Nietzsche und die poetische Lüge 9783110831146, 9783110051780

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Nietzsche und die poetische Lüge
 9783110831146, 9783110051780

Table of contents :
1. TEIL : Wahrheit und Lüge
Einleitung
1. Kapitel: Das philologische Ideal
2. Kapitel: Der Dichter als Lügner
3. Kapitel: Die Rechtfertigung des Scheins
2. TEIL : Kunst und Macht
4. Kapitel: Das Problem der Bildung
5. Kapitel: Das Wesen des Künstlers
6. Kapitel: Der Wille zur Macht
Schluß

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M. Bindschedler · Nietzsche und die poetische Lüge

Maria Bindschedler

Nietzsche und die poetische Lüge

Walter de Gruyter & Co. vormals G . J . Göschen'scbe Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J . Trübner · Veit & Comp.

Berlin 1966

D a s v o r l i e g e n d e B u d i w u r d e 1 9 6 6 aus d e m V e r l a g f ü r R e c h t u n d G e s e l l s c h a f t A G , B a s e l , b e i d e m es 1 9 5 4 erschienen w a r , ü b e r n o m m e n .

Ardiiv-Nr. 36 65 661

© 1966 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Gösdien'sche Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J . Trübner - Veit & Comp., Berlin 30 Printed in Switzerland AlJe Redite, insbesondere das der Obersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf ph otom e eh ani schem W e g e (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen.

INHALTSVERZEICHNIS

1. TEIL : Wahrheit und Lüge Einleitung

9

1. Kapitel: Das philologische Ideal

16

2. Kapitel: Der Dichter als Lügner

26

3. Kapitel: Die Rechtfertigung des Scheins

36

2. TEIL : Kunst und Macht 4. Kapitel: Das Problem der Bildung

51

5. Kapitel: Das Wesen des Künstlers

59

6. Kapitel: Der Wille zur Macht

70

Schluß

81

Die Werke von Friedrich Nietzsche sind nach der Musarion-Ausgabe, München 1922 ff., zitiert.

ERSTER TEIL

WAHRHEIT UND LÜGE

Einleitung

"Ιδμβν ψεύδεα πολλά λέγειυ έτύμαβιν όμοΐα, Ιδμεν β', είτ' έθέλωμεν, άληθέα γηρύσασθαι.

Hesiod, Theogonie, V. 27-8

Durch Nietzsches gesamtes Schaffen hindurch läßt sich die eine Grundspannung verfolgen: sein Verhältnis zur Wahrheit und zur Lüge. Mit andern Worten sein immer wieder wechselndes Urteil über die Dichtung. Auf der einen Seite hat Nietzsche versucht, nichts anderes zu sein als „Freier der Wahrheit", als einer, der um die Erkenntnis der nackten Tatsächlichkeit ringt, der die Dinge enthüllt, demaskiert, „genealogisiert" und dadurch ihres Anspruchs auf ewige Gültigkeit, auf „Sein" überhaupt beraubt. Hierbei konnte er auf keine entschiedeneren Gegner stoßen, als auf jene, die — teils im naiven Glauben, gerade durch ihre Aussage das wahre Sein zu offenbaren, teils bewußt eine unwirkliche Welt „erfinden" 1 ) — das Tatsächliche verhüllen, die Dinge verkleiden, das uns unbekannte Grau der Vorzeit mit Mythen ausmalen und selbst so menschlichen Einrichtungen wie Sitten und Gebräuchen eine Ur-Sache und Heimat im Himmel verleihen — kurz auf jene, die nach dem Worte des Solon „viel lügen", die Dichter2). 1

) 0 . Gigon sagt im Hinblick auf Hesiods Diditerberufung (Der Ursprung der griechischen Philosophie, Basel 1945, S. 16): „Es ist im Wesen jeder Dichtung, daß sie sich als Wirklichkeit gibt und als Erfindung weiß." Ein Satz, der wohl nur mit Einschränkung gilt und von dem mindestens der religiöse Dichter ausgenommen werden müßte. Vgl. hierzu W. F. Otto, Die Berufung des Dichters (Gedenkschrift zu Hölderlins 100. Todestag, 2. Aufl., Tübingen 1944, S. 203 ff). l ) Solon, Fragm. 21 (Diehl).

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Auf der andern Seite verkörpert für Nietzsche nun eben der Diditer eine höhere Form des menschlichen Daseins. Gerade ihm enthüllt sich das sonst verborgene Wesen der Welt als das vielfältige Maskenspiel der einen Gottheit, Dionysos. Indem der Dichter sein zunächst nur ihm „wahrnehmbares" Gesicht gestaltet, wird er erst zu dem, der es im buchstäblichen Sinne „entdeckt", das ist sowohl auffindet wie der Mitwelt bekannt gibt. Was ein Hölderlin als den eigentlichen Beruf des Dichters erfaßt hat: „unter Gottes Gewittern . . . mit entblößtem Haupte zu stehen, des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand zu fassen und dem Volk ins Lied gehüllt die himmlische Gabe zu reichen"8) — die einzigartige Vermittler-Rolle zwischen dem Göttlichen und der Menschheit — ist Nietzsche in jenen Augenblicken von neuem aufgegangen, da er an die „Wahrheit" göttlicher Mächte, Dionysos und Apollo, und daher auch an die Würde ihrer Diener unter den Menschen geglaubt hat 4 ). Insofern die Dichtkunst, wie jede Kunst, „das große Stimulans des Lebens" ist5) und im besonderen das Stimulans des tragischen Lebens, könnte sie „Fälschung" nur in einem scheinbaren und vordergründigen Sinne sein. In ihrem Wesen entspricht sie der letzten Notwendigkeit, die das Lebensgetriebe selber in Gang hält: also, da Nietzsche zur Zeit des „Willens zur Macht", in dem diese Auffassung der Kunst vertreten ist, keine meta-lebendige Welt gelten läßt, der Wahrheit schlechthin·). — Doch nur in seltenen Momenten seines Lebens, etwa vor jenem Neujahrstag in Genua, als er den Anfang des 4. Buches der „Fröhlichen Wissenschaft" schrieb7), ist es Nietzsche geglückt, die beiden entgegengesetzten Positionen in seinem Verhältnis zur Dichtung miteinander zu versöhnen. Meist bestanden für ihn die zwei GrundAnsichten, wechselweise bejaht und abgelehnt, unvereinbar nebeneinander. *) Hölderlin, Wie wenn am F e i e r t a g e . . . , Werke 4, 153 (Hellingrath). ) In der Spätzeit Nietzsches, da die verhältnismäßig naiv gläubige Sprache der „Geburt der Tragödie" vermieden wird, gelangt nurmehr eine verstecktere und gebrochenere Gläubigkeit zum Ausdrude; indessen findet sich eine solche, wo immer Nietzsche seinen „gottbildenden Instinkt" (Werke 19, 354) zu Worte kommen ließ. «) Werke 19, 252. ·) Vgl. Nietzsches Worte über „den bauenden Geist", als der „das künstlerische Grundphänomen, welches .Leben' heißt", zu verstehen ist (Werke 19, 359). ') Werke 12, 201. 4

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Bevor wir jedoch Nietzsches Urteil über die Dichtung im einzelnen untersuchen, mag daran erinnert werden, daß es sich hierbei nicht um ein privates Anliegen des Denkers — und „Dichters" — Nietzsche handelt, sondern um eine Problematik, die bereits in der Antike gesehen und erörtert worden ist. Als Motto zu diesem einleitenden Kapitel haben wir die Worte aus Hesiods Prooemium zur Theogonie gewählt, weil in ihnen die Zweideutigkeit dichterischer Aussage bereits ihren klassischen Ausdruck gefunden hat. Was die Musen eingeben, kann entweder dem Wirklichen bloß „gleichen"8), oder es kann die lautere Wahrheit sein. Gigon9), der seine Darstellung vom Ursprung der griechischen Philosophie mit Hesiod beginnt, weist darauf hin, wie der Verfasser der Theogonie mit dieser seiner Absetzung von dem zuerst genannten bloß Dichterischen bereits einen Anspruch vorwegnimmt, den etwa Xenophanes später wiederholt, und daß Hesiods Bestreben auf eine tragische Weise von den Späteren verkannt worden ist. Was Hesiod gewollt hat, ist die Verkündigung der lauteren Wahrheit (im Gegensat} zu den Erfindungen Homers); aber was er tatsächlich geschaffen hat, konnte seinerseits wieder als „Dichtung" im pejorativen Sinne aufgefaßt werden. So hat ihn Xenophanes zugleich mit Homer verworfen als einen, der unverantwortliche Dinge den Göttern „angehängt habe" 10 ), und sich selbst als Denker von solchen Erdichtungen distanziert. Inzwischen ist es aber nicht allein Hesiod so ergangen, daß, was er als Wahrheit gemeint und gegen die erfindende Dichtung abgegrenzt hatte, selbst zur dichterischen Erfindung gestempelt wurde. Vielmehr ist seit den Tagen des Xenophanes bis zu Nietzsche — oder neuerdings bis zu Martin Heidegger — eine ungeheure Anzahl philosophischer Aussagen, die von „Freunden der Wahrheit" geschrieben und als Zeugnis von objektiver Gültigkeit intendiert waren, als Dichtungen und Erfindungen, als bloße „nomina" und „flatus vocis" statt als „res", als „Humanismus" im Sinne des menschlich Allzumenschlichen und nicht unbedingt Wahren disqualifiziert worden. Die platonische Ideenlehre etwa und die auf sie gegründete Metaphysik hat es sich gefallen lassen müssen, wie ein Erzeugnis der dichterischen Phantasie des Menschen ·) Eine völlige Unähnlidikeit mit der Realität ist nicht einmal im Bereich der reinen Erfindung möglich: jede Dichtung erinnert auf irgendeine Weise an das Wirkliche und gleicht ihm somit. *) A . a . O . , S. 19ff.; vgl. auch die Kapitel über Xenophanes und Parmenides. io) Fragm. 11 (Diels).

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betraditet zu werden, obsdion gerade Piaton, wie einst Hesiod, sidi von den Dichtern mit Leidenschaft abgesetzt hatte. Wie kommt das? Doth wohl nur daher, weil die Grenze zwischen Erdachtem und Erdichtetem eine gleitende ist und die beiden Äußersten, das rein Erdiditete und das rein Erkannte oder Gedadite im Verborgenen liegen. In der Praxis sind die Werke der Denker gemischt aus „Wahrheit" im Sinne einer nachprüfbaren Erkenntnis und aus Spekulation 11 ), die ihrerseits aus dem Bildergut der Sprache und aus „Offenbarungen" an einzelne sich nährt: die somit für die „Gläubigen" als wahr legitimiert ist, für die Skeptiker aber anfechtbar bleibt Vielleicht ist dies von Grund auf zweideutige und als tragisch zu bezeichnende Verhältnis des Philosophen zur Wahrheit — des Menschen überhaupt zur Wahrheit —, das in der neueren Zeit auf beispielhafte Weise durch Nietzsche gesehen und gelebt worden ist, in der Antike am grundsätzlichsten erörtert worden in jenen „nihilistischen" Sätzen des Sophisten Gorgias. So mag es denn gerechtfertigt sein, diese Sätze etwas genauer zu betrachten, da sich von dem hierdurch gewonnenen Standorte aus die Nietzsche eigentümliche Problematik besser ins Auge fassen läßt 18 ). Gorgias soll gelehrt haben 14 ): erstens, daß nichts sei, zweitens, daß wenn etwas wäre, es dem Menschen unbegreifbar wäre, drittens, daß wenn es begreifbar wäre, es dem andern nicht mitteilbar und nicht erklärbar wäre. Diese drei Sätze bringen den innern Grund zur Sprache, weshalb dasVerhältnis des Denkers zurWahrheit ein zweifelhaftes und immer wieder unfreiwillig die Rolle des „Dichters" übernehmendes ist. Denn wenn wirklich „nichts ist", kann der Mensch aus dieser Annahme die Konsequenz ziehen, daß alles geschaffen werden u

) Eine Ausnahme bilden die Grundsätze der Logistik, die in sich geschlossen, nicht mit spekulativen Elementen vermischt sind, aber daher auch nicht allgemein verbindlich wirken und die Aufgabe, eine Brücke zwischen den mathematischen und den mit den Mitteln der Sprache ausdrückbaren Wahrheiten zu bauen, auf eine befriedigende Weise nicht zu lösen vermögen. — Sobald sich der Philosoph mit der Sprache im eigentlichen Sinne einläßt, übernimmt er einen Teil der „Poesie", die ihr wesensmäßig eignet. ") Vgl. den Aufsatz von K. Löwith, Skepsis und Glaube (Neue Schweizer Rundschau, Jg. 19, Zürich 1951, S. 348 £f). ") Auf die innere Verwandtschaft gewisser Äußerungen Nietzsches mit den Sätzen des Gorgias weist auch W. Nestle hin (Friedrich Nietzsche und die griechische Philosophie, Neue Jahrbücher, Leipzig 1912, 1. Abt., Bd. 29, Heft 8, S. 554 ff). u ) Nach Sext. Emp.; Gorgias, Fragm. 3 (Diels).

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muß. Daher hat sich Gorgias von der nach Erkenntnis (des Seienden) und Erkenntnismitteilung strebenden Philosophie ab- und der Rhetorik zugewendet 1 5 ) als „einer Kunst der Seelenlenkung durdi W o r t e " l e ) : einer Maditausübung auf Grund reiner Schöpferkraft. In eben diesem Sinne aber hat Nietzsche seine Lehre vom Willen zur Macht entwickelt, welche s e i n e n Versuch darstellt, mit den Mitteln einer „Kunst" den Nihilismus zu überwinden, der sich auf dem Wege des Denkens nicht hatte besiegen lassen 1 7 ). W o es „keine Tatsachen" gibt, muß es „Interpretationen" geben 1 8 ), folgert Nietzsche; und wenn sich unserm E r kenntnisverlangen zunächst nur das Nichts darbietet, so können wir, schließt er, noch immer „die Welt b e g r e i f e n * , die wir selber gern a cht * haben" »). Darüber, daß er mit der Verwirklichung dieser Lehre aus dem Bereiche des denkenden Erkennens in den des künstlerischen Gestaltens übergehen mußte, hat sich Nietzsche nirgends klare Rechenschaft abgelegt. E r vermeinte, gerade mit der Behauptung, daß alles Interpretation sei 2 0 ), der Erkenntnis und nicht der „Dichtung" gedient zu haben, die er an dieser Stelle scharf ablehnt. Indessen setzt eineWelt, „die wir selber gemacht haben", stets voraus, daß wir eine wie auch immer geartete schöpferische Phantasie haben am Werke sein lassen. Nietzsche — und das ist das Erschütternde in der Geschichte seines Philosophierens — erstaunte immer wieder im heftigsten Schmerz, wenn er sich selber in der Rolle des „Dichters und Lügners" anstatt eines „Freiers der Wahrheit" entdeckte. Dabei hätte als Folge des radikalen Nihilismus, den Nietzsche in seinem Denken aufgenommen hatte, der Begriff „Wahrheit" seinen Sinn, aber auch der Begriff „Lüge" sein Gift verlieren sollen. Dafür hätte der der Poesie, des gemachten Werks, der " ) Vgl. das Kapitel über Gorgias bei W. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Stuttgart 1940, S. 306 ff. 16) Piaton, Phaidros 261 A. " ) Das deutsche Wort „Macht" ist abgeleitet von dem Verbum „mögen", das früher (ahd. megan) „vermögen", „können" bedeutete, und ist also dem Worte „Kunst" sinnverwandt. Obschon Nietzsche von dieser Etymologie keinen ausdrücklichen Gebrauch macht, stellt seine Philosophie eine Art Illustration zu der inneren Verwandtschaft von „Kunst" und „Macht" dar — : eine Verwandtschaft, deren sich der Lehrer der rhetorischen τέχνη, Gorgias, wohl bewußt war. 18) Werke 19, 13. " ) Werke 19, 20 (»von Nietzsche unterstrichen). I0 ) L. c., Werke 19, 13. 13

Deutung, Umdeuturig und »Kunst" im allerweitesten Sinne höchsten Glanz und Würde annehmen und zum Gegenstand der Freude werden können81). Nietzsdie hätte, wenn er wirklich die Konsequenz aus seinem Nihilismus und seiner Lehre vom Willen zur Macht gezogen hätte, den innern Frieden finden müssen: ähnlidi wie Gorgias, der im ruhigen Bewußtsein seines Könnens, seiner Macht über andere, und seiner „Lebenskunst", 108 Jahre alt geworden sein soll! Die Problematik der Wahrheit ist indessen eine zu tiefe, als daß ein Denker vom Range Nietzsches sich mit einer einfachen „Konsequenz"— der Konsequenz der Hypothese: „Nichts ist" —hätte beruhigen können. Insofern ein Mensch denkt, lebt er stillschweigend der Überzeugung: „Etwas ist". Denn gedacht werden kann immer nur das Seiende—diese Erkenntnis des Ρ armeni des gilt unumstößlich —, das bereits Vorhandene, auf das sich das Denken als ein Denken-an, Denken-über, als ein Nachdenken und Bedenken bezieht22). Versucht man jedoch, dieses Seiende außerhalb des Gedachtwerdens sicherzustellen, so fällt man notwendig auf den „ontologisdien Beweis", der noch nie ein Beweis gewesen ist. Im Gegenteil kann aus der Unmöglichkeit des Beweises, aus der logisdien Unbegreifbarkeit des Seienden-als-solchen, geschlossen werden: „Nichts ist"2S). Ähnliches gilt für die sprachliche Mitteilung. Wer spricht, setzt normalerweise „unbedenklich" voraus, daß er das, was er sagen will, bereits begriffen habe. Prüft er jedodi diesen Begriffsinhalt und versucht er, außerhalb der formulierten Worte ihn sich sicherzustellen, so gerät er vor dieselbe Schwierigkeit wie derjenige, der das Seiende ontologisch beweisen will. Er begreift „nichts" mehr. Im Bestreben, das ihm im Sinne liegende, scheinbar begriffene Seiende sich " ) Gelegentlich fehlen auch diese Töne nicht. Vor dem Satze: „Wir können nur eine Welt b e g r e i f e η, die wir selber g e m a c h t haben" (1. c., Werke 19, 20) stehen die Worte: „Die Lust am Gestalten und Umgestalten — eine Urlust!" (Audi die Unterstreichungen undAusrufungszeichen, die Nietzsche so häufig verwendet, beweisen diese Urlust.) " ) Hingegen bedeutet das Sidi-etwas-Ausdenken eine Konstruktion mittels der dichtenden Phantasie und somit ein Heraustreten aus dem Bezirk des Seienden. " ) In der Verzweiflung über das Nichtbeweisenkönnen findet dann eine Art „negativer Seinserfahrung" statt, eine Umkehrung dessen, was etwa Anselm von Canterbury bei seinem Vollzug des „Beweises" gläubig erfuhr. Diese Verzweiflung hält sich indessen, da sie „beim Worte" genommen werden kann, im Gegensatz zu allen auf Gläubigkeit angewiesenen Positionen nicht für eine psychologische Haltung, sondern für eine „Wahrheit" rein logischer Ordnung.

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gänzlidi anzueignen und als „wirklich begriffenen" Begriff (und als begriffenes Seiendes) andern mitzuteilen, verfehlt der Mensch das zu Begreifende sowohl wie das Seiende, das sich in seiner runden und glatten Unantastbarkeit jedem derartigen Angriff entzieht84). Wo es aber nichts mehr mitzuteilen und nichts mehr zu begreifen gibt, kann es, streng genommen, überhaupt nichts mehr geben. So lassen sich die drei Sätze des Gorgias in der umgekehrten Reihenfolge auseinander ableiten: Weil nichts mitteilbar ist, kann nichts begriffen werden, und weil nichts begreifbar ist, ist nichts. „Oder . . . ? Oder ? — " Nietzsche hat sein Werk „Morgenröte" mit diesem doppelten Oder besdilossen, weil er insgeheim hoffte, dort, „wo bisher alle Sonnen der Menschheit u n t e r g e g a n g e n sind", ein neues Licht aufgehen zu sehen. Das vorliegende Buch kann keine andere Aufgabe haben, als die eines — vielleicht von Zeit zu Zeit neu zu unternehmenden — Versuchs, nachzuprüfen, ob Nietzsche von seiner Hoffnung getäuscht, oder ob er durdi sie ein Stüde Weges vorangekommen ist. Im Hinblick auf die Problemstellung bei Nietzsche erhebt sich von selber die Frage nadi dem wahren Sein und seiner Ausdrucksmöglichkeit. Wenn es gelingt, sowohl an der voreiligen Freude über einen nur „ontologisdi" gültigen Beweis, wie an der Verzweiflung über einen nur logisch begründeten Nihilismus vorbeizusteuern und denkend das Seiende in seiner B e z o g e n h e i t zum Begriff, den Begriffs-Inhalt in seiner Bezogenheit zur geformten Sprache zu verstehen und somit in der Bewegung dieses Bezuges aufrechtzuerhalten, wird sich Dichtung immer von neuem als das erweisen, was der Mensch innerhalb der beiden, von ihm nicht völlig begreifbaren und durch ihn nicht mitteilbaren Extreme des Ganz-Wahren und des Ganz-Erlogenen zu schaffen vermag: als c r e a t i o, aber nicht als eine c r e a t i o e x n i h i l o.

**) Auf das tragische Einander-Verfehlen von gedachtem Inhalt und ausgesprochener Mitteilung läßt sich ein Wort Hölderlins beziehen: „So wie die Erkenntnis die Sprache ahndet, so erinnert sidi die Sprache der Erkenntnis" (Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes, Werke 3, 303, ed. Pigenot). Erkenntnis als die „noch unreflectirte reine Empfindung des Lebens" (ebd.) zielt nach der Mitteilung durch die Sprache; aber die Sprache vermag sich des Ursprünglichen nur noch zu „erinnern".

