Widerstand denken: Michel Foucault und die Grenzen der Macht [1. Aufl.] 9783839408308

Die Allgegenwart der Foucault'schen Theorie einer Mikrophysik der Macht blockiert immer wieder Versuche, seine theo

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Widerstand denken: Michel Foucault und die Grenzen der Macht [1. Aufl.]
 9783839408308

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Ansätze für Widerstandspotentiale
Foucault und 1968: Widerspenstige Subjektivitäten
(Was heißt) Gegen-Verhalten im Neoliberalismus?
»…nicht dermaßen regiert zu werden«. Über juridische Formen, Hartz IV und Widerstandspraktiken
Widerstand und Widerstandsrecht. Ein politikphilosophischer Versuch im Ausgang von Foucault
Kritik oder die Umkehrung des Genitivs. Eine Bricolage
Spielräume?
Mut zur Lücke? Widerstand im französischen Parlament mit Foucault und Giddens gelesen
Widerstehen und Werden
Grenzen eines Widerstandsdenkens
Foucault und der Widerstand: Anmerkung zu einem Missverständnis
Subjekte im gesellschaftlichen Desintegrationsprozess. Zur Analyse flexibilisierter und prekärer Arbeits- und Lebensweisen und ihrer Segregationsformen
Wi(e)derstand vs. Traum / Programm vs. Utopie: Zukünfte bei Butler und Foucault
Vom Simulationsraum der Macht. Foucault mit Baudrillard gelesen
Analysen von Widerständigkeiten
Tempelbau als Widerstand? Überlegungen zum Begriff der Heterotopie
Meine kleine Welt
Schweigen. Gert Neumann
Proteste und Resistenzen der Erwerbslosen
Autorinnen und Autoren

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Daniel Hechler, Axel Philipps (Hg.) Widerstand denken

2008-02-12 07-52-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02e7170758570664|(S.

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Daniel Hechler, Axel Philipps (Hg.)

Widerstand denken Michel Foucault und die Grenzen der Macht

2008-02-12 07-52-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02e7170758570664|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Constanze Derham, Daniel Hechler Satz: Axel Philipps Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-830-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Einleitung

7

Ansätze für Widerstandspotentiale Foucault und 1968: Widerspenstige Subjektivitäten ULRICH BRIELER

19

(Was heißt) Gegen-Verhalten im Neoliberalismus? JENS KASTNER

39

»…nicht dermaßen regiert zu werden«. Über juridische Formen, Hartz IV und Widerstandspraktiken BERND HEITER

57

Widerstand und Widerstandsrecht. Ein politikphilosophischer Versuch im Ausgang von Foucault CHRISTIAN KUPKE

75

Kritik oder die Umkehrung des Genitivs. Eine Bricolage ULRICH BRÖCKLING Spielräume? WOLFGANG FACH Mut zur Lücke? Widerstand im französischen Parlament mit Foucault und Giddens gelesen HAGEN SCHÖLZEL

93

103

117

Widerstehen und Werden ANDRÉ REICHERT

135

Grenzen eines Widerstandsdenkens Foucault und der Widerstand: Anmerkung zu einem Missverständnis TOBIAS N. KLASS Subjekte im gesellschaftlichen Desintegrationsprozess. Zur Analyse flexibilisierter und prekärer Arbeits- und Lebensweisen und ihrer Segregationsformen INES LANGEMEYER

149

169

Wi(e)derstand vs. Traum / Programm vs. Utopie: Zukünfte bei Butler und Foucault MAXIMILIAN SCHOCHOW

183

Vom Simulationsraum der Macht. Foucault mit Baudrillard gelesen ROBERT FEUSTEL

201

Analysen von Widerständigkeiten Tempelbau als Widerstand? Überlegungen zum Begriff der Heterotopie URSULA RAO

219

Meine kleine Welt DANIEL HECHLER

235

Schweigen. Gert Neumann CHRISTIAN DRIESEN

247

Proteste und Resistenzen der Erwerbslosen AXEL PHILIPPS

261

Autorinnen und Autoren

277

Einleitung DANIEL HECHLER, AXEL PHILIPPS »Allgegenwart der Macht: nicht weil sie das Privileg hat, unter ihrer unerschütterlichen Einheit alles zu versammeln, sondern weil sie sich in jedem Augenblick und an jedem Punkt – oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeugt. Nicht weil sie alles umfasst, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall. [...] Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. [...] Diese Widerstandspunkte sind überall im Machtnetz präsent. Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung [...]. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände« (Foucault 1984: 114ff.)

Ein klassischer Syllogismus: Macht ist überall. Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Ergo: Widerstand ist überall. Eine beruhigende Erkenntnis: Solange es Macht gibt, garantiert ihre permanente Konfrontation mit einer Gegenmacht ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Dynamik, drängt die Gesellschaft beständig über die bloße Reproduktion hinaus und somit bleibt eine andere Welt immer möglich. Beruhigend vielleicht, aber fast tautologisch, kann doch Macht selbst nur vor dem Hintergrund einer zu bändigenden Kontingenz (oder emphatischer: Freiheit) und daher in der beständigen Gefahr des Scheiterns an einer Gegenmacht, also Widerstand, existieren. Solange nur in finstersten Dystopien eine gänzlich in unangreifbare Herrschaftsverhältnisse geronnene Welt Realität gewinnt1, scheint daher mit jeder gesellschaftlichen Lücke, jedem sozialen Zwischenraum nicht nur die Zukunft eines Minimums an Freiheit, sondern auch die der Macht und ihres Widerparts gesichert zu sein. Der entscheidende Moment, in dem der tautologische Zirkel eines so weit gefassten 1

Damit soll nicht geleugnet werden, dass Situationen existieren, in denen das Verb »widerstehen« jeden greifbaren Sinn verliert (vgl. Didi-Huberman 2007: 18).

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Begriffes von Macht, Gegenmacht und Kontingenz aufbricht, wird nun durch den Begriff des Widerstands markiert. Doch was qualifiziert eine Gegenmacht zum Widerstand?

Vom Widerstand zur Resistenz Bezeichnet Widerstand im weitesten Sinne eine hemmende Kraft, so stellen klassische sozialwissenschaftliche Definitionen auf die Intentionalität eines widerständigen Subjekts ab, welche legitimen moralischen Gründen entspringt und zu riskanten Handlungen gegen bestimmte Herrschaftsverhältnisse führt, die als illegitim eingestuft werden. Mit anderen Worten: Nichts ist legitimerweise widerständig als ein legitimer widerständiger Wille; oder: wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Eine solche Fokussierung auf die subjektiven Motivationen und den ethisch-moralischen Rahmen – etwa auf den Aufstand des Gewissens oder die anvisierte Neuaufrichtung eines fundamentalen Rechtes – blendet tendenziell nicht nur die je aktuellen politischen und sozialen Einflüsse der Umwelt auf den Willen und die Handlungsweise aus, sondern auch die Frage nach den Konsequenzen, vornehmlich nach der Übereinstimmung von Absicht und Wirkung sowie den Kosten des widerständigen Handelns. Diese partielle Blindheit entspringt jedoch nicht per se der gesinnungsethischen Grundierung des klassischen Widerstandsbegriffs, sondern zumeist der gebotenen Achtung vor dem Heroismus des entschiedenen Subjekts angesichts der Aussichtslosigkeit des Kampfes gegen ein übermächtiges Unrecht: Widerstand kann hier nicht an den Kategorien des äußeren Erfolgs oder der Reinheit des Übergangs von der Willensentscheidung zur Handlung gemessen werden. Problematisch jedoch erscheint diese Konzentration auf die legitime Intention und das zielgerichtete Handeln in dem, was sie ausschließt: Nicht legitimiertes, wenig riskantes, nicht als Widerstand intendiertes Verteidigen, Nutzen oder Schaffen von Handlungsspielräumen, zumeist: abweichendes, oft alltägliches und banales Verhalten, das aus der Perspektive der Macht dennoch als widerständig erscheint. Ein weiter gefasster Widerstandsbegriff (zumeist als Resistenz beschrieben) verschiebt entsprechend den Schwerpunkt von der Intention des Subjektes hin zu einer funktionalistisch orientierten und daher moralisch neutraleren Betrachtungsweise. Als Widerstand erscheint nun neben seinen klassischen Formen wie der Protest oder das Attentat tendenziell jede Form der Auf- oder Ablehnung innerhalb einer asymmetrischen Herrschaftsbeziehung, die als Begrenzung und Abwehr zunehmend ausgreifender Machtansprüche wirkt, gleichgültig aus welchen Einflüssen, Motiven oder Gründen sie sich speist. Somit werden unterhalb einer durch Herrschaftsstrategien organisierten Welt, jenseits der direkten Konfrontation

EINLEITUNG | 9

von erklärten Machtansprüchen und deren offensiver Zurückweisung, die kleinen Taktiken und Ausweichmanöver der Schwachen sichtbar. Die erhöhte Sensibilität für die Waffen der Machtunterworfenen, die viele Handlungen, denen man ansonsten kaum politischen oder widerständigen Charakter zubilligen würde, zu Formen des Widerstandes deklariert, birgt jedoch mehrere schwerwiegende Implikationen. Zum einen basiert die Aufwertung alltäglicher Vollzüge zu Elementen widerständiger Praktiken meist auf einer Projektion utopischer Steuerungs-, Kontroll- oder Konsensansprüche der machtüberlegenen Seite in die gesellschaftliche Wirklichkeit, welche dann bereits minimale Abweichungen in einem dissidenten Licht erscheinen lassen. Die damit unterstellte Kohärenz spezifischer Machtverhältnisse sichert zugleich eine gewisse Einheitlichkeit des Widerstandsbegriffes, da mit der Etablierung der abweichenden Handlungen als zentralem Maßstab für Widerstand seine subjektiven Träger als letzter Bezugspunkt ausfallen, existieren doch oftmals oppositionelles Verhalten und loyale Begeisterung für bestimmte Manifestation der Macht innerhalb einer Person. Zum anderen muss ein funktionalistischer Widerstandsbegriff, da er kaum einen Halt in der subjektiven Intention findet, ein Kriterium enthalten, wann die unterstellte Wirkung – die Begrenzung oder Unterminierung von Herrschaftsansprüchen – mehr oder weniger effektiv erzielt wird: Genügt eine lokale, eine situative Umkehr des Kräfteverhältnisses, die kaum mehr als eine Kompensation für die Handlungsunfähigkeit in anderen Situationen darstellt oder die sich gar auf höherer Ebene als funktional erweist? Muss es zu einer Verkettung und Verstärkung der Abweichungen mit dauerhaften Folgen für die Herrschaft kommen, stellt sich Widerstand mithin erst retrospektiv, im Moment eines kumulativen Effekts auf die Herrschaftsausübung ein? Oder verdient gar ein bewusst überkonformes Verhalten, die totale Affirmation die Adelung als widerständig, wenn es sich letztlich als kontraproduktiv für die machtüberlegene Seite erweist? Die offensichtlich fließenden Grenzen und die Schwierigkeiten einer angemessenen Bewertung hinsichtlich der Effektivität abweichenden Verhaltens innerhalb von Herrschaftsbeziehungen legen nicht nur eine Typologisierung von Widerstandsformen nahe, sondern verweisen durch ein gewisses Unbehagen an der Klassifizierung bestimmter abweichender Handlungen als widerständig zudem auf die Unmöglichkeit, den Widerstandsbegriff gänzlich von seinen normativen Implikationen zu reinigen. Solche Typologien, die sich entsprechend gewisser wertender Privilegierungen nicht entziehen, vermitteln dann letztlich zwischen dem klassischen und dem weiten Widerstandsbegriff, indem sie die Form und den Grad der Widerständigkeit entlang solcher Kategorien wie dem Grad der Organisation, der Öffentlichkeit und (Re-)Aktivität zu strukturieren suchen. Kann auch eine solches Ordnungsschema keine Definition von Widerstand bieten, so lässt sich doch festhalten, dass der Widerstandsbegriff

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noch in seiner weitesten Form stets auf ein abweichendes Verhalten der Machtunterworfenen innerhalb bestehender Herrschaftsverhältnisse verweist, das einen Funken Legitimität beanspruchen kann, worauf diese auch immer beruht. Gewendet auf den einführenden Syllogismus hieße das: Mag sein, dass Macht überall ist, doch kann es Widerstand nur dort geben, wo die Macht zu Herrschaft gerinnt – die Norm begründet die Abweichung und nur die Legitimität markiert diese Abweichung als Widerstand. Foucaults Pathosformel von der Allgegenwärtigkeit des Widerstands enthält jedoch (noch) keinerlei Verweise auf Herrschaft, auf Legitimität oder gar Normativität und scheint somit selbst über die letzten Haltepunkte eines weit gefassten Widerstandsbegriffs hinauszutreiben. Bleibt die Eingangsfrage: Was qualifiziert eine Macht unter Mächten, eine Macht gegen eine andere, eine Gegenmacht zum Widerstand? Was ist Widerstand für Foucault?

Widerstand als Ethos Die Rezeption Foucaults oszilliert zwischen der Betonung der Brüche, des vagabundierenden Denkens an den Grenzen, dem Schreiben, um sich von sich selbst zu lösen und der Suggestion eines unbestimmten Fluchtpunkts, auf den hin eine beharrliche, kontinuierliche Bewegung seitwärts drängt und unterhalb all der Disparitäten, wenn schon kein System, so doch das der Realität angemessene Bild einer Assemblage zum Vorschein bringt. Aber ob nun vor dem Hintergrund eines Insistierens auf den Diskontinuitäten innerhalb Foucaults Werk oder der Unterstellung einer minimalen Kohärenz, wie ihn etwa das Gouvernementalitätkonzept zum Ausdruck bringt, affiziert der schwankende, bewegliche Charakter seines Denkens auch die Begrifflichkeiten. Diese Schwierigkeit berührt in ganzer Schärfe die Auffassung von Widerstand, ist dieser doch untrennbar an die Konzeption seines Widerparts, der Macht, gebunden und damit an all die Weiterentwicklungen, Blickwechsel und Verschiebungen, welche Foucault in bezug auf seinen wohl prominentesten Begriff immer wieder vollzieht. Neben den theorieimmanenten Schwierigkeiten motivierten diese Unschärfen wiederholt Versuche, über eine systematische Rekonstruktion der Machtanalytik den Foucaultschen Widerstandsbegriff, seine Stärken und Schwächen präziser zu fassen (vgl. dazu Pickett 1996, Thompson 2003). Doch über solche Bemühungen hinaus bezieht der vorliegende Versuch, sich erneut unter Rückgriff auf das Foucaultsche Theoriegebäude mit Phänomenen des Widerstandes auseinander zusetzen, seinen wesentlichen Impuls gerade aus der Beweglichkeit des Denkens. Denn dieser entspringt nicht nur eine große Sensibilität für die Vielfalt widerständigen Handelns, sondern verweist zudem auf die Kontinuität eines spezifischen Ethos, welches das gesamte Werk Foucault durchzieht.

EINLEITUNG | 11

Diese Grundhaltung findet schon im Gefolge seiner großen Studie zur Geschichte der abendländischen Vernunft unter dem Begriff der Überschreitung ihren Ausdruck, liegt seiner Konzeption des spezifischen Intellektuellen zugrunde und reicht bis hin zu den späten Reflektionen über Aufklärung und Kritik, die er als Grenzhaltung charakterisiert. Als »Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault 1992: 28) sucht diese Haltung Anschluss an das Plebejische, an das, was »in gewisser Weise den Machtbeziehungen entgeht; etwas, das durchaus nicht ein mehr oder weniger fügsamer oder widerspenstiger Rohstoff ist, sondern eine zentrifugale Bewegung, eine umgepolte Energie, ein Entwischen. Es gibt etwas Plebejisches in den Körpern und in den Seelen, es gibt etwas derartiges in den Individuen, im Proletariat, es gibt so etwas in der Bourgeoisie, aber immer in einer unterschiedlichen Ausdehnung, mit unterschiedlichen Formen, Energien, Unauflösbarkeiten.« (Foucault 1978: 204f.)

