziale und ökonomische (Macht-)Verhältnisse als Problem ethischer Deliberation thematisiert, wenn sich der Blick auf Verfahren richtet, mit denen unterschiedliche Perspektiven auf ein Problem gleichberechtigt einbezogen werden können. Silke Schicktanz spricht in diesem Zusammenhang von der Frage epistemischer Gerechtigkeit: „Komplexität und Ambivalenz der Entscheidung, ihre Verortung in zeitlichen und kulturellen Dimensionen von Tausch und Solidarität“ müssen systematisch Berücksichtigung finden, da sonst die „Gefahr [besteht], dass der ethischen Urteilsbildung reduktive Darstellungen der Situation vorangestellt werden“.15 Entscheidend für die Berücksichtigung dieser Komplexität sei die „Inklusion von bestimmten Perspektiven, wie die der Betroffenen (wie die von Patienten, Laien oder bestimmten Berufsgruppen)“.16

14 Vgl. S. Lettow: Biophilosophien, S. 41. 15 S. Schicktanz: Epistemische Gerechtigkeit, S. 270. 16 Ebd.

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Diese Anerkennung unterschiedlicher Positioniertheit sozialer Akteure und damit einhergehender unterschiedlicher Betroffenheit und Sichtweisen, lässt sich im Anschluss an Foucault aber als Frage danach weiter treiben, wie spezifische Entscheidungsdispositive Individuen auf ganz bestimmte Weise zu Subjekten von Entscheidungen werden lassen, indem sie das Sag- und Verhandelbare regulieren und damit bestimmte Bedingungen der Inkludierbarkeit von Sichtweisen vorgeben. Auf diese Weise wird die Verfasstheit der Sozialität, innerhalb derer bestimmte Entscheidungssituationen entstehen, explizit in den Aufgabenbereich ethischer Reflexion einbezogen, denn, „[w]enn ich frage: ‚Was soll ich tun?‘ – beziehe ich mich dann nicht immer schon auf eine soziale Welt, in der ganz bestimmte Arten von Optionen möglich sind und andere nicht?“17

ANGEWANDTE E THIK ALS REFLEXIVE G OUVERNEMENTALITÄT Im Rahmen ihres Forschungsprojekts Ethical Gouvernance fassen Kathrin Braun und ihre Kolleg_innen die Entwicklung „staatlich initiierte[r] Institutionen und Verfahren, wie nationale Ethikkommissionen, Ethikräte, Ethikbeiräte, Anhörungen oder auch Konsultationsverfahren“18 in Deutschland, Frankreich und Großbritannien als Ausdruck eines neuen gouvernementalen Ethikregimes. Sie sehen darin ein spezifisches Modell, das neben dem Wissen von Expert_innen explizit „non-scientific actors and knowledges“19 miteinbezieht. Braun et al. nehmen in ihrer Untersuchung die Frage nach dem historischen und politischen Kontext der Entstehung des neuen Ethikregimes auf; insbesondere seien veränderte Formen der Legitimierung wissenschaftlichen Wissens und technologischer Entwicklungen gegenüber der Öffentlichkeit von Bedeutung. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass diese gouvernementalen Ethikregime auf eine zunehmende Skepsis gegenüber „Technologien der Kontrolle und Vorhersage“20 reagieren und auf den ersten Blick dem nahe kommen, was Sheila Jasanoff21 als „‚Technologien der Bescheidenheit‘ [bezeichnet], welche mögliche unvorhergesehene Folgen sichtbar und den impliziten normativen Gehalt des vorgeblich rein Technischen explizit machen sowie die Notwendigkeit verschiedener Sichtweisen und kollektiven

17 J. Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 8. 18 K. Braun et al.: Bioethik in der Politik, S. 41. 19 K. Braun et al.: Ethical Reflection, S. 840. 20 K. Braun et al.: Bioethik in der Politik, S. 40. 21 Vgl. S. Jasanoff: Technologies of Humility.

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Lernens anerkennen“.22 Allerdings fokussieren Braun et al. diese Entwicklung im Anschluss an Foucault nicht einfach als Überwindung älterer Modelle durch offenere und transparentere Verfahren, sondern betrachten die Entstehung des gouvernementalen Ethikregimes als Prozess der Überlagerung und Verschiebung bestehender Problemdeutungen und entsprechender Lösungsstrategien, die nur im Kontext gesellschaftlicher Macht- und Interessenkonstellationen zu verstehen sind; „the contours of governmental bioethics are best understood as an outcome of a range of problematizations of scientific governance“.23 Braun et al. zeichnen das „Auftauchen einer bestimmten Art von Rationalität“24 nach, die dieses neue Ethikregime als diskursive Konstellation mit ganz spezifischen Regeln ethischer Deliberation konstituieren. Im Sinne von Foucaults Skepsis gegenüber universellen Phänomenen stellt sich somit das Phänomen der Ethik als spezifische Konstellation, als historisches Dispositiv dar, das durch eine konstitutive Verknüpfung von epistemischen Regeln des Sag- und Denkbaren, diskursiven Praktiken, Institutionen und Subjektivierungsweisen gebildet wird. In diesem neuen Ethikregime werden keine Verhandlungen über grundlegende Wahrheiten geführt, es werden keine fundamentale Grenzen gezogen, die nicht überschritten werden dürfen;25 die Richtigkeit ethischer Deliberationen werde also nicht an substanziellen Begründungen gemessen, sondern an eine Prozessualisierung gebunden, in der Verhandlungen über Grenzen auf Dauer gestellt werden. Dieses Modell operiert mit zentralen Elementen einer postkonventionellen Ethik im Sinne Shildricks: Statt auf grundlegende Wahrheiten Bezug zu nehmen, werden die partizipierenden Akteur_innen zu einer diskursiven Vermittlung unterschiedlicher jedoch als gleichrangig betrachteter Positionen aufgefordert; statt anhand moderner Dualismen (etwa Rationalität versus Irrationalität, oder Wissenschaft versus Fundamentalismus) legitime von illegitimen Äußerungen abzugrenzen, sollen Emotionen und Affekte als produktive und legitime Ressourcen in die diskursiven Prozesse eingebracht werden. Diese ethischen Deliberationen verlangen folglich auch ein verändertes Expert_innentum, „[…] a new type of expertise, namely experts in discourse procedures, experts who know how to initiate, organize, perform and manage processes of discussion and deliberation

22 K. Braun/S.L. Herrmann/S. Könninger/A. Moore: Bioethik in der Politik, S. 40. 23 K. Braun/S.L. Herrmann/S. Könninger/A. Moore: Science Governance, S. 512. 24 M. Foucault: Geburt der Biopolitik, S. 16. 25 Vgl. K. Braun/S.L. Herrmann/S. Könninger/A. Moore: Bioethik in der Politik, S. 42.

168 | HANNA M EISSNER that mediate between governmental rationalities, on the one hand, and public concerns about the potential risks and dangers of uncontrolled techno-science on the other“.26

In den Institutionen und Verfahren gouvernementaler Bioethikdebatten haben wissenschaftliche Expert_innen die Aufgabe, professionelle und technische Unterstützung und Beratung anzubieten; ihre Rolle besteht darin als Moderator_innen ergebnisoffener Debatten zu fungieren.27 Die Öffentlichkeit wird durch Laien repräsentiert, deren entscheidende Qualifikation in einer allgemeinen Bereitschaft und Fähigkeit besteht, diverse und kontroverse Positionen als diskussionswürdig zu begreifen. Die Integration unterschiedlicher, gar kontroverser Ansichten, sowie die Anerkennung von Emotionen und Affekten ist also ausdrücklich Bestandteil dieser Ethikregime. Grundlage für diese Integration ist allerdings, so Braun et al., eine (stillschweigende) Prämisse, nämlich die Annahme, dass technologische Entwicklung und Innovation unausweichliche Gegebenheiten sind und dass ethische Fragen im Hinblick auf diese Entwicklung von politischen Fragen zu unterscheiden sind: Auseinandersetzungen über die Gestaltung und Umsetzung dieser Entwicklung und Innovation sind zulässig, nicht jedoch antagonistische Positionen, die die Unausweichlichkeit technologischer Entwicklungen grundsätzlich in Frage stellen und neue Spielregeln ethischer Deliberation etablieren wollen. Ganz im Sinne von Foucaults Modus der Kritik verweisen Braun et al. also auf einen spezifischen Preis, der mit diesem Ethikregime verbunden ist: „The price of proper talk, talk committed to openness and temporariness with regard to themes, opinions and regulations, is indeed that power relations and economic interests are not addressed, and there is no space for antagonistic political positions, long-term limits to certain technologies, or the question of whether certain technologies should be pursued or and made available at all.”28 Diese Diagnose ist sicherlich im einzelnen zu differenzieren, so bemerkt etwa Lettow, dass „es zwar keineswegs so [ist], dass im Diskurs nur technik-affirmative Positionen zirkulieren“29. Braun et al. bringen jedoch eine dominante Tendenz auf den Punkt, die dazu führt, dass „auch die skeptischen und kritischen Positionen fast immer vom ‚stummen Drängen der Technologieentwicklung‘ bestimmt [bleiben]“.30 Für meine Überlegungen im Weiteren soll dies insofern einen entscheidenden

26 K. Braun/S.L. Herrmann/S. Könninger/A. Moore: Science Governance, S. 516. 27 Vgl. K. Braun/S.L. Herrmann/S. Könninger/A. Moore: Ethical Reflection, S. 856. 28 Ebd., S. 858. 29 S. Lettow, Biophilosophien, S. 37. 30 Ebd.

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Anknüpfungspunkt darstellen, als es zum einen Anlass zur Frage bietet, inwiefern Offenheit und Unbestimmbarkeit per se als gut und wünschenswert zu betrachten sind. Zum anderen lässt diese Beobachtung innehalten und fragen, ob die in den Verfahren des gouvernementalen Ethikregimes implementierte Prozessualisierung und Verzeitlichung nicht mit ganz spezifischen Einhegungen oder gar Schließungen ethischer Deliberationen verbunden ist. Wie Susanne Schultz und Kathrin Braun argumentieren, sind ethische Auseinandersetzungen durch implizite Universalisierungen gerahmt. So erscheinen etwa in derzeitigen Debatten um Stammzellenforschung bestimmte „Elemente“ – individuelle Körper (etwa Eizellengeberinnen) und „Bioobjekte“ (etwa Eizellen) – als gegeben; ethische Reflexion wird dadurch beispielsweise als Auseinandersetzung um eine angemessene rechtliche Gestaltung des Verhältnisses individueller Eizellengeberinnen zu ihren Eizellen als veräußerbaren Objekten gerahmt.31 Schultz und Braun plädieren demgegenüber für eine gesellschaftsanalytische Kontextualisierung, die es ermöglicht, „Praktiken der Eizellengewinnung [...] als Geflecht sozialer Beziehungen“ zu begreifen, „statt durch einen reduzierten Blick auf die Verfügungsrechte der Einzelnen über sie“32 das (machtgesättigte) Gefüge sozialer Praktiken unsichtbar werden zu lassen – und es damit zugleich auch nicht als Zuständigkeitsbereich ethischer Reflexionen erscheinen zu lassen.

G ESELLSCHAFTLICHE S ITUIERUNG : SOZIOÖKONOMISCHE B EZIEHUNGEN ALS KONSTITUTIVE B EDINGUNGEN Das gouvernementale Ethikregime wird von Braun et al. in spezifischen MachtWissen-Konstellationen situiert, die sie zunächst in ähnlicher Weise fassen, wie Shildrick: als historische Situation „characterized by dichotomies, dualisms and boundaries becoming fluid, blurred, pluralized and made the subject of decisionmaking“.33 Im Anschluss an Foucaults Konzept der Gouvernementalität zeichnen sie aber nach, wie diese strukturelle Logik der Verflüssigung von Gewissheiten in eine auf spezifische Modi der Regulierungen beruhenden Regierungskunst eingebunden ist, eine „gouvernmental strategy of proceduralizing conflicts and temporalizing regulation“.34 Diese Kontextualisierung ethischer Debatten als Moment spätmoderner Gouvernementalität verweist darauf, dass die Offenheit

31 Vgl. S. Schultz/K. Braun: Der bioökonomische Zugriff auf Körpermaterialien. 32 Ebd., S. 74. 33 K. Braun/S.L. Herrmann/S. Könninger/A. Moore: Science Governance, S. 512. 34 Ebd., S. 514.

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der Möglichkeiten in spezifischen Regulierungen eingehegt ist, die auf bestimmte Verfahren der Optimierung gerichtet sind – Optimierungsverfahren, die an den Einzelnen, an deren (individualisierten) Körpern und Potenzialen ansetzen und diese an Normen einer spezifischen Leistungsfähigkeit ausrichten, die ihrerseits allerdings zumeist nicht Gegenstand medizinethischer Reflexion sind. Diese Kontextualisierung ermöglicht es, die Frage ethischer Prinzipien in der Medizin mit Prinzipien und Dynamiken zu verknüpfen, die sich zunächst vermeintlich auf ganz andere gesellschaftliche Bereiche beziehen und daher nicht als Problem medizinethischer Expertise und Reflexionen erscheinen.35 In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität36 zeichnet Foucault eine ganz spezifische Grenzziehung des sozial und politisch Verhandelbaren nach, die in der Prämisse begründet ist, dass unausweichliche ökonomische Dynamiken Kriterien und Maßstab der Regierungskunst darstellen. Wie Braun et al. ausführen, hat diese Grenzziehung nicht unerhebliche Effekte für ethische Deliberation, da ein spezifisches Feld des Gestaltbaren durch den Ausschluss des nicht Verfügbaren konstituiert wird: „Reflexive government in that sense accepts the ungovernability of the capitalist social order as a matter of fact and fate; what is rendered governable is not the dynamics of social and economic processes but the ability of individuals, corporations and governments to adapt to it.“37

Foucault folgend, fassen Braun et al. diese Unterscheidung zwischen dem, was entschieden werden kann und dem, was als Rahmenbedingung einer Entscheidung zu akzeptieren ist und nur beschreibend zur Kenntnis genommen werden kann, als Effekt praktischer (politischer) Grenzziehungen. In einer genealogischen Skizze rekonstruieren sie die Entstehung des reflexiven gouvernementalen Ethikregimes als Prozess institutioneller Innovationen in einem spezifischen historischen Kontext. In den 1970er und 80er Jahren habe eine zunehmende Skepsis gegenüber der Neutralität und Objektivität wissenschaftlichen Expert_ innenwissens einerseits, sowie eine allgemeine Pluralisierung von Werten andererseits zu einer Infragestellung des etablierten technischen Modells wissenschaftlicher Gouvernance geführt. Insbesondere im Zuge der Debatten um Gen-

35 Foucault bringt die Maßstäbe individueller Leistungsnormen explizit mit Effizienzkriterien, der kapitalistischen Produktionsweise in Verbindung (vgl. H. Meißner: Jenseits des autonomen Subjekts, S. 158). 36 Vgl. M. Foucault: Sicherheit sowie Ders.: Geburt der Biopolitik. 37 K. Braun/S.L. Herrmann/S. Könninger/A. Moore: Science Governance, S. 515.

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forschung, Atomenergie und In-vitro-Fertilisation habe sich eine neue Problematisierung technologischer Entwicklungen abgezeichnet.38 Gegenüber einer Abwägung von Chancen und Risiken im Sinne der Technikfolgenabschätzung – eine Formierung von Auseinandersetzungen, die das Potenzial politisierter Auseinandersetzungen enthält – setzte sich eine Formierung der Auseinandersetzungen um Gentechnologie und Reproduktionsmedizin als ethische Problematik durch. Diese Rahmung der Auseinandersetzungen bringt eine spezifische Verschiebung und Neuformatierung der Debatten hervor, da nun nicht danach gefragt wird, ob die Entwicklung entsprechender Technologien überhaupt vorangetrieben werden sollte; zur Debatte stehen vielmehr die Verfahrensweisen im Umgang mit einer (an sich als unausweichlich gesetzten) Technologieentwicklung.39 In Deutschland sei dies vor allem im Kontext einer im hochpolitisierten, antagonistischen Paradigma der Chancen und Risiken geführten Auseinandersetzung um Atomenergie zu sehen, angesichts derer ein (politisches) Interesse bestand, eine alternative Rahmung für die Debatten um Gentechnologie einzuführen: „The government was keen to avoid this type of debate [pro oder contra Atomenergie] spilling over to the issue of genetic technology. Instead of whether or not, it wanted the debate to focus on how to go ahead with the new technology [...] and introduced the notion of ethics and an ‚ethical-philosophical‘ debate, performed among experts, as counterframe to the highly politicized public debate on risks [...].“40

In diesem Modell zielen ethische Deliberationen nicht darauf, verbindliche Vorgehensweisen oder gar Verordnungen hervorzubringen, sondern eher darauf, allgemeine Richtlinien und Standards anzubieten. Braun et al. kommen zu dem Ergebnis, dass dieses Ethikregime vor der paradoxen Aufgabe steht, Prinzipien zu identifizieren, „[…] which, if necessary, may set limits to scientific and technological development, without being too precise about which principles these should be and why they are right. The result is an inbuilt temporalization of the ensuing limits; they are provisional, changeable, and apply only until new preliminary limits are adopted – they are ‘evolutionary, reversible, and precarious’“.41

38 Vgl. K. Braun/S.L. Herrmann/S. Könninger/A. Moore: Ethical Reflection, S. 843. 39 Vgl. ebd., S. 844. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 848.

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Braun et al. verweisen somit auf spezifische Spielregeln und Prämissen ethischer Deliberation, die das markieren, was überhaupt als Gegenstand von Entscheidungen erscheint – und die damit auch spezifische Möglichkeiten des Entscheidens konstituieren. Über die Kontextualisierung dieser Spielregeln und Prämissen in einer historischen Regierungsweise lässt sich erfassen, dass diese Konfiguration ethischer Deliberationen in spezifischen Macht-Wissen-Konstellationen eingebettet ist; was in welcher Weise legitim verhandelt werden kann, wird auf diese Weise (auch) als politische Frage fassbar, die nicht jenseits ihrer Verschränkung mit ökonomischen Dynamiken begriffen werden kann. Politische und wirtschaftliche Interessen und Machtverhältnisse sind insofern nicht als äußere Rahmenbedingungen zu betrachten sondern als konstitutives Moment von Entscheidungssituationen. Auch die Subjekte dieser ethischen Regime werden in spezifischer Weise konstituiert – als „biomedical citizens“,42 die ihre Rationalität und Verantwortlichkeit dadurch unter Beweis stellen, dass sie den unausweichlichen technischen Fortschritt akzeptieren, sich aktiv darum bemühen, ihre mit der technologischen Entwicklung verbundenen Ängste, Hoffnungen und Erwartungen zu bearbeiten und informiert und verantwortungsvoll Entscheidungen zu treffen. Das gouvernementale Ethikregime trägt der Verunsicherung moderner Dualismen und der Verflüssigung allgemeingültiger Werthaltungen Rechnung. Der in diesem Modell angestrebten Vermittlung unterschiedlicher, teilweise konträrer Perspektiven liegt die Annahme einer grundsätzlichen Kontingenz zugrunde, die fundamentale Urteile unmöglich erscheinen lässt. Angesichts der Pluralität von Standpunkten sowie der Ungewissheit zukünftiger Entwicklungen sind ethische Deliberationen in diesem Rahmen insofern durch Verfahren der Offenheit und prozessualisierten Regulierung geprägt. Braun et al. machen allerdings deutlich, dass diese Offenheit in spezifischer Weise geschlossen oder eingehegt ist – und dass diese Schließung und Einhegung sich wiederum genealogisch auf praktische Grenzziehungen in spezifischen Macht-Wissen-Konstellationen zurückführen lässt. In diesem Zusammenhang verweisen sie darauf, dass es gerade die sozioökonomischen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise sind, die nicht als Teil der verhandelbaren Kontingenz erscheinen. Im Folgenden will ich diese Einsicht zuspitzen und argumentieren, dass eine solche an Foucault anschließende genealogische Rekonstruktion von Grenzziehungen und Formierungen auch eine Kritik an diesen Grenzziehungen und Formierungen impliziert. Wie Braun et al. für das gouvernementale Ethikregime resümieren:

42 Ebd., S. 852.

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„[W]er bestimmte Positionen oder Praktiken für ‚falsch‘ erklärt und zu bekämpfen gedenkt, wer potentiell Machbares für undenkbar hält, fällt aus dem Rahmen des ‚richtigen ethischen Sprechens‘ heraus. Alles muss in diesem Rahmen möglich sein, nur eines nicht: Nein zu sagen.“43

Wie ich im Folgenden skizziere, bietet Foucault wichtige Anhaltspunkte für eine kritische Haltung und für eine spezifische Kunst des Nein-sagens – für Kritik als Haltung, die sich aus dem ethischen Impetus speist, „nicht auf diese Weise und nicht um diesen Preis regiert zu werden“.44

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Wie lässt sich also im Anschluss an Foucault eine Ethik denken, die auf transzendentale, substanzielle Gewissheiten oder Maßstäbe verzichtet und zugleich eine radikale Kritik an spezifischen Konstellationen von Entscheidungssituationen ermöglicht? Foucault formuliert eine Strategie der Kritik als „Grenzhaltung“,45 die an eine postkonventionelle Ethik im Sinne Shildricks sehr anschlussfähig ist, da sie nicht auf urteilende Unterscheidungen zielt, sich nicht auf einen Standpunkt jenseits oder außerhalb der Bedingungen beruft, unter denen (und gegen die) sie geäußert wird. Es geht folglich auch nicht darum, Urteile über absolute Grenzen zu fällen, sondern vielmehr darum, über eine „Analyse der Grenzen“46 mittels archäologischer und genealogischer Verfahren jene historischen Praktiken erkennbar zu machen, die spezifische Grenzziehungen überhaupt erst hervorbringen. Kritik lässt sich dadurch als „eine praktische Kritik in Form einer möglichen Überschreitung“47 begreifen. Im Hinblick auf medizinethische Fragen, kann sich eine solche kritische Grenzhaltung in der Verwunderung darüber begründen, dass wir in einer historische Situation sind, in der der Mensch, der individuelle Körper, das Leben selbst als Gegenstand nicht nur heilender sondern gar gestaltender und optimierender Praktiken gelten, die konstitutiven Bedingungen hingegen, die uns in spezifischer Weise als Menschen, als individuelle Körper, als lebende Individuen her-

43 K. Braun/S.L. Herrmann/S. Könninger/A. Moore: Bioethik in der Politik, S. 46. 44 M. Foucault: Was ist Kritik?, S. 12. 45 M. Foucault: Was ist Aufklärung?, S. 46. 46 Ebd. 47 Ebd.

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vorbringen, positionieren und mit Potentialen aber auch mit Problemen „ausstatten“, als weitgehend unverfügbare Rahmenbedingungen erscheinen. Diese Verwunderung kann zum Anlass kritischer Fragen nach den Machteffekten werden, die damit verbunden sind, wenn der technische Zugriff auf die Individuen, die Körper, das Leben als Gegenstand ethischer Reflexionen erscheint, die gesellschaftlichen Bedingungen, die Menschen als kranke, behinderte oder optimierungsbedürftige Individuen konstituieren, weitgehend als außerhalb des Zuständigkeitsbereichs dieser Ethik zu stehen scheinen.48 Eine solche Haltung der Verwunderung speist sich nicht zuletzt aus Foucaults methodischer Herangehensweise einer kritischen Grenzhaltung, die danach fragt, wie bestimmte Phänomene zur Erscheinung kommen, indem anderes als widersinnig, unmöglich oder gar undenkbar ausgeschlossen wird. Foucault geht nicht von vermeintlich gegebenen, konkreten Universalien aus (etwa Wahnsinn, Sexualität, Individuen oder Körper) um dann zu fragen, wie diese Universalien in historischen Epochen unterschiedlich reguliert und beurteilt wurden. Vielmehr rekonstruiert er von den Praktiken des Regulierens und Urteilens ausgehend, wie sich bestimmte Phänomene (etwa Wahnsinn, Sexualität oder der „Mensch“ als ethisches Subjekt) konstituieren konnten: „Mit anderen Worten, anstatt von Universalien auszugehen, um daraus konkrete Phänomene abzuleiten, oder vielmehr von Universalien als notwendigem Raster für das Verstehen einer bestimmten Zahl von konkreten Praktiken auszugehen, möchte ich von diesen konkreten Praktiken ausgehen und gewissermaßen die Universalien in das Raster dieser Praktiken einordnen.“49

Eine solche Kritikstrategie sollte allerdings nicht im Sinne einer einfachen Affirmation von Kontingenz interpretiert werden und erschöpft sich nicht in einer prozessualisierenden Aufschiebung von Urteilen.50 Im Hinblick auf die ethischen Implikationen der vermeintlichen Unverfügbarkeit ökonomischer Dynamiken bietet Foucault in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität Möglichkeiten der kritischen Haltung eines „Nein, so nicht, nicht auf diese Weise“. Foucault zeichnet in diesen Vorlesungen nach, wie liberale und neoliberale ökonomische Theorien in ihrem Anspruch, die Welt (so wie sie ist) zu beschreiben, dazu beitragen, eine bestimmte Konfiguration der Wirklichkeit mit spezifischen normativen Annahmen über den Menschen (als homo oeconomicus) und über Sozialität (als in

48 Vgl. A. Manzei: Über die Moralisierung der Bioethik-Debatte. 49 M. Foucault: Geburt der Biopolitik, S. 15. 50 Vgl. H. Meißner: Kritik und Widerstand.

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wesentlichen Dimensionen über marktvermittelte Konkurrenzbeziehungen konstituiert) hervorzubringen. Damit eröffnet Foucault eine Verhandlungsbühne für die Frage, ob wir als solche Subjekte in dieser Gesellschaft leben wollen und um welchen Preis wir das tun. Foucault analysiert hier also den historischen Nexus von neoliberaler Gouvernementalität und moderner Biopolitik als Effekt eines performativen Erfolgs neoklassischer und neoliberaler Ökonomie. Dieser Erfolg bestand in einer Umformung und Intensivierung grundlegender Prinzipien des klassischen Liberalismus, in deren Zuge liberaler Individualismus im Sinne einer sozialen Ontologie reformuliert wurde. Kern dieser sozialen Ontologie bildet die Figur des homo oeconomicus, ein Individuum, das als „vereinzeltes Einzelnes“ angesichts knapper Ressourcen Entscheidungen trifft, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Diese Figur stellt nun in der spätmodernen Gouvernementalität das „Erklärungsraster“ dar, über welches das Verhalten der Individuen für die Regierung intelligibel, „das Individuum gouvernementalisierbar wird“; sie bildet insofern „die Schnittstelle zwischen Regierung und dem Individuum“51. Der performative Erfolg dieser Figur wird nicht zuletzt in spezifischen (Re-) Formierungen sozialer Institutionen und Praktiken erkennbar, die in den sozialwissenschaftlichen Debatten etwa als Entwicklung zu einem „aktivierenden Sozialstaat“52, einer „unternehmerischen Hochschule“53 oder einer auf Eigenverantwortung setzenden „Gesundheitsaktivierung“54 diskutiert werden. Im Gegenzug zur Verfügbarkeit individuellen Verhaltens für den Zugriff regulierender Verfahren erscheinen die komplexen wirtschaftlichen Prozesse in der neoliberalen sozialen Ontologie als prinzipiell unverfügbar, da es unmöglich sei, die Gesamtheit der relevanten Prozesse zu erkennen. Die „Welt der Wirtschaft ist [...] von Natur aus undurchsichtig. Sie ist von Natur aus nicht vollkommen erfassbar“55 – vor diesem Hintergrund muss die Optimierung der Bevölkerungsprozesse bei den regierbaren Subjekten ansetzen, die als homines oeconomici in ihrem freien Markthandeln „die einzige kleine Insel möglicher Rationalität“56 innerhalb des im Gesamten unkontrollierbaren Wirtschaftsprozesses darstellen. Politik erscheint in dieser Konstellation vor allem in Form bürokratischer Prozeduren, mit denen individualisierte Problemlagen und sachlich

51 M. Foucault: Geburt der Biopolitik, S. 394. 52 S. Lessenich: Die Neuerfindung des Sozialen. 53 J. Masschelein/M. Simons: Jenseits der Exzellenz. 54 Vgl. B. Schmidt: Eigenverantwortung haben immer die Anderen. 55 M. Foucault: Geburt der Biopolitik, S. 387. 56 Ebd.

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gegebene Anforderungen verwaltet und reguliert werden, um günstige Bedingungen für den ungehinderten Ablauf von Marktdynamiken zu gewährleisten. Das Gemeinwohl scheint also durch das Ideal technologisch zu sichernder und zu optimierender Wettbewerbsfähigkeit gesetzt; wie Braun et al. zeigen, konstituieren sich auf diese Weise spezifische Regeln ethischer Verhandlungen, deren Zuständigkeit sich auf die Frage beschränkt, auf welche technischen Möglichkeiten in welcher Weise zurückgegriffen werden soll, um diese Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen. Diese von Foucault nachgezeichnete (neoliberale) Setzung des Markts als privilegiertem Ort der Wahrheit, an dem sich über das rationale Wahlhandeln vereinzelter Einzelner das Gesamtwohl herstellt, lässt sich als machtvoller Effekt der Bereinigung ökonomischer Theoriebildung von moralischen Prinzipien lesen. Klassische liberale Theoretiker, wie etwa Adam Smith oder John Stuart Mill, verstanden sich als Moralphilosophen, deren analytische Überlegungen in einem umfassenden Sinn in sozialphilosophischen Fragen verankert waren – ihre Disziplin war die politische Ökonomie – „These people were moral visionaries [...]. They felt that an essential element of their responsibility as social philosophers was identifying visions of a morally appropriate way of life.“57 Neoklassiker hingegen waren bestrebt, die Ökonomie als „normale Wissenschaft“ zu etablieren, indem sie den Gegenstand des Faches auf Markt und Wettbewerbsdynamiken eingrenzten. Wie Vincent Mosco resümiert, reihen sich diese Bestrebungen in spezifische Entwicklungen westlicher Wissenschaften ein, „to separate science from morality [so that there is one voice that] speaks the language of rationality, logic and positivism; [while the other voice speaks] a normative language [which] is generally permitted to talk back but not with the other“.58 Ethik ist in diesem Verständnis nicht integraler Bestandteil von (wissenschaftlicher) Wissensproduktion, sondern eine äußerliche Instanz der Reflexion des Umgangs mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und den auf diesen beruhenden Technologien und Verfahren.59 Diese Reinigung bedeutete einerseits eine Einschränkung ökonomischer Theoriebildung, eine Verkleinerung ihres Gegenstandsbereichs und eine Loslösung der begrifflichen Modellierung von ethischen Deliberationen. Zugleich jedoch war der neoklassischen Ökonomie daran gelegen, den Erklärungsanspruch ihrer Theorie zu verallgemeinern, indem die Rationalität von KostenNutzenabwägungen nicht nur auf alle denkbaren sozialen Phänomene bezogen

57 V. Mosco: Political Economy, S. 33. 58 Ebd. 59 Zu den Parallelen im Hinblick auf Bioethik vgl. S. Lettow: Biophilosophien.

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wurde – sei es Kriminalität, Familiengründung, Sport, Gesundheit und so weiter –, sondern auch auf Körper und Natur. Die Etablierung des Markts als Ort des Wahrsprechens setzt insofern eine ganz spezifische soziale Ontologie, die – gerade durch ihre Exklusion moralischer Überlegungen – enorme ethische Implikationen mit sich bringt. Wie Foucault nachzeichnet, kam es zu einer Verschiebung ethischer Prinzipien. Das Recht als juridische, auf Vertragsbeziehungen begründete und mit den ethischen Parametern von richtig und falsch, gerecht und ungerecht, legal und illegal operierende Struktur wurde durch das ökonomische Prinzip der Marktdynamiken überlagert. Eine spezifische neoliberale Rationalität konnte sich durchsetzen, die mit rein formalen ökonomischen KostenNutzenkalkulationen operiert: „Erfolg oder Misserfolg ersetzt also die Unterscheidung zwischen Legitimität/Illegitimität“.60 In dieser historischen Konstellation, in der Gemeinwohl durch Marktdynamiken gesetzt und garantiert scheint, erscheinen die Individuen als primäre Zurechnungsinstanz für ihre Lebensführung, für ihre Erfolge und Misserfolge. Die Parameter und Bedingungen eines gelungenen Lebens entziehen sich jedoch in wesentlichen Aspekten der individuellen Verfügung. Ein bedeutsamer Effekt dieser Modellierung von Individuum und Gesellschaft besteht in der Individualisierung ethischer Fragen: „Neoliberal Homo economicus is a free and autonomous ‚atom‘ of self-interest who is fully responsible for navigating the social realm using rational choice and cost-benefit calculation to the express exclusion of all other values and interests. Those who fail to thrive under such social conditions have no one to blame but themselves.“61

Probleme werden in diesem Kontext als Frage individueller Dispositionen (seien es psychische oder physische) gefasst, die es den Einzelnen ermöglichen bzw. verunmöglichen, angesichts gegebener Optionen adäquate Entscheidungen zu treffen. Das Ziel technologischer Entwicklungen und Innovationen besteht vor diesem Hintergrund darin, diese individuellen Dispositionen zu unterstützen und zu optimieren. Individuen können entscheiden, ob sie von technischen Möglichkeiten Gebrauch machen oder nicht – aber sie treffen diese Entscheidungen auf eigenes Risiko. Da die Individuen in der Logik des Markts nicht nur weitgehend selbst für ihren Erfolg verantwortlich sind, sondern zudem in ihren Wahlmöglichkeiten in Konkurrenz zu anderen stehen, sind sie immer der Gefahr gnadenloser Überfor-

60 M. Foucault: Geburt der Biopolitik, S. 34. 61 T. Hamann: Neoliberalism, Governmentality and Ethics, S. 38.

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derung und Unsicherheit ausgesetzt. Wie nicht zuletzt feministische und postkoloniale Kritik haben zeigen können, ist die Figur des abgrenzbaren, autonomen und rational-intentional handelnden Individuums, das auf eine äußere Umwelt als passive Ressource zurückgreifen und diese sich zunutze machen kann, die historisch spezifische Figur des modernen abendländischen Subjekts, zu dessen Entstehungsbedingungen nicht zuletzt die kapitalistische Produktionsweise, eine patriarchale Ordnung und koloniale Eroberungen gehören.62 Auch die Debatten der Disability Studies verweisen auf die spezifische, exklusive und ausschließende Formierung dieses Subjekts, denn „das Prinzip der individuellen Autonomie [gilt] längst nicht für alle Menschen [...]. Vor allem psychisch kranke und geistig behinderte Menschen werden in ihrer Selbstbestimmung beschnitten, weil Ihnen ein vernünftiger Wille nicht zuerkannt wird.“63 Die Subjektivierung als rational kalkulierendes Individuum, das seine Ressourcen in einem Feld gegebener Möglichkeiten und in Konkurrenz zu anderen möglichst gewinnbringend und erfolgversprechend einsetzen muss, ist also durch spezifische Ausschlüsse konstituiert; seine Autonomie wird durch Grenzziehungen ermöglicht, über die Abhängigkeiten verleugnet und an Andere ausgelagert werden – an das „Weibliche“, das „Wilde“, das „Verrückte“.64 Die ethische Frage der epistemischen Gerechtigkeit erhält vor dem Hintergrund dieser Kontextualisierung des Subjekts eine radikale Dimension. Sie umschließt nicht zuletzt die Frage, wer „wir“ als Subjekte ethischer Reflexionen überhaupt sind, welche historischen Ausschlüsse und Begrenzungen diesen Subjektstatus ermöglichen. Dies führt wiederum zur Frage, wer überhaupt Bedürfnisse formulieren und Ansprüche erheben kann, so dass diese von „uns“ gehört bzw. als „Perspektive“ wahrgenommen werden (können). Die Foucaultʼsche Frage nach dem Preis, die immer auch eine Frage nach den Verlusten und Ausschlüssen ist, bekommt hier eine eminent wichtige ethische Dimension: Wie ist unsere Sozialität konstituiert, wie werden Subjekte konstituiert und welche Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Existenz sind mit dieser spezifischen Verfasstheit verbunden? Indem Foucault deutlich macht, dass die Antworten auf diese Fragen auf praktische (material-diskursive) Grenzziehungen verweisen, die wiederum in einer spezifischen sozialen Ontologie verankert sind, eröffnet er die

62 Vgl. T. de Lauretis: Eccentric Subjects, C. Pateman: The Sexual Contract, M. Yeğenoğlu: Colonial Phantasies sowie C. Venn: Refiguring Subjectivity. 63 A. Waldschmidt: Selbstbestimmung als behindertenpolitisches Paradigma, S. 15. 64 Vgl. H. Meißner: Kritik und Widerstand.