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1. KAPITEL

Das philologische Ideal

Nietzsche ist bekanntlich von der Philologie her an seine eigentliche, an die philosophische Aufgabe herangetreten. Wenngleidi Nietzsche selbst seine Vergangenheit als Philologe, insbesondere seine Lehrtätigkeit in Basel, zu Zeiten nur in einem negativen Lichte hat sehen wollen1), muß dennoch festgehalten werden, daß diese Herkunft den Standort seines Philosophierens entscheidend bestimmt hat. Mit Nietzsche läßt sich von seinem eigentlichen Werke sagen: „Philosophia facta est, quae philologia fuit" 2 ); doch gilt dies Wort in dem Sinne, daß die Philologie in seinem späteren Schaffen „aufgehoben" bleibt nach der Hegel'schen Bedeutung des Ausdrucks: überwunden und dennoch fortwirkend als eine nicht zu verleugnende, „Wesen" gewordene Vergangenheit. Da mein in der Literatur über Nietzsche immer wieder Darstellungen begegnet, in denen der „schöpferische Denker" Nietzsche — oder gar der „dionysische Dichter"3) — einseitig gegen den Philologen ausgespielt wird (wobei gelegentlich der Konflikt des jungen Nietzsche mjt dem jungen Wilamowitz eine übertriebene Bedeutung gewinnt), als hätte Nietzsche selber in seiner späteren Zeit von der Philologie n u r mit Hohn und Abscheu gesprochen (was, wie wir noch sehen werden, ') Etwa in „Ecce homo"; vgl. Werke 21, 196; 206; 238 u. a. ) In Umkehrung eines Wortes von Seneca (Epist. 108): „quae philosophia fuit, facta philologia est", Werke 2, 24. s ) So neuerdings bei F. G. Jünger, Nietzsche, Frankfurt a. M. 1949 (über das Budi habe idi mich ausführlicher geäußert in „Die Tat", Zürich, vom 3.12. 1949). z

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keineswegs der Fall ist), ist es notwendig, diesen wenig beachteten Spannungs-Pol in Nietzsches Schaffen, das philologische Ideal, genauer ins Auge zu fassen. Es wird sich hierbei zeigen, daß bis in die späteste Schaffenszeit Nietzsches niemals eindeutig »gegen die Wissensdiaft entschieden wird" 4 ). Vielmehr bleibt dieWissenschaft, und zwar die philologische Wissensdiaft, während Nietzsches lebenslänglichem Ringen um die Wahrheit die ihn stets von neuem beunruhigende, ihm die Befriedigung durch voreilige, rhetorisch-imperatorische oder aber „dichterische", Lösungen der Probleme verwehrende Stimme des Gewissens. Der radikale Zweifler an den Werten der Moral, der Nietzsche war, zweifelte niemals grundsätzlich am sittlichenVorrang dessen, was er die „intellektuelle Rechtschaffenheit'' genannt hat. Bis in die Periode des „Willens zur Macht" hinein bewahrte er sich — paradoxerweise — die Ehrfurcht vor der Fähigkeit und dem Willen, „richtig zu lesen", einen Text, und sei es der „Text" des Weltgeschehens selbst, den der Historiker und Philosoph zu deuten hat, richtig zu interpretieren: die Ehrfurcht also vor dem Ethos der Philologie. Es entspricht nicht der Themastellung dieses Buchs, über Wert oder Unwert von Nietzsches eigenen philologischen Arbeiten zu handeln 5 ), so wenig, wie uns später die rein künstlerische Bedeutung von Nietzsches Dichtungen beschäftigen wird6). Vielmehr gilt es zu zeigen, inwiefern Nietzsche Wesentliches von der Philologie als Richtpunkt seines späteren Schaffens beibehalten hat. Wenn der Kampf zwischen Nietzsche und der philologischen Wissenschaft als „eine Art Duell" bezeichnet worden ist 7 ), dessen Ausgang unentschieden blieb („die Partie verlief remis" 7 )), so ist nach unserm Dafürhalten dies Duell nicht außerhalb von Nietzsches Person, das wäre zwischen ihm und den zünftigen Vertretern der Philologie, ausgefoditen worden, sondern in seinem eigenen Innern. Diese Behauptung mag kühn erscheinen angesichts der vielen, teils nur allzu bekannten Stellen, da Nietzsche gegen die philologische

) Wie Jünger (a. a. 0., S. 170) im Hinblick auf „Die Geburt der Tragödie" wie auch auf die späteren Werke sagt. 5 ) Vgl. hierüber E. Howald, Friedrich Nietzsche und die klassische Philologie, Gotha 1920 (insbesondere S. 40, Anm. 33). ·) Hierüber vgl. die Arbeiten von J. Klein, Die Dichtung Nietzsches, München 1936; Ο. H. Olzien, Nietzsche und das Problem der dichterischen Sprache, Berlin 1941, und M. Landmann, Zum Stil des „Zarathustra" (in seinem Buche: Geist und Leben, Varia Nietzscheana, Bonn 1951, S. 123 ff). 7 ) Howald, a.a.O., S. 1. 4

17 2 Blndsehedler, Nietzeche

Wissenschaft polemisiert; dodi verrät gerade der heftige Ton, in dem seine Angriffe vorgebracht werden, daß Nietzsdie hier (wie fast überall, wo er zu laut gegen einen Feind zu Felde zieht) gegen etwas ihm nicht Fremdes kämpft. Wichtiger aber ist in diesem Zusammenhange, was Nietzsche in positivem Sinne über die Philologie oder „dieWissenschaft" überhaupt zu sagen hatte 8 ). „Wenn durch Übung in einer langen Geschlechterkette genug Feinheit, Tapferkeit, Vorsicht, Mäßigung aufgesammelt ist, so strahlt die Instinkt-Kraft dieser einverleibten Tugend audi noch ins Geistigste aus — und jenes Phänomen wird sichtbar, das wir i n t e l l e k t u e l l e R e c h t s c h a f f e n h e i t nennen. Dasselbe ist sehr selten: es fehlt bei den Philosophen"·). Was Nietzsche hier den Philosophen abspricht, ist die Fähigkeit, ohne wertende Vorurteile, ohne Vorbegriffe von Gut und Böse an die Dinge heranzutreten, so wie der Wissenschafter ohne ideelle oder gefühlsmäßigeVoreingenommenheit an seinen Gegenstand herantreten sollte. „Die Verehrung ist die hohe Probe der intellektuellen R e c h t s c h a f f e n h e i t : aber es g i b t in der ganzen Geschichte der Philosophie keine intellektuelle Rechtschaffenheit — sondern die ,Liebe zum Guten' — " 10 ). Die Liebe zum Guten aber beruht auf dein „absoluten M a n g e l a n M e t h o d e , um den Wert dieser Werte zu prüfen"; auf der „Abneigung, diese Werte zu prüfen, überhaupt sie bedingt zu nehmen. — Bei den Moral-Werten kamen alle a n t i w i s s e n s c h a f t l i c h e n Instinkte zusammen in Betracht, um hier die Wissenschaft a u s z u s c h l i e ß e n " " ) . Es ist der völlige „Mangel an .Philologie', der einem feinern Intellekt als Unsauberkeit und Falschmünzerei gelten muß 12 ), welcher den philosophierenden Menschen veranlaßt, „in tausend Fällen sich die Realität zu verbergen, sie zu fälschen" 18 ). „Nichts ist seltener unter den Philosophen als i η t e l l e k t u e l l e R e c h t s c h a f f e n h e i t : vielleicht sagen sie das 8

) Wenn wir hier die Bezeichnungen „Philologie" und „Wissenschaft" beinahe als Synonyme verwenden, so geschieht es im Hinblick auf Nietzsdie, für den die Naturwissenschaften fast durchweg auf die Technik bezogen sind, also weniger „bloße Wissenschaften" darstellen, für den ferner die reine Mathematik fast gänzlich außerhalb des Gesichtsfeldes bleibt und für den endlich die Historie, wie wir noch sehen werden, als „Wissenschaft" im wesentlichen eine auf das äußere Geschehen angewandte Philologie bedeutet. ·) Werke 19, 380. ">) Werke 18, 327. " ) Ebd. 327/8. '») Ebd. 322.



Gegenteil, vielleidit glauben sie es selbst. Aber ihr ganzes Handwerk bringt es mit sich, daß sie nur gewisse Wahrheiten zulassen; sie wissen, was sie beweisen m ü s s e η, sie erkennen sich beinahe daran als Philosophen, daß sie über diese .Wahrheit' einig sind" 1S). Der Philologe, im Gegensatz zum Philosophen, stellt für Nietzsche zeitlebens „eine Art wissenschaftlidies Gewissen" dar, wie er sich einst in bezug auf seinen Lehrer Ritsehl äußerte 14 ). Daher kann der Philologe nodi im „Willen zur Macht" als der „Erzieher a n s i c h " bezeichnet werden 15 ). Er lehrt uns „etwas lernen, das uns nichts angeht", und „in diesem .objektiven' Tätigsein seine .Pflicht' empfinden" le ). Seine „Tätigkeit selber gibt das Muster einer bis zum Großartigen gehenden Monotonie der Tätigkeit ab", weil sie auf alle differenzierenden und bewertenden „Gefühle" verzichtet und sidi „jenseits aller Nützlichkeit, Ergötzlichkeit, Zweckmäßigkeit" befindet 17 ). Es sind „die άσκησις und die Resignation", welche der Philologe „als unerläßliche Formen im strengen Dienste der ,Dame Wissenschaft' anerkennt" und die ihm den Verzicht auf jene „höchsten Genüsse für Geist und Gemüt" auferlegen, wie sie der philosophische oder künstlerische Enthusiasmus gewähren mag 18 ). Im Namen des wissenschaftlichen, durch die Methode der Wissenschaft geschulten Gewissens erfolgt Nietzsches Kritik an den bisherigen Werturteilen, vornehmlich an denen der Moral. Es zeigt sich die paradoxe Tatsache, daß die philologische Moralität selbst: die kritische Unbefangenheit vor dem Gegenstande, als sei er in jedem Falle „etwas, das uns nichts angeht", durch Nietzsche unangetastet bleibt, in einem Augenblick, da er alle Einzelwerte der Moral methodisch in Frage stellt. Die Indifferenz des reinen Philologen bewahrt sich Nietzsche als den archimedischen Punkt inmitten seiner Umwertung aller Werte. Er heißt diesen Punkt gut, indem er ihn auf den scheinbar neutralen Namen der „Methode" tauft. „Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19. Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen M e t h o d e über die Wissenschaft"1»). Diesem Satze ist das Brief1S

) ") ") 1β ) ») 1β ) ")

Ebd. 319. An Deussen 1867 (Briefe 1, 73). Werke 19, 279. Ebd. Ebd. 279/80. Vgl. Briefe 1, 115. Werke 19, 5.

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bekenntnis Nietzsches an die Seite zu stellen: „Von der Philologie her lernte ich im Grunde nur M e t h o d e n " 2 0 ) . Im „Willen zur Macht" führt Nietzsche aus: „Die wertvollsten Einsichten werden am spätesten gefunden: aber die wertvollsten Einsichten sind die M e t h o d e n . ./ Alle Methoden, alleVoraussetzungen unsrer jetzigenWissenschaft haben Jahrtausende lang die tiefsteVerachtung gegen sich gehabt: auf sie hin ist man aus dem Verkehr mit h o n e t t e n Menschen ausgeschlossen worden — man galt als ,F e i η d G o 11 e s', als Verächter des höchsten Ideals, als .Besessener'. / Wir haben das ganze P a t h o s der Menschheit gegen uns gehabt — unser Begriff von dem, was die .Wahrheit' sein soll, was der Dienst der Wahrheit sein soll, unsre Objektivität, unsre Methode, unsre stille, vorsichtige, mißtrauische Art war vollkommen v e r ä c h t l i c h . . . * Im Grunde war es ein ästhetisdier Geschmadc, was die Menschheit am längsten gehindert hat: sie glaubte an den pittoresken Effekt der Wahrheit, sie verlangte vom Erkeimenden, daß er stark auf die Phantasie wirke. / Das sieht aus, als ob ein G e g e n s a t ζ erreicht, ein S p r u n g gemacht worden sei: in Wahrheit hat jene Schulung durch die Moral-Hyperbeln Schritt für Schritt jenes P a t h o s m i l d e r e r Art vorbereitet, das als wissenschaftlicher Charakter leibhaft wurde . . . * / D i e G e w i s s e n h a f t i g k e i t i m Κ1 e i n e n , die Selbstkontrolle des religiösen Menschen war eine Vorschule zum wissenschaftlichen Charakter: vor Allem die Gesinnung, welche Ρ r o b 1 e m e e r n s t n i m m t , nodi abgesehen davon, was persönlich dabei für Einen herauskommt . . . * " ä l ). Die ursprünglich religiöse Gewissenhaftigkeit ist mit der Zeit zu einer nur moralischen und endlich, in der Wissenschaft, zu einer nur methodischen Haltung geworden, insofern nämlich Methode von der Moral bloß noch die Form, nicht mehr einen in .Gütern" bestehenden Inhalt besitzt. Nietzsche war sich dessen bewußt, daß die einst religiös und moralisch begründete „Liebe zur Wahrheit" allmählich ihre innere Umgebung, das sind die inhaltlichen Werte von Religion und Moral, aufgezehrt und dem radikalen Kritizismus ausgeliefert hat 22 ). So wie Nietzsche in dem *>) An Overbeck 1885 (BO 301). * Punkte im Text. ») Werke 19, 5/6. ") Vgl. Werke 18, 7: „Der Untergang des Christentums — an seiner M o r a l (die unablösbar ist —), welche sidi gegen den christlichen Gott wendet (der Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christentum hoch entwickelt, bekommt E k e l vor der Falsdiheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Ge-

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oben zitierten Briefe an Overbeck M ) beteuert: was ihm die Philologie dauernd übermittelt habe, sei ihre Methode und nicht der „antiquarische Krimskrams", das heißt ihre Einzelerkenntnisse, so stellt sich für Nietzsche Moralität letztlich als jene „négation méthodique"24) dar, als die sich die nihilistische Komponente seines Schaffens ausgibt. Nun ist freilich die wissenschaftliche Methode selbst, wie sich aus der Betrachtung gerade von Nietzsches Gesamtwerk ergibt, zweideutig. Ihre nihilistische Wirkung entspricht gleichsam nur der einen Richtung eines Koordinatensystems, dessen quer zur ersten stehende andere Richtung konstruktiven Charakter besitzt. Philologische Wissenschaft ist nicht allein Kritik derTexte, sondern eo ipso „Kunst der Interpretation". Sie vermag das eine nicht vom andern abzulösen; denn die „Herstellung" eines Textes kann ja nur aus dem Verständnis seines Sinnes heraus erfolgen; dies „Verständnis" aber ist jedesmal, wo ein Entscheid zwischen mehreren gleich gut bezeugten „Lesarten" zu treffen ist, ein konstruktives. (Regeln, wie die von der Bevorzugung der „lectio difficilior" beweisen zwar das Bestreben des Philologen, möglichst viel durch die formale Methode und möglichst wenig durch die inhaltliche Interpretation zu erreichen; aber ans Ziel gelangt der Philologe, mindestens bei einem anspruchsvolleren Texte, auf diese Weise allein nicht.) Indem Nietzsche auf Grund seiner „intellektuellen Rechtschaffenheit" eine zunächst rein formal gedachte „Kritik" an den herkömmlichen Werten übt, interpretiert er audi bereits. Das Wort vom „Sklavenaufstand" etwa, zunächst rein negativ gemeint, wird in Nietzsches Munde sogleich zur „Deutung" eines Vorgangs und setzt als solche eine Reihe positiver, gegeneinander abzuwägender Größen wie „Sklave", „Herr", „Aufstand", „Gehorsam" voraus, die im Grunde wiederum einer Kritik unterworfen werden müßten, ohne daß doch der „regressus ad infinitum", um den es sich hierbei handelte, von Nietzsche durchgeführt werden könnte. So ergibt sich denn für ihn die Notwendigkeit einer „ U m w e r t u n g aller Werte", das heißt einer Neuschaffung von Werten, noch bevor er seine A b w e r t u n g der alten Werte kritisch hätte zu sdiiditsdeutung ...)". Ferner 18, 11: „Der r a d i k a l e N i h i l i s m u s . . . ist eine Folge der großgezogenen .Wahrhaftigkeit': somit selbst eine Folge des Glaubens an die Moral". " ) Vgl. Anm. 20. " ) A. Camus, L'homme révolté, Paris 1951, S. 89. Camus sagt von Nietzsche (ebd.): „II a écrit, à sa manière, le D i s c o u r s d e l a m é t h o d e de son temps".

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Ende führen können. Der Nihilismus wird im „Willen zur Macht" nur ein Stück weit verfolgt und dann „überwunden", ehe der Durchgangspunkt dès „Nichts"S5) wirklidi fixiert worden wäre. Das ist ebensowenig ein Zufall, wie es kein Zufall ist, daß Nietzsche in der „kritischen" und antimetaphysisdien Phase seines Schaffens nicht hat bleiben können. Zu sehr ist Kritik an Interpretation gebunden: in der Philologie, die es mit buchstäblich aufgezeichneten Texten zu tun hat, so gut wie bei der Erforschung des „Lebensbuchs" —, wenn das längst zum Klisdiee gewordene, aber von Nietzsche erneuerte Bild hier gestattet ist. Man würde indes fehl gehen, wenn man Nietzsches bewußte Hervorhebung der Notwendigkeit einer „Interpretation" der Dinge in jedem Falle auch bereits als einen Schritt von der „Redlidikeit" und „intellektuellen Rechtschaffenheit" weg in der Richtung des unverantwortlichen „Erfindens" betrachtete. Nietzsche stellt im „Willen zur Macht" fest: „Es f e h l t d e r P h i l o s o p h , der Ausdeuter der Tat, n i c h t nur der Umdichter" 2e). Der Philosoph in Nietzsches Sinne wäre vor allem der, der eine Tat richtig auslegt, sie ni dit verfälscht. Es gibt „eine Wahrheit und einen Irrtum in der Auslegung" 27); und der ist nicht wahrhaft als Philosoph anzuerkennen, der „nidit ein Tausendstel von jener Rechtschaffenheit der Selbstkritik besitzt, mit der heute ein Philologe einen Text liest oder ein historisches Ereignis auf seine Wahrheit prüft.. ,"28). DieMoralität der philosophischen Aussage wird am philologischen Ideal gemessen. Noch 1886 schreibt Nietzsche in einer neuen Vorrede zur „Morgenröte" : „Es ist kein Zweifel, audi zu uns nodi redet ein ,du sollst', audi wir nodi gehorchen einem strengen Gesetze über uns—und dies ist die letzte Moral, die sich auch uns noch hörbar macht, die auch wir noch zu 1 e b e η wissen, hier, wenn irgendworin, sind auch wir nodi M e n s c h e n d e s G e w i s s e n s : daß wir nämlich nidit wieder zurück wollen in das, was uns als überlebt und morsch gilt, in irgend etwas .Unglaubwürdiges' . . . ; daß wir uns keine Lügenbriidcen 25

) Um bei dem oben angeführten Bilde des Koordinatensystems zu bleiben, handelte es sidi hier um den Mittelpunkt des Achsenkreuzes, bei dem sowohl für „Kritik" wie für „Interpretation" der Wert Null einzusetzen wäre: ein Punkt, der außer mit mathematischen Ausdrucksmitteln garnidit zu kennzeichnen ist, weshalb ihn Nietzsche (so wenig wie seine Nachfolger in der Darstellung des Nihilismus) mit Worten nicht zu beschreiben vermag. " ) Werke 18, 24. 27 ) Ebd. 127. 28 ) Ebd. 128.

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zu alten Idealen gestatten" 2 »). Als die „letzteTugend" bleibt für Nietzsche audi in der Umwertungszeit noch die philologische Tugend katexochen: die „Redlichkeit" ( „ u n s r e Tugend" bestehen 80 ). Wenn Nietzsche sich im „Willen zur Macht" über die falsche Beurteilung eines Vorgangs mit den Worten beklagt: „Das nenne ich den M a n g e l an P h i l o l o g i e " und fortfährt: „Einen T e x t a l s T e x t ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen, ist die späteste Form der ,inneren Erfahrung'—vielleicht eine kaum mögliche . . . * " a l ) ; in einem Ausspruch aber, den die Herausgeber fast unmittelbar danach haben folgen lassen, sagt: „Tatsachen gibt es nicht, nur I n t e r p r e t a t i o n e n " und: „Wir können kein Faktum ,an sidi' feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen" 8 2 ), so verraten allein schon die beiden „vielleicht", wie unsicher Nietzsche hinsichtlich des Begriffs „Interpretation" als einer möglichen Überwindung des Wahrheitsideals war. Im Grunde erstrebte er d i e Interpretation der Tatsachen, die nicht im Gegensatz zum „Text als Text" stände und die sich daher mit seinem „wissenschaftlichenGewissen" hätte vereinbaren lassen. Für sidi selbst wollte er den Begriff des Perspektivismus nicht im Sinne einer reinenWillkürlidikeit der Ansichten verstanden haben, sondern als den Versuch, eine adäquate Beziehung zwischen Auge und Gegenstand herzustellen: als die Art und Weise, einen Vorgang richtig zu „lesen" M ). Dieser von ihm beanspruchten „Redlichkeit" gegenüber den historischen Vorgängen entsprechend, wünscht sich Nietzsche auch für seine eigenen Werke den richtigen Leser; den, der in aller „intellektuellen Rechtschaffenheit" an den Text herantritt und ihn „auslegt", ohne ihn umzudichten. Daß ein solches Ziel „vielleicht kaum möglich" ist34), war Nietzsche selber wohl bewußt; aber er hat auch in der letzten Periode seines Schaffens, als er längst schon den Willen zur Macht als jene » ) Werke 21,152. s®) Werke 16,39.

* Punkte im Text.

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) Werke 19,12.

) Ebd. 13. '*) Vgl. Werke 16, 31: „Wir Philosophen . . . die wir in Wahrheit gewitzte Interpreten und Zeichendeuter sind — wir, denen das Sdiidcsal aufgespart blieb, als Zuschauer der europäischen Dinge vor einen geheimnisvollen und u n g e l e s e n e n Text hingestellt zu sein, der sich uns mehr und mehr verrät . . . " . " ) Vgl. 1. c., Werke 19, 12. M

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Kraft erfaßt zu haben glaubte, die allen Interpretationen in Wirklichkeit zu Grunde liege —, er hat auch dann nodi an diesem Ziele festgehalten: an der Vereinigung von Kritik und Interpretation, oder anders gesagt, von philosophischer Spekulation und philologischer Redlichkeit. So häuft sich in seinem Werke der ausgesprochene Wunsch, „nicht mißverstanden zu werden" — ein Wunsch, der sinnlos wäre, wenn die Interpretation eines Textes, wie eines Ereignisses, einzig im Dienste des Willens zur Macht erfolgen könnte. Noch in „Ecce homo" entwirft Nietzsche das Bild des Lesers, den er begehrt: „Ein Leser, wie ich ihn verdiene, der midi liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz lesen "a5). Jedoch am eindrüddichsten hat sich Nietzsche über das richtige Lesen in der bereits erwähnten späten Vorrede zur „Morgenröte" (von 1886) geäußert. Der ganze letzte Abschnitt dieser Vorrede ist in hohem Maße aufsdilußreidi für das innereVerhältnis Nietzsches zu der von ihm einst erlerntenWissenschaft. So mag zum Sdilusse dieses Kapitels der Abschnitt als ganzer wiedergegeben werden, obsdion nicht alle seine Sätze von gleichem Range und einer mehr als persönlichen Gültigkeit sind. Was hier indes über Nietzsches eigenes Anliegen hinausreicht (der späte Nietzsche spricht uns auch da noch allzu laut und ichbezogen, wo er das Idi überhört haben will), gehört wohl zum Kostbarsten, was über Philologie je geschrieben worden ist. „Zuletzt aber: wozu müßten wir das, was wir sind, was wir wollen und nicht wollen, so laut und mit solchem Eifer sagen? Sehen wir es kälter, ferner, klüger, höher an, sagen wir es, wie es unter uns gesagt werden darf, so heimlich, daß alle Welt es überhört, daß alle Welt u n s überhört! Vor allem sagen wir e s l a n g s a m . . . Diese Vorrede kommt spät, aber nicht zu spät, was liegt im Grunde an fünf, sechs Jahren? Ein solches Budi, ein solches Problem hat keine Eile; überdies sind wir beide Freunde des lento, idi ebensowohl als mein Buch. Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht nodi, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens: — endlich schreibt man auch langsam. Jetzt gehört es nicht nur zu meinen Gewohnheiten, sondern auch zu meinem Gesdimacke — einem boshaften Geschmadce vielleicht? — Nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede Art Mensch, die ,Eile hat', zur Verzweiflung gebracht wird. Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden —, als eine ») Werke 21, 219.

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Goldschmiedekunst und -Kennerschaft des W o r t e s , die lauter feine vorsichtige Arbeit abzutun hat und Nichts erreicht, wenn sie es nidit lento erreicht. Gerade damit aber ist sie heute nötiger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stärksten, mitten in einem Zeitalter der .Arbeit', will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit allem gleich .fertig werden' will, audi mit jedem alten und neuen Buche: — sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt g u t lesen, das heißt langsam, tief, rückund vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen . . . Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht sich nur vollkommene Leser und Philologen: l e r n t midi gut lesen! — " se ). Eis wirkt wie eine Ironie des Schicksals, daß Nietzsche populär geworden ist. Denn im Einverständnis mit seinem eigenen Gewissen wünschte er sich „nur vollkommene Leser und Philologen" —, das heißt fast, er wünschte sich nur Philologen als Leser.

") Werke 21,153/4. 25

2. KAPITEL

Der Dichter als Lügner

Vom Standort des kritischen Wissenschafters aus erscheint die Haltung des dichtend erfinderischen Menschen in denkbar ungünstigem Licht. Am sittlichen Ideal der Redlichkeit und intellektuellen Rechtschaffenheit gemessen, ist nichts verwerflicher, als der Wille zur möglichst vollendeten Täuschung, nach der hin die Kunst der Dichter wesensgemäß zielt Der Philologe indessen, der zwar seine eigene Arbeit nach dem Ideal der Wahrhaftigkeit richtet und dieses Ideal mit einem bisweilen an Askese grenzenden Pflichtgefühl verfolgt, befindet sich häufig in der merkwürdigen Lage, daß seine Anstrengungen einem Gegenstande dienen, der für sich selber einer völlig andern, ja vielleicht überhaupt keiner moralischen Wertordnung untersteht. Ließe der Philologe seinen sittlichen Maßstab Gültigkeit nicht nur für die Angehörigen seines Fachs, sondern für die Allgemeinheit haben (und ein sittliches. Ideal müßte doch allgemein gültig sein, wenn nicht ein bedenklicher Relativismus — oder aber die besondere Haltung Nietzsches — die Herrschaft gewinnen sollte), so dürfte er sich nur der Auffindung, Bewahrung und Glossierung wissenschaftlicherTexte hingeben, nicht aber, was er sehr viel häufiger tut, der Überlieferung von Dichtwerken. Mancher Philologe hilft sich aus dem moralischen Zwiespalt (sofern dieser ins

') Vgl. Gorgias bei Plutarch, De audiendis poetis 1, 15 D: „Und Gorgias hat gesagt, die Tragödie sei eine absichtliche Täuschung (άπατη), und zwar so, daß derjenige, der täuschte, gerechter sei als der, der nicht täuschte, und derjenige, der getäuscht werde, weiser als der, der nicht getäuscht werde."