Dieses plebejische Moment zu identifizieren, zu produzieren und zu mobilisieren ist Kennzeichen der kritischen Haltung. Damit verbindet sich der Wunsch, das Spezifische, das Gefährliche des gegenwärtigen Augenblicks in den herrschenden Machtbeziehungen, in der Normalität aufzufinden; nicht um zu paralysieren, sondern um zu zeigen, dass Widerstand an jeder Stelle, mit jeder gesellschaftlichen Gruppe möglich ist und jede Handlung überraschende Folgen haben kann. Eine Grenzhaltung, die keine Allgemeinverbindlichkeit einfordert, auf die Konfrontation des Realen mit dem Idealen durch das Formulieren utopischer Ziele verzichtet und keine Totalität der Weltdeutung, wohl aber eine Verbindung mit dem lokalen Wissen und den Widerständen sucht. Dieses Ethos schließlich motiviert ein Denken, welches darauf abzielt, Evidenzen zu zerstören, verfestigte Machtbeziehungen zu verflüssigen, um den Raum des Möglichen zu vergrößern und das doch um seine Gefährlichkeit und potentiellen Herrschaftswirkungen weiß. Wo immer Foucault diese Haltung beim Umgang mit verfestigten Machtverhältnissen und mit sich selbst entdeckt, beschreibt er sie als widerständige Praktik. Widerstände und auf die Verhinderung von Herrschaftszuständen abzielenden Freiheitspraktiken lassen sich somit sowohl in konfrontativer, kriegerischer Auseinandersetzung, in Flucht, Verweigerung und Entzug wie in Versuchen der autonomen Selbstgestaltung identifizieren. Sucht dieses Ethos auch Anschluss an die Tradition der Aufklärung oder Halt in einer Genealogie der Kritik, so bleibt dessen letzte normative Fundierung unklar. Foucaults Weigerung, spezifische Werte und Normen explizit aus dem Bereich der Machtwirkungen auszuklammern, hat die Diskussion um sein Werk fast zwangsläufig auf normative Fragestellungen hinauslaufen lassen (vgl. auch Fraser 1994, Habermas 1996: 279-343). Dabei ergeben sich zwei Standpunkte: Die einen sehen den Widerstandsbegriff bei Foucault von sämtlichen moralischen Implikationen bereinigt

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und damit in der Nähe einer nietzscheanischen Bejahung der Macht, während die anderen die Legitimität von Widerstand in Foucaults Rekurs auf Kritik und Aufklärung nachzuweisen suchen. Diese Lösungen mögen konsistent oder unbefriedigend sein, problematisch erscheint jedoch, dass durch diese frühe Fokussierung auf die Frage nach möglichen Rechtfertigungsstrategien das innovative Potential der Foucaultschen Machtanalyse verschenkt wird. Denn der Blick auf die Funktionsweise von Machtmechanismen gewinnt seine Stärke nicht dadurch, dass er die Legitimitätsfrage suspendiert oder löst, sondern sie in die Untersuchung von Macht-, Wissens- und Selbstverhältnissen einbezieht. Gerade diese Perspektive lässt vielfältige Formen von Resistenzen und Abweichungen hervortreten, eben: »mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände« (Foucault 1984: 116). Unter den Bedingungen einer verstetigten Machtasymmetrie zeigt sich eine Vielfalt subversiver Praktiken. Diese reichen bei Foucault von Aufrufen, neue Identitäten oder Subjektivitäten zu erfinden (vgl. Foucault 1994a: 250), über die Verteidigung überkommener Traditionen und Rechte wie moralische Empörungen und Unruhen, etwa im Zuge von Preiserhöhungen oder Steuereintreibungen (vgl. Foucault 1994b: 352) bis zu situativen Resistenzen, bei denen kurzfristige Handlungsspielräume genutzt werden, ohne dass eine Verstetigung angestrebt wird. Zu letzteren zählen etwa Unruhen im Anschluss an Hinrichtungen (vgl. Foucault 1994b) oder Popeln am Esstisch (vgl. Foucault 2003: 525). Solche Ereignisse können zu massiven gesellschaftlichen Transformationen oder Verwerfungen führen, wenn es ihnen gelingt, sich mit anderen lokalen Widerständen zu verketten. Freilich laufen gerade die situativen Resistenzen – wie alle anderen Widerstandsformen auch – Gefahr, nicht nur wirkungslos zu verpuffen, sondern sich als verfestigte Form oder Ersatzhandlung in ein Element der Reproduktion von Unterwerfung zu transformieren (Willis 1979). Diese Beispiele von Widerstandsformen aus Foucaults Werk sollen schließlich nicht nur für die Vielfalt sensibilisieren, sondern auch die häufig geäußerte Kritik an Foucault relativieren, sein Denken würde Vorstellungen von oder Motivation für Resistenz unmöglich machen. Gerade Foucaults häufige Aufzählungen lokaler Ausschreitungen und Aktionen, die sich nicht als legitime Widerstände einordnen lassen, sind Anlass genug, sich mit dem Macht- und Widerstandskonzept bei Foucault erneut auseinanderzusetzen. Damit soll nicht nur der Versuch unternommen werden, Foucault in die theoretische Diskussion von Widerständigkeiten und Protesten einzubringen, sondern sein Denken auch auf konkrete Momente von Widerständen anzuwenden, ob sie sich nun in kleinen Handlungszusammenhängen abspielen oder öffentlich auftreten.

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Aufbau des Bandes Die Beiträge des Buches wurden zu drei Segmenten zusammengefasst. Zeigen die Autoren2 im ersten Abschnitt Widerstandspotentiale in Foucaults Werk auf, so versammelt der zweite Teil jene Beiträge, die in Foucaults Arbeiten deutliche Grenzen für ein Denken über Widerstand identifizieren. Im dritten und letzten Teil geben die Autorinnen schließlich einen Eindruck von Widerständigkeitsanalysen mit Hilfe Foucaultscher Begrifflichkeiten. Hinter all dem kann natürlich nicht der Versuch stehen, eine ›richtige‹ Lesart Foucaults zu etablieren. Vielmehr gilt es ein Instrumentarium zu entwickeln, um Widerstand in seinen vielfältigen, häufig alltäglichen Formen lesbar und auch lebbar zu machen, was sich gerade in der Gegenwartsbezogenheit einzelner Beiträge ausdrückt. Entsprechend unserer Untergliederung des Bandes widmen sich die ersten Beiträge den Ansätzen und Anschlussstellen für eine Thematisierung von Resistenz in Foucaults Werk. So sieht ULRICH BRIELER bei Foucault eine gewandelte Fortführung der kritischen Arbeit unter dem persönlichen Eindruck des Jahres 1968. Als Resultat geht demnach Foucault auf Distanz zu einer (neo)orthodoxen Politik und konzentriert sich auf eine Politisierung der Subjektivität in Gestalt von Kämpfen um neue Lebensweisen. Ebenso sieht JENS KASTNER in Foucault einen kritischen Denker in der Tradition der Neuen Linken. Er veranschaulicht dies am Begriff des »Gegen-Verhaltens« bzw. an den beiden Formen »Desertion« und »Geheimgesellschaften«. Dabei wird deutlich, dass sich »Gegen-Verhalten« im Foucaultschen Sinne kaum auf die südmexikanische Guerilla übertragen lässt. Jedoch besitzt das »Gegen-Verhalten« im Neoliberalismus ein wirksames Potential in flexiblen Formen, die von unpolitischen bis politischen Weigerungen reichen können. BERND HEITER zieht dagegen Foucaults Analyse des Neoliberalismus heran, um dessen gegenwärtige Ausweitung im bundesdeutschen Sozialstaat aufzuzeigen. Seinen Schwerpunkt bilden die Auswirkungen der Hartz IV-Reform auf jene, die zwischen Inklusion und Exklusion stehen und die Widerstandsformen, die sich daran anschließen (müssen). CHRISTIAN KUPKE nutzt Foucaults Arbeiten zur Bestimmung der Voraussetzungen und Gegebenheiten für ein Widerstandsrecht, welches sich aus den Menschenrechten ableitet. Der Autor unterscheidet dazu zwischen primären und sekundären Widerständen. Während primäre Widerstände illegale Handlungen der Betroffenen sind, gehen sekundäre von den Unterstützern der Betroffenen aus, die damit zugleich einem neuen Recht Ausdruck verleihen wollen. Allgemeiner fragt ULRICH BRÖCKLING nach dem Akt der Kritik bzw. danach, wie Kritik heute noch aussehen kann. Was heißt es also, sich kritisch zu den gegebenen Verhältnissen zu verhalten. Was muss bedacht werden. Eine Antwort könnte in 2

Bei Aufzählungen sind immer weibliche und männliche Personen gemeint.

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den von WOLFGANG FACH angeführten Spielräumen liegen. Sein Beitrag setzt sich mit Ordnungsvorstellungen auseinander, die Unbestimmtheiten und Uneindeutigkeiten keinen Platz einräumen. Es sind jedoch gerade diese Spielräume und deren Auswüchse, die immer wieder zu Veränderungen und Verschiebungen führen können. Das Widerspenstige ist dabei selbst in den kleinsten Nischen angelegt. HAGEN SCHÖLZEL nimmt beispielsweise in seinem Beitrag die Blockierung eines Gesetzgebungsprozesses zum Anlass, um über das Verhältnis von Macht und Herrschaft bei Foucault und Giddens nachzudenken. Er macht sich dabei auf die Suche nach der Lücke im Herrschaftszustand. Von der Wandelbarkeit und Offenheit Foucaults in seinen Arbeiten schreibt dagegen ANDRÉ REICHERT. Ihm geht es vor allem um das Sprechen und die Teilnahme am Diskurs, wo sich Widerstehen in den Um- und Neuauslegungen der Verhältnisse, der Überwindung von Eineindeutigkeiten äußert. Im zweiten Abschnitt des Sammelbandes werden kritisch die Grenzen und Schwächen im Foucaultschen Werk beim Bedenken und Bestimmen von Widerständen ausgeleuchtet. Anschaulich wird dies besonders im Beitrag von TOBIAS N. KLASS, der sich inhaltlich mit der Aussage Foucaults »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« auseinandersetzt. Dazu geht Klass auf den Begriff der Macht bei Nietzsche und Foucault und das Problem der Allgegenwart der Macht ein, um zu klären, welches Verständnis von Widerstand daraus erwächst. Abschließend plädiert er für eine Dekonstruktion der Machtanalyse, um ausgehend von Foucaults Texten zur Heterotopie und der Idee der Machtferne neue Anknüpfungspunkte für ein Denken des Widerstandes zu entwickeln. Auf einer ganz anderen Ebene nähert sich INES LANGEMEYER den Arbeiten von Foucault und Bourdieu. Im Zentrum ihres Beitrages stehen Desintegrationsprozesse in der Gesellschaft und wie die beiden Autoren ein Verständnis dafür bereitstellen. Im Gegensatz zu Bourdieu, der sich zumindest mit dem Problem der gesellschaftlichen Integration der Ausgegrenzten auseinandersetzt, bietet Foucault jedoch keine Handlungsperspektive für seine bekannte Formel der Entunterwerfung. Für Langemeyer bleibt Foucault daher eine Antwort schuldig, warum man sich der Subjektivierung widersetzen bzw. entziehen soll. Zu einer ähnlichen Feststellung kommt auch MAXIMILIAN SCHOCHOW, da Foucault – im Gegensatz zu Judith Butler – keine Anleitung zu widerständigen Handlungen gibt. Für Schochow sollen die vielen Widerstandsbeispiele bei Foucault auch keinen utopischen Ausblick liefern, sondern sind zusätzliche Analyseansätze für seine Theorie der Macht, um anhand von Widerständen Machtverhältnissen zu lokalisieren. Wenn dagegen Foucault träumt, dann vom Widerstand als einen analytischen Vorgang, der die eigenen historischen Bedingungen reflektiert. ROBERT FEUSTEL widmet sich schließlich der Kritik Baudrillards an Foucault. Es geht ihm dabei insbesondere um das Verhältnis der Macht zum Realen bzw. zur Simulation, da für den Autor die Transformation von Wissen in

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Macht bei Foucault ungeklärt bleibt. Anhand der Analysen massenmedialer Kommunikation vermag der Ansatz Baudrillards diese theoretische Leerstelle bei Foucault zu füllen und verweist so auf die symbolische Ebene des Widerstandes. Die im dritten Teil des Buches versammelten Analysen zeigen, inwieweit der Foucaultsche ›Werkzeugkasten‹ für das Verstehen konkreter Resistenzen brauchbar und hilfreich ist. Beispielsweise bietet sich der Foucaultsche Machtbegriff zur Betrachtung komplexer Aushandlungsprozesse an, wie sie im Beitrag von URSULA RAO über illegalen Tempelbau und den Kampf um die Deutungshoheit im urbanen Lebensumfeld Indiens auftreten. Im Tempelkonflikt wird für die Autorin deutlich, dass Widerstände keinem bestimmten Raum entspringen, sondern Macht und Widerstand fluktuierende, punktuelle und ephemere Positionen in einem komplexen Netzwerk relativer Über- und Unterordnung sind. Ungewöhnlich ist auch der Ort und die Art einer Widerständigkeit im Beitrag von DANIEL HECHLER: Das Spießertum. Seine Widerborstigkeit ergibt sich dabei aus dem Kampf um die Bewahrung eingeübter Routinen innerhalb wechselnder Machtverhältnisse, die stets von kritischen Anrufungen zur Adaption an das Zeitgemäße begleitet sind. Da Spießertum hier als veraltete Lebensweise gefasst wird, steht das Verhältnis von progressivem und reaktionärem Widerstand im Zentrum der Beschreibung. Fast unbemerkt kommt der Widerstand im Schweigen bzw. Schreiben daher, dem CHRISTIAN DRIESEN am Beispiel von Gert Neumann nachgeht. Er sieht dabei eine Nähe zu Foucaults besonderer Weise des Sprechens, das sich einer Auslöschung durch Verstummung entgegensetzt. Am Ende setzt sich AXEL PHILIPPS in seinem Beitrag neben verschiedenen Protestformen gegen die jüngste Sozialreform (Hartz IV) mit den individuellen Widerspenstigkeiten der Erwerbslosen auseinander. Anhand eines konkreten Fallbeispiels und den Begrifflichkeiten von Michel de Certeau und Michel Foucault versucht er, durch eine Unterscheidung zwischen bewussten und unintendierten Widerstandsformen die kaum merklichen Resistenzen in Ein-Euro-Jobs sichtbar zu machen. Der Band ist aus der Arbeitstagung »Foucault und Widerstand. Die Kehrseite der Machtbeziehungen« und den sich anschließenden Diskussionen hervorgegangen, welche die Leipziger Forschungsgruppe Soziales e. V. im Februar 2007 in Leipzig organisierte. Zum Gelingen der Tagung haben wesentlich Jens Busse, Annett Fritzsche, Andreas Höfelmayr, Ralph Richter, Hagen Schölzel und Ralf Steinle beigetragen. Unser besonderer Dank gilt Constanze Derham, die über die Unterstützung bei der Tagung hinaus als Lektorin tatkräftig an der Fertigstellung des Sammelbandes mitwirkte.

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Literatur Didi-Huberman, Georges (2007): Bilder trotz allem. Paderborn/München: Wilhelm Fink Verlag. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve Verlag. Foucault, Michel (1984): Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve Verlag. Foucault, Michel (1994a): »Das Subjekt und die Macht«. In: H. Dreyfus/P. Rabinow (Hg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, 2. Aufl., Weinheim: Beltz, S. 241-261. Foucault, Michel (1994b): Überwachen und Strafen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2003): »Macht und Wissen«. In: Ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 515534. Fraser, Nancy (1994): Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1996): Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Pickett, Brent L. (1996): »Foucault and the Politics of Resistance«. Polity 28, 4, pp. 445-466. Thompson, Kevin (2003): »Forms of resistance: Foucault on tactical reversal and self-formation«. Continental Philosophy Review 36, 2, pp. 113138. Willis, Paul E. (1979): Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule. Frankfurt/M.: Syndikat Verlag.