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Möglichkeit, diese soziale Ontologie selbst zum Gegenstand von ethischen Reflexionen und politischen Transformationen zu machen.65 Foucault bietet eine spezifische „postkonventionelle“ Stoßrichtung der Kritik an – als Frage nach dem Preis, der mit bestimmten Verfahren und Subjektivierungsweisen verbunden ist. Zugleich machen seine Analysen unserer historischen Gegenwart auf spezifische Probleme aufmerksam, die die Bearbeitung dieser Frage als Gegenstand ethischer Reflexionen erschweren. Wie Foucaults Analysen der neoliberalen sozialen Ontologie deutlich machen, ist diese historische Konstellation durch eine spezifische Fragmentierung des Gemeinwesens gekennzeichnet, die egoistisches Kalkül individuell rational macht und solidarisches, auf die gemeinsame Gestaltung der Welt gerichtetes Handeln systematisch erschwert.66 Der Preis, der mit dieser Konstellation einhergeht, lässt sich insofern auch als spezifische Depolitisierung ethischer Verhandlungen zuspitzen, denn indem Konflikte prozessualisiert und über die Setzung spezifischer Verfahrensregeln als Ausdruck unterschiedlicher Perspektiven so konfiguriert werden, dass sie wenig antagonistische Sprengkraft entfalten, wird auch die Frage, inwiefern Konflikte und unterschiedliche Interessen auf gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse zurückzuführen sind, schwer zugänglich. Demgegenüber lässt sich mit Bezug auf Foucaults genealogische Analyse der spezifischen spätmodernen Gouvernementalität die Verfasstheit der Sozialität selbst als Gegenstand ethischer Deliberationen begründen. Dies eröffnet wiederum andere Möglichkeiten der ethischen Reflexion von Entscheidungssituationen, denn wenn diese in der spezifischen Verfasstheit der Sozialität kontextualisiert werden, dann erscheinen sie nicht nur als gegebene Rahmenbedingungen für Entscheidungen. Vielmehr lässt sich die je bestimmte Rationalität erfassen, die die Parameter für Entscheidungen vorgibt, und es lässt sich die Frage aufwerfen, ob wir so, auf diese Weise entscheiden wollen.67 Auf diese Weise eröffnet sich die

65 Wichtige Beiträge zu solchen Auseinandersetzungen kommen beispielsweise von Vertreter_innen der Disability Studies (bzw. der Studies in Ableism), vgl. z.B. F.K. Campbell: Stalking, R. Maskos: Was heißt Ableism?, G. Wolbring: Expanding Ableism. Auch Judith Butler macht derzeit interessante Angebote, die als performative Gegenerzählung einer relationalen sozialen Ontologie der gegenseitigen Angewiesenheit verstanden werden können (vgl. J. Butler: Gefährdetes Leben, Verletzbarkeit und die Ethik der Kohabitation). 66 Vgl. H. Meißner: Kapitalismusmuskritik. 67 So lässt sich beispielsweise im Hinblick auf Verfahren und Möglichkeiten der Pränataldiagnostik fragen, welche Entscheidungen wir „in Bezug auf ein werdendes Leben

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Möglichkeit, nein, so nicht zu bestimmten Entscheidungskonstellationen zu sagen, ohne ein solches Urteil in grundlegenden, universellen Gewissheiten zu begründen. Auszuhalten bleibt dabei allerdings, dass ein solches Urteil keine abschließende Auskunft über ein Wie-denn-dann geben kann, sondern uns der Ungewissheit von Erfindungsarbeit preisgibt.

L ITERATUR Braun, Katrin/Herrmann, Svea Luise/Könninger, Sabine/Moore, Alfred: „Bioethik in der Politik“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8 (2009), S. 40-46. Braun, Katrin/Herrmann, Svea Luise/Könninger, Sabine/Moore, Alfred: „Ethical Reflection must always be measured“, in: Science, Technology & Human Values 35/6 (2010), S. 839-864. Braun, Kathrin/Moore, Alfred/Herrmann, Svea Luise/Könninger, Sabine: „Science governance and the politics of proper talk: governemental bioethics as a new technology of reflexive governement“, in: Economy and Society 39/4 (2010), S. 510-533. Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Butler, Judith: „Gefährdetes Leben, Verletzbarkeit und die Ethik der Kohabitation“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60/5 (2012), S. 691-704. Campbell, Fiona K.: „Stalking: Using Disability to Expose ‚Abled‘ Narcissism“, in: Dan Goodley/Bill Hughes/Lennard Davis (Hg.), Disability and Social Theory: New Developments and Directions, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012, S. 212-230. Esser, Andrea/Salloch, Sabine: „Angewandte Ethik und Urteilskraft“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60/2 (2012), S. 228-232. Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Foucault, Michel: Was ist Kritik?, Berlin: Merve 1992.

treffen wollen und um welchen Preis wir das tun“ (vgl. H. Meißner: Jenseits des autonomen Subjekts, S. 173ff.).

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Foucault, Michel: „Was ist Aufklärung?“, in: Eva Erdmann/Rainer Forst/Axel Honneth (Hg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt am Main/New York 1990, S. 35-54. Lauretis, Teresa de: „Eccentric Subjects: Feminist Theory and Historical Consciousness“, in: Feminist Studies 16/1 (1990), S. 115-150. Lessenich, Stephan: Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld: transcript 2008. Lettow, Susanne: Biophilosophien. Wissenschaft, Technologie und Geschlecht im philosophischen Diskurs der Gegenwart, Frankfurt am Main/New York: Campus 2011. Manzei, Alexandra: „Über die Moralisierung der Bioethik-Debatte und ihre gesellschaftlichen Ursachen: das Beispiel des Stammzelldiskurses in Deutschland“, in: Wolfgang Bender/Christine Hauskeller/Alexandra Manzei (Hg.), Grenzüberschreitungen: kulturelle, religiöse und politische Differenzen im Kontext der Stammzellenforschung weltweit, Münster: agenda Verlag 2005, S. 77-99. Marckmann, Georg: „Wann ist eine ethische Analyse eine gute ethische Analyse? Ein Plädoyer für die Methodenreflexion in der Medizinethik“, in: Ethik in der Medizin 25 (2013), S. 87-88. Marckmann, Georg/Jox, Ralf J.: „Ethik in der Medizin. Ethische Grundlagen medizinischer Behandlungsentscheidungen“, in: Bayerisches Ärzteblatt 9 (2013), S. 442-445. Maskos, Rebecca (2010): Was heißt Ableism? Überlegungen zu Behinderung und bürgerlicher Gesellschaft, in: arranca! http://arranca.org/43/was-heisstAbleism Masschelein, Jan/Simons, Maarten: Jenseits der Exzellenz. Eine kleine Morphologie der Welt-Universität, Zürich: Diaphanes 2010. Meißner, Hanna: Jenseits des autonomen Subjekts, Bielefeld: Transcript 2010. Meißner, Hanna: „Eine Renaissance der Kapitalismuskritik? Feministische Suchbewegungen zur Erneuerung radikaler Emanzipationsvisionen“, in: Feministische Studien 1 (2015), S. 55-69. Meißner, Hanna: „Kritik und Widerstand – Erfindungsarbeit an den Grenzen unserer Gewissheiten“, in: Brigitte Bargetz/Gundula Ludwig/Birgit Sauer (Hg.): Gouvernementalität und Geschlecht. Politische Theorie im Anschluss an Michel Foucault, Frankfurt am Main/New York: Campus 2015, S. 207226. Mosco, Vincent: The Political Economy of Communication. London: Sage Publications 2009. Pateman, Carol: The Sexual Contract, Stanford: Stanford University Press 1988.

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Salloch Sabine/Schildmann Jan/Vollmann Jochen: „Prinzip und Urteilskraft in der Medizinethik“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60/2 (2012), S. 251-268. Samerski, Silja: Die Entscheidungsfalle. Wie genetische Aufklärung die Gesellschaft entmündigt, Darmstadt: WBG 2010. Schicktanz, Silke: „Epistemische Gerechtigkeit. Sozialempirie und Perspektivenpluralismus in der Angewandten Ethik“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60/2 (2012), S. 269-283. Schicktanz, Silke: „Why the way we consider the body matters – Reflections on four bioethical perspectives on the human body“, in: Philosophy, Ethics and Humanities in Medicine 2 (2007): 30. Schmidt, Bettina: Eigenverantwortung haben immer die Anderen. Der Verantwortungsdiskurs im Gesundheitswesen, Bern: Huber 2008. Schultz, Susanne: „Der bioökonomische Zugriff auf Körpermaterialien. Eine politische Positionssuche am Beispiel der Forschung mit Eizellen“, in: Susanne Lettow (Hg.), Bioökonomie. Die Lebenswissenschaften und die Bewirtschaftung der Körper, Bielefeld: transcript 2012, S. 61-83. Shildrick, Margrit: „Beyond the Body of Bioethics: Challeging the Conventions“, in: Margrit Shildrick/Roxanne Mykitiuk (Hg.), Body. Postconventional Challenges, Cambridge: MIT Press 2005, S. 1-25. Venn, Couze: „Refiguring Subjectivity after Modernity“, in: Valerie Walkerdine (Hg.), Challenging Subjekts. Critical Psychology for a New Millenium, Basingstoke/New York: Palgrave 2002, S. 51-71. Waldschmidt, Anne: „Selbstbestimmung als behindertenpolitisches Paradigma – Perspektiven der Disability Studies“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8 (2003), S. 13-20. Wolbring, Gregor (2012): „Expanding Ableism: Taking down the Ghettoization of Impact of Disability Studies Scholars“, in: Societies 2 (2012), S. 75-83. Yeğenoğlu, Meyda: Colonial Fantasies. Towards a Feminist Reading of Orientalism, Cambridge: Cambridge University Press 1998.

Biopolitische Betrachtungen zur Figur des Arztes in Nietzsches Philosophie V ANESSA L EMM

Spätestens seit Esposito1 haben Wissenschaftler damit angefangen, Nietzsche als Wegbereiter dessen zu lesen, was Foucault als Biopolitik bezeichnete2. Laut Esposito hatte bereits Nietzsche „den gesamten Verlauf der Biopolitik vorausgesehen, den Foucault dann definiert und entwickelt hat: Von der Zentralität des Körpers als Entstehungsgrund und Ende der sozialpolitischen Dynamik über die grundlegende Rolle von Kämpfen und des Krieges und die Konfiguration juridisch-institutioneller Ordnungen bis hin zur Funktion des Widerstands als notwendigen Gegenpol zu den Machtpraktiken“.3 Biopolitische Interpretationen Nietzsches sind nicht mehr auf die Analyse von Foucaults Genealogie der Bestrafung4 und dessen Verbindung zu Nietzsches Vorstellung von Sklaven- und Herren-Moral, wie er sie in seinem Band Zur Genealogie der Moral vorbringt, fokussiert, sondern versuchen stattdessen biopolitische Lesarten von Nietzsches Begriff der großen Politik zu liefern.5 Das folgende Kapitel ist eine Ergänzung

1

Vgl. R. Esposito: Biopolitica sowie Ders.: Biopolitics.

2

Für eine umfangreiche Diskussion der verschiedenen Lesarten Nietzsches als biopolitischem Denker vgl. V. Lemm: Nietzsche and Biopolitics.

3

R. Esposito: Biopolitics, S. 85.

4

Vgl. M. Foucault: Surveiller et punir.

5

Vgl. KSA 13:25[1] sowie EH „Schicksal“ 1. In diesem Kapitel benutze ich folgende Abkürzungen für die Werke von Nietzsche: Verweise auf Nietzsches nichtveröffentlichte Schriften sind, wo möglich, standardisiert, um auf die verfügbaren Auflagen von Nietzsches Notizbüchern und Veröffentlichungen zu verweisen, Kritische Studienausgabe (KSA), zusammengestellt unter der Schriftleitung von Giorgio

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zur bereits existierenden Literatur über Nietzsche und die Biopolitik.6 Es wird argumentiert, dass Foucaults Auffassung von Biopolitik Aufschluss über die verschiedenen Bedeutungen und Eigenschaften der Figur des Arztes in Nietzsches Philosophie gibt. Foucault unterscheidet zwischen mindestens drei verschiedenen Bedeutungen des Begriffes Biopolitik.7 Erstens bezeichnet Biopolitik einen Wendepunkt in der Geschichte der westlichen Zivilisation, welcher sich als radikaler Wandel in der Konzeption von politischer Macht manifestiert. Biopolitik beschreibt den historischen Bruch, durch den „[d]ie Tatsache des Lebens [...] nicht mehr der unzugängliche Unterbau [ist], der nur von Zeit zu Zeit, im Zufall und in der Schicksalhaftigkeit des Todes ans Licht kommt. Sie wird zum Teil von der Kontrolle des Wissens und vom Eingriff der Macht erfaßt“.8 Dieser Wandel der politischen Macht ist im Einklang mit Nietzsches biopolitischer Aufhebung des traditionellen Verständnisses von Wahrheit und des Philosophen als Suchendem der Wahrheit. Nietzsche bewirkt eine Verschiebung von der Wahrheit hin zum Leben, indem er die Behauptung vorbringt, dass Wahrheit an sich keinen Wert hat, sondern dass ihr Wert vielmehr davon abhängig ist, ob sie die Macht des Lebens steigert oder verringert. Nietzsche sieht das Werden eines „philosophi-

Colli und Mazzino Montinari. In den Fällen, in denen die KSA zitiert wird, enthält die Quellenangabe die Buchbandnummer gefolgt vom jeweiligen Teil und Aphorismus (KSA 10:12[1].37 verweist z.B. auf Buchband 10, Teil 12[1], Aphorismus 37). Folgende Abkürzungen werden für Zitate aus Nietzsches Schriften verwendet: A = Der Antichrist; JGB=Jenseits von Gut und Böse; M=Morgenröte; EH=Ecce Homo (Teile werden wie folgt abgekürzt: „Weise“, „Klug“, „Bücher“, „Schicksal“; Abkürzungen für Titel, die in Büchern diskutiert werden, werden statt Bücher angegeben, falls relevant); GM= Zur Genealogie der Moral; FW= Fröhliche Wissenschaft; MAM = Menschliches, Allzu Menschliches; HL= Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben; SE=Schopenhauer als Erzieher; GD= Götterdämmerung (Teile werden wie folgt abgekürzt: „Maxime“, „Sokrates“, „Vernunft“, „Welt“, „Moral“, „Irrtümer“, „Verbesserer“, „Deutsche“, „Streifzüge“, „Alten“, „Hammer“); NCW = Nietzsche contra Wagner; WS=Der Wanderer und sein Schatten; Z= Also sprach Zarathustra (Verweise auf Z listen die Teilnummer und den Titel des Kapitels gefolgt von der Nummer des relevanten Teilabschnittes auf, falls erforderlich). 6

Vgl. M.B. Cragnolini: An ‘Other Way of Being’, F. Balke: Biopolitical Point of View, Ders.: Figuren des Verbrechers, R. Esposito: Biopolitics sowie V. Lemm: Nietzsche and Biopolitics.

7

Vgl. T. Lemke: Biopolitik zur Einführung, S. 49-67.

8

M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 139.

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sche[n] Arzt[es]“ vorher, „der dem Problem der Gesammt-Gesundheit von Volk, Zeit, Rasse, Menschheit nachzugehn hat“ und der den Mut hat zu bekräftigen, dass es sich „bei allem Philosophiren [...] bisher gar nicht um ‚Wahrheit‘ [handelte], sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben…“.9 Für Nietzsche ist der Philosoph ein „Arzt der Cultur“,10 der dafür zuständig ist, das Leiden seines Zeitalters zu diagnostizieren und die Menschheit zu einer „grosse[n] Gesundheit“ und „Vornehmheit“ zu führen.11 Als solches ist der Philosoph eine Figur der Öffentlichkeit, der eine wichtige Rolle in der kulturellen Umwandlung der Gesellschaft spielt. Zweitens benutzt Foucault den Begriff Biopolitik, um von Technologien und Diskursen zu sprechen, die eine zentrale Rolle in der Entstehung des modernen Rassismus spielen.12 Durch den Rassismus wird die Biopolitik, eine Politik des Lebens, zur Thanatopolitik, einer Politik des Todes. Foucault versteht Rassismus als eine Aufteilung der Kontinuität des Lebens in eine Hierarchie der Spezies, wo die Vernichtung (Tod) einer Spezies oder Lebensform als die Bedingung für den Schutz des Lebens einer anderen Spezies verstanden wird. Als solches wird die Thanatopolitik mit der Politik des Totalitarismus assoziiert.13 Esposito ergänzt Foucaults Auffassung von Thanatopolitik durch die Hypothese, dass das, was die Biopolitik zur Thanatopolitik macht, eine hyperimmune Reaktion ist, in der der Schutz des Lebens und die Lebenserhaltung (Immunität) zur Vernichtung von Leben (Hyperimmunität) führt.14 Dieses Kapitel zeigt, dass sich sowohl Foucaults Auffassung der Thanatopolitik als auch Espositos Auffassung der Immunität in der nietzscheanischen Figur des asketischen Priesters als Mediziner und Heiland widerspiegelt, genauso wie in seiner Auffassung des Arztes als Vertreter der Eugenik. Schließlich verwendet Foucault den Begriff Biopolitik um jene Art politischer Rationalität zu beschreiben, die in der liberalen und neo-liberalen Art und Weise der Gouvernementalität auf dem Spiel steht.15 Foucault versteht Gouvernementalität als die Regierung von Menschen durch die Führung der Führun-

9

FW „Vorrede“ 2.

10 KSA 7:23[15]. 11 KSA 7:30[8]. 12 Vgl. M. Foucault: Il faut défender la société. 13 Vgl. ebd., S. 227-229. 14 Vgl. R. Esposito: Biopolitica, Ders.: Biopolitics sowie Ders.: Immunitas. 15 Vgl. M. Foucault: Naissance de la biopolitique sowie Ders.: Sécurité, territoire, population.

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gen.16 Letzteres hat die Herstellung einer selbstregulierenden Moral, verantwortlicher Individuen und rationaler Wirtschaftssubjekte zum Ziel,17 die für ihr eigenes Leben, ihren eigenen Schutz und ihre Erhaltung selbst verantwortlich sind. Man könnte argumentieren, dass diese Idee des Individuums als „Unternehmer“ bereits in Nietzsches Ideal des Übermenschen als selbstregulierendes Individuum gefunden werden kann, das keine Notwendigkeit für einen Arzt besitzt, da es selbst zu seinem eigenen Arzt geworden ist. In diesem Kapitel wird argumentiert, dass Nietzsches Vision einer höheren und nobleren Menschheit gute Gründe liefert, um solche Lesarten des Übermenschen als Unternehmer seines eigenen Lebens in Frage zu stellen. Statt im Übermensch ein Abbild dessen zu sehen, was Foucault als liberale und neo-liberale Biopolitik beschreibt, argumentiere ich, dass Nietzsche Vorläufer einer affirmativen Biopolitik ist, die man als Politik der Gemeinschaft versteht, in der „kein Teil davon [des Lebens] zugunsten eines anderen zerstört werden kann: Jedes Leben ist eine Lebensform und jede Form bezieht sich auf ein Leben“.18 Im Folgenden präsentiere ich die verschiedenen Elemente der Figur des Arztes in Nietzsches Philosophie und wie sie im Laufe seiner Werke zum Vorschein kommen, indem ich den Faden von Foucaults Konzeption der Biopolitik verfolge.

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Nietzsche ist die biopolitische Wende, die sein Zeitalter charakterisiert, zweifelsohne bewusst, wenn er behauptet, dass „Störungen der Seele und des Körpers“ einst eine moralische Natur zugeschrieben wurde. Er stellt fest, dass diese nun als „medizinisch“ betrachtet werden und eher nach einem Arzt als einem Philosophen verlangen, um sie zu beheben.19 Wie Foucault nach ihm, entdeckt Nietzsche hinter dieser Verschiebung zum Medizinischen den Aufstieg einer neuen Konfiguration von Macht-Wissen, die als Mittel dient, mehr Kontrolle über das Leben des Menschen zu gewinnen. Als Antwort auf und als eine Form des Widerstands gegen diese neue biopolitische Macht läutet Nietzsche eine Rückkehr zum präsokratischen Ideal des „Philosoph als Arzt der Cultur“ ein.20

16 Vgl. M. Foucault: Gouvernement de soi et des autres. 17 Vgl. T. Lemke: Birth of Biopolitics. 18 R. Esposito: Biopolitics, S. 194. 19 Vgl. KSA 7:31[4]. 20 Vgl. KSA 7:23[15].

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Für Nietzsche sind die Philosophen aus dem tragischen Zeitalter der Griechen mehr als nur Denker, sie sind lebende Männer, die „Dichter, Philosophen, Staatsmänner, Ärzte“ in einem sind.21 Nietzsche findet in den präplatonischen Philosophen eine Verkörperung der Wahrheit, in der die Wahrheit des Philosophen in seiner „Miene, Haltung, Kleidung, Speise, Sitte mehr als durch Sprechen oder gar Schreiben“ widergegeben wird.22 Auf diese Art repräsentieren sie Nietzsches Ideal des Philosophen als Erzieher, der mehr durch seine Lebensweise als durch seine Werke inspiriert. Nietzsche beharrt darauf, dass die „grosse Aufgabe der Erziehung [...] eine neue Gattung von Erziehern, ein Gebilde aus Ärzten, Lehrern, Priestern, Naturphilosophen, Künstlern der alten Kultur“ benötigen wird.23 Für sie besteht die Aufgabe der Erziehung darin, Kulturformen, die Verkörperungen einer „natürlichere[n] Natur“ sind, hervorzubringen.24 Ihr Ziel ist es, „die Natur durch neue lebendige Natur“ zu vermehren.25 So sind sie Vorbilder aller zukünftigen kultivierten Nationen.26 Was Nietzsche an den präplatonischen Philosophen, „d[en] sieben Weisen des 6. Jahrhunderts“, bewundert, ist, dass sie Beispiele des Lebens repräsentieren, wo die Praxis der Selbstkultur keine Form der Macht über das Leben bedeutet.27 Für diese „appolinischen Genies“ ist die Kultur kein Mittel, um die Natürlichkeit des Menschen zu überwinden.28 Demnach stehen die Modernen im Gegensatz zu den Griechen; anders als Erstere, verstehen die Griechen Kultur nicht als etwas, was dem Leben hinzugefügt wird, wie ein Kleid, das den Körper umhüllt. Stattdessen begrüßen und zelebrieren sie ihre Natürlichkeit als eine kulturelle Kraft, als etwas von Natur aus kreatives und künstlerisches.29 Nietzsche hofft, dass eine Rückkehr zu deren beispielhaftem üppigen Leben seine Zeit zu größerer Gesundheit führen kann.

21 Vgl. KSA 7:8[5]. 22 SE 3. 23 KSA 8:23[94]. Vgl. auch WS 180, Nietzsches Vision eines neuen „Lehrer-Ideals“, dass „Geistliche, Künstler, Ärzte, Wissende und Weise“ zusammenführt, und FW 113, wo er behauptet, dass diese neuen Pädagogen ein „höheres organische[s] System“ aus „Gelehrten, Arzt, Künstler und Gesetzgeber“ bilden. 24 HL 10. 25 SE 6. 26 Vgl. HL 10. 27 KSA 7:8[5]. 28 Ebd. 29 Vgl. HL 10.

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Laut Nietzsches früheren Schriften, Unzeitgemässe Betrachtungen und Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, ist der Philosoph als Arzt der Kultur dafür verantwortlich, die Krankheit seines Zeitalters zu diagnostizieren. Er muss sein Zeitalter „in Hinsicht auf Gesund und kranksein“ untersuchen.30 Für Nietzsche befindet sich sein Zeitalter in einem Zustand schlechter Gesundheit, insbesondere leidet es am Fieber des Historizismus, welches durch eine Überdosis an Wissen und Erinnerung hervorgerufen wird, die charakteristisch ist für den westlichen Rationalismus.31 Für Nietzsche ist die Geschichte der westlichen Zivilisation eine Geschichte der Krankheit; sie spiegelt einen Prozess der Zivilisierung wider, der auf die Perfektionierung der Moral und der rationalen Kapazitäten des Menschen abzielt und dabei die Zerstörung der Leidenschaften und Instinkte des Lebens in Kauf nimmt. Die Aufgabe des Philosoph-Arztes ist es zu zeigen, dass die rationale und moralische Perfektionierung des Individuums ein Mittel der Herrschaft ist, das gegen die tierische Natur des Menschen gerichtet ist. So steht der Prozess der Zivilisierung im direkten Gegensatz zum Prozess der Kultivierung und Erziehung, wie er von den präsokratischen Philosophen beispielhaft vertreten wird.32 Die Herausforderung für den Arzt der Kultur besteht darin, die Menschheit von einer Überdosis an Zivilisierung zu heilen, die Natürlichkeit des Menschen wiederherzustellen und es dabei zuzulassen, Formen des Lebens und der Kultur hervorzubringen, die nicht Formen der Macht über das Leben, sondern Formen der Macht des Lebens sind. Zu diesem Zweck verschreibt der Nietzsche-Arzt „das fröhliche Lachen“ und „das Vergessen“.33 In seinem Werk verbindet Nietzsche durchgehend das Lachen und das Vergessen mit der Stimulation des „animalischen vigor“ des Menschen und den Instinkten des Lebens: „Die Kunst erinnert uns an Zustände des animalischen vigor; sie ist einmal ein Überschuß und Ausströmen von blühender Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche; andererseits eine Anregung der animalischen Funktion durch Bilder und Wünsche des gesteigerten Lebens; – eine Erhöhung des Lebensgefühls, ein Stimulans

30 SE 6. 31 Vgl. HL 1. 32 Für den Antagonismus zwischen Kultur und Zivilisation bei Nietzsche vgl. V. Lemm: Nietzsches Animal Philosophy sowie Dies.: Nietzsches Philosophie des Tieres, Kapitel 1. 33 DS 3, HL 1.

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desselben“.34 Nietzsche beschreibt das Vergessen und das Lachen als kurierende und heilende Kräfte,35 die eine Rückkehr zum instinktiven, animalischen Leben des Menschen darstellen, sprich zu denjenigen Kräften, die eine entscheidende Rolle in der Kultivierung von zukünftigen vielversprechenden Lebens- und Denkformen spielen. Nietzsche ist besonders an dem produktiven Zusammenhang zwischen Philosophie und der Entstehung von Kultur interessiert. Er glaubt, dass der Philosoph als Erzieher im Dienste der Kultur steht und so eine politische Rolle zu spielen hat, nämlich zwischen Kultur und Staat mit dem Ziel zu vermitteln, eine „edlere Menschlichkeit als Ziel des Staates“ hervorzubringen.36 Nietzsches Vision einer höheren Menschheit wurde als Form von politischem Perfektionismus interpretiert, die nach der Konstituierung einer politischen Ordnung verlangt, in der eine elitäre Minderheit über die Mehrheit regiert, wo die Perfektionierung einiger weniger auf Kosten der Herrschaft über und die Ausbeutung der Mehrheit erreicht wird.37 Solche Interpretation können sich nicht nur auf Nietzsches frühere Schriften stützen, wie Schopenhauer als Erzieher,38 sondern auch auf Jenseitz von Gut und Böse, wo Nietzsche behauptet: „Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist aber, dass sie sich nicht als Funktion (sei es des Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt, – dass sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen. Ihr Grundglaube muss eben sein, dass die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermag [...].“39

34 KSA 12:9[102]. Zum Zusammenhang zwischen dem Animalischen und dem Vergessen vgl. V. Lemm: Nietzsches Animal Philosophy sowie Dies.: Nietzsches Philosophie des Tieres. 35 Vgl. FW „Scherz, List, Rache“ 4, KSA 9:16[2], V. Lemm: Nietzsches Animal Philosophy sowie Dies.: Nietzsches Philosophie des Tieres. 36 KSA 7:30[8]. 37 Vgl. J. Rawls: Theory of Justice, S. 325-332 sowie V. Lemm: Is Nietzsche a Perfectionist? 38 Vgl. insbesondere SE 6. 39 JGB 258.

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Aussagen wie diese haben Esposito,40 genauso wie andere Interpreten, dazu geführt, zu glauben, bei Nietzsche gäbe es einen „schlechten Aristokratismus“, welcher ein direkter Vorläufer des staatlichen Rassismus und dessen, was Foucault die Thanatopolitik nannte, ist.41 Nach Balke ist der Moment, in dem Nietzsche sich für die Entstehung einer „edlere[n] Menschlichkeit als Ziel des Staates“42 einsetzt, untrennbar verbunden mit einer Politik der Selektion, des Screenings und der Auslöschung, die er mit Nietzsche als Protofaschisten und antisemitischen „Züchter“ einer neuen Menschheit assoziiert.43 Laut Balke benötigt die sogenannte Kultivierung einer höheren Gattung des Menschen eine große Politik, die „im Kern eine Politik der Auslese und Auslöschung ist: eine Auslese positiv bewerteter Abnormalitäten, die solchen, die als negativ bewertet werden, bevorzugt werden“.44 Die große Politik ist von Natur aus rassistisch, insofern sie „[...] den Rang der Rassen, der Völker, der Einzelnen nach ihrer Zukunfts-[...], nach ihrer Bürgschaft für Leben, die sie in sich trägt, [mißt] – sie macht unerbittlich mit allem Entarteten und Parasitischen ein Ende“.45 Im Gegensatz zu dieser Sichtweise habe ich argumentiert, dass Nietzsches Vision einer zukünftigen Aristokratie und einer höheren Menschheit nicht eine Politik des Staates darstellt, sondern stattdessen als eine Politik der Kultur verstanden werden muss. Gegen die Interpretation, Nietzsches Vision einer neuen Aristokratie hätte eine Politik der Gewaltherrschaft zur Folge, argumentiere ich, dass er gerade auf die Überwindung einer solchen Politik abziele. Was für Nietzsche die moderne Massengesellschaft unabhängig von ihrer politischen Ideologie auszeichnet, sind ihre nivellierenden und verkleinernden Auswirkungen auf den Menschen als Ergebnis ihrer Herrschafts- und Ausbeutungspolitik (des „ökonomischen Optimismus“).46 In Nietzsches Vorstellung von aristokratischer Kultur ist vor allem die kritische Funktion hervorzuheben, die als Gegenbewegung zu den modernen Massengesellschaften und ihren politischen Ideologien verstanden werden muss. Sie ist auf die Kultivierung neuer Formen des gesellschaftlichen Lebens gerichtet, die auf individueller Selbstverantwortung beruhen und nur vor

40 Vgl. R. Esposito: Biopolitica sowie Ders.: Biopolitics. 41 Vgl. Dombovsky: Nietzsches Machiavellian Politics sowie Losurdo: Nietzsche. 42 KSA 7:30[8]. 43 F. Balke: Figuren des Verbrechers, S. 717. 44 Ebd., S. 709. 45 KSA 13:25[1]. Vgl. auch F. Balke: Figuren des Verbrechers. 46 KSA 12:10[17].

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einem Horizont jenseits autoritärer politischer Herrschaft verstanden werden können.47 Für Nietzsche ist die Sorge des Philosophen um die Gesundheit der gesamten Menschheit untrennbar verbunden mit seiner Sorge um die Lebensweise eines jeden einzelnen Menschen. Die doppelte Betonung auf Totalität und Individualität hallt zweifelsohne nach in Foucaults Analyse der Biopolitik als eine Politik, die sich mit dem Wohlbefinden der Bevölkerung genauso wie mit dem Wohlbefinden des Individuums befasst. Laut Foucault wird die Individualisierung des Daseins des Menschen als lebendes Tier an die Macht-/Wissensdiskurse der neuen Human- und Naturwissenschaften übergeben, vor allem, als sich diese durch ihren Zugriff auf die Sexualität weiterentwickeln: „Der Sex [...],der uns fasziniert durch die Macht, die er offenbart, und durch den Sinn, den er verbirgt, von dem wir erwarten, dass er uns offenbart, was wir sind, und uns befreit, was uns definiert [...]“.48 Auf diese Weise wird die Technik der Beichte, welche in der seelsorgerischen Macht ihren Ursprung hat, in der Form des „Geheimnisses“ des Sex als eigene Wahrheit eines jeden einzelnen, fortgeführt. Obwohl Nietzsches Philosoph-Arzt auch an der Frage des innersten Wesens des Individuums interessiert ist, nimmt Letzteres nicht die Form eines Zugriffs auf die Sexualität wie in der modernen Bio-Macht an. Der Arzt der Kultur fragt, wie wir zu dem werden, der wir sind. Das Individuum ist hier nicht Machtbeziehungen ausgesetzt, die auf die Normalisierung des menschlichen Verhaltens gerichtet sind. Stattdessen wird das Individuum ermutigt, die Bedeutung seiner nicht-reduzierbaren Singularität zu erkunden.49 Nietzsche weist darauf hin, dass, sollte sich das Individuum bei der Bemühung sein individuelles Genie zu erkennen, verletzen, „ kein Arzt ihm helfen kann“.50 Alles, was der Arzt machen kann, ist zu zeigen, wie er sich selbst hilft: „Arzt hilf dir selber!“.51 Auf diese Weise ist der Arzt der Kultur wie der Erzieher, er ist ein Befreier.52

47 Vgl. V. Lemm: Nietzsches Vision. 48 M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 149. 49 Vgl. SE 1. 50 Ebd. 51 KSA 7:29[213]. 52 Vgl. SE 1.

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Das Thema des Philosophen als Arzt der Kultur, der sich sowohl für die Gesundheit des Individuums als auch für die Gesundheit der gesamten Menschheit engagiert, wird in Nietzsches mittlerer Schaffensphase, von Menschliches, Allzumenschliches bis zu Die fröhliche Wissenschaft, in der Nietzsche seine eigene Position noch expliziter formuliert, weiterentwickelt. In diesem Zeitraum finden wir seine ausführlichste Beschreibung seiner Vision von der „Zukunft des Arztes“,53 die in vielfacher Weise in seiner späteren Vision des Philosophen der Zukunft nachhallt.54 Nietzsche wiederholt ständig, dass der Arzt ein „Diener der Menschheit“55 ist, der ein „Wohlthäter“ der „ganzen Gesellschaft“ ist, durch die „Vermehrung guter Werke, geistiger Freude und Fruchtbarkeit, durch Verhütung von bösen Gedanken, Vorsätzen und Schurkerein (deren Quell häufig der Unterleib ist)“.56 Nietzsche beharrt so wie bei den präplatonischen Philosophen darauf, dass solch eine Aufgabe vom Arzt verlangt, dass er „die Kunstgriffe und Kunstvorrechte aller Berufsclassen“57 versammelt, und wiederum, dass der Arzt durch die Behandlung des einzelnen Individuums fortfährt. Nietzsche glaubt, dass der beste Arzt derjenige sein wird, der nur einen Patienten hat, da „jeder Mensch [...] eine Krankheitsgeschichte“58 ist. Der Erfolg des Arztes ist genauso abhängig von seinen diagnostischen Fähigkeiten wie seiner „höchste[n] geistige[n] Ausbildung“.59 Er muss vor allem folgende Tugenden versammeln: „[E]r muss ausserdem eine Beredtsamkeit haben, die sich jedem Individuum anpasst und ihm das Herz aus dem Leibe zieht, eine Männlichkeit, deren Anblick schon den Kleinmuth (den Wurmfrass aller Kranken) verscheucht, eine Diplomaten-Geschmeidigkeit im Vermitteln zwischen Solchen, welche Freude zu ihrer Genesung nöthig haben und Solchen, die aus Gesundheitsgründen Freude machen müssen (und können), die Feinheit eines Polizeiagenten und Advocaten, die Geheimnisse einer Seele zu verstehen, ohne sie zu verrathen [...].“60

53 MAM I 243. 54 Vgl. JGB. 55 M 134. 56 MAM I 243. 57 Ebd. 58 KSA 8:19[15]. 59 MAM I 243. 60 Ebd.

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Im Anschluss an die Idee des Staates als Diener der Kultur aus seinen frühen Werken, beharrt Nietzsche darauf, dass die Verwirklichung von Gesundheit, Wachstum und Fruchtbarkeit die Etablierung einer bestimmten kulturpolitischen Ordnung benötigt, welche er nun als „geistig-leibliche Aristokratie“ bezeichnet.61 In diesem Fall ist der Arzt der Zukunft nicht mehr nur der Vermittler zwischen Kultur und Staat, sondern nimmt buchstäblich eine Rolle als „Ehestifter und Eheverbinder“ an.62 Nietzsche bedauert, dass diese Aufgabe nun überwiegend vom Priester übernommen wird, der alle natürlichen Ereignisse des Lebens wie die Geburt, die Ehe und den Tod, entwertet.63 Um diese Situation zu korrigieren, fordert Nietzsche den Arzt der Kultur auf, die Denaturalisierung des Lebens rückgängig zu machen. Im Gegensatz zu seinen früheren Werken und beginnend mit Menschliches, Allzumenschliches, wird das Problem der (christlichen) Moral ein zentraler Bestandteil seiner Diagnose des Leidens seines Zeitalters. Nietzsches eigene Auffassung von „geistigem“ und „leiblichem“ Wohlbefinden muss als Gegensatz gesehen werden zum christlichen Ideal einer Moral, gemäß der alles, was „leiblich“ ist, als Gefahr beseitigt werden muss, um größere moralische und spirituelle Perfektion zu erreichen. Laut Nietzsche müssen stattdessen „alle sogennanten Seelenqualen und Gewissensbisse“,64 die durch die „Verächter [...] des Leibes“65 entfacht werden, zerstört werden. So steht die Figur des Arztes bei Nietzsche in genauem Gegensatz zur christlichen Figur des Arztes und Heilands. Dieser Gegensatz gipfelt in Aphorismus WS 83, mit dem Titel „Heiland und Arzt“: „Der Stifter des Christenthums [...] gleicht in seiner Methode mitunter jenem Zahnarzte, der jeden Schmerz durch Ausreissen des Zahnes heilen will; so zum Beispiel indem er gegen die Sinnlichkeit mit dem Rathschlage ankämpft: „Wenn dich dein Auge ärgert, so reisse es aus.“ – Aber es bleibt doch noch der Unterschied, dass jener Zahnarzt wenigstens sein Ziel erreicht, die Schmerzlosigkeit des Patienten; freilich auf so plumpe Art, dass er lächerlich wird: während der Christ, der jenem Rathschlage folgt und seine Sinnlichkeit ertödtet zu haben glaubt, sich täuscht: sie lebt auf eine unheimliche vampyrische Art fort und quält ihn in widerlichen Vermummungen.“66

61 Ebd. Für Nietzsches Vision einer Aristokratie der Zukunft vgl. V. Lemm: Nietzsches Vision. 62 MAM I 243. 63 Vgl. A 26. 64 MAM I 243. 65 Z I „Reden“ 4. 66 WS 83.