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Bewußtsein getreten ist) in der Weise, daß er die dichterischen Texte, um welche er sich bemüht, vornehmlich als historisch aufschlußreiche Dokumente betrachtet. Wer Homer und Vergil nicht um ihrer künstlerischen „Wahrheit" oder Schönheit willen schätzt, könnte sidi noch immer der Homer- und Vergilphilologie ergeben, weil beider Werke für uns Zeugnisse einer früheren Menschheit, des alten Griechen- und Römertums, darstellen: ganz gleichgültig, was die beiden als Dichter ihren Göttern und Helden „angehängt" haben mögen2). So scheint denn die philologisch wissenschaftliche Haltung im Hinblick auf ältere und älteste Dichtungen in jedem Falle gerechtfertigt, während dieselbe methodisch saubere Haltung, auf neuere oder gar zeitgenössische Literatur angewendet, sich als fragwürdig erweist 8 ). Nicht zufällig hat sich ja auch die Philologie der neueren Literatur später und zaghafter entwickelt, als die wissenschaftliche Erforschung antiker Schriftsteller und Dichter; denn hier, in bezug auf das gegenwartsnahe Schrifttum, war die Frage nach dem inneren Werte eines Textes, diese zugleich ästhetische und moralische, unhistorische und darum in gewissem Sinne unwissenschaftliche Frage, nicht zu umgehen. Wenn nun, wie bei Nietzsche, philologischer Kritizismus und schöpferisches Ausdrucksvermögen in ein und demselben Menschen vereinigt sind, ist die Bedingung zu leidenschaftlichen Kämpfen gegeben, Kämpfen, die Nietzsche, ohne sich im geringsten zu schonen, durchgefochten hat. Bald führte er den heftigsten Kampf gegen den Wissenschafter in ihm; bald ließ er dem Kritiker in ihm selber Raum, um den Dichter, ja den schöpferischen Denker, der er war, zu ertöten. An Rohde, der vor ihm die Dichter in Schutz nehmen zu müssen geglaubt hatte 4 ), schrieb er 1884: „Übrigens bin ich D i c h t e r bis zu jeder Grenze dieses Begriffs geblieben, ob ich mich schon tüchtig mit dem Gegenteil aller Dichterei t y r a n n i s i e r t habe" e ). Der Satz, aus der Schaffensstimmung des „Zarathustra" geschrieben, hätte zu Zeiten umgekehrt lauten können:

*) Vgl. Einleitung, S. 4, Anm. 10. ) Eine mit Erläuterungen reich und sorgfältig ausgestattete Ausgabe der Lebenserinnerungen von Lou Andreas-Salomé wurde bezeichnenderweise in einer Besprechung (in der „Neuen Zürcher Zeitung") wegen des Mißverhältnisses zwischen Text und „philologischem Apparat" getadelt, während die gleiche Arbeitsleistung, an einen nicht wertvolleren älteren Text aufgewendet, um ihres historischen Verdienstes willen gerühmt werden dürfte. *) Vgl. Briefe 2, 571. ») Ebd. 575.

s

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in dem Sinne, daß Nietzsche bekannt hätte, im Grunde „das Gegenteil eines Dichters", nämlich ein Kritiker oder Wissenschafter geblieben zu sein, ob er sidi schon tüchtig mit dem Gegenteil dieses Gegenteils tyrannisiert hatte. Die Tragik der Dichter, der künstlerischen Naturen überhaupt, beruht nach Nietzsches eigenem frühen Zeugnis „darin, daß sie etwas wollen, was dem Charakter des Daseins widerstrebt, daß sie an den Pfeilern der düstern Notwendigkeit zu rütteln sich unterfangen"·). Die Künstler wollen das „dem Charakter des Daseins", das ist seiner Notwendigkeit und Wahrheit Widerstrebende; dodi „sie können über den Charakter des Daseins nur auf kurze Zeit sich und andre täuschen — diese Täuschung ist ja das Wesen der Kunst —, aber dafür rächt sich an ihnen auch fortwährend das böse Gewissen und Wissen aller Künstler, wie sie den Dingen eine Larve mit reineren, freieren Zügen aufsetzen wollen, die immer wieder herabfallen m u ß " 7 ) . Am Gegensatz zwischen notwendiger und zufällig willkürlicher Daseinsform scheitert nadi Nietzsche alle Anstrengung der schöpferischen Menschen. Was immer die Künstler erfinden, „der milde Glanz, den die Dichter über dieWelt wie einen Staub von Schmetterlings-Flügeln zu legen wissen"8), das Gebilde von „reineren, freieren Zügen" ·), welches sie den Dingen aufsetzen wollen: immer handelt es sich um etwas, was von der Welt, wie sie notwendig ist, wieder „herabfallen m u ß " . Als Gericht über das Schöne, als „das böse Gewissen" hinsichtlich des Erdichteten erscheint demnach dieWahrheit, und sie enthüllt sich selbst als das, woran nicht gerüttelt werden kann, als die Notwendigkeit. In einem nachgelassenen Gedicht, welches eine Vorrede zu „Menschliches, Allzumenschliches" hätte beschließen sollen, drüdct Nietzsche den Gegensatz zwischen dem künstlerisch willkürlichen „Schönen" und dem eigentlichen Inhalt der Daseinserkenntnis, um die er sich in jenem Werke kritisch bemühte, folgendermaßen aus: „Spiel der Gedanken, es führt eine der Grazien dich: oh wie weidest den Sinn du mir! — Weh! Was seh ich? Es fällt ·) ') ") ·)

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„Über den Rhythmus" (Werke 5, 475). Ebd. Ebd. 473. Vgl. oben, Anm. 7.

Larve und Schleier der Führerin und voran dem Reigen schreitet die grause Notwendigkeit" 10). Nicht die Anmut, sondern das Fatale, das grausig Notwendige ist es, was sich dem kritischen Philosophen enthüllt, nachdem er zunächst „den schönen Formen", nämlich den platonischen und nachplatonischen metaphysischen Ideen folgen zu dürfen geglaubt hatte. In dem Abschnitt „Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten" (in „Menschliches, Allzumenschliches") spricht sich Nietzsche deutlich in diesem Sinne aus: „Es ist das Merkmal einer höhern Kultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen als die beglückenden und blendenden Irrtümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen" 11 ). Doch „die Verehrer der F o r m e n freilich, mit ihrem Maßstabe des' Schönen und Erhabenen, werden zunächst gute Gründe zu spotten haben, sobald die Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten und der wissenschaftliche Geist anfängt zur Herrschaft zu kommen: aber nur weil entweder ihr Auge sich noch nicht dem Reiz der s c h l i c h t e s t e n Form erschlossen hat, oder weil die in jenem Geiste erzogenen Menschen noch lange nicht völlig und innerlich von ihm durchdrungen sind, so daß sie immer noch gedankenlos alte Formen nachmachen (und dies schlecht genug, wie es Jemand tut, dem nicht mehr viel an einer Sache liegt)"12). Die Ausdrücke „metaphysisch" und „künstlerisch" werden in dieser Periode für Nietzsche zu Synonymen, weil gerade in der Erschaffung einer ideellen Welt, einer „Hinterwelt", das eigentliche „Dichter-Erschleidinis" zustande kommt. Es ist das unheroische Bedürfnis des Menschen nach Schein, Lüge, Trost, welches ihn eine metaphysische Welt ersinnen läßt, wo ihm der fatale Anblick des Daseins selbst nicht erträglich ist. „Dichter wissen sich immer zu trösten" ls ) — : insofern der Mensch ein dichterisches Vermögen hat, weiß er durch Illusion sein Dasein erträglich zu gestalten. Im Nur-Dichterischen einer Weltauffassung, einer „höheren Wahrheit", verrät sich das menschlich Allzumenschliche als die Unfähigkeit, die Wahrheit selbst zu ertragen. 10

) ") ") 1S )

Werke 8,407. Werke 8,19. Ebd. 20. Ebd. 49.

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Da Nietzsdies im Grunde einzige „Liebe" dem Fatum galt, mußte ihm das Dichterische als hassenswert erscheinen, so oft er sich auf diese seine Liebe besann. Denn der Wille zur Täusdiung, zur künstlerischen Illusion ist — oder scheint zunächst — das Gegenteil einer unbedingten Schidcsals-Annahme und -Liebe. „Die Diditer lügen zuviel" 14 ); Lügen bedeutet für Nietzsche in einem „außennoralischen Sinne" das Verfehlen der Schicksalsnotwendigkeit oder auch das Verschleiern der menschlichen Notdurft. Die Erhöhung und Verschönerung des Daseins, welche etwa die Griechen während der Blütezeit ihrer Kultur erreicht hatten, war in der vollendeten „Herrschaft der Kunst über das Leben" 15 begründet. Sie wirkte sich aus als „jene Verstellung, jenes Verleugnen der Bedürftigkeit, jener Glanz der metaphorischen Anschauungen und überhaupt jene Unmittelbarkeit der Täuschung", welche „alle Äußerungen eines solchen Lebens begleitet. Weder das Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der tönerne Krug verraten, daß die Notdurft sie erfand" 1 ·). Aber dieses „als real Nehmen" der Lüge oder „des zum Schein und zur Schönheit verstellten Lebens"18) ist „unvernünftig" 17 ). Denn Nietzsche glaubt — wenigstens zu Zeiten — an die immer wieder erwachende „Rache" des Gewissens18), an die böse Überlegenheit des wissenden über den schöpferischen Menschen, wie er ja selber das „böse Gewissen" des zur Erkenntnis und Kritik bestimmten Menschen, so sehr er sich als „Dichter" bisweilen darum bemühte, niemals endgültig hatte überwinden können. Als eine „Schule des Verdachts" wollte Nietzsche sein kritisches Werk verstanden wissen19), des Verdachts gegenüber allen bisher für „aeternae veritates" gehaltenen, in Wirklichkeit aber vom Menschen erfundenen geistigen Inhalten. An die Stelle der „schwächeren Moralität" der Künstler20), welche „die Verherrlicher der religiös-philosophischen Irrtümer der Menschheit" gewesen sind21), sollte der Wahrheitssinn des wissenschaftlichen Denkers treten. Gegen den Künstler und seine mangelnde Redlichkeit wird gesagt: „Er will sich die glänzenden, tief") ") '·) ") le ) le )

Werke 13,166. Werke 6, 91. Ebd. Ebd. 90. Vgl. oben, Ann». 7. Vorrede zu „Menschliches, Allzumenschlidies" (Werke 8, 3). Werke 8,148. " ) Ebd. 188.

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sinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen nüchterne, schlichte Methoden und Resultate. Scheinbar kämpft er für die höhere Würde und Bedeutung des Menschen; in Wahrheit will er die für seine Kunst w i r k u n g s v o l l s t e n Voraussetzungen nicht aufgeben, also das Phantastische Mythische Unsichere Extreme, den Sinn für das Symbolische, die Überschätzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges im Genius: er hält also die Fortdauer seiner Art des Schaffens für wichtiger als die wissenschaftliche Hingebung an das Wahre in jeder Gestalt, erscheine diese audi nodi so schlicht"22). In dem „Glauben an etwas Wunderartiges im Genius" drückt sich wiederum das Mißverständnis des Schidcsalsnotwendigen durch den Künstler aus: er will nicht auf die „wirkungsvollste Voraussetzung" für seine Kunst verzichten und so bedarf er, wie ein Schauspieler, der Verkleidung, wo der nüditern erkennende Geist das natürlich und notwendig Gewordene wahrnimmt. Auch am Kunstwerk selbst, nicht nur in der Erkenntnis und Weltdeutung des Künstlers, ist nach Nietzsches damaliger Auffassung nichts wirklich notwendig. „Die, welche so viel von dem Notwendigen an einem Kunstwerk reden, übertreiben, wenn sie Künstler sind, in maiorem artis gloriam, oder wenn sie Laien sind, aus Unkenntnis. Die Formen eines Kunstwerks, welche seine Gedanken zum Reden bringen . . . , haben immer etwas Läßliches"23). Manches madit dem Künstler „heut Vergnügen, morgen nidit" 24). Seine Gestalten haben immer „viel Blendwerk" bei sich25), das heißt, sie sind nicht in der Notwendigkeit begründet, und ihr Wesen ist auf eine naive Weise vereinfacht. „Der erdichtete Mensch, das Phantasma, will" zwar „etwas Notwendiges bedeuten, dodi nur vor Solchen, welche auch einen wirklichen Menschen nur in einer rohen, unnatürlichen Simplifikation verstehen" 2e ). „Ein wirklicher Mensch" dagegen „ist etwas ganz und gar N o t w e n d i g e s (selbst in jenen sogenannten Widersprüchen)" 27 ). Für den Künstler ist „die Fortdauer seiner Art des Schaffens" an einen Begriff von Freiheit und Willensmächtigkeit des einzelnen Menschen einerseits und an Zufälligkeit des Weltgeschehens im ganzen ») ») ") ") M )

Ebd. 148. Ebd. 166. Ebd. Ebd. 156. Ebd.

Ebd. 31

andrerseits geknüpft, der Nietzsche, vom Standpunkte des Determinismus aus und an seinem amor fati gemessen, verlogen und verächtlich scheint. So gelangt er immer wieder zu ablehnenden Urteilen, die sidi nidit nur auf den „Dichter", sondern auf den Künstler, den produktiven Menschen überhaupt beziehen, als auf einen, der es nötig hat, das Bestehende zu verändern, sich selber erst zu etwas zu m a c h e n . „Wenn man Etwas ist, so braucht man eigentlich Nichts zu machen — und tut doch sehr Viel. Es gibt über dem .produktiven' Menschen noch eine höhere Gattung" 28 ). Selbst noch im „Willen zur Macht", der seiner ganzen Grundhaltung nach das gerade Gegenteil einer das „Produktive" verachtenden Tendenz ausdrückt, spricht Nietzsche von einem höheren Menschentum, als es die künstlerisch-produktive Natur darzustellen vermöchte. Zum „vornehmen Menschen", wie Nietzsche ihn hier charakterisiert, gehört: „Die Fähigkeit zum otium, der unbedingten Überzeugung, daß ein Handwerk in jedem Sinne zwar nicht schändet, aber sicherlich entadelt. Nicht ,Fleiß' im bürgerlichen Sinne, wie hoch wir ihn auch zu ehren und zu Geltung zu bringen wissen, oder wie jene unersättlich gackernden Künstler, die es wie die Hühner machen, gackern und Eier legen und wieder gackern"211). Im Namen einer höchsten Aristokratie sagt Nietzsche: „Wir beschützen die Künstler und Dichter und wer irgend worin Meister ist: aber als Wesen, die höherer Art s i n d , als diese, welche nur etwas k ö n n e n , als die bloß .produktiven Menschen', verwechseln wir uns nicht mit ihnen"89). Als gegen die bloß „etwas könnenden" und nicht „etwas seienden" Menschen und damit im Grunde gegen die Dichter gerichtet erweist sich schließlich auch Nietzsches Gedanken von der ewigen Wiederkehr, wiewohl Nietzsche selber diesem Gedanken gelegentlich eine schöpferische Macht: die Kraft zur Umgestaltung des menschlichen Daseins zu*») Ebd. 180. *>) Werke 19, 308. M ) Ebd. — In diesem Sinne kann auch (mit K. Löwith, Von Hegel bis Nietzsche, Züridi/New York 1941, S. 259) die dritte der im „Zarathustra" vom Geiste geforderten „Verwandlungen" gedeutet werden: Als Verwandlung „vom ,Ich will' zum ,Idh bin', nämlidh im ganzen des Seins" (Löwith). Wenn Nietzsche hier vom „Jasagen des Kindes" zum „Spiele des Schaffens" spricht, meint er ein Schaffen innerhalb der Bindung an das, was notwendig wiederkehren muß und daher im Grunde bereits „ist". — Auch „Ecce homo" zeigt, daß man „nur wird, was man bereits ist" (vgl. Löwith, ebd.), daß man aber nicht sein Dasein willkürlich und wider das Schicksal verändern kann, wie dies ein naiv „produktiver" und fortschrittsgläubiger Mensch annehmen könnte.

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gemutet hat 81 ). Folgerichtig müßte die Annahme einer ewigen Wiederkehr aller Dinge als höchste Steigerung des amor fati den Menschen in der Ruhe und „Vornehmheit'' seines Seins bestärken, in der „Fähigkeit zum otium" in großem Stile. Entsprechend erweist sich die „Wiederkehr", zunächst ein für Nietzsche fast untragbar schrecklicher Gedanke, später als eine im letzten und gültigsten Sinne versöhnende Macht, als „Seligpreisung sub specie aeterni" 32 ), als ein abendliches Zur-Ruhe-Kommen des bisher verzweifelt mit seinem Schicksal kämpfenden Menschen. „Die .Wiederkehr' wie eine Abendsonne über der letzten Katastrophe aufleuchtend"83): diese Aufzeichnung Nietzsches zum unausgeführten Schluß des „Zarathustra" erinnert an die Verse, die Hölderlins Empedokles auf dem Aetna scheidend zu seinem liebsten Jünger spricht: „Geh! fürchte nichts! es kehret alles wieder, / Und was geschehen soll, ist schon vollendet"34). Hier wie dort erscheint der Gedanke der Wiederkehr als die Aussöhnung mit dem Schicksal, welches vom Helden, von Empedokles wie von Zarathustra Abschied und Untergang fordert. Die Einführung des Wiederkunftsgedankens am Ende beider Dichtungen deutet an, was Nietzsche notizartig ausspricht: „Die tragischeste aller Geschichten mit einer himmlischen Lösung" 86 ). Ist es aber ein Zufall, daß weder Hölderlin noch Nietzsche das Abendsonnenlicht der „Wiederkehr" auszukosten vermochte und daß Zarathustras wie des Empedokles Ende dichterisch nicht zu gestalten war? Über der Frage des fremden Sehers nach der Berufung des Empedokles, das ist aber nach der letzten Notwendigkeit seines Freitods, bricht Hölderlins Fragment ab; und ebenso findet Nietzsches Gestaltungskraft dort ihre Grenze, wo er die Wirkung des einen großen Gedankens hätte zeigen sollen und wo ihm aber dies eine Notwendige in mehrere Möglichkeiten, in mehrere Abschlüsse der Dichtung, in verschiedene Lösungen des Zarathustra-Problems, auseinanderbrach.

" ) So nennt er ihn im „Willen zur Macht" den „großen z ü c h t e n d e n Gedanken" (Werke 19, 366). — Der Wiederkunftsgedanke könnte freilich „züchtend" wirken nach jener eigentümlichen Logik, die den PraedestinationsGlauben, überhaupt den strengen Fatalismus, bei gewissen Menschen zu einem gewaltigen Ansporn zu eigener Tätigkeit werden läßt. » ) Werke 14,161. M ) Ebd. M ) Hölderlin, Werke 3, 217 (v. Pigenot). » ) Werke 14,161.

3 Bindschedler, Nietzsche

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„Schild der Notwendigkeit! Hödistes Gestirn des Seins! — das kein Wunsdi e r r e i c h t . . . "

M

)

Audi des Dichters „Wunsdi" und Kräfte („adlerhaft, panterhaft/ Sind des Diditers Sehnsüchte" ®7) reichen höchstens dazu aus, der ewig ihm gegenüberstehenden Notwendigkeit einen Namen zu geben. Innerhalb seines eigentlichen Darstellungsbereiches liegen bloß die unzähligen Möglichkeiten des mehr oder weniger Notwendigen — höchste Dichtung, etwa die griechische Tragödie, scheint uns am meisten von der Notwendigkeit selbst erfaßt zu haben, und darum geben wir uns ein Recht, sie im besondern „wahr" zu nennen —; und zu diesen unzähligen Möglichkeiten gehören sämtliche Grade des Willkürlichen und Zufälligen, das sind sämtliche Absdiattierungen der Lüge 9 8 ). „Daß ich verbannt sei Von aller Wahrheit, Nur Narr! Nur Dichter!"»») Dies ist die Klage, die Nietzsches Redlichkeit immer wieder gegen sein eigenes Schöpfertum erhebt. Die Tragik von Nietzsches geistiger Existenz hat ihren Grund nicht darin, daß er, wie der Held von Thomas Manns Erzählung „Tonio Kröger", ein Künstler mit dem schlechten Gewissen eines Bürgers gewesen wäre, sondern darin, daß er ein „Künstler" im weitesten Sinne mit dem schlechten Gewissen eines Philologen war. Der tragische Kampf mit all seinen Momenten des Siegs, der Niederlage und der Rache spielt sich bei Nietzsche auf der Ebene der Erkenntnis ab. „Die höchsten tragischen Motive sind bisher unbenutzt geblieben: die Dichter wissen von den hundert T r a gödien des Erkennenden nichts aus Erfahrung" 4 0 ). D e r Dichter, der '·) Werke 20,214. " ) Werke 13, 378. M ) Das Motiv vom Dichter oder Künstler überhaupt als einem Lügner, Schauspieler, Gaukler, Hochstapler und vom „wahren" Leben radikal Getrennten hat bekanntlidiThomasMann von Nietzsche übernommen und zu einem Hauptmotiv seines Werks ausgestaltet. M ) Werke 13,379. « ) Werke 14,11. 34

nidit zugleich auch, wieNietzsche, kritischer Philosoph mit dem intellektuellen Gewissen des Wissenschafters ist, kann sich j a audi um dies Motiv, um die „hundert Tragödien des Erkennenden", nicht bekümmern, es sei denn, er überlasse sich einem Zustand der innern Unsicherheit und Desorientierung, wie ihn etwa Hugo von Hofmannsthal zu der Zeit durchgemacht hat, da er den „Brief des Lord Chandos" erfand 4 1 ). Die Tragödie des Erkennenden zu e r k e n n e n , ist — man denke an Kleists Kant-Erlebnis — schon gefährlich genug, sie darzustellen, fast unmöglich.

) Dies kleine Werk von Hofmannsthal illustriert überhaupt, auch in der Grausamkeit einzelner seiner Wendungen, die Tragik des Erkennenden im Sinne Nietzsdies. Man entsinne sidi etwa der Stelle: „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sidi mit einem Begriff umspannen. Die einzelnenWorte schwammen um midi; sie gerannen zu Augen, die midi anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen midi schwindelt, die sidi unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt" (Gesammelte Werke 3, Berlin 1934, S. 195). An Nietzsdies Ablehnung der platonischen Metaphysik als einer erdichteten oder erlogenen „Hinterwelt" erinnert auch die von Hofmannsthal hier geäußerte Abneigung gegen den platonischen Mythos: „Ich machte einen Versuch, mich aus diesem Zustand in die geistige Welt der Alten hinüberzuretten. Piaton vermied idi; denn mir graute vor der Gefährlichkeit seines bildlichen Fluges" (ebd.). 41

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3. KAPITEL

Die Rechtfertigung des Scheins

„Jahrzehntelang werdet ihr die Lügen händevoll verschlingen müssen, um nicht Hungers zu sterben: ob ihr schon wisset, daß es Lügen sind" 1 ). Diese Worte legt Nietzsche in „Der Wanderer und sein Schatten" dem Skeptiker Pyrrhon in den Mund, nachdem dieser „das Mißtrauen gegen Alles und Jedes" als den „einzigen Weg zur Wahrheit" erklärt hat. Nietzsche stellt hier die paradoxe Forderung auf, der Mensdi müsse zugleich „die Schule des Verdachts" 8 ) bis zum Ende durchlaufen: das „Mißtrauen gegen Alles und Jedes" gründlich erlernen und dennoch an der Vorstellung festhalten, es gebe „ d i e Wahrheit" und einen „Weg zur Wahrheit"; ebenso müsse er „Lügen händevoll verschlingen" können — das bedeutet doch wohl, Lügen sidi aneignen, sie für bare Münzen und lautere Wahrheiten nehmen, auf sie bauen, mit ihnen und durch sie leben — und trotzdem zugleich „wissen, daß es Lügen sind". So Paradoxes kann nur ein Fanatiker der Wahrheit verlangen, wie denn Nietzsche den Pyrrhon durch den Mund seines Gesprächspartners als einen „Fanatiker" bezeichnet8). Einzig die verzehrendste Leidenschaft zur Wahrheit4) konnte Nietzsche veranlassen, noch das Gegenteil der Wahrheit, die Lüge — freilich in einem bedingten und vor») Werke 9,294. «) L. c., Werke 8, 3. ») Werke 9, 294. 4 ) Zur Ursprünglichkeit und Uneingesdiränktheit von Nietzsches Leidenschaft zur Wahrheit vgl. das Kapitel „Wahrheit" bei K. Jaspers, Nietzsche, S. Aufl., Berlin 1950 (insbesondere Seite 178 f.).