Ansätze für Widerstandspotentiale

Foucault und 1968: Widerspenstige Subjektivitäten ULRICH BRIELER Michel Foucault ist fraglos ein 68er. Es ist mittlerweile ein Allgemeinplatz, dass sich sein Werk nach 1968 theoretisch grunderneuert und politisiert. Foucault selbst hat die Bedeutung dieses Ereignisses für sein Denken oftmals betont. Aber in dieser wohlerwogenen Perspektive ist er sein eigener 68er. Als ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs von 1950 bis 1953 begegnet er 68 mit einer Mischung aus Skepsis und Sympathie. Er misstraut von Beginn an – am 27. Mai 1968 ist er in Paris im überfüllten Stadion Charléty Augenzeuge der Geburtsstunde des französischen Linksradikalismus – der Renaissance neoorthodoxer Denkformen und Organisationsmodelle. Er verweigert sich einer Haltung, die das Unbekannte des Ereignisses unter einem vertrauten Vokabular begraben und zugleich politische Avantgardevorstellungen erneuern will. Foucault selbst praktiziert neue Formen eines direkten und physischen Engagements, das sich an präzisen und konkreten Problemen erprobt. In diesen Kämpfen gegen untolerierbare Zustände in Gefängnissen und Kliniken, in Asylen und Fabriken entsteht ein neuer Denkstil, ein intellektueller Habitus, der die eingespielten Arbeitsteilungen zwischen Wissenschaft und Politik, Analyse und Intervention, Laien und Experten souverän ›aufhebt‹. Diese genealogische Arbeit entwickelt allmählich ein eigenes Verständnis der gesellschaftlichen Breitenwirkung von 68: kein Versuch der Machtübernahme, kein Angriff auf das Herz des Staates, keine Avantgarde des Konsumismus oder der zivilgesellschaftlichen Liberalisierung – obwohl diese Elemente ihre Rolle gespielt haben. 1968 ist für Foucault eine Explosion an Subjektivitäten, ein Ausbruch autonomer, d. h. erkämpfter Lebensweisen. Das Problem der Regierung der Menschen bestimmt sich vor diesem Panorama grundlegend neu. Foucaults Verflechtungen mit den 68er Bewegungen sind hinlänglich bekannt, wenn auch für sein Denken kaum anerkannt. Alle wichtigen Ar-

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beiten Foucaults nach 1968 – angefangen bei seinem großen Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie, über die Ordnung des Diskurses, seine Antrittsvorlesung am Collège de France vom 2.12.1970, in der er unablässig die »Unruhe von Kämpfen« (Foucault 1991: 10) beschwört, und insbesondere die Vorlesungen der Jahre 1971 bis 1975 – stehen in einem permanenten Dialog mit der außerakademischen Welt. Überwachen und Strafen, das Dokument des 68er Denkens, manifestiert diese Verstrickung von Straße und Stehpult, von wachem Engagement und rastloser Reflexion. Weniger bekannt ist, was danach geschieht. Denn in der umfangreichen Foucault-Literatur gilt es als ausgemacht, dass sich nach 1976 etwas Neues in Foucaults Denken tut. Und dieses »etwas« wird zumeist mit dem Begriff der Krise in Verbindung gebracht. Gilles Deleuze etwa behauptet eine »Krise [...] in jeder Beziehung, politisch, vital, im Denken.« (Deuleuze 1993: 121) Didier Eribon, der erste Biograph Foucaults, konstatiert eine »persönliche Krise [...], eine intellektuelle Krise.« (Foucault 1993: 395) Wohl beleumundete Leute wie Jürgen Habermas und Axel Honneth, Manfred Frank oder Wilhelm Schmid diagnostizieren eine theoretischpolitische Doppelerkrankung. Foucault leide an den Aporien seines MachtBegriffs und an den Enttäuschungen der gescheiterten 68er Bewegungen. Er befinde sich, wie es im Theoriebulletin heißt, in einer Sackgasse. Jürgen Habermas gibt hier das Stichwort vor: »Syndrome des linken Renegatentums.« (Habermas 1985: 302) Der unterstellten »Omnipräsenz der Macht« (Frank 1984: 240) – ein für Foucault undenkbar absurder Gedanke – kann folgerichtig nur durch eine überraschende »Kehre« in eine neue Subjektphilosophie entkommen werden. Die Therapie erfolgt, so auch die gängige Rede in nahezu allen »Einführungen« und Monographien über Foucault, nach gewohnt geistesgeschichtlicher Rezeptur. Nach langen Irrungen und Wirrungen kehrt der Erkrankte zum Subjekt zurück, wenn auch vorerst dem der Antike: Foucault – der Altersweise, Foucault – der Lebenskünstler. Die Philosophen vom Fach laben sich an diesen Erklärungen. Der wilde Mann hat endlich zu den Quellen der abendländischen Weisheit zurückgefunden: Er ist wieder einer von uns. Und wenn er nicht gestorben wäre, er wäre zum analytischen Philosophen oder Hofsänger der abendländisch-christlichen Werte geworden. Fraglos sind die Jahre nach 1976 für Foucault eine Zeit der Reorientierung. Schon seinen Vorlesungszyklus dieses Jahres beginnt Foucault am 7. Januar mit dem starken Wort, »einen Schlussstrich unter eine Serie von Forschungen zu ziehen.« (Foucault 1999: 9) Diese Neueinstellung der Genealogie ist untrennbar mit einer politisch-theoretischen Reflexion darüber verbunden, was 1968 war. Die sogenannte »Krise« Foucaults ist nichts anderes als der Versuch, das Neue dieses zeithistorischen Augenblicks zu denken.

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Im Folgenden geht es um diese politisch-theoretische Verdichtung. Es ist die Arbeit einer heiklen Synthese, die neue Gegenstände, Fragen, Begriffe und Haltungen hervorbringen wird, die, und dies ist wichtig zu betonen, Foucault zu Beginn dieser Transformation noch unbekannt sind. Foucault gibt in keiner Weise die Ansprüche von Kritik und Befreiung auf, die dem Ereignis 1968 seine Kraft gaben. In den Jahren von 1977 bis 1979 bilden sie den Kern seiner öffentlichen Reflexion. Im beginnenden 68erThermidor, in dem sich die gefallenen Engel der Revolte als reuige Sünder ihrer Illusionen profilieren, entwickelt Foucault ein Gegen-Programm, indem er aus den Erfahrungen der 68er-Kämpfe ein neues Verständnis der Subjektivität, der Regierung und des ›spezifischen Intellektuellen‹ entwickelt. Im Rückblick scheinen die Koordinaten der Situation eindeutig, in der Mitte der 70er Jahre sind sie kaum erkennbar. Lange vor 1989 nimmt Foucault das Ende der klassischen Linken wahr. Foucault spürt sehr genau, dass das Debakel der radikalen Linken wie der Niedergang der sozialdemokratischen und eurokommunistischen Parteien das politische Apriori zersetzt, das allen intellektuellen Einsätzen des 20. Jahrhunderts zugrunde lag. Foucault ist einer der ersten, der dies deutlich ausspricht, ohne die Probleme von Mündigkeit und Gerechtigkeit, denen dieses Apriori Ausdruck gab, abzutun. Und er ist einer der ersten, der die Morgendämmerung der »Weltgesellschaft« (Foucault 2003: 521) heraufziehen sieht. So schreibt er am 26. November 1978 über die Revolte gegen den Schah von Persien: »Es ist eine Erhebung von Menschen mit bloßen Händen. Sie wollen die gewaltige Last heben, die auf uns allen liegt, vor allem aber auf ihnen, auf diesen Ölarbeitern und Bauern an den Grenzen des Imperiums: die Last der Ordnung der ganzen Welt. Das ist vielleicht die erste große Erhebung gegen die weltumspannenden Systeme, die modernste und irrsinnigste Form der Revolte.« (Foucault 2003a: 897)

Dass er das Flüchtlingsproblem der späten 70er Jahre als »Vorboten der großen Wanderungsbewegung des 21. Jahrhunderts« (Foucault 2003b: 996-999) wahrnimmt, die Fragilität des real existierenden Sozialismus betont – »Das russische Reich wird wie alle Reiche nicht ewig bestehen« (Foucault 2005: 417) – unterstreicht diese mondiale Wahrnehmung. Aber diese Facetten gehören bereits einer anderen Geschichte an, die einer anderen Geschichte der Globalisierung zugehört. Dies ist die Lage, als Foucault am 14. Oktober 1976 dem deutschen Schriftsteller Knut Bösers ein Interview gibt. In gewissem Sinne handelt es sich hier um den Gründungstext für das Spätwerk. Denn an keiner zweiten Stelle markiert Foucault die Koordinaten seiner intellektuellen Arbeit so deutlich wie hier. Er zielt auf eine Bestandsaufnahme und Fortschreibung

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jener Tradition der europäischen Sozial- und Geistesgeschichte, die sich der Doppelaufgabe von Kritik und Befreiung verschrieben hatte. »Seit der russischen Oktoberrevolution von 1917 und vielleicht sogar seit den großen revolutionären Bewegungen von 1848, das heißt: seit sechzig, oder wenn Sie so wollen, seit hundertzwanzig Jahren ist der heutige Tag, der 14. Oktober, der erste, an dem man sagen kann, dass es auf der ganzen Welt keinen einzigen Punkt mehr gibt, von dem das Licht einer Hoffnung ausgehen könnte. Es gibt keine Orientierung mehr. [...] Die Linke, das ganze Denken der europäischen Linken, das revolutionäre europäische Denken, das seine Bezugspunkte in der ganzen Welt hatte [...], das sich an Dingen orientierte, die außerhalb seiner selbst lagen, dieses Denken hat [...] die historischen Bezugspunkte verloren, die es bisher in anderen Teilen der Welt fand. [...] Das ist bemerkenswert. Ich glaube, wir sind auf das Jahr 1830 zurückgeworfen. Wir müssen ganz von vorn anfangen. Das Jahr 1830 hatte immerhin die Französische Revolution und die ganze Tradition der Aufklärung hinter sich. Wir müssen wieder ganz von vorne anfangen und uns fragen, worauf wir die Kritik unserer Gesellschaft in einer Situation stützen können, in der die bisherige implizite oder explizite Grundlage unserer Kritik weggebrochen ist. [...] Fangen wir von vorn an! Es muss möglich sein, von vorn anzufangen. Nochmals von vorn anzufangen mit der Analyse und Kritik – natürlich nicht einfach nur mit der Analyse der so genannten ›kapitalistischen‹ Gesellschaft, sondern des mächtigen sozialen und staatlichen Systems, das wir in den sozialistischen und kapitalistischen Ländern finden. Diese Kritik müssen wir leisten. Ganz sicher ist das eine gewaltige Aufgabe, die wir sofort anfangen müssen. Mit viel Optimismus.« (Foucault 2003c: 514)

Foucault präzisiert in klarsten Worten den Impuls seiner Arbeit und ihre zukünftige Ausrichtung. Es ist der Augenblick vor der Bekanntmachung der Biopolitik – Sexualität und Wahrheit wird im Dezember 1976 erscheinen –, vor der Entdeckung der Gouvernementalität in der Vorlesung 1978 und vor der Reise in die Antike zu den Technologien des Selbst. Gemeinhin wird Foucault nach seiner sogenannten machttheoretischen Phase eine Rückkehr zum Subjekt attestiert. Die Mär vom liberalen Foucault setzt ein, die unvermeidliche Klassikerzuschreibung folgt, der verlorene Sohn fährt in den Hafen der Lexika und Sammelbände ein. Foucault ist Realist genug, damit zu rechnen. Aber seine Absicht ist nichts von alledem und davon spricht seine Arbeit der Jahre nach 1976. Foucaults intellektuelle Praxis konzentriert sich in dem Versuch, im Bedenken des langen Jahrzehnts der antiautoritären Revolten eine neue Gestalt der Kritik zu erfinden. Dass Foucault dabei von den Ereignissen überrascht, ja vielleicht überrollt wird, denen er sich aussetzt, ist Teil des genealogischen Einsatzes. Es ist der Preis, will man die geistige Arbeit im Angesicht neuer Gefahren erneuern. Diesem Ziel dient die intensive Beschäftigung mit Kant, dem Kant im Streit der Fakultäten und dem Interpreten der Französischen Revolution, das erneute Eintauchen in die frühe Neuzeit und das klassische Zeitalter, sowie die Befragung der antiken Lebenskünste. Und es ist si-

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cherlich kein Zufall, dass Foucault in seinem letzten abgeschlossenen Vortragszyklus das kynische Modell der Lebensführung – eine öffentliche, skandalöse, beispielhafte Existenz als gelebte Wahrheit – mit besonderer Sympathie zeichnet. (vgl. Foucault 1996: 119-139)

Krise und Kritik der Politik Foucault ist in den Jahren nach 1976 auf der Suche nach einer neuen Politik, nach einer neuen intellektuellen Praxis. Die Politik Foucaults nach 1968 ist nie die Politik der Parteien, der Staatsapparate, der organisierten Interessenvertreter gewesen. Tatsächlich ist die Erneuerung der Politik ›von außen‹ gekommen. Sie verdankt sich politischen Kämpfen, sozialen Experimenten und geistigen Problematisierungen, die sich den Fallen der Realpolitik und der vorschnellen Lösungen versagt haben. Um etwas Neues zu denken, muss man die Matrix der herrschenden Wahrheiten in Frage stellen. Foucault zielt, so sagt er am 23. Juli 1979, auf die »Erfindung neuer Objekte über die Politik, trotz der Politik und in einer Weise, die das politische Denken umwälzt.« (Foucault 2005a: 125) Er plädiert für eine AntiPolitik, die sich den traditionellen politischen Institutionen, Ritualen und Gewissheiten entzieht, ohne deren Gewicht zu unterschätzen. Foucaults intellektuelle Praxis seit 1968 definiert sich innerhalb der antiautoritären Linken, ihr Niedergang bildet den Hintergrund seiner Neuorientierung, die Entdeckung der subjektverändernden Potentiale ihrer Kämpfe den Ausweg aus der Misere. In seinem Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Gilles Deleuzes und Felix Guattaris Anti-Ödipus hat Foucault dieser dialektischen Figur deutlichen Ausdruck gegeben. Die Absage an traditionelle Politikmodelle und die Rekonstruktion einer kritischen Haltung bilden zwei Seiten einer Medaille. Gegen die »Bürokraten der Revolution und die Funktionäre der Wahrheit« plädiert er für eine »Lebenskunst« (Foucault 2003d: 178f.), die sich der neu erkämpften Räume, Vorstellungen und Formen selbstbewusst versichert. Man muss den großen Apparaten der Politik das Monopol des Politischen nehmen, um sie den Subjekten und ihren Assoziationen zu übertragen. Man muss das Feld des Politischen erweitern, um die neuen Kämpfe um den Körper, die Ökologie, die Lebensweise anzuerkennen und neue »Erfahrungen«, ein für Foucault entscheidender Begriff, zu ermöglichen. Den Anti-Ödipus liest er in diesem Zusammenhang als eine »Denkund Lebensweise«, als eine »Einführung in das nicht-faschistische Leben«: »Wie muss man es anstellen, nicht zu einem Faschisten zu werden, selbst wenn (vor allem wenn) man glaubt, ein Kämpfer für die Revolution zu sein?« (Foucault 2003d: 178f.) Foucault konzentriert die kritische Haltung auf ein verdichtetes Verhältnis von Denken und Praxis – »Verwendet die