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Im Gegensatz zum „Stifter des Christhums”, dessen Methoden durch einen systematischen Ausschluss, gefolgt von der Zerstörung all dessen, was mit den Bedürfnissen des Lebens und den Leidenschaften des Körpers in Verbindung steht, charakterisiert sind, verschreibt Nietzsche „geistige und leibliche Verpflanzung“.67 Nietzsches zukünftige Ärzte erkunden die Auswirkungen der „medizinische[n] Geographie“, eine Praxis, in der jedes Individuum als ein wesentlicher Teil seiner Umwelt betrachtet wird, als eine Form von Leben, die von Natur aus mit anderen Lebensformen verbunden und von ihnen abhängig ist. Hier geht es nicht darum, die Pflanze aus ihrem Erdreich zu reißen, so wie es die Stifter des Christentums praktizierten, sondern darum, das „erspriessliche Klima“ und denjenigen Zustand des Lebens zu finden, der für jeden einzelnen Menschen am produktivsten ist. Diese Praxis erfordert, dass man offen für das Andere, Fremde und Eigenartige ist, statt sich hinter moralischen Vorurteilen gegen das Leben zu verschließen. Auf diese Weise ist der Philosoph als Arzt der Kultur eine Figur der Aufklärung: er „braucht doch keine Wunder zu thun und hat auch nicht nöthig sich kreuzigen zu lassen“.68 Die Konfrontation zwischen dem Arzt als Figur der Aufklärung und dem Arzt als Heiland spiegelt sich auch in der Affinität, die Nietzsche zwischen dem Arzt und dem Philologen sieht: „man is nicht Philolog und Arzt, ohne nicht auch Antichrist zu sein“.69 Während der Philologe „hinter die heiligen Bücher“ schaut, schaut der Arzt „hinter die physiologische Verkommenheit des typischen Christen“. Beide stimmen in ihrer Diagnose miteinander überein: „Der Arzt sagt ‚unheilbar‘, der Philolog ‚Schwindel‘“.70 Während der Heiland Empathie und Mitleid empfindet, sehen die NietzscheÄrzte „mitleiden“ und „mitempfinden“ als die größten Gefahren für den Arzt,71 da sie das selbstverantwortliche Werden des Menschen untergraben. Laut Balke stellt die Selbstverantwortlichkeit bei Nietzsche ein Beispiel dar für die zunehmende Entwicklung hin zum Unternehmerischen des menschlichen Individuums, das im Wettbewerb mit seiner Umwelt steht und bereit ist, sich gegen diese zu verteidigen72 und so analog zu Foucaults Auffassung liberaler und neo-liberaler Biopolitik verstanden werden muss. Was diese Interpretation jedoch anscheinend versäumt, ist, dass die Selbstverantwortlichkeit bei Nietzsche eine Möglichkeit

67 WS 188. 68 MAM I 243. 69 A 47. 70 Ebd. 71 KSA 9:4[128] sowie 9:7[285]. 72 Vgl. F. Balke: Biopolitical Point of View, S. 21f.

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bietet, dem, was Foucault als die Regulierung der Menschen durch die Führung der Führungen beschreibt,73 zu widerstehen, anstatt es zu veranschaulichen. Nietzsche entdeckt hinter dem Mitleid und der Empathie des Arztes für seine Patienten den Versuch, Kontrolle über diese zu gewinnen, indem er ihr Leiden manipuliert und ihren Zustand der Abhängigkeit vom Arzt verstärkt. Im Gegensatz dazu muss der Arzt, so wie Nietzsche ihn sich vorstellt, ein Vermittler von Freiheit und Befreiung sein. Nietzsche bietet sich selbst als das beste Beispiel dafür an: Nietzsche als „Arzt seiner selbst“,74 der sich selbst vom Fanatismus des Wagnerianismus und der Romantik geheilt hat. Nietzsche spekuliert, ob man „womöglich ohne Arzt leben“75 könnte. Genauso wie es diejenigen gibt, die „ohne Arzt Medizin peinliche Prozeduren“ leben können, da „sie gesund sind und entsprechende Gewohnheiten haben“, glaubt Nietzsche, dass es diejenigen gibt, die „ohne Moral“ leben, „weil sie dieselbe nicht mehr nöthig haben“.76 Das Ergebnis einer erfolgreichen Behandlung durch Nietzsches zukünftigen Arzt ist Freiheit: indem man keinen Arzt mehr nötig hat, so wie Zarathustras Jünger, die sich von ihm trennen, da sie ihn nicht mehr brauchen. Daher Zarathustras Motto: „Arzt hilf dir selber: so hilfst du auch deinen Kranken noch“.77

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ASKETISCHE P RIESTER ALS KRANKEN H ERDE

ARZT

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Laut Nietzsche geht der Aufstieg des Priesters und der christlichen Moral Hand in Hand mit einer neuen Form von politischer Macht, die eine neue moralische Weltordnung bildet, die von Natur aus biopolitisch ist: „Von nun an sind alle Dinge des Lebens so geordnet, dass der Priester überall unentbehrlich ist; in allen natürlichen Vorkommnissen des Lebens, bei der Geburt, der Ehe, der Krankheit, dem Tode, gar nicht vom Opfer („der Mahlzeit“) zu reden, erscheint der heilige Parasit, um sie zu entnatürlichen: in seiner Sprache zu „heiligen“ […]. Denn dies muss man begreifen: jede natürliche Sitte, jede natürliche Institution (Staat, Gerichts-Ordnung, Ehe, Kranken- und Armenpflege), jede vom Instinkt des Lebens eingegebne Forderung, kurz Alles, was seinen Werth in sich hat, wird durch den Parasitismus des Priesters (oder

73 Vgl. M. Foucault: Gouvernement de soi et des autres. 74 WS „Vorrede“ 5. 75 M 322. 76 KSA 9:4[101]. 77 Z:I „Reden“ 22.

196 | V ANESSA LEMM der „sittlichen Weltordnung“) grundsätzlich werthlos, werth-widrig gemacht: es bedarf nachträglich einer Sanktion, – eine werthverleihende Macht thut noth, welche die Natur darin verneint, welche eben damit erst einen Werth schafft […]. Der Priester entwerthet, entheiligt die Natur: um diesen Preis besteht er überhaupt.“78

Aus diesem Grund ist der Priester verantwortlich für die Erhaltung und den Schutz von Leben. Diese neue Aufgabe erfordert jedoch eine Umkehr von noblen Bewertungen. Während unter der Herrschaft der noblen Moral die Institutionen von „Staat, Gerichts-Ordnung, Ehe, Kranken- und Armenpflege“ als „natürliche Institution“, die aus einer Bekräftigung des Lebens entstehen, betrachtet werden, spiegelt unter der Herrschaft der christlichen Moral die biopolitische Verwaltung des Lebens durch den Priester eine Ablehnung und Zurückweisung des „Instinkt[s] des Lebens“ wider.79 Die biopolitischen Bemühungen des Priesters reflektieren die allgemeine Denaturalisierung des Lebens und die Entheiligung der Natur. Im Gegensatz dazu fordert Nietzsche eine Umwertung aller Werte, die den Menschen in die Natur zurückversetzt80 und von neuem einen „Naturalismus in der Moral“ einläutet.81 Der Gegensatz zwischen der Figur des Philosoph-Arztes und der christlichen Figur des Arztes und Heilandes erreicht seinen Höhepunkt in Nietzsches Analyse der Figur des asketischen Priesters in Zur Genealogie der Moral.82 Laut Nietzsches genealogischem Diskurs musste der asketische Priester selbst krank werden, um der „Heiland, Hirt und Anwärter der kranken Heerde“ sein zu können, derjenige, der die Kranken und Schwachen gegen die Gesunden und Mächtigen verteidigt.83 Nietzsche bemerkt, dass der asketische Priester dem Menschen zuerst Leiden und Krankheit zufügen musste, damit er in seinem Kampf gegen die Gesunden und Mächtigen erfolgreich sein kann. Er „verwundet um Arzt zu sein“.84 Nur nachdem er den Menschen vergiftet und krank gemacht hat, kann er die Rolle des Arztes übernehmen. Der asketische Priester bietet Trost und Unterstützung an, indem er den Menschen von seinem Schmerz befreit. Er rettet wortwörtlich das Individuum von seinem Leid, aber er achtet darauf, dass er sei-

78 A 26. 79 Ebd. 80 Vgl. JGB 230. 81 Vgl. GD „Moral“ 4. Für eine frühere Variante dieses Absatzes vgl. V. Lemm: Nietzsche and Biopolitics. 82 Vgl. GM III: 15 und 17. 83 Vgl. GM III: 15. 84 Ebd.

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ne Krankheit nicht tatsächlich heilt. Stattdessen fügt er die Wunden immer weiter zu, indem er sie vergiftet. Somit erhält der asketische Priester eine Beziehung der Abhängigkeit zu sich mit jedem einzelnen Individuum aufrecht. Seine sogenannten Heilungen sind Mittel der Herrschaft und Kontrolle über das Leben des Individuums und der Herde. So ist der asketische Priester höchst ansteckend: „in seinem Umkreis wird alles Gesunde krank und alles Kranke zahm“.85 Deswegen fragt Nietzsche, „Ist er denn eigentlich ein Arzt, dieser asketische Priest?“.86 Er behandelt lediglich die Symptome des Leidenden, aber er behandelt nicht die Ursachen seines Leidens. Er bietet „Milderung“ an, aber keine Heilung. Nietzsche vermutet, dass es nicht das Ziel des asketischen Priesters ist, zu heilen, sondern ein „Minimum an Stoffwechsel“ herzustellen, das das Leben gerade noch lebendig hält; mit anderen Worten, er stellt bloßes Leben her, eine Form von Leben, „bei dem das Leben gerade noch besteht, ohne eigentlich noch in's Bewusstsein zu treten“.87 Nietzsche beantwortet seine eigene Frage in Der Antichrist, indem er sagt, dass unter diesen Bedingungen nicht ein Arzt gebraucht wird, sondern ein Heiland: „Weg mit den Ärzten! Man hat einen Heiland nöthig!“;88 ein „Gott für Kranke, ein Heiland“.89 Esposito bietet eine Interpretation der Figur des asketischen Priesters bei Nietzsche analog zu seinem Konzept der Immunität, die er als eine Möglichkeit versteht, das Leben gleichzeitig zunichtezumachen und zu erhalten.90 Obwohl das asketische Ideal eindeutig lebensverleugnend und -verringernd ist, ist genau dieser Selbstwiderspruch des Lebens im Interesse des Lebens, und zwar im Interesse des schwachen und kranken Lebens. Esposito argumentiert, dass das asketische Ideal bei Nietzsche eine Politik über das Leben widerspiegelt, der es gelingt, das Leben durch die Negierung, Unterdrückung und Unterwerfung der Impulse des Lebens zu erhalten. Schwaches und krankes Leben ist eine Art Leben, das sich selbst minimal am Leben hält, dank der lebenserhaltenden und letztendlich der lebensbekräftigenden Macht des asketischen Ideals: „das asketische Ideal entspringt dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerirenden Lebens“.91 Das asketische Ideal schwächt oder macht das Leben als Wille zur Macht krank, dabei wandelt es Krankheit in ein Mittel der Gesundheit zur Selbsterhaltung der

85 Ebd. 86 GM III: 17. 87 Ebd. 88 A 49. 89 NCW 7. Vgl. auch KSA 13:17[4]. 90 Vgl. R. Esposito: Biopolitics. 91 GM III: 13.

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Schwachen um. Auf diese Weise gehört der asketische Priester, „dieser anscheinende Feind des Lebens“ und Leugner des Körpers, „gerade [...] zu den ganz grossen conservirenden und Ja-schaffenden Gewalten des Lebens“.92 Nietzsche bekräftigt, dass das asketische Ideal die Negierung (Krankheit) des Lebens erfolgreich in eine Bekräftigung des Lebens umgewandelt hat, indem das Negative produktiv gemacht wurde. Er warnt jedoch auch vor der paradoxen und widersprüchlichen Natur der Immunität. Esposito erkennt an, dass „Nietzsche [...] nicht nur derjenige [ist], der dem Immunitäts-Lexikon zu seiner vollen Entwicklung verhilft, sondern [...] auch derjenige, der dessen negative Macht offensichtlich macht, die unkontrollierbare nihilistische Vergeudung von Bedeutung, die es in eine selbstauflösende Richtung drängt“.93 Am Ende zeigt die Politik des Lebens am Beispiel des asketischen Ideals, dass der Versuch, das Leben durch Negierung zu schützen, fehlschlägt: statt das Leben durch Krankheit zu erhalten, macht es das Leben noch kränker und zerstört letztendlich das Leben, das es ursprünglich schützen wollte.94 Was als Politik des Lebens begann, nimmt letztendlich eine Form der Politik des Todes an, eine Thanatopolitik.95 Obwohl Esposito anerkennt, dass Nietzsche dem Immunitäts-Apparat, der der Entfaltung von Bio-Macht inhärent ist, sehr kritisch gegenübersteht, entdeckt er bei Nietzsche eine hyperimmune Reaktion auf den immuntären Charakter des Lebens und der Politik, die die Form einer Semantik der Infektion, Verseuchung, Reinheit, Unversehrtheit und Perfektion annimmt.96 Diese hyperimmune Reaktion auf den asketischen Priester wird beispielhaft durch den Arzt als Agenten der Eugenik gezeigt, der durch „das rücksichtslose Nieder- und Beiseite- Drängen des entartendende[n] Lebens“ gekennzeichnet ist.97 Dieser Arzt kennt kein Mitleid, wenn es darum geht, die Kranken zu schützen: er weiß wie er sein „Messer“ einsetzen muss, um auszuschließen und zu zerstören: „Hier Arzt sein, hier unerbitterlich sein, hier das Messer führen“.98 Wir befinden uns hier inmitten einer Idee der totalitären Biopolitik, infolge welcher die Kontinuität des Lebens in eine Hierarchie der Spezies aufgeteilt wird, und wo die Zerstörung (Tod) einer Spezies oder Lebensform als die Bedingung für den Schutz des Lebens einer anderen Spezies verstanden wird. Laut Esposito gibt Nietzsches Vorstellung von

92 Ebd. 93 Vgl. R. Esposito: Biopolitics, S. 78. 94 Vgl. GM III: 13. 95 Für eine frühere Variante dieses Absatzes vgl. V. Lemm: Nietzsche and Biopolitics. 96 Vgl. R. Esposito: Biopolitics, S. 97. 97 GD „Streifzüge“ 36. 98 A 7.

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großer Politik eine negative Biopolitik der „Zucht und Züchtung“ wieder, die „höhere“ oder „stärkere“ Lebensformen vor „niedrigeren“ oder „schwächeren“ Lebensformen bevorzugt. Das „höhere“ wird im Grunde durch die Exekution des Lebens, das als „niedriger“ betrachtet wird, geschützt, durch eine Art und Weise, die Ähnlichkeit zum biopolitischen Diskurs des Rassismus, wie er durch Foucault beschrieben wurde, aufweist.99 Das ist jedoch nicht Nietzsches Schlusswort zur Aufgabe des Arztes. Esposito weist darauf hin, dass es noch einen weiteren Diskurs bei Nietzsche gibt, der die Form einer affirmativen Biopolitik annimmt. Im Zentrum dieser Politik des Lebens finden wir die Idee der „grosse[n] Gesundheit“ als „eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgiebt, preisgeben muss!…“.100 Die Vorstellung von „grosser Gesundheit“ bei Nietzsche beruht auf der Idee, dass es letztendlich unmöglich ist, das was gesund und das was ungesund ist, zu trennen, welche Lebensformen aufsteigend und welche verfallend sind und dass Gesundheit nur in der und durch die Erfahrung von Krankheit existieren kann. Laut dieser neuen Definition von Gesundheit gäbe es keine Hierarchie zwischen den Lebensformen. Stattdessen würden alle Lebensformen unterschiedslos bejaht. Laut Esposito entsteht diese Bejahung der Vielfältigkeit verschiedener Lebensformen durch die Offenheit der Menschheit gegenüber dem Animalischen, was er auch als „Animalisierung des Menschen“ bezeichnet.101 Wie wir jedoch bereits gesehen haben, ist diese „Animalisierung des Menschen“ genau das, was die Figur des präsokratischen Philosophen als Arzt der Kultur kennzeichnet, der im Hinblick auf das Voranbringen eines erhebenden Aufstiegs und der Aufklärung der Menschheit eine Rückkehr zur Natürlichkeit des Menschen verschreibt. Dementsprechend stellt die „Geistes- und Leibes Aristokratie“, die Nietzsche plant, eher eine kultivierende Einbeziehung, als einen dominierenden Ausschluss dar: „Eine Geistes- und Leibes Aristokratie, die sich züchtet und immer neue Elemente in sich hinein nimmt und gegen die demokratische Welt der Missrathenen und Halbgerathenen sich abhebt“.102 In einem solchen kultur-politischen System spielen weder der Priester, noch der Pädagoge, noch der Arzt eine Rolle. Sie würden von einem neuen Typen des (Über)Menschen ersetzt werden,103 wobei das „über“ andeutet, dass sie die biopolitische Herrschaft über das Leben über-

99

Vgl. V. Lemm: Biological Threshold.

100 FW 382. 101 Vgl. R. Esposito: Biopolitica, S. 112. 102 KSA 11:25[134]. 103 Vgl. ebd.

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wunden haben und in Richtung einer affirmativen Biopolitik gehen. In einer affirmativen Biopolitik wird der Mensch vor dem Hintergrund der Gesamtheit des Lebens gedacht, und als Lebensform, die sich durch ihre Beziehung zu anderen Lebensformen, von denen sie stark abhängig ist, verändert. Eine affirmative Biopolitik baut auf der radikalen Wechselbeziehung zwischen den Lebensformen auf; mit anderen Worten, es bestätigt, dass der erhebende Aufstieg der Menschheit nur innerhalb eines größeren Horizontes einer Gemeinschaft des Lebens möglich ist, wo die Wiederherstellung des Menschen als wesentlicher Teil der Gemeinschaft des Lebens als die einzige Möglichkeit betrachtet wird, die „grosse Gesundheit“ des Menschen zurückzugewinnen.

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Konkrete medizinische Kontexte

Einwilligungs(un)fähigkeit als ein juristisches und medizinisches Rechtfertigungskriterium psychiatrischer Praktiken O RSOLYA F RIEDRICH

Der Fall Gustl Mollath,1 welcher die Medien und die Gesellschaft über viele Monate beschäftigte, machte der Öffentlichkeit deutlich, wie stark die Einschätzung über das Vorliegen einer psychischen Krankheit und der Schuldfähigkeit in den Händen von Psychiatern liegt und welche juristischen Konsequenzen psychiatrische Entscheidungen für den Einzelnen haben können. Die Beurteilung psychischer Krankheit war jedoch schon viel früher zentraler Bestandteil psychiatriekritischer Auseinandersetzungen. Bereits in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde nicht nur an den Missständen in psychiatrischen Einrichtungen Kritik geübt, sondern auch an der Klassifikation psychischer Störungen; es wurden grundlegende methodische Probleme bei der Befunderhebung und ebenso Diagnostik in der Psychopathologie diskutiert.2 Die Einführung des Diagnostischen und Statistischen Handbuchs Psychischer Störungen (DSM-5) der American Psychiatric Association (APA) 2013 entfachte die Diskussion um die Reichweite und Legitimität psychiatrischer Diagnostik von Neuem, da hier nicht nur neue Diagnosegruppen eingeführt wurden, sondern auch die Anwendbarkeit der bestehenden Diagnosen auf eine größere Personengruppe ausgedehnt wurde.3 Eine Auseinandersetzung mit Michel Foucaults Werken bietet eine komplexe Perspektive auf diese Probleme und eröffnet die Sicht auf Zusammenhänge zwi-

1 2

Für die chronologische Darstellung des Falles, vgl. Spiegel: Fall Mollath. Vgl. Hoff: Geschichte der Psychiatrie, S. 19; Schott/Tölle: Geschichte der Psychiatrie, S. 206 ff. und S. 298 ff.

3

Vgl. etwa Frances: Normal.

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schen psychiatrischem Wissenserwerb sowie dessen Anwendung im Kontext diverser, von ihm beschriebenen Machttechnologien. In diesem Aufsatz wird mit Bezug auf Foucaults Werke und Perspektive auf die psychiatrische Praxis Einwilligungs(un)fähigkeit als eines der notwendigen Kriterien für Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie diskutiert.

Z WANGSBEHANDLUNG UND E INWILLIGUNGSFÄHIGKEIT IN DER AKTUELLEN PSYCHIATRISCHEN P RAXIS 4 In der aktuellen Rechtsprechung und in der Medizinethik wird davon ausgegangen, dass eine Behandlung gegen den aktuellen Willen einer Person nur dann gerechtfertigt werden kann, wenn die Person krankheitsbedingt nicht in der Lage ist, selbstbestimmt zu handeln, die Behandlung jedoch aus medizinischer Perspektive notwendig wäre, um erhebliche (Gesundheits-)Gefahren für die Person selbst oder für Dritte, die durch deren aktuelle Handlungen entstehen könnten, abzuwenden.5 Zur ethischen und juristischen Rechtfertigung wird ferner gefordert, dass die Person vor Anwendung der Zwangsmaßnahme ausreichend über die Notwendigkeit der Behandlung und die Gefahren einer Nichtbehandlung informiert wurde, dass der zu erwartende gesundheitliche Schaden nicht anderwei-

4

Hier kann nur eine knappe Einführung in die aktuelle Situation gegeben werden. Es kann an späterer Stelle nicht immer differenziert zwischen einer Einweisung, Zwangsmaßnahmen als Überkategorie für Praktiken wie Fixierung, Isolierung, aber auch für Zwangsbehandlungen, und reinen Zwangsbehandlungen. Die rechtliche Situation in Hinblick auf die einzelnen Kategorien ist unterschiedlich, auch abhängig davon, welches Rechtsgebiet betroffen ist und ob es sich um Fremd- oder Selbstgefährdung handelt. Die rechtlichen Regelungen sind aktuell starken Entwicklungsprozessen unterworfen. Da Foucault selbst in den untersuchten Werken diesbezüglich keine Differenzierung vornimmt, aber von ihm die gesamten zuvor genannten Praktiken, die er unter dem Stichwort Einweisung subsumiert, gemeint sein dürften, und weil eine weitere Differenzierung für die Argumentation an späterer Stelle keine größere Rolle spielt, werden im Text Foucaults Untersuchungen der veränderten Einweisungspraxis auch auf aktuelle Zwangsmaßnahmen/Zwangsbehandlungen übertragen.

5

Vgl. Vollmann et al.: Achtung der Selbstbestimmung; Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2013; Bundesgerichtshof 2012; Bundesverfassungsgericht 2011, Beschluss vom 12.10.2011 und vom 23.03.2011.

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tig abgewehrt werden kann und dass der zu erwartende Nutzen der Maßnahme die Nachteile deutlich überwiegt.6 Die Bestimmung dessen, wann die einzelnen Anforderungen zur Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen erfüllt sind, gestaltet sich in der Praxis schwierig. Es gibt beispielsweise in den Ländergesetzen keine exakten Kriterien dafür, wie schwerwiegend Gefahren für die Person selbst oder für Dritte sein müssen und mit welcher Wahrscheinlichkeit genau sie eintreffen sollten. Die Überprüfung der geforderten Selbstbestimmungsunfähigkeit konfrontiert uns ebenfalls mit praktischen und theoretischen Problemen. Juristisch ist dabei die Einwilligungsfähigkeit für die hier fraglichen Kontexte der Medizin relevant. Diese Fähigkeit umfasst im weitesten Sinne die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, worunter folgende Sub-Fähigkeiten subsummiert werden können: Art, Bedeutung und Folgen der in Aussicht gestellten Behandlung erfassen können; Behandlungsalternativen und das Für und Wider der eigenen Entscheidung abwägen können; auf der Grundlage des Aufklärungsgesprächs eine Entscheidung treffen können und entsprechend der (Behandlungs-)Einsicht handeln können.7 In der Medizinethik wurden dem Juristischen ähnliche Inhalte für die Einwilligungsfähigkeit formuliert, teilweise beleuchten diese jedoch andere Nuancen, wie in folgenden Formulierungen ersichtlich wird: Behandlungsangebote für gesundheitliche Probleme erkennen können; Behandlungsentscheidungen mitteilen können; relevante Informationen aus dem Aufklärungsgespräch verstehen und verarbeiten können und relevante Informationen hinsichtlich der eigenen Lebenssituation bewerten können.8 Als wesentlich wird in der Medizinethik dabei zumeist angeführt, dass 1) die Person ausreichende und adäquate Informationen erhalten hat, die sie verstehen und adäquat bewerten kann; 2) die Person ihre Handlungen beabsichtigen soll, sich als Urheber der eigenen Handlungen verstehen soll (Intentionalität); 3) die Einwilligung frei sein soll von äußeren Einflüssen wie Manipulation, Überredung oder Nötigung (Freiwilligkeit).9 Überlässt man die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit anhand dieser Kriterien dem jeweiligen Psychiater, kann dies damit verbunden sein, dass die individuellen Aspekte des Patienten deutlicher herausgearbeitet werden können. Gleichzeitig fehlt dabei die Möglichkeit, die Entscheidung des Arztes auf eine

6

Vgl. ebd.

7

Vgl. Münchener Kommentar 2012; Duttge: Patientenautonomie und Einwilligungsfähigkeit, S. 79.

8

Vgl. Vollmann et al.: Achtung der Selbstbestimmung, S. 3; Appelbaum/Grisso: Assessing patients´ capacities to consent.

9

Vgl. Beauchamp/Childress: Principles of Biomedical Ethics, S. 125-141.

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objektive Grundlage zu heben. Es existieren zwar juristische Formulierungen für Einwilligungsfähigkeit, aber die Übertragung auf den praktischen Fall bleibt dem Arzt überlassen. Setzt man hingegen standardisierte Testverfahren wie den MacArthur Competence Assessment Tool for Treatment (MacCAT-T) ein, dann können wesentliche Aspekte des Einzelfalls unberücksichtigt bleiben. Zudem gibt es für solche anerkannten Testverfahren bereits vielfältige empirische Untersuchungen, welche deren zugrunde liegende Konzeption kritisieren. So sei der MacCAT-T primär auf die kognitiven Fähigkeiten bei der Erfassung von Einwilligungsfähigkeit ausgerichtet und missachte so andere wesentliche Fähigkeiten, die im Rahmen bestimmter Erkrankungen wie etwa Depressionen dazu führen können, dass die Einwilligungsfähigkeit eingeschränkt ist.10 Jenseits der juristischen Festsetzung von Einwilligungsfähigkeit und deren medizinischer Überprüfung muss in der philosophisch-ethischen Debatte zudem diskutiert werden, was unter der Fähigkeit zur Selbstbestimmung überhaupt zu verstehen ist; bzw. ob die aktuellen Festlegungen in der Praxis aus philosophisch-ethischer Perspektive ausreichen, um die Selbstbestimmungsfähigkeit von Personen zu erfassen. Aus philosophischer Sicht sind nämlich unterschiedliche Möglichkeiten und Anforderungsstufen denkbar, die häufig weit über das hinausweisen, was juristisch unter Einwilligungsfähigkeit verhandelt wird. Neben den obigen, im medizinischen Bereich üblichen Konditionen, könnten auch weitreichendere Bedingungen wie etwa die einer konsistenten und kohärenten Lebensplanung oder die von langfristigen Wertsetzungen an autonome Subjekte gestellt werden, ebenso wie formale oder inhaltliche Kriterien zum Maßstab autonomen Handelns gemacht werden.11 Festzuhalten ist, dass es sich bei der Einwilligungs(un)fähigkeit um eine juristisch etablierte Konstruktion handelt, welche die Möglichkeiten, das Wesen von Selbstbestimmung zu beschreiben, in einer Weise einengt, dass dieses medizinisch erfassbar wird. Allerdings ist man bei der medizinischen Feststellung dessen, ob Einwilligungs(un)fähigkeit vorliegt, trotzdem mit vielfältigen Problemen konfrontiert, sodass eine juristisch geforderte Eindeutigkeit nicht immer gegeben zu sein scheint. Letztere wäre jedoch notwendig, um Zwangsmaßnahmen juristisch sicher zu rechtfertigen. Dennoch ist das Kriterium der Einwilligungs(un)fähigkeit zur Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen heute unerlässlich. Historisch betrachtet stehen Foucaults Beschreibungen der veränderten Einweisungspraxis ab dem 19. Jahrhundert im Gegensatz zur heutigen Praxis, denn er verortet zu der Zeit gerade eine Tendenz, den freien Willen als Kriterium

10 Vgl. Breden/Vollmann: The cognitive based approach. 11 Vgl. Bobbert/Werner: Autonomie.

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einer Einweisung hinter sich zu lassen. Ohne hier eine Wertung vornehmen zu wollen, welche Praxis sinnvoller ist, sollen die folgenden Ausführungen einen Einblick in die damaligen Entwicklungen geben, um im Anschluss daran die Einbindung der heutigen Gegebenheiten in Foucaults grundsätzliche Analysen verständlicher machen zu können.

F OUCAULTS ANALYSEN EINER VERÄNDERTEN E INWEISUNGSPRAXIS UND K RANKHEITSBESTIMMUNG Foucault konstatiert eine Veränderung der Einweisungspraxis in psychiatrische Anstalten ab dem 19. Jahrhundert. Er erfasst drei dazu notwendige Transformationsprozesse: 1) neue administrative Regelung; 2) Reorganisation des familiären Anspruchs; 3) politischer Anspruch der Psychiatrie.12 Zum einen verändert sich der familiäre Anspruch hinsichtlich der Psychiatrie; es ist ab diesem Zeitpunkt die unmittelbare Umgebung, die den Arzt direkt um eine Einweisung bittet, nicht mehr der Familienrat.13 Zum anderen geht es auch nicht mehr darum, eine Rechtsunfähigkeit festzustellen, sondern vielmehr um die Gefährlichkeit des Untergebrachten.14 Die administrative Rolle der Psychiatrie besteht gemäß Foucault seit jener Zeit nicht mehr darin, zu bestimmen, was der psychisch Kranke denkt oder verstehen kann und an welchen Fähigkeiten es ihm auf der Ebene des Bewusstseins mangelt. Vielmehr soll die psychiatrische Analyse erfassen, wozu der Kranke in der Lage wäre, welche Taten er begehen könnte, welche Gefahren auf der Ebene des Verhaltens von ihm ausgingen.15 Eine Person konnte ab diesem Zeitpunkt in die Psychiatrie eingewiesen werden, wenn sie eine Gefahr darstellte für Menschen oder für die öffentliche Sicherheit, ohne dass eine Monomanie vorliegen musste.16 Damit vollzog die Verwaltung mit den Instrumenten der Psychiatrie die Synthese zwischen der Gefährlichkeit einer Person und ihrer psychischen Krankheit bei jedem eingewiesenen Individuum,

12 Vgl. Foucault: Die Anormalen, S. 178-214. 13 Vgl. ebd., S. 190 f. Unter Familienrat versteht Foucault die Familie im weiten Sinne, die einberufen wird, um beispielsweise über die Frage der Einweisung zu beraten. 14 Vgl. ebd. 15 Vgl. ebd., S. 184. 16 Vgl. ebd., S. 185. Unter Monomanie war seit Esquirols Hauptwerk 1838 eine partielle psychische Krankheit gemeint, ohne dass ein völliges Verrücktsein vorliegen musste; vgl. Fiedler: Persönlichkeitsstörungen, S. 13 f.

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welche zuvor erst durch eine Monomanie nachgewiesen werden musste.17 Nach den Veränderungen der Psychiatrie im 19. Jahrhundert in Frankreich ist laut Foucaults Analysen vielmehr die Gefahr, die das Individuum für andere, insbesondere für die Familie darstellt, das Ziel und die Legitimationsgrundlage der Einweisung und weniger seine Rechtsunfähigkeit oder mangelnder freier Wille.18 „Auf das große außergewöhnliche Monster […] folgt jetzt als typische Figur, als Referenzfigur, nicht der große Monomane, der getötet hat, sondern der kleine Besessene: der sanfte, gelehrige, ängstliche, freundliche Besessene, der natürlich gerne töten möchte; und auch derjenige, der weiß, daß er töten würde, daß er töten könnte, und der höflich seine Familie, die Verwaltung und den Psychiater bittet, ihn einzusperren, damit er endlich in den Vorzug komme, nicht zu töten.“19

In diesem Kontext ist die Betonung des Triebbegriffs im 19. Jahrhundert interessant. Bis dahin als grundlos und motivlos wirkende Verbrechen, konnten laut Foucault mit dem Auftauchen des Triebgedankens zu pathologischen Mechanismen verwandelt werden und somit ihre Grundlosigkeit verlieren.20 Damit griffen Straf- und psychiatrische Mechanismen durch den Triebbegriff ineinander. Die Problematisierung von Trieben ermöglichte gemäß Foucault der Psychiatrie, ihren Wissens- und Machtbereich auszudehnen und zu generalisieren.21 Wenn es an Erscheinungen wie Delirium, Demenz oder Irrsinn mangelte, konnte die Psychiatrie ab diesem Zeitpunkt auf die Triebe zurückgreifen und so einen Teilbereich des Verhaltens als triebhaften Wahnsinn identifizieren.22 Die Psychiatrie versuchte Foucaults Untersuchungen zufolge, auch jenseits der Monomanie zu zeigen, dass der Wahnsinn sich in nur partiellen, sonderbaren, lokalisierbaren Symptomen äußert, sich spezifisch im Individuum entfaltet, jedoch immer das ganze Subjekt betrifft, auch wenn die Symptome kaum in Erscheinung treten.23 Somit muss das Subjekt verrückt sein, um das spezifische Symptom produzieren

17 Vgl. ebd. Mit Verwaltung ist die Präfekturverwaltung gemeint, die ab dem Gesetz von 1838 in Frankreich die Einweisung anordnete; vgl. Foucault: Die Anormalen, S. 181 f. 18 Vgl. ebd., S. 191. 19 Ebd., S. 185. 20 Vgl. ebd., S. 179 f. 21 Vgl. ebd., S. 179 ff. 22 Vgl. ebd., S. 180. 23 Vgl. ebd., S. 205 f.

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zu können.24 Die Vereinheitlichung des Wahnsinns erfolge nicht mehr auf der Stufe des Bewusstseins, sondern auf der der Symptome.25 Dabei waren der „[…] Abstand zu der Norm des Verhaltens und der Grad des Verhaftetseins im Automatismus […] die beiden Variablen, die ab etwa 1850 ein Verhalten sei es in das Register der geistigen Gesundheit, sei es im Gegenteil in das Register der geistigen Krankheit einzutragen erlauben“.26 Um pathologisches Verhalten durch diese zwei Variablen angeben zu können, mussten in das Analysefeld alle möglichen Verhaltensweisen miteinbezogen und ihr symptomatologischer Wert angegeben werden. Damit konnten gemäß Foucault ab diesem Zeitpunkt vielfältige, zuvor nicht als Geisteskrankheit betrachtete Phänomene als Krankheitssymptome geltend gemacht und somit das symptomatologische Feld der Psychiatrie erweitert werden.27 „Daher die ungeheure Integrationsfähigkeit dieses Zustandsbegriffs, der in Bezug steht zur Nichtgesundheit, der aber zugleich offen ist für jegliches Verhalten, sobald es nur physiologisch, psychologisch, soziologisch, moralisch oder auch juristisch als abweichend erscheint.“28

In dieser Weise habe sich die Psychiatrie gelöst von der Notwendigkeit, schwerwiegende Geistesstörungen feststellen zu müssen, um zu funktionieren; ohne einen Bezug auf solche könne sie ab dem 19. Jahrhundert jedes Verhalten psychiatrisieren.29 Die Entstehung eines explodierenden symptomatologischen Feldes im Bereich der Psychiatrie lässt sich auch heute noch beobachten, wenn man sich mit der Entwicklung der Diagnosemanuale beschäftigt. So enthält die 2013 veröffentlichte fünfte Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Handbuchs psychischer Störungen (DSM-5) der American Psychiatric Association (APA) erneut Erweiterungen des diagnostischen Spektrums, wie folgende neu aufgenommene Störungsbilder verdeutlichen: Hoarding Disorder, Excoriation (SkinPicking) Disorder, Genito-Pelvic Pain/Penetration Disorder oder Gambling Disorder.30

24 Vgl. ebd. 25 Vgl. ebd. 26 Ebd., S. 208. 27 Vgl. ebd. 28 Ebd., S. 412. 29 Vgl. ebd., S. 209. 30 Vgl. American Psychiatric Association: DSM-5.

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Die veränderte Einweisungspraxis, die primär über eine potenzielle Gefährlichkeit gespeist wurde und sich auf alle möglichen Verhaltensweisen und Individuen ausdehnen ließ, und das insgesamt erweiterte diagnostische Spektrum der Psychiatrie können im Anschluss an Foucault interpretiert werden als Schutz der Gesellschaft gegen die Bedrohungen, die von denjenigen Personen ausgehen, die sich in einem anormalen „Zustand“ befinden.31 Diese Interpretation soll in Folge durch einen Exkurs in weitreichendere Überlegungen Foucaults zum Thema Normalisierung und Machttechnologien näher beleuchtet werden.

N ORMALISIERUNG UND DAS V ERHÄLTNIS VON W ISSEN -M ACHT -W AHRHEIT IN DER M EDIZIN Die Vermengung von Normen und Normalität wurde in der Medizin besonders häufig anhand der Bestimmung von Krankheit, insbesondere psychischer Krankheit, diskutiert. Dabei können naturalistische und normativistische Theorieansätze unterschieden werden, je nachdem, ob evaluative Normen im Vordergrund stehen oder aber Abweichungen von biostatistischer Normalität.32 Auch jenseits der Medizin ist es strittig, ob das Konzept der Normalität durch die terminologische Inklusion der Norm immer schon präskriptiv und nie nur deskriptiv sei.33 Aus dem lateinischen Wortstamm norma können nämlich sowohl die ethische oder juristische Norm als auch das Normale abgeleitet werden.34 Der Terminus Normalisierung soll den vermeintlichen Gegensatz zwischen Normativität und Normalität als naturwissenschaftlich-statistische Gesetzmäßigkeit aufheben.35 Präskriptive Normen haben im Sinne der Normalisierungstheoretiker immer einen Einfluss auf die Erzeugung von Normalität; Normalisierung umfasst im Verständnis, welches an Foucaults Werke anschließt, geschichtlich-spezifische Diskurskomplexe, welche statistische Dispositive und die Festlegung von Normalität über den Durchschnitt und über Grenzwerte voraussetzen.36 Dabei erfahren Normalitätsgrenzen stets eine Verschiebung im geschichtlichen Verlauf und die

31 Vgl. Foucault: Die Anormalen, S. 410 ff. 32 Vgl. Schramme: Funktion des Krankheitsbegriffs. 33 Vgl. Prechtl/Burkard: Lexikon Philosophie, S. 418. 34 Vgl. Link: Versuch über den Normalismus, S. 33 f. 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. ebd.