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läufigen Sinne —, zu reditfertigen. Das wirklich W a h r e ist in unsern Bereichen erst noch zu spärlich vorhanden, als daß es uns vor dem geistigen Hungertode bewahren könnte. „Wir wissen auch zu wenig und sind schledite Lerner: so müssen wir schon lügen" 6 ) —, dies W o r t eines D i c h t e r s

aus dem „Zarathustra" ist nicht nur im Namen der

Dichter gesprochen, sondern gibt allgemeiner einen Aspekt der „condition humaine" wieder, wie Nietzsche sie gesehen hat. Aus dem M a n gel an Wissen entsteht, nach Nietzsche, eine Notwendigkeit, das Fehlende zu ergänzen, die Lücken in dem uns faßlichen Gewebe der W a h r heit gleichsam mit dem Schein-Stoff der Lügen auszufüllen. — Hier findet nun der Dichter, oder auch der „dichtende" Denker, seine wenig rühmliche Aufgabe·). Indessen muß doch festgehalten werden, daß Nietzsche selbst noch in der extrem „kritischen" oder skeptischen Periode seines Philosophierens eine gewisse Rechtfertigung der Kunst oder des Schöpferischen versucht hat. Die Rechtfertigung beruht freilich auf eher negativen Gründen und setzt ein abschätziges, gelegentlich zynisches Urteil über das „Erdichtete" voraus 7 ). Die dichterische „Lüge" ist ein Provisorium a u f dem W e g e zum Wissen, zur Wahrheit. Sie ist nichts Besseres als ein notwendiges Übel. Von ferne klingt in dieser resignierten Haltung, die Nietzsche zeitweise gegenüber der dichterischen Bild- und Gleichniswelt eingenommen hat, das Paulus-Wort nach: „ W i r sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln W o r t ; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich's stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleich wie idi erkannt bin" 8). I n Nietzsches Erkenntniswillen

) Werke 13,167. ·) „Ach, es gibt so viel Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich nur die Dichter Etwas haben träumen lassen!" (ebd.). 7 ) Von diesem Mißtrauen gegenüber der erfundenen, der künstlerischenWahrheit sind die Dichter und Schriftsteller nach Nietzsche selten ganz frei; man denke an Paul Valéry oder Thomas Mann, an gewisse Äußerungen von Hofmannsthal oder von Rilke, etwa gegenüber der „Wirklichkeit" des Krieges. Beispielhaft zeigt die Lebensgeschichte Antoine de St. Exupérys (der Nietzsches Werk gekannt hat), wie der Dichter immer wieder versucht, das durdi die dichterische Gestaltung überhöhte Leben, das ist die erfundene Wahrheit durch ein noch inständigeres wirkliches Erleben von neuem zu überbieten — : Von da die verzweifelte Angst des Dichters und Fliegers, er könnte aus der „Frontlinie", wo die Dinge wirklich geschehen, zurückgerufen werden in eine rein literarische Existenz. ·) l.Kor. 13, 12. 8

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lebt die religiöse Inbrunst eines im Letzten nach über-menschlidier Wahrheitserfahrung dürstenden Geistes fort. Es ist nicht sokratische Vernünftigkeit oder kantische Bescheidung, die Nietzsche als Skeptiker und Kritiker auszeichnete, sondern noch in seinem Kritizismus gibt er sich als Fanatiker. Er kann daher nicht „schweigen", wie es der Gesprächspartner des Pyrrhon von diesem folgerichtig verlangt·); vielmehr muß er das Wort mit all seinen Möglichkeiten stets von neuem ergreifen, um die Spannung zwischen Lüge und Wahrheit immer neu abzumessen: hoffend, einst könnte diese Spannung ausgeglichen werden. „Vielleicht, vielleicht gibt es einmal einen Tag der Ernte..." 1 0 ). Wenn selbst auf der Ebene der Erkenntnis dine gewisse, freilich beschränkte Rechtfertigung der dichterischen „Lüge" erfolgen kann, nämlich aus der Spärlichkeit unseres wirklichen Wissens und aus der Vorläufigkeit unserer gegenwärtigen geistigen Lage, so sind die Voraussetzungen für eine solche Rechtfertigung ungleich günstiger dort, wo Nietzsche bewußt den Erkenntniswillen hinter die eigene Gestaltungskraft zurücktreten läßt. In ausgesprochenster Weise hat Nietzsche dies in seinem ersten berühmten Werke getan, in der „Geburt der Tragödie", da sich ihm zum ersten Male die Übermacht des gestaltenden Prinzips über die rein kritische Haltung in ihm selber aufdrängte (jene Haltung, die er dann später, in „Menschliches, Allzumenschliches" erst recht wieder zu Worte kommen ließ), wobei er zunächst noch glaubte, diese Umwertung der leitenden Gesichtspunkte lasse sich innerhalb der philologischen Wissenschaft begreifen und verteidigen. In der „Geburt der Tragödie" entspricht dem Gegensatz von Wahrheit und Lüge derjenige von Wesen und Schein. Es handelt sich in dieser Schrift Nietzsches nicht mehr — oder mein kann auch im Hinblick auf seine mehrfach gebrochene innere Entwicklung sagen: „noch nicht wieder" — um das Problem der reinen und als solchen rezeptiven Erkenntnis. Vielmehr wird jene Substanz, die als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis hätte dienen können, hier von vorneherein als eine Macht aufgefaßt, welche auch im Erkennenden selbst am Werke ist und ihn im buchstäblichen Sinne „bildet". Daher kann hier nicht von Wahr und Falsch die Rede sein, sondern nur von einem Verborgenen und Unverborgenen oder von einem wirkenden Wesen und von vorgestelltem Schein oder von Dionysos und Apollo. ') Vgl. 1. c„ Werke 9, 294. '») Ebd. 38

Das Dionysische ist in der „Geburt der Tragödie" eine Bezeidmung für das wahre Wesen der Welt. Es steht, wenn man seinen „Ort" in der geistigen Welt bestimmen müßte, auf der Seite jenes „Dings an sich", welches Schopenhauer „Wille" genannt hat (womit jedoch nur auf eine Analogie hingewiesen und nicht behauptet werden soll, die Begriffswelt Schopenhauers ließe sich ohne weiteres in das Frühwerk Nietzsches übertragen). Das „Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine" 11 ), das „Wesen der Natur" 12 ) wird von Nietzsche im Hinblick auf den Mysterien-Gott gedeutet, der sich „als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle" 1S ) in alle Teile der Welt zerstreut findet und dennoch im Grunde nur eines ist. Der „Dionysos der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt werde: wobei angedeutet wird, daß diese Zerstückelung, das eigentlich dionysische L e i d e n , gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, daß wir also den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten" 14 ) —, dieser Gott mit seinem Schicksal bietet Nietzsche die Gewähr für „die Grunderkenntnis von der Einheit alles Vorhandenen" ls ). Es ist der Mystiker Nietzsche, der hier zum ersten Male, unter Berufung auf den Mythus von Dionysos, eine einheitliche Erfahrung des Seins auszusprechen wagt. In der Folge bleibt auch für den spätem Nietzsche, wann immer das mystische All-Einheitsgefühl sich ihm ins Bewußtsein drängte und nach einem sprachlichen Ausdruck verlangte, das Dionysische der zunächst liegende und am meisten geeignete Name, um das Einheitliche des „scheinbar" Verschiedenartigen zu bezeichnen1·). Das Dionysische als solches aber ist im einzelnen nicht faßbar, da es die individuellen Wesen — und mit ihnen auch die individuierenden ») Werke 3,36. ") Ebd. 30. ") Ebd. 36. ") Ebd. 73. le ) Ebd. 74. le ) Insofern der späte Nietzsche den Willen zur Macht personifiziert und mythisch überhöht, geschieht dies wiederum im Sinne einer dionysischen Seinserfahrung. Vgl. den letzten Abschnitt des „Willens zur Macht": „Diese meine d i o n y s i s c h e Welt des Ewig-sidi-selber-Sdiaffens, des Ewig-sidi-selberZerstörens . . . D i e s e W e l t i s t d e r W i l l e z u r M a c h t — u n d N i c h t s a u ß e r d e m ! " (Werke 19, 374).

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Bestimmungen — über sidi selbst hinaus treibt: in der Maßlosigkeit ihres Wollens, nämlich ihres Willens, a l l e s zu sein17). „Das ganze Ü b e r m a ß der Natur"«) enthüllt sidi als die „Wahrheit", die sich nicht auszusprechen vermag, es sei denn im „durchdringenden Sdirei" der Ekstase19). Daher können die Züge des dionysischen Wesens nicht adäquat wiedergegeben werden, versagen die begrifflichen Worte vor der Ungreifbarkeit seiner Wahrheit. Zur Umschreibung des dionysisdben Etwas bietet sich — wie später für die letzte Kennzeichnung des Willens zur Madit — bloß das „Nichts außerdem" 80 ), das heißt, wollen wir es fassen, das Nichts. — Von einer andern Seite her nähern wir uns hier wiederum der gorgianisdien Aussage: „Wenn Etwas wäre, ließe es sich nicht erkennen, und wenn es sich erkennen ließe, könnte es nicht mitgeteilt werden". Denn wo das Dionysisdi-Wahre sich im Bild und im Begriff darstellen und erkennen läßt, ist es nicht mehr das Dionysische. Erhellen und Erkennen läßt sidi das Dionysische nur auf Grund seines Gegenteils, des Apollinischen: so wird das Wesen offenbar nur an seinem Abglanz, seinem „Schein". Dieser „Schein" erhält nun, obwohl er dicht an die Seite der „Lüge" zu stehen kommt, im Werke Nietzsches eine höchste Würde. Es ist das Apollinische, dessen strahlende Macht sich im „schönen Schein der Traumwelten" 21 ), in der klaren Sichtbarkeit der durch das „Maß" begrenzten Einzelwesen und endlich in der „scheinbaren" Objektivität des vollendeten Kunstwerks entfaltet. „Apollo..., der seiner Wurzel nach der .Scheinende', die Lichtgottheit ist, beherrscht auch den schönen Schein der inneren Phantasie-Welt" 82 ). Im Gegensatz zu der „titanischen und barbarischen... Wahrheit, als die sich das Ü b e r m a ß enthüllte" 25), gehört zum „Bilde des Apollo . . . jene maßvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes. Sein Auge muß .sonnenhaft', gemäß ") Wenn die christlichen Mystiker auf dem Wege der Entleerung des Gottesbegriffs in bezug auf alle nur-irdisdien Bestimmungen eine „negative Theologie" entwickelt haben, so gelangt Nietzsche gewissermaßen auf dem umgekehrten Wege zu einem ähnlichen Ziele: Seine dionysische Welt verschlingt alle Einzelbestimmungen, und es gibt daher „Nichts außerdem". «) Werke 3,38. ") Ebd. M ) Vgl. Anm. 16. Werke 3,22. *) Ebd. 23. 2S ) L. c., ebd. 38.

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seinem Ursprünge sein; auch wenn es zürnt und unmutig blickt, liegt die Weihe des schönen Scheines auf ihm. Und so möchte von Apollo in einem exzentrischen Sinne das gelten, was Schopenhauer von dem im Schleier der Maja befangenen Menschen sagt. Welt als Wille und Vorstellung I, S. 416: ,Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegrenzt, heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis.' Ja, es wäre von Apollo zu sagen, daß in ihm das unerschütterte Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des .Scheins', samt seiner Schönheit, zu uns spräche" 24). Nietzsche erkennt und verehrt im Apollinischen das gesetzgebende Prinzip, sowohl in ethischer wie in ästhetischer Hinsicht. Der ethische Imperativ fordert vom einzelnen in erster Linie das „Maß"; denn an das Einhalten der von außen und innen gesetzten Grenzen ist das Bestehen des Individuums gebunden. Die apollinische Macht oder die „Vergöttlichung der Individuation kennt, wenn sie überhaupt Imperativisch und Vorschriften gebend gedacht wird, nur Ein Gesetz, das Individuum, das heißt die Einhaltung der Grenzen des Individuums, das M a ß im hellenischen Sinne. Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den Seinigen das Maß und, um es einhalten zu können, Selbsterkenntnis" 26). Apollinisch ist daher „die Forderung des .Erkenne dich selbst' und des .Nicht zu viel!'" 2 «), das bedeutet das Wissen um das richtige Maß der eigenen Entfaltung, im Hinblick auf die möglichst vollkommene „Darstellung" des individuellen Selbst. Das im vollen Sinne des Wortes „ausgebildete" Individuum stellt in der apollinischen Weltsicht das Ziel der Schöpfung dar; und zu ihm hin drängt darum jedes: „Du sollst!"—Daß Nietzsche diese Konzeption des Apollinischen zu entwerfen vermochte, unterscheidet ihn bereits in seiner Jugend von Schopenhauer und dessen gegen das individuierende Prinzip gerichteten

u ) Ebd. 24. » ) Ebd. 37. *·) Ebd.

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Pessimismus. In der Spätzeit Nietzsches, bei der Auffassung des „Willens" als eines „Willens zum Etwas" 27), tritt dieser Unterschied zu Schopenhauer, die Bejahung des gestaltgebenden und dadurch „vereinzelnden" Prinzips, noch stärker hervor. Im ästhetisch-künstlerischen Bereiche aber wirkt sich das apollinische Gesetz dahin aus, daß das zunächst nur Subjektive des „Willens" in der Sichtbarkeit des „Scheins" objektiviert werden muß. Die „Erlösung im Scheine" oder die Objektivierung des Subjekts ist hier das Ziel, welches der schaffende Künstler im Dienste der apollinischen Macht zu erreichen versucht. Dabei ist die persönliche Subjektivität des Künstlers für Nietzsche von vorneherein Nebensache, da durch sie hindurch das „Subjekt an sich", der allgemeine „Wille", handelt. „Insofern aber das Subjekt Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subjekt seine Erlösung im Scheine feiert" 28 ). So darf der Künstler, etwa als Lyriker, ohne Bedenken „ich" sagen, weil nicht sein privates Ich, sondern durch ihn hindurch das allgemeine spricht29). Die „Vision des Genius" oder die „Erlösung im Scheine", welche als Vision und Schein das Werk Apollos sind, hängen demnach nicht wesentlich von der besondern Geartetheit des einzelnen schöpferischen Subjektes ab. Vielmehr hat das Individuum als solches im künstlerischen Bereiche als untergeordnet zu gelten; und wenn oben Apollo als „das herrliche Götterbild des principii individuationis" bezeichnet wurde30), so ist zu dieser mehr ethischen Auffassung des Apollinischen die ästhetische ergänzend hinzugetreten, wonach nun Apollo als das principium objec-

") Vgl. Werke 19, 123 u. a. ) Werke 3, 45. ") Vgl. ebd. 43: „Die Bilder des Lyrikers sind . . . nichts als e r selbst und gleichsam nur verschiedene Ob jektivationen von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt „ich" sagen darf: Nur ist diese Idiheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch-realen Menschen, sondern die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Idiheit, durch deren Abbilder der lyrische Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht." Und ebd. 43 f.: „ Archilodius, der leidenschaftlich entbrannte, liebende und hassende Mensch, ist in Wahrheit nur eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr Archilodius, sondern Weltgenius ist und der seinen Ursdimerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilodius symbolisch ausspricht: während jener subjektiv wollende und begehrende Mensch Ardiilochus überhaupt nie und nimmer Dichter sein kann." ») Vgl. Anm. 24. M

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tivationis dem in seiner noch unerschlossenen Vereinzelung Besdiränkten den Wert eines Göttlidi-Allgemeinen verleiht 31 ). Eis ist eine über Zeit und Kausalität erhabene und darum ideale, zugleich aber bildhafte und plastische und darum konkrete Form des Seins, zu welcher das Apollinische bei Nietzsche die Einzelwesen hinlenken möchte. In diesem Sinne läßt sich das Werk Apollos begreifen als „die leuchtende Verherrlichung der E w i g k e i t d e r E r s c h e i n u n g " 32). Hier zeigt es sich nun aber besonders deutlich, wie nahe bei der Sphäre der „Lüge" das Apollinische nach Nietzsche zu suchen ist 33 ). Denn im Hinblick auf den wechselnden Charakter des Daseins, auf die ständige Folge von Entstehung und Untergang, den Nietzsche als das wahre „Wesen der Natur" anerkannte 34 ), muß der Begriff „ E w i g k e i t d e r E r s c h e i n u n g " , so gut wie eine platonische Idee, den Wert einer reinen Fiktion besitzen. So wie das apollinische Kunstwerk nach Nietzsche „in einem gewissen Sinne den Schmerz aus den Zügen der Natur hinweggelogen" 35 ) hat, so will die apollinische Macht im Letzten die Vergänglichkeit der Erscheinungen leugnen. Während Nietzsche in der dionysischen Kunst und ihrer tragischen Symbolik „die wahre unverstellte Stimme der Natur" 36 ) vernommen zu haben glaubte, deren Wille „der unaufhörliche Wechsel der Erscheinungen" 36 ) ist, mußte ihm auf der andern Seite jene Macht, welche das einzelneWesen im Bild und im Steinwerk oder im Mythus eines olympischen Daseins zu verewigen sucht—auf Grund einer überwirklichen Schönheit zu verewigen sucht —, als die allem Wahren schlechthin entgegenwirkende Kraft vorkommen. Nun hat sich jedoch Nietzsche über das Apollinische nirgends, auch in den spätem Schriften nicht, so absprechend geäußert, wie er dies im Hinblick auf die „Unredlichkeit" der„Hinterwelten erfindenden" Denker, oder allgemeiner, im Hinblick auf alle „Lügen" der Dichter getan hat. Bei dem Gegensatz von „wahremWesen" und „Schein", wie er sich 91

) „Nicht für uns", das heißt nicht unserer individuellen Bedürfnisse wegen „wird die ganze Kunstkomödie aufgeführt", sondern um der Rechtfertigung des Daseins selbst willen findet die Objektivierung des einzelnen im Kunstwerk statt: Die „Vorstellung" oder die „Erlösung im Scheine". Vgl. Werke 3, 45 f. M ) Ebd. 113. 5S ) Vgl. hierzu auch M. Landmann, a. a. O., S. 37. M ) Vgl. 1. c., Anm. 12. » ) Werke 3, 113. ") Ebd.

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in der „Geburt der Tragödie" aufgetan hat, liegt das ethische Schwergewidit überhaupt nicht auf der Seite des Wahren. Nietzsche nennt ausdrücklich Apollo die „ethische Gottheit" S7); und seine dem Individuum dienenden Forderungen des Maßhaltens und der Selbsterkenntnis werden gerade darum, weil sie in gewissem Sinne dem wahren Lauf der Welt zuwiderlaufen, der ja in unaufhörlidiem, den Untergang des einzelnen fordernden Wechsel besteht, als schwer zu erfüllen und darum als sittlich empfunden. Es ist, als hätte Nietzsche eine Analogia veri gekannt, nach welcher dem Wahren auf dem nur menschlichen Boden der Erkenntnis und in dem übermenschlichen Bereich der treibenden und formenden Urkräfte (die er Dionysos und Apollo nannte) eine verschiedene Bedeutung zukäme. Apollo ist nach Nietzsche der Gott der Träume und der Gott der künstlerischen Fiktion, insofern auch sie eine Traumwelt darstellt. Aber „Apollo, als der Gott aller bildnerischen Kräfte, ist zugleich der wahrsagende Gott" 88 ). „Die höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände" (nämlich in der apollinischen Traum- und Phantasiewelt) „im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit, sodann das tiefe Bewußtsein von der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur ist zugleich das symbolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit und überhaupt der Künste, durch die das Leben möglich und lebenswert gemacht wird" 39). — Audi hier wird also der zu Beginn dieses Kapitels erwähnte Gedanke von der Lückenhaftigkeit unseres wirklichen Wissens angetönt, doch mit andern Vorzeichen: das Ergänzende ist hier nicht Notbehelf, sondern „höhereWahrheit". Überdies sieht Nietzsche deis Apollinische und seine höhere Wahrheit im Dienste der Lebensermöglichung und -förderung: man könnte feist sagen, in einer goethisdien Perspektive, die alles, „was fruchtbar ist, allein" für „wahr" 40 ) setzt. So hat ja auch Goethe in den Erscheinungen des Schlafs und des Traums, wenn dieser dem Menschen freundliche Bilder vorgaukelt und „sein Innres reinigt von erlebtem Graus" (Faust II, 1. Szene), die „heilende und helfende Natur" („der Natur balsam'sche Wohltat", wie es in der „Natürlichen Tochter", 3, 1, heißt) ver-

37 ) ») 3 ») 40 )

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L. c., vgl. Anm. 25. Ebd. 23. Ebd. 23 f. Vgl. das Gedicht „Vermächtnis".

ehrt 4 1 ). Nirgends steht Nietzsche einer goethisdien Weltsicht so nahe (wir denken hier an den Goethe vor allem der mittleren und letzten Zeit, wie ihn Nietzsche auch meist vor Augen hatte), als da, wo er vom Apollinischen spricht 42 ). U n d umgekehrt läßt sich wohl Nietzsdies lebenslängliche—uns erstaunlich dünkende—Bewunderung für Goethe daraus erklären, daß ihm die apollinische Macht, in deren Sinne er Goethe deutete, auch dort, wo er sie nidit mehr mit Namen nannte und wo er den Abstand vom eigenen Wesen und Stil zum Apollinischen nicht mehr zu überbrücken vermochte, dennoch Zeit seines Lebens als das Wunschbild einer traumhaft fernen, aber immer wieder neu zu erträumenden Vollkommenheit verehrungswürdig blieb. Das Leben wird nach Nietzsche durch das Apollinische „ermöglicht und lebenswert gemacht" 4 S ), weil „nur als ä s t h e t i s c h e s

Phä-

n o m e n das Dasein und die W e l t ewig g e r e c h t f e r t i g t

ist" 4 4 ).

Als ästhetisches Phänomen aber ist die Welt „Schein" in dem zugleich konkreten und übertragenen Sinne, wie er den Werken des Träume sendenden und sie deutenden Gottes innewohnt. Dies rückt den V e r fasser der „Geburt der Tragödie" bereits weit von Schopenhauer ab, daß er dem Schein sein Recht zurückzugeben versuchte und das Bild, von dem „Schleier der M a j a " aus dem pessimistischen Zusammenhang, in

) Orest, vor seiner Errettung, sieht zuerst in einer Traumvision die in der Wirklichkeit einst tragisch Entzweiten versöhnt und wird dadurdi reif für die Hilfe, die ihm dann auch in der Wirklichkeit zu Teil werden wird. Die Versöhnung ist die höhere Wahrheit, die Goethe über die zunächst auswegslos tragisch scheinende empirische Wahrheit siegen läßt. Iphigenie selbst, im Augenblick der höchsten Bedrängnis, bricht, zu den Göttern flehend, in die Worte aus: „Rettet mich und rettet euer Bild in meiner Seele!" Goethe hat den Gegensatz: tragischer Untergang oder Rettung des Individuums mit dem Gedanken verbunden, daß im Falle einer siegenden Tragik das, wir dürfen wohl sagen, „apollinische" B i l d der Götter im Menschen zerstört wäre. — Daß auch dies Bild dem in Not stehenden Menschen beinahe wie eine Lüge vorkommt, beweist das unmittelbar folgende Parzenlied, in welchem Iphigenie wiederum dem Zweifel an der Realität ihres „Bildes" Raum gibt. Audi bei Goethe stand der Konflikt zwischen tragischer und „apollinischer" Weltsicht zu Zeiten auf Messersschneide. 42 ) Nicht zufällig steht das goethisch-plotinische Wort vom „sonnenhaften Auge" in der Beschreibung Apollos (vgl. 1. c., Anm. 24). 4 I ) L. c., vgl. Anm. 39. 44 ) Werke 3, 46; 161. 41

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dem es bei den Indern und bei Schopenhauer steht, im Sinne einer apollinischen Theodizee umgedeutet hat45). M

) Nietzsche glaubte hiermit insbesondere dem Christentum zuwider gesprochen zu haben. Vgl. die späte Vorrede zur „Geburt der Tragödie" („Versuch einer Selbstkritik" von 1886): „In Wahrheit, es gibt zu der rein ästhetischen Welt-Auslegung und Welt-Rechtfertigung, wie sie in diesem Buche gelehrt wird, keinen größeren Gegensatz als die christliche Lehre, welche n u r moralisch ist und sein will und mit ihren absoluten Maßen, zum Beispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit Gottes, die Kunst, j e d e Kunst ins Reich der L ü g e verweist — das heißt verneint, verdammt, verurteilt. Hinter einer derartigen Denk- und Wertungsweise, welche kunstfeindlich sein muß, solange sie irgendwie echt ist, empfand ich von jeher auch das L e b e n s f e i n d l i c h e , den ingrimmigen rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst: denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischen und des Irrtums. Christentum war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Überdruß des Lebens am Leben . . . " (Werke 3, 11). „ G e g e n die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwertung des Lebens, eine rein artistische, eine a n t i c h r i s t l i c h e " (ebd. 12). Doch geht Nietzsche bei seiner Reduktion des Christentums auf eine reine Morallehre mit entsprechender Kunstfeindlichkeit wohl allzu sehr von einer gewissen landläufigen Form, insbesondere des protestantischen Christentums, aus. Man vergleiche einmal mit Nietzsches Auffassung vom Christentum die Stellen aus den Kirchenvätern, die H. Rahner in seinem Vortrag „Der spielende Mensch" (Eranos-Jahrbuch 16, Zürich 1949, S. 11 ff.) aufgeführt hat, und die geradezu von der Auffassung eines „Deus vere ludens" (S. 30) zeugen. Als besonders charakteristisch für diese dem Ästhetischen aufgeschlossene Richtung des christlichen Schrifttums mögen die Worte aus Maximus Confessor mit ihrem Begleittext dienen, die Rahner dem Buche „Kosmische Liturgie" (Maximus der Bekenner, Höhe und Krise des griechischen Weltbilds, Freiburg 1941, S. 7 f.) von H. U. von Balthasar entnimmt: „Von der Höhe dieser Vision aus zerschmelzen die Dissonanzen dieser Welt auch für Maximus in eine letzte Harmonie. ,Was immer Dasein besitzt, ist gemäß einem vollkommenen Gesetze und vermag ein Besseres nicht anzunehmen' (PG 91, 1189 B). Wer sie fassen und beschreiben will, muß daher in seiner Wissenschaft jene höchste gelassene Heiterkeit besitzen, die die Ruhe dieser Schau ausdrückt. Wer für einen Augenblick lang das ungeheure kosmische Spiel erblickt hat, der weiß fürderhin, daß das kleine Leben des Menschen und all sein Ernst nur eine verschwindende Figur in diesem Tanz ist. ,Wir selber', so sagt Maximus, jetzt gezeugt und geboren wie der Rest der irdischen Tiere, dann zu Kindern geworden, endlich von der Jugend zu den Falten des Alters hinübergetragen, einer Blume gleich, die nur einen Augenblick dauert, sterbend sodann und zum andern Leben übergeführt — wahrlich, wir verdienen, ein Kinderspiel Gottes genannt zu werden' (PG91, 1416)." Das „Kinderspiel Gottes" heißt bei Nietzsche „ein künstlerisches Spiel, 46

Zu der Zeit, da Nietzsche die „Geburt der Tragödie" verfaßte, sah er, daß beiden Gottheiten: Dionysos und Apollo, geopfert werden müßte. Die Tragödie als „aus dem Geiste der Musik", das ist des „Willens" oder des Lebens selbst gezeugtes Kunstwerk, stellt die Synthese dar aus dionysisdi-dunkler „Wahrheit" undapollinisdi-liditem „Schein". (Die Bedeutung des Täuschens und die des Leuchtens, das videri und das lucere, zwischen denen unser Wort „scheinen" schwankt, sind in Nietzsches Begriff vom apollinischen Schein aufs engste ineinander verwoben.) Die Welt, die Schopenhauer in Wille und Vorstellung auseinander gerissen hatte, findet sich hier, in Nietzsches Auffassung der T r a gödie aufs neue zum Ganzen vereinigt: zum Ganzen des gestalteten Willens, des gelenkten und verklärten Untergangs, des in der Idee verewigten Individuums. Nietzsches Schrift sollte zum „Tempel beider Gottheiten" führen 46 ). Er hat mit diesem Werk zum ersten Male versucht, vom nur erkenntniskritischen Wahrheitsbegriff zu einer höheren Wahrheit vorzudringen und, sich hiermit von Schopenhauer und allem radikalen Pessimismus entfernend, die Notwendigkeit einer Entsprechung von Sein und Schein erkannt. Nicht als rationalesVerhältnis freilich vermochte er diese Entsprechung zu deuten, sondern nur im mythischen Bilde; wie denn auch Goethe das Verhältnis als eine geheimnisvolle Hinordnung von Schein und Wesen zueinander aufzufassen geneigt war. „Der Schein, was ist er, dem das Wesen fehlte? Das Wesen, wär' es, wenn es nicht erschiene?" 47 ).

welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust mit sich selbst spielt" (Werke 3, 161): Eine Vorstellung, mit der sich Nietzsche etwa einzig in der Nachfolge Heraklits glaubte, die jedoch einer alten christlichen Lehre von der „vor Gott spielenden und sich freuenden Weisheit" (nach Spr. 8, 30/31) des Logos-Kindes nicht fern steht. " ) Werke 3, 165. 4 7 ) „Die natürliche Tochter", 2 , 5 . — Auf die Bedeutung dieser Verse und auf den ihnen zugehörigen Hintergrund in Goethes wissenschaftlichen Arbeiten hat E. Staiger wiederholt hingewiesen (Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, Zürich 1939; Meisterwerke deutscher Sprache im 19. Jahrhundert, Zürich 1943). Es sei hier audi an „Clavigo" erinnert, wo die Entscheidung zum Bösen durch die Worte des Carlos im 4. Akt ausgelöst wird: „Was die Sache ist, scheint sie audi", was, auf Marie Beaumarchais bezogen, bedeutet: Wesensgüte ohne strahlende Erscheinung ist nichts. — Hier führt so zu denken den Helden in schwerste Schuld, während im Falle Eugeniens in der „NatürlichenToditer"

47

von Versdiuldung kaum nodi die Spur zu finden ist. Aber die Frage nach der „Wahrheit" dieses Satzes bleibt bereits in der Clavigo-Tragödie offen (und darum ist das Drama eine Tragödie und nicht einfach die Darstellung eines Verbrechens), wie sie audi innerhalb des Handlungsgangs der „Natürlichen Tochter" verschiedentlich gestellt, dodi nur in einem schwebenden Sinne beantwortet wird. Vielleicht deutet Goethe mit den Versen Eugeniens an, daß in der Bewegung selbst vom Wesen zum Schein und vom Schein wieder zurück zum Wesen das Wahre als ein „Ereignis" zu finden sei: gleich der Entfaltung der „Knospe im Frühling", ihrem „Aufbrechen in Blüten", und der „Wiedervereinigung getrennten Lebens", der „Wiederherstellung des Vernichteten" durch den „Geist" (vgl. ebd. 2, 5 und 3, 4).