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politische Praxis als einen Intensifikator des Denkens und die Analyse als einen Multiplikator der Interventionsformen und -bereiche der politischen Aktion« – und auf eine souveräne Distanz zu den Institutionen und Formen der Herrschaft: »Verliebt euch nicht in die Macht.« (Foucault 2003d: 179f.) Diese beiden Qualitäten stehen für einen neuen Denkstil, der umso politischer ist, je weniger er das Spiel der traditionellen Politiken bedient. Politik ist kein Geschäft von Spezialistinnen. Denn Politik umreißt den Raum und den Stoff sozialer Praktiken, also ein Feld und eine Potentialität, in dem über die Möglichkeit und die Angelegenheiten freier Menschen entschieden wird. Foucault tut nach 1976 alles, diesen erweiterten Begriff des Politischen zu propagieren. In diesem Sinne ist auch das Private politisch. Aber diese Option bedeutet nicht, das Politische zu privatisieren, zu psychologisieren, zu moralisieren. Wenn Foucault von einer »individuellen, moralischen Sorge« (Foucault 2003e: 431) spricht, dann hat er nichts weniger im Sinn als neue Tugendkataloge und Hauspostillen im Interesse konformer Lebensführung. Er zielt gerade auf die Problematisierung der Bedingungen und Formen, die uns zu einem gesellschaftlichen Wesen machen, das im Verhältnis zu sich selbst und den anderen mit Recht ein Subjekt genannt werden kann. Die Diagnose eines Bruchs im Denken des späten Foucault, die berühmte Wende von der Politik zur Ethik, ist verfehlt, begreift sie beide Momente als antagonistisch. Tatsächlich schreibt Foucault seine Vorbehalte gegen eine traditionelle (Partei)Politik fort: gegen Autoritarismus und Etatismus, gegen rigide Parteimoral und steriles Weltanschauungsdenken. Nur legt er nach 1976 den Akzent seiner Untersuchungen in immer stärkerem Maße auf das Subjekt der politischen Aktionen. Er skizziert das Problem, ob sich nicht jede Politik die Frage nach der bewussten Veränderung der Akteure in und durch die politische Praxis stellen muss. Seine Ethik ist mithin Politik. Denn was wäre politischer als die Reflexion über das Gewordensein und die Bedingungen des eigenen Werdens? In dieser Perspektive ist die Ethik eine »Seinsweise des Subjekts und eine bestimmte, für die anderen sichtbare Weise des Handelns«, die »durch und durch politisch ist.« (Foucault 2005b: 882) Foucault ›träumt‹ von einer Politik als einer Praxis der Aktivierung subjektbildender Kräfte im Individuum. Ihr Experimentierfeld stellen die neuen sozialen Bewegungen dar. Im Gegensatz zur traditionellen Linken fasziniert Foucault deren libertärer und existentieller Grundzug, der die Frage einer anderen Politik mit dem Kampf um neue Subjektivitäten koppelt. Ständig drängt er in den Jahren nach 1976 darauf, sich »neue Schemata der Politisierung auszudenken und hervorzubringen.« (Foucault 2003f: 307) Gegen die »Verarmung (und) Austrocknung der politischen Einbildungskraft« plädiert er für die Entwicklung neuer Vorstellungen von Politik, neuer Assoziationsformen, neuer Verbindungen geistiger und politischer Praktiken,

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die der Neuerfindung der Politik im 18. und 19. Jahrhundert, die von Locke über Rousseau bis zu den utopischen Sozialisten reicht, angemessen ist: »Wir können uns über die gegenwärtige Armseligkeit nur wundern.« (Foucault 2003g: 753) Zwei Momente markieren für Foucault das Signum der Epoche nach 1968: die Problematisierung der sozialen Existenzweisen und die Politisierung der Subjektivität. »Aber ist nicht genau das ein Kennzeichen der aktuellen politischen Bewegungen: die Entdeckung, dass die alltäglichsten Dinge des Lebens – die Art zu essen, sich zu ernähren, die Beziehungen zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, die Art zu lieben, die Art, wie die Sexualität unterdrückt wird, gesellschaftliche Zwänge, das Verbot der Abtreibung – politisch sind? Das alles zum Gegenstand einer politischen Aktion zu machen, darin besteht heute die Politik. Deshalb bestimmt sich der politische oder nichtpolitische Charakter einer Aktion nicht mehr allein durch das Ziel dieser Aktion, sondern durch die Art und Weise, wie Dinge, Probleme, Besorgnisse und Leiden, die die europäische politische Tradition des 19. Jahrhunderts als der politischen Aktion unwürdig verbannt hatte, politisiert werden.« (Foucault 2002: 533)

In dieser Umwertung einer traditionellen Politik gewinnt die theoretische Arbeit einen neuen politischen Stellenwert. Foucault stellt klar, »daß die politische Landschaft der letzten 20 Jahre nicht so fundamental erneuert worden wäre, wenn es nicht eine intellektuelle Arbeit über die Probleme gegeben hätte, die nicht als politisch erschienen und deren Analyse gezeigt hat, an welchem Punkt sie in Verbindung zur Politik standen. Es war gerade eines der fruchtbarsten Resultate dieser Arbeit, daß diese famose Kategorie des ›Politischen‹, von der man uns bis zum Überdruß an der Universität erzählt hatte, beseitigt worden ist. [...] Die Verbindung der Bewegungen des Denkens mit der Analyse der Institutionen und der Problematisierung des Alltagslebens, des Persönlichen, des Individuellen, eben dies brachte die Schranke zum Bersten, die Kategorien wie ›die Politik‹ oder ›das Politische‹ bildeten. Diese Verbindung ist es, die einer Bewegung die Kraft verleiht, Ideen, Institutionen und das Bild, das man von sich selbst und den anderen hat, zu verändern.« (Foucault 1985: 61)

Politik im Sinne Foucaults beinhaltet daher stets die Dimension des Möglichen, des Erwünschten und des Gewollten. Vielleicht sollte man noch stärker formulieren: des heute Un-Möglichen und Un-Denkbaren. Und je mehr Foucaults Denken nach 1976 voranschreitet, desto mehr prononciert er diese Dimension einer Entscheidung über die eigene Lebensführung. Denn die »Arbeit von uns selbst an uns selbst, insofern wir freie Wesen sind«, erschöpft sich nicht in der Frage, wer wir sind, sondern diese Arbeit ist immer auch eine »historisch-praktische Erprobung der Grenzen, die wir überschreiten können« (Foucault 2005c: 703f.), d.h. dessen, was wir sein können und wollen.

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Der Intellektuelle bleibt in dieser Konstellation eine wichtige Instanz. Die Figur des »spezifischen Intellektuellen«, die Foucault in den Jahren nach 1976 entfaltet, ist für viele Interpretinnen eine Formel für den Abgesang auf die Generation des Engagements und der Freifahrschein in die politische Beliebigkeit. Nichts ist falscher. Foucault redet vom Intellektuellen gerade in diesen Jahren stets und immer wieder. Seit dem Interview im Juni 1976, in dem die Formel des »spezifischen Intellektuellen« (Foucault 2003h: 205) erstmals auftaucht, über das umfangreiche Gespräch mit Ducio Trombadori im Dezember 1978 bis zu seinem auf der Titelseite der Le Monde erscheinenden Artikel Unnütz, sich zu erheben? vom Mai 1979 quält Foucault die Frage, wie die geistige Arbeit in ein neues politisches Produktionsverhältnis eingebettet werden kann. Der »spezifische Intellektuelle« schreibt die Kraft der Negation fort. Auch er ist ein Akteur der Problematisierung und der politischen Kämpfe. Aber er ist es in einer anderen Weise als der »universale Intellektuelle«, der als historische Gegenfigur konstruiert wird. Ging dieser aus den Kämpfen der Aufklärung um universelle Werte des Rechts hervor und besaß im Schriftsteller seine exemplarische Verkörperung, so datiert Foucault die Geburt des spezifischen Intellektuellen auf das Erscheinen der modernen Naturwissenschaften und die Figur des Wissenschaftlers als Experten. Exemplarisch repräsentiert findet er sie in der Rolle der Atomphysiker am Ende des Zweiten Weltkriegs, deren Vorläufer die Evolutionisten in der Nachfolge Darwins bildeten. Gerade weil »die atomare Bedrohung die gesamte menschliche Gattung und das Schicksal der Welt betraf« (Foucault 2003h: 207), konnte von dieser spezifischen Position innerhalb der Wissenschaften eine breite gesellschaftliche Politisierung ausgehen. Hierin liegt das Exemplarische. Ein bestimmtes Wissen in seine gesellschaftlichen Bezüge und politischen Verwendungen zu stellen, darin besteht die Aufgabe des spezifischen Intellektuellen. Daraus erwächst aber auch seine allgemeine Bedeutung. Denn ob als Mediziner, Psychiater, Genetiker, Physiker oder Informatiker, stets bleibt er in die »allgemeinen Funktionen des Wahrheitsdispositivs in einer Gesellschaft wie der unseren eingebunden.« (Foucault 2003h: 211) Der spezifische Intellektuelle als intimer Kenner seiner Materie repräsentiert eine andere Allgemeinheit, die sich nicht mehr der Durchsetzung ewiger Wahrheit, sondern der Kämpfe um konkrete Wahrheiten, der Wahrheitspolitik seiner Zeit verpflichtet fühlt.

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Begreifen und Begriffe: Biomacht und Gouvernementalität Die Studien zur Bio-Macht und zur Gouvernementalität reflektieren die Neuaufladung des Politischen. Sie versuchen das Verhältnis von Subjektivitäten und Staat neu zu bedenken. Es sind zum einen staatskritische Untersuchungen, da sie den modernen Staat als eine »Matrix der Individualisierung« (Foucault 2005d: 278) analysieren, der Subjektivitäten hervorbringt und formt, reguliert und normalisiert. Aber zum anderen – und darin liegt das Aktuelle, das Foucault als einen Historiker der Gegenwart herausfordert – entfalten sie einen diagnostischen Blick auf die Krisenanfälligkeit dieser Subjektivierungen. Je dominanter der Wille zur Selbstbestimmung, umso problematischer die systemische Einfassung. 68 ist ein Symptom, dass Subjekt und System nicht mehr passfähig sind. Im Dezember 1978 verbindet Foucault in seinem Gespräch mit dem italienischen Philosophen Ducio Trombadori dieses prekäre Verhältnis von aktueller Subjektivität und Regierung: »Mir scheint in der Tat, dass sich hinter der gegenwärtigen ökonomischen Krise und den großen Gegensätzen und Konflikten, die zwischen reichen und armen Nationen (industrialisierten und nichtindustrialisierten Ländern) absehbar werden, eine Krise der Regierung abzeichnet. Unter Regierung verstehe ich die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung. [...] Sämtliche Prozeduren, mit denen die Menschen einander führen, sind erneut in Frage gestellt worden, natürlich nicht von denen, die die Führung innehaben, die regieren, selbst wenn sie nicht umhinkönnen, die Schwierigkeiten zur Kenntnis zu nehmen. Wir stehen vielleicht am Beginn einer großen krisenhaften Neueinschätzung des Problems der Regierung.« (Foucault 2005e: 116f.)

Der Begriff der Bio-Macht beschreibt den Versuch des aufgeklärten Absolutismus, erstmals in qualitativ bedeutender Weise die Kräfte der menschlichen Gattung in den Raum einer gezielten und kontinuierlichen politischen Verwaltung zu bringen. Das Leben ist von diesem historischen Moment an nicht einfach ›da‹, sondern »in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren.« (Foucault 1977: 171) Wie Marx begreift Foucault den singulären historischen Komplex namens Kapitalismus als eine ungeheuere Produktionsmaschine, die Humanes verschlingt wie hervorbringt. In dem Maße, in dem die industrielle Dynamik voranschreitet, wird die Nutzbarmachung der humanen Subjektivitäten immer dringlicher. Foucault fasst diesen Tatbestand in die Vokabel der »Kräfte«. Das humane Subjekt ist ein Kräfteensemble. Immer geht es um dessen lebendige Kräfte, um ihre Entfesselung, Stimulierung und Neuzusammensetzung, im Kern um die organisierte und kontinuierliche »Steigerung der kollektiven und individuellen Kräfte« (Foucault 1977: 37).

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Zwischen der begrifflichen Erfindung dieser Bio-Macht und dem Auftauchen der Gouvernementalität erlaubt sich Foucault eine Atempause. 1977 ist sein Sabbatjahr am Collège de France. 1977 ist aber auch ein Jahr entscheidender politischer Weichenstellungen in Frankreich. Auf dem Parteitag der Französischen Sozialisten im Juni entwickelt Michel Rocard erstmals das Konzept der zwei Kulturen der Linken, einer etatistischjakobinischen und einer libertär-dezentralen. Die Debatte konzentriert sich um die Polarität von staatlichem Dirigismus und gesellschaftlicher Selbstverwaltung. »Autogestion« – eben Selbstverwaltung, Selbstorganisation, Selbstbestimmung – ist das Zauberwort der antiautoritären Linken. Im September 1977 zerbricht die Union de la Gauche, das Bündnis zwischen Sozialistischer und Kommunistischer Partei. Das politische Feld sortiert sich neu. Im Sommer 1977 erscheinen Foucaults Dispositive der Macht, in denen er sein Gesamtwerk in den Kontext von 1968 eingliedert, seine Politik der Kämpfe um Wahrheit entwickelt und den »spezifischen Intellektuellen» vorstellt. Foucault unterstützt die linksautonome Bewegung der italienischen Arbeiter und Studenten, ihren Kampf um ein Leben jenseits der Lohnarbeit, nimmt im September an einem großen Kongress der französischen Selbstverwaltungslinken teil und ist im Dezember in Berlin, um in die linke Szene der Stadt einzutauchen, einen Besuch, den er im März 1978 als Gast des »Tunix-Kongresses«, der Leistungsshow der alternativen Linken der alten Bundesrepublik, wiederholt. Im Dezember 1977 erscheint die einflussreiche Kulturzeitschrift L’Arc mit dem Titel: La crise dans la tête, also: »Die Krise im Kopf«, bzw. »Der Höhepunkt der Krise«. Das Heft ist Foucault gewidmet und untersucht die von den sogenannten »Neuen Philosophen« aufgeworfenen Vorwürfe an die traditionelle Linke. Der Boden ist also bereitet, als Foucault am 11. Januar 1978 seinen Vorlesungszyklus am Collège de France eröffnet. Er beginnt mit einer vorsichtigen Kritik der Bio-Macht, der er in ihrer frühen Ausformulierung eine zu starke autoritäre Tendenz attestiert. Tatsächlich geht es, so nun seine neue These, in der seit der Frühen Neuzeit entstehenden Politik um ein neues Verhältnis von staatlicher Souveränität und individueller Selbstbestimmung. Der Name für diese Beziehung ist »Gouvernementalität«. Sie verankert Foucault doppelt: realhistorisch, indem er sie aus der Zangenbewegung von frühneuzeitlicher Staats- und Subjektbildung erklärt, gegenwartshistorisch, indem er die Frage der modernen Politik als Problem der Regierung freier Menschen reformuliert. Der Rückgang in die Geschichte des modernen Staatsdenkens dient so zum einen der Klärung der Aktualität. Zum anderen ermöglicht die Verankerung im gegenwartsgeschichtlichen Apriori – die Erfahrungen und Kämpfe der 68er Bewegungen – eine neue historische Sichtweise. Diese unaufhebbare Symbiose bildet einen Grundzug der Genealogie.