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Verfahren zur Normalisierung konkretisieren sich im Zeitverlauf in unterschiedlichen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Praktiken.37 Für Foucault ist dabei die Norm nicht als Naturgesetz zu definieren oder als Erkenntnisraster zu verstehen, sondern vielmehr als „[…] ein Element von dem aus eine bestimmte Machtausübung begründet und legitimiert werden kann“38. Die Funktion der Norm ist in Foucaults Konzeption der Normalisierung nicht primär die des Ausschlusses, sondern sie ist vielmehr zu verstehen in Verbindung mit positiven, produktiven Techniken.39 Das Wissen der Medizin kann als ein Element verstanden werden, das zum einen sowohl Zugriff auf einzelne Körper als auch auf die Bevölkerung erlaubt, indem es biologische und organische Prozesse darstellt, zum anderen für gesellschaftlich-politische Interventionen verwendet werden kann.40 Die Norm lässt sich sowohl auf den Körper anwenden, um ihn zu disziplinieren, als auch auf die Bevölkerung, um sie zu regulieren.41 Die durch Normalisierungsprozesse entstehenden Machttypen benötigen zur Machtausübung Wissensformierung und haben diese gleichzeitig als ihren Effekt.42 Um ein besseres Verständnis des Verhältnisses von Wissen, Wahrheit, Macht und Gesellschaft zu ermöglichen, das für Foucaults Werke zentral ist, wird in einem kurzen Exkurs auf zwei wesentliche Machtformen in Foucaults Werken eingegangen. Die Form der Disziplinarmacht kann von einer Souveränmacht unterschieden werden, da sie nicht nur repressiv ist, sondern auch vielfältige produktive Anteile wie Wissensproduktion beinhaltet. Sowohl die Wissensproduktion als auch die Machtausübung funktioniert hier entpersonalisiert; auf die physische Existenz von Beobachtern oder auf Körperstrafen kann hier verzichtet werden. Wesentliche Aspekte sind dafür die Isolierung, Überwachung, Einschließung und Transformation der Körper. Dabei beziehen sich Strafen primär auf die Psyche, die Anomalien, die Triebe und den Charakter. Sind die zu Taten motivierenden Elemente erst einmal durch Wissens- und Wahrheitsproduktion etwa in der Medizin aufgezeigt, sollen sie an denselben Orten durch Machtausübung diszipliniert und normalisiert werden. Der Körper soll nicht mehr gequält werden wie zu Zeiten des Souveräns, sondern vielmehr durch (neue) Normen unterwor-

37 Vgl. ebd., S. 20 und 33f. 38 Foucault: Die Anormalen, S. 72. 39 Vgl. ebd. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 298. 42 Vgl. Foucault: Die Anormalen, S. 75.

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fen, produktiv gemacht und diszipliniert werden. Normalisierung ist demnach ein wesentliches Ziel dieses Machttyps, bei dem Bezug auf den einzelnen Menschen genommen wird.43 Bei den Technologien der Biomacht hingegen steht die Gesamtheit aus Gesellschaft, Leben und Bevölkerung als Bezugspunkt im Vordergrund. Hier ist nicht nur der „Körper-Mensch“ wichtig; diese Machttechnik befasst sich mit dem Menschen als Lebewesen und mit dem „Gattungs-Menschen“.44 Relevant sind hier Fragen nach Sterberate, Fruchtbarkeit, Geburt, Krankheit, Lebensdauer usw. Der gesamte Lebenslauf tritt in den Vordergrund, die Techniken der Biomacht wirken auf das Wie des Lebens ein, Mangelerscheinungen sollen behoben, Unfälle vermieden und Zufälle ausgeschaltet werden.45 Die beiden Machttechniken haben unterschiedliche Bezugspunkte und Instrumente, ergänzen und ermöglichen sich gegenseitig.46 Durch eine orthogonale Verbindung der Norm der Disziplin (Disziplinarmacht) und der Norm der Regulierung (Biomacht) entsteht für Foucault die Normalisierungsgesellschaft.47 Der Medizin kommt dabei eine beide Techniken in besonderer Weise verbindende Bedeutung zu. Die in der Medizin bestimmte Norm kann sowohl auf den einzelnen Körper als auch auf die zu regulierende Bevölkerung angewendet werden.48 In Foucaults Analysen wird die Psychiatrie durch die Zuweisung der Aufgabe zur Verteidigung der Gesellschaft zur „Wissenschaft vom wissenschaftlichen Schutz der Gesellschaft“49. Dieser Aufgabe zur wissenschaftlichen Verteidigung der Gesellschaft kann die Psychiatrie nachkommen, indem sie anormale „Zustände“ als potenzielle Bedrohung für die Gesellschaft klassifiziert.50 Aus dieser Perspektive ist weiter zu klären, welche Stellung die Einwilligungs(un)fähigkeit einnimmt, der heute ebenfalls eine bedeutende Rolle zukommt, wenn es darum geht, juristische Normativität mit medizinischer Normalität zu verbinden.

43 Vgl. für den gesamten Absatz Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 282-311 und S. 37-57; Fink-Eitel: Michel Foucault zur Einführung, S. 75 ff.; Sarasin: Michel Foucault zur Einführung, S. 129 ff. 44 Vgl. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 286; Sarasin: Michel Foucault zur Einführung, S. 166. 45 Vgl. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 287 ff. 46 Vgl. ebd. 47 Vgl. ebd., S. 299. 48 Vgl. ebd., S. 285 ff. 49 Vgl. Foucault: Die Anormalen, S. 417. 50 Vgl. ebd., S. 410 ff.

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N ORMALISIERUNG

Das juristische Verständnis von Einwilligungs(un)fähigkeit suggeriert und erfordert eine medizinisch eindeutig feststellbare Fähigkeit oder deren Mangel. Nur wenn dabei eine eindeutige Grenze gezogen werden kann, sind die juristischen und lebensweltlichen Konsequenzen, die auf das Vorhandensein oder Fehlen dieser Fähigkeit folgen, zu rechtfertigen. Zwangsbehandlungen können nur gerechtfertigt werden, wenn als gesichert gilt, dass die Person nicht einwilligungsfähig ist. Ähnliches kann für andere im juristischen Kontext relevante Fähigkeiten wie Schuld- oder Geschäftsfähigkeit festgehalten werden. Damit juristische oder lebensweltliche Folgen greifen können, muss es demnach eine scharfe Normalitätsgrenze geben, die unter- oder überschritten werden kann. In der Medizin wird der Versuch unternommen, krankheitsbedingte Einwilligungsunfähigkeit als statistische Normabweichung von eben dieser Funktionsfähigkeit festzustellen. Dies kann als Parallele zum naturalistischen Krankheitsverständnis betrachtet werden. Aus dieser naturalistischen Bestimmung sollen dann auf der normativen Ebene Rechtsfolgen erwachsen wie die Ablehnung bzw. Rechtfertigung von Zwangsbehandlungen. Dabei ist kein weiterer normativer Zusatz notwendig, um normative Folgen zu rechtfertigen. Im juristischen Konstrukt der krankheitsbedingten Einwilligungsunfähigkeit ist nämlich die enge Verbindung zwischen A-Normalität und Normativität bereits konzeptionell verankert. In der Einwilligungsunfähigkeit ist aus juristischer Perspektive die mit normativen Folgen verbundene Prämisse schon enthalten, dass die Person nicht zur Einsicht fähig ist, was in der jeweiligen Situation zu ihrem Wohle wäre, oder nicht nach ihrer Einsicht handeln kann. Einwilligungs(un)fähigkeit kann auch als ein Element von Normalisierung betrachtet werden, wenn man die Perspektive Foucaults einnimmt und damit den üblichen bioethischen Diskurs erweitern möchte. Moralische und juristische Normen realisieren sich demnach etwa in der Feststellung und den Folgen von Einwilligungs(un)fähigkeit. Eine potenzielle Gefährlichkeit oder die Einwilligungsunfähigkeit des Individuums medizinisch festzustellen, kann neben der Ausweitung der Diagnose auf vielfältige Verhaltensweisen als Angriffspunkt der weiter oben skizzierten Machttechnologien verstanden werden, die sich sowohl auf einzelne Körper als auch auf die gesamte Bevölkerung richten und den Schutz der Gesellschaft gegen Bedrohungen zum Ziel haben. Indem die Gefährlichkeit und die Einwilligungsunfähigkeit eines Patienten zu medizinisch feststellbaren Kriterien werden, um etwa eine Einweisung in die Psychiatrie, oder eine Zwangsbehandlung zu rechtfertigen, zeigt sich das Verhältnis von Wissen, Wahrheit, Macht und Gesellschaft beispielhaft. Durch die wissenschaftliche Be-

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stimmung des Anormalen können die Träger und Nichtträger dieser Zustände differenziert und normalisierend auf sie eingewirkt werden. Die besondere Bedeutung der Medizin und hier insbesondere der Psychiatrie als eine zwei wesentliche Techniken (bezogen auf den einzelnen Körper und auf die zu regulierende Bevölkerung) verbindende Disziplin kommt sowohl bei der Gefährlichkeit als auch bei der Einwilligungsunfähigkeit als Kriterium von Zwangsmaßnahmen zum Tragen. Die Produktion von Gesundheit und damit der Schutz der Gesellschaft als implizites Ziel obiger Machttechniken kann zum einen auf vielfältige Verhaltensweisen ausgeweitet werden, da weder psychische Krankheit noch deren Gefährlichkeit und, wie ich meine, auch nicht die Einwilligungs(un)fähigkeit exakt zu bestimmen sind.51 Zum anderen werden durch diese Kriterien die Produktion von Gesundheit und der Schutz der Gesellschaft in einer Weise organisiert, dass die zu erzielende Funktionsfähigkeit nicht mehr nur einer vagen Vorstellung etwa von Gesundheit entspricht, sondern spezifischer ausgerichtet werden kann. Erhebliche Gefährlichkeit für sich selbst oder für andere stellt heute wie in Foucaults Analysen der französischen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts ein wesentliches Kriterium zur Rechtfertigung psychiatrischer Zwangsmaßnahmen (Foucault analysiert die Einweisungspraxis) dar. Eine primäre Differenz zu Foucaults Beschreibung und den heutigen Bedingungen von Zwangsmaßnahmen ist das Kriterium der Einwilligungsunfähigkeit. Die Feststellung mangelnden Willens oder anderer Abweichungen des Bewusstseins als Grundlage der Einweisung wurden gemäß Foucaults Beschreibung im 19. Jahrhundert gerade durch eine Fokussierung auf alle möglichen Verhaltensabweichungen ersetzt. In Foucaults Darstellung wurde die Notwendigkeit, die Unzurechnungsfähigkeit bzw. die Untauglichkeit als Rechtssubjekt festzustellen, um eine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt zu erwirken, abgelöst durch die nachzuweisende Gefährlichkeit des Betroffenen.52 Sobald diese als gegeben angenommen wurde, war es ab dem 19. Jahrhundert nicht mehr erforderlich, dass die Person über einen unfreien Willen für ihre Handlungen verfügte. Die Wandlung zum Kriterium der Gefährlichkeit kann mit Foucaults Theorie verstanden werden als erweiterte, durch medizinisches Wissen gestützte Zugriffsmöglichkeit auf den einzelnen Menschen und auf die Bevölkerung. Gefährlichkeit kann in vielfältiger Form

51 Zu einigen empirisch nachgewiesenen Problemen bei der Feststellung von Einwilligungsfähigkeit, siehe Anfang des Aufsatzes. 52 Vgl. Foucault: Die Anormalen, S. 183 ff.

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auftreten und allen möglichen Verhaltensweisen zugeschrieben werden, ohne dass eine vollständige Verrücktheit oder eine Monomanie vorliegen müsse.53 Die Einwilligungsfähigkeit ist zwar eine aus philosophischer Perspektive stark begrenzte Möglichkeit, den freien Willen oder die Selbstbestimmung des Menschen zu erfassen, ihr Fehlen stellt jedoch heute unter anderem neben der Gefährlichkeit ein anerkanntes Kriterium zur Rechtfertigung von psychiatrischen Zwangsmaßnahmen dar. Foucault zu Folge etablieren erst die beschriebenen Wissen-Macht-Formationen diese Fähigkeit bzw. deren Fehlen als Interventionsfeld der Psychiatrie, die neue Norm trägt, wie alle Normen in Foucaults Verständnis, einen Machtanspruch in sich, begründet und legitimiert Machtausübung.54 Neue juristische Normativitäten und medizinische Normalitäten werden produziert und miteinander verbunden, dabei greifen die medizinische und die juristische Macht ineinander.55 Die medizinisch festgesetzte und juristisch eingeforderte Grenze der Einwilligungs(un)fähigkeit kann im Anschluss an Foucault auch verstanden werden als eine Formierung, die dazu führt, dass sich Subjekte dauerhaft selbst aktivieren, um nicht der Gruppe der Unfähigen anzugehören.56 Betrachtet man, wie sehr sich Einzelne bemühen, den Status der Einwilligungsfähigkeit bzw. die Verlängerung des eigenen Willens durch Vorausverfügungen aufrechtzuerhalten, und wie ganze Wissenschaftszweige damit beschäftigt sind, die richtige Form und Grenzen der autonomen Willensbekundung zu erforschen und festzulegen, dann ahnt man, wie existenziell dieser Aspekt für Normalität in unserer Gesellschaft ist. Gleichzeitig kann Selbstbestimmungsfähigkeit hier im Sinne der Einwilligungsfähigkeit als eine strukturelle Bedingung für Subjektivierung interpretiert werden.57 Auf Letztere wirken wiederum Wissen-Macht-Formationen ein. Aus dieser Perspektive scheint es folgerichtig zu sein, gerade im Bereich der Psychiatrie, wo die Normalität dieser Fähigkeit krankheitsbedingt gefährdet zu sein scheint, eine Verknüpfung zwischen der Grenze dieser Fähigkeit als juristische Normativität und psychiatrischer Normalität herzustellen. Dabei erweitert sich das psychiatrische Handlungsfeld automatisch. Eine andere, von Jürgen Link eingeführte Unterscheidung kann sich als hilfreich erweisen, wenn man Einwilligungs(un)fähigkeit in ihrer Funktion für nor-

53 Vgl. ebd., S. 185. 54 Vgl. ebd., S. 72. 55 Vgl. ebd., S. 149. 56 Vgl. Graefe: Subjektmodelle am Lebensende, S. 280 f. 57 Vgl. ebd.

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malistische Diskurse und Praktiken verstehen möchte.58 Eine „protonormalistische Strategie“ benutzt feste Normen und engt somit „Normalitäts-Zonen“ gewissermaßen ein.59 Zur Wahrung der so gebildeten engen Zone sind Praktiken wie Disziplinierung, Manipulation o. ä. nötig.60 Eine „flexibel-normalistische Strategie“ verzichtet hingegen weitestgehend auf fixe Grenzen.61 Im Gegenzug kann die „Normalitäts-Zone“ beliebig erweitert und angepasst werden; statt äußerer Maßnahmen werden andere Einwirkungen auf Subjekte in Form der „Selbstnormalisierung“ wirksam, da Subjekte durch die Kontinuität zwischen normal-anormal vorsorglich bemüht sind, die unscharfen Grenzen nicht zu überschreiten.62 Dabei sind statistische Erhebungen bedeutsam, aus denen ex post Normen erwachsen, die das Verhalten von Subjekten beeinflussen.63 Die Feststellung klassischer Neurosen und die Psychotherapie werden als Paradebeispiele für diese Strategie der normalisierenden Praktiken betrachtet.64 Die aktuellen Entwicklungen im DSM-V zur Bestimmung psychischer Krankheit scheinen immer deutlicher einer flexibel-normalistischen Strategie zu folgen, die Normalitätsgrenze ist fließend in beide Richtungen. Einerseits gelten viele frühere Pathologien wie Homosexualität nicht mehr als solche im aktuellen Diagnosesystem, andererseits haben vielfältige Verhaltensweisen, die zuvor nicht mit Pathologie in Verbindung standen, im neuesten Diagnosemanual die Grenze der Anormalität überschritten. Wenn es an einer eindeutigen Normalitätsgrenze im Bereich psychischer Krankheit mangelt, dann fehlt es jedoch mitunter an einer verlässlichen Grundlage zur Begründung juristisch-normativer Konsequenzen. Dieses Problem könnte analog für die Bestimmung der Gefährlichkeit einer Person bestehen, denn auch hier sind die Angaben dafür, was unter Gefährlichkeit exakt zu verstehen und wie diese zu erfassen ist, in den Ländergesetzen sehr unterschiedlich. Das Vorliegen einer psychischen Erkrankung und einer erheblichen, anders nicht abzuwehrenden Gefahr für die eigene Person

58 Link etabliert seine Unterscheidung zwar in Differenz zu und als Weiterentwicklung von Foucaults Werken, die Verzahnungen von Foucaults Ideen und Links Beschreibung normalistischer Strategien müssten jedoch an anderer Stelle näher untersucht werden. 59 Vgl. Link: Versuch über den Normalismus, S. 54 ff., S. 71; Prechtl/Burkard: Lexikon Philosophie, S. 419. 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. ebd. 62 Vgl. ebd. 63 Vgl. ebd. 64 Vgl. ebd.

E INWILLIGUNGS( UN ) FÄHIGKEIT

ALS

R ECHTFERTIGUNGSKRITERIUM

| 219

oder für Dritte sind jedoch wesentliche Kriterien, um eine Einweisung und Zwangsmaßnahmen juristisch und medizinethisch zu rechtfertigen. Der Verdacht liegt nahe, dass die erneute Kopplung der Rechtfertigung bei Zwangsmaßnahmen an das zusätzliche Kriterium der Einwilligungsunfähigkeit neben der Anwendung liberalistischer Normen dazu dienen könnte, ein Kriterium mit einer vermeintlich engen Normalitätszone (im Sinne einer protonormalistischen Strategie) als Grundlage für normativ-juristische Konsequenzen bereitzustellen.

F AZIT In der heutigen psychiatrischen Praxis stellt eine erhebliche Gefährlichkeit für sich selbst oder für andere ebenso wie in Foucaults Analysen der französischen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts ein wesentliches Kriterium zur Rechtfertigung psychiatrischer Zwangsmaßnahmen dar. Das Kriterium der Einwilligungsunfähigkeit ist heutzutage jedoch im Gegensatz zu Foucaults Analysen wieder eine zentrale Bedingung für Zwangsmaßnahmen. Gemäß Foucaults Beschreibung wurde im 19. Jahrhundert die Feststellung mangelnden Willens als Grundlage der Einweisung durch eine Einschließung aller möglichen, gefährlichen Verhaltensweisen in die psychiatrische Diagnostik ersetzt. Wenn eine Person als gefährlich eingestuft wurde, war es nicht mehr notwendig, dass die Person ein gestörtes Bewusstsein aufwies. Damit wurde im Bereich der Psychiatrie in Folge an Foucault eine erweiterte, durch medizinisches Wissen gestützte Zugriffsmöglichkeit auf den einzelnen Menschen und auf die Bevölkerung geschaffen, welche auf vielfältige Verhaltensweisen bezogen werden konnte. Der erneute Bedeutungsgewinn der Einwilligungs(un)fähigkeit im psychiatrischen Kontext könnte, den weitreichenderen Theorien Foucaults zu Wissen-Macht-Formationen folgend, als eine wiederetablierte Norm interpretiert werden, die einen Machtanspruch in sich trägt und gleichzeitig Machtausübung begründet und legitimiert. Wie in der Frage der Gefährlichkeit auch, könnte die medizinische Festzustellung von Einwilligungs(un)fähigkeit als Angriffspunkt verschiedener Machttechnologien verstanden werden, die sich sowohl auf einzelne Körper als auch auf die gesamte Bevölkerung richten und den Schutz der Gesellschaft gegen Bedrohungen zum Ziel haben. Dabei werden die Bedeutung und die vermeintliche Objektivität von Einwilligungs(un)fähigkeit diskursiv hergestellt. Wenn man in der Gesellschaft das allgemein steigende Interesse an Themen der Selbstbestimmung im Kontext der Medizin verfolgt, dann kann die medizinisch festgesetzte und juristisch eingeforderte Grenze der Einwilligungs(un)fähigkeit auch interpretiert werden als eine Formierung, die eine dauerhafte Selbstaktivierung der

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Einzelnen zur Folge hat, in der Hoffnung, die geforderten Normalitätsgrenzen einzuhalten. Da die Normalitätsgrenzen in anderen Bereichen der psychiatrischen Praxis, wie etwa bei der Bestimmung von psychischer Krankheit oder aber auch der Gefährlichkeit noch unschärfer anmuten, könnte das wieder in den Vordergrund gerückte Kriterium der Einwilligungs(un)fähigkeit aber auch bedeuten, dass damit eine vermeintlich enge Normalitätszone (im Sinne einer protonormalistischen Strategie) als Grundlage für normativ-juristische Konsequenzen bereitgestellt werden soll.

L ITERATUR American Psychiatric Association: „Highlights of Changes from DSM-IV-TR to DSM-5“, http://www.dsm5.org/Documents/changes%20from%20dsm-iv-tr% 20to%20dsm-5 Appelbaum, Paul S./Grisso, Thomas: „Assessing patients' capacities to consent to treatment“, in: The New England Journal of Medicine 319/25 (1988), S. 1635-1638. Beauchamp, Tom. L./Childress, James F.: Principles of Biomedical Ethics, Oxford: Oxford University Press 2013. Bobbert, Monika/Werner, Micha H.: „Autonomie/Selbstbestimmung“, in: Christian Lenk/Gunnar Duttge/Heiner Fangerau (Hg.), Handbuch Ethik und Recht der Forschung am Menschen, Heidelberg: Springer 2014, S. 105-114. Breden, Torsten M./Vollmann, Jochen: „The cognitive based approach of capacity assessment in psychiatry: a philosophical critique of the MacCAT-T“, in: Health Care Analysis 12/4 (2004), S. 273-283. Bundesgerichtshof: Beschluss v. 20.06.2012, XII ZB 99/12, 2012. Bundesverfassungsgericht: Beschluss vom 12.10.2011, 2 BvR 633/11 und vom 23.03.2011, 2 BvR 882/09, 2011. Duttge, Gunnar: „Patientenautonomie und Einwilligungsfähigkeit“, in: Claudia Wiesemann/Alfred Simon (Hg.), Patientenautonomie, Münster: Mentis 2013, S. 77-90. Fiedler, Peter: Persönlichkeitsstörungen, Weinheim: Psychologie-Verlags-Union 2001. Fink-Eitel, Hinrich: Michel Foucault zur Einführung, Hamburg: Junius 2002. Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Foucault, Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (19741975), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.

E INWILLIGUNGS( UN ) FÄHIGKEIT

ALS

R ECHTFERTIGUNGSKRITERIUM

| 221

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Zur diskursiv-moralischen Pathologisierung von Homosexualität N ICOLE L ÜHRING Been burning up inside day to today. Trying to find the words to explain my sexuality. It's liquid, it's living, a moving love defined by itself. There's no rules, no convention. This love can go where ever it wants. PLANNINGTOROCK: HUMAN DRAMA. „Der Gedanke an ein mögliches Leben ist nur für diejenigen ein Luxus, die bereits selber wissen, dass es möglich ist. Für diejenigen, die weiter darauf hoffen, möglich zu werden, ist die Möglichkeit eine Notwendigkeit.“ JUDITH

BUTLER:

DIE

MACHT

DER

GE-

SCHLECHTERNORMEN, S. 384.

Z UR P LURALITÄT

VON

S EXUALITÄT

Wenn man in der heutigen Zeit von Sexualität spricht, lassen sich diverse Ausprägungsformen beobachten. So können Sexualitäten wie beispielsweise die Bisexualität, Polysexualität, Heterosexualität, Homosexualität, Multisexualität, Asexualität, etc. aufgeführt werden. Dieser Typisierung liegt eine inhärente Logik der sozialen Kategorisierung zugrunde. Das bedeutet, dass eben jene (Sexualitäten) entweder als „normal“ respektive „natürlich“ oder als „anormal“ respektive „unnatürlich“ in unseren gesellschaftlichen Diskursen verhandelt werden. Der Heterosexualität wird im Sinne dieser chiastischen Struktur eine „Natürlich-

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keit“ zugeschrieben, die andere sexuelle Variationen demzufolge als „unnatürlich“ oder gar „pathologisch“ erscheinen lässt. So lassen sich im Zuge der Aufrechterhaltung der „natürlichen“ Ordnung (immer noch) medizinische Therapieformen sowie „Heilungsangebote“ für Homosexuelle finden1 – und dies obwohl homosexuelles Begehren seit 1992 nicht mehr explizit im ICD-10 Katalog der WHO als Krankheit aufgelistet ist.2 Doch wie kommt es, dass spezifische Formen des sexuellen Begehrens, wie das der Homosexualität, gesellschaftlich als „pathologisch“ gedeutet und gehandhabt wurden und zum Teil immer noch werden? Welche historischen sowie kulturell geprägten Diskurse spielen dabei eine Rolle? Diesen Fragen möchte ich in dem folgenden Beitrag nachgehen. Dafür orientiere ich mich primär an Michel Foucaults Schriften zur Sexualität sowie Judith Butlers Gender Trouble (dt.: Das Unbehagen der Geschlechter). Zu Beginn werde ich die enge Verknüpfung zwischen der Entwicklung der Sexualität und der Historizität der Geschlechtlichkeit aufzeigen. Die bedeutende Stellung, welche beide Konstruktionen im Zuge der Konstitutionsprozesse von Subjekten einnehmen, ist hierbei eng an die wissenschaftliche Kategorisierung und Klassifikation dieser gebunden. Neben den wissenschaftlichen Disziplinen bestimmen jedoch noch weitere Regime − im Foucaultʼschen Sinne − das Verständnis von und über Sexualität und Geschlechtlichkeit.3 Hier soll ein besonderes Augenmerk auf historisch kontingente gesellschaftliche Moralvorstellungen gelegt werden, welche m.E. in enger Verbindung mit dem Diskurs zur Homosexualität stehen und diesen entscheidend prägen. Die Effekte für das Subjekt und dessen

1 2

Vgl. C. Deker: Schwulsein, S. 58. Im Bereich der forensischen Psychiatrie stellt Homosexualität heutzutage immer noch eine „Sexualstörung“ dar, „[...] wenn der Homosexuelle an seiner Sexualität oder deren Auswirkungen leidet“ (V. Arolt/C. Reimer/H. Dilling: Basiswissen Psychiatrie, S. 231). Ein weiterer interessanter Aspekt bietet hierbei die einseitige Anrufung des männlichen, homosexuellen Subjekts.

3

Unter „Regime“ versteht Foucault ein Ensemble an praktischen und theoretischen Regelwerken und somit eine spezifische Machtstruktur, die hegemoniale Diskurse kennzeichnet, welche wiederum die Positionen und Formen möglicher Subjektivität definieren. Diese Regeln bestimmen, was zu einer gewissen Zeitperiode als „wahr“ oder „falsch“, bzw. auch als „natürlich“ oder „unnatürlich“, gilt. Z.B. lässt sich die Zweigeschlechtlichkeit oder die „Natürlichkeit“ der Heterosexualität als ein solches Regime deuten.

Z UR P ATHOLOGISIERUNG

VON

HOMOSEXUALITÄT

| 225

Identität,4 welche dadurch im Laufe der Zeit produziert werden, sollen durch eine historische Betrachtung von zwei unterschiedlichen Zeitspannen dargelegt werden. Demnach werde ich den gesellschaftlichen Diskurs der Moderne über Homosexualität zu Beginn der Industrialisierung und nach den Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts5 skizzieren. Hierbei zeigt sich, dass es im historischen Verlauf zu einer Pluralisierung des homosexuellen Subjektes kam,6 welche sich nicht nur anhand einer gestiegenen Anzahl von Möglichkeiten zur Identitätsbildung ablesen lässt, sondern auch anhand der Vielfalt sprachlicher Optionen. Den Schluss der Arbeit bildet ein Zukunftsausblick, welcher queer als einen Ort der Heterotopie und Resignifikation darstellt.

D IE

SOZIALE

K ONSTRUKTION

DER

S EXUALITÄT ( EN )

In diesem Beitrag verfolge ich eine dekonstruktivistische Vorgehensweise, die sich vor allem auf Michel Foucault stützt, dessen Arbeiten zur Genealogie der Sexualität7 als ein gesellschaftliches Produkt und Konstrukt eine zentrale Rolle in meiner Argumentation spielen. Mein Ausgangspunkt ist ein poststrukturalistisches Verständnis von Sexualität(en), weswegen ich mich der Aufdeckung versteckter Machtstrukturen widme. Des Weiteren soll die Kontingenz des Denkens über Sexualität, bzw. Homosexualität freigelegt werden. Gemäß der poststrukturalistischen Auffassung stelle ich mich folglich gegen die Essentialisierung sowie Naturalisierung des (hetero-)sexuellen Begehrens wie auch der (Hetero-) Sexualität.

4

Hierbei ist anzuführen, dass der Begriff der homosexuellen Identität nicht mit der Praktik des gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs gleichzusetzen ist. Foucault schreibt dazu: „Homosexuelles Verhalten hat es ohne Zweifel in allen Kulturen der Gegenwart und der Vergangenheit gegeben, homosexuelle Identität ist hingegen etwas Modernes“. (Vgl. S. Matthiesen: Wandel von Liebesbeziehungen, S. 56 sowie G. Schmidt: Verschwinden der Sexualmoral, S. 116 ff.) Diesen Aspekt werde ich im Späteren nochmals aufgreifen.

5

Interessant erscheint mir der gewählte Zeitraum, da u.a. nach Volkmar Sigusch die Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre zu der sogenannten „neosexuellen Revolution“ führten, welche einen Wandel der Sexualverhältnisse und der Sexualmoral zur Folge hatte, der immer noch andauert (vgl. V. Sigusch: Neosexual Revolution).

6 7

Vgl. J. Butler: Macht der Geschlechternormen, S. 359-366. Im Besonderen seine Arbeiten zur Sexualität (vgl. hierfür v.a. M. Foucault: Der Wille zum Wissen).

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Im Folgenden soll dementsprechend sexuelles Handeln, Empfinden und Erleben nicht als etwas „Natürliches“ oder „Naturgegebenes“ verstanden werden, sondern als ein individuell sowie kollektiv erzeugtes Phänomen. Die Betitelung als Phänomen soll hier zum einen auf die Kontingenz von Sexualität(en) sowie den Umgang mit ihnen verweisen. Zum anderen deutet der Begriff auf ein westlich geprägtes Verständnis sowie dessen jüngere Entstehung in der Epoche der Rationalisierung hin. Die Sexualität(en) wird sonach durch kulturelle und historische Gegebenheiten geprägt, die sich in differenten Vorstellungen von und über Sexualität(en) ausdrücken und historisch variabel sind:8 „Die Geschlechter und das Sexuelle bilden in jeder Kultur, Gesellschaft und Epoche spezifische Formationen aus, die je für sich zu würdigen sind. [...] Die geläufigen Begriffe (wie Koitus, Fellatio u.ä.) bezeichnen keine durchgängig festgelegten Angelegenheiten, sondern etwas historisch-kulturell Veränderliches.“9

Es wird ersichtlich, dass vorherrschende Diskurse, welche z.B. durch Wissen (-schaft) und Moral geprägt sind, zu einer bestimmten Zeit in einer Gesellschaft erst die Existenz des Sexuellen und der Geschlechter und folglich auch deren konkrete Ausprägungsformen hervorrufen. Das Phänomen der Sexualität(en) hat dementsprechend einen dynamischen Charakter.10 Der historische Ursprung des „traditionellen“ Verständnisses und des Diskurses über Sexualität(en) ist dabei auf das Zeitalter der Industrialisierung zurückführbar.11 Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch schreibt dazu: „As a symbolic cultural form and as a concept, what we know as ‚sexuality‘ has existed for no more than 200 years”.12 Als einer der bedeutendsten Theoretiker in Bezug auf Sexualität(en) ist Michel Foucault zu nennen, der sich vor allem in seinem späteren Werken wie z.B. Sexualität und Wahrheit13 deren Genealogie widmete. Foucault geht davon aus, dass die Entstehung der Sexualität(en) auf die institutionalisierte Redeweise eines geschichtlich psychiatrischen Diskurses zurückzuführen ist. Dabei vollzog sich ein Prozess der gesellschaftlichen Verbreitung, Verankerung und Institutionalisierung der Sexualität im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen

8

Vgl. S. Matthiesen: Wandel von Liebesbeziehungen, S. 54.

9

R. Lautmann: Konstruktivismus und Sexualwissenschaft, S. 220.

10 Vgl. A. Sieben: Konstruktion von Geschlecht und Sexualität, S. 3. 11 Vgl. C. Kammler/R. Parr/U. Schneider: Foucault-Handbuch, S. 291. 12 V. Sigusch: Lean Sexuality, S. 120. 13 Vgl. M. Foucault: Gebrauch der Lüste; Ders.: Sorge um sich; Ders.: Wille zum Wissen.

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Transformationen, auf welche ich im Folgenden lediglich im Zusammenhang mit der Thematik des Beitrags eingehen werde. So trug die Etablierung differenter wissenschaftlicher Erkenntnisbereiche im 18. und 19. Jahrhundert ebenso zu der begrifflichen Hervorbringung bei, wie „[...] die Veränderungen der Art und Weise, in der die Individuen ihrem Verhalten, ihren Pflichten, ihren Lüsten, ihren Gefühlen und Empfindungen, ihren Träumen Sinn und Wert beizulegen gehalten sind.“14 Im Verlauf der Jahrhunderte entstand, so Foucault, ein „Ensemble“ von traditionellen und neuen Vorschriften sowie Normen, die auf religiösen, medizinischen, pädagogischen und judiziären Strängen basier(t)en.15 Die Umstrukturierungen führten letztlich dazu, dass ein gesellschaftlicher Diskurs um die Sexualität(en) entstand, der zum Teil eines umfassenderen Dispositivs wurde. Ein Dispositiv beschreibt Foucault als eine „[...] heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philantropischen Lehrsätzen, kurz Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann.“16

Das sogenannte „Netz“ zieht sich dabei durch jegliche Ebenen des Lebens und übt auf diese eine Art (Anpassungs-)Zwang auf die Individuen aus. Als ein Beispiel kann die Zweigeschlechtlichkeit angeführt werden, welche auf jeglicher Ebene des menschlichen Lebens strukturierend wirkt. Sie lässt sich als eine Machtstrategie innerhalb des Sexualitätsdispositivs rekonstruieren, die sich u.a. auf das Argument der „traditionellen“ Fortpflanzung stützt.17 Dies geschieht zum Teil dadurch, dass in wissenschaftlichen Argumentationen auf das Naturalisierungsargument, welches jene binäre Struktur als „naturgegeben“ darstellt, zurückgegriffen wird.18 Dieser Vorgang zog und zieht sich über Dekaden hin und hatte die Entstehung und Aufrechterhaltung der Idee einer vermeintlichen „Natürlichkeit“ der Geschlechterbinarität sowie des heterosexuellen Begehrens zur

14 Vgl. M. Foucault: Gebrauch der Lüste, S. 9f. 15 Vgl. ebd. 16 M. Ruoff: Foucault-Lexikon, S. 109. 17 Durch neue Formen der Fortpflanzung (z.B. Social freezing) gerät u.a. auch das „traditionelle“ Verständnis von Familie und (zweigeschlechtlicher!) Elternschaft ins Wanken. 18 Dies geschah durch die Schließung von Kontingenz – das „Geworden-Sein“ ging sozusagen in der Unsichtbarkeit „verloren“.

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Folge. Die wissenschaftlichen Diskurse der letzten beiden Jahrhunderte erzeugten sonach eine hegemoniale Form der Sexualität, welche relational mit der „Naturhaftigkeit“ zusammengeführt wurde. Dem standen kontrastiv „widernatürliche“, „periphere Sexualitäten“19 gegenüber. Die Sexualität im Foucaultʼschen Sinne bildet auf diese Weise eine dialektische Metaebene aus, die „[...] so das epistemische Muster, [...] von Kultur überlagert, verzerrt, verschleiert, eingeengt [und] verdrängt [ist]“.20 Die Konnexion von Geschlechtlichkeit und Sexualität Jene hegemonialen Klassifikationen der Sexualität(en) sind dabei grundlegend mit der Geschlechterordnung21 verwoben. Das zeigt sich vor allem durch einen Blick auf die gemeinsamen Verästelungen der Historizität beider diskursiver Phänomene.22 Durch diese wurde ein gegenseitiges Konstituierungsverhältnis erschaffen, welches eine Kausalbeziehung von Sexualität(en) und Geschlechtlichkeit als Resultat hatte. So schreibt Antke Engel dazu: „Das gegenseitige Konstituierungsverhältnis zwischen der hierarchisierten Geschlechterordnung und dem Regime normativer Heterosexualität ist über die Norm einer rigiden Geschlechterbinarität organisiert“.23 Es wird ersichtlich, dass einer der vielen Relationsstränge zwischen Sexualität(en) und Geschlecht die binäre, chiastische Ordnung darstellt. So lässt sich beispielsweise die Organisation von Homosexualität als gleichgeschlechtliches Begehren unter Frauen/Männern bestimmen, während Heterosexualität durch das Verlangen zwischen Frauen und Männern organisiert ist. Das jeweilige sexuelle Begehren ist indes dem Regime einer „natürlichen“ Heterogenität unterstellt, deren Erfüllung bzw. Verfehlung zu einer Kategorisierung als normal bzw. anormal führt. Transferiert man dies auf das Beispiel des homosexuellen Begehrens, weicht dieses der chiastischen Logik folgend von eben jener Heteronormativität24 ab, und fällt so aus dem normativ gesetzten Be-

19 M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 43. 20 P.-I. Villa: Natürlich Queer?, S.164. 21 Vgl. weiterführend z.B. R. Connell: Der gemachte Mann. 22 Vgl. zur Psychosexualität als Kriterium der Geschlechterdifferenzierung (v.a. bei Hermaphroditismus) Klöppel, U.: XX0XY ungelöst, S. 295f.. 23 A. Engel: Wider die Eindeutigkeit, S. 51. 24 „Heteronormativität meint ein binäres, zweigeschlechtlich und heterosexuell organisiertes und organisierendes Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkschema. Dieses trägt als grundlegende gesellschaftliche Institution durch eine Naturalisierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit zu deren Verselbstverständlichung und zur

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zugsrahmen heraus. Hieraus resultiert wiederum eine Stilisierung als „widernatürlich“, beziehungsweise „anormal“.25 An dieser Stelle soll nochmals betont werden, dass sich der Begriff der Heteronormativität nicht nur auf die Metaebene der Sexualität bezieht, sondern auch weitere Mechanismen neben der Geschlechtlichkeit in die binäre Organisationsform einschließt. Dies kann am Beispiel von Gesetzestexten oder dem traditionellen Verständnis von Familie sowie Elternschaft beobachtet werden. Dahingehend können des Weiteren auch Handlungsweisen26 oder spezifische Symboliken als „geschlechtlich-sexuell“ aufgeladen betrachtet werden. Diese unterliegen ebenfalls der binären Logik des Konstituierungsverhältnisses von diskursiv erzeugter Geschlechtlichkeit und Sexualität(en). Unter anderem beschreibt Nina Degele27 dies im Anschluss an Gayle Rubin28 als „Abgrenzungsimperativ“, welcher das Ontologische (z.B. den Körper, die Kleidung, das Verhalten etc.) in die binäre geschlechtlich Aufteilung zwängt, die durch gegenseitige Ausschlussmechanismen konstituiert wird. Was weiblich ist, kann nicht männlich sein und andersherum.