48

ZWEITER TEIL

K U N S T UND M A C H T

4. KAPITEL

Das Problem der Bildung

Nachdem Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" eine erste Synthese seiner wissenschaftlichen und philosophisch-spekulativ

„künst-

lerischen" Gedanken geschaffen hatte, erhob sich bald darauf von neuem für ihn die Streitfrage um die Gültigkeit der dichterischen Aussage. Die Götter Dionysos und Apollo, in deren Namen jene erste Synthese zustande gekommen war, schwinden in dieser Zeit aus Nietzsches Erfahrungsbereich oder dodi mindestens aus dem Zeugnis seiner Schriften. Nietzsche erfaßt die philosophische Aufgabe, zu der er sich nunmehr berufen weiß, von der ethisch-praktischen Seite her. So ist es das Problem der Bildung, das ihn zunächst aufs tiefste beschäftigt. H. Gutzwiller hat in seiner Studie: „Friedrich Nietzsches Lehrtätigkeit am Basler Pädagogium" *) gezeigt, wie wichtig Nietzsche in seiner Basler Zeit, da er als Lehrer des Griechischen am Pädagogium wirkte, die Frage der Bildung junger Menschen erschienen war. Später bekennt Nietzsche: „ W e r von Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in bezug auf seine Schüler ernst — sogar sich selbst" 2 ). Der Satz ist nicht wie ein beliebiger Aphorismus, als die Aufzeichnung eines momentan einleuchtenden Gedankens, zu werten, sondern charakterisiert Nietzsches gesamtes Schaffen in vorzüglicher Weise. Nietzsche war Pädagoge von Grund aus in dem Maße, daß er alles, was er zu Ende dachte, auf die Formung des noch formbaren Menschen bezog. Der moralische und der

') Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, Bd. 50, Basel 1951, S. 147—224. *) „Jenseits von Gut und Böse", Werke 15, 89. 51

ästhetische Trieb vereinigen sich in Nietzsches Willen, auf Menschen „bildend" — er selbst gebraucht später das Wort „züchtend" — einzuwirken; und derselbe Wille modifiziert seinen eigenen Erkenntnistrieb, sein Verhältnis zu Wahrheit und Dichtung. Das Zerrbild des kritischen Philologen, des Unmenschen, der an Stelle eines ganzen Kunstwerks „nur noch schadhafte Stellen sieht" 8), welches Nietzsche vor einem angehenden Studenten entworfen haben soll, richtet sich gegen den bloß erkennen wollenden Gelehrten, der die gestaltenden Kräfte außer acht läßt, und dadurch die Einheit und Ganzheit, sowohl eines Kunstwerks wie auch des Lebens überhaupt zerstört. „Der Sinn der humanistischen Bildung", sagtGutzwiller 4 ) in bezug auf Nietzsches Tätigkeit am Pädagogium, „lag für ihn ausschließlich in der das ganze Leben durchdringenden und formenden Wirkung des als Vorbild, Muster und Norm aufgefaßten hellenischen Menschen und seiner Kultur". Nietzsche selbst erklärte zu dieser Zeit die klassische Philologie als eine Verbindung von Geschichte, Naturwissenschaft und Ästhetik, wobei er den Grund für die Verbindung so „verschiedenartiger wissenschaftlicher und ästhetischer Triebe" darin findet, „daß die Philologie ihrem Ursprünge nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik gewesen ist" 6 ). Der geschichtlich-kritische Blick darf nicht allein das Wesen der Philologie bestimmen: „Stellen wir uns h i s t o r i s c h zum Altertum, so degradieren wir es gewissermaßen: wir verlieren das Bildende" ·). Diese pädagogische Wirkung der Philologie bleibt jedoch aus, wenn ihr nicht ein entsprechend veranlagter Mensch entgegen kommt: „Das Altertum wirkt nur auf künstlerische Naturen von tiefstem Formgefühl" 7 ). Dasselbe gilt, wie für den Schüler, für den Lehrer der Philologie oder für den selbständigen Forscher: sie vermögen nichts ohne die künstlerische Veranlagung. „Alle großen Fortschritte der Philologie beruhen auf einem schöpferischen Blick" »). ·) Vgl. die Schilderung bei E. Salin, Jakob Burckhardt und Nietzsche, Rektoratsprogramm der Universität Basel, Basel 1935, S. 86 f. 4 ) A. a. O., S. 165 f. ») „Homer und die classische Philologie" (Basier Antrittsrede), Werke 2, 4. ·) Ebd. 30. 7 ) Ebd. Bereits in seiner eigenen Schülerzeit hatte Nietzsche diesem Gedanken Ausdrude gegeben: „Daß nämlich alles, was dem Menschen entgegentritt, nur unter dem Gesichtspunkt seiner geistigen Begabung aufgefaßt werden kann" (Werke 1, 52). *) Ebd.

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Im Dienste dieser künstlerischen Fähigkeiten steht nach Nietzsches damaliger Auffassung die große, Einheit und Geschlossenheit desWeltbilds schaffende Philosophie. „Der Philologe hat also vor allem auf der Universität sich zu üben, die Dinge ernst und groß zu betrachten, und sidi und seine Umgebung aus der Vereinzelung zu reißen. Darum muß er Philosophie studieren, aus innerstem Bedürfnis" ®). Was Nietzsche spät, 1886, als das Programm seiner „Geburt der Tragödie" bestimmt hat: „ D i e W i s s e n s c h a f t u n t e r d e r O p t i k d e s K ü n s t l e r s zu s e h n , d i e K u n s t a b e r u n t e r d e r d e s L e b e n s . . . " 1 0 ) , umreißt sein früheres wie späteres Verhältnis zum Bildungsproblem in knappster Form. Die Wissenschaft, um die es ihm zunächst und immer wieder aus „redlichem", „rechtschaffenem" Erkenntniswillen ging, sollte einen ästhetischen Charakter erhalten, das ÄsthetischKünstlerische an ihr jedoch sah er im Dienste des Moralisch-Pädagogischen: bezogen auf den lebendigen Menschen. So besteht wahre Bildung, das heißt die richtige Anwendung des Wissensstoffes darin, „fortzuleben unter den edelsten Empfindungen der Vorwelt. — Zu leben unter den Sternbildern" "). Bildung ist also „durchaus p r o d u k t i v zu verstehn" 12 ); ihre Aufgabe ist „nicht nur rezipieren und lernen, sondern leben" 12). „Vom Nutzen und Nachteil" eines Gegenstandes „für das Leben" handelt im Grunde jedes Werk, das Nietzsche im Bewußtsein seiner eigentlichen Berufung geschaffen hat. Aus der tiefsten Wurzel seines Denkens heraus ist er Ethiker 13 ); seine Ethik selbst aber ist durch eine Vision des Lebens bestimmt, wie sie nur ein künstlerischer, ein „dichtender" Mensch zu schauen vermag. Bei der Betrachtung eines jeglichen Geschehens läßt Nietzsche sich von dem „innern Baubetrieb" leiten 14 ), der ihm später zu der Konzeption des Willens zur Macht verhilft. Vielleicht läßt sich sein wechselndes Urteil über den Wert des Dichterischen von da her verstehen, daß er sich einerseits als Ethiker, als „Lehrer von

·) „Einleitung in das Studium der classisdien Philologie" (Vorlesung), Werke 2,347. "0 Werke 3, 6. " ) Werke 4, 134. ») Ebd. 1S ) Vgl. das Kapitel „Nietzsche als Ethiker der Erkentnis" bei M. Landmann, a. a. 0., S. 75 ff. " ) Vgl. „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", Werke 6,285.

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Grund aus"15), von dem Unverbindlichen des Nur-Ästhetischen immer wieder distanzieren mußte, daß er anderseits aber auch das Ästhetische zu verteidigen hatte gegen jene, die das Leben und seine Erscheinungsformen in eine Sammlung von bloßemWissensstoff, das heißt von nicht wissens-wertem Stoff, aufzulösen drohten. Die Frage nach der Qualität eines Dinges, diese von Nietzsche zugleich als moralisches und ästhetisches Problem aufgeworfene Frage: die Wert-Frage — sie hat Nietzsche bereits während seiner Tätigkeit als Lehrer am Pädagogium und Professor der Philologie beunruhigt; sie steht erst recht im Mittelpunkt seiner eigentlich philosophischen Schriften. Im Gegensatz zum reinen Wissenschafter, so stellt Nietzsche bereits in der Basier Zeit fest, vermag der Philosoph den Erkenntnistrieb auf das Wissenswerte zu beschränken und ihm eine Richtung auf das „Große" zu geben1·). „Das griechische Wort, welches den Weisen bezeichnet, gehört etymologisch zu sapio ich schmecke, sapiens der Schmekkende . . . ; ein scharfes Herausschmecken und -erkennen, ein bedeutendes Unterscheiden macht also, nach dem Bewußtsein des Volkes, die eigentümliche Kunst des Philosophen aus . . . . Die Wissenschaft stürzt sich, ohne solches Auswählen, ohne solchen Feingeschmack, auf alles Wißbare, in der blinden Begierde, alles um jeden Preis erkennen zu wollen; das philosophische Denken dagegen ist immer auf der Fährte der wissenswürdigsten Dinge, der großen und wichtigsten Erkenntnisse. Nun ist der Begriff der Größe wandelbar, sowohl im moralischen als ästhetischen Bereiche: so beginnt die Philosophie mit einer Gesetzgebung der Größe, ein Namengeben ist mit ihr verbunden. ,Das ist groß', sagt sie, und damit erhebt sie den Menschen über das blinde ungebändigte Begehren seines Erkenntnistriebes" 17). Es ist bereits der Verfasser des „Willens zur Macht", der sich in dieser frühen Äußerung ankündigt; denn der Begriff einer „Gesetzgebung der Größe" wird zum

" ) Vgl. 1. c„ Anm. 2. le ) Daß es eine völlig werte-freie, das ist voraussetzungslose Wissenschaft, streng genommen, gar nicht gibt, wird auch von wissenschaftlicher Seite her gelegentlich betont. Vgl. etwa E. Wechssler, Das Kulturproblem des Minnesangs, Halle a. S. 1909, S. 6: „Der Satz von der angeblichen Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft findet heute kaum mehr Verteidiger." Was der Philologe Wechssler über den „Primat des Willens" in der Weltanschauung (S. 4) und über die „Bedeutung persönlicher Wertschätzungen" (S. 5) sagt, läßt sich durchaus mit Ansichten Nietzsches vereinigen. 1? ) „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen", Werke 4, 166 f.

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Mittelpunkt der Gedanken der Umwertungszeit werden. Hier ist die Bestimmung moralisch-ästhetischer Werte vor allem eine pädagogisdie Aufgabe: der „ b a r b a r i s i e r e n d e n Wirkungen der Wissenschaften" 18) soll entgegengearbeitet werden. Inmitten der „ameisenhaften Wimnielei", welche durcit ein wahlloses Aufgreifen aller erkennbaren Dinge zu Stande gekommen ist und die im Bewußtsein der Menschheit ein Chaos darstellt, dient der Philosoph den Einheit und Ordnung schaffenden „Kunstkräften" 1β): „ H ö c h s t e W ü r d e d e s P h i l o s o p h e n z e i g t s i c h h i e r , wo e r d e n u n b e s c h r ä n k t e n E r k en η t η i s t ri eb k o n z e n t r i e r t , z u r E i n h e i t b ä n digt""). Ein ästhetisch-produktives Vermögen steht demnach auf der Seite des Philosophen dem nur rezeptiven des Wissenschafters entgegen; und insofern diese „Kunstkräfte" sich als gesetzgebendes Ordnungsprinzip erweisen, ist ihre Wirkung eine moralische. „Allmählich hat sich mir herausgestellt", so faßt Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse" das Ergebnis von bereits früher geäußerten Gedankenentwürfen zusammen, „was jede große Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires; insgleichen, daß die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze gewachsen ist" 20 ). Während es für den Wissenschafter „beinahe gleichgültig" sei, an welche Stelle er zu stehen komme, „ob der hoffnungsvolle junge Arbeiter aus sich einen guten Philologen oder Pilzekenner oder Chemiker macht", so sei „umgekehrt an dem Philosophen ganz und gar nichts Unpersönliches; und insbesondere gibt seine Moral ein entschiedenes und entscheidendes Zeugnis dafür ab, w e r e r i s t — das heißt, in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind" 21 ). Wenn die moralische Absicht von Nietzsches eigener Philosophie die ist, daß der Mensch, „noch unausgeschöpft für die größten Möglichkeiten" 22 ), wie er ist, zu den höchsten Verwirklichungen seines Typus herangezüchtet oder -gebildet werde, so erhebt sich nunmehr die Frage, nach welchen Richtpunkten — ästhetischer oder moralischer Art — ) »·) *>) ») ») le

Werke 6,8. Ebd. Werke 15, 12. Ebd. 13. Ebd. 133.

55

Nietzsche das Bild des höheren Menschen orientiert. Auf den ersten Blidc erscheint das Bildungsideal bei Nietzsche vorwiegend negativ bestimmt: es wird oft und ausdrücklich gesagt, welche Moral für das höhere Dasein nicht gelten soll, nur andeutungsweise, welche „Werte." etwa weiterhin bestehen dürften. Dies ist leicht verständlich, da es für Nietzsche seit „Menschliches, Allzumenschliches" überhaupt keine „aeternae veritates" 2S ), keine ewig gültigen moralischen Werte und verbindlichen Urteile gibt, somit die Verankerung eines Entscheids über Gut und Schlecht, Groß und Klein, auf Schwierigkeiten stoßen muß. Daß Nietzsche dennodi im Dienste eines höheren Bildungstypus die Frage aufwirft: „Was ist vornehm?" und für diese Frage (vor allem in „Jenseits von Gut und Böse" und im „Willen zur Macht") eine Anzahl von Antworten zu finden vermag, hängt umgekehrt mit seiner Dynamisierung der moralischen Begriffe zusammen. „Rangordnung" ist das letzte Wort, das einer Umwertung aller Werte standhält; und es ist nicht zufällig ein Substantiv von stark verbalem Charakter: es erweckt unmittelbar die Vorstellung der ordnenden, wertenden, herrschenden Gebärde, aber an eine bestimmte Höhe oder feste Größe der in Frage kommenden „Ränge" läßt es nicht denken. Die „Vornehmheit", sofern ihr Wesen von Nietzsche näher bestimmt wird, besteht vor allem in einem Raum schaffenden Sich-Verhalten: Das P a t h o s d e r D i s t a n z , das vereinsamende Wissen um den Abstand nach unten, ist ihre Voraussetzung und die s c h e n k e n d e T u g e n d , die Selbstverschwendung um eines höheren Menschentums willen, ihre vorzüglichste Offenbarung. Wenn geringere Stufen überwunden sind, „bekommt der Mensch M u ß e , sich selbst a u s z u b i l d e n , zu etwas Neuem, Höherem" 24 ). Aber ein festes Ziel für diese Bewegung nach dem Höheren, Ausgebildeteren hin vermag Nietzsche nicht sichtbar werden zu lassen. Es bleibt bei der Hochschätzung der Bewegung selbst, des Produktiven und „Künstlerischen", sofern Nietzsche das Formen und Bilden am Menschen als ein künstlerisches Tun auffaßt. „Das Produkt des Philosophen ist sein L e b e n (zuerst, v o r seinen W e r k e n ) . Das ist sein Kunstwerk" 25). Die schöpferische Tätigkeit des Philosophen bestimmt indes nicht nur sein eigenes Leben, sondern wirkt auf das Dasein der gesamM) Vgl. Werke 8,19. 24 ) 25 )

56

„Der Wille zur Macht", Werke 19, 312. Werke 7, 19.

ten Menschheit ein. „ D i e e i g e n t l i c h e n

Philosophenaber

s i n d B e f e h l e n d e u n d G e s e t z g e b e r : Sie sagen, ,so soll es sein!', sie bestimmen erst das W o h i n ? und Wozu? des Mensdben und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit—sie greifen mit schöpferischer Hand nadi der Zukunft, und alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr .Erkennen' ist S c h a f f e n , ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist Wille



z u r M a c h t " 2 8 ) . Für Nietzsche, wie für Protagoras, ist der

Mensch das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, und der nichtseienden, daß sie nicht sind. Denn als Befehlender und Gesetzgeber verleiht er den Dingen W e r t und Rang und — insofern, als sie noch durch kein „eidetisches Sein" präjudiziert sind, das Sein überhaupt 2 7 ). Dabei ist das maß-gebende T u n des Menschen, weil es an keinerlei festen Wahrheiten mehr sidi Ruhepunkte suchen kann, in einem zugleich unendlich gläubigen wie verzweifelten Sinne „freidichtend"

88

).

E s ist gewiß, daß diese Art Mensch, das „souveräne Individuum"

2e

),

wie Nietzsche es heranbilden wollte, in einem unerhörten Maße leidensfähig wird, weil alles, was ü b e r w u n d e n

werden muß, stets mit

dem ganzen Gewicht seiner durch Gewohnheit und Anerziehung gefestigten „Realität" über die ungesicherten Kräfte des in Nietzsches Sinne „freien Geistes" herzufallen droht. So ist Nietzsche selbst etwa von dem „asketischen Ideal", dessen Geschichte er schonungslos enthüllt 8 0 ), in dem Maße besessen, wie er es zu überwinden versucht. Die Freiheit-wozu bleibt immer zugleich audi Freiheit-wo von, und als solche verlängert sie einen schmerzvollen Kampf. Das Ringen um die Höherbildung des Menschen steigert das Wissen um den Abstand vom „ewig Gestrigen" und die Einsamkeit dessen, der als erster einen Schimmer der neuen „Morgenröte" sieht. „Es bestimmt beinahe die Rangordnung,

" ) „Jenseits von Gut und Böse", Werke 15,154. a ) Der nächste Schritt von hier führt zu der klassischen Definition des Existentialismus: Die Existenz, das heißt das Dasein des Menschen, geht der Essenz voraus. " ) Vgl. Werke 6,15. — Sowohl die Seinsgläubigkeit eines Heidegger wie die Verzweiflung der französischen Existentialisten sind ein „Weiterdiditen" in dem von Nietzsche eröffneten ideen-leeren Raum. *·) „Zur Genealogie der Moral", Werke 15, 321. " ) Vgl. die dritte Abhandlung der „Genealogie der Moral". 57

w i e tief Menschen leiden können" S1 ). Nur aus der letzten Schmerzfähigkeit, deren Nietzsche sich selbst bewußt war, entwarf er das Bild vom „diamantenen" mitleidlosen Mensdien. Diese Mitleidlosigkeit ist, wie jede Freiheit 32 ), von Nietzsche als ein Offen- und Bereitstehen zu einem höheren „Wozu" gedacht. „Als Lehrer von Grund aus" — und heißt das nicht aus dem äußersten Leiden an der Unvollkommenheit des jetzigen Menschen? — rief er nach Philosophen und Erziehern: „Menschen . . . hoch und hart genug, um a m M e n s c h e n als Künstler gestalten zu dürfen" ss ). Wie sdiwer aber und im Letzten das menschliche Dasein transzendierend die Erfüllung einer solchen Forderung ist, wurde Nietzsche jedesmal bewußt, wenn er glaubte, in einem bestimmten Menschen d e n Erzieher gefunden zu haben, und wenn er doch zugleich in sich die Nötigung verspürte, audi über diesen Lehrer und geistigen Führer noch hinaus zu schreiten. In „Schopenhauer als Erzieher" hat Nietzsche einen Satz geprägt, der das J a und das Nein zu einem Mensdien zu steilster Höhe treibt: „Audi über dem größten Menschen erhebt sich sein eigenes Ideal" S4 ).

al

) ») 3S ) M )

58

Werke 15, 245. Vgl. „Also sprach Zarathustra", Werke 13, 78. Werke 15, 85. Werke 7, 61.