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Kämpfe, Subjekte, umkämpfte Subjektivitäten Die Explosion an Subjektivitäten, die 1968 entbunden hat – an sozialer Erfahrung, politischem Engagement, kultureller Phantasie, wissenschaftlicher Neugier, ästhetischem Experiment, moralischer Umwertung usw. – ist der Humus der Gouvernementalität. In ihrer Dialektik von Selbst- und Fremdführung bringt sie aber zugleich etwas Vertracktes in der modernen Subjektivität zum Vorschein. Zwar sind die Kräfte im Subjekt gesellschaftlichen Ursprungs und verlangen eine ebensolche Orientierung. Aber die Möglichkeit, indem man sich dieser Kräfte bedient, zum Subjekt, zum Akteur seines Selbst zu werden, realisieren sich nur in dem Maße, wie diese Kräfte unter eine Regie genommen werden, die jedem objektivistischen Anspruch kritisch begegnet. Man wird nicht als Subjekt geboren, sondern muss sich dazu machen. Dieser unhintergehbaren Dialektik der modernen Subjektivierung gilt Foucaults Interesse. 1968 hat bei Foucault zunächst zu einer Wiederentdeckung der Politik als Feld von »Kämpfen« geführt. Er fordert eine »Geschichte der Besiegten« (Foucault 2003c: 505) und die theoretische Erfassung der Frage: »Was ist Kampf?« (Foucault 2003g: 761) Foucault unterscheidet hier drei Typen: Kämpfe gegen Herrschaft ethnischer, sozialer oder religiöser Art, Kämpfe gegen »Ausbeutung [...], die den Einzelnen von seinem Erzeugnis trennt«, und Kämpfe »gegen die Unterwerfung der Subjektivität« (Foucault 2005d: 275f.), was im Umkehrschluss bedeutet, Kämpfe um neue Subjektivitäten. Diesen letzten Kampftypus definiert Foucault für die Gegenwart als bestimmend. Die sozial- und kulturrevolutionären Bewegungen der 60er und 70er Jahre erkennt er als Kämpfe um neue Subjektivitäten an: »Es sind Kämpfe, die den Status des Individuums in Frage stellen. Einerseits treten sie für das Recht auf Anderssein ein, und betonen alles, was die Individualität des Individuums ausmacht. Andererseits wenden sie sich gegen alles, was das Individuum zu isolieren und von den anderen abzuschneiden vermag, was die Gemeinschaft spaltet, was den Einzelnen zwingt, sich in sich selbst zurückzuziehen, und was ihn an seine eigene Identität bindet. Diese Kämpfe werden nicht für oder gegen das ›Individuum‹ ausgetragen, sondern gegen die ›Lenkung durch Individualisierung‹.« (Foucault 2005d: 274)

In den Jahren 1977/78 beschäftigt sich Foucault intensiv mit diesen Fragen der Subjektivität innerhalb des politischen Kampfes. Ihn interessiert das Eigene einer Haltung, das sich im Widerstehen konstituiert und verändert. Von daher erklärt sich seine Bezugnahme auf die häretischen Bewegungen des spätmittelalterlichen Christentums, von daher seine frühe Fähigkeit, in der Vorlesung von 1979 den Neoliberalismus als eine neoautoritäre Form der Menschenführung zu entziffern. Das Herz seiner Vorlesung von 1978 bildet die Sitzung vom 1. März. Hier entfaltet er eine Genealogie des Ge-

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gen-Verhaltens. Dieses Wort erlaubt, »sich auf die aktive Bedeutung des Wortes ›Verhaltensführung‹ zu beziehen, Gegen-Verhalten im Sinne von Kampf gegen die zum Führen von anderen eingesetzten Verfahren.« (Foucault 2004: 292) In seinem berühmten Vortrag Was ist Kritik? vom 29. Mai 1978 konzentriert er diese Untersuchungen und definiert das kritische Gegenverhalten als genuinen Kontrahenten der neuzeitlichen Gestalten staatlicher Menschenführung. Es ist dieses Terrain, auf dem Foucaults Begegnung mit der iranischen Revolution stattfindet. Im September und November 1978 fliegt er jeweils für eine Woche im Auftrag der italienischen Zeitung Corriere della sera nach Teheran. Foucault ist weder Islamexperte noch Irankenner. Er will dicht an den Ereignissen sein, um sich im Gespräch mit den Akteuren und im direkten Augenschein ein eigenes Bild zu machen: »Es gilt, der Geburt der Ideen beizuwohnen und ihre explosive Kraft zu erleben, und dies nicht in den Büchern, in denen sie vorgestellt werden, sondern in den Ereignissen, in denen sich ihre Kraft zeigt, und in den Kämpfen, die für oder gegen sie geführt werden.« (Foucault 2003i: 886) Foucaults Artikel konterkarieren zunächst eine eurozentristische Sichtweise, die nur die Ebene des politischen Regimewechsels im Auge hat. In Abgrenzung zu den traditionellen Revolutionen verblüffen Foucault die iranischen Ereignisse als eine Massenbewegung »ohne Organisation, ohne Partei, ohne Avantgarde und ohne historisches Vorbild« (Lemke 2002: 79). Was bewirkt den Aufstand eines unbewaffneten Volkes, was eine Revolte, die ohne die Existenz eines langfristigen politischen Ziels auszukommen scheint? Foucaults Interesse gilt der subjektiven Dimension dieser Umwälzung. Die Frage des Islams als politischer Kraft, der islamischen Regierung als hierokratischer Gefahr taucht nur insoweit auf, als sie diese Subjektivität im politischen Kampf zu erklären hilft.1 Zweifellos unterschätzt Foucault den Herrschaftswillen der Gruppe um Khomeini. Zweifelsfrei entdeckt er aber auch eine Dimension subjektiver Radikalität, die sich jeder vorschnellen Erklärung entzieht. Kaum zufällig knüpft er in seiner Befragung dieses Phänomens an seine Vorlesung des Jahres 1978 und an seinen Vortrag Was ist Kritik? an. Hier wie dort hatte er die religiösen Häresien als eine wichtige Quelle der modernen Kritikhaltung ausgemacht. Nun erinnern ihn die Predigten der schiitischen Opposition an die »Stimme Savonarolas in Florenz, die der Wiedertäufer in Münster oder die der Presbyterianer zu Cromwells Zeiten.« (Foucault 2003j: 859)

1

Die aufgeregten Reaktionen auf Foucaults Iran-Artikel kranken an diesem Missverständnis, vgl. zuletzt: Afary/Anderson (2005). Sehr ausgewogen dagegen ein Exiliraner: »So falsch Foucault politisch lag, so wenig lassen die Artikel an seiner Integrität zweifeln. Anders als ihm vorgeworfen wurde, hat Foucault zu keiner Zeit die Revolution bedingungslos unterstützt.« (Kermani 2004: 11)

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Foucaults entscheidende Frage ist die nach der kollektiven Kraft, die einen solchen Willen trägt, und er antwortet hierauf mit einer bewusst irritierenden Vokabel: »Welche Bedeutung hat für die Menschen, die dort leben, jenes Ziel, das sie selbst um den Preis ihres Lebens anstreben und dessen bloße Möglichkeit bei uns seit der Renaissance und den großen Krisen des Christentums in Vergessenheit geraten ist, das Ziel einer politischen Spiritualität nämlich.« (Foucault 2003k: 870) Auch dieser Begriff ist bereits vor dem Aufbruch nach Teheran gefallen. In seiner Diskussion mit Historikern der Annales-Schule beschreibt Foucault damit am 20. Mai 1978 den Zusammenhang von Wahrheit und (Selbst)Regierung. Foucaults unleugbare Faszination durch die iranischen Ereignisse speist sich aus dieser eigenwilligen Interpretation. Ihn interessiert keine religiöse Dogmatik, kein politisches Kalkül, kein Kampf der Kulturen. Im Zentrum seiner Neugier steht die Wucht eines existentiellen Einsatzes, »in dem jeder bereit sei, alles für eine andere Welt zu geben (und für viele war dieses ›alles‹ nicht mehr und nicht weniger als ihr Leben).« (Foucault 2003l: 975) Die Antwort auf die »Frage, warum Menschen sich erheben und sagen: Es geht so nicht weiter« liefert der Wille, »ihr subjektives Dasein radikal zu verändern.« (Foucault 2003m: 936) Diese Konstellation erzeugt eine politische Dynamik, in der sich Subjektkonstitution und Gemeinschaftsbildung in einem gemeinsamen Akt realisieren: »Zwei Dinge haben der Bewegung im Iran ihre besondere Intensität verliehen: ein politisch sehr ausgeprägter Wille und der Wunsch nach einer radikalen Veränderung des Daseins. [...] Ich frage mich, wohin sie dieser einzigartige Weg führen wird, auf dem sie gegen ihr hartnäckiges Schicksal und gegen alles, was sie Jahrhunderte lang waren, nach ›etwas ganz anderem‹ suchen.« (Foucault 2003m: 943)

Den radikalen Bruch an eine Erneuerung der eigenen und der kollektiven Existenz zu binden, diese Wunschvorstellung der Akteure, die Foucault protokolliert und zweifelsfrei auch bejaht, hat sich als eine schreckliche Illusion herausgestellt – und Foucault ist einer der ersten, der dies selbstkritisch einräumt. Gegen die Exzesse des neuen Mullahregimes verteidigt er gerade diese, wie er es nennt, »revolutionäre Erfahrung« (Foucault 2003m: 938), die als Ereignis die Voraussetzung bildet, das Kontinuum einer Herrschaftsgeschichte aufzusprengen: »Menschen erheben sich, das ist eine Tatsache. Auf diesem Wege gelangt die Subjektivität (nicht der großen Männer, sondern jedes beliebigen Menschen) in die Geschichte und haucht ihr Leben ein. [...] Für den Menschen, der sich erhebt, gibt es letztlich keine Erklärung. Ein Mensch muss sich losreißen und den Faden der Geschichte samt ihrer langen Kausalketten durchtrennen, um die Todesge-

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fahr ›wirklich‹ der sicheren Pflicht zum Gehorsam vorziehen zu können.« (Foucault 2003n: 991, 987f.)

So dramatisch diese Redeweise ist: Die Idee einer Veränderung der Subjektivität im Kampf bleibt der wichtigste Schlüssel zum Verständnis der Problematisierung des Subjekts, die Foucaults Spätwerk bestimmt. Durch die Brille der iranischen Erfahrungen nimmt Foucault nun das Problem der Regierung von Subjektivitäten für eine gewichtige politische Theorie des 20. Jahrhunderts, den Neoliberalismus, erneut auf. In seinen Vorlesungen von 1979, die er unter den Titel Die Geburt der Biopolitik stellt, entwickelt er Spurenelemente einer Wissensgeschichte der Humankapitalisierung. Die Subjektivität bleibt der Zielpunkt, findet sich aber nun in der Perspektive einer Selbstformung thematisiert, die sich als Element einer systemischen Rationalität zu bestimmen hat. Foucault untersucht den deutschen und den amerikanischen Neoliberalismus, da beide Denkformen Elemente für eine Regierungskunst erfinden, die auf eine Ökonomisierung des Selbst zielen. Es handelt sich um eine »Umkehrung des Verhältnisses des Sozialen zum Wirtschaftlichen, [um] die Anwendung des ökonomischen Rasters auf ein Gebiet, das im Grunde seit dem 19. Jahrhundert, und vielleicht wahrscheinlich schon seit dem 18. Jahrhundert, im Kontrast zur Wirtschaft oder zumindest als Ergänzung zur Wirtschaft [...] beschrieben wurde.« (Foucault 2004a: 332)

Gezielt wird auf eine »Verallgemeinerung der Unternehmensform innerhalb des sozialen Körpers« (Foucault 2004a: 333), die das Individuum zu einem Selbstverhältnis der ökonomischen Rentabilität erzieht. Alles, was man tut, hat Kosten und muss Gewinn abwerfen. Die Ehe, die Erziehung, selbst die Kriminalität werden zu Fragen richtiger oder falscher Investitionsentscheidungen, das Leben zu einer Sache von Kapitalanlagen. Der homo oeconomicus ist der Mensch überhaupt.

Über die Genealogie des Subjekts hinaus Diese letzte Dimension der Biopolitik verweist auf Technologien der Menschenführung jüngsten Datums, die einhergehen mit einer neuen Phase der Produktivierung des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters. Weit davon entfernt auf den Menschen verzichten zu können, hat eine neue Form seiner Nutzbarmachung eingesetzt, die in erkennbarer Weise seines aktivierenden Selbstbezugs bedarf. Diese systemische Subjektivität, die jede Zumutung und Gemeinheit als Herausforderung feiert, ist der aktuelle Widerpart einer Genealogie des Subjekts. In seiner Vorlesung zur Hermeneutik des Subjekts nimmt Foucault eine kristallklar antisystemische Position ein, indem er behauptet,

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»dass es keinen anderen, ersten und letzten Punkt des Widerstands gegen die politische Macht gibt als die Beziehung seiner selbst zu sich.« (Foucault 2004b: 313) Dieser kritische Imperativ sollte gegen jedes neoliberale Missverständnis immunisieren. Dass er dies nicht tut, sagt mehr über die Interpreten der modernsten Lebenskünste aus und die Zustände, die sie hervorbringen, als über Foucault. Subjektivität ist für ihn stets ein Kampffeld, auf dem der Versuch, man selbst zu werden, ohne auf eine ahistorische Essenz zu rekurrieren, in Konflikt tritt mit den systemischen Anforderungen etwas Besonderes, Verwertbares und Marktförmiges zu sein. Ein derart Eigenes zu werden, ist ein enormer politischer Akt, ja vielleicht ist es der politische Akt überhaupt, da er die Demokratie als politische Assoziation mündiger Menschen konstituiert. Die subjektgeschichtliche Bedeutung der langen 60er Jahre liegt in der Entstehung von Gegen-Subjektivitäten, die quer zu den systemischen Erfordernissen des Fordismus liegen, aber dadurch auch zum Stimulus neuer systemischer Zumutungen werden. Michel Hardt und Antonio Negri (2002) betonen diese dialektische Gemengelage ebenso wie Luc Boltanski und Ève Chiapello (2003), die den neuen Geist des Kapitalismus beschreiben. Die Nähe der Foucaultschen Technologien des Selbst – Analysen, die akribisch Techniken und Erfahrungen der Selbstkonstitution unter jeweils veränderten politischen Rahmenbedingungen in Augenschein nehmen – und der neoliberalen Matrix der Lebensführungen ist also eine gegenwartsgeschichtliche, eine Verquickung, in der sich das Eigene und das Systemische unaufhebbar begegnen. Die Krise des Emanzipationsdenkens besitzt hier ihren subjektgeschichtlichen Grund. Emanzipation heißt stets Auseinandersetzung mit Heteronomie, heißt aber auch gegenwartsgeschichtliches Begreifen dessen, was Bedrückung, was Befreiung ist. Wo es keine Position der Widerständigkeit außerhalb der real existierenden Macht-Verhältnisse gibt, muss man diese Immanenz annehmen. Exakt dies ist Foucaults zentrale These: »Denn wenn sich im Kern der Machtbeziehungen und gleichsam als deren ständige Existenzbedingung eine gewisse ›Widerspenstigkeit‹ und störrische Freiheit findet, gibt es keine Machtbeziehung ohne Widerstand, ohne Ausweg oder Flucht, ohne möglichen Umschwung.« (Foucault 2005d: 292) Das Systemische und das Eigene, das Heteronome und das Autonome müssen in der historischen Dimension ihrer widersprüchlichen Symbiose befragt werden. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu denken. Es existiert keine Autonomie ohne systemische Zwänge. Es existiert aber auch kein soziales System ohne Verarbeitung der autonomen Ansprüche. Hierin liegt die Gefahr der Überwältigung, aber eben auch das Möglichkeitsmoment neuer Subjektivitäten, die quer zu den systemischen Erfordernissen liegen. Wie kann man heute dem Kafkaesken einer warenförmigen Subjektivität begegnen, die ihr Selbst auf den Märkten der diversen Kapitalarten optimal und effizient veräußern muss – und will? Wie könnte eine Entun-