Reduktion von Komplexität bei bzw. soll dazu beitragen.“ (Degele, N.: Männlichkeiten queeren, S. 30) 25 Vgl. u.a. J. Butler: Unbehagen zur Zwangsheterosexualität. Im Besonderen soll auf den Umgang mit jenen als „krank“ stilisierten Sexualität(en) verwiesen werden, in deren Diskurs sich häufig Argumentationen auf Basis moralischer Werte und Urteile wiederfinden lassen. Dies ist vermehrt zu beobachten, wenn die „natürliche“ Ordnung in die „Krise“ bzw. Kritik gerät. Aktuell lässt sich dies an dem Diskurs zu Gender betrachten. Die Verfechter der traditionellen Ordnung argumentieren dabei häufig mit den „alten“ moralischen Werten und verstehen „andere“ als die binäre Form der Sexualität sowie Geschlechtlichkeit – die also nicht dem traditionellen Verständnis entsprechen, ergo auch Homosexualität – als „andersartig“ oder „krank“. Zur Vertiefung vgl. S. Hark/P.-I. Villa: [Anti-]Genderismus. Der Rückgriff auf die Moral (z.B. die Ausrufung des Schutzes der [traditionellen] Familie) soll dabei den „alten“, „natürlichen“ Zustand „wieder“ herstellen und die heteronormativen Muster weiter verfestigen. 26 Vgl. K. Hausen: Polarisierung, S. 363-393. 27 N. Degele: Männlichkeiten queeren, S. 38. 28 G. Rubin: The traffic in women, S. 27-62.

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Das sexuelle Subjekt Das Subjekt wird dementsprechend zum Brennpunkt des beschriebenen Konstituierungsverhältnisses. Nach Foucault nimmt das Subjekt in der Moderne die grundlegende Rolle innerhalb von Diskursen ein29 – ergo auch im Diskurs zur (Homo)Sexualität. Denn dadurch, dass einem Individuum durch Subjektivation die Position des Subjektes in einem Diskurs zuteil wird, erhält es zum einen die damit verbundenen Vorstellungen und konserviert diese, um die Legitimation als Subjekt zu erhalten (Konservator). Zum anderen erhält es aber auch die Möglichkeit der Resignifikation (nach Butler) – d.h. diese zu verschieben und/oder zu transformieren (Transformator). Der von Judith Butler im Anschluss an Foucault angeführte Mechanismus der „‚Subjektivation‘ bezeichnet [dabei] den Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung“. 30 Foucault beschreibt diesen Vorgang bereits in Überwachen und Strafen detailliert. Er geht darauf ein, inwiefern Wissen und Macht formend auf das Individuum einwirken und dieses als einen Effekt des Zusammenwirkens beider Komponenten als Subjekt konstituieren.31 Entscheidend ist dabei die Tatsache, dass Normen und Werte sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene weitergegeben und dementsprechend die Gestalt der Regulation und die Form des Verhaltens aufrechterhalten werden. Die Idee des dem Subjektivierungsprozess inhärenten Potentials der Subversion (nach Butler) schließt hierbei an den strategischen Machtbegriff32 von Foucault an und lässt sich indessen als eine ambigue Figur fassen. Denn das Individuum avanciert durch das Unterworfenwerden unter die normativen Ordnungen, Praktiken sowie Technologien33 zum Subjekt34 und erhält dadurch auch erst die an den Subjektivitätsstatus gebundenen Handlungsmöglichkeiten. Transferiert man nun das allgemein Dargelegte auf die Sexualität(en), wird das Subjekt zum/zur diskursiven „Träger_in“ einer sexuellen Position und zum „Agent“ der mit dem Phänomen Sexualität verbundenen Mechanismen. Der Körper, die Materialität, aber auch das Verhalten und die Handlungen des Sub-

29 Vgl. M. Foucault: Ordnung der Dinge. 30 J. Butler: Psyche der Macht, S. 8. 31 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 39. 32 Unter der strategischen Macht wird nicht nur die repressive Funktion der Macht, sondern besonders ihr produktives Potential verstanden (vgl. M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 94). 33 Vgl. H. Bublitz: Judith Butler zur Einführung, S. 80. 34 Vgl. H. Dreyfus/P. Rabinow: Michel Foucault, S. 246.

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jektes können fortan als sexualisierte gelesen werden. Berücksichtigt man diesbezüglich jedoch nicht nur den reproduktiven Aspekt des strategischen Machtbegriffs, sondern auch dessen produktive Eigenschaft, entsteht hier ein subjektiver Dreh- und Angelpunkt der Erhaltung sowie Umwandlung jenes Sexualitätsdiskurses. Das Subjekt, die Macht und der Diskurs der Sexualität sind sonach untrennbar miteinander verwoben. Denn das Subjekt wird durch Macht konstituiert – Macht konstituiert zugleich aber auch den Diskurs, der wiederum das Subjekt konstituiert. Das sexuelle Subjekt wird zum Inklusivum von Macht und gleichzeitig wird die Macht zum Inklusivum des sexuellen Subjektes: „Die Sexualität [wie das sexuelle Subjekt sind] [...] demzufolge ein historisch spezifisches Produkt gesellschaftlicher Diskurse und Praktiken und als solches nicht jenseits von Machtverhältnissen zu verorten, sondern vielmehr – so Foucault – als zentraler Bezugspunkt für die Verankerung und Ausbreitung moderner Machttechnologien zu betrachten.“35

Die Zitation, das bedeutet die performative Wiederholung,36 der modernen Machttechnologien durch das Subjekt, (re)produziert dabei ein bestimmtes Bild von Identität(en).37 Die Zuschreibung einer Identität beruht indessen auf konkreten Ausschlussmechanismen, die das Subjekt durch das (nicht) Innehaben derer kategorisieren. Übertragen auf die Sexualität würde dies bedeuten, dass ein Individuum, welches sich als heterosexuell bezeichnet, nicht homosexuell sein kann – wenn man der binären Logik folgen möchte. Die sexuelle Kategorie steht währenddessen in Relation mit konkreten Verhaltensweisen, unter die sich das Individuum unterwerfen „muss“, um als Subjekt einer sexuellen Identität anerkannt zu werden. Im Späteren werde ich auf diesen Punkt in dem historischen Abschnitt über die „Erzeugung einer modernen homosexuellen Identität“ genauer eingehen.38

35 A. Bührmann/S. Mehlmann: Sexualität, S. 610. 36 Im Anschluss an J. Butler: Unbehagen. Zur Weiterführung vgl. J. Butler: Für ein sorgfältiges Lesen, S. 123f. 37 Vgl. hierfür auch F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. 38 Vgl. ebd.

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Die wissenschaftliche Kategorisierung von Sexualität(en) Einen entscheidenden Anteil an der Produktion von stereotypen Bildern über Homosexuelle,39 bzw. Sexualität im Allgemeinen, haben einige wissenschaftliche Disziplinen der letzten beiden Jahrhunderte.40 Die von Foucault als scientia sexualis41 bezeichnete wissenschaftliche Diskurskonstellation stellt diesbezüglich das „Korrelat jener langsam entwickelten diskursiven Praktik“42 der Sexualität dar. Die sexuellen Verhaltensweisen wurden infolge des Aufkommens konkreter Disziplinen, wie beispielsweise der Psychiatrie, Pädagogik oder der modernen Medizin, kategorisiert. Ein besonderes Augenmerk wurde währenddessen auf die „Verirrungen“ oder „Absonderlichkeiten“ der Sexualität gelenkt.43 Hierbei begann man wissenschaftlich zwischen sexuell „normalen“ und „anormalen“ Altersstufen, räumlicher Gebundenheit (z.B. „Sexualität des Gefängnisses“), beziehungstechnischen Konstellation unter Personen sowie Neigungen und Praktiken, zu differenzieren.44 „Es handelte sich um eine Wissenschaft, die in ihrem Wesen den Imperativen einer Moral verpflichtet war, deren Teilungen sie unter dem Vorzeichen der medizinischen Norm wiederholte“.45

39 Auch in Bezug auf Geschlechtlichkeit (vgl. H. Voß: Geschlecht, S. 68-121). 40 Vgl. u.a. M. Hirschfeld: Homosexualität des Mannes und des Weibes. 41 Unter der scientia sexualis (in Abgrenzung zur ars erotica, welche die sexuelle Lust als Zentrum besitzt) versteht Foucault eine Form des wissenschaftlichen Wissens, das sich u.a. auf Geständnisse gründet. Diese neue Form der Wissensproduktion wirkt in den unterschiedlichsten Lebensbereichen: „[...] in der Justiz, in der Medizin, [...] in den Liebesbeziehungen [...] gesteht man seine Gedanken und Begehren [...]. Man gesteht – oder man wird zum Geständnis gezwungen“ (M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 62f.). Diese verallgemeinerte Geständnispraxis und das dadurch gewonnene Wissen ermöglichte eine zunehmende medizinische, juristische und moralische Differenzierung zwischen Normalität und Anormalität. Das Subjekt wird, insofern es von der vermeintlichen Normalität abweicht – so oder so – geständig sein. Bei Homosexualität lässt sich z.B. das Moment des Outings als eben jene Form des Geständnisses anführen. Da Homosexualität (immer noch) nicht als „natürliches“ Begehren gehandhabt wird, bedarf es sonach eines Geständnisses der „abweichenden“ Sexualität. Dies verweist darüber hinaus auf die immer noch als „anormal“ verhandelte Form von homosexuellen Begehren. 42 M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 71. 43 Vgl. ebd., S. 57. 44 Vgl. ebd., S. 51. 45 Ebd., S. 57.

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Die Homosexualität wurde im Zuge dessen in die Kategorie der „amoralischen“, „pathologischen“ Neigungen und Praktiken eingeordnet.46 Dies ging vor allem mit der sogenannten „Einpflanzung von Perversionen“47 einher, in der die Homosexuellen als der „Welt der Perversion“48 und nicht der „Welt der Gesunden“ zugehörig eingeordnet wurden. Es entstand in der Folge ein WahrheitsRegime der Heterosexualität und der Zweigeschlechtlichkeit, welche sich als „natürlich“ gegebene Ordnungen darstellten49 und in alle sozialen Räume ausbreiteten und manifestierten. Dies schlug sich zum Beispiel auch innerhalb des rechtlichen Rahmens nieder und Homosexualität wurde „1871 [...] nach dem Paragraphen 175 in ganz Deutschland unter Strafe gestellt“.50

D ER MORALISCH - REPRESSIVE D ISKURS ZUR H OMOSEXUALITÄT Im Folgenden werde ich zwei spezifisch historische Abrisse des modernen Diskurses zur Homosexualität ausführlicher darlegen und aufzeigen, wie sich das heutige Verständnis der homosexuellen Identität unter anderem durch die Moral konstituierte und mit welchen diskursiven Attributen diese aufgeladen ist. Hierbei greife ich zum einen auf die gesellschaftlichen Transformationen zu Beginn der Industrialisierung und zum anderen auf die Zeit nach den Emanzipationsbewegungen der 1960er Jahre zurück. Zur Pathologisierung der homosexuellen Identität Seit dem 19. Jahrhundert trat nach Foucault ein neuer Machttypus, die Biomacht und deren politische Formation, die Biopolitik, innerhalb westlicher, moderner Gesellschaften auf. Diese Form der Macht funktioniert dabei auf zweifache Weise. Erstens reguliert sie die Bevölkerung und zweitens diszipliniert die Biomacht zugleich das Individuum.51 Das bedeutet, dass die Macht und u.a. auch die Nor-

46 Vgl. ebd., S. 51. 47 Ebd., S. 41ff. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. A. Bührmann/S. Mehlmann: Sexualität, S. 610f. 50 S. Schröter: FeMale, S. 92. 51 Vgl. M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 140ff. Die Bedeutung des Sexes ist immanent, denn dieser bildet das „Scharnier zwischen den beiden Entwicklungsachsen der politischen Technologien des Lebens“ (ebd.). Das bedeutet, dass durch den Sex auf

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men – als eine ihrer Ausdrucksformen – unsere Identität und unser Verhalten als sexuelles Subjekt regulieren: Ob wir bspw. durch unsere Handlungen als heterosexuell (Code 1) oder homosexuell (Code 2) gelesen werden, kann z.B. von bestimmten Bewegungen/Stellungen des Körpers (u.a. Sitzen, Gehen, Stehen) abhängen. Normen unterliegen in ihrer Historizität im Besonderen moralischen Vorstellungen, welche sich in differenten Codes in Handlungsnormativitäten bezüglich des jeweiligen Subjektstatus manifestieren.52 Anzumerken ist, dass die Trennungslinie der genannten „Verhaltenscodices und Subjektivierungsformen“53 im konkreten Fall nicht klar definiert54 und kontextabhängig ist. Hingegen können Verhaltensweisen anhand einer von moralischen Vorstellungen geprägten Aufteilung zwischen zwei Polen angeordnet werden. Im Laufe der Zeit entstand somit eine unverkennbare Teilung in „natürliche“ und „widernatürliche“ Handlungen und Empfindungen des sexuellen Subjektes. So konstituierte sich im 19. Jahrhundert nach Foucault eine „ordentliche Sexualität“, die kontrastiv zu den „peripheren Sexualitäten“ stand.55 Die in diesen („peripheren Sexualitäten“) inkludierte Homosexualität, als einer der Bestandteile der „Welt der Perversionen“, schnitt sich fortlaufend mit der „Welt des gesetzlichen und moralischen Verstoßes, ohne indes nur eine ihrer Spielarten zu sein“.56 Durch jene Relationen mit den moralischen Verhaltensregeln und Codices etabliert sich eine Norm der sexuellen „Natürlichkeit“, die das homosexuelle Subjekt (z.B. dessen Körper sowie Handlungsweisen) als „ungewöhnlich“ kennzeichnete. Aus diesen bildete sich in der Folge auch eine repräsentative Identität der „Widernatürlichkeit“. Foucault beschreibt jene Entwicklungen folgendermaßen: „Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von all dem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. Sie ist über-

das Individuum und im selben Moment auf die Bevölkerung zugegriffen wird. Die Pathologisierung des homosexuellen Begehrens kann als ein Beispiel angeführt werden, da die Stilisierung der Homosexualität als „krank“ und „unfruchtbar“ sowohl den Umgang mit Homosexualität auf der Ebene der Bevölkerung als auch auf der Ebene des einzelnen Individuums betrifft (vgl. z.B. das Adoptionsrecht für Homosexuelle). 52 M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 42. 53 M. Ruoff: Foucault-Lexikon, S. 166. 54 M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 42. 55 Vgl. ebd., S. 43ff. 56 Ebd.

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all in ihm präsent: allen seinen Verhaltensweisen unterliegt sie als hinterhältiges und unbegrenzt wirksames Prinzip; schamlos steht sie ihm ins Gesicht und auf den Körper geschrieben, ein Geheimnis, das sich immerfort verrät. [...] Man darf nicht vergessen, daß die psychologische, psychiatrische und medizinische Kategorie der Homosexualität sich an dem Tage konstituiert hat wo man [...] weniger nach einem Typus von sexuellen Beziehungen als nach einer bestimmten Qualität sexuellen Empfindens, einer bestimmten Weise der innerlichen Verkehrung des Männlichen und des Weiblichen charakterisiert hat. Als eine der Gestalten der Sexualität ist die Homosexualität aufgetaucht, als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer Androgynie, einem Hermaphroditismus der Seele herabgedrückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies.“57

Die Zuschreibungen, die den/die Homosexuelle_n als Identität, oder wie Foucault anführt – „Spezies“ definieren, wurden in erster Linie von wissenschaftlichen Disziplinen des 19. und 20. Jahrhunderts durchgeführt. Diese verlagerten ihr Augenmerk nun nicht mehr nur auf die sexuellen Handlungen von Subjekten, sondern expandierten auf Persönlichkeitszuschreibungen in Bezug auf das jeweilige sexuelle Begehren. Magnus Hirschfeld, ein „Arzt für nervöse und psychische Leiden“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts, beschäftigte sich intensiv mit der Homosexualität des Mannes und des Weibes und analysierte u.a. die Lebensführung von Homosexuellen im Vergleich zu heterosexuell Begehrenden.58 Die wissenschaftlich festgestellten Differenzen von Identitäten und Typisierungsdispositionen59 in Bezug auf die Sexualität etablierten sich fortwährend in Form von wirkungsmächtigen Diskursen und besitzen auch heute noch an Aktualität.60 Die Etablierung der modernen Homosexualität wird sonach zum wirkungsvollen Gegenspieler einer im männlichen und weiblichen Sexualverhalten „natürlich“ innewohnenden Ordnung der fortpflanzungsbezogenen Heterosexualität.61 Dieses Konstituierungsverhältnis war und ist dabei mit moralischen sowie normativen Zuschreibungen aufgeladen, welche die unfruchtbare Homosexualität als „Gefahrenherd“ für die „Gesundheit“ und „Sauberkeit“ des Gesellschafts-

57 Ebd., S. 47. 58 Vgl. M. Hirschfeld: Homosexualität des Mannes und des Weibes, S. 158ff. 59 Vgl. M. Laufenberg: Sexualität und Biomacht, S. 123. 60 Bei Darstellungen von Homosexuellen in Komödien oder Witzen z.B. wird immer noch auf sie zurückgegriffen. 61 Vgl. A. Bührmann/S. Mehlmann: Sexualität, S. 610f.

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körpers ausweisen.62 Die Homosexuellen entziehen sich durch ihre „unfruchtbare“ Sexualpraktik in gewisser Hinsicht der Regulation des Individuums und stehen daher auch dem Zugriff der Macht auf den Körper der Bevölkerung weiter entfernt.63 Salopp gesagt: Das Sexualitätsdispositiv und folglich auch die Biopolitik finden weniger Angriffspunkte der Regulation. Die Homosexuellen wurden, neben vielen weiteren unfruchtbaren Formen der Sexualität, in der Folge von der fortpflanzungsbezogenen Bevölkerung ausgeschlossen und pathologisiert. So schreibt Foucault in Der Wille zum Wissen (2012): „Wo aber das Unfruchtbare weiterbestehen und sich offen zeigen sollte, erhält es den Status des Anormalen und unterliegt dessen Sanktion. Was nicht auf Zeugung gerichtet oder von ihr überformt ist, hat weder Heimat noch Gesetz. Und auch kein Wort. Es wird gleichzeitig gejagt, verleugnet und zum Schweigen gebracht. Es existiert nicht nur nicht, es darf nicht existieren, und bereits in seinen geringfügigsten Äußerungen, seien es Handlungen, seien es Reden, sucht man es zu beseitigen.“64

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Homosexualität zu Beginn der Industrialisierung als „unfruchtbare“ und somit „krankhafte“ Identität figuriert wurde, die eine Grenzüberschreitung zu der „natürlichen Ordnung“ der (Hetero-) Sexualität darstellte.65

62 Vgl. ebd. sowie K. Schmersahl: Medizin und Geschlecht, H. Bublitz: Kultur und Geschlecht und S. Mehlmann: Unzuverlässige Körper.Vgl. auch den AIDS Diskurs des 20. Jahrhunderts und die öffentlichen Diskussionen dazu. Im Besonderen finden sich auch im medizinischen Bereich immer noch Stimmen, die sich sehr abwertend und kritisch in Bezug auf Homosexuelle äußern (vgl. hierzu die Homepage des „Bundes katholischer Ärzte“: http://www.bkae.org/index.php?id=301). 63 Vgl. die vier strategischen Komplexe, die „[...] um den Sex spezifische Wissens- und Machtdispositive entfalten“ (M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 103 ff.). Diese sind: „Die Pädagogisierung des kindlichen Sexes“, „[d]ie Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens“, „[d]ie Hysterisierung des weiblichen Körpers“ und „Psychiatrisierung der perversen Lust“ (ebd.). Der Beitrag bezieht sich vor allem auf den zuletzt genannten Komplex des Sexualitätsdispositivs. 64 M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 11. 65 Interessant erscheint mir unter diesem Aspekt vor allem das Konstituierungsverhältnis, welches sich durch die Kontrastierung der beiden Sexualitäten abzeichnet. Die Stilisierung der Heterosexualität als „natürlich“ funktioniert m.E. nur durch einen dialektischen Gegenspieler, welcher eine als „widernatürlich“ charakterisierte Position einnimmt.

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Die Pluralisierung der Homosexualität In der heutigen Zeit weist die Konstituierung der Homosexualität Anschlüsse und Ähnlichkeiten zum Diskurs des 19. und 20. Jahrhunderts auf. Denn die Homosexualität stellt heute ein Persönlichkeitsprofil dar, welches immer noch als Gegenpol zur Heterosexualität gesehen werden kann. Doch, und dies ist ein entscheidender Unterschied, gibt es nicht mehr alleinig den oder die Homosexuelle/Homosexuellen. Unter anderem auch bedingt durch die Ausdehnung der Reichweite von Individualisierungsprozessen, aber auch im Zuge weiterer wissenschaftlicher Forschungen, wurden zusätzliche Formen der homosexuellen Identität „gefunden“ und charakterisiert. Ein naturwissenschaftliches Beispiel bietet dabei die sogenannte Kinsey-Skala, welche in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde.66 Diese definiert(e) die sexuelle Orientierung anhand des graduellen Anteils des homosexuellen und heterosexuellen Verhaltens eines Subjektes. Auch Kategorisierungen durch weitere Disziplinen lassen sich im 20. und 21. Jahrhundert feststellen. So begann man nicht nur zwischen den unterschiedlichen Ausprägungsformen der geschlechtlich definierten, sexuellen Kategorien signifikant zu segmentieren, sondern auch innerhalb dieser. In Anschluss an Butler soll gezeigt werden, wie dadurch neue Variationen der Sexualität sowie diverse Identitäten performativ hervorgebracht wurden und werden und sexuelle Körper durch Gesetzmäßigkeiten der Diskurse form(t)en. Dies lässt sich vor allem in der Performanz, das bedeutet der sprachlichen sowie damit hervorgebrachten und verbundenen Materie (z.B. von Kleidung) der einzelnen Subjekte wiederfinden.67 Unter Performanz versteht Butler des Weiteren eine geleitete Hervorbringung von Körpern, die in einem engen Bezug zur Sprache steht. Butler führt an, dass „[e]ine performative Handlung eine solche [ist], die das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt und so die konstitutive oder produktive Macht der Rede unterstreicht“. Damit dies gelingen kann, schöpft der/die Sprecher_in aus einem Pool an traditionellen Konventionen und „rezitiert“ daraus. Hierin liegt auch das subversive und transformative Potential eines performativen Akts, denn „[d]ie Kraft oder Effektivität eines Performativs hängt von der Möglichkeit ab,

66 Vgl. S. Matthiesen: Wandel von Liebesbeziehungen, S. 57. 67 Einen eminenten Anteil an der sexuellen Revolution tragen auch Disziplinen wie zum Beispiel die Medizin unter anderem mit der Einführung der Pille, der Präimplantationsdiagnostik oder aktuell dem Social Freezing bei, da dadurch der Fokus auf die Fortpflanzung nachhaltig verschoben und auch partial relativiert wurde (vgl. V. Sigusch: Vom König Sex zum Selfsex, S. 229).

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sich auf die Geschichtlichkeit dieser Konventionen in einer gegenwärtigen Handlung zu beziehen und sie neu zu kodieren.“ 68 So kam es im Laufe der Zeit durch die unterschiedlichen performativen Handlungen von Homosexuellen zu einer Pluralisierung ihrer Identität. Am Beispiel der weiblichen Homosexualität lässt sich z.B. feststellen, dass sich im Zuge der sogenannten „neosexuellen Revolution“69 divergente „Typen“ bildeten: „Until the 1980s, fashion was one of the most important signifiers of lesbian sexuality and consisted of clear definitions of identities such as femme and butch. [...] By the early 1990s lesbian sexuality began to break free from the restrictive binary of femme-butch and began to explore the boundaries of representations [...] in mainstream and ‚underground‘ culture.“70

Zu den jüngeren Identitäten weiblicher Homosexualität werden unter anderem die „Lipstick Lesbians“71 oder auch androgyne Formen72 gezählt. Auszugehen ist jedoch davon, dass sich auch in dieser geschlechtlichen Kategorie der Homosexualität weitere heterogene Gruppierungen vorfinden lassen und permanent performativ hervorgebracht werden.73 Durch die angeführten Illustrationen, bezüglich der modernen Homosexualität und deren historische Gegebenheiten, ist es möglich eine Tendenz der Ent-

68 J. Butler: Für ein sorgfältiges Lesen, S. 123f. 69 V. Sigusch: Vom König Sex zum Selfsex, S. 229. 70 V. Karaminas: Born this way, S. 195ff. 71 Ebd., S. 209. Als „Lipstick Lesbians“ werden homosexuelle Frauen bezeichnet, die sich in traditionellen Weiblichkeitsschemata geben, z.B. hohe Schuhe oder Kleider tragen. 72 Vgl. ebd., S. 199. 73 Von besonderem Interesse erscheint mir in diesem Zusammenhang die Datierung der Pluralisierung der Homosexualität(en) auf die 1990er Jahre. Denn dies ist ebenfalls der Zeitraum, in dem es zu der Änderung der Auflistung von Homosexualität im ICD10 Katalog der WHO (in Deutschland) kam. M.E. ist davon auszugehen, dass die Transformationen des Homosexualitätsdiskurses sowie der institutionalisierten Formen als Effekte eines moralischen Wandels gelesen werden können. Für die Zukunft gehe ich davon aus, dass sich die Effekte der Veränderungen durch die Emanzipationsbewegungen weiter ausbreiten werden und zu erneuten sexuellen Formen führen, die wiederum weitere Anschlussmöglichkeiten zwischen den „Polen“ der Sexualität (hetero-, homosexuell) zur Verfügung stellen werden – bis die Differenz auf ein kleinstes minimiert ist.

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wicklung zu konstatieren, die eine Pluralisierung der sexuellen Identitäten aufzeigt. Im Umkehrschluss ist es ebenfalls möglich von der Pluralisierung des Phänomens der Homosexualität auf die Metaebene der Sexualität zu schließen und nach Foucault folglich die Repressionshypothese erneut zu verneinen. Foucault distanziert sich in Der Wille zum Wissen von der Hypothese, welche unter anderem von Freud getragen wurde, dass die Sexualität immer weiter unterdrückt worden sei.74 Dies widerlegt auch die Beobachtung der Ausdifferenzierung des Sexualitätsdispositivs innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte sowie die besondere Beachtung der Sexualität seit ihrer „Unterdrückung“. Des Weiteren ist eine Ausdifferenzierung des Dispositivs sowie der darin inhärenten Diskurse beobachtbar. Der oder die Homosexuelle ist nun nicht mehr nur eine Identität sondern eine Vielzahl an Identitäten: Die Butch, die Femme, die „Lipstick-Lesbe“, das Bärchen, der/die Androgyne, die/der Tomboy, die/der Sissiboy etc. In den unterschlichen homosexuellen Identitäten finden sich jedoch wiederum starre Normen, die Identität als solche erst konstituierten, ergo auch Abweichungen unterdrücken. Doch was würde geschehen, wenn die Festigkeit des normativen Korsetts gelöst werden würde? Ähnlich wie es das Konzept von queer verfolgt?

Q UEER

ALS SEXUELLE

H ETEROTOPIE

Queer „lebt“ quasi davon, dass es sich zu keiner Kategorie formen lässt. Die einzige Voraussetzung – wenn man so möchte – besteht darin, Offenheit für Rekombinationen und Transformationen von vermeintlich festen Kategorien zu gewähren75. Queer als Praxis hat demnach oft die Reflektion auf jene starren Konstruktionen, wie der „Natürlichkeit“ von Zweigeschlechtlichkeit oder Heterosexualität, zur Folge, indem es diese durch bewusste Umformung/Verschiebung (Transformation) resignifiziert.76 Dies geschieht dabei mit

74 M. Foucault: Wille zum Wissen, S. 23ff. 75 Queere Praktiken produzieren Komplexität und entverselbstständlichen die Naturhaftigkeit starrer Regeln der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit und Sexualität. Sie können dabei als Verflüssigung der statischen Geschlechterdichotomie auf der Ebene des Geschlechtskörpers, der Geschlechtsidentität und des Begehrens betrachtet werden. Vgl. P.-I. Villa: Natürlich Queer? So lässt sich z.B. anführen, dass “[s]ome queer identities have appeared recently [...] [as] guys with pussies, dykes with dicks, queer butches, [...], lesbians who like men , [...], drag kings, women who like to fuck like boys, [...], male lesbians” (ebd., S. 171). 76 Vgl. J. Butler: Unbehagen, S. 57; N. Degele: Männlichkeiten queeren, S. 29-42.

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einer latenten Zitation77 des historischen Diskurses (vgl. Performativ), welcher seinen Ursprung im 18. und 19. Jahrhundert nahm und in der heutigen Zeit noch immer präsent ist. So schwingt beispielsweise bei der performativen Zitation von homosexuellen Identitäten die „pathologisierte“ Komponente des Diskurses permanent mit. Doch bietet m.E. explizit die queere Zitation von Diskursen bezüglich sexueller Identitäten das Potential der Relativierung der geschichtlichen „Schwere“, welche die Thematik mit sich führt. Queer sehe ich als zwischen den moralischen Fronten von „Pathologisiertem“ und „Naturalisiertem“ liegend an, das durch dessen offene Position einen breiteren Raum für Anschlussmöglichkeiten und langanhaltende Resignifikationen von Phänomenen zur Verfügung stellt. Jene Verschiebungen basieren dabei auf den bereits existenten Mustern, die durch die Rekombination dieser in einem „neuen“ Licht erstrahlen und zudem infrage gestellt werden. Je nach „Lichtintensität“, die in den offenen Raum der Verschiebung fällt, erscheinen die geschichtlichen Schatten von Geschlechtlichkeit und folglich auch Sexualität, als Umrisse einer dunklen Gestalt, welche den Blick für die Diversität der menschlichen Existenzen bedeckt(e). Jener Ort könnte – mit Foucault betrachtet – als Heterotopie78 verstanden werden. Ein Raum, der die Schatten und das Licht im heterotopischen Sinne zusammenführt und diese in einem Ort vereint. In jenem Raum wird queer zugleich zu den Konturen des Schattens und denen des Lichts, denn nichts kann sein, wo das andere ist und doch steht es in einem reziproken Konstituierungsverhältnis. Es ist Grenze und Übergang im selben Moment – in einer Welt, in der das Spielen mit dem Zwielicht zum Spiel mit den Definitionen der menschlichen Existenz wird.

L ITERATUR Arolt, Volker/Reimer, Christian/Dilling, Horst: Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie, Heidelberg: Springer Medizin Verlag 2007. Anzaldúa, Gloria E.: Borderlands/La Frintera: The New Mestiza, San Francisco: Aunt Lute Books 1987. Bublitz, Hannelore: Judith Butler zur Einführung, Hamburg: Junius 2010.

77 Vgl. J. Butler: Unbehagen. 78 Als eine Eigenschaft von Heterotopien beschreibt Foucault u.a. die Zusammenführung von eigentlich unvereinbaren Räumen an ein und demselben Ort. Vgl. M. Foucault: Die Heterotopien, S. 9ff.

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Feministische Auseinandersetzungen und Perspektiven der Umweltsoziologie, Opladen: Leske + Budrich 2001, S. 161-179. Voß, Heinz-Jürgen: Geschlecht. Wider die Natürlichkeit, Stuttgart: Schmetterling Verlag 2011.

Nietzsche, Transhumanismus und drei Arten der (post)humanen Perfektion1 S TEFAN L. S ORGNER

Menschliche Perfektion ist ein Begriff, der in engem Bezug zur Tugendethik steht, die die vorherrschende ethische Theorie der antiken und mittelalterlichen Philosophie war. Er spielt in utilitaristischen und in deontologischen Ethiken keine explizit zentrale Rolle. Innerhalb der antiken und mittelalterlichen Traditionen ist das Konzept der menschlichen Vervollkommnung außerdem eng mit dem Begriff der eudaimonia verbunden, der bedeutet, dass ein guter daimon von jemandem besessen wird, wobei anzumerken ist, dass Dämonen Schicksalsgötter waren. Aus diesem Grund kann eudaimonia auch als Besitz eines guten Schicksals übersetzt werden. Heutzutage ist es üblich, eudaimonia mit dem guten Leben zu identifizieren. Innerhalb der Philosophiegeschichte gab es eine große Zahl von Antworten auf die Frage nach dem guten Leben. Plato betont, dass die Erkenntnis des Guten hinreichend für den Besitz der dazugehörigen Tugenden ist, sowie auch dafür, gemäß dieser Tugenden zu handeln, d.h. gemäß der vier Kardinaltugenden (Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung) zu handeln. Aristoteles hat dieser Einsicht widersprochen und dabei auf die akrasia, die Willensschwäche, verwiesen. Weiterhin hat er neben der Bedeutung der ethischen und dianoetischen Tugenden die Relevanz der externen (Freunde, guter Ruf, Familie) und der körperlichen (Gesundheit) Güter für ein gutes Leben betont. Stoiker wiederum vertreten die Einheit der Tugenden, was bedeutet, dass der Besitz einer Tugend notwendigerweise den aller anderen impliziert. Auch gehen sie davon aus, dass die Tugendhaftigkeit notwendig und hinreichend für ein gutes Leben ist. Die christliche Philosophie führte die Bedeutung der drei theologalen

1

Ich danke Dagmar Kiesel für ihre hilfreichen Anmerkungen.

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Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe, ein, wobei die Liebe unter direkter Berücksichtigung eines Paulus-Briefs (1. Kor. 13, 13) stets als wichtigste Tugend hervorgehoben wurde. Diese Tradition ist auch in gegenwärtigen Debatten noch stark vertreten. Vattimo geht davon aus, dass die Ethik, so wie sie von Jesus Christus im Neuen Testament vertreten wird, als eine postmoderne, pluralistische zu verstehen ist, solange diese auf der Grundlage der Liebe interpretiert werde. Diese Theorie ist seine Deutung von der folgenden Forderung des Augustinus: Liebe und tue, was Du will. Auch Sandel bezieht sich auf das Konzept der bedingungslosen Liebe, um zu verdeutlichen, dass es ein Laster darstelle, Enhancement-Technologien sowohl an sich selbst als auch an den eigenen Nachfahren anzuwenden. Die zentrale Relation aller dieser Reflexionen ist die zwischen der menschlichen Perfektion und dem guten Leben. Wenn du mäßig, mutig, weise und gerecht bist, dann lebst du ein gutes Leben (Platon). Wenn Du klug bist und somit phronêsis besitzt, dann weißt du, wie die verschiedenen ethischen und intellektuellen Tugenden, zu denen auch die Klugheit selbst zählt, auf angemessene Weise anzuwenden sind, was dir auch dabei behilflich sein kann, externe und körperliche Tugenden zu erlangen, wobei alle diese Eigenschaften die Wahrscheinlichkeit eines guten Lebens fördern (Aristoteles). Wenn du die Tugend der Liebe besitzt, dann lebst du ein gutes Leben (Augustinus). Auch einige Transhumanisten vertreten Vorschläge hinsichtlich von Konzeptionen des guten Lebens und den menschlichen Perfektionen, die notwendig sind, ein solches realisieren zu können. Bostrom bezieht sich etwa auf Pico della Mirandola und schlägt ihn als Ahnherren des Transhumanismus vor, da auch Pico vertritt, „that Man does not have a ready‐made form and is responsible for shaping himself“.2 Bostrom verweist auf Pico als einen führenden Vertreter eines Renaissance-Humanismus, und es sei, aus seiner Sicht, diese Grundhaltung, die, wie auch der Transhumanismus, „created the ideal of the well ‐ rounded person, one who is highly developed scientifically, morally, culturally, and spiritually“. 3 Diese Einschätzungen sind in vielfacher Hinsicht unzutreffend. Pico della Mirandola gehört nicht zur Tradition des Renaissance-Humanismus, der auf bedeutende Weise etwa durch Giannozzo Manetti repräsentiert wird. Dieser glorifiziert die körperlichen Aspekte der menschlichen Existenz, wobei er die Welt jedoch noch immer aus einer christlichen Perspektive deutet. Pico della Mirandola ist ein führender Vertreter des Renaissance-Neuplatonismus. Obwohl dieser anerkennt, dass Menschen die Freiheit besitzen, sich selbst so zu formen, wie es im

2

N. Bostrom: A History of Transhumanist Thought, S. 2.

3

Ebd.