5. KAPITEL

Das Wesen der Künstler

Wo Nietzsche nun aber nicht als Erzieher und „Bildner", sondern als „Ethiker der Erkenntnis" 1 ) spricht, j a , wo immer er als reiner Ethiker spricht, drückt er eine tiefe Verachtung gegen den Künstler aus. Dies kommt besonders deutlich zum Vorschein in jenem Kapitel der Genealogie der Moral, da Nietzsche von der„ Wertabschätzung des asketischen Ideals" wie von der Wertabschätzung der Wissenschaft handelt und in dem Zusammenhange, wie beiläufig, in einer Reihe von eingeklammerten Sätzen das Wesen der Kunst charakterisiert. Eigentlich hätte hier die Kunst dem asketischen Ideal und der Wissenschaft, deren Kritik Nietzsche zu schreiben beabsichtigt, als positiver Wert gegenübergestellt werden sollen. Allein, was ihre Anerkennung bedeuten müßte, ist im Grunde durchkreuzt von einer nur halb versteckten Mißbilligung; und am Ende der erwähnten Sätze findet sich ein uneingeschränkt negatives Urteil über das Wesen des Künstlers. „Die K u n s t , vorweg gesagt, denn ich komme irgendwann des längeren darauf zurück, — die Kunst, in der gerade die L ü g e sich heiligt, der W i l l e z u r T ä u s c h u n g das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft: so empfand es der Instinkt Piatos, dieses größten Kunstfeindes, den Europa bisher hervorgebracht hat. Plato g e g e n Homer: das ist der ganze, der echte Antagonismus — dort der Jenseitige' besten Willens, der große Verleumder des Lebens, hier dessen unfreiwilliger Vergöttlicher, die g o l d e n e Natur. Eine Künstler-Dienstbarkeit im ') M. Landmann, 1. c. 59

Dienste des asketisdien Ideals ist deshalb die eigentlidiste KünstlerIC o r r u ρ t i ο η , die es geben kann, leider eine der allergewöhnlichsten: denn Nichts ist korruptibler als ein Künstler" 2 ). Daß die Lüge sich heiligen kann, ist ein Ungeheuerliches, vor dem gerade Nietzsches „Redlichkeit" schaudernd zurückschrecken mußte 8 ), wenngleich er gelegentlich, wie hier, seine Abneigung als Bewunderung auszugeben versucht. Die wohl ursprüngliche psychologische und moralische Reaktion Nietzsches steht hier in einem eigentümlidien Widerspruch zu der Logik seines vom Willen gelenkten Urteils 4 ). Aber das Lob Homers, dessen Partei gegen Platon Nietzsche ergreift, wird wiederum eingeschränkt durdi die Bezeichnung „unfreiwilliger Vergöttlicher", denn hiermit ist stillschweigend zugegeben, daß der Dichter gegenüber der Notwendigkeit selbst und ihren Absichten nur die Rolle eines zufälligen „unfreiwilligen" Werkzeugs spielt und als „Vergöttlicher" zugleich — in Nietzsches Sinne — ein „Narr" bleibt. Endlich aber entpuppt sich der Künstler als das Wesen, im Vergleich zu dem „Nichts korruptibler" ist. Im letzten der angeführten Sätze wird nun plötzlich eindeutig mit einem abschätzigen Ausdruck bezeichnet, was zuvor in einem bejahenden Sinne als das Merkmal der Kunst hätte erfaßt werden sollen: nämlich ihre Affinität zur Lüge. Dies abschließende Urteil über den Künstler erfolgt unerwartet. Denn warum darf, wenn der Wille zur Täuschung ohnehin das Wesentliche am Künstler darstellt, sein Schaffen nidit auch einmal, unter anderm, im Dienste des „asketisdien Ideals" stehen? Es wäre, entsprechend dem von Nietzsche zuerst erwähnten Antagonismus,Verlogenheit—; aber warum soll diese besondere Verlogenheit mehr Entrüstung verdienen als die Verlogenheit des Künstlers an sich? Warum soll nicht auch diese Lüge noch „geheiligt" sein? Weil Nietzsche sein Wahrheits-Ethos im Grunde nirgends preisgibt, 2

) Werke 15, 438 f.

s

) Nicht umsonst hat Nietzsche seine Lehre im Namen Zarathustras verkündigt, mit dem ihn nichts wesentlicher verbindet als das gemeinsame Wahrheits-Ethos. Vgl. E. Ahegg, Nietzsches Zarathustra und der Prophet des alten Iran, in „Nietzsche", Conférences prononcées à Genève, 1944, S. 64 ff.; H. Lommel, Zarathustra, in „Hesperia", Zeitschr. des Schweizer. Instituts f. Auslandforschung 4 (Zürich 1953), 10, S. 18 ff. 4 ) Einen ähnlichen Widerspruch nimmt der Leser auch bei Nietzsches Äußerungen über die ewige Wiederkehr wahr, wo auch ein ursprüngliches Erschrekken (vor dem „circulus vitiosus") von einer bejahenden Willenshaltung (dem „Glück des Kreises") überwältigt worden ist.

60

audi wo er es mit Worten verleugnet, verstrickt er sich in kaum lösbare Widersprüche. An der angeführten Stelle vertuscht er denWiderspruch, indem er für das Gleidie versdiiedene Wörter gebraucht: das eine Mal „Lüge" in einem außermoralischen Sinne, das andere Mal „Korruption". Aber das „leider", das er zu dem zweiten Namen hinzufügt, ist in diesem Zusammenhang nur ehrlich, nicht logisch. Der Künstler steht für Nietzsche — so möchten wir zunädist folgern —jenseits von Gut und Böse, weil er jenseits der Wahrheitsfrage steht. Mit dem Maßstab der Redlichkeit, der intellektuellen Rechtschaffenheit, das bedeutet aber mit einem moralischen Maßstab überhaupt kann er offenbar nicht gemessen werden. Dodi Nietzsche sudit sich gelegentlich diese Tatsache im Maße wieder zu verdecken, wie er selbst sie zuvor ans Licht gezogen hat. Er fordert den ehrlichen, lauteren, anständigen Künstler, den es j a nach seiner eigenen Wesensbestimmung nicht geben kann. Nietzsches heillose Verstricktheit in den „Fall Wagner" beruht so auf der unmöglichen Hoffnung auf einen Künstler, der nicht ein „Schauspieler" wäre. Dies bedeutete aber, logischerweise, so viel wie die Hoffnung auf einen ehrlichen Betrüger oder auf ein hölzernes Eisen. Nietzsche jedoch versagt sich die Beruhigung in der Logik 5 ). Wagner als „Verneinender" im indisdi-schopenhauerisdien Sinne, dann wieder Wagner als Schöpfer des Parsifal (der„Fußfall vor dem Kreuz"), Wagner im Dienste des asketischen Ideals: das ist die „Korruption" oder der Betrug im Betrug, den Nietzsche ihm niemals verzeihen will, auch wo er bereit ist, jene andere Form der künstlerischen Lüge, die „unfreiwillige Vergöttlichung" des Lebens, gutzuheißen. Demnach wären, wenn wir Nietzsches der Form nach widersprüchliche Äußerungen in einen inneren Zusammenhang zu bringen versuchen, beim Künstler verschiedene Grade der Wahrhaftigkeit und damit des moralischen Ranges möglich. Im Maße, wie der Künstler sein Tun als etwas ausgibt, was dem L e b e n und nicht der Lebensverneinung dient, ist er ehrlich und in jedem Sinne der Anerkennung wert. So erklärt sich etwa Nietzsches dauernde Liebe zu den goldenen Tönen eines Claude Lorrain; wie er denn alle die Welt bejahende, die „gesunde" oder klassische Kunst, Goethe und Mozart, oder auch die verhaltene Kraft von Stifters Nachsommer, bewundert hat. Als „Verleumder des Lebens" aber

5

) Das leidenschaftslose Vergnügen an einem rein logischen Sachverhalt igt ein Zynismus, den Nietzsche sich fast nie gestattet hat.

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sinkt der Künstler zum bloßen Schauspieler herab; und als soldier erscheint er Nietzsche gänzlich verworfen. Der Leser Nietzsches jedoch sieht sich vor die seltsame Tatsache gestellt, daß er auf einmal wieder einen Anknüpfungspunkt zwischen Künstlertum und Wahrhaftigkeit oder zwischen Künstlertum und Moralität vorfindet. Der Gegensatz, den Nietzsche ihm zuvor eingeredet hat, erweist sich nicht als ein starrer Sachverhalt. Vielmehr geraten die einzelnen Grenzpunkte oder Pole dieses Gegensatzes unvermutet in eine Bewegung zu einander hin. Die Lüge, die „sich heiligt", ist am Ende nicht mehr im strengen Sinne des Wortes eine „Lüge". Und Nietzsches Homer steht schon nicht mehr dort, wo der Tadel Piatons ihn völlig träfe β). Damit stimmt denn überein, daß Nietzsche da, wo er die Kunst in einem größeren Zusammenhange und um ihrer selbst willen, das heißt nicht nur vom Blickpunkt des wahrheitsuchenden Denkers und Ethikers aus gewürdigt hat —, daß er sie da jeweils nicht in einer unüberbrückbaren Gegensätzlichkeit zu Wahrheit und Ethos sieht. In seiner Frühzeit ist ihm der dionysische Dichter Verkünder der tragischen Wahrheit. Aber auch der „schöne Schein", das Werk des apollinischen Künstlers, bedeutet für Nietzsche nicht einfach Unwahrheit, sondern wird als Erscheinungsform einer Lebensmacht, einer Gottheit gesehen, deren Geheiß Ausprägung der Individualität und Verewigung des Bestehenden fordert 7 ). Die Worte, die noch der späte Nietzsche in einem Brief an den Musiker Carl Fuchs über das Maß äußert, welches der Rhythmus der Rede anlegt und das sich im Sinne des Apollinischen auswirkt, vermögen zu zeigen, wie er diese Form des Künstlerischen geradezu in einem Atemzug mit dem Ethischen nennen kann: „ R h y t h m u s im antiken Verstände ist, m o r a l i s c h u n d ä s t h e t i s c h , der Z ü g e l , der der Leidenschaft angelegt wird" 8). Was Nietzsche mit dem Worte „Zügel" meint, darf keinesfalls als Lüge im abwertenden Sinne von „Verfälschung" verstanden werden, sondern als ein Gestaltungsprinzip, das erst höhere Wahrheit schafft und sich als sittliche Macht auswirkt. Der Brief schließt denn auch bezeichnenderweise mit dem Satz: „In e

) Über das Verhältnis Piatons zur dichterischen „Lüge" vgl. G. Finsler, Piaton und die aristotelische Poetik, Leipzig 1900. 7 ) Vgl. Kapitel 3. 8 ) Briefe 1, S. 526 (August 1888). Der Brief trägt die Überschrift: „Zur Auseinanderhaltung der antiken Rhythmik ( . Z e i t - Rhythmik') von der barbarischen (.Affekt-Rhythmik*) ".

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summa: unsere Art Rhythmik" (das heißt die „barbarische AffektRhythmik") „gehört in die Pathologie, die antike zum . E t h o s ' . . . " Hier tritt nun aber eine Zweideutigkeit des Wahrheitsbegriffs und, mit ihm verbunden, des Ethisdien zu Tage, über die Nietzsdie sidi nirgends Rechenschaft abgelegt hat. Einerseits gibt es offenbar ein „Wahres", das immer schon vorhanden war»), und weldies durch Nachbildung, Umgestaltung und „Neuschöpfung", das heißt durch jederlei Art von Kunst nur verfälscht werden kann. Andrerseits sdieint es ein Wahres zu geben, das sich dem Menschen als die erst zu erfüllende Aufgabe darstellt: als das zu verwirklichende sittliche Ideal, in dessen Dienst dann auch das Kunstwerk stehen kann. An dem ersten Wahrheitsbegriff gemessen, sind alle Künstler„Lügner". Im Hinblick auf den zweiten Wahrheitsbegriff aber besteht zwischen Kunst und Wahrheit eine Brücke; denn diese Form der Wahrheit i s t zwar audi in einem gewissen, virtuellen Sinne bereits schon (sonst wäre sie überhaupt nicht „wahr"), bedarf jedoch zugleich noch der Verwirklichung imBereich des menschlichen Geschehens. Eine solche Verwirklichung bedeutet alles von Menschenhand Gemachte: jede „Tat" und jedes „Kunstwerk" im engeren Sinne. Nietzsche hat die zweite Art der „Wahrheit" vor Augen, wo immer er die Kunst rechtfertigt, möge diese Rechtfertigung im Namen der Götter Dionysos und Apollo oder aber, wovon noch zu sprechen sein wird, im Namen des Willens zur Macht erfolgen. Wo er aber denKünstler verwirft als einen, der immer „nur Narr, nur Dichter" ist, verurteilt er ihn nach dem Begriff der ewig bestehenden, in sich selbst ruhenden, aus sich selber seienden Wahrheit 10 ). In der Sprache der Neuplatoniker würde dies heißen: Nietzsche verwirft das „Hervorgehen" (προοδσς), sobald er es an der Seinsweise des Insidibleibens (der μονη) mißt. Und umgekehrt scheint er dieses ursprüngliche wahre einige Sein zu vergessen, wo immer er den „Ausgang", das „Werk", das von irgendeinem Willen zu Schaffende allein zum Ziel des Daseins erhebt. Da Nietzsche sich indessen über diese Zweideutigkeit der„Wahrheit" nirgends klar ausgesprochen hat, obwohl er offensichtlich em ihr litt, ') Wie denn das Wort „wahr" etymologisch auf das Präteritum des Verbums „sein" (ahd. wesan; Prät. w a s , w a r u n ) zurückgeführt wird. 10 ) Der Ausruf: „Denn idi liebe did», o Ewigkeit!" (Also sprach Zarathustra, Werke 13, S. 292 ff.) ist ein Bekenntnis zu dieser notwendig und ewig seienden Wahrheit, die nichts „Neues" zuläßt, sondern alles je Gewesene und wiederum Bevorstehende in einen Ring zusammenfaßt.

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stehen in seinem Gesamtwerk die verschiedenen Äußerungen über den Künstler als unvereinbare Widersprüche nebeneinander "). — Er hätte freilich den Unterschied zwisdien einer ewig in sidi bestehenden und einer erst zu schaffenden Wahrheit aus einem andern Grunde gar nicht zugeben d ü r f e n . Denn hätte er es getan, so hätte er in der Folge die von ihm in den Abgrund des Nichtseins geschleuderte platonisch-christliche „Hinterwelt" wieder ans Licht ziehen müssen. Auf einmal wären dann die „aeternae veritates" wieder am Horizonte aufgetaucht, deren Bestehen er doch hartnäckig leugnete. Aber ohne diese Hinterwelt der aeternae veritates und eines zeitlos gültigen ethischen Maßes hängt die Kritik an den Dichtern wie der Vorwurf, nichts sei „korruptibler" als der Künstler, in der Luft 12 ). Nietzsche als Richter über die poetische Lüge steht, ohne es wahr haben zu wollen, in der Nachfolge Piatons. Zugleich setzt er eine Überlieferung fort, die von der Antike her durch das Mittelalter hindurch das Mißtrauen gegen die dichterische Erfindungsgabe, gegen das Ersinnen von „fabelen" und „maeren", stets wach gehalten hat. Dies Mißtrauen ist oft genug von den Dichtern selbst ausgesprochen worden, und zwar meist dann, wenn sie ihrer Kunst einen religiös oder ethisch vertieften Inhalt gaben und hierbei von ihrem früheren Schaffen Abstand nehmen mußten13). Der Unterschied zwischen Nietzsche und seinenVorgängern in dieser „Schule des Verdachts" ist freilich ein tiefgreifender. u

) Die zwei Grundformen der »Wahrheit" entsprechen auf einer anderen Ebene dem, was Heidegger das Sein und das Seiende nennt. u ) Audi wenn wir die platonisch-christliche Begriffsspradbe selbst wiederum als „Dichtung" — oder mit Heidegger als „Humanismus" — gegen das wahre Sein abzugrenzen gezwungen sind, bleibt doch der I n h a l t dessen, was die platonische und christliche Terminologie ursprünglich bezeichnen wollte, als Richtmaß über das bloß Seiende der „Erde" bestehen. 1S ) Für das Mittelalter vgl. etwa Hartmann von Aue in der Einleitung zum Gregorius oder Rudolf von Ems in Barlaam und Josaphat: „Ich han da her in minen tagen / leider dicke vil gelogen / und die liute betrogen / mit trüglichen maeren" (ed. F. Pfeiffer, Leipzig 1843, S. 5). Auch für Thomas von Aquino enthält die Poesie „minimum veritatis". Während die Inhalte der Theologie oberhalb der menschlichen Vernunft liegen, können die Werke der Dichter aus dem entgegengesetzten Grunde von der Vernunft nicht erfaßt werden. „Sicut poetica non capiuntur a ratione humana propter defectum veritatis, qui est in eis, ita etiam ratio humana perfecte capere non potest divina propter excedentem ipsorum veritatem, et ideo utrobique opus est repraesentatione per sensibiles figuras" (Summa Theol. 2, 1, qu. 101, art. 2.). Thomas begegnet hiermit zugleich dem Bedenken, daß bei religiösen Handlungen die gleichen Mittel

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Bis zu Nietzsche erfolgte die Ablehnung der „prodigiosa . . . mendacia vatum" 14 ) im Namen einer fest umrissenen „Wahrheit", sei es im Namen einer religiösen Überzeugung oder einer philosophischen Weltsicht, wobei auch noch der antike Skeptizismus den Charakter eines in sich abgerundeten und daher beruhigenden Systems anzunehmen vermochte. So waren es entweder die schreckeneinflößenden Vorstellungen jenseitiger Dinge, die als „poetarum et pictorum portenta" 18 ) im Lichte eines edleren Humanismus als unwahr dahinschwinden mußten oder umgekehrt die verklärten Bilder menschlicher und zeitlicher Güter, welche als „wän . . . uf dise welt" 1β) vor dem Wahrheitsbegriff einer vertieften Frömmigkeit ni (ht mehr standzuhalten vermochten. In jedem Falle konnte der „Irrtum" des Diditers oder die künstlerische Fiktion mit dem sicheren Maß eines „wahren" Sachverhalts gemessen werden. Bei Nietzsche erst verflüchtigt sich das „Maß" zur beweglichen und ungreifbaren Größe, die sidi auch mit einem bloßen Skeptizismus nicht mehr deckt. Bei ihm erst erreicht daher die Kritik am Dichter ihre letzte und tragische Zuspitzung. Wenn Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft den tollen Menschen verkünden läßt: „Gott ist tot . . . und wir haben ihn getötet" 17), so schließt dieser Satz die letzte Folgerung in sich, die aus der „Lügenhaftigkeit" des dichterischen und in einem allgemeineren Sinne des menschlichen Wortes überhaupt gezogen werden muß. „Gott ist tot", bedeutet: das, was bisher für das höchste Sein und für die Wahrheit schlechthin gehalten wurde, hat sich in nichts aufgelöst. DerMensdi hat die Mitte verloren, um die sein Inneres bisher zu kreisen gewohnt war. „Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sidi nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Son-

verwendet würden wie „im Theater und in der Poesie". Die Mittel, Verwendung von „Sinnbildern", sind nach Thomas wohl die gleichen; aber während das Dichterische einen „Mangel an vernünftiger Wahrheit" enthält, übersteigt das Göttliche die Vernunft und die ihr gemäße „Wahrheit". u ) Ovid, Amores 3, 6,17. Vgl. auch ebd. 12, 41 f.: „Exit in immensum fecunda licentia vatum / Obligat histórica nec sua verba fide". w ) Cicero, Tusculan. 1,11. " ) Rudolf von Ems, a.a.O., S.10. Vgl. auch Walther von der Vogelweide 122, 38 f. Weitere Beispiele bei B. Boesch, Die Kunstanschauung in der mittelhochdeutschen Dichtung, Bern und Leipzig 1936. " ) Werke 12, 157.

65 S Blndseh edler, Nietzsche

nen?" l 8 ). Es ist ein Tatbestand f ü r d e n M e n s c h e n , ein subjektiver Tatbestand also, den Nietzsdie mit seinem Wort „Gott ist tot" beschreibt. Denn einen objektiven Inhalt kann die Aussage über ein Wesen, dessen Niditmehrexistieren festgestellt werden soll, ja nidit haben. Nietzsdie setzt nidit die Sprache des Christen fort, der von Gott in der Weise einer geschiditlidien Tatsache sagen kann: „Er ist ans Kreuz geschlagen worden"; noch handelt es sich bei Nietzsche um irgendeine Form des „spekulativen Karfreitags", der das geschiditlidi Einmalige im Sinne einer überzeitlichen Logik — einer Logik von höchstmöglicher Objektivität — deutet. Für Nietzsche geht es um die Erfahrung des Menschen, daß für den Menschen das allgemeine Bild Gottes nicht mehr den Charakter einer W a h r h e i t besitzt. Der „Tod Gottes? ist das Erlöschen des Lidits, mit dem der menschliche Glaube bisher dieses Bild erhellt hatte. Danach wird die Welt für den Menschen dunkel. „Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?"1®) Die Schuld an diesem Ereignis, am „Tode Gottes", kann indessen nur der Mensch selber haben. „ W i r h a b e n i h n g e t ö t e t — ihr und idi! " 20) Der Mensch ist es, der sein Licht verdunkelt, sein Bild Gottes zerstört, sich um seine erste und hödisteWahrheit gebracht hat. Aber ist diese „Tat", deren furchtbare Größe der Mensch nach Nietzsche 21 ) noch gar nicht zu ertragen vermag, nicht die Folge einer früheren, ebenso verhängnisvollen Tat, deren sdiuldhafter Charakter nur verborgener blieb? Hat nicht erst der Mensch dieses „Bild" Gottes geschaffen, dessenWahrheit sich nachträglich als nichtig erwies? Hat nicht der Mensch zuerst „Gott" erdichtet und dann diese Erfindung seines Künstlergeistes durch immer neue Erfindungen relativiert, bis sie sich vollständig aufgelöst hatte? Nietzsche deutet den Gedanken an: Die Dichter haben Gott erfunden 22 ); und so müßte er auch hinzufügen: Die Dichter haben Gott getötet. Denn eben als eine Erfindung ist ihr Gott etwas Zufälliges und daher „Sterbliches" von Anfang an. Beide Sätze, sowohl: Die Dichter haben Gott erfunden, wie: Die Dichter haben Gott getötet, sind als Folgerungen aus Nietzsches Auf-

") ») ») ») ") 66

Ebd. 156. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. 157. Vgl. ebd. 331: „Gott, der Verfängliche, / Ist Dichter-Eredileidinis

fassung vom Wesen des „Künstlers" zu ziehen. Des Künstlers nämlidi in dem weiteren Sinne, den das Wort bei Nietzsche erhält, wenn er von dem Menschen spricht, der noch im Geistigen ein „Verehrer der F o r m e n " 2 3 ) bleibt: ein Platoniker, ein Dichter und Bildner von „Hinterwelten". So hat Nietzsche in sidi selber den „mitunter zur Unzeit lebendig werdenden . . . Gott - b i 1 d e n d e η Instinkt" erkannt und als Ausdruck des schöpferischen Geistes überhaupt gedeutet.24) Aber der gott-tötende Wille, der an dessen Stelle zu treten hat, kann nur als ein Seitenstück zu dem „bildenden" Instinkt aufgefaßt werden: gleichfalls als ein Ausdrude des erfinderischen oder künstlerischen Sinnes des Mensdien. Denn Bilder können nur gestürmt werden im Namen eines neuen Dogmas, einer neuen, wenn auch nach außen hin nicht sichtbaren Welt von „Bildern". Nietzsche mißt die „Wahrheit" der herkömmlichen Äußerungen über Gott an einem, von ihm zeitweise für das allein „Wahre" gehaltenen „Nichts". Aber von diesem Nichts kann er nicht sprechen, da er sonst sogleich wieder die Lügensprache der Dichter gebrauchen müßte, die sich aus den Bildern seiender Dinge aufbaut. Wie die Mystiker angesichts ihres von ihnen e r f a h r e n e n Gottes müßte Nietzsche vor seinem existentiell erprobten Maß der Wahrheit, dem Nichts, verstummen — wenn er sich selbst „beim Worte nähme", das heißt, wenn er auf der Höhe und in der Inständigkeit seiner Erfahrung zu bleiben versuchte. Und wie für die Mystiker ist auch für Nietzsche das Bild der „Wüste" dasjenige der menschlichen Sprache, das verhältnismäßig noch am meisten Wahrheitsgehalt besitzt. „ D i e W ü s t e w ä c h s t " 2 5 ) ist Nietzsches authentischster Kommentar zum „Tod Gottes". Die Kritik an den Dichtern, wie an den „dichtenden" Theologen und Metaphysikern, kann nur in der Ausrichtung auf eine absolute Wahrheit erfolgen, gleichgültig ob diese Wahrheit „Gott" oder das „Nichts" genannt werde. Eine fundamentale Tatsache ist es nun, daß weder von Gott noch vom Nichts irgendetwas ausgesagt werden kann, was nicht bloß in der Weise einer Analogie Gültigkeit besäße; daß aber immer wieder von Theologen wie Dichtern in der Weise über Gott gesprochen wird, als sage man etwas „Eigentliches" und nicht bloß Gleichnishaftes ") Werke 8, 20. ") Werke 19, 354. ss ) Werke 13, 385 ff. 67

aus. Dies wohl ist die unverzeihliche „Korruption" des Menschen als eines „gottbildenden Künstlers", daß er den Gleichnischarakter seiner Rede vertuscht und schon dem Kind das Bild für die Sache selbst auszugeben versucht. Nietzsche spürt, wie vor ihm je und je die Vertreter einer „negativen Theologie", das Falsche an diesem Tun2«). Seine Redlichkeit und intellektuelle Rechtschaffenheit empört sich dagegen. Aber er zieht nicht d i e Folgerung aus dieser Entdeckung, die das geistige Leben und vor allem das Sprechen wieder möglidi gemacht hätte — nämlich das Gleichnis audi „nur als Gleichnis" zu wollen und zu verstehen —, sondern er mißt unbarmherzig das Gleichnis an dem Teil der Wahrheit, den es n i c h t auszudrücken vermag, und vernichtet damit seinen Wahrheitsansprudi gänzlich27). Nietzsche reimt „Gleichnis" auf „Dichter-Ersdbleidmis"28). Daß der Mensch als Dichter, als „Erfinder" von Dingen, für deren Wahrheit er nicht bürgen kann, eine ungeheure Schuld auf sich geladen hat, ist uns durch Nietzsche mit einer letzten Eindringlidikeit bewußt geworden. Das zweite Gebot konnte nur durch einen „Künstler" verletzt werden — und wird auch vom Menschen als Künstler fortwährend verletzt28). Aber das Menschsein selbst ist an diese Form des Künstler tums und somit an dieses Schuldigwerden von Natur gebunden. Der Mensch, audi der unkünstlerischste, kann nicht dasein, ohne etwas auszudrücken, ohne etwas in Bild und Gleichnis auszusprechen. Diese seine Sprache ist niemals adäquat mit ihrem Inhalt und täuscht doch immer wieder vor, sie sei es. So gibt es nur Grade der mensdilichen Wahrheit, die sich an der Anständigkeit, der „Redlichkeit" des Sprechenden ermessen lassen: an seinem Willen, den nicht ausdrückbaren „Rest" je-

*·) Über die M ö g l i c h k e i t des Bestehens einer metaphysischen Welt und damit audi eines Gottes, wie über die Unmöglichkeit, über diese Dinge etwas anderes als Negatives zu sagen, äußert sidi Nietzsche einmal sehr klar (Werke 8. 23 f.): „Denn man könnte von der metaphysischenWelt gar nichts aussagen als ein Anderssein, ein uns unzugänglidies, imbegreifliches Anderssein; es wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften". I7 ) Vgl. K. Jaspers, Von der Wahrheit, München 1947, S. 399: „Der Verstand, der kein Bild mehr will, behält nur das Nichts". 2e ) Werke 12, 331. n ) Man kann wohl einwenden: Die eigentliche Verletzung dieses Gebotes geschehe erst durch die „Anbetung" des geschaffenen Bildes. Aber vom harmlosen ästhetischen Wohlgefallen bis zum „Götzendienst" mit dem Kunstwerk sind die Übergänge gleitend.