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terwerfung von Subjektivität im Angesicht der neoliberalen Menschenführung aussehen? Das ist die Kardinalfrage. Zunächst erlaubt Foucaults Genealogie des Subjekts, das Problem richtig zu stellen. Heute auf ein ideales Subjekt zu setzen, dessen Autonomie längst zu einer betriebswirtschaftlichen Größe geworden ist, entspringt vorkritischem Denken. Auf allen Märkten wimmelt es von Anrufungen an das Subjekt, innovativ, kreativ, autonom zu sein. Jede Werbung strotzt von aktiven, smarten, selbstbewussten Pseudo-Subjekten. Allerorten kreischt es uns an, man selbst zu werden, zu jeder Veränderung bereit zu sein, in ständiger Habachthaltung zu leben. Letztlich: Jede Zumutung kopfnickend anzunehmen. Diese neoliberale Dynamik der Subjektivierung gilt es zu verstehen, um heutiger Herrschaft und Hegemonie, die sich elementar der Kräfte der Subjektivität bedienen, geistig gewachsen zu sein. In der gängigen Kritik des Neoliberalismus findet sich diese Erkenntnis kaum. Hier dominieren die objektiven Strukturen und Mächte – ein Manko, das im Übrigen tief blicken lässt auf die Gleichgültigkeit gegenüber der Frage der Subjektivität im politischen Kampf. Tatsächlich regiert der Neoliberalismus über die permanente Revolution der Menschenführung. Jede so genannte Reform produziert Konstellationen, in deren Verarbeitung sich die Subjekte verausgaben und verändern. Das von Foucault gemeinte Subjekt zielt in eine andere Richtung. Es meint eine Bekräftigung der Selbstkonstitution innerhalb und gegen alle systemischen Ansprüche. Wenn man diesem genealogischen Subjekt einen positiven Gehalt geben will, so liegt er in der reflektierten Distanznahme zu den systemischen Ansprüchen, die sich dem neoliberalen Subjekt als natürliches Korsett anbieten. Wir müssen neu lernen, nein zu sagen, und lernen, neu nein zu sagen. Schon dieses Wenige alltagspolitisch zu praktizieren, erfordert eine enorme Anstrengung. Not tut zudem eine Erinnerung an jene Differenz, die seit Kant, seit Hegel dem Subjekt die Würde seiner Autonomie verleiht. Dieses Subjekt wird als Resistenzgröße gedacht, als Grund wie letzte Reserve gegenüber den systemischen Imperativen. Und letztlich als Kraft, die den Gedanken möglich macht, der Welt, so wie sie ist, zu widerstehen. Nach dieser Kraft sucht auch Foucault. Seine obsessiven Fragen – »Wie kann man ein anderer werden?«, »Wie anders denken als man gedacht hat?«, »Wie eine Arbeit beginnen, deren Ergebnis im Dunkel liegt?« – artikulieren diese politische Suche nach Subjekt-Gestalten, die ihre Nicht-Identität mit dem Vorgesetzten als Qualität begreifen. Eine ontologische Garantie für ein kritisches Subjekt individueller oder kollektiver Art kann auch Foucault nicht geben. Aber mit seiner Genealogie des Subjekts liefert er nicht nur eine Historiographie resistenter Subjektfiguren, die von den antiken Kynikern über die mittelalterlichen Häretiker bis zu den modernen Lebensreformern, Revolutionären und Antiautoritären reicht. Er

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gibt uns zudem ein Instrumentarium an die Hand, das verteufelt ernste Problem der Subjektivität zu denken und politisch zu bearbeiten. Darunter ist es heute nicht mehr zu haben. Die »Technologien des Selbst« sind das bleibende Echo der 68er Bewegungen im Denken Foucaults. Sie erfassen den Wunsch nach einer neuen »Lebensweise« – eine zentrale Vokabel des späten Foucault –, deren Kraft darin besteht, dass sich die Art und Weise sein Leben zu führen in ergebnisoffenen Erfahrungen artikuliert. Gleichzeitig fixieren die Technologien die Selbstführungen als ein umkämpftes Phänomen, da die Kraft, sein Leben zu führen, mit der Übermacht korrespondiert, es systemisch tun zu müssen. Aus dieser unhintergehbaren Dialektik ergeben sich neue emanzipatorische Fragen. Denn »so wie das Subjekt der Hauptgegenstand und Kristallisationspunkt der Formierung durch die Ordnung ist, ist es auch das Einzige, wovon die Ordnungen bis ins Letzte abhängig sind, um zu existieren.« (Saar 2007: 340)

Literatur Afary, Janet/Anderson, Kevin B. (2005): Foucault and the Iranian Revolution. Gender and the seduction of Islamism. Chicago: University of Chicago Press. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève. (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Deleuze, Gilles: (1993): »Die Dinge aufbrechen, die Worte aufbrechen«. In: ders., Unterhandlungen. 1972-1990, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Eribon, Didier (1993): Michel Foucault. Eine Biographie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1977): Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1985): »Pour en finir avec les mensonges«. Nouvel Observateur, Nr.1076 (21.6.1985), p. 61. Foucault, Michel (1991): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuchverlag. Foucault, Michel (1996): Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia. Berlin: Merve Verlag. Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesung am Collège de France 1975-1976. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2002): »Gefängnisse und Gefängnisrevolten«. In: ders., Schriften. Band II, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 530-539. Foucault, Michel (2003): »Macht und Wissen«. In: ders., Schriften. Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 515-534.

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Foucault, Michel (2003a): »Das mythische Oberhaupt der Revolte im Iran«. In: ders., Schriften. Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 894897. Foucault, Michel (2003b): »›Das Flüchtlingsproblem ist ein Vorbote der großen Wanderungsbewegung des 21. Jahrhunderts‹«. In: ders., Schriften. Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 996-999. Foucault, Michel (2003c): »Folter ist Vernunft«. In: ders., Schriften. Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 505-514. Foucault, Michel (2003d): »Vorwort«. In: ders., Schriften. Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 176-180. Foucault, Michel (2003e): »Eine kulturelle Mobilmachung« In: ders., Schriften. Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 430-432. Foucault, Michel (2003f): »Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über«. In: ders., Schriften, Band III, Frankfurt/M.: Surhkamp, S. 298-309. Foucault, Michel (2003g): »Methodologie zur Erkenntnis der Welt: Wie man sich vom Marxismus befreien kann«. In: ders., Schriften. Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 748-775. Foucault, Michel (2003h): »Gespräch mit Michel Foucault«. In: ders., Schriften. Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 186-213. Foucault, Michel (2003i): »Die ›Ideenreportagen‹«. In: ders., Schriften, Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 885-886. Foucault, Michel (2003j): »Teheran: Der Glaube gegen den Schah«. In: ders., Schriften, Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 856-862. Foucault, Michel (2003k): »Wovon träumen die Iraner?« In: ders., Schriften, Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 862-870. Foucault, Michel (2003l): »Offener Brief an Mehdi Bazargan«. In: ders., Schriften. Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 974-977. Foucault, Michel (2003m): »Der Geist geistloser Zustände«. In: ders., Schriften. Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 929-943. Foucault, Michel (2003n): »Nutzlos, sich zu erheben?« In: ders., Schriften. Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 987-992. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 19771978. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2004a): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2004b): Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/82). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2005): »Michel Foucault: ›Die moralische und soziale Erfahrung der Polen kann nicht mehr ausgelöscht werden‹«. In: ders., Schriften. Band IV, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 412-420.

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Foucault, Michel (2005a): »Le Nouvel Observateur und die Vereinigte Linke«. In: ders., Schriften. Band IV, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 124126. Foucault, Michel (2005b): »Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit«. In: ders., Schriften. Band IV, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 875-902. Foucault, Michel (2005c): »Was ist Aufklärung?«. In: ders., Schriften. Band IV, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 837-848. Foucault, Michel (2005d): »Subjekt und Macht«. In: ders., Schriften. Band IV, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 269-294. Foucault, Michel (2005e): »Gespräch mit Ducio Trombadori«. In: ders., Schriften. Band IV, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 51-119. Frank, Manfred (1984): Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt/M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. 12 Vorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/M./New York: Campus Verlag. Kermani, Navid (2004): »Das rote Siegel der Echtheit. Heute vor 25 Jahren begann die iranische Revolution« Süddeutsche Zeitung, 11.2.2004, S. 11. Lemke, Thomas (2002): »›Die verrückteste Form der Revolte‹ – Michel Foucault und die Iranische Revolution«. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 17, 2, S. 73-89. Saar, Martin (2007): Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt/M./New York: Campus Verlag.

(Was heißt) Gegen-Verhalten im Neoliberalismus? JENS KASTNER »Even it´s easy to be free What´s your definition of freedom And who the fuck are you, anyway? Who the fuck are they? Who the fuck am I to say? What the fuck is really going on?« NOFX, »A perfect gouvernment« (Punk in drublic 1994)

In der in den letzten Jahren viel zitierten Geschichte der Gouvernementalität beschäftigt sich Michel Foucault mit so genannten Regierungsrationalitäten. Er setzt das Aufkommen des Regierungs-/Gouvernementalitätsgedankens historisch mit dem 16. Jahrhundert an und weist ihm für das beginnende 18. Jahrhundert neue, auch heute noch relevante Aspekte oder Dimensionen zu. Diesen widmet er sich vor allem in seinen Vorlesungen von 1979. In Auseinandersetzung mit den deutschen Ordo-Liberalen der 1960er Jahre wird Foucault selbst zu einem frühen Kritiker des Neoliberalismus. Ich denke, es ist nicht allzu gewagt zu behaupten, dass es gerade Foucaults zeitdiagnostisches Gespür oder, besser gesagt, seine analytische Weitsicht war, die ihn dazu gebracht hat, gerade die beginnende politische Durchsetzung des neoliberalen Paradigmas zum Ausgangspunkt zu nehmen, sich den darin verwirklichten Regierungsrationalitäten zu widmen. Denn schließlich sind es gerade die neoliberalen Umstrukturierungen des postfordistischen Zeitalters – die Deregulierungen der Sozial-, Gesundheits- und Bildungssysteme, die Privatisierungen und die kontrollierten Liberalisierungen des Handels –, die gouvernementale Praktiken »fördern

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und fordern« und jene Biopolitiken vorantreiben, die Foucault skizziert hat. Vorausgesetzt also, Foucault geht es in seiner Geschichte der Gouvernementalität auch darum, zum Verständnis gegenwärtiger Regierungsformen beizutragen, lassen sich auch die bereits mehrfach gestellten Fragen nach dem Status und den Möglichkeiten des Widerstands gegen diese Regierungsformen neu stellen.1 Denn bereits in der Vorlesungsreihe von 1978 äußert Foucault einen Gedanken, der sich wegen seines Dualismus kaum mit seinen eigenen Machtanalysen aus den frühen 1970er Jahren zu decken scheint. Und zwar macht er, noch in Auseinandersetzung mit dem christlichen Pastorat, eine »unmittelbare Korrelation zwischen Verhaltensführung und dem Gegen-Verhalten« (Foucault 2004a: 284) aus. Zwar gab es auch in Der Wille zum Wissen die – schon hunderte Male zitierte – Formel »[w]o es Macht gibt, gibt es Widerstand« (Foucault 1983: 116). Allerdings betonte Foucault gleich im Anschluss daran, das dieser Widerstand niemals außerhalb der Macht existieren und es demnach auch keine Orte der »großen Weigerung« geben könne, wie sie noch Herbert Marcuse (1970: 268) und dem aktivistischen Flügel der durch die Frankfurter Schule inspirierten Neuen Linken vorgeschwebt war. Mit dem Begriff des »Gegen-Verhaltens« nähert sich Foucault, so die hier vertretene These, wieder dieser Tradition der Neuen Linken an (oder grenzt sich wieder weniger von ihr ab). Innerhalb jener »komplexen strategischen Situation einer Gesellschaft« (Foucault 1983: 114), die Foucault »Macht« nennt, lässt sich demnach eindeutig zwischen Zustimmung und Ablehnung, zwischen Trägerschaft und bewusster Gegnerschaft unterscheiden. Ausgehend von den »Revolten der Verhaltensführung« (Foucault 2004a: 282), die Foucault bereits in der Geschichte ausmacht und in den Gouvernementalitätsvorlesungen beschreibt, lässt sich also fragen, was »Gegen-Verhalten« im Neoliberalismus bedeuten könnte, wo es herkommt, wie es aussieht und wogegen es sich eigentlich richtet.

Gouvernementalität und Gegen-Verhalten Historisch setzt Foucault die Formierung des neoliberalen Modells in Übereinstimmung mit anderen Studien (vgl. Dixon 1998, 2000, Plehwe/Walpen 1999) mit dem Walter Lippmann Symposium von 1939 an, einem Strategie-Treffen von neoliberalen Wirtschaftswissenschaftlern und Journalisten. Inhaltlich besteht der Kern des neoliberalen Projektes laut Foucault (2004b: 187) darin, die »Prinzipien einer Marktwirtschaft auf die allgemeine Regierungskunst zu beziehen oder abzubilden.« Die zentrale 1

»Das Problem«, schreibt Foucault (2004b: 187) in diesem Zusammenhang, »besteht darin, das Wissen über die Vergangenheit für die Erfahrung und Praxis der Gegenwart in Anschlag zu bringen.«

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Aufgabe der Regierungskunst besteht seit dem frühen 16. Jahrhundert in den theoretischen und praktischen Beantwortungen der Frage, wie sich eine »mustergültige Verwaltung der Individuen, der Güter und Reichtümer« (Foucault 2004a: 143) zustande bringen lässt. Der Haupteinsatz des Regierens sei es daher, die Ökonomie in die Ausübung der Politik einzuführen. Die Ökonomie, die dann später die Gouvernementalitäten ausmacht, ist vor allem eine »Ökonomie der Seelen« (Foucault 2004a: 279). Sie geht zurück auf das frühe Mittelalter und die zu dieser Zeit formulierten Ausrichtungen des christlichen Pastorats. Das Pastorat entwickelt sich zu einer »Kunst des Führens« (Foucault 2004a: 241) und ist sowohl auf die (christliche) Gemeinschaft als auch auf jede/n Einzelne/n gerichtet. In der Verzahnung der individuellen mit der kollektiven Ebene bildet sich auch die politische Relevanz des Pastorats und später der neoliberalen Gouvernementalität heraus. »Politisch« wird das Pastorat aber erst einige Jahrhunderte später, mit dem ausgehenden 16. und vor allem im 17. und 18. Jahrhundert: Als die Gouvernementalität, die Kunst des Führens und Geführtwerdens, »eine kalkulierte und überlegte politische Praxis« (Foucault 2004b: 242) geworden ist, entsteht auch der moderne Staat. Foucault (2004a: 267) betont, dass das Pastorat eine »absolut neue Machtform« ist, aber ein »Vorspiel zu dieser Gouvernementalität« (Foucault 2004a: 267), die die Geschichte des Subjekts in der westlichen Moderne geprägt hat. Das Pastorat gliedert sich um drei Beziehungen, nämlich jenen zum Heil, zum Gesetz und zur Wahrheit. Foucault unterteilt die Figur des Heils zunächst in vier, das Verhältnis des »Hirten« zu seinen »Schafen« charakterisierenden Bereiche2 und betont dann, dass das Christentum keine Religion des Gesetzes ist, dessen Vertreter der Pastor wäre. Statt um das stabile Gesetz dreht sich die christliche Religion um das Individuelle und das Konjunkturelle des Pastors, der damit eine »integrale Abhängigkeit« (Foucault 2004a: 255) erzeugt. Diese ist erstens eine Unterwerfungsbeziehnung, die zweitens aber nicht zielgerichtet ist – »im christlichen Gehorsam gibt es kein Ziel, denn wohin führt der christliche Gehorsam? Ganz einfach zum Gehorsam.« (Foucault 2004a: 258) – und drittens eine Beziehung von Knechtschaft und Dienst: Die Schafe müssen ihrem Hirten Knechte sein, dieser aber ist auch ihnen zum Dienst verpflichtet. Die Beziehung des Pastorats zur Wahrheit besteht aus der Lenkung des täglichen Verhaltens und der Gewissensleitung. Letztere unterteilt sich in drei verschiedene Formen, erstens ist sie nicht freiwillig, es geht also nicht ohne Leitung des Gewissens, zweitens ist sie unabhängig von irgendwelchen Umständen, es bedarf also keiner Krisen oder Nöte, die Entscheidungen 2

Foucault nennt diese Beziehungen das der »analytischen Verantwortlichkeit«, das »Prinzip des erschöpfenden und unverzüglichen Transfers«, das »Prinzip der Inversion der Opferung« und »Prinzip der alternierenden Konvergenz« (vgl. Foucault 2004a: 247ff.).