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eigenen Interesse ist, so betont er ebenso, dass die menschliche Perfektion in der unio mystica bestehe, deren Erlangung hauptsächlich dadurch gefördert werden könne, indem man sich selbst von irdischen Belangen reinige. Die menschliche Perfektion aus der Sicht Picos bestehe in der Reinigung von allen irdischen Anliegen, sodass die Wahrscheinlichkeit einer mystischen Einheit mit dem Einen, dem hen, erhöht wird. Da seine Philosophie eine christlich-neuplatonische ist, so kann das Eine bei ihm auch mit Gott identifiziert werden. Aus Picos Sicht werde dieser Prozess durch die intellektuellen Tugenden gefördert. Eine wohlgeformte, abgerundete Persönlichkeit, wie sie von Bostrom bejaht wird, ist gewiss nicht mit Picos Ideal der Perfektion zu identifizieren.4 Ausgehend von der Tatsache, dass Bostroms historische Inspiration für sein Ideal der menschlichen Perfektion auf einem Missverständnis beruht, folgt selbstredend nicht, dass das von ihm vorgeschlagene Ideal falsch ist. Ich werde jedoch aufzeigen, dass dies der Fall ist. Innerhalb dieser Abhandlung erörtere ich seine Konzeption der Perfektion auf kritische Weise. Ebenso werde ich die Vorstellungen von Savulescu analysieren, die eine etwas schwächere ist, die jedoch trotzdem als eine detaillierte Beschreibung menschlicher Perfektion bezeichnet werden kann. In diesem Kontext reflektiere ich auch die Plausibilität von beiden vorgeschlagenen Konzepten. Auf Savulescus Konzept gehe ich in diesem Kontext ein, da es sich um eine komplexes und wohl durchdachtes handelt, das in einem engen Bezug zum transhumanistischem Denken steht, obwohl er sich selbst nicht als Transhumanist bezeichnet. Aufgrund des unmittelbaren Konnexes zwischen den Konzepten menschlicher Perfektion und denen eines guten Lebens, werde ich auch auf beide Begriffe in diesem Zusammenhang zurückgreifen. Eine Beschreibung menschlicher Perfektion thematisiert die Bedingungen, die notwendig für ein gutes Leben sind. Wenn nach den Bedingungen eines guten Lebens gefragt wird, dann kann hierauf mittels einer Analyse menschlicher Perfektion geantwortet werden. Hierbei unterscheide ich starke und schwache Konzepte des Guten, wobei ich mich an den Gebrauch dieser Unterscheidungen bei Nussbaum anlehne.5 Eine starke Konzeption des Guten präsentiert eine Beschreibung von Haltungen und Elementen eines guten Lebens, die alle Bereiche des guten Lebens beinhalten, was hingegen bei einer schwachen Konzeption des Guten nicht der Fall ist. Wenn die Haltungen und Elemente eines guten Lebens auf komplexe Weise beschrieben werden, dann kann das Konzept als detailliert

4

Im Rahmen einer anderen Ausführung habe ich Picos Philosophie auf komplexe Weise insbesondere hinsichtlich seiner ethischen Überlegungen analysiert (vgl. S.L. Sorgner: Menschenwürde, S. 65-81).

5

Vgl. M.C. Nussbaum: Gerechtigkeit oder das gute Leben, S. 28.

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bezeichnet werden. Falls dies nicht der Fall sein sollte, handelt es sich um ein vages Konzept. Ein traditionelles katholisches Konzept des Guten umfasst alle Bereiche des Lebens. Daher handelt es sich um starke Konzepte. Weiterhin gehen sie auf spezifische Bedingungen eines guten Lebens ein, weshalb die Konzeptionen auch detailliert sind und als starke und detaillierte Konzeptionen des Guten bezeichnet werden können. Nussbaums eigenes Konzept des Guten umfasst zwar alle Lebensbereiche, jedoch fordert es nur sehr allgemeine Handhabungen hinsichtlich der unterschiedlichen Bereiche,6 weshalb ihre Ethik ein starkes, aber vages Konzept des Guten beinhaltet. So beschreibt sie auch selbst ihre eigene Position. Eine philosophische Position, die ausschließlich die Bedeutung einer bestimmten Dimension eines guten Lebens betont, kann als schwaches Konzept des Guten kategorisiert werden. Es hängt weiterhin davon ab, ob das spezifische Element auf komplexe oder einfache Weise beschrieben wird, ob die vorgeschlagene Position als schwach und detailliert oder schwach und vage zu kennzeichnen ist. Savulescus Vorschlag bejaht ein schwaches, aber detailliertes Konzept des Guten, da es nur einige ausgewählte Bereiche menschlichen Lebens umfasst, diese jedoch auf detaillierte Weise beschreibt. Bostroms Vorschlag hingegen ist als starkes Konzept des Guten zu bezeichnen, das in vielerlei Hinsicht auch als detailliert beschrieben werden muss. Beide Vorschläge repräsentieren Hauptströmungen des Transhumanismus. Ich werde hier aufzeigen, warum beide Vorschläge unplausibel sind, und ich werde weiterhin für ein abweichendes Konzept des Guten argumentieren, das als schwaches und vages Konzept des Guten klassifiziert werden kann. Auch mein Vorschlag gehört in die transhumanistische Tradition. Er ist jedoch ebenso auf entscheidende Weise durch Nietzsche und posthumanistisches Denken beeinflusst. Einige weitere Erläuterungen hinsichtlich des Gebrauchs der Begriffe Post- und Transhumanismus sind hier wohl unerlässlich. Transhumanisten bejahen den Gebrauch von Technologien zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Posthumanen. Der Begriff des „Posthumanen“ ist dabei ein offener. Das Posthumane kann eine Silizium-basierteEntität im Cyberspace sein, er kann jedoch auch für eine Kohlenstoff-basierteEntität stehen, die entweder nicht mehr zur menschlichen Art zählt oder noch zur menschlichen Art zählt, aber zumindest eine Eigenschaft besitzt, die über die Fähigkeiten hinausgeht, die gegenwärtig lebende Menschen haben. Eine starke Version des Transhumanismus bejaht, dass eine moralische, aber keine legale Verpflichtung hinsichtlich des Gebrauchs von bestimmten Enhancement-

6

Vgl. ebd.

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Techniken besteht. Der bioliberale7 Julian Savulescu, der zwar kein Transhumanist ist, jedoch dieser Bewegung nahe steht, repräsentiert eine solche Grundhaltung.8 Eine andere starke Version des Transhumanismus vertritt, dass ein notwendiger Konnex zwischen bestimmten Enhancement-Techniken und dem guten Leben besteht, wobei diese Einsicht auch für gesetzliche Regelungen relevant sein sollte. Aubrey de Grey kann als Repräsentant dieser Position gelten.9 Eine schwache Version des Transhumanismus hingegen könnte davon ausgehen, dass Enhancement-Techniken zwar die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Menschen ein gutes Leben führen, ohne dass diese Einsicht jedoch notwendige gesetzliche und moralische Pflichten nach sich ziehen muss. Diese Haltung könnte durchaus einige Konsequenzen hinsichtlich der Frage nach gesetzlichen und moralischen Rechten implizieren.10 Im Unterschied zu Transhumanisten sind Posthumanisten primär um nichtdualistisches Denken und Handeln bemüht. Eine starke Variante dieser Grundhaltung geht davon aus, dass sich Menschen ausschließlich auf graduelle Weise von anderen natürlichen Wesen unterscheiden und dass diese Einsicht gesetzlich verpflichtend verankert werden sollte. Peter Singer kann als Vertreter einer solchen Auffassung gelten.11 Eine schwache Version des Posthumanismus hingegen bejaht zwar ebenso, dass sich Menschen und andere natürliche Lebewesen ausschließlich auf graduelle Weise unterscheiden, jedoch sollte diese Einsicht keine gesetzlich verpflichtende, sondern ausschließlich eine gesetzlich legitime sein, d.h. es sollte nicht gesetzlich unmöglich sein, gemäß dieser Haltung zu denken und zu handeln.12 Die hier vorgestellte Perspektive stellt eine schwache Version sowohl des Trans- als auch des Posthumanismus dar und repräsentiert damit eine alternative Grundhaltung, die zwischen diesen beiden Bewegungen angesiedelt ist. Aus diesem Grund kann sie auch als Metahumanismus bezeichnet werden. Sie befindet sich „jenseits“ des Humanismus, aber auch „in der Mitte zwischen“ Trans- und Posthumanismus. Der Ausdruck „Meta“ umfasst sowohl die Bedeutung des

7

Bioliberale betonen das Recht auf Freiheit hinsichtlich rechtlicher Fragen zu bioethischen Herausforderungen. Biokonservative gehen andererseits von dem Vorrang einer gemeinsamen Konzeption des Guten aus, woraus sich in der Regel eine restriktivere Haltung zu bioethischen Fragen ergibt, z.B. bei Habermas.

8

Vgl. J. Savulescu/G. Kahane: The Moral Obligation.

9

S. A. De Grey: Ending Aging, S. 335-339.

10 Vgl. S.L. Sorgner: Evolution und ders.: Dignity. 11 Vgl. P. Singer: Animal Liberation und ders: Practical Ethics. 12 Vgl. S.L. Sorgner: Human Dignity.

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„jenseits von“ als auch die des „in der Mitte zwischen“. Der Metahumanismus, der zu den Neo-Nietzscheanischen und Neo-Herakliteischen Traditionen zählt, stellt eine inklusive Alternative zu den anderen beiden Denktraditionen dar.13 Indem zentrale Momente und Konzepte beider Bewegungen auf ausgewogene Weise berücksichtigt wurden, wurde der Metahumanismus entwickelt. Die Konzeptualisierung beruht auch auf der Einsicht, dass beide Bewegungen sich nicht so stark voneinander unterscheiden, wie dies häufig von Vertretern beider Traditionen angenommen wird (Posthumanismus als Antihumanismus vs. Transhumanismus als Hyperhumanismus). Einige zentrale Einsichten (nichtdualistische Anthropologie; keine kategoriale Mensch-Tier-Unterscheidung) werden innerhalb beider Bewegungen vertreten. Indem zentrale Forderungen beider Zugänge weiterhin abgeschwächt werden, werden potentiell gewalttätige implizite Forderungen aus beiden Traditionen abgemildert. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit der menschlichen Möglichkeiten gefördert, gute, florierende und erfüllte Leben zu führen. Indem die Herausforderungen, die mit dem Anspruch von universal gültigen nicht-formalen Konzepten des Guten, besonders fokussiert angegangen werden, treten zahlreiche Gründe zu Tage, die die Bedeutung einer radikal pluralistischen Konzeption des Guten unterstreichen. Nachdem ich einige zentrale intellektuelle Hintergründe zur Frage nach der menschlichen Perfektion erläutert habe, kann ich nun die zentralen Argumentationsstränge des vorliegenden Artikels kurz zusammenfassen. In dieser Abhandlung unterscheide ich drei transhumanistische Konzepte des guten Lebens und zeige Gründe auf, die die Plausibilität einer dieser drei Theorien unterstreicht. Hier behandle ich die folgenden drei Auffassungen: 1. Das Renaissance-Ideal, das etwa von Bostrom in einem Artikel aus dem Jahr 2001 vertreten wird; 2. Das Common-Sense-Konzept des Guten, das mit Savulescu assoziiert werden kann,14 3. Ein radikal pluralistisches Verständnis des Guten: Dieses Konzept wurde auf entscheidende Weise durch Nietzsche inspiriert und ist dasjenige, dessen Plausibilität hier aufgezeigt wird.15 Ich beschreibe die verschiedenen Theorien und analysiere dabei deren Plausibilität. Der Begriff der Plausibilität ist eng mit den folgenden drei Elementen verbunden: Urteile sind plausibel, wenn 1. sie von einer großen Interessengruppe bejaht werden, 2. sie durch die neuesten wissen-

13 Vgl. J. Del Val/S. Sorgner: A Metahumanist Manifesto. 14 Vgl. J. Savulescu: Procreative Beneficence und J. Savulescu/G. Kahane: The Moral Obligation. 15 Vgl. S.L. Sorgner: Menschenwürde nach Nietzsche.

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schaftlichen Einsichten unterstrichen werden und 3. sie einen Bezug zur Norm der negativen Freiheit haben.16

D AS R ENAISSANCE -I DEAL Obwohl das Renaissance-Ideal hin und wieder von einigen Autoren als ein gültiges bejaht, und es in öffentlichen Debatten meist mit dem Transhumanismus assoziiert wird, muss festgestellt werden, dass es eher schwierig ist, einen Denker zu finden, der diese Position über einen längeren Zeitraum vertritt. Bostrom argumentiert für das Renaissance-Ideal in einem Artikel von 2001, jedoch muss herausgestellt werden, dass er in darauffolgenden Publikationen seine Position verändert und abgeschwächt hat.17 In seiner Abhandlung aus dem Jahr 2001 geht er jedoch von folgender Einschätzung aus: „Transhumanism imports from secular humanism the ideal of the fully-developed and well-rounded personality. We can’t all be renaissance geniuses, but we can strive to constantly refine ourselves and to broaden our intellectual horizons.“18

Zwei Einsichten werden hier unmittelbar offenkundig. Bostrom sieht den Transhumanismus in der säkular-humanistischen Tradition der Aufklärung. Auch geht er davon aus, dass der Transhumanismus aus dieser Tradition das Ideal der „fully-developed and well-rounded personality“19 übernommen und es anschließend weiterentwickelt und in eine transhumanistische Geisteswelt integriert hätte. Diese Haltung impliziert, dass alle Menschen eigentlich gerne „Renaissance geniuses“20 werden würden, obwohl es offenkundig ist, dass diese Zielsetzung keine machbare Option darstellt. Indem man sich jedoch des Wunsches bewusst ist und dessen Existenz anerkennt, so Bostrom, sei es für Menschen trotzdem möglich, sich um Folgendes zu bemühen: „strive to constantly refine ourselves and to broaden our intellectual horizons“.21 Trotz der Tatsache, dass Bostrom ein solch starkes Konzept des Guten vertritt, besteht kein Zweifel daran, dass die meisten Transhumanisten (inklusive

16 Vgl. S.L. Sorgner: Paternalistic Cultures, S. 55-60. 17 Vgl. z.B. N. Bostrom: Why I want to be a Posthuman. 18 N. Bostrom: Transhumanist Values. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd.

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Bostrom selbst) auf der politischen Basis einer Version des Liberalismus argumentieren. Trotzdem sind die verschiedenen innerhalb des Transhumanismus vertretenen Versionen des Liberalismus durchaus weit voneinander unterschieden. Libertäre Denker wie Max More sind ebenso anzutreffen wie eher sozialliberale, z.B. James Hughes.22 Es ist weiterhin der Fall, dass kein logischer Konflikt zwischen der Bejahung einer starken Konzeption des Guten und der Bejahung einer Variante des politischen Liberalismus bestehen muss, der Bewohnern eines Landes erlaubt, nach einer großen Vielzahl von Lebensmodellen ihr Leben zu führen. Die gleiche Spannung ist auch bei Savulescu zu finden, der eine detaillierte Konzeption des Guten vertritt, die sogar eher rigide moralische Pflichten nach sich zieht, der jedoch gleichzeitig für ein libertäres politisches Modell eintritt.23 Interessanterweise lässt sich diese Art von Spannung ebenso im Denken Nietzsches finden. Einerseits betont er, dass sich die Physiologien der Menschen radikal differieren, was dafür verantwortlich ist, dass sich deren Konzeptionen des guten Lebens stark voneinander unterscheiden können. Andererseits betont er die Bedeutung des klassischen Ideals, das er mit großer Stärke und Macht identifiziert.24 Die folgenden drei Aussagen stellen Hinweise auf die Relevanz und die Bedeutung des klassischen Ideals für Nietzsches Philosophie dar. Selbstredend muss hier hinzugefügt werden, dass sein Verständnis des klassischen Ideals nicht nur für den Bereich des guten Lebens von Bedeutung ist, sondern ebenso in anderen Sektoren eine Anwendung finden soll, wie denen der kulturellen, künstlerischen und literarischen Kreationen: „Der höchste Typus: das klassische Ideal – als Ausdruck eines Wohlgeratenseins aller Hauptinstinkte. Darin wieder der höchste Stil: der große Stil. Ausdruck des ‚Willens zur Macht‘ selbst. (Der am meisten gefürchtete Instinkt wagt sich zu bekennen).“25 „Der klassische Stil stellt wesentlich diese Ruhe, Vereinfachung, Abkürzung, Konzentration dar – das höchste Gefühl der Macht ist konzentriert im klassischen Typus.“26

22 Vgl. J. Hughes: Politics. 23 Vgl. J. Savulescu: Procreative Beneficence und J. Savulescu/G. Kahane: The Moral Obligation. 24 Vgl. S.L. Sorgner: Metaphysics, S. 39-65. 25 F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1887-1889, S. 63. 26 Ebd., S. 240.

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„Der klassische Geschmack: das ist der Wille zur Vereinfachung, Verstärkung, zur Sichtbarkeit des Glücks, zur Furchtbarkeit, der Mut zur psychologischen Nacktheit.“27

Sowohl bei Bostrom als auch bei Nietzsche handelt es sich bei dem RenaissanceGenie bzw. dem klassischen Ideal, um eine „fully-developed and well-rounded personality“, die darum bemüht ist, „to constantly refine“ sich selbst.28 Diese kann weiter mit den folgenden Eigenschaften assoziiert werden: „Ruhe, Vereinfachung, Abkürzung, Konzentration […] – das höchste Gefühl der Macht“,29 einem „Ausdruck eines Wohlgeratenseins aller Hauptinstinkte“30 und einem „Wille[n] zur Vereinfachung, Verstärkung, zur Sichtbarkeit des Glücks“.31 Diese Beschreibung lässt sich auch in eine etwas zugängigere Sprache übersetzen. Dieses Ideal wäre dann mit körperlicher Schönheit, Stärke und Gesundheit, intellektueller und kognitiver Vortrefflichkeit, philosophischer Weisheit und Wissen und künstlerischer und musikalischer Feinfühligkeit und ebensolchen Fähigkeiten zu identifizieren, die in einer ausgewogenen und treffend integrierten Persönlichkeit miteinander koexistieren. In anderen Worten kann das Renaissance-Genie mit Einstein, mit dem Körper von Schwarzenegger, dem Gesicht von Johnny Depp und der Weisheit des Aristoteles identifiziert werden. Zumindest träfe eine solche Beschreibung auf die männliche Variante des Renaissance-Ideals zu. Das weibliche Renaissance-Genie könnte als Marie Curie mit dem Körper von Heidi Klum, dem Gesicht von Kate Moss und der Weisheit der Hildegard von Bingen beschrieben werden. Diese Konzeption des Guten impliziert, dass die Wahrscheinlichkeit, ein gutes Leben zu führen, gefördert werden würde, wenn man kontinuierlich darum bemüht ist, die eigenen Fähigkeiten in Bezug auf die verschiedenen Facetten der eigenen Existenz zu stärken. Durch Sport könnte die eigene Schönheit und Stärke entwickelt werden. Durch das Musizieren würde die Fähigkeit, Musik zu machen und sie wertzuschätzen, gesteigert werden. Durch das Auswendiglernen von Gedichten könnte die Erinnerungsfähigkeit verbessert werden. Diese Liste könnte ohne weiteres erweitert werden, indem die verschiedenen Möglichkeiten aufgezählt werden, durch welche die mit dem Renaissance-Genie verbundenen Eigenschaften gefördert werden. Um die Wahrscheinlichkeit eines guten Lebens zu erhöhen, sollten diese Eigenschaften jedoch nicht nur durch traditionelle

27 Ebd., S. 18. 28 N. Bostrom: Transhumanist Values. 29 F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1887-1889, S. 240. 30 Ebd., S. 63. 31 Ebd., S. 18.

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Techniken vorangebracht werden, sondern auch die Berücksichtigung der im Entstehen begriffenen Techniken kann und soll diese Entwicklung fördern. Morphologisches Enhancement, z.B. plastische Chirurgie, pharmakologisches Enhancement, z.B. durch die Einnahme von Ritalin, genetisches Enhancement und Cyborg-Enhancement, z.B. der Gebrauch der tiefen Hirnstimulation, könnten angemessene Mittel sein, um dem Ideal eines Renaissance-Genies näher zu kommen.

D AS C OMMON -S ENSE -K ONZEPT

DES

G UTEN

Ein nur auf den ersten Anschein hin schwächeres Konzept des Guten als das gerade analysierte ist das von Savulescu vertretene Common-Sense-Konzept des Guten. Bei genauerer Analyse stellt es sich jedoch ebenso als ein stärkeres Konzept heraus, da es sich um ein detailliertes Konzept des Guten handelt. Dies hat folgende Gründe. Es ist aus Savulescus Sicht nicht kontrovers, dass es so etwas wie ein bestes Leben gibt: „A common objection to the PB is that there is no such thing as a better or best life. It is hard to defend such a claim.“32 Mit der Abkürzung PB meint er das von ihm vertretene Principle of Procreative Beneficence, also das Prinzip der Fortpflanzungs-Wohltätigkeit, das ich bereits an anderer Stelle kritisiert habe.33 Weiterhin ist es für ihn offenkundig, dass wir die Qualität von Leben auf der Basis angemessener Kriterien bewerten: „there are plenty of cases where we can rank the goodness of lives. We do so in numerous moral decisions in everyday life“.34 Er betont sogar, dass das von ihm vertretene Konzept auf einem nicht kontroversen Common-Sense-Konsens beruhe, den wir bereits in zahlreichen Alltagssituationen anwenden sollen:

32 J. Savulescu/G. Kahane: The Moral Obligation, S. 278. 33 Das Prinzip der Fortpflanzungs-Wohltätigkeit wurde von Savulescu entwickelt, um die moralische aber nicht die rechtliche Pflicht zu verdeutlichen, nach der künstlichen Befruchtung und der Präimplantationsdiagnostik die befruchteten Eizellen auszuwählen, die die höchste Wahrscheinlichkeit auf ein gutes Leben besitzen, da diese Vorgehensweis die besten moralischen Konsequenzen mit sich bringe. In einem jüngst erschienenen Beitrag habe ich erläutert, warum dieses Prinzip nicht als moralisches sondern vielmehr als unmoralisches angesehen werden sollte, vgl. S.L. Sorgner: Is there a „Moral Obligation“? S. 199-212. 34 J. Savulescu/G. Kahane: The Moral Obligation, S. 279.

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„But although there is this philosophical disagreement, there is considerable consensus about the particular traits or states that make life better or worse, a consensus that would rule out many procreative choices as grossly unreasonable [...] PB doesn't rely on some special and controversial conception of well-being. All it asks us is to apply in our procreative decisions are the same concepts we already employ in everyday situations.“35

Aufgrund seiner Überzeugung, dass wir uns angemessener Kriterien eines Common-Sense-Konzepts des guten Lebens bewusst seien, ist es wenig überraschend, dass er dieses auch genauer beschreibt. In diesem Zusammenhang wird jedoch deutlich, dass sein Konzept weniger offenkundig und spezifisch ist als es aufgrund seiner Äußerungen erschienen haben mag. So betont er, dass es schlecht sei, eine Anlage für Depressionen36 oder eine Behinderung37 zu besitzen. Gut hingegen sei es, ein starkes Gedächtnis und eine scharfe Intelligenz zu haben,38 gemäß eines Artikels von 2001. In einem Artikel aus dem Jahr 2009 scheinen ein gutes Gedächtnis und die Fähigkeit, sich ausdauernd konzentrieren und sich leicht in Gefühle anderer Menschen einfühlen zu können, von zentraler Bedeutung zu sein, da er folgende Position äußert: „How can the capacity to remember things better, concentrate longer, be less depressed, or better understand other people’s feelings have the effect that one will be less likely to achieve the good life?“39

Eine hohe Intelligenz sei ebenfalls für ein gutes Leben von zentraler Bedeutung: „If parents could increase the prospects of future children’s lives by selecting children who are far more intelligent, emphatic or healthier than existing people, than PB instructs parents to select such future children.“40

Ich bin mir jedoch nicht im Klaren, ob alle Implikationen seiner Theorie des Guten unmissverständlich durch Savulescu beschrieben wurden. Will er mit seinen Äußerungen etwa sagen, dass jeder Mensch notwendigerweise ein besseres Leben führt, wenn er eine höhere Intelligenz, ein stärkeres Gedächtnis oder eine

35 Ebd. 36 Ebd., S. 281. 37 Ebd., S. 286. 38 Vgl. J. Savulescu: Procreative Beneficence, S. 420. 39 J. Savulescu/G. Kahane: The Moral Obligation, S. 284. 40 Ebd., S. 290.

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länger währende Konzentrationsfähigkeit besitzt? Ich hätte jedenfalls große Zweifel daran, dass diese Aussagen zutreffend sind. Gegen eine gut funktionierende Erinnerungsfähigkeit kann wenig gesagt werden, und ich selbst wäre sicherlich gerne im Besitz eines besser funktionierenden Gedächtnisses, jedoch ist mir auch die Bedeutung der Fähigkeit bewusst, etwas vergessen zu können. Wenn ich mir beständig aller schlimmen Handlungen bewusst wäre, die mir Menschen angetan haben, oder wenn mir ständig alle möglichen Gefahren meines Handelns bewusst wären, dann würde ich mich wohl aus der menschlichen Zivilisation zurückziehen und alleine auf einer einsamen Insel leben. Aus diesem Grund habe ich Zweifel an der Einschätzung, dass jede Steigerung der Erinnerungsfähigkeit notwendigerweise die Fähigkeit fördert, ein gutes Leben zu führen, woraus Savulescu sogar die moralische Pflicht ableitet, nach der künstlichen Befruchtung und anschließenden Präimplantationsdiagnostik stets die befruchtete Eizelle mit dem besseren Gedächtnis auszuwählen. Ebenso kann hinterfragt werden, ob jede Steigerung der Intelligenz notwendigerweise im Interesse eines Menschen ist. Wenn ein Kind in einem abgelegenen Gebiet alleine eine herausragende Intelligenz besitzt, während die Personen seines sozialen Umfelds geistig eher einfältiger Natur sind, dann hätte ich Zweifel an der Aussage, dass die besondere Intelligenz des Kindes notwendigerweise in dessen Interesse ist, da die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass es aus dem sozialen Leben der Gemeinschaft ausgeschlossen wird. Die gesellschaftlichen Randbedingungen scheinen hinsichtlich der genauen Bestimmungen der mit einem guten Leben verbundenen Eigenschaften von enormer Bedeutung zu sein. Auch Savulescu scheint sich der Bedeutung und Relevanz dieser Überlegung in der Zeit zwischen den Jahren 2001 und 2009 bewusst geworden zu sein. Dies trifft insbesondere auf die Frage nach der Behinderung zu, die jedoch auch auf andere Lebensbereiche ausgedehnt werden kann und sollte. In einem Artikel aus dem Jahr 2001 vertritt er diesbezüglich noch folgende Position: „The reason is that it is bad that blind and deaf children are born when sighted and hearing children could have been born in their place“.41 In seinem Beitrag aus dem Jahr 2009 hingegen hat er seine Betrachtungsweise der Frage der Behinderung weiterentwickelt: „In this final section we shall argue that PB provides a better approach to the question of disability than the competing procreative principles.“42 Aus der Sicht von Savulescu und Kahane müsse folglicherweise betont werden, dass „disability is a context and person-relative concept. What may make it harder to lead a good life in one circumstance may make it easier in an-

41 J. Savulescu: Procreative Beneficence, S. 423. 42 J. Savulescu/G. Kahane: The Moral Obligation, S. 284.

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other“.43 Als Konsequenz dieser revidierten Einschätzung der Frage der Behinderung betonen Savulescu und Kahane, dass „[…] on our account of disability, people do have reasons not to have a future child who is likely to be disabled if they have the option of choosing another who is expected to less or no disability, although whether it would be wrong to do so would depend on the overall balance of moral reasons.“44

Beide Ethiker kommen sogar zur folgenden Aussage aufgrund ihres neuen Verständnisses von Behinderung: „If a case can be made that deafness is not a disability in our sense – if it can be shown that deafness does not reduce well-being, or at least that in a given context deafness is not expected to be a disability, then PB would not give any moral reason not to select deafness.“45

Diese letzten Hinweise sind hochinteressant und durchaus in vielerlei Hinsicht als plausibel zu bezeichnen. Jedoch frage ich mich weiterhin, welche Aspekte seiner Überlegungen in der Tat die Grundlage seines Verständnisses des Guten ausmachen, auf denen auch sein Prinzip der Fortpflanzungs-Wohltätigkeit beruht. In seinen Schriften ist eine große Bandbreite von Aussagen zum guten Leben zu finden, die sich zum Teil auch gegenseitig widersprechen. Häufig scheint es der Fall zu sein, dass er eine andere Theorie des Guten für jeden schwierigen Einwand seiner Kritiker hat. Einerseits vertritt er eine perfektionistische Theorie des Guten, die mit der Forderung der Steigerung der Intelligenz, der Gesundheit, der Erinnerungsfähigkeit und weiterer Anlagen identifiziert werden kann. Andererseits bezieht er sich auf Aussagen, die „wir“ mit dem guten Leben verbinden, weshalb seine Theorie auch als Common-Sense-Konzeption bezeichnet werden kann. Gleichzeitig bin ich mir durchaus bewusst darüber, dass große Gruppen westlicher Bürger das gute Leben wahrscheinlich nicht mit einer Perfektionierung kognitiver Fähigkeiten identifizieren würden. Diese Vermutung wird durch die Tatsache untermauert, dass US-Mütter, die Spermien bestellten, stärker an Spermien von gut aussehenden und sportlichen Elitestudenten interessiert waren als an solchen von Nobelpreisträgern.46 Diese Tatsache scheint eher für das Re-

43 Ebd., S. 286. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 289. 46 Vgl. R. Caplan: Selfish Reasons, S. 156.

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naissance-Ideal des Guten als für Savulescus Position zu sprechen. Savulescu könnte jedoch durchaus gegen meinen Einwand argumentieren, indem er herausstellt, dass diese Tatsache gar keinen Hinweis gegen die Plausibilität seiner Auffassung liefert. Auch bei den erwähnten US-Müttern spielt die Intelligenz eine wichtige Rolle, da sie sich schließlich für Samen von Elite-Studenten interessierten. Weiterhin muss jedoch noch Savulescus Äußerung erwähnt werden, dass sein Prinzip PB neutral hinsichtlich klassischer Auffassungen des guten Leben sei, was zumindest nicht offenkundig mit seinen vorangegangenen Urteilen in Einklang gebracht werden kann: „PB is neutral with respect to such philosophical disputes about the nature of the good life.“47 Es könnte diesbezüglich wohl argumentiert werden, dass PB mit einer großen Anzahl von Konzepten des Guten in Einklang gebracht werden könne, da es als logisch unabhängig von diesen aufgefasst werden kann. Er verbindet sein Konzept jedenfalls mit dem CommonSense-Verständnis, da er es als universal gültiges Konzept des Guten vertritt. Primär fokussiert sein Common-Sense-Konzept auf die folgenden Eigenschaften, die aus seiner Sicht notwendige Bestandteile jedes guten Lebens seien: A Nicht behindert zu sein, wobei Behinderung eine kontextabhängige Eigenschaft ist. B Keine Veranlagung für geistige Erkrankungen zu besitzen. C Eine gute Gesundheit zu haben. D Starke Konzentrations-, Erinnerungs- und Empathie-Fähigkeiten zu besitzen. E Eine hohe Intelligenz. Die Punkte A-C können unter der Kategorie Gesundheit subsummiert werden und D und E fallen eher unter die Kategorie kognitive Fähigkeiten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das Common-Sense-Konzept vom Renaissance-Ideal unterscheidet, da dieses auch den Besitz starker körperlicher Fähigkeiten fordert, wie Kraft, Schönheit und Sportlichkeit zu besitzen, was das Common-Sense-Konzept des Guten nicht verlangt. Aus meiner Sicht ist es sinnvoll, dass körperliche Fähigkeiten wie Kraft, Schönheit und Sportlichkeit nicht zur notwendigen Eigenschaftsliste des guten Lebens gehören, da zahlreiche intuitive Gründe gegen die Inklusion dieser Eigenschaften als notwendig zum guten Leben gehörend sprechen. Z.B. scheint Serge Gainsbourg ein erfülltes Leben genossen zu haben, ohne herausragende körperliche Eigenschaften zu besitzen, zumindest wenn man das klassische bzw. das Renaissance-Ideal als Standard an-

47 J. Savulescu/G. Kahane: The Moral Obligation, S. 279.

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legt. Philosophische Gründe zur Untermauerung dieser Position werde ich im nächsten Abschnitt vorbringen.

E IN RADIKAL DES G UTEN

PLURALISTISCHES

V ERSTÄNDNIS

Es mag durchaus einige Menschen geben, die die bislang erwähnten Vorschläge zur menschlichen Perfektion für nicht so schlecht und vielleicht sogar für plausibel erachten. Im vorangegangenen Teil habe ich bereits Gründe dafür genannt, warum eine Stärkung der kognitiven Fähigkeiten nicht notwendigerweise im Interesse aller Menschen sein könnte. Ein weiterer von der Common-SenseKonzeption in den Mittelpunkt gerückter Begriff ist der der Gesundheit. Diesbezüglich sollte jedoch ein Argument berücksichtigt werden, das auch philosophische Zweifel am Renaissance-Ideal deutlich hervortreten lässt. Die Eigenschaft „Gesundheit“ ist eine von vielen Denkern bejahte. Sogar der Biokonservative Habermas akzeptiert die Gesundheit als Allzweckgut und erlaubt genetische Interventionen, um diese zu fördern.48 Jedoch erkennen Denker wie Habermas und Savulescu auf keine angemessene Weise die philosophischen Anforderungen, was es bedeutet, dass ein Urteil universal gültig ist. Dieses impliziert nämlich, dass es auf alle Entitäten der menschlichen Gattung zu jeder Zeit und unabhängig ihrer persönlichen und kulturellen Umstände und ihrer psychophysiologischen Verfasstheit zutrifft. Die psychophysiologischen Anforderungen sind für die Bedingungen einer guten Lebensführung verantwortlich, und diese Anforderungen unterscheiden sich radikal von Person zu Person und von Zeit zu Zeit, da sie sich außerdem noch innerhalb der verschiedenen Lebensphasen wandeln. Ich spreche bewusst von psychophysiologischen Anforderungen, um auf die intime Verknüpfung der zwei Fähigkeiten zu verweisen, die traditionell als kulturell getrennt aufgefasst wurden, indem auf sie als immaterielle Seele und materieller Körper verwiesen wurde, was eine gegenwärtig höchst unplausible Auffassung der menschlichen Konstitution angesehen wird. Eine nicht-dualistische, relationale Beschreibung des Menschseins ist eine vielversprechende Beschreibung des Menschen – oder sollte ich in diesem Bezug vielleicht sogar vom Metahumanen sprechen, schließlich scheint das Konzept des Menschen für viele Menschen weiterhin die Bejahung der immateriellen Seele und des körperlichen Leibs zu implizieren.49

48 J. Habermas: Die Zukunft, S. 48, 92. 49 Vgl. J. Del Val/S.L. Sorgner: A Metahumanist Manifesto, S. 1-4.

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Aufgrund der psychophysiologischen Anforderungen sollten menschliche Präferenzen, die sich von denen der Mehrheit unterscheiden, nicht philosophisch unberücksichtigt bleiben. Es ist sogar viel wahrscheinlicher, dass die Handlungen der Mehrheit der Bevölkerung durch Heideggers „man“ bestimmt sind. Sie handelt nach den Regeln, wie man es von ihr erwartet. Nur indem auf die eigenen psychophysiologischen Anforderungen gehört wird und sich das eigene Handeln nach ihnen richtet, kann eine Person zu einer authentischen werden. Die folgenden Handlungen könnten demnach durchaus auch als solche verstanden werden, die auf authentischen Wünschen beruhen. Dieser Umstand muss nicht in allen Fällen gegeben sein, kann jedoch durchaus der Fall sein: 1. Person A wünscht zu sterben; 2. Person B erhofft, dass ihr gesundes Bein entfernt wird; 3. Person C wünscht sich, sein biologisches Geschlecht zu verändern; 4. Person D will nicht von ihrer manischen Depression geheilt werden; 5. Person E erachtet die eigene Taubheit als Vorteil und nicht als Behinderung. Die Liste möglicher Beispiele könnte noch um viele weitere verlängert werden. Wenn das Renaissance-Ideal bzw. das Common-Sense-Konzept des Guten universal gültig wären, dann könnten diese Wünsche nicht als authentisch bewertet werden, sondern würden als Ausdruck eines kranken Gehirns gedeutet werden. Ich gehe nicht davon aus, dass dies eine zutreffende Einschätzung sein muss. Indem diese Wünsche als Ausdruck von kranken Geisteszuständen gedeutet werden, werden die betroffenen Personen auf paternalistische und übergriffige Weise behandelt, da ihre Wünsche nicht als ihre eigenen authentischen Wünsche akzeptiert werden, sondern andere Menschen behaupten, dass sie selbst besser wüssten als die betroffenen Personen, was eigentlich in deren tatsächlichem Interesse ist. Ich erachte eine solche Haltung und Vorgehensweise für hoch problematisch, da die Andersheit von speziellen Wünschen so nicht auf angemessene Weise wertgeschätzt wird. Anfänglich war es zwar auch für mich nicht einfach, mir vorzustellen, dass ein tauber Mensch nicht behindert sein muss, sondern auch nur anders sein kann. Indem ich jedoch die große Spanne von möglichen Präferenzen, Wahlmöglichkeiten, Geschmacksurteilen und Kulturen in den verschiedenen Teilen der Welt in unterschiedlichen Zeitepochen erkannte, wurde mir bewusst, wie wichtig es ist, anzuerkennen, dass andere Personen andere Fähigkeiten und Werte für wichtig und andere Formen für attraktiv halten und dies deren authentische Präferenzen darstellen kann. Im Bereich der künstlerischen Wertschätzung, der sexuellen Präferenzen und der bevorzugten Geschmäcker hinsichtlich von Speisen und Getränken wird es besonders deutlich, dass zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten der Welt Personen sich ganz radikal voneinander unterscheiden. Es ist sogar in der Regel so, dass eine individuelle Zusammensetzung von Präferenzen nicht mit der