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weils als solchen zuzugeben. Doch diese ihrem Wesen nadi moralischen Grade sind Stufen, zu denen fast unmerkliche Übergänge führen. Die höchste der Stufen ist nicht erreichbar. Wie kaum ein zweiter Mensch in unserer Zeit hat daher Nietzsche mit seinem unbedingten Wahrheitsethos die Unbedingtheit der Enttäuschung erfahren: „Omnis homo mendax" 80).

*>) Rom. 3, 4 nach Ps. 115,11.

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6. KAPITEL

Der Wille zur Macht

Nietzsche hat indessen klar erkannt, daß, abgesehen von der Wahrheit des „Gegenstandes" oder des Seins, die menschlichem Erkennen und Aussagen nie gänzlich entspricht, das Wort „Wahrheit" im menschlichen Leben nodi eine andere Bedeutung besitzt. Es gibt eine Wahrheit, die nicht stets schon gewesen ist, sondern die erst geschaffen wird. Diese Wahrheit ist nicht wie das Sein schlechthin ohne Ursadie und Zweck, sondern verursacht und einer Bestimmung zugeordnet. Mit andern Worten: sie ist im Grunde nidit sie selbst, sondern nur immer der Ausdrude von etwas anderem. Ausdruck von etwas, was nicht als ruhendes Wesen beharrt, sondern sich ständig bewegt und verändert; von etwas, was immerzu nach Gestaltung drängt, aber an keiner Gestalt Genüge findet. Nietzsche bezeichnet dieses Etwas mit den drei Wörtern: „Wille zur Macht". „ .Wahrheit' ist Wille, Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen" 1 ), lautet eine einprägsame Definition in Nietzsches unvollendetem Hauptwerk. Wenn Nietzsche einerseits an der ursprünglichen Wahrheit als erkennbarem Seinsverhältnis verzweifelt, so eröffnet sich ihm andrerseits der Wirklichkeits-Charakter jener „Wahrheit", die er dann freilich selbst in Anführungszeichen setzen muß — die er früh schon als „von Nutzen" erkannt hat „für das Leben". Jetzt heißt es: „Die f i n g i e r t e Welt von Subjekt, Substanz, .Vernunft' usw. ist n ö t i g — : eine ordnende, vereinfachende, fälschende, künstlich-trennende Macht ist in uns" 2 ). Die kantische Einsicht, daß wir es sind, die ») Werke 19, 30. ) Werke 19, 30.

2

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der Natur die Gesetze vorschreiben, erweitert sich bei Nietzsche zu der Oberzeugung, daß wir es nötig haben, durch eine Reihe von Fiktionen O r d n u n g z u bringen in das gestaltlose „Vielerlei der Sensationen". „Der Wille zur Wahrheit ist ein F e s t - m a c h en, ein Wahr-, Dauerhaft - m a c h e n , ein Aus-dem-Auge-schaffen jenes f a l s c h e n Charakters" (der wirklichen, stets werdenden Welt) „eine Umdeutung desselben ins S e i e n d e . .Wahrheit' ist somit nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre, — sondern etwas, d a s z u s c h a f f e n i s t und das den Namen für einen P r o z e ß a b g i b t , mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein a k t i v e s B e s t i m m e n —, n i c h t ein Bewußtwerden von etwas, das an sich fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den .Willen zur Macht' " »). Zunächst muß hier festgehalten werden, daß Nietzsche voraussetzt, der Charakter unserer wirklichen Welt sei ein „falscher". „Moralisch ausgedrückt, i s t d i e W e l t f a l s c h " 4 ) , heißt es zwei Sätze vor dem zitierten Abschnitt. So gut wie Parmenides weiß Nietzsche, daß alles Ethische am Begriff des Seins hängt, daß folglich eine Welt, die nur wird, moralisch zu verneinen ist. Weil unsere wirkliche Welt stets nur wird, entsteht und vergeht, kann sie nicht wahrhaft „sein", kann sie darum auch nicht „gut" oder „richtig", sondern nur eben „falsch" sein. Aber während ein Parmenides, Piaton und die ihnen verwandten Denker der vergänglichen und darum falschen Welt, der S c h e i n W e l t , mit der Befehlsgewalt der ethischen Forderung eine w a h r e Welt gegenüberstellten, hält Nietzsche jeden Versuch dieser Art für eine weitere und zwar „gewissenlose" „Umfälschung des Falschen" e). Er spricht schonungslos von einer „Umdeutung . . . ins Seiende" e) und läßt dabei den Übeln „Prozeß" sich ins Unendliche fortsetzen. Aus der Leugnung des Falschen entsteht bei Nietzsche kein Wahres, sondern eine „höhere Potenz des Falschen" 7). Minus mal minus ergibt bei ihm nicht plus, sondern nur noch mehr minus: ein intensiveres oder

») ) 5 ) «) ') 4

Ebd. 53. Ebd. Ebd. 45. L. c., ebd. 53. Ebd. 45.

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„potenziertes" minus. Denn als Bestandteil der „Welt" insgesamt ist die Moral mit hineingezogen in die allgemeine massa perditionis. „Moralisch ausgedrückt, ist die W e 11 f a l s c h . Aber insofern die Moral selbst ein Stück dieser Welt ist, so ist die Moral falsch" 8 ). Das Urteil der Moral über die Welt ist somit ihr eigenes Todesurteil. Der Wirbel von Negativität, in den Nietzsches Ausführungen über die Falschheit von Welt und Moral den Mitdenkenden hineinreißen, läßt keinen leicht wieder frei. Es ist wohl weitgehend als eine Nachwirkung von Nietzsches Gedankengängen zu betrachten, wenn sich heute bei Äußerungen über die grundsätzlichen „Wahrheiten" eine stärkere Unsicherheit zeigt, als dies etwa im Schrifttum früherer Zeiten zum Ausdruck kam 9 ). Man ist sich bewußter als früher, daß man ständig auf Grund von Urteilen denkt und audi handelt, die nur dann eine objektive „Richtigkeit" und einen gültigen „Wert" hätten, wenn sie von über-mensdilicher Seite her gesprochen wären 10 ). Was immer wir in einem unbedingten Sinne f ü r „wahr" halten, das sei — so wird uns heute von allen Seiten her zugerufen — stets nodi „Humanismus" und insofern nur subjektiv und fragwürdig. Das philosophische wie das theologische Denken unserer Gegenwart zieht aus dieser Sachlage seine Folgerungen. Die Theologie stellt sich heute, radikaler als je, auf den Standpunkt: es gebe die „geoffenbarte Wahrheit", die mehr als menschliche, mehr als weltliche Wahrheit des „ganz andern". Sie betont das für den Menschen Paradoxe und Absurde dieser Wahrheit und konzentriert sich somit, stärker als es in der vergangenen Zeit der Fall gewesen ist, auf jenen „Punkt außer-

') Ebd. 53. ') Durch die kantische Erkenntniskritik z.B. war die Wahrheit der Moral noch nicht erschüttert worden, während sich etwa im Schrifttum eines J. P. Sartre zeigt, wie gerade dieses Fundament heute, dem Gedanken nach, zerstört ist (vgl. die Auseinandersetzung Sartres mit dem kategorischen Imperativ in L'existentialisme est-il un Humanisme?). 10 ) W. Struve, Die neuzeitliche Philosophie als Metaphysik der Subjektivität (Symposion, Jahrbuch für Philosophie), Freiburg 1952, S. 283, faßt diese Situation, im Anschluß an Nietzsches Ausführungen über den Nihilismus, mit den Worten zusammen: Es gibt „keine Werte ,an sich', woran die Welt als ganze abgeschätzt werden könnte, weil es nichts außerhalb des Ganzen gibt." Sobald aber der Maßstab für das Ganze fehlt, fehlt audi ein zuverlässiges Maß für die Einzelwerte, die nur noch gegen einander abgewogen werden können, ohne daß bei diesen Wägungen irgendwelche neutralen Gewichts-„Steine" zur Anwendung kämen.

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halb der Welt", als welchen Kierkegaard den G l a u b e n zeichnet hat.

gekenn-

Auf diese Weise begegnet sie Nietzsches Potenzierung des Negativen, wie sie oben beschrieben worden ist 1 1 ) und wie sie der immer inständiger nachforschende Verstand notwendig erzeugt. Die Theologie holt sich das Maß der Welt von jenseits der Welt, während für Nietzsche „ d e r G e s a m t w e r t d e r W e l t u n a b w e r t b a r " 12 ), das heißt durch nichts meßbar, bleibt. Denn dies ist, wie er selber feststellt, das Wesen des „Nihilismus": daß es abgesehen von der Welt „nichts außerdem" gibt, daß aber innerhalb der Welt ein gültiges Wertmaß fehlt, weil hier alles „Partei, j a sogar Streitobjekt ist, und nicht Richter" 13 ). Der von Nietzsche so beschriebene Nihilismus und eine ihrer Voraussetzungen bewußte Theologie stimmen indessen insofern überein, als nach der Ansicht beider nur ein Punkt außerhalb des Weltganzen zum Richtenden und damit auch zum letztlich Sinngebenden befugt sein kann. Die Philosophie, welche diesen archimedischen Punkt noch immer nicht besitzt und die sich durch Nietzsche die Naivität des Aussagens weitgehend hat nehmen lassen, versucht heute vielfach, hinter die Sprache als Aussage zurückzugreifen und nur noch eine Sprache als Frage gelten zu lassen. Denn aller Aussage haftet am Ende das odium der Subjektivität, der Perspektive und irgendeiner „Partei" an. So wird heute gefragt: „Was ist Metaphysik?" „Was heißt Denken?" usw. Die Antwort auf solche Fragen kann nunmehr nur lauten: „Die Frage ,Was ist Metaphysik?' bleibt eine Frage" 14 ); und „Wir denken noch nicht eigentlich. Darum fragen wir: was heißt Denken?" 1 5 ). Mit Nietzsche hat das bewußte, das heißt historisch-kritische Denken den letzten Rest von Unschuld verloren, den ihm die großen kritischen Werke einer früheren Zeit noch gelassen hatten. Der Denkende kann schlechterdings nicht mehr „feststellen", ohne sich dabei bewußt zu sein, daß Feststellen im Sinn des Willens zur Macht einen Akt der Bemächtigung, der Überwältigung bedeutet.

" ) Vgl. S. 3. " ) Werke 19, 155. 1 3 ) Werke 17, 63 (Götzen-Dämmerung). " ) Vgl. M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, Freiburg i. Br. 1943, S. 23. 1S ) M. Heidegger, Was heißt Denken?, in „Merkur", Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 6, Stuttgart 1952, S. 611.

73

Mit dieser seiner Unschuld hat das Denken aber „sein Element" »·), die Sprache, verloren. Nidit nur Heideggers Hauptwerk schließt mit einer Reihe von nicht beantwortbaren Fragen 17 ), sondern audi bei Karl Jaspers vollzieht sich an bedeutenden Stellen seines Werkes der Ausbruch des Denkens aus der affirmativen Sprache hinaus, in die indirekte, im Grunde gleichfalls fragende Sprache einer negativen Theologie hinein. Sein Nietzsche-Buch spricht von „der Tiefe des Verzehrtwerdens durch Transzendenz" und endet mit dem Satz: „Vor Nietzsche wächst die Scheu als vor dem Unbegreiflichen, das nur dem Ursprung selbst, nicht uns, durchsichtig sein kann" 1 8 ). Jaspers' großes Werk von der Wahrheit bereitet den Leser auf eine „Erfahrung" vor, wie sie die Sprache eindeutig niemals festlegen kann. In einer Reihe knappster Sätze werden zuletzt minime Strecken gebahnt in der Richtung nach dem allseits vermuteten Ziel: „Philosophie erweckt, macht aufmerksam, zeigt Wege, führt eine Strecke weit, macht bereit, läßt reif werden, das Äußerste zu erfahren" l e ). — Kann denn das Denken heute, das heißt nach Nietzsche, noch etwas anderes tun, als „eine Strecke weit" gehen, auf einem jener Wege, die sich als H o l z w e g e im unaussprechlichen Sein verlieren? 20 ) Doch Nietzsche selbst hat in seiner Spätzeit nach einem andern Ausweg gesucht. Aus der Verzweiflung über das Nur-Subjektive aller " ) Vgl. ebd. " ) Vgl. Sein und Zeit, 5. Aufl., Halle a. S. 1941, S. 438. l e ) K. Jaspers, Nietzsche, Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, 3. Aufl., Berlin 1950, S. 460. " ) K. Jaspers, Philosophische Logik, erster Band, Von der Wahrheit, München 1947, S. 1054. M ) So wenig wie das transzendente Sein läßt sich das konkrete Einzelwesen noch in die Sprache als Aussage einfangen. Man lese den Anfang von Hdi. Barth, Philosophie der Erscheinung, Eine Problemgeschidite, l . T e i l , Basel 1947, S. X I : „Was ist .Erscheinung'? Sie ist ein Unsagbares, insofern als nicht in Begriffen ausgesagt werden kann, was Erscheinung ,ist'. Von ihr kann es keine Definition geben, aus der wir ihre Bedeutung ersehen könnten. Denn diese Bedeutung läßt sich aus keinen Begriffen dartun, die außerhalb der Erscheinung liegen. Von einer .Deutung' unseres thematischen Begriffes läßt sich daher nur in einem uneigentlichen Sinne reden." Die Probleme, die Barth dann in den einzelnen Kapiteln seines Buches behandelt, sind freilich im Laufe der Geschichte wiederholt aufgeworfen worden; aber es ist dennoch bezeichnend für unsere Zeit, daß ein so groß angelegtes Werk unternommen wird in der Form von Variationen der einen unbeantwortbaren Frage: „Was i s t Erscheinung?" 74

unserer Aussagen rettet er sich in den Stolz darüber, dati wir als Subjekte Aussagen überhaupt zu formen vermögen. Der Stolz über die eigene Schöpferkraft, auch in außerkünstlerischen Bereichen, entgiftet nunmehr den Stachel des Selbstvorwurfs, stets „nur Narr, nur Dichter" zu sein. So erfolgt die „Umwertung aller Werte", wie sie die Worte kennzeichnen: „Nicht mehr die Lust an der Gewißheit, sondern an der Ungewißheit; nicht mehr .Ursache und Wirkung', sondern das beständig Schöpferische; nidit mehr Wille der Erhaltung, sondern der Macht; nicht mehr die demütigeWendung, es ist Alles n u r subjektiv', sondern ,es ist auch u n s e r Werk! — seien wir stolz darauf!' " 21) Die „Umwertung aller Werte" erweist sich demnach zunächst als ein verändertes psychologisches Verhalten gegenüber gewissen — bereits früher gedachten, aber mit anderm Vorzeichen „erlebten" — Gedankengängen. Denn „Lust", in diesem Zusammenhang audi „Wille der Erhaltung",... „der Macht", „demütig", „stolz", ein betontes „ u n s e r " . . . sind Worte, die dem Bereich der Seele angehören und den geistigen Gehalt des Satzes: „Alles ist subjektiv" unmittelbar nicht berühren. Der Gedanke an sich wird weder gefördert noch widerlegt dadurch, daß idi ihn „demütig" oder „stolz" denke. Der Charakter des Subjektiven ändert sich nicht, gleichviel ob ich ihn mit einem „nur" oder mit einem Possessivpronomen schmücke und diesen Schmuck unterstreiche. Nun aber verwandelt Nietzsche die neu gewonnene seelische Haltung alsbald in einen Erkenntnisinhalt und, ohne es sich einzugestehen, in eine neue „Wahrheit" von „objektiver", weil audi außer-persönlidier, ja außermenschlicher Gültigkeit. Bezeichnend für diesen Vorgang sind folgende Aufzeichnungen aus dem Willen zur Macht: „Die vorhandene Welt, an der alles Irdisch-Lebendige gebaut hat . . . , wollen wir w e i t e r bauen, — nicht aber als falsch wegkritisieren! / Unsere Wertschätzungen bauen an ihr; sie betonen und unterstreichen. Welche Bedeutung hat es, wenn ganze Religionen sagen: „ ,es ist Alles schlecht und falsch und böse!' Diese Verurteilung des ganzen Prozesses kann nur ein Urteil von Mißratenen sein . . . / Man muß das k ü n s t l e r i s c h e Grundphänomen verstehen, welches ,Leben' heißt, — d e n b a u e n d e n G e i s t . . . " 2 2 ) . Das Schöpfertum oder „Künstlertum" ist also nicht etwas Nur-Individuelles, sondern gehört zum ") Werke 19, 368. ") Werke 19, 359. 75

„Grundphänomen, welches Leben heißt". Was Nietzsche „den bauenden Geist" nennt, ist nicht als bloße „Interpretation", sondern als Bezeichnung einer „Tatsache" aufzufassen. 28 ) Nietzsche spricht von dem Faktum, daß „alles Irdisch-Lebendige" an der „vorhandenen Welt gebaut hat" wie von einer selbstverständlidien, gußeisernen Wahrheit — einer so selbstverständlichen, daß sie nur noch in einem Relativsatz erwähnt zu werden braucht. Damit ist ein Urteil über den „ganzen Prozeß" des Weltgeschehens gefällt, das wiederum nur von einem Punkt jenseits des Weltganzen ausgesprochen werden könnte, um „wahr" zu sein. Der „alles IrdischLebendige" künstlerisch deutende Nietzsche gleicht jenem Kreter, der gesagt haben soll: „Alle Kreter sind Lügner." Entweder stimmt der Inhalt des Satzes, hebt sich aber durch Einbeziehung dessen, der ihn ausgesprochen hat, wieder auf; oder er stimmt überhaupt nicht. Wenn Nietzsche als Teil alles Lebendigen und daher zugleich als „Künstler" über das Gesamtphänomen des Lebens geurteilt hat, ist sein Urteil „künstlerisch"-unverbindlich. Doch scheint Nietzsche sich dessen nicht bewußt gewesen zu sein, daß er mit dieser seiner Auslegung des Lebensganzen ein metaphysisches „Ersdileichnis" erzeugt hatte. Es heißt kurz nach dem zitierten Abschnitt: „Eine antimetaphysisdie Weltbetradhtung — ja, aber eine artistische." 24 ) Folgerichtig wendet der späte Nietzsche seine artistische Betrachtungsweise auf die einzelnen Erscheinungen des Lebens an, ohne sich jedoch dessen zu entsinnen, daß er einst von jenseits der Physis her die ganze physische Welt zu überschauen beansprucht hatte. Der „Wille zur Macht" vereinigt im wesentlichen jene Aufzeichnungen Nietzsches, die das Leben als „künstlerisches Grundphänomen" verstehen, wobei dem Worte „künstlerisch" nicht mehr der eingeschränkte Sinn anhaftet, den es noch in Nietzsches Frühschriften besaß. Die Kunst im engeren Sinne, etwa die griechische Tragödie, ist in diesen Aufzeichnungen nicht mehr zentrales Thema, sondern nur noch ein Teil jener mannigfachen Äußerungen, in denen sich das schöpferische Leben selbst am Werke zeigt. Alle übrigen Leistungen des Menschen, etwa in Gesellschaft, Staat, Politik, Morallehre, Religion werden nun ebenso sehr unter dem Aspekt des „geschaffenen Werkes" gesehen, wie die Werke der bildenden Kunst, Musik oder Dichtung. Vor allem " ) Vgl. Werke 19, 13. " ) Werke 19, 359. 76

aber rückt die äußer-menschliche W e l t nunmehr mitten in Nietzsches Betrachtungen hinein: dem „Willen zur Macht in der Natur" ist ein bedeutendes Kapitel seines geplanten Werkes gewidmet. Hierbei äußert Nietzsche, auf Grund seiner Leit-Idee von der künstlerisch schaffenden

Natur,

erstaunliche

Vermutungen,

welche

die

Naturwissenschaften heute zum Teil bestätigt haben, wie den Primat der Physik (des „bauenden Geistes") über die Chemie, die Zerstörbarkeit und überhaupt die materielle Fragwürdigkeit derAtome (Nietzsche betrachtet das Atom als vom Menschen „erdichtet" 2 5 ) und Ähnliches. Insbesondere im Bereich der Biologie findet Nietzsches Grundauffassung sich in hohem Maße bestätigt. So spricht er von dem „Meisterstück des Aufbaues eines Organismus aus dem E i "

2e

).

Die „gestaltende Kraft" 2 7 ), als welche Nietzsche die Natur hier auffaßt, ist freilich nicht als ein „ästhetisches" Prinzip in dem Sinne zu verstehen, als wäre eine schemenhafte, blutlose „Schönheit" das vorzügliche Merkmal ihrer Werke. Vielmehr hat die ästhetische oder artistische Betrachtungsweise für Nietzsche längst einen Ort erreicht, da sie jenseits der gewöhnlichen Unterscheidungen von Schön und Häßlich steht; oder aber „Schönheit" ist ihm gleichbedeutend mit „Mächtigkeit" geworden. 28 ). Es ist das HerrschafisVerhältnis der Kräfte untereinander, das Nietzsche einen Organismus als „schön" bezeichnen läßt, wie er denn das Künstlerische als das Gestaltende schlechthin, als das in jedem Stoffe und Elemente „Bauende" begreift. Im Hinblick auf die Macht, die sich dem Biologen zugleich als Schönheit zeigt, kann Nietzsche etwa von einer „Aristokratie im Leibe" sprechen.2») Für den Menschen stellt sich auf Grund der „künstlerischen" Lebensdeutung Nietzsches in gesteigertem Maße die Frage nach seiner „Bildung", nach seiner letztmöglichen Vollkommenheit. „Bildung" wird jetzt durchweg auf die Herrschaftsverhältnisse bezogen, die sich unter den verschiedenen geistig-seelisch-körperlichen Kräften eines Menschen herauszubilden vermögen. „Über das Chaos Herr werden, das man " ) Vgl. Werke 19, 99. **) Werke 19, 382. Das ästhetische Moment in der Biologie wird heute auch von wissenschaftlicher Seite her wieder betont. Es sei nur an die Werke von Prof. A. Portmann, Basel, erinnert. " ) Ebd. M ) Vgl. Werke 13, 153: „Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt ins Sichtbare: Schönheit heiße ich solches Herabkommen". » ) Werke 19, 381. 77

ist" so ), lautet die wesentliche Aufgabe für den Menschen31). Eine Aufgabe, die zugleich ein Problem der „Macht" berührt, wie sie dem Wesen der „Kunst" entspricht. Denn wenn Nietzsche „die Größe eines Künstlers bemißt", fragt er nach seiner Befehlsgewalt, seinem Willen —, nicht anders als bei der Größe eines Feldherrn oder Staatsmanns, eines sich auszeichnenden Individuums überhaupt. „Sein Chaos zwingen Form zu werden: logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik, G e s e t z werden" 32 ), das ist für Nietzsche die „große Ambition" des „klassischen", das heißt des vollkommenen künstlerischen Stils. Dodi die Ästhetik, die hier von Nietzsche entworfen wird, unterscheidet sidi in nichts von einer Pädagogik. Nietzsche verlangt vom höheren Menschen die Ausbildung und Bewährung der „Herren-Kraft des Willens" S3 ). Er beklagt es, daß man „Prüfungen für alles ablegt, nur nicht für die Hauptsache: ob man wollen kann" 34 ). Die Erziehung hat zu einer Beherrschung der Leidenschaften und zu einem Maßhalten-Können in allen Dingen zu führen, wobei als Begleitempfindung nicht der Schmerz über eine Ausrottung der Leidenschaft erzeugt werden soll, sondern die Lust an der Beherrschung einer mächtigen Kraft durch eine noch mächtigere OberKraft: „diese Lust des Reiters auf feurigem Rosse" 85 ). Die Askese, welche Nietzsche als „nützlich und unentbehrlich im Dienste der W i l l e n s - E r z i e h u n g " betrachtet3e), tritt auf solche Weise in eine Beziehung zur Freude an der Macht. In den gesetzgeberischen Moralen aber sieht Nietzsche die „Hauptmittel, mit denen man aus dem Menschen gestalten kann, was einem schöpferischen und tiefen Willen beliebt" 87 ). So erweist sich als Urheber der großen MoralSysteme: „ein Künstler-Wille höchsten Ranges"' 8 ). *>) Werke 19, 240. S1 ) Vgl. ebd. 258: „Ober den Rang entscheidet das Quantum Macht, das du bist; der Rest ist Feigheit." M ) Ebd. 240; vgl. audi ebd. 209: „Das höchste Gefühl der Madit ist konzentriert im klassischen Typus." " ) Ebd. 302. M ) Ebd. 292. Ebd. 269. M ) Ebd. 291. " ) Ebd. 314. M ) Ebd. — Wesensnähe von künstlerischer und sittlidi-sittigender „Macht" zeigt sidi vor Nietzsdies Ausführungen insbesondere bei Goethe. Bereits der junge Goethe unterscheidet sich von den andern „Stürmern und Drängern" 78