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forderten, um sie auszulösen, und drittens ist das Gewissen nicht der (innere) Gegenpol zur (äußeren) Abhängigkeit vom Pastor. Die Gewissensbefragung im christlichen Pastorat dient vielmehr dazu, das Abhängigkeitsverhältnis noch zu steigern und zu verankern. Nicht Heil, Gesetz und Wahrheit allein machen das christliche Pastorat aus, sondern »die neuen Beziehungen von Verdiensten und Verfehlungen, von absolutem Gehorsam, von der Erzeugung verborgener Wahrheiten« (Foucault 2004a: 267). Aus diesem »Vorspiel« des Pastorats bilden sich vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jene »Selbsttechnologien« (Lemke/Krassmann/Bröckling 2000: 30), die die Herrschaftsformen der neoliberalen Gouvernementalität ausmachen: Die Umstrukturierungen der globalen Ökonomie werden von solchen Regierungstechniken begleitet: Die bis dahin von staatlichen Apparaten und Instanzen dominierten Führungskapazitäten verlagern sich auf das Individuum selbst. Ehemals emanzipatorisch konnotierte Begriffe und Verhaltensformen wie Selbstverantwortung, Eigeninitiative und Rationalität werden im Kontext von Deregulierung und Privatisierung und der »Ausrichtung des eigenen Lebens an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen« (Lemke/Krassmann/Bröckling 2000: 30) zu zentralen neoliberalen Machtmechanismen. Wenn dies die wesentlichen Grundlagen der gegenwärtigen »Ökonomie der Seelen« sind und die (post)modernen Subjektivierungen durchziehen, wie, fragt man sich dann, kommt es überhaupt zu »Gegen-Verhalten« und »Verhaltensrevolten«?3 Foucaults Ringen darum, trotz und angesichts dieser Regierungen noch »Widerstandsbrennpunkte« auszumachen, wird von Gilles Deleuze (1993: 134) beschrieben: An der Frage, woher sie kommen, habe Foucault lange gesessen, »um eine Lösung zu finden, denn in Wirklichkeit handelt es sich darum«, so Deleuze, »sie zu schaffen.« Aber anstatt die Punkte des Widerstands erst in der nachträglichen Deskription herzustellen, lässt sich im Anschluss an Michel de Certeau noch eine weitere Möglichkeit aufzeigen, wo solche Praktiken zu finden sind bzw. wie sie entstehen. Im Hinblick auf Foucaults zeitdiagnostische Signatur der Disziplinargesellschaft merkt de Certeau an, dass die beschriebenen Technologien und Prozeduren der Macht niemals total und alle gesellschaftlichen Bereiche umfassend sein können. Unter der Dominanz der panoptischen Dispositive der Disziplinargesellschaft hätten immer eine Reihe von anderen, »verstreuten Praktiken« (de Certeau 1988: 110) überlebt, die die Kohärenz aller anderen Prozeduren in Frage zu stellen vermochten. Gleiches müsste also auch für die gouvernementalen Dispositive gelten, es müssten letztlich immer Brennpunkt oder Inseln des GegenVerhaltens existieren, die der Gesamtheit der Prozeduren der Macht entgehen. 3

Eine Frage, die man sich allerdings nicht unbedingt stellen muss, vgl. Kupke in diesem Band.

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Foucault selbst macht zur Frage der Entstehung des Gegen-Verhaltens drei Anmerkungen, wobei die erste gleich der soeben in Anlehnung an de Certeau geäußerten Annahme widerspricht. Denn Foucault kehrt erstens die zunächst nahe gelegte Entwicklungsrichtung um und behauptet, die Widerstände entwickelten sich nicht aus dem, was das Pastorat nicht erreicht, übrig lässt, vernachlässigt oder wo seine Kapazitäten nicht ausreichen – also auch nicht aus »verstreuten Praktiken«. Stattdessen entsteht das Pastorat umgekehrt erst als Reaktion auf das, was im Rückblick »Unordnung« genannt werden kann.4 Zweitens müssen Verhaltensrevolten nicht politischer oder ökonomischer Art sein, sondern können sich an anderen, spezifischen sozialen Kämpfen entwickeln, beispielsweise an jenem um den »Status der Frauen« (Foucault 2004a: 285), der immer wieder zu »Revolten der Verhaltensführung« geführt habe. Drittens haben sich die Verhaltenskonflikte von den religiösen Institutionen in dem Maße abgelöst und auf die politische Ebene verlagert, in dem die Gouvernementalitäten sich etablierten: Die Verhaltenskonflikte entstehen »an den äußersten Grenzen, an den Rändern der politischen Institutionen« (Foucault 2004a: 286). »Revolten der Verhaltensführung« scheren nicht komplett aus dem Modell oder Bereich der Führungen aus, sondern Foucault (2004a: 282) beschreibt sie als Bewegungen, »die eine andere Verhaltensführung zum Zielobjekt haben, das heißt Anders-geführt-werden-wollen, durch andere Leiter (conducteur) und durch andere Hirten, zu anderen Zielen und zu anderen Heilsformen, mittels anderer Prozeduren und anderer Methoden.« Konkret nennt er drei verbreitete Formen des »Gegen-Verhaltens«: Erstens die »Desertion«, zweitens die Geheimgesellschaften oder Klandestinität schlechthin und drittens den »medizinischen Dissenz« (vgl. Foucault 2004a: 287ff.) Hinsichtlich der eingangs gestellten Frage, was GegenVerhalten unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen bedeuten kann, soll im Folgenden an die ersten beiden Formen angeknüpft werden. Ausgehend von Foucaults Beispielen werden im Folgenden zwei Kategorien von Gegen-Verhalten unterschieden, die »kollektives GegenVerhalten« und »Gegen-Verhalten der Subjektivierung« genannt werden.

4

Damit tendiert Foucault beinahe zu einem postoperaistischen Optimismus, der aus einem analytischen »Primat der Kämpfe« auch eine normativ schließt, Repressionen und anderen Herrschaftstechniken entstünden erst als Reaktionen auf die Klassenkämpfe bzw. die Kämpfe der Multitude.

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Das Kollektive Gegen-Verhalten und das Gegen-Verhalten der Subjektivierung Räte der Guten Regierung oder das Kollektive Gegen-Verhalten Als im November 1983 im südmexikanischen Urwald die Guerilla-Bewegung Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) gegründet wurde, war das ein klandestiner Vorgang par excellence. Am 1. Januar 1994 begann der offizielle Aufstand der Zapatistas, der sich gegen die rassistische Exklusion der indigenen Bevölkerung, gegen die Armut in den ländlichen Regionen, aber auch gegen den Neoliberalismus im Allgemeinen wendete. Und bis heute heißt auch das Entscheidungen fällende Gremium der wortgewaltigen Guerilla Klandestines Indigenes Revolutionäres Komitee – Generalkommandantur der EZLN. Als die Zapatistas dann im Sommer 2003 die Verwaltungsstrukturen der von ihnen kontrollierten 38 Landkreise reformierten und neben den neu geschaffenen Verwaltungseinheiten, Caracoles genannt, auch noch die Räte der Guten Regierung ins Leben riefen, hätte man meinen können, hier sei die erste foucaultistische Aufstandsbewegung der Welt am Werk. Dabei war diese Umstrukturierung zunächst eine Reaktion auf die ausbleibende Umsetzung der Verträge von San Andrés, die die Guerilla mit der Regierung 1996 abgeschlossen hatte und die der indigenen Bevölkerung kulturelle Rechte und Autonomie garantieren sollten. Des Weiteren wurden die Räte der Guten Regierung aber auch deshalb gegründet, um mit der Stärkung der Gemeinden (von denen die Juntas gestellt werden) die eigene militärische Struktur weiter zurückzudrängen und den in Gang gesetzten basisdemokratischen Prozess zu stärken. Auch wenn ich davon überzeugt bin, dass Foucault seine Freude am Aufstand der Zapatistas gehabt hätte (eine Überzeugung, die sich aus seinen begeisterten Schilderungen der frühen, parteiunabhängigen, spontaneistischen, basisdemokratischen Phasen der iranischen Revolution speist), ob die »Guten Regierungen« auch gute Regierungen im Sinne des Foucaultschen Gouvernementalitätsansatzes sind, muss hingegen fraglich bleiben (vgl. Kastner 2004). Denn es scheint, als ließe Foucault hinsichtlich alternativer Gouvernementalitäten kaum einen Zweifel aufkommen, wenn er schreibt: »Ich glaube jedoch, dass es keine autonome sozialistische Gouvernementalität gibt. Es gibt keine Regierungsrationalität des Sozialismus.« (Foucault 2004b: 134f.) Zu diesem apodiktischen Satz gelangt er in Auseinandersetzung mit der deutschen Sozialdemokratie der Nachkriegszeit. Hier betont er, dass erst die Einführung einer bestimmten wirtschaftlichen Funktionsweise die Legitimation des Staates geschaffen habe – und nicht umgekehrt. Demnach waren also weder alternative Regierungsrationalitäten jenseits des (neo-)liberalen Paradigmas vorgesehen, noch wurden sie entwickelt. Deshalb spricht Foucault dem Sozialismus überhaupt eine intrinsische

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Gouvernementalität ab, er sei vielmehr »immer ein Zweig einer Gouvernementalität« (Foucault 2004b: 136). Demgegenüber können die Juntas de Buen Gobierno aber durchaus als organisiertes kollektives Gegen-Verhalten interpretiert werden. Im Gegensatz zu einer eigenen, alternativen Gouvernementalität existiert dabei noch keine ausgefeilte programmatische Arbeit an den Interessen sowie dem Begehren und den Wünschen der Einzelnen. Stattdessen besteht es vor allem in der Ablehnung der neoliberalen Gouvernementalität, die bei den Zapatistas explizit ist. Die Etablierung alternativer Institutionen in den Bereichen der Bildung, des Gesundheitswesens und einer solidarischen Ökonomie heben sich deutlich von der neoliberalen Staatsdoktrin ab.5 Die Juntas de Buen Gobierno sind aber nicht nur eine basisdemokratische Verwaltungsstruktur, die sich insbesondere durch das imperative Mandat ihrer Mitglieder ausgezeichnet. Sie sind darüber hinaus auch im Kontext einer kollektiven Organisierungspraxis zu sehen, die ihre eigenen Institutionen immer wieder in Frage stellt. Die durch dieses Infragestellen produzierten Formen permanenter »Instituierung« (Cornelius Castoriadis) betreffen auch die indigenen Traditionen, auf die die Kollektivität sich – neben der linksradikalen Geschichte von Idee und Praxis der Rätedemokratien – stützt.6 So werden beispielsweise die frauenfeindlichen Traditionen durchaus hinterfragt und in gewissermaßen »kleinen« Verhaltensrevolten (der Frauen) innerhalb der »großen« Verhaltensrevolte (der Zapatistas) wird versucht, sie abzuschaffen.7 Abgesehen davon, dass der Zapatismus sich gerade gegen eine durchgesetzte staatlich-neoliberale Doktrin formiert hat, geht in den zapatistischen Organisierungen – im Gegensatz zu allen von Foucault kritisierten sozialdemokratischen Politiken – die Legitimierung des Zusammenlebens der ökonomischen Gestaltung voraus. Dem zu Grunde liegt nicht ein vorbestimmter Plan im Sinne sozialistischer Modelle, sondern das libertäre 5

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Die Redaktion der Zeitschrift Peripherie (2003: 405) weist in ihrem Heft zum Thema zu Recht darauf hin, dass solche Praktiken im Sinne eines Kampfes um Hegemonie interpretiert werden können, auch wenn Neue Soziale Bewegungen mit dem Gouvernementalitäts-Ansatz, anders als zuvor, »nicht per se als emanzipative Akteure gesehen, sondern […] (als) eingebunden in die Spiele der Macht« betrachtet werden müssen, zu deren Verherrschaftung sie oft beitragen. »Die Institution der Gesellschaft durch die instituierende Gesellschaft lehnt sich an die primäre natürliche Schicht des Gegebenen an und steht mit dem bereits Instituierten immer – bis zu einem niemals auslotbaren Ursprung – in einer Beziehung des Aufnehmens/Anderswerdenlassens.« (Castoriadis 1990: 603f.) Während Foucault die Kämpfe um den »Status der Frauen« (Foucault 2004a: 285), wie oben geschildert, eher den »sozialen« als den politischen Kämpfen zurechnet, werden sie im Zapatismus durchaus als politische Frage behandelt: Sie werden daher als der »Aufstand vor dem Aufstand« und der »Kampf innerhalb des Kampfes« bezeichnet (vgl. Topitas 1994: 79-104 und Millán 2000).

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und prozesshafte Politikverständnis des »preguntando caminar«, des fragenden Voranschreitens. Dabei werden, ausgehend von einer grundsätzlichen Ablehnung der staatlich-neoliberalen Repräsentationsformen, auf verschiedenen Ebenen – sowohl in den zapatistischen Gemeinden, als auch Mexiko-weit und global – basisdemokratische Mobilisierungsprozesse. Über die konkrete Organisierung der zapatistischen Gemeinden ließe sich Foucaults Motiv der Klandestinität auch noch in einem ausgeweiteten Sinne anwenden: Sowohl in ihren Versuchen, die eigene Basis nicht auf die indigenen Gemeinden in Chiapas zu beschränken, als auch im Hinblick auf ihre Solidarisierung mit anderen Marginalisierten, haben sich die Zapatistas mehrfach positiv auf illegale Migrantinnen und Migranten bezogen – auf Spanisch kurz Clandestinos genannt. Klandestinität wird dabei einerseits als brutales Produkt der Migrationregime kritisiert, andererseits aber auch – um den Opfer-Status der Klandestinen nicht erneut festzuschreiben – als nonkonforme, die (Migrations)Gesetze immer wieder brechende Daseinsform beschrieben. Eine Existenzweise, die offenbar auch als popkulturelles Identifikationsangebot funktionierte: Die prozapatistische Platte von Manu Chao mit dem Titel Clandestino (1998) wurde geradezu zur Hymnensammlung der globalisierungskritischen Bewegung. Anders als bei der konkreten Organisierung der Juntas de Buen Gobierno muss hier allerdings offen bleiben, inwiefern der Begriff des Gegen-Verhaltens in Anschlag zu bringen ist. Denn weder das Hören einer CD noch die »Bewegung der Bewegungen« als ganze kann ohne weiteres als kollektives Gegen-Verhalten beschrieben werden, ohne sowohl die Kategorie der Kollektivität als auch den Begriff des Gegen-Verhaltens im Diffusen verschwimmen zu lassen. Ganz davon abgesehen, dass auch die massenhafte temporäre Identifikation mit der Klandestinität die konkreten Verhältnisse eher verschleiern, die sie erforderlich machen.