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von irgendeiner anderen Person übereinstimmt. A mag Spinat, Weißbrot, Bier und Honig verabscheuen, B hingegen Spinat, Weißbrot, Bier und Zucker, C jedoch Gurken, Weißbrot, Wein und Honig. Jeder Versuch, ein universal gültiges Konzept des Guten zu erstellen, erscheint mir daher, zum Scheitern verurteilt zu sein, da stets zumindest eine Person auf überzeugende Weise darlegen kann, dass ihr authentischer Wunsch nicht mit dem vorgestellten Konzept in Einklang zu bringen ist. Wer eine solche Einschätzung teilt, anerkennt und akzeptiert, bejaht eine radikal pluralistische Konzeption des Guten. Wenn ich auf Fälle des Geschmacks und von sexuellen Präferenzen verweise, um für eine bestimmte Konzeption des Guten zu argumentieren, dann gehe ich nicht davon aus, dass das gute Leben nur eine Frage des Geschmacks darstellt. Die angesprochenen Beispiele sollen ausschließlich verdeutlichen, wie schwierig es ist, eine gemeinsame Konzeption zu beschreiben, wenn hierbei die individuellen Präferenzen, Wünsche, Begierden, Affekte, Triebe und Ziele berücksichtigt werden müssen. Es mag zahlreiche Gründe dafür geben, Gesundheit als Allzweckgut zu betrachten. Jedoch darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass es bereits unzählige Menschen gab, die ihre Krankheiten als Geschenk erachtet haben, da diese es waren, die es ihnen ermöglichten, ihre besonderen Fähigkeiten zu erlangen oder Erfahrungen zu haben, die sie ohne diese Krankheiten nie hätten haben können. Zuweilen waren diese Krankheiten von zentraler Bedeutung dafür, dass das Leben der Betroffenen zu einem erfüllten wurde, z.B. weil sie ihnen ermöglichten, sich ständig um sich selbst zu sorgen und sich selbst zu überwinden, was ihnen ohne diese Krankheiten wohl nicht möglich gewesen wäre. Bereits Friedrich Nietzsche hat die Bedeutung der radikalen Pluralität des Guten und des intimen Konnexes zwischen leiblicher Konstitution und Instinkten sowie von Wünschen, Präferenzen und mit der eigenen Perfektion verbundenen Eigenschaften deutlich erkannt, was etwa an der folgenden Einschätzung von ihm deutlich wird: „[E]in wohlgeratner Mensch, ein ‚Glücklicher‘, muß gewisse Handlungen tun und scheut sich instinktiv vor andren Handlungen, er trägt die Ordnung, die er physiologisch darstellt, in seine Beziehungen zu Menschen und Dingen hinein.“50

Diese Einsicht wurde bei ihm jedoch primär im Kontext seiner Aussagen zum Herrentypus relevant. Die aktiven Menschen, diejenigen, die in der Lage sind, aktiv erschaffend und tätig zu sein, ermutigen die Texte Nietzsches dazu, den ei-

50 F. Nietzsche: Der Fall Wagner u.a., S. 89.

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genen Instinkten, den eigenen Anforderungen und der eigenen Physiologie zu folgen. Diese anthropologische Voraussetzung ist für Nietzsches Konzeption der Herrentugenden konstitutiv: „Ich erkenne die Tugend daran, daß sie 1. nicht verlangt, erkannt zu werden, 2. daß sie nicht Tugend überall voraussetzt, sondern gerade etwas anderes, 3. daß sie an der Abwesenheit der Tugend nicht leidet, sondern umgekehrt dies als das Distanzverhältnis betrachtet, auf Grund dessen etwas an der Tugend zu ehren ist; sie teilt sich nicht mit, 4. daß sie nicht Propaganda macht […], 5. daß sie niemandem erlaubt, den Richter zu machen, weil sie immer eine Tugend für sich ist, 6. daß sie gerade alles das tut, was sonst verboten ist: Tugend, wie ich sie verstehe, ist das eigentliche vetitum innerhalb aller Herden-Legislatur, 7. kurz, daß sie Tugend im Renaissance-Stil ist, virtù, moralinfreie Tugend […].“51

Ich gehe davon aus, dass seine Einschätzung grundsätzlich zutrifft, sie jedoch im Gegensatz zu Nietzsche nicht nur für aktive Menschen, sondern für alle Menschen eine plausible Beschreibung des Guten darstellt. In diesem Kontext darf nicht unerwähnt bleiben, dass es nicht immer moralisch und rechtlich akzeptabel ist, in Übereinstimmung mit den eigenen authentischen Wünschen zu handeln. Wenn eine Person nur dadurch sexuell erfüllt wird, wenn sie eine andere vergewaltigt, dann ist das Konzept des Guten der betroffenen Person notwendigerweise im Konflikt mit dem, was rechtlich in den meisten Ländern akzeptabel ist, und es ist gut, dass dies der Fall ist, weil sich in diesem Fall das Konzept des Guten der handelnden Person im Konflikt mit dem Konzept des Guten der betroffenen, vergewaltigten Person befindet. Auch eine weitere Bemerkung darf nicht unberücksichtigt bleiben, da auch ein radikal pluralistisches Konzept des Guten als nicht transhumanistisch kritisiert werden könnte, insofern der Transhumanismus darauf abzielt, die Wahrscheinlichkeit der Entstehung eines (weiterentwickelten) Posthumanen zu erhöhen. Diesbezüglich dürfen einige von Darwins grundlegenden Überlegungen nicht vergessen werden. „Survival of the fittest“ bedeutet nicht, dass stets der stärkste, größte und blondeste Mensch überlebt. Der „fittest“ ist nämlich stets derjenige, der am besten an die Umwelt und die kulturellen Umstände angepasst ist. Es kann hierbei noch nicht einmal ausgeschlossen werden, dass in der Zukunft eine Situation entstehen wird, in der so viel Lärm vorhanden sein wird, dass ausschließlich Taube diese Umstände ertragen können und überleben. Es scheint für uns gegenwärtig keine Möglichkeit zu bestehen, mit Sicherheit festzustellen, welche Eigenschaften unser Überleben und unser gutes Leben in der

51 F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885-1887, S. 518.

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Zukunft gewährleisten werden. Primär auf der Grundlage unserer vergangenen Erfahrungen können wir uns bemühen einzuschätzen, welche Eigenschaften wohl in unserem eigenen Interesse sind und sein werden. Ich bezweifle auch nicht, dass das Renaissance-Ideal und das Common-Sense-Konzept des Guten eine weit verbreitete diesbezügliche Plausibilität besitzen. Auch bin ich mir bewusst, dass psychologische und andere experimentelle Studien bestätigen, dass die in diesen Konzepten bejahten Eigenschaften von einer großen Prozentzahl von Menschen geteilt und bejaht werden.52 Mir ist es jedoch wichtig zu betonen, dass es philosophisch unredlich ist zu behaupten, dass eines der beiden Konzepte eine universale Gültigkeit besitzt. Auch kann, unabhängig von der philosophischen Argumentation, nicht garantiert werden, dass eines der beiden zuvor vertretenen Konzepte unsere „fitness“ tatsächlich fördert, so dass wir auf bestmögliche Weise an die zukünftigen Umweltbedingungen und kulturellen Umstände angepasst sein werden. Aus diesem Grund besteht für mich die Notwendigkeit, für das radikal pluralistische Konzept des Guten zu argumentieren, das seine Grundlage in der Pluralität unserer psychophysiologischen Bedürfnisse, Anforderungen und Begierden besitzt. Außer den philosophischen Gründen, die ich hier erwähnt habe und die für die Plausibilität des radikalpluralistischen Konzepts sprechen, könnten auch gesellschaftliche Interessen für eine Bejahung dieses Konzepts sprechen: „Don’t put all eggs into one basket“. Da es ungewiss ist, welche Eigenschaften unser zukünftiges Überleben fördern werden, ist es wahrscheinlich, dass eine Affirmation der Pluralität die Wahrscheinlichkeit des menschlichen Überlebens erhöhen wird. Damit sprechen sowohl philosophische wie gesellschaftliche Gründe für die Bejahung des radikal pluralistischen Konzepts des Guten, für das auch ich argumentiere.

C ONCLUSIO Die Konzepte vom Superman, Nietzsches Übermensch und des perfekten neuen Menschen werden bei der Diskussion des Transhumanismus bemüht. Die verschiedenen Bedeutungen von Perfektion und die Unterschiede der verschiedenen von Transhumanisten vertretenen Konzeptionen werden hingegen häufig nicht auf detaillierte Weise analysiert. In diesem Artikel habe ich drei Konzepte von Perfektion dargestellt, die mit dem Transhumanismus assoziiert werden können. Die ersten beiden Varianten stellen dabei solche dar, die traditionell stärker mit dem Transhumanismus in Verbindung gebracht werden. Jedoch auch das zuletzt

52 Vgl. N. Bostrom: Why I want to be a Posthuman, S. 113-116.

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vorgestellte, also dasjenige, für das ich mich ausspreche, beinhaltet zahlreiche tiefgründige intellektuelle Affinitäten zu Positionen, die von zahlreichen Transhumanisten vertreten werden, auch wenn es häufig nicht mit den transhumanistischen Hauptströmungen in Verbindung gebracht wird. Gleichfalls leugne ich nicht, dass eine Förderung der Gesundheitsspanne für einen hohen Prozentsatz von Menschen mit einem guten Leben in Verbindung steht, was wiederum für Regierungen einen Grund darstellen kann und sollte, diesen Forschungsbereich zu unterstützen und zu fördern. Gleichzeitig, und ohne mir selbst zu widersprechen, betone ich ebenfalls, dass eine Erhöhung der Gesundheitsspanne nicht notwendigerweise zum Konzept des Guten aller Menschen gehören muss. Die radikale Pluralität des Guten anzuerkennen und zu erlauben, stellt eine enorme kulturelle Errungenschaft dar. Indem versucht wird, eine Konzeption jenseits einer nicht-formalen Theorie des Guten zu erlangen, werden Individuen auf eine gewalttätige und paternalistische Weise behandelt. Glücklicherweise haben wir uns bereits seit Langem von kulturellen Randbedingungen wegentwickelt, in denen religiöse und aristokratische Herrscher das Recht besaßen, die Konzeption des Guten zu bestimmen, nach der dessen Untergebene zu leben hatten. Diese Einsicht bedeutet nicht, dass wir bereits in einem kulturellen und sozialen Kontext leben, in der keine Notwendigkeit mehr besteht, gesetzliche und politische Strukturen zu kritisieren. Gewalttätige und moralisch problematische Arten des Paternalismus sind weiterhin weitverbreitete Phänomene, die in allen Kulturen der Welt vorgefunden werden können. Erst als ich realisierte, um welch eine enorme Errungenschaft es sich handelt, frei und in Übereinstimmung mit den eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Instinkten leben zu können, und die Möglichkeit zu besitzen, Sorgen, Kritik und Meinungen frei zum Ausdruck bringen zu können, wurde mir auch die Bedeutung und Relevanz bewusst, anderen Menschen diese Errungenschaften zu vermitteln und zu verdeutlichen, die sich als Folge der verschiedenen Aufklärungsprozesse gesellschaftlich etabliert haben. Um diesen Punkt noch einmal zu verdeutlichen: Ich gehe nicht davon aus, dass wir gegenwärtig im Paradies leben. Es gibt weiterhin zahlreiche hochproblematische Regelungen, die auch in einem Land wie Deutschland noch anzutreffen sind. Indem man sich der Bedeutung des radikal pluralistischen Konzepts des Guten bewusst wird, treten potentiell problematische paternalistische Strukturen noch deutlicher hervor, so dass es möglich ist, auch andere auf diese hinzuweisen und ihnen diese zu verdeutlichen.53 In Deutschland sind gesetzliche Regelungen hinsichtlich von Biotechnologien, der Reproduktionsmedizin und medizinischer Herausforderungen am Le-

53 Vgl. S.L. Sorgner: Menschenwürde, S. 239-266.

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bensanfang besonders problematisch. Diese sind ein Resultat der deutschen Geschichte, und insbesondere der Erfahrung des Dritten Reichs. Indem jedoch ein Bemühen vorhanden ist, das Entstehen von totalitären Strukturen zu vermeiden, entsteht gleichzeitig die Gefahr, dass andere totalitäre Strukturen in Folge dieses Prozesses entstehen. Ein treffendes Beispiel stellt Singers philosophische Einschätzung des Personenstatus dar, auf das deutsche Wissenschaftler und Interessensvertreter einiger Gruppierungen mit starker Entrüstung reagierten. Deren Ziel war es, dass solche Positionen nicht an deutschen Universitäten unterrichtet bzw. nicht in der Öffentlichkeit vertreten werden sollen, da davon ausgegangen wurde, dass diese Theorie den Wert menschliches Leben relativiere. Den Wert menschlichen Lebens zu relativieren, war ein Vorgang, der im Dritten Reich praktiziert wurde. Dieses war der Hauptgrund für die starken öffentlichen Reaktionen auf Singers Theorie. Auf diese Weise hat Deutschland jedoch wieder neue totalitäre Strukturen geschaffen. Die Begrenzung der freien Meinungsäußerung war eine Maßnahme, die ebenfalls von den faschistischen politischen Führern des Dritten Reichs durchgeführt wurde.54 Indem man also darum bemüht war, totalitäre Strukturen zu vermeiden, wurden neue solche Strukturen geschaffen. Indem man sich bewusst wird, dass sich totalitäre Strukturen im Konflikt mit der Pluralität des menschlichen Lebens und den menschlichen Konzeptionen des Guten befinden, kann besonders hilfreich dabei sein, zu erkennen, wann und in welcher Form solche Strukturen entstehen. In den relevanten Fällen muss schließlich analysiert werden, ob es sich um moralisch problematische Strukturen handelt oder nicht. In einigen Fällen mögen die Strukturen notwendige sein, z.B. das gesetzliche Verbot von Vergewaltigungen. In vielen anderen Fällen jedoch mag man auf diese Weise auf problematische Strukturen hingewiesen werden, die nur einen Versuch einer speziellen Interessengruppe darstellen, eine andere zu dominieren. Dies kann der Fall sein, wenn sich eine Mehrheit mittels eines weit verbreiteten Vorurteils über eine Minderheit stellt. Dies kann jedoch ebenso der Fall sein, wenn Herrschende den Versuch unternehmen, ihre Untergebenen auf eine spezielle Weise zu unterdrücken, was etwa gegeben sein kann, wenn politische Herrscher Entscheidungen treffen, die nicht von der Mehrheit derjenigen geteilt wird, die sie gewählt haben. Indem die Einsicht der radikalen Pluralität des Guten realisiert wird, anerkannt wird und man mit ihr im Einklang lebt, wird die Gewalt gegen Individuen reduziert und das Florieren der Vielfalt menschlichen Lebens gefördert. Die oben angestellten Reflexionen stellen jedoch ausschließlich einen anfänglichen Hinweis auf die Relevanz dieses Konzepts dar. In jedem Fall ist die Frage nach dem Guten und nach der menschli-

54 P. Singer: Vorwort, S. 13-15.

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chen Perfektion von zentraler Relevanz für alle anderen philosophischen, ethischen, kulturellen und künstlerischen Bereiche, Themen und Disziplinen und sollte auf angemessene Weise analysiert und berücksichtigt werden.

L ITERATUR Bostrom, Nick: „A History of Transhumanist Thought“, in: Journal of Evolution and Technology 14 (2005), S. 1-30. Bostrom, Nick: „Transhumanist Values“, http://www.nickbostrom.com/tra/ values.html vom 5.4.2014. Bostrom, Nick: „Why I want to be a Posthuman when I grow up“, in: Bert Gordijn/Ruth Chadwick (Hg.), Medical Enhancement and Posthumanity, Heidelberg: Springer 2009, S. 107-136. Caplan, Bryan: Selfish Reasons to Have More Kids: Why Being a Great Parent is Less Work and More Fun than You Think, New York: Basic Books 2012. De Grey, Aubrey: Ending Aging. The Rejuvenation Breakthroughs that Could Reverse Aging in Our Lifetime, New York: St. Martin’s Griffin 2007. Del Val, Jaime/Sorgner, Stefan L. (2011): „A Metahumanist Manifesto“, in: The Agonist 4 (2011), S. 1-4. Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Hughes, James: „Politics“, in: Robert Ranisch/Stefan L. Sorgner (Hg.), Post- and Transhumanism: An Introduction (=Jenseits des Humanismus: Trans- und Posthumanismus, Band 1), Frankfurt a.M.: Peter Lang 2014, S. 133-148. Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner u.a. (= Kritische Studienausgabe, Band 6), München: dtv 1999. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1885-1887 (= Kritische Studienausgabe, Band 12), München: dtv 1999. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1887-1889 (= Kritische Studienausgabe, Band 13), München: dtv 1999. Nussbaum, Martha C.: Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Savulescu, Julian: „Procreative Beneficence: Why we should select the best children“, in: Bioethics 15 (2001), S. 413-426. Savulescu, Julian/Kahane, Guy: „The Moral Obligation to Create Children with the Best Chance of the Best Life“, in: Bioethics 23 (2009), S. 274-290. Singer, Peter: Animal Liberation, New York: Harper 2002. Singer, Peter: Practical Ethics, Cambridge: Cambridge University Press 2011.

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Denken an Schnittstellen Neurophilosophische Kulturmodelle bei Friedrich Nietzsche A NNA L. R OETHE Der Werth davon, dass man zeitweilig eine strenge Wissenschaft streng betrieben hat, beruht nicht gerade auf deren Ergebnissen: denn diese werden, im Verhältniss zum Meere des Wissenswerthen, ein verschwindend kleiner Tropfen sein. Aber es ergiebt einen Zuwachs an Energie, an Schlussvermögen, an Zähigkeit der Ausdauer; man hat gelernt, einen Zweck zweckmässig zu erreichen. Insofern ist es sehr schätzbar, in Hinsicht auf Alles, was man später treibt, einmal ein wissenschaftlicher Mensch gewesen zu sein. F. NIETZSCHE: MENSCHLICHES, ALLZUMENSCHLICHES I, 256.

Man muß in den Laboratorien erzogen worden sein und dort gelebt haben, um die ganze Bedeutung dieser Einzelheiten der Forschungsmethoden zu erkennen, die so oft seitens Pseudogelehrter missachtet oder nicht berücksichtigt werden, die sich selbst Ganzheitsforscher nennen. Aber man wird nie zu wirklich fruchtbaren und Erleuchtung bringenden allgemeinen Gesetzen der Lebensvorgänge gelangen, wenn man nicht selbst experimentiert und im Krankenhaus, im Hörsaal oder im Laboratorium die übelriechende, zuckende, lebende Materie bearbeitet hat. C. BERNARD: EXPERIMENTELLE MEDIZIN, §3.

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Z WISCHEN

DEN

W ISSENSKULTUREN

Zu methodologischen Fragestellungen gibt es viele Zugangswege. Als der französische Physiker und Philosoph Gaston Bachelard (1884-1962) in den 1930er Jahren seine Philosophie des Nein (zuerst 1940 erschienen) entwickelt und, mit Blick auf den Erkenntnisgewinn empirischer Naturwissenschaften, den Begriff des „epistemologischen Profils“ für wissenschaftsphilosophische Erkenntnisbedingungen prägt,1 wird das philosophische Werk von Friedrich Nietzsche (18441900) nur sehr selektiv rezipiert. Bachelard legt dar, inwiefern jede theoretische Beschäftigung mit wissenschaftlichen Ergebnissen auf Begriffe zurückgreift, die ihrerseits zu unterschiedlichen Anteilen an philosophischen Systemen teilhaben. Mithilfe des subjektbezogenen epistemologischen Profils werde für diesen Begriff eine Art „philosophische Spektralanalyse“ erstellt, „die genau bestimmte, wie die verschiedenen Philosophien auf der Ebene einer partikulären objektiven Erkenntnis reagieren“.2 Nietzsche findet indes namentlich Erwähnung, als es um die Folgen opaker Begriffskontexte für die konsistente Theoriebildung geht: „Das epistemologische Profil des Energiebegriffs bei Nietzsche zum Beispiel würde vielleicht ausreichen, um seinen Irrationalismus zu erklären. Auf der Basis eines falschen Begriffs läßt sich eine große Lehre aufbauen.“3 Neben zahlreichen naturwissenschaftlichen Querbezügen u.a. zur Biologie, Evolutionstheorie, Physik und Chemie spielt die zeitgenössische Medizin in Nietzsches Schriften vor allem der mittleren Schaffensperiode eine nicht unbeträchtliche Rolle. Die thematische wie methodische Auseinandersetzung mit der Medizin seiner Zeit durchzieht seine Texte wie ein Wasserzeichen, das seine Kerndefinitionen von Wissenschaft über Kultur bis Gesellschaft merklich prägt und sich doch dem systematischen Zugriff der Philosophie bis heute immer wieder entzieht.4 Von der Wissenschaftsgeschichte und -theorie bereits neu entdeckt als wichtiger Vertreter der sogenannten „ersten Kulturwissenschaft“5 und deren Unterhandlungen zwischen disziplinärem Wissensfortschritt und fachübergreifender Perspektivierung gemeinsamer Forschungsgegenstände und Interessensgebiete, bleibt Nietzsche in der epistemologischen Re- und Dekonstruktion der

1

G. Bachelard: Die Philosophie des Nein, S. 55ff.

2

Ebd., S. 61.

3

Ebd.

4

Vgl. T. Long: Nietzsche's Philosophy of Medicine; T. Dahlkvist: Nietzsche and Medicine.

5

S. Weigel: Jenseits der zwei Kulturen; vgl. A. Eder: Der Schleier des Realen.

D ENKEN

AN

S CHNITTSTELLEN

| 271

modernen klinischen Wissenschaft von Bernard über Bachelard und Canguilhem bis zu Foucault nach wie vor weitgehend unerwähnt. Interessant ist die Frage nach der epistemologischen Profilierung eines Denkers, wie Bachelard sie beschreibt, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allemal. Komplexe naturwissenschaftliche Erkenntniszusammenhänge fordern die synthetisierenden Bestrebungen der Philosophie ebenso heraus wie die fortschreitende Ausdifferenzierung der akademischen Disziplinen. Dies gilt in besonderem Maße für die klinische Medizin, mit deren Experimentalisierung und klinischer Diagnostik auch eine fortschreitende Technisierung und Spezialisierung einhergeht. Im Umfeld der Physiologie, die mit dem Erscheinen von Claude Bernards Introduction à l'étude de la médecine expérimentale im Jahre 1865 einen methodologischen Meilenstein verzeichnet,6 macht auch ein weiteres, von der Philosophie stets besonders beachtetes Fach einen grundlegenden Wandel durch: die Neurologie, die im Laufe des „langen 19. Jahrhunderts“ viele ihrer grundlegenden anatomischen und funktionellen Erkenntnisse gewinnt und sich klinisch in die Fächer Neurologie, Neurochirurgie, Psychologie und Psychiatrie verzweigt.7 Über Nietzsches aufmerksame Seitenblicke auf physiologische und andere natur- und lebenswissenschaftliche Erkenntnisse seiner Zeit ist inzwischen einiges geschrieben worden.8 Als „Meister der Diskursüberschreitung“9 hat er in seinem Werk zahlreiche der damaligen Wissenschaftsparadigmen aufgegriffen und philosophisch nach- bzw. remodelliert – nicht die Transferleistung als solche macht seine Skizzierung von Kultur dabei so interessant, sondern die Einbindung in ein holistisches Konzept von Kunst und Wissenschaft, Ratio und Emotio, Produktion und Interpretation, Subjektivität und Objektivität; begriffliche Oppositionen, die Nietzsches Schriften sein ganzes Leben lang durchziehen. „Es geht hier also um die Folgen epistemischer Konstellationen im geschichtlichen Raum“, präzisiert Christian Emden aus Sicht der Wissenschaftsphilosophie, „die sich erstens kaum voraussagen lassen, sich zweitens vor allem in den Randbereichen und Übergängen zwischen verschiedenen Wissens- und Wissenschaftsge-

6 7

Vgl. K. Rothschuh: Claude Bernard. Vgl. J. Martin: The Integration of Neurology; F. Boller/G. Dalla Barba: The Evolution of Psychiatry.

8

Vgl. u.a. U. Pörksen: Die Funktionen; B. Wahrig-Schmidt: Irgendwie; E. Düsing: Das Ende; G. Moore/T. Brobjer: Nietzsche and Science; C. Emden: Nietzsche's Naturalism; D. Solies: Nietzsche und die Lebenswissenschaften.

9

C. Emden: Metapher, S. 127.

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bieten entwickeln und drittens ungewohnte Erklärungsmodelle entwerfen“.10 Im historischen Verhältnis der Wissenskulturen zueinander stellt sich in regelmäßigen Abständen erneut die Frage nach dem Wesen und der Rolle der Disziplinen an sich sowie ihrer Bedeutung für die Kultur einer Gesellschaft als Ganzes. Bei Nietzsche wird diese Frage als notwendige Bedingung für Erkenntnis formuliert: „Die besten Entdeckungen über die Cultur macht der Mensch in sich selbst, wenn er darin zwei heterogene Mächte waltend findet“,11 heißt es im fünften Hauptstück „Anzeichen höherer und niederer Cultur“ von Menschliches, Allzumenschliches I (1878/1886). In mehreren Textpassagen wird das Denken des Individuums gleichgesetzt mit der Funktionsweise von Kultur in einer Epoche: „Ein solches Gebäude der Cultur im einzelnen Individuum wird aber die grösste Aehnlichkeit mit dem Culturbau in ganzen Zeitperioden haben und eine fortgesetzte analogische Belehrung über denselben abgeben.“12 Die Faszination eines Philosophen, der eine Kulturtheorie seiner politisch, künstlerisch und wissenschaftlich hochkomplexen Zeit entwirft, für eine Wissenschaft vom Menschen, die sich von ihren tradierten theoretischen und empirischen Beschränkungen löst und nach klinisch verwertbaren Ergebnissen einer systematischen Forschung strebt, ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend – (nicht nur) bei Nietzsche wird die Physiologie zum Mittel der Kulturkritik.13 Bei Bernard und den Neurophysiologen und -anatomen seiner Zeit findet er Modellkorrespondenzen zu seinem Verständnis des denkenden Menschen als „Mikrokosmos“ der Kultur.14 Seine philosophische Modellierung physiologischer Steuerungs-, Kontroll- und Produktionssysteme greift – im wahrsten Sinne des Wortes: selbst-verständlich – auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit zurück: „Keine Frage ist es, daß Nietzsche mit ihnen operiert hat; und sie verschwinden nicht wieder dadurch, daß sie sich im streng naturwissenschaftlichen Sinn nicht bewahrheiten lassen“, schreibt der Religionsphilosoph und Physiker Dieter Henke über Nietzsches Verarbeitung wissenschaftlicher Phänomene. „Aber es gibt eine Funktion, unter der sie unabhängig von ihrer naturwissenschaftlichen Qualifizierung eindeutig werden. Das ist ihre Ortung im Zusammenhang des sie gebrauchenden reflektierenden Subjekts, das sich offensichtlich nicht ohne sie Rechenschaft zu geben vermag über seine Position in der Welt.“ Und er schlussfolgert über ihren eigentlichen Erkenntniswert innerhalb Nietzsches philosophischen Werkes: „Das

10 Ebd., S. 128. 11 F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, 276. Im Folgenden zitiert als MA. 12 Ebd. 13 Vgl. B. Wahrig-Schmidt: Irgendwie, S. 448f. 14 Vgl. MA I, 276.

D ENKEN

AN

S CHNITTSTELLEN

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reflektierende Subjekt, das sie aufgreift, dokumentiert mit ihnen wie mit jedem anderen inhaltlichen Urteil sein Realitätsbewußtsein, spricht so von sich und über sich, während es die Welt reflektiert.“15 Noch enger auf den Zusammenhang mit Nietzsches neurophysiologischer Bibliothek bezogen, äußert die Wissenschaftshistorikerin Bettina Wahrig die „Vermutung, Nietzsche habe in der Lektüre physiologischer Werke nur die Bestätigung dessen gefunden, was die Dynamik seiner Reflexionen ohnehin zum Ergebnis haben mußte“.16 Wissenschaftliche und philosophische Spekulationen werden zumindest partiell kongruent. Ehe der Medizinphilosoph und Arzt Georges Canguilhem (1904-1995) in seinem Hauptwerk Le normal et le pathologique (1943) die Medizin „eher [als] eine Technik oder eine Kunst im Schnittpunkt verschiedener Wissenschaften als eine Wissenschaft im eigentlichen Sinne“17 bestimmt und, an Bernard und Nietzsche anschließend, gezielt in die Nähe der Philosophie rückt, finden sich in Nietzsches Werk – mit unterschiedlichen Fokussierungen – bereits kontinuierlich entsprechende Belegstellen für die epistemologische Systemverwandtschaft von Medizin und Philosophie. Nietzsches „Analyse der Gegenwartskultur“18 durchläuft dabei in seinen Werkphasen auch hinsichtlich seiner (neuro-)physiologischen Interessensschwerpunkte eine signifikante Entwicklung, von historischer Ätiologie zu Gegenwartsdiagnose, von Struktur zu Degeneration, von Physiologie zu Patho(physio)logie und von Neurologie zu Psychiatrie.19 Das Schicksal einer Gesellschaft als „Makrokosmos“ der Kultur20 ist eng an Entwicklung und Verfall des Individuums gebunden, eine Feststellung, die in Nietzsches Spätwerk angesichts therapeutischer Aporien in Psychologie und Psychiatrie in medizinethisch sehr bedenkliche Schlussfolgerungen mündet (so etwa in der „Moral für Ärzte“ in Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt, 1888). Zunächst jedoch ist mit der Profilierung des Philosophen als „Arzt der Kultur“ im Frühwerk (so im Umfeld der Unzeitgemäßen Betrachtungen, 1873-76)21 die Grundlage geschaffen für eine diagnostische Analyse der

15 D. Henke: Gedanken, S. 289. 16 B. Wahrig-Schmidt: Irgendwie, S. 445. 17 G. Canguilhem: Das Normale, S. 15. 18 B. Wahrig-Schmidt: Irgendwie, S. 451. 19 Die intensive Beschäftigung mit den Symptomen der Décadence in der Spätphase Ende der 1880er Jahre hat Bettina Wahrig sehr detailliert aufgeschlüsselt (vgl. B. Wahrig-Schmidt: Irgendwie). 20 Vgl. MA I, 276. 21 Vgl. P. van Tongeren: Vom ‚Arzt der Cultur‘.

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neurophysiologischen Funktionsinstanzen und Regulatorien von Kultur. Während rund 100 Jahre später Ende des 20. Jahrhunderts mit neurophilosophy22 und cultural neuroscience23 wieder integrative Diskurse zwischen lebens- und geisteswissenschaftlichen Forschungsmethoden zu Strukturen und Funktionsweisen des menschlichen Gehirns erblühen, steht Nietzsche mit seinem kulturphilosophisch verankerten Hirn(kammer)begriff, um den es hier gehen wird, noch ganz am Anfang einer Ära, die eine zunehmende Unvereinbarkeit der einzelnen Wissenskulturen propagieren würde.24 Gerade die Neurophilosophie25 erreicht, wenngleich nicht immer unter diesem Label, ein Grad an methodologischer Reflexion interdisziplinärer Forschungsfragen, der sie nicht in ein Konkurrenz-, sondern vielmehr Komplementärverhältnis zu den Neurowissenschaften rückt. Soziokulturelle und kognitive Prozesse werden in der jüngeren Forschung nun gleichsam ‚rematerialisiert‘ und, auf der Suche nach gegenseitigen Einflussmomenten, an Methoden der Neurobiologie und Neurogenetik rückgebunden. Die Funktionsweisen von „Kultur“ und „Gehirn“ verknüpfen sich dabei auf sehr unterschiedlichen Ebenen, molekularbiologisch auf der Ebene bestimmter Genexpressionen ebenso wie psychosoziologisch, anthropologisch und kulturphilosophisch. Man mag darin ein wiederkehrendes Muster erkennen, das eine entsprechende historische Stichprobennahme im 19. Jahrhundert umso erhellender erscheinen lässt.26 Nietzsche gezielt vor dem Hintergrund der Neurowissenschaften zu lesen, hat in den vergangenen Jahren bereits zu vereinzelten wichtigen neuen Impulsen in der Forschung geführt, die Nietzsches Interesse an Neurophysiologie zu einer umfassenderen „Neuro-Epistemologie“, einer wissenschaftlich fundierten Philosophie über die Erkenntnisfähigkeit der Funktionsweisen des menschlichen Gehirns, ausbauen27 bzw. elaborierten Schmerztheorien zur Seite stellen und als bis heute gültige neurophilosophische Schmerzkonzeption wer-

22 P. Churchland: Neurophilosphy. 23 J. Chiao/N. Ambady: Cultural Neuroscience; H. Kim/J. Sasaki: Cultural Neuroscience. 24 Man erinnere sich: Zwischen dem ersten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) des Berliner Philologen Wilhelm Dilthey und der bis heute kontrovers, indes lösungsfrei diskutierten Vorlesung The Two Cultures (1959) des englischen Physikers Charles Percy Snow lagen noch einmal fast 80 Jahre. Zu Nietzsches Aktualität in Fragen interdisziplinärer Wissensordnungen vgl. A. Orsucci: Die Hierarchie. 25 Vgl. J. Bickle,/P. Mandik/A. Landreth: The Philosophy of Neuroscience. 26 Vgl. C. Borck: Fühlfäden. 27 Vgl. P. Bornedal: Theory of Knowledge.

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ten.28 Anstatt die Philosophie nun erneut lediglich in den Dienst der Medizin zu stellen (oder viceversa), soll im Folgenden vielmehr Nietzsches epistemologischer Balanceakt zwischen den Wissenskulturen in seinem Entwurf einer Neurophilosophie der Kultur etwas eingehender diskutiert werden.

V ON „Z WEIKAMMERSYSTEM “ UND „D OPPELGEHIRN “ Das epistemologische Profil von Nietzsches Gehirnbegriffs – als zeitweiliger Verhandlungsort seiner Auffassung von „Kultur“ – verbindet sich in Menschliches, Allzumenschliches (1878-80/1886) mit einem grundlegenden Paradigmenwechsel in Nietzsches Kulturverständnis,29 der rückwirkend in der Neuauflage früherer Schriften wie der Geburt der Tragödie (und deren zweiten Vorwort von 1886) zu entsprechenden Anpassungen der Begriffsverwendung geführt hat. Die Problematisierung der „Wissenschaft unter der Optik des Künstlers“, der „Kunst aber unter der des Lebens“ (GT, Vorrede 2) differenziert Nietzsches Verständnis der komplementären Wissenskulturen sowie der Rolle der Philosophie aus und schafft in seiner mittleren Werkphase einen Zustand vorübergehender ‚physiologischer‘ Balance der produktiven Spannungsverhältnisse von Wissenschaft und Kultur.30 Nietzsches Ansatz eines dualistischen Kulturprinzips ist zwar konsistent, jedoch fragmentarisch und ohne systematische Ausarbeitung geblieben und hat den Philosophen und Nietzsche-Biographen Rüdiger Safranski zu seiner berühmt gewordenen Formel des „Zweikammersystems der Kultur“ inspiriert.31 Die wesentliche Passage aus Menschliches, Allzumenschliches I dazu lautet: „Deshalb muss eine höhere Cultur dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: neben einander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschliessbar; es ist dies eine Forderung der Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der

28 Vgl. A. Olivier: Nietzsche and Neurology. 29 Vgl. R. Elberfeld: Durchbruch. 30 Vgl. R. Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens, S. 204f. 31 R. Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens; Nietzsches Zweikammersystem der Kultur.

276 | A NNA L. ROETHE erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden.“32

Auf den ersten Blick beschreibt Nietzsches Aphorismus – visionär-skeptisch „Zukunft der Wissenschaft“ betitelt – vermittels einer neuroanatomischen Metapher recht organizistisch einen Dualismus antagonistischer Kräfte, nämlich „Wissenschaft“ und „Nicht-Wissenschaft“. Letztere wird im Umfeld der zitierten Textstelle wiederholt mit „Kultur“ an sich gleichgesetzt,33 nährt sich jedoch vorrangig aus den „tief erregten Empfindungen“ in Religion, Philosophie (sic), Dichtung und Musik.34 Die beschriebenen Oppositionspaarungen Wärme – Kälte, Ratio – Emotio usw., die einen anderen berühmten Dualismus aus Nietzsches Frühwerk, nämlich die konkurrierende Prinzipien des Apollinischen und des Dionysischen (Geburt der Tragödie, 1872) wieder aufgreifen, gehen über ein einfaches Zweikammerprinzip jedoch deutlich hinaus. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Nietzsche in der beiläufigen Formulierung des „Doppelgehirns“ einen der Großdiskurse der Neurowissenschaft und -philosophie aufruft, der zum besseren Verständnis der Implikationen seines Kulturbegriffs hier kurz rekapituliert werden soll. Zunächst muss angemerkt werden, dass die beiden Begriffe „Doppelgehirn“ und „zwei Hirnkammern“, auch wenn die Reihung innerhalb der Textstelle dies scheinbar nahelegt, nicht vollständig kongruent sind. Sie bezeichnen einmal die anatomische Gliederung des Gehirns in zwei annähernd symmetrische Hemisphären (Doppelgehirn)35 und einmal das interne Versorgungssystem v.a. der beiden prominenten Seitenventrikel (Hirnkammern).36

32 MA I, 251. 33 Vgl. MA I, 222; 236; 244; 272; 276. 34 Vgl. MA I, 244. 35 Vgl. M. Ommeln: Perspektiven. 36 Vgl. R. Safranski: Nietzsches Zweikammersystem der Kultur.

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Abb. 1: Hirnoberfläche der Großhirnhemisphären (H. Gray: Anatomy, Taf. 241)

Abb. 2: Eröffnetes Ventrikelsystem (H. Gray: Anatomy, Taf. 245)

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Diese Unterscheidung ist bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht ohne Bedeutung – im selben Jahr wie Bernards Vorlesungen zur Neurophysiologie Leçons sur la physiologie et la pathologie du système nerveux (1858) erscheinen ebenfalls die erste Auflage des berühmten anatomischen Atlas Henry Gray’s Anatomy of the Human Body des gleichnamigen englischen Anatomen und Chirurgen (s. Abb. 1 und 2) als auch Rudolf Virchows Cellularpathologie (inklusive einer Beschreibung der von Virchow als „Neuroglia“ bezeichneten Zellen des Gehirns) und tragen jeweils zu einer größeren Verbreitung aktueller neuroanatomischer, -physiologischer und -histologischer Kenntnisse bei. Die entscheidende Frage nach der Zuordnung zentraler Hirnfunktionen zu einzelnen Arealen steht zu Nietzsches Lebzeiten vor der Herausforderung, bereits aus der Pathologie seit längerem bekannte anatomische Strukturen einer kritischen Revision zu unterziehen und mit der Weiterentwicklung von Mikroskopie und Färbemethoden einen ganz neuen Detailgrad der Beschreibung für ihre Hypothesen zu berücksichtigen. Gerade die Medizingeschichte ist allerdings mit Allianzen zwischen naturwissenschaftlichen Untersuchungsgegenständen und geisteswissenschaftlichen Argumentationszusammenhängen gut vertraut. In der Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts – und Nietzsche bildet da keine Ausnahme – wird die Untermauerung philosophischer Thesen durch Erkenntnisse sogenannter „exakter Wissenschaften“ oftmals höher eingeschätzt als die Einbettung in eine innerphilosophische Denktradition.37 Nun hat die anatomische und physiologische Metapher bei Nietzsche nicht nur illustrativen oder diskursiv-verweisenden Charakter. Sie wird – „in search of a genuine theoretical articulation“38 – über ihre Kontexte hinaus zum kulturphilosophischen Modell. Knapp ein Jahrhundert vor Nietzsches Überlegungen findet sich eine umgekehrte Grenzüberquerung der Wissenskulturen in der Schrift des Neuroanatomen Samuel Thomas von Soemmerring (1755-1830) zum menschlichen Ventrikelsystem (Über das Organ der Seele, 1796), für die Soemmerring die philosophische Legitimation in Form eines Nachworts von Immanuel Kant in Anspruch genommen hatte. Soemmerring verortet, in einem geradezu anachronistischen Rekurs auf das vormoderne Modell der Zellen- bzw. Kammern-Theorie,39 den Sitz der menschlichen Seele in eben jenem Hirnkammersystem, das Nietzsche später

37 Vgl. B. Wahrig-Schmidt: Irgendwie, S. 438. 38 P. Churchland: Neurophilosophy, S. 407. 39 Vgl. J. Leyacker: Zur Entstehung; W. Euler: Die Suche.