Die Begriffe „Cesare o Poeta" hat bekanntlich nicht erst Nietzsche zu einem Paar vereinigt. Es liegt im Wesen der Macht, daß sie sidi im geformten Werk äußern will, sei dies Werk nun Kunstwerk im engeren Sinn, ein politisches System oder aber der „gebildete Mensdi". Nietzsche hat der ersten und der dritten Art von „Werken" seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, während er über Formen des Staatswesens, an die man beim Wort „Macht" zunächst allein denken mag, verhältnismäßig wenig und wenig Bestimmtes sagt. Sein „Wille zur Macht" enthält wohl einige Hinweise auf eine zukünftige Politik39), ist aber im wesentlichen kein „Principe". Nietzsche beschäftigt viel mehr das Herrschaftsgebilde, das jeder einzelne Mensch darstellt, und die Möglichkeiten seiner Vervollkommnung. So finden die Vorstellungen vom Übermenschen und von der Ewigen Wiederkunft ihre Anwendung auf das höher hinauf zu bildende Individuum. Der Übermensch ist, verglichen mit dem jetzigen Menschen, eine besser organisierte Macht; er ist ein Stück näher jener höchsten Konzentration von Macht und Willen, die Nietzsche zu dieser Zéit „Gott" nennt40). Auch der Wiederkunftsgedanke soll „züchtend", das ist als ein „auswählendes Prinzip" wirken41); er soll den Menschen so prägen, daß dieser w ü n s c h e n muß, es möchte sich alles wiederholen. Mit diesen beiden Lehren, vom Übermenschen und von der Wiederkunft, verkündet Nietzsche keine „Wahrheiten" im Sinne religiöser Dogmen oder metaphysisch-objektiver Ideen. Er ist hier ganz Künstler, „Dichter". Er zwingt der Sprache etwas auf, was „es" nicht „gibt". Er schafft einen Namen für eine wirkende Kraft, die niemals ein Er-

durdi sein bewußtes Streben nach Beherrschung sowohl seiner künstlerischen wie seiner sonstigen Kräfte. Das Pindarische έπικρατειν δυνασθαι leuchtet ihm als Ziel voran; er sucht „Virtuosität" in der vollen, nicht bloß künstlerischen Bedeutung des Wortes zu erreichen (vgl. den Brief an Herder vom Juli 1772). Wenn er in der Folge einen so großen Teil seines Leistungsvermögens dem Weimarisdien Staate und dessen nidit-künstlerisdien Aufgaben widmete, so zeigt dies sein Bestreben, die Fähigkeiten eines Tasso und Antonio in gleicher Weise zur Entfaltung zu bringen. Sein Bildungsziel ist nicht Künstlertum allein, sondern „Meisterschaft" in einem ganz allgemeinen Sinne. " ) Vgl. ζ. B. Werke 19, 313 ff. 40 ) Ebd. 354. 41 ) Ebd. 366 und 368. 79

gebnis oder einen realen Inhalt erzielen kann42). Er übt eine schöpferische Macht aus im Sinne seines eigenen Wortes: „Die Mächtigen sind es, welche die Namen der Dinge zum Gesetz gemacht haben" *»). „Im Willen zur Macht" rührt Nietzsche mehrmals an das Wesen der Sprache. Es handelt sich jetzt nicht mehr um eine Kritik des Dichterischen, insofern der Dichter ganze Fabeln erfindet, sondern um die Kritik eines jeden einzelnen Wortes. Der Hauptangriff Nietzsches zielt auf die Sprache als auf eine Macht, die Sein vortäuscht, wo es in Wirklichkeit nur Werden gibt. „Die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das .Werden' auszudrücken" 44 ). Im Grunde aber „wird", verändert sich alles. „Es gibt keine dauerhaften, letzten Einheiten: keine Atome, keine Monaden" 45). So lügen denn alle einzelnen Worte der Sprache, lügt der Mensch, der sie gebildet hat, „aus praktischen, nützlichen, perspektivischen Gründen" 4e). Nietzsche gelangt zu der Einsicht: „Es gehört zu unserm u n a b 1 ö s l i e h e n B e d ü r f n i s d e r E r h a l t u n g , beständig eine gröbere Welt von Bleibendem, von .Dingen' usw. zu setzen. Relativ dürfen wir von Atomen und Monaden reden: und gewiß ist, daß die k l e i n s t e W e l t an D a u e r d i e d a u e r h a f t e s t e i s t . . . " 47). Diese kleinste Welt ist indessen auch nur von relativer Dauerhaftigkeit, und also ist auch das Wort, das sie immer gleich bezeichnet, eine Lüge. Zuletzt scheint es nichts mehr zu geben, was ohne Verfälschung der Tatsachen heute und morgen mit demselben Namen bezeichnet werden könnte. So sagt Nietzsche endlich: „Es gibt keinen Willen: es gibt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren. . ," 48 ). Doch hier haben wir, an einer Grenze angelangt, innezuhalten.

" ) K. Jaspers, Nietzsche 363, spricht von der „faktischen Bodenlosigkeit" des Wiederkunftsgedankens. 4S ) Werke 19, 26. " ) Ebd. 158. «) Ebd. " ) Ebd. «) Ebd. 48 ) Ebd.

80

Schluß

Indem Nietzsdie audi nodi den „Willen" auflöst in „Punktationen", das heißt wohl Punktwerdungen und -vergehungen, scheint er den letzten Baustein seiner Sprache zur bloßen Fiktion zu entwerten. Dodi nun, angesichts eines so verzweifelten Tatbestandes, erhebt sidi die Frage, ob nidit doch in all dem Wirrwarr von Werden und Vergehen etwas mit sidi selbst Identisches zurückbleibe, was dann ohne Lüge, ohne die fatale „Umdeutung ins Seiende", stets mit demselben Ausdruck bezeichnet werden könnte. — W a s bereditigt denn Nietzsche, jenes zwisdien dem Minimum und dem Nichts ab- und zunehmende, immer wieder andersgewiditige, ungreifbare Unding, die jeweilige „Punktation", auf einen und denselben Begriff, nämlich den Willen, zu beziehen? Es könnte einer antworten: „Nichts". Aber dem widerspricht eine Erfahrung. W a s der Mensch nodi immer „wahrnimmt", wenn ihm alles Dingliche, Substanzielle, Seiende abhanden gekommen ist, bleibt eine innere, zielstrebige Kraft oder Spannung, die er sehr wohl auf den Namen „Willen" taufen kann. Diese Spannung nimmt zu oder ab; aber sie verschwindet nicht, solange ein Wesen lebt. Sie ist keine Substanz, aber sie erzeugt substanzielle Erscheinungen. Sie veranlaßt die Lebewesen, sidi stets auf ein Etwas hin auszurichten: sei dies nun Nahrung, Ortsveränderung, Gesellschaft, Ruhe und dergleichen, oder auf die höheren „zwecklosen Zwecke", die verschiedenen Kulturgüter des Menschen. „Es gibt kein .Wollen', sondern nur ein E t w a s -Wollen: man muß nicht das Z i e l auslösen aus dem Zustand" 1 ) — dieser Satz Nietzsches gegen die „Erkenntnistheoretiker", oder audi gegen Schopenhauer 2 ), läßt sidi ·) Werke 19, 123. *) Vgl. ebd. 144: „Man hat den Charakter des Willens w e g g e s t r i c h e n , indem man den Inhalt, das Wohin? heraus subtrahiert hat —: das ist im höchsten Grade bei S c h o p e n h a u e r der Fall: das ist ein bloßes leeres Wort, was er .Wille' nennt."

β Blndschedler, Nietzsche

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durch alle Äußerungen des Lebens bestätigen. Denn jede Art von Lebensäußerung zeigt sich als Wille zur Aneignung, Umgestaltung oder Neuschöpfung von „Etwas"; und insofern erweist sie sich immer in einem mehr oder minder bewußten Grade als „Wille zur Macht". Wenn der zielstrebige Wille oder der Wille zur Macht sidi durch eine Erfahrung bewahrheiten läßt, bewahrheitet diese Erfahrung audi den sprachlichen Ausdruck, der ihn nennt. Wir müssen wohl Nietzsche recht geben, wenn er sagt: „Man kann das Nichts wollen" (als eine Sonderform des Etwas), „aber man kann nicht nicht wollen" s ). Eine Grundlage wäre also gefunden, auf der sich eine „wahre" Sprache aufbauen ließe. Aber freilich nichts weiter als eine Grundlage. Denn da der Wille als Wille zum Etwas, Wille zur Madit, selbst keine Substanz ist, bleibt der Übergang vom Willen zum substanziellen Ding, wie dann audi zu dessen sprachlicher Bezeichnung, stets ungesichert. Der Wille ist kein Kristallisationspunkt, um den herum sich dieDinge „ansetzen" könnten. Die Dinge „sind" nur, insofern sie derWille will. Daher sind audi ihre Bezeichnungen durch die Sprache nur „wahr", insofern sie der Wille wahrhaben w i l l , oder mit einem andern Wort: insofern er sie „glaubt". Wenn bereits Kant von seiner kritischen Philosophie sagen konnte, er habe mit dem Wissen aufgeräumt, um für den Glauben Platz zu machen, so gilt dies in bezug auf Nietzsches Lehre in nodi viel weiterem Ausmaße. In allen Bereichen des geistigen Lebens müssen heute mit größter Anstrengung Dinge in derWahrheit des Glaubens aufrechterhalten und als geglaubte Wahrheiten „ausgehalten" werden, die ehedem in der Bequemlichkeit einer allgemeinen „Gewißheit" hinnehmbar waren. Der Antrieb, moralisch zu handeln, beispielsweise, kann unter dem Einfluß von Nietzsches Kritik der einzelnen moralischen „Werte", wie des vordem noch Imperativischen allgemeinen Menschenbildes, nurmehr aus dem Glauben erfolgen. Die Vernunft wagt es nicht mehr, dort von „Gesetz" zu sprechen, wo ihr das zeitbedingte Werden, die „Genealogie" und endlich die Entwertung aufgezeigt worden ist. Freilich: audi „was aus Liebe getan wird, das ist n i c h t moralisch, sondern religiös" 4) — : eine Überschreitung der Moral wäre in der Nachfolge 3

) Der selige, scheinbar „willenlose" Zustand des Mystikers in der Versenkung bedeutet ja nicht, daß überhaupt kein Wille mehr da wäre, sondern daß das bewußte Wollen sich aufgegeben hat in den Strömungen des Unbewußten, die selbst einig sind mit dem über-persönlidien absoluten Willen. 4 ) Werke 14, 48.

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Nietzsches ebenso denkbar, wie sich die Gefahr aufdrängt, unter ihre alten Gebote hinunter zu sinken. Der Glaube an Gott wird nach einer Auseinandersetzung mit Nietzsches Kritik schwerer, doch vielleicht audi inständiger; denn es zeigt sich, daß man nun wirklich „kein Bildnis" mehr von ihm besitzt. Folgerichtig heißt es nach Nietzsche: die Religion müsse „entmythologisiert" oder aber das Mythische in ihr „existentialisiert", das heißt mit der ganzen Hingabe des Gläubigen jeden Augenblick neu „bewahrheitet" werden. W a h r ist dann nicht mehr, w a s g e w e s e n i s t und wovon das mythische Bild sein starres Zeugnis ablegt, sondern was sich je ereignet, wenn das einzelne Dasein dem zeitlosen Inhalt der Religionen begegnet 8 ). Doch ebenso folgerichtig ist es andrerseits, wenn sich nach Nietzsches Entwertung der Vernunftwahrheiten oder der „Ideale" wiederum eine Theologie im Sinne des Skotismus entwickelt: eine Theologie, die alles aus dem freien Schöpfer-Willen Gottes ableitet und keine souveräne „Idee des Guten" anerkennt. Von der Kritik, die Nietzsche an den „metaphysischen Vorurteilen" geübt hat, führt nicht der längste Weg zu Karl Barth. — Und endlich mag es als eine letzte Folge von Nietzsches Wirkung auf dem Gebiet der Religion erscheinen, wenn im Ausgleich zu einer anti-platonischen und in gewissem Sinne anti-humanistischen Theologie da und dort wieder eine individuelle Mystik erblüht; wie denn die Mystik in der bilderlosen Wüste des reinen Glaubens stets a u c h sich zu entfalten vermochte e). Henry de Lubac hat in seinem Buche Affrontements mystiques 7 ) ein Kapitel dem „Mystiker Nietzsche" gewidmet. Er hat die Echtheit einer mystischen Erfahrung von Seiten Nietzsches nicht bestritten, aber den Inhalt dieser Erfahrung in einem völlig negativen Sinne gedeutet. Nach de Lubac hätte Nietzsche nur die absolute Leere, den „Tod Gottes",

5

) Auf das Bild verzichten kann der religiöse Inhalt natürlich so wenig wie jeder Inhalt, dem die Sprache Ausdruck verleihen soll. Doch dieses der Sprache innewohnende Bildergut soll nicht mehr wie ein Schatz von Ikonen betrachtet werden, sondern, wenn das „Bild" erlaubt ist, wie eine Folge von „Lichtbildern", von „Aktualitäten" im eigentlichen Sinne. e ) Skotismus und Mystik treten auch im späteren Mittelalter zur gleichen Zeit auf. Sie brauchen einander zwar nicht zu verursachen, lassen sich aber innerlich miteinander verbinden (vgl. M. Bindschedler, Meister Eckharts Lehre von der Gerechtigkeit, Studia philosophica, Basel 1954, S. 69). ') Paris 1949.

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erlebt 8 ). — Diese einschränkende Deutung dürfte indessen gewagt sein. W e r kann die Grenze zwischen mystischer Leere und mystischer Fülle mit Sicherheit bestimmen? Wer den Abgrund, den ein anderer ausgelotet hat, bloß n a c h spürend zwischen Nidits und Gott etwa einordnen? Manches Wort bei Nietzsche scheint uns vielmehr für eine echte mystisdie Erfahrung zu sprechen9) —, ohne daß wir hierüber im Letzten zu entscheiden vermöchten. Nietzsches Liebe zum Schicksal ließe sich kaum verstehen, wenn nicht angenommen werden dürfte, mitten in seiner ursprünglichen Auflehnung gegen das Fatum wäre er einem Fremden, Übermächtigen begegnet, das seinen eigenen Willen überwältigt und verwandelt hätte. „Muß man sidi nicht erst hassen, wenn man sich lieben soll? . . . " 1 0 ) , dies Wort des Gottes zu Ariadne bezeichnet sehr wohl auch den irrationalen „Grund" von Nietzsches Schicksals-Liebe, wie zugleich ihrer Steigerung, des Wiederkunftsgedankens 11 ). Nietzsches amor fati erfordert dasselbe wie jede mystische Liebe: die Auslöschung und Umwandlung des — zunächst andersgerichteten — persönlichen Willens. Vielleicht darf Nietzsche unter den Neueren als der größte Verkünder jener

') Ähnlich W. Rehm in der Hölderlin-Gedenkschrift der Universität Tübingen, 2. Aufl., Tübingen 1944, S. 124 ff.: „Er" (Nietzsche) „spricht das Ergebnis einer gnadenlosen Verwandlung der einst selig erfahrenen ,unio mystica'..." „Nietzsche hat den ,Tod Gottes' verkündet und damit folgerichtig den .Abgrund des Nichts' erfahren." ·) Auch Jaspers (vgl. z. B. Nietzsche, S. 343 ff) spricht von der „Seinserfahrung" und „mystischen Seinseinung" bei Nietzsche und zitiert hierzu aufschlußreiche Stellen, vor allem aus der Zarathustra-Zeit. 10

) Die Klage der Ariadne, Werke 20, 210. Vgl. zu diesem Gedicht K. Reinhart, Von Werken und Formen, Godesberg 1948, S. 458 ff. u ) F. Buri vergleicht die Schidcsalsliebe Nietzsches mit der Haltung des jungen Luther: „Beide" (Nietzsche und Luther) „gelangen zur Anerkennung echter Transzendenz in der freiwilligen Übernahme ihres Schicksals. Bei Luther vollzieht sich dies in der als mystische Gemeinschaft mit dem Kreuz Christi verstandenen Resignatio ad infernum pro Dei volúntate, bei Nietzsches Zarathustra in dem .ungeheuren unbegrenzten Ja- und Amen-sagen' zum Verhängnis der .ewigen Wiederkunft'. Im Zeichen von Kreuz und Ring wird beiden Erlösung zuteil. Luther weiß sich . . . geborgen in dem Gott, der erwählt, indem er verwirft; und über . . . Zarathustra öffnet sidi, schauerlich und beseligend zugleich, der ,Licht-Abgrund' des .Grenzenlosen' " (Kreuz und Ring, Die Kreuzestheologie des jungen Luther und die Lehre von der ewigen Wiederkunft in Nietzsches „Zarathustra", Bern 1947, S. 12).

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„felix unio" bezeichnet werden, von der schon die Älteren wußten, daß sie „nicht die Substanzen, sondern die Willen" vereinigt. Von diesem Blickpunkt aus stellt sidi die Frage nadb dem „Lügen der Dichter" anders. Der Diditer, oder der Schaffende überhaupt, der nur seinen eigenen, vereinzeltenWillen insWerk setzte, willkürlich, zufällig und unbegreiflich wie alles Zufällige, wäre für alle andern ein „Lügner". Derjenige hingegen, dessen Wille der Wille der Notwendigkeit selbst, des Ewigen und des Alls wäre, müßte von allen als „wahr" erkannt werden. Diese beiden Möglichkeiten aber gibt es als menschliche Daseins- und Schaffensformen nicht. Sondern die wirklichen Dichter, größere und kleinere, werden für wahr geheilten und sind es im Maße, wie das von ihnen Gewollte mit getragen wird von einem Höheren, Notwendigen und Allgemeinen: von dem, was Nietzsche das Fatum nennt. Diese „höhere Wahrheit", die wir vom Diditer, im Gegensatz zum bloßen Berichterstatter über „wirklidi" Geschehenes erwarten, vermögen wir indessen nur mit groben Netzen einzufangen. Daher kann über den genauerenWahrheits-„Wert" einerDichtung niemals übereinstimmend geurteilt werden. Unsere Erkenntnis-willigkeit und -fähigkeit sind auf verschiedene Weise beschränkt. So wird die überzeugende Kraft, nicht nur des Diditers selbst, sondern vielleicht auch eines klugen Interpreten, stets neu auf uns einwirken müssen, ehe wir uns vor der „Macht" seines Werkes beugen. Von da aus wird es verständlich, weshalb Nietzsche von der gänzlichen Verwerfung der Diditer als „Narren und Lügner" hinüberwechseln konnte zur Vergöttlichung des schöpferischen Geistes — und umgekehrt. Denn dieWahrnehmung einer fremden „Absicht", die zunächst nur „verstimmt", kann unerwartet umschlagen in den Rausdi der Vereinigung mit eben diesem fremden schaffenden Willen; und ebenso unerwartet kann sidi diese Vereinigung wieder aufheben. Losgelöst vom Schicksal einer solchen inneren Dynamik läßt sich poetische Wahrheit niemals fassen 12 ). Im Letzten ist die „Macht" des großen Dichters freilich nicht mehr Macht, sondern Gnade. Darum ist seine Kunst nicht einfach dasselbe " ) Streng genommen, verhält es sidi ja mit der historischen oder wissenschaftlichen Wahrheit nicht völlig anders; sondern, wie Nietzsches Kritik selbst gezeigt hat, unterscheiden hier nur Grade.

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wie sein Können. Etwas muß sidi dem Dichter mitteilen, worüber er nidit frei verfügen kann. „Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind, / Still endend in der Seele des Dichters" 18 ). Die Sendung des Diditers: ein Über-Persönliches als „himmlische Gabe" zu empfangen und sie dann, „insLied gehüllt", an die Mensdien weiter zu schenken, hat Hölderlin in unvergleichlichen Worten gepriesen. Und ebenso hat Hölderlin die Möglichkeit einer Verschuldung des Diditers: nämlich die Selbstüberhebung auf Grund der eigenen Macht und Fähigkeit des Gestaltens, in erschütternder Weise zum Ausdruck gebracht. Sein „Empedokles" ist dieTragödie des schuldig gewordenen Diditers, des „falschen Priesters", wie ihn die Dichter-Hymne nennt, dessen, der „von dem Gotte / Das Bild nachahmen mödit' ein Knecht", wie die Patmos-Hymne andeutet. Die Kunst ist gefährlich; denn sie macht den, der sie beherrscht, „götterähnlich" 14 ). W i e dem Menschen überhaupt „die Willkür" gegeben ist „und höhere Macht zu fehlen und zu vollbringen", so ist ihm als „der Güter Gefährlichstes die Sprache" verliehen 18 ). Der Wille zum Sagen und Gestalten grenzt stets irgendwo an das Verbotene: dies erfährt j a bereits das spielende Kind und erst recht der mächtige Künstler. Die wahre Tragödie des Dichters, von der das Unglück im biographischen und soziologischen Sinne eine äußere Spiegelung sein mag, ereignet sich dort, wo seine gestaltgebende Macht an der Übermacht des „heiligen Chaos" 1 ·) zerbricht. — Aber die tragische Existenz ist nicht die einzige, die ein Künstler zu führen braucht; denn auch ihn dürfte mitunter die Weisheit von der Hybris bewahren. Auch Goethe hat die Grenzen des Künstlertums gekannt und ihnen, andeutend, Ausdruck verliehen. Er hat nicht nur den Dichter dargestellt, dem in seiner Not ein Gott zu sagen gab, wie er leide; sondern er hat auch eine Künstlergestalt geschaffen, die das Schicksal selber schweigen hieß: Mignon. Wie dies Kind in Knabenkleidern seine wahre Natur verbergen muß, ist ihm auch der befreiende Ausdruck seines Wesens im Wort verweigert; keines seiner Lieder gibt das Geheimnis und das Leiden preis, das ihm ein Gott zu verschweigen gebot. Ein dunkles antikisches Wissen um „unklagbare Klagen" 17 ) bricht, im Parzenlied, selbst ls)

Hölderlin, Wie wenn am Feiertage (Stuttgarter Ausgabe 2, S. 119). ) Hölderlin, Aber in Hütten wohnet der Mensch (Atlantis Ausgabe 1, S. 386). » ) Ebd.

u

le)

Hölderlin, W i e wenn am Feiertage. " ) Euripides, Iphigen. Taur. 1, 2.

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in die Helligkeit der Iphigenie hinein. Der Alte „denkt Kinder und Enkel / Und schüttelt das Haupt". Es ist das tiefste Leiden, welches der Sprache oder dem Bilde niemals ganz überantwortet werden darf. Die „Sonne verbarg ihr Angesicht, als eine ruchlose Welt ihr das Schauspiel" des göttlichen Leidens „aufdrang". Daher werden in der Pädagogischen Provinz die Martern Christi mit einem Schleier bedeckt. Doch ist es eine Ehrfurcht vor den Tiefen überhaupt, nicht nur vor dem tiefen Leiden: vor den Müttern, vor den Urbildern und Ursprüngen, die Goethe immer wieder in heiliger Scheu verstummen läßt, wo er nahe an die Abgründe rührt. Denn er glaubte, daß sich die Erynnien in Eumeniden verwandeln können, daß das Dunkle und Grauenvolle der Tiefe Segen zu spenden vermag, wofern ihm die Ruhe des Ungesagten, der Verborgenheit bleibt. Wenn der späte Hölderlin dichtet: „Denn es hasset Der sinnende Gott Unzeitiges Wachstum" 18 ), so heißt es bei Goethe aus dem gleichen Wissen heraus: „Mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen!" le ). Vielleicht übernimmt Nietzsche mit seiner Kritik am Dichtertum zu letzt etwas von diesem Goethisch-Hölderlinschen „Schauder" vor der unaussprechlichen Tiefe oder vor der Gottheit. Das Gedicht aus dem Zarathustra: „Der Zauberer", das später, verwandelt, als „Klage der Ariadne" unter den Dionysos-Dithyramben erschien, darf als Symbol dafür aufgefaßt werden, daß es etwas gibt, worüber der Mensch mit keiner „Kunst" je verfügen kann. Etwas, was sich ihm nur frei und übermächtig schenkt. Zwar heißt es mit Recht: der Künstler „kann", er besitzt „Macht", er wirkt als ein „Zauberer". Aber immer ist sein bloßes Können — nicht ein „Zuviel", und daher nicht eigentlich eine „Lüge" —, sondern ein Zuwenig. Immer verfehlt es das Wahre, welches als „das Ganze" zugleich überall gegenwärtig ist, wie es für den einzelnen transzendent bleibt. „Voll Güt' ist; keiner aber fasset Allein Gott", 18

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) Stuttgarter Ausgabe 2, S. 225.

) Mignon: „Heiß midi nidit reden, heiß midi schweigen . . . " 87

heißt es in einer späteren Fassung von Hölderlins Patmos-Hymne. Das Ganze in seiner Wahrheit ist das Ungestaltbare, in dem kein Künstler sidi mehr zurechtfindet. Als der „unbekannte Gott" Nietzsches spricht es zur Seele: „ I c h b i n d e i n L a b y r i n t h " .

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