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als Funktionsmodell der Kultur beschäftigt.40 In Kants Replik, die die Zeitgenossen offensichtlich ebenso interessierte wie die eigentliche anatomische Schrift, steht indes die methodische Reflexion über das neurophilosophische Problem, nicht dessen Lösung, im Vordergrund und entscheidet schließlich zugunsten der medizinisch-physiologischen Kompetenzlage.41 Faszinierender noch als die wechselvolle und hypothesenreiche Geschichte der frühen Neurowissenschaften an sich42 ist an Soemmerrings Unternehmen dessen symptomatischer Status am Übergang zum 19. Jahrhundert: Seine (scheiternde) neurophilosophische Modellgewinnung und -überprüfung erkennt die Notwendigkeit einer historischen Theoriekontinuität ebenso an wie das Unvermögen der medizinischen Wissenschaft, ihre methodischen Kontexte selbstständig herstellen zu können. Zugleich werden philosophische Hypothesen nach neuen empirischen Erkenntnissen aus der pathologischen Anatomie remodelliert, in Soemmerrings Fall der eigenhändige Nachweis der Nervenendigungen in den Hirnkammern, die ihn dazu verleitet, das Kammerwasser als Kontakt- und Kommunikationsmedium der Nervenleitung zu interpretieren. Ähnliche kulturell und wissenschaftlich produktive, wenngleich nicht immer unmittelbar zielführende Abhängigkeiten zwischen empirischen Beobachtungen und aufgerufenem theoretischen Kontext finden sich bei dem Anatomen und Zeitgenossen Soemmerrings Franz Joseph Gall (17581828). Dessen Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen (1791) beginnen mit einer dezidiert methodischen Grundlegung:

40 Die Faszination für das Ventrikelsystem und die Mutmaßungen über den Sitz der menschlichen Seele gehen dabei weit vor Soemmerring zurück (bis in die Antike zu Herophilos von Chalkedon, 3. Jh. v. Chr., und Galenos von Pergamon, 2. Jh. n. Chr.) und hängen mit der Gewinnung neuroanatomischen Wissens durch post-mortemSektionen zusammen. Die üblicherweise mit Hirnwasser (Liquor cerebrospinalis) gefüllten Hirnkammern bieten sich dem Anatomen in der Sektion in der Tat ab einem bestimmten Zeitfenster leer dar und werden so zu einem hervorragenden Ansatzpunkt für die Spekulationen der Metaphysik. Gleichzeitig stehen sie durch ihre Anlage mit allen wichtigen Strukturen des Gehirns in Verbindung. Dies bekräftigte den Verdacht, die Hirnkammern seien der Sitz der Seele, die nach dem Tode ihre sterbliche Hülle verlassen habe, eine Art materielles Bindeglied zwischen Körper und Seele, und damit gemeinsames Diskursfeld der unterschiedlichen Disziplinen (vgl. A. Harrington: Medicine; M. Hagner: Soemmerring; W. Larink: Bilder). 41 Vgl. P. McLaughlin: Soemmerring; 1985; W. Euler: Die Suche. 42 Vgl. u.a. M. Hagner: Aufklärung; E. Clarke/K. Dewhurst/M. Aminoff: An Illustrated History; H. Schott: Schädel.

280 | A NNA L. ROETHE „Vor allem ist es billig und nothwendig, daß sowohl der Arzt als der Philosoph richtige Begriffe von einem belebten Mechanismus, und von der Natur des Menschen zu erhalten suchen. [...] Schon Hippokrates behauptete, daß weder der Weltweise noch der Gesetzgeber etwas Richtiges ohne Beyhilfe der Arzneywissenschaft von der Natur des Menschen erkennen koenne; so wie von der anderen Seite immer diejenigen die groeßten Aerzte geworden sind, welche zugleich grosse Philosophen waren.“43

Als Begründer der „Organologie“ vertritt Gall eine Lokalisationstheorie, die alle wichtigen Hirnfunktionen auf der Hirnoberfläche verortet und davon ausgeht, „dass das Seelische wesentlich vom Körperlichen mit beeinflusst wird“.44 Diese Position findet sich in Nietzsches Schriften durchgehend wieder.45 Die eigentliche experimentelle Untersuchung und wissenschaftliche Beschreibung des Hirnwassers (Liquors), mit der die Debatte um das Seelenorgan einen wissenschaftlichen Endpunkt erreicht, gelingt erst dem französischen Physiologen François Magendie (1783-1855).46 Mit ihm zeichnet sich ein weiterer Paradigmenwechsel ab, der auch seinen Schüler Claude Bernard methodisch geprägt hat: Vor dieser neuen experimentalwissenschaftlichen Schule in Paris wurden physiologische Forschungserkenntnisse primär indirekt, durch klinische Spekulation und Rückschlüssen aus anatomischen Gegebenheiten gewonnen.47 Bernards wissenschaftlicher Determinismus48 Mitte des 19. Jahrhunderts ist auch deshalb über die Grenzen der Fächer und Subdisziplinen hinweg so erfolgreich, weil er methodische Lösungsansätze für die seit Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend spürbare „Grundlagenkrise der Medizin“49 bietet, eine Zeitdiagnose, die sich bei aller Begeisterung für die Wissenschaften seiner Zeit auch bei Nietzsche findet: „Fast in allen Wissenschaften ist die Grundeinsicht entweder erst in jüngster Zeit gefunden oder wird noch gesucht [...].“50 Wissenszuwachs und in-

43 MA Vorrede, IX. 44 H. Schott: Schädel, S. 1421. Galls Hypothese, dass die Schädelform eines Menschen als von außen sichtbares Korrelat seiner kognitiven Verfassung entspräche, bleibt der Medizingeschichte in Gestalt der „Phrenologie“ im Gedächtnis. 45 Zur ausführlichen Analyse vor allem der Fragmente im Nachlass vgl. A. Olivier: Nietzsche and Neurology. 46 Vgl. Magendies Aufsatz Mémoire sur un liquide qui se trouve dans le crane et le canal vertébral de l’homme et des animaux mammifères (1825). 47 Vgl. C. Gross: Claude Bernard, S. 380. 48 Vgl. A. Boullerne: Neurophysiology. 49 W. Euler: Die Suche, S. 457. 50 MA I, 257.

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härente Methodik werden im Gefolge Bernards nicht nur in Verbindung zueinander gesehen, sondern zugleich auch (disziplinär und interdisziplinär) kritisch reflektiert. Nietzsches Kulturbegriff, wie er in Menschliches, Allzumenschliches entwickelt wird, speist sich aus dieser Tradition disziplinärer Diskurskreuzungen ebenso sehr, wie er sowohl anatomische als auch physiologische Paradigmen in sich aufnimmt. Die morphologische Analogie zum Kammersystem des menschlichen Gehirns, die Vorstellung eines Steuerungs- und Systemorganismus, in dem Kunst als Kraftquelle und Wissenschaft als Regulator fungiert, um so Einseitigkeit und Degeneration der Wissenschaftskultur zu unterbinden und die „Lust an der Erkenntnis“ zu gewährleisten, stellen die Basis für ein physiologisches Paradigma der Kultur, aufrechterhalten durch ein „inneres Milieu“ (Bernard). Die resultierende Kultur wird von Nietzsche als „Gewebe“ klassifiziert.51 Auf der anderen Seite wird dieses abstrakte Modellschema in seiner Bedeutung für das Individuum konkretisiert. In einem späteren Abschnitt heißt es: „Gesetzt, es lebe Einer eben so sehr in der Liebe zur [...] Kunst [...] als er vom Geiste der Wissenschaft fortgerissen werde, und er sehe es als unmöglich an, diesen Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung der anderen Macht aufzuheben: so bleibt ihm nur übrig, ein so grosses Gebäude der Cultur aus sich zu gestalten, dass jene beiden Mächte [...] in ihm wohnen können, während zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte [...] ihre Herberge haben. Ein solches Gebäude der Cultur im einzelnen Individuum wird aber die grösste Aehnlichkeit mit dem Culturbau in ganzen Zeitperioden haben und eine fortgesetzte analogische Belehrung über denselben abgeben.“52

Hier präsentiert sich ein Parallelismus in der Architektur (oder „Anatomie“) von Individualkultur und Kultursystem als „Mikrokosmos“ bzw. „Makrokosmos“, in dem die heterogenen Kräfte der Wissenskulturen auch räumlich miteinander ausgesöhnt werden. Über die Nominierung der vermittelnden Instanzen ist in der Kulturphilosophie viel spekuliert worden; als Nachfolgerin der Philosophie, die diese Position traditionell für sich beansprucht hat, ist derzeit als sogenannte „dritte Kultur“ vor allem die Kulturwissenschaft im Gespräch.53 Nietzsches „Culturbau“ steht an dieser Stelle auch in der Tradition der Topographie des Gehirns, mithin eines eher anatomischen Paradigmas. Dem korrespondiert die Auffassung von Kultur als „Gebäude“. Während die Suche nach dem Seelenorgan

51 Vgl. MA I, 251. 52 Ebd., 276. 53 Vgl. S. Weigel: Posthuman Condition.

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jahrhundertelang die Metapher des Mehrkammersystems auch im populärwissenschaftlichen Gedächtnis wachgehalten hat, kehrt sich dieser Prozess v.a. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend um. Mit den nunmehr rasant fortschreitenden funktionellen Erkenntnissen der jungen Neurologie (durch Franz Joseph Gall, Paul Broca, Carl Wernicke, Korbinian Brodmann, Louis Antoine Ranvier u.a.) und ihrer disziplinären Verbindung mit Psychologie und Psychiatrie verdrängt die Metapher des Doppelgehirns das Interesse an den Hirnkammern weitgehend54 – bis heute, wo die Arbeitsteilung der beiden Hirnhälften und das „Doppelleben“ unseres zentralen Nervensystems in seiner Bedeutung für unsere Identität und Persönlichkeit nach wie vor ein gesellschaftliches Gesprächsthema ist.55 In Nietzsches Arbeiten ist diese wissenschaftshistorische Diskursverschiebung weiterhin sichtbar. Das anatomische und das physiologische Paradigma der Kultur, wie sie in Menschliches, Allzumenschliches gezeichnet werden, stellen das Bindeglied zwischen der individuellen und der kollektiven Kulturerfahrung und Kulturprägung dar. Nietzsche führt mit der Etablierung eines pluralistischen (labyrinthischen) Kulturbegriffs auch einen pluralistischen (labyrinthischen) Subjektbegriff ein,56 der für die erfolgreiche Ich-Bildung als „polyphones Subjekt“57 die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Kulturen nicht mehr ausschließt, sondern als Basis für Entwicklung und „transformative Entdeckungen“58 vielmehr voraussetzt. Das metaphysische Seelenorgan (Zweikammersystem) des Menschen wird in das materialistische Doppelgehirn der Kultur transformiert – und umgekehrt. In beiden Fällen haben wir es mit einer besonderen medizinisch-philosophischen Modellierung zu tun, die in gegenseitigem Transfer zwischen den Wissenskulturen der Anatomie, Physiologie und Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts zu ihrer endgültigen Ausprägung gefunden hat und in Nietzsches kulturphilosophischem Gedankengebäude den Status einer epistemologischen Metapher erreicht, indem sie die Mechanismen ihrer Entstehung als Methode auf ihren Inhalt überträgt: „Doppelgehirn“ und „Kultur“ werden synonym. Die damit angesprochenen Erkenntnisinteressen und -probleme erleben in der cultural neuroscience aktuell eine Renaissance unter dem Paradigma „the brain in culture-the culture in brain problem“.59 Bei Nietzsche bleiben sie auf dem Status von vielversprechenden

54 Vgl. A. Harrington: Medicine. 55 Vgl. T. Hürter: Ich bin zwei. 56 Vgl. R. Elberfeld: Durchbruch. 57 MA I, 111. 58 Ebd., S. 136. 59 Vgl. F. Domínguez et al.: The Brain.

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Zwischenüberlegungen; dieser Umstand veranlasst Safranski zu seinem etwas bedauernden Resümee: „In Nietzsches Werk blitzt die Idee des Zweikammersystems immer wieder auf und verschwindet dann – sehr zum Nachteil seiner Philosophie. Hätte er an ihr festgehalten, würde er sich vielleicht einige Tollheiten seiner Visionen der großen Politik und des gattungspolitischen Willens zur Macht erspart haben.“60

Noch eine kulturtheoretische Fußnote zu dieser Methodologie. Nietzsches philosophische Technik einer kulturenübergreifenden Epistemologie erinnert in ihrer sorgfältigen Komposition, Wirkmächtigkeit und Herausforderung an die wissenschaftliche Analyse und Interpretation dabei durchaus auch an ein Verfahren, das der amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt Ende des 20. Jahrhunderts unter der Bezeichnung „Kulturpoetik“ („poetics of culture“) in die Diskussion gebracht hat: „In jeder Kultur gibt es einen allgemeinen Symbolhaushalt [...]. Durch [...] ihr Gespür für die [...] kollektive Schöpfung jeglicher Kultur [...] sind [...] Künstler dazu befähigt, diesen Haushalt zu manipulieren. Sie nehmen symbolisches Material aus einer kulturellen Sphäre und bewegen es in eine andere, vergrößern dabei seine emotionale Wirkungskraft, wandeln seine Bedeutung ab, verbinden es mit weiterem Material aus einem anderen Bereich und verändern so seinen Ort in einem umfassenden gesellschaftlichen Entwurf.“61

Für die Kulturpoetik stellt „Kultur“ einen rhizomhaften Hypertext dar, in dem die Kunst über die Ordnung kultureller Diskurse verfügt und Material aus allen Sphären und Wissenskulturen temporär zu Sinneinheiten verknüpft. Die Medizin, im vorliegenden Fall die Neurowissenschaft, ist in diesem Netzwerk kultureller Ver- und Aushandlungen gleichberechtigter Partner neben allen anderen „Materiallieferanten“. Es geht grundsätzlich weniger um „Wissen“ im wissenschaftlichen Sinne, als vielmehr um Wahrheits- und Bedeutungsproduktion zu einem bestimmten Zeitpunkt: eine „historische Momentanalyse“ der Kultur bzw. kultureller Interpretationsstrategien. Zugleich ist „Bewußtsein über die eigene Methodologie zu erlangen [...] eines der Erkennungsmerkmale“62 der Kulturpoetik. Erneut lässt sich der Bogen von Nietzsches Philosophemen zu den Aufgaben- und Interessensbereichen der Kulturwissenschaft schlagen.

60 R. Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens, S. 204. 61 S. Greenblatt: Kultur, S. 55f. 62 S. Greenblatt: Grundzüge, S. 120.

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N EURO -K ULTUR -P HILOSOPHIE ? Im epistemologischen Profil von Nietzsches Gehirnbegriff schlägt sich augenscheinlich die Komplexität des medizinisch-philosophischen Wissensstands seiner Zeit nieder. Wenngleich dualistisch angelegt, besteht die Pointe seiner neurophilosophischen Konzeption gerade darin, sowohl von der cartesianischen Frage eines „gerade in der Medizin so hinderlichen“63 Leib-Seele-Dualismus als auch von dessen Engführung als Gehirn-Verstand-Dualismus (mind versus brain) Abstand zu nehmen64 und der Physiologie die Befehlsgewalt über kognitive (und kulturelle) Funktionen einzuräumen.65 Übertragen auf die komplexe Aushandlungssituation zwischen den Wissenskulturen, die in Nietzsches Doppelgehirn-Modell eine epistemisch unlösbare Verbindung eingehen, heißt dies zum einen, dass Erkenntnisfortschritt, gleich ob empirisch oder theoretisch, stets zwischen den Kulturen auf der Basis ihrer gegenseitigen Einflussfaktoren (anatomisch-physiologisch und soziokulturell) fundiert wird. Dies entspricht einer Grundannahme der modernen Neurophilosophie – „it is now evident that where one discipline ends and the other begins no longer matters, for it is in the nature of the case that the boundaries are ill defined“.66 Zum anderen wird Nietzsche mit diesem Programm interessant für die medizinische Epistemologie, da er nicht nur über die Erkenntnisfähigkeit in der Medizin als solche reflektiert, sondern auch über die methodischen Wurzeln und Grenzen einer derartigen Epistemologie und ihre kulturellen Einflussfaktoren. Dass Kulturwissenschaft und Kulturtheorie Nietzsches Schriften zu Kulturbegriff und Kulturkritik einer produktiven Re-Lektüre unterziehen können (und sollten), ist recht naheliegend. Das Konzept interdisziplinären Denkens befindet sich weiterhin in konstanter Aushandlung zwischen den Disziplinen und ist zugleich methodologisch stärker gefragt als je zuvor, umso mehr in der („zweiten“) Kulturwissenschaft, die in ihrem anhaltenden Eroberungsfeldzug durch die Wissenskulturen sich nicht nur deren Methoden aneignet, sondern auch deren Gegenstände – hierbei durchaus in guter

63 F. Hartmann: Zur Dialiektik, S. 134. 64 Vgl. A. Olivier: Nietzsche and Neurology. 65 Dies ist eine wichtige Basis für Nietzsches Anschlussfähigkeit an die medizinische Praxis jenseits medizinethischer Fragen: „Wenn ein Arzt den Gedanken nachspürt, die ein Philosoph wie Friedrich Nietzsche am ‚Leitfaden des Leibes‘ im Vertrauen auf eine ‚Vernunft des Leibes‘ [...] gedacht hat, so leiten ihn Interessen, ungelöste Probleme, unbeantwortete Fragen seines eigenen Alltags.“ (F. Hartmann: Zur Dialektik, S. 133f.) 66 P. Churchland: Neurophilosophy, S. IXf.

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Tradition der Philosophie. Nietzsches Fragmente einer von den noch jungen Neurowissenschaften inspirierten Kulturtheorie – eines sich selbst beobachtenden „Laboratoriums der Kultur“67 im Bernardschen Sinne – schlagen ein integratives Modell vor, demzufolge nicht nur das Funktionsprinzip von Kultur als System, sondern auch die Produktions- und Rezeptionspraktiken der in ihr agierenden Subjekte und die einzelnen materiellen Kulturprodukte dualistisch operieren. Wissenschaft und Kultur sind durch den gemeinsamen Funktionszusammenhang nicht nur wechselseitige Einflussfaktoren, sondern voneinander abhängig. Als analytische Vermittlungsinstanzen im Diskursdickicht treten am Ende des 19. wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem Philosophie und Kulturwissenschaft in Erscheinung, wenngleich Nietzsches durchaus kühne Vision eines kulturpluralistischen Systems Vermittlerrollen letztlich für obsolet zu halten scheint.68 Methodologisch ergiebig ist Nietzsches fundierte Rezeption zeitgenössischer naturwissenschaftlicher und medizinischer Forschungsstände, vor allem der Physiologie, die ihm „einen alternativen Zugang zu Problemen der Erkenntnistheorie und Ästhetik zu bieten scheint“,69 sowie die modellhafte Weiterführung entsprechender Metaphernbestände im Medium der Kulturphilosophie als epistemologische Metaphern. Darin zeigt sich auch die Nähe von Nietzsches Kulturkonzeption zur Kulturpoetik des New Historicism. Die konstruktive Durchdringung der Wissenskulturen bildet bei ihm die Basis für eine weniger literarisch als vielmehr allgemein ästhetisch ausgerichtete kulturelle Praxis der historischen Erschließung und gegenwartsbezogenen Diagnose. Der kulturelle Dualismus, der etwa 80 Jahre nach Menschliches, Allzumenschliches im Rahmen der „ZweiKulturen-Debatte“70 erneut beschworen wurde und bis heute nachwirkt, präsentiert sich bei Nietzsche entsprechend differenzierter. Seine kulturtheoretische Perspektive verortet die Differenzen zwischen den Wissenskulturen nicht so sehr in der Methodik (als vermeintliche Unvereinbarkeit), als vielmehr in ihrer Funktion (als tatsächliche Ergänzungsbeziehung): „das Können, nicht das Wissen, durch die Wissenschaft geübt“.71 Praxisbedingt voneinander geschieden, da sie gesellschaftlich unterschiedliche Interessen verfolgen, sind Kunst, Kultur- und Naturwissenschaft bei ihm nichtsdestotrotz als Kontinuum – oder gemeinsamer „(Hirn-)Organismus“ – aufzufassen, innerhalb dessen kontant neue Kräftever-

67 P. van Tongeren: Vom ‚Arzt der Cultur‘, S. 28. 68 Vgl. A. Orsucci: Die Hierarchie, S. 429f. 69 B. Wahrig-Schmidt: Irgendwie, S. 439. 70 Vgl. C. Snow: Die zwei Kulturen. 71 MA I, 256.

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hältnisse hergestellt werden, gesellschaftlich wie auf Ebene des einzelnen Subjekts: „Wenn Nietzsche von einer ‚höheren Cultur‘ erwartet, daß sie den Menschen gleichsam ‚zwei Hirnkammern‘ geben müsse, ‚einmal um Wissenschaft, sodann um NichtWissenschaft zu empfinden‘, dann plädiert er für eine Lebenskunst, die sich der Tatsache bewußt bleibt, daß es Leben aus einem Guß nicht mehr geben kann; daß die Lebenswelt aus mehreren Welten besteht, denn die beiden Welten von ‚Wissenschaft‘ und ‚NichtWissenschaft‘ zerteilen sich weiter in die Wissenschaftsdisziplinen und die unterschiedlichen kulturellen Sphären wie Religion, Politik, Kunst, Moral. Und ungewiß bleibt, wohin die Philosophie gehört: ist sie Wissenschaft oder doch eher schöpferisch-künstlerische Ausdrucksform des Lebens?“72

Im Zyklus der Divergenz und Konvergenz der Wissenschaften seit dem 18. Jh.73 ist Nietzsche damit eine zeitlose Diagnose gelungen, die gerade die Verhältnisse zum Ende des jeweiligen Jahrhunderts – trotz aller Tendenzen zur disziplinären Ausdifferenzierung – treffsicher abbildet. Ebenso wie neurophilosophische Erklärungsmodelle auf naturwissenschaftliche Erkenntnisbestände zurückgreifen, werden neurowissenschaftliche Zugänge zu physiologischen Funktionszusammenhängen epistemisch von historisch-kulturellen Modellierungen gespeist. Mehr noch, kognitiv und materiell veränderte Bedingungen von Kultur greifen in Modell wie Methode ineinander: „The couple, ‚Nietzsche‘ and ‚Neurology‘, indeed gives birth to an example of a new ‚gay science‘: neuro-philosophy.“74 Vor diesem Hintergrund können Nietzsches Schriften nicht nur als historisches Bindeglied – als „Referenzen für eine philosophische Geschichte pluraler Wissensformen“75 – zwischen Bernard und Bachelard, über Canguilhem bis Foucault gelesen werden. Sie bieten zugleich auch produktive Ansätze einer medizinischen Epistemologie, die aktuelle Forschungsinteressen in beiden Wissenskulturen – Kultur- und Neurowissenschaften76 – methodisch zu kontextualisieren und zu reflektieren vermag.

72 R. Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens, S. 206f. 73 Vgl. A. Zimmermann: ‚Dieses ganze unendliche Weltwesen‘. 74 A. Olivier: Nietzsche and Neurology, S. 140. 75 M. Brusotti: Nietzsche und der ‚französische Stil‘, S. 74. 76 Für eine instruktive Analyse der Anwendung auf das Verhältnis von Krankheit und Kreativität bei Nietzsche vgl. L. Perogamvros et al.: Friedrich Nietzsche and his Illness.

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D ANKSAGUNG Der vorliegende Text geht in seinen Grundzügen zurück auf einen Forschungsaufenthalt im Mai und Juni 2013 am Kolleg Friedrich Nietzsche sowie meinen Tagungsbeitrag („Im Doppelgehirn der Kulturphilosophie: Medizin, Kunst und Wissenschaft nach Friedrich Nietzsche“) auf der internationalen Konferenz „Mit Nietzsche nach Nietzsche – 125 Jahre nach Turin“ am 8. Januar 2014 in Weimar. Mein Dank gilt der Klassikstiftung Weimar und besonders dem Leiter des Kollegs, Herrn Dr. Rüdiger Schmidt-Grépály.

L ITERATUR Bachelard, Gaston: Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen wissenschaftlichen Geistes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980/1940. Bernard, Claude: Einführung in das Studium der experimentellen Medizin, Leipzig: Johann Ambrosius Barth Verlag 1961/1865. Bickle, John/Mandik, Peter/Landreth, Anthony: „The Philosophy of Neuroscience“, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2012 Edition), http://plato.stanford.edu/archives/sum2012/entries/ neuroscience/ vom 28.03.2015. Boller, François/Dalla Barba, Gianfranco: „The Evolution of Psychiatry and Neurology“, in: Dilip V. Jeste/Joseph H. Friedman (Hg.), Psychiatry for Neurologists, Totowa/NJ: Humana Press 2006, S. 11-15. Borck, Cornelius: „Fühlfäden und Fangarme. Metaphern des Organischen als Dispositiv der Hirnforschung“, in: Michael Hagner (Hg.), Ecce Cortex. Beiträge zur Geschichte des modernen Gehirns, Göttingen: Wallstein 1999, S. 144-176. Bornedal, Peter: „Theory of Knowledge as ‚Neuro-Epistemology‘: Toward a Biological-Linguistic Subject in Nietzsche and Contemporaries“, in: ders., The Surface and the Abyss: Nietzsche as Philosopher of Mind and Knowledge, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2010, S. 231-357. Boullerne, Anne: „Neurophysiology to Neuroanatomy: the transition from Claude Bernard to Louis Antoine Ranvier“, in: Archives Italiennes de Biologie 149 (2011), S. 38-46. Brusotti, Marco: „Nietzsche und der ‚französische Stil‘ in der Wissenschaftsphilosophie: Bachelard und Canguilhem mit einem Ausblick auf Foucault“, in: Renate Reschke/Marco Brusotti (Hg.), „Einige werden posthum geboren“.

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Serviceteil

Autorinnen und Autoren

Assadi, Galia Dr., studierte Sozialpädagogik, Soziologie und promovierte in Philosophie an der LMU München. Nach Tätigkeiten als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Philosophie und Ökonomik (LMU) und am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin (LMU), forscht sie aktuell am Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften in München über die Rolle von Emotionalität in der Mensch-Technik-Interaktion. Ihre Monographie Ordnung durch Verantwortung. Neue Perspektiven auf einen philosophischen Grundbegriff erschien 2013 bei Campus, der von ihr mitherausgegebene Sammelband Organ Transplantation in Times of Donor Shortage. Challenges and Solutions 2015 bei Springer. Aurenque, Diana Prof. Dr., studierte Philosophie in Santiago de Chile und promovierte im Fach Philosophie in Freiburg im Breisgau. Sie war Lehrbeauftragte in Freiburg und Stuttgart und arbeitete als Oberassistentin an der Universität Tübingen. Seit 2015 ist sie Professorin am Philosophischen Seminar der Universidad de Santiago de Chile (USACH). 2011 erschien ihre Monographie Ethosdenken. Auf der Spur einer ethischen Fragestellung in der Philosophie Martin Heideggers im Alber Verlag und 2013 gab sie zusammen mit Orsolya Friedrich der Sammelband Medizinphilosophie oder philosophische Medizin? Ethische Beiträge zu Herausforderungen technisierter Medizin bei Frommann-Holzboog heraus. Friedrich, Orsolya Dr. Dr., studierte und promovierte in Humanmedizin und Philosophie. Aktuell ist sie am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der LMU München als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Ihre Monografie Persönlichkeit im Zeitalter der Neurowissenschaften. Eine kritische Analyse neurowissenschaftlicher Eingriffe in die Persönlichkeit erschien 2013, sie hat die Sammelbände Medizinphilosophie oder philosophische Medizin? Phi-

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losophisch-ethische Beiträge zu Herausforderungen technisierter Medizin (2013) und Persönlichkeit – Neurowissenschaftliche und neurophilosophische Fragestellungen (2014) mitherausgegeben. Laufenberg, Mike Dr., Soziologe und seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Technischen Universität Berlin. Zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter und Fellow an der HafenCity Universität Hamburg, dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin und der New School for Social Research New York. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschafts- und Medizinsoziologie, Biopolitik, Wohlfahrtsstaatsforschung, Soziologie der Sorge, Alternssoziologie, feministische und queere Gesellschaftstheorie. Bei transcript 2014 erschienen ist seine Monographie Sexualität und Biomacht. Vom Sicherheitsdispositiv zur Politik der Sorge. Lemm, Venessa Prof. Dr., ist Professorin für Philosophie an der Universität New South Wales, Sydney, Australia. Sie hat unter anderem das Buch Nietzsche’s Animal Philosophy: Culture, Politics and the Animality of the Human Being (Fordham University Press, 2009) und diverse Artikel zu Nietzsche, Biopolitik und zeitgenössischer politischer Theorie verfasst. Kürzlich erschienen sind zudem: Nietzsche and the Becoming of Life, The Government of Life: Foucault, Biopolitics and Neoliberalism (beide Fordham University Press, 2014) sowie Nietzsche y el devenir de la vida (Fondo de cultura económica, 2014). Lühring, Nicole ist Studierende der Soziologie und der Philosophie der LMU München. Seit 2013 ist sie studentische Mitarbeiterin des Lehrstuhls für Soziologie und Gender Studies des Instituts für Soziologie der LMU München. Die persönlichen Interessenschwerpunkte liegen in der Geschlechtersoziologie, den Queerstudies und poststrukturalistischen Theorien. Meißner, Hanna Dr., studierte Soziologie, Politikwissenschaften, Psychologie und Niederlandistik an der Freien Universität Berlin und an der Université de Toulouse-Le Mirail und schloss 1998 ihr Studium mit einem Diplom in Soziologie ab. An der Humboldt-Universität zu Berlin wurde sie 2009 mit ihrer Arbeit Bedingte Kontingenz. Zur sozialen Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit promoviert. Von 1999 bis 2006 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin im Bereich Sozialstruktur und theoretische Grundlagen. Seit 2009 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Technischen Universität Berlin.

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Prokić, Tanja Dr., studierte Philosophie mit den Nebenfächern Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur an der LMU, München. Von 2010-2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Neuere deutsche Literatur und Medien (Oliver Jahraus). 2010 Promotion an der LMU München zum Thema Selbsttechnologien und Selbsterzählung im Kontext von Zeit und Gesellschaft. Seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Medienwissenschaft und NdL (Lars Koch) am Institut für Germanistik der TU Dresden. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen derzeit im Bereich der Serialität, Theatralität, Visual Culture, Medientheorie, sowie der Wechselwirkung zwischen Kunst und Gesellschaft. Zu Foucault sind erschienen: Einführung in Foucaults Methodologie: Archäologie – Genealogie – Kritik (Diplomica 2009) sowie Kritik des narrativen Selbst. Über die (Un)Möglichkeit von Selbsttechnologien in der Moderne (Ergon 2011). Roethe, Anna L. M.A., ist Ärztin und Kulturwissenschaftlerin. Sie hat in Berlin und Potsdam Medizin, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Jüdische Studien studiert und ist seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenzcluster Bild Wissen Gestaltung - Ein Interdisziplinäres Labor an der HumboldtUniversität zu Berlin. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf ästhetischepistemischen Fragestellungen an den Übergängen von Natur- und Geisteswissenschaften sowie postdisziplinären Synthesemöglichkeiten von Medizin, Kulturwissenschaft und Design; derzeit forscht sie zu neurochirurgischen und visuell-digitalen Praktiken im Operationssaal und in der onkologischen Patientenversorgung an der Charité Berlin. Ihre Dissertation beschäftigt sich mit viskursiven Strategien medizinischer Narrative am Beispiel der Diagnose von Hirntumoren. 2013 war sie Fellow in Residence am Kolleg Friedrich Nietzsche in Weimar. Schleidgen, Sebastian M.A., studierte Philosophie und Soziologie an der Universität Konstanz und promoviert an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Ludwig-Maxiilians-Universität München und ist derzeit im Arbeitsschwerpunkt Ethics and Patient-Oriented Care am Nationalen Tumorcentrum in Heidelberg beschäftigt. Er hat verschiedene Artikel im Bereich der Ethik, Metaethik und angewandten Ethik veröffentlicht, unter anderem den Sammelband Should we always act morally? Essays on Overridingness herausgegeben und ist Herausgeber der Buchreihe Ethik & Moral beim Tectum-Verlag. Schönherr-Mann, Hans-Martin Prof. Dr., Essayist und Professor für Politische Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Gastprofessor an

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der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck; Lehr- u. Prüfungsbeauftragter an der Hochschule für Politik der TU München; seit 2013 fünf Gastprofessuren an der Universität Regensburg und der Katholischen Universität Eichstätt. Neuere Bücher: 2015: Albert Camus als politischer Philosoph (Innsbruck University Press); Untergangsprophet und Lebenskünstlerin – Über die Ökologisierung der Welt (Matthes & Seits Berlin); 2013: Protest, Solidarität und Utopie (edition fatal); 2012: Was ist politische Philosophie (Campus Studium); 2010: Die Macht der Verantwortung (Alber Spektrum); 2009: Der Übermensch als Lebenskünstlerin – Nietzsche, Foucault und die Ethik (M&SB). Sorgner, Stefan L. Prof. Dr., unterrichtet Philosophie an der John Cabot University in Rom, ist Direktor und Mitbegründer des Beyond Humanism Network und ist Fellow am Institute for Ethics and Emerging Technologies (IEET). Er ist Autor und Herausgeber von mehr als zehn Büchern, unter anderem „Menschenwürde nach Nietzsche“ (2010), sowie ein weltweit gefragter Referent (z.B. TEDx, Phil.cologne, World Humanities Forum) und regelmäßiger Ansprechpartner nationaler sowie internationaler Medien (z.B. DIE ZEIT). Seine Hauptarbeitsgebiete und Forschungsinteressen sind die Philosophie Nietzsches, Musikphilosophie, Bioethik und der Meta-, Post- und Transhumanismus. Stegmaier, Werner, bis 2011 Ordinarius für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Universität Greifswald; Mitherausgeber der Nietzsche-Studien und der Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung. Aktuelles Forschungsprojekt: Luhmann meets Nietzsche. Orientierung im Nihilismus. Letzte Monographien: Philosophie der Orientierung (2008), Nietzsche zur Einführung (2011); Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ (2012).

KörperKulturen Elk Franke (Hg.) Herausforderung Gen-Doping Bedingungen einer noch nicht geführten Debatte Juni 2016, ca. 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1380-3

Ronja Schütz, Elisabeth Hildt, Jürgen Hampel (Hg.) Neuroenhancement Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Kontroverse Juni 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3122-7

Volker Schürmann, Jürgen Mittag, Günter Stibbe, Jörg-Uwe Nieland, Jan Haut (Hg.) Bewegungskulturen im Wandel Der Sport der Medialen Moderne – Gesellschaftstheoretische Verortungen März 2016, ca. 450 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3152-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

KörperKulturen Sven Lewandowski, Cornelia Koppetsch (Hg.) Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter Beiträge zur Soziologie der Sexualität März 2015, 338 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3017-6

Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.) Gesundheit 2.0 Das ePatienten-Handbuch 2014, 144 Seiten, kart., 15,99 €, ISBN 978-3-8376-2807-4

Mischa Kläber Moderner Muskelkult Zur Sozialgeschichte des Bodybuildings 2013, 276 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2376-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

KörperKulturen Lisa Landsteiner Platz nehmen Zur Psychologie des Sitzens am Ort der Psychiatrie

Tobias Eichinger Jenseits der Therapie Philosophie und Ethik wunscherfüllender Medizin

März 2016, ca. 194 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3383-2

2013, 308 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2543-1

Ulrike Busch, Daphne Hahn (Hg.) Abtreibung Diskurse und Tendenzen 2014, 330 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2602-5

Malaika Rödel Geschlecht im Zeitalter der Reproduktionstechnologien Natur, Technologie und Körper im Diskurs der Präimplantationsdiagnostik 2014, 260 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2921-7

Hans-Uwe Rösner Behindert sein – behindert werden Texte zu einer dekonstruktiven Ethik der Anerkennung behinderter Menschen 2014, 310 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2800-5

Elisabeth Wagner Grenzbewusster Sadomasochismus SM-Sexualität zwischen Normbruch und Normbestätigung 2014, 354 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2870-8

Arno Böhler, Krassimira Kruschkova, Susanne Valerie Granzer (Hg.) Wissen wir, was ein Körper vermag? Rhizomatische Körper in Religion, Kunst, Philosophie 2014, 258 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2687-2

Kathrin Dengler, Heiner Fangerau (Hg.) Zuteilungskriterien im Gesundheitswesen: Grenzen und Alternativen Eine Einführung mit medizinethischen und philosophischen Verortungen 2013, 258 Seiten, kart., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2290-4

Arno Böhler, Christian Herzog, Alice Pechriggl (Hg.) Korporale Performanz Zur bedeutungsgenerierenden Dimension des Leibes 2013, 274 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2477-9

Andrea zur Nieden Zum Subjekt der Gene werden Subjektivierungsweisen im Zeichen der Genetisierung von Brustkrebs 2013, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2283-6

Nino Ferrin Selbstkultur und mediale Körper Zur Pädagogik und Anthropologie neuer Medienpraxen 2013, 246 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2505-9

Karen Wagels Geschlecht als Artefakt Regulierungsweisen in Erwerbsarbeitskontexten 2013, 276 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2226-3

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