Ziviler Ungehorsam oder das Gegen-Verhalten der Subjektivierung Eine zweite, spezifischere Form des Gegen-Verhaltens sieht Foucault in der Desertion. Er hebt hier vor allem auf individuelles Handeln ab, auf das Nicht-Befolgen von Befehlen, das Brechen von Normen oder ganz einfach die Verweigerung von Zustimmung. Ob es dabei darum geht, eine »andere Wahrheit« über sich selbst zu erfinden und auszusprechen, oder überhaupt Sprache, Ausdruck, Existenz jenseits subjektivierender Wahrheitsregime zu erschaffen, wird dabei nicht ganz klar. Jedenfalls, so betont Deleuze, ging es bei Foucault nicht um eine »Rückkehr« zum Subjekt, sondern immer um Subjektivierung als einen Prozess oder um das Selbst als ein Verhältnis (zu sich selbst), aber nicht um Subjekt als Identität oder Person. Bei der Subjektivierung handelt es sich um ein »Kräfteverhältnis mit sich (während die Macht Kräfteverhältnis mit anderen Kräften war), um eine

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›Faltung‹ der Kraft. Je nachdem, wie die Kraftlinie gefaltet wird, handelt es sich um die Konstitution von Existenzweisen oder die Erfindung von Lebensmöglichkeiten, […]: die Existenz nicht als Subjekt, sondern als Kunstwerk.« (Deleuze 1993: 134) Gerade diese »Erfindung von Lebensmöglichkeiten« allerdings gilt es, wie abschließend zu diskutieren sein wird, gegen den Neoliberalismus zu verteidigen. Es sei zunächst auf die allgemein strukturellen und dann auf die spezifisch politischen Dimensionen der Desertion hingewiesen. Denn mit der Desertion als Beispiel macht Foucault auch deutlich, dass diese Verweigerungen sich auf Strukturen beziehen, nämlich auf den Krieg als Modell der Politik, auf die Armee als disziplinarischen Verband, auf den Staat als das Leben der einzelnen strukturierendes Geflecht von Kräfteverhältnissen. Implizit knüpft Foucault damit an eine lange linke Tradition ungehorsamen Verhaltens an, die in der Geschichte der Moderne ihren manifesten Ausgangspunkt wahrscheinlich bei der Schrift Über den Ungehorsam gegen den Staat (1849) von Henry David Thoreau hat. In der Geschichte sozialer Bewegungen hat dieser Aufsatz eine enorme Rolle gespielt und unzählige, individuelle wie auch kollektive Aktionsformen inspiriert: Von der antikolonialen Bewegung in Indien über die US-amerikanische, schwarze Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre bis hin zu Kriegsdienstverweigerungen, Anti-Atom- und Antikriegs-Protesten.8 Schon Thoreau entwickelt – wie später Foucault – seine Gedanken in Abgrenzung zu strukturellem Unrecht. Seine konkret historischen Ansatzpunkte sind zum einen die Sklaverei und zum anderen der Krieg (konkret jener Krieg der USA gegen Mexiko 1846-1848).9 8

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Am Beispiel der US-amerikanischen Bürger- und Bürgerinnenrechtsbewegung beschreibt Clayborne Carson (2004) auch die Eigenständigkeit des gewaltfreien Kampfes und des zivilen Ungehorsams. Er formuliert auf diese Weise inhaltlich wie formal eine Geschichte dieses Widerstands, die der gängigen teleologischen Beschreibung vom zivilen Ungehorsam zum bewaffneten Kampf fundamental widerspricht. Die Entwicklung von der AntiSegregation über die Bürgerrechtsforderung zu Black Power und dem schwarzen Nationalismus erscheint in Carsons Perspektive nicht wie eine logische Radikalisierung, sondern als ein widersprüchlicher, umkämpfter Prozess. Und als ein Weg, in dem sich die direkte gewaltfreie Aktion im Gegensatz zu später hegemonialen Aktionsformen (bzw. den Ideen dazu) nicht nur als die basisdemokratischere, sondern auch als die wirkungsvollere erwiesen hat. Allerdings wurde die gesetzliche Umsetzung von Bürgerrechtsforderungen, wie Carson erstaunt feststellt, von der Bewegung selbst kaum als Erfolg wahrgenommen. Oliver Marchart schreibt, die Sklaverei sei »in der historisch-politischen Konjunktur Thoreaus jener Knotenpunkt, in dem sich alle anderen politischen Fragen zusammenziehen und verdichten.« Den Krieg, der für das Beispiel der Desertion als Gegen-Verhalten entscheidend ist, erwähnt Marchart nicht. Thoreau selbst lässt über die beiden gleichwertigen Anlässe seiner Schrift aber kaum einen Zweifel: »(W)enn ein Sechstel der Bevölkerung einer Nation, die sich selbst zu einer Zuflucht der Freiheit gemacht hat, versklavt ist, und wenn ein ganzes Land widerrechtlich überrannt, von einer

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Oliver Marchart (2006: 199) beschreibt den Ansatz Thoreaus treffend als »exemplarischen Aktivismus. Es ist das Individuum, das zur Aktion schreitet, unabhängig von der Frage, ob es eine Mehrheit, ja ob es überhaupt Verbündete findet.« Marchart verteidigt diese aktive Verweigerungshaltung zwar gegen jene passivistische, die in Herman Melvilles Figur des Bartleby (»I would prefer not to«) zum Ausdruck kommt und die im Umkreis postoperaistischer Theorie, u. a. bei Antonio Negri und Michael Hardt, zum empfohlenen Widerstandsmodell geworden sei. Allerdings erscheint ihm gerade der Individualismus Thoreaus problematisch, tendenziell sogar suizidär, weil der/die Einzelne ohne Verbündete letztlich der politischen Situation ebenso wie der Gefahr ausgeliefert sei, wieder in Passivität zurückfallen. Dem liegt allerdings ein Begriff des Politischen zu Grunde, der individuelles Verhalten überhaupt nicht als politisch auffassen kann. »Politisches Handeln im strengen Sinn«, schreibt Marchart (2006: 205), »wird immer kollektiv sein und Organisation erfordern.« Die Desertion oder die Verweigerung muss aber nicht ein unpolitischer individualistischer Akt bleiben. Einerseits wurde gerade nach dem Abhandenkommen des vorher sicher geglaubten kollektiven Subjektes gesellschaftlicher Veränderung versucht, individuelles Verhalten von Verweigerungen gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen theoretisch wie praktisch als neue politische Perspektive stark zu machen. So hatte Marcuse die »große Weigerung« ausgerufen und damit eine Tradition begründet, die sich nicht bloß in den Sackgassen eines dualistischen Weltbildes verlief und/oder sich der Illusion eines außerhalb »des Systems« liegenden Standpunktes der Kritik hingab. In ihr findet sich auch die Wertschätzung gegenüber den vielen kleinen, alltäglichen Verweigerungen begründet, denen dann die Cultural Studies so viel Aufmerksamkeit gewidmet haben. Andererseits aber hat sich auch die ganz konkrete Verweigerung, die von Foucault angesprochene Desertion, keineswegs immer als unpolitische Tat verstanden. Sie muss sich keineswegs darauf beschränken, nur eine Zuwiderhandlung oder ein einzelner Gesetzesbruch zu sein, sondern sie kann, wie Foucault (2004a: 287) ausführt, darüber hinaus als »eine Verweigerung der staatsbürgerlichen Erziehung, als eine Verweigerung der von der Gesellschaft angebotenen Werte, auch als Verweigerung eines als verpflichtend angesehenen Verhältnisses zur Nation und zum Heil der Nation, als eine gewisse Verweigerung des in dieser Nation tatsächlich vorhandenen politischen Systems […]« verstanden werden. Es handelt sich bei der Desertion also unter Umständen um ein eminent politisches Verhalten. Foucault knüpft insofern mit dieser Schilderung nicht nur an den ebenso viel zitierten wie »befolgten« Appell Thoreaus an, »…wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unfremden Armee erobert und dem Kriegsrecht unterworfen wird, dann, meine ich, ist es nicht zu früh für ehrlich Leute, aufzustehen und zu rebellieren.« (Thoreau 1973: 11)

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rechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz.« (Thoreau 1973: 18)10 Ebenso wenig, wie die Desertion in der Perspektive Foucaults allein auf unpolitische individuelle Akte beschränkt bleibt, bezieht sie sich allein auf den Gesetzesbruch. Dies muss gerade unter neoliberalen Bedingungen hervorgehoben werden, unter denen immer weniger repressive Gesetze als vielmehr Wahrheitsregime und andere Formen der Einbindung das Regieren kennzeichnen.11 Gerade unter neoliberalen Bedingungen, unter denen die »Ökonomisierung des Sozialen« nicht nur die Entmachtung jener Apparate bedeutet, die Pierre Bourdieu die »linke Hand des Staates« genannt hat, also soziale Dienste im weitesten Sinne, sondern auch die Bewertung und Ausrichtung individuellen Verhaltens an Kriterien des Nutzens, des Profits, allgemein der Wirtschaftlichkeit, bleibt die Deleuzesche Frage nach dem Kunstwerk, der »Erfindung von Lebensmöglichkeiten« evident. Sie kulminiert quasi in einer, aus der anarchistischen Tradition bekannten ethischen Dimension des Politischen. Auch bei Thoreau ist diese Dimension schon angelegt, wenn es in Über die Pflicht zum Ungehorsam… nur ein paar Zeilen nach der gerade zitierten, berühmten Passage, in aller Schlichtheit auf die stets aktuelle Frage der Mitmacherinnen und Mitmacher, was man denn schon tun könne, heißt: »Ein Mensch soll nicht alles tun, sondern etwas; und weil er nicht alles tun kann, soll er nicht ausgerechnet etwas Unrechtes tun.« (Thoreau 1973: 18)

»… in die Wirklichkeit eintragen«. Gegen-Verhalten im Neoliberalismus Da sich die Formen und Mechanismen des Regierens permanent verändern, muss gleiches auch für das Gegen-Verhalten gelten, und zwar für beide beschriebenen Kategorien. Diese Flexibilität des Gegen-Verhaltens ist erst recht deshalb gefragt, weil nicht selten vergangene Formen ungehorsamen Verhaltens zu späteren Herrschaftstechniken umfunktioniert werden oder sich zumindest in diese eingliedern. Gerade für die gegenwärtige neoliberale Phase des Kapitalismus ist diese Form der Transformation 10 Die individuelle Entscheidung einer Totalen Kriegsdienstverweigerung, also der Ablehnung von Militär- wie Zivildienstes, wurde von den meisten Totalverweigerern politisch begründet. In vielen Fällen wurden zudem die Prozesse zur öffentlichen Infragestellung des Wehrdienstes und des staatlichen Zugriffsrechts auf Individuen genutzt. Ob »politisches Handeln« grundsätzlich im Hinblick auf die Motivation des/der Handelnden oder auf die Wirkungen bzw. die Effekte dieses Handels oder auf beides gemeinsam hin definiert wird, in allen Fällen ist der Totalverweigerung das Politische kaum abzusprechen. 11 Staatliche Repression als ein nach wie vor wichtiges Mittel zur Durchsetzung von Herrschaft wird nicht geleugnet, auch wenn die Repressionshypothese verworfen wird (vgl. Kastner 2006a).

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u. a. auch im Foucaultschen Begriffsrahmen beschrieben worden: So skizziert beispielsweise Isabell Lorey (2006) gerade jene im Zusammenhang mit den sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre entwickelten, dissidenten Verhaltensweisen gewissermaßen als Vorläufer neoliberaler Gouvernementalität.12 »Zwar wollten sich die durchaus dissidenten Praktiken alternativer Lebensweisen, die Wünsche nach anderen Körpern und Selbstverhältnissen (in feministischen, ökologischen, linksradikalen Kontexten) immer auch vom Normalarbeitsverhältnis und den damit verbundenen Zwängen, Disziplinierungen und Kontrollen abgrenzen. […] In den vergangenen Jahren sind jedoch genau diese alternativen Lebens- und Arbeitsverhältnisse immer stärker ökonomisch verwertbar geworden, weil sie die Flexibilisierung begünstigten, die der Arbeitsmarkt forderte. So waren Praktiken und Diskurse sozialer Bewegungen in den vergangenen dreißig, vierzig Jahren nicht nur dissident und gegen Normalisierung gerichtet, sondern zugleich auch Teil der Transformation hin zu einer neoliberalen Ausformung von Gouvernementalität.« (Lorey 2006) Lorey beklagt zwar, dass unter solchen Bedingungen das Gegen-Verhalten ausbleibe, verliert aber auch kein Wort darüber, wie es – unter solchen Bedingungen – überhaupt noch aussehen bzw. was darunter verstanden werden könnte.13 Zur Beschaffenheit des Gegen-Verhaltens heute findet sich bei Foucault selbst ein Hinweis. So schlägt er den hier als Gegen-Verhalten der Subjektivierung beschriebenen Weg Thoreaus ein, setzt also auf die Tat bzw. das Verhalten des Individuums. Dies wird in einem Statement deutlich, das er bei einem Kongress in Genf 1981 vorgetragen hat. Darin wendet sich Foucault, ganz im Sinne einer politisch verstandenen Repräsentationskritik, unter anderem gegen die zwischen Regierung (hier im herkömmlich-politikwissenschaftlichen Sinne verstanden) und Individuen trennende Zuweisung von politischen und moralischen Aufgaben. Man müsse die Aufgabenteilung zurückweisen, die den Regierungen das Reden und den Individuen die »fromme Empörung« zuweise. Foucault bezieht sich dann auf die Politik von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty 12 Andere theoretische Kontexte, in denen die diese Tendenz explizit angeprangert wird, sind zum einen die französische Sozialforschung um Luc Boltanski und Ève Chiapello (2003), die in der so genannten Künstlerkritik der 1960er Jahre eine wesentliche Ursache für die Entwicklung des flexiblen Kapitalismus sehen. Ohne die negative Konnotation, aber auch ohne ein Verständnis von Machtverhältnissen, beschreibt zum anderen die dekonstruktivistische Praxeologie von Andreas Reckwitz (2006) ebenfalls den zentralen Einfluss künstlerischer, ehemals dissidenter Praxisformen auf die Transformation der Gegenwartsgesellschaften. 13 Auch in der aktualisierten Version ihres Textes bleibt diese Frage offen bzw. ungestellt. Dass »individuelles wie kollektives Gegen-Verhalten im deutschsprachigen Raum weitgehend ausbleibt« (Lorey 2007: 131), führt Lorey hier noch stärker auf die widersprüchliche Subjektivierung prekarisierter Kulturproduzentinnen und Kulturproduzenten zwischen selbst gewählter Prekarisierung und einer Kontinuität von Souveränität zurück.

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International, Terre des Hommes, Médicins du Monde, die sich für die Rechte der Individuen stark gemacht hätten und betont »das Recht der Individuen, wirksam in die Politik einzugreifen. Der Wille der Individuen«, so Foucault weiter, »muss sich in eine Wirklichkeit eintragen, für die die Regierungen sich das Monopol reservieren wollten, dieses Monopol, das man ihnen Schritt für Schritt jeden Tag aufs Neue entreißen muss.« (Foucault 2005b: 874f.) Die drei Fragen an das Gegen-Verhalten – woher es kommt, wie es aussieht und wogegen es sich richtet – scheinen sich in dieser Formulierung Foucaults zu verdichten: Es entsteht und äußert sich zugleich in der Alltäglichkeit der Kämpfe um Definitionsmacht, also um die Zuweisungen von Positionen legitimen Sprechens. In dieser Hinsicht erscheint auch die Bemerkung von Deleuze zum Gegen-Verhalten, es müsse durch die Deskription erst (er)schaffen werden, weniger als megakonstruktivistisches Statement, das der historischen Beschreibung alle Macht der nachträglichen Tatsachenherstellung zumisst, denn vielmehr als Einsatz in diesem Kampf um das legitime Sprechen. Das Sprechen für sich selbst, das nicht nur Deleuze als eine Errungenschaft des Denkens von ’68 ausmacht,14 erwies sich im Nachhinein als keineswegs inkompatibel mit der Optimierung von Herrschaftsverhältnissen. Gerade die subversiven Verhaltensformen der 1960er und 1970er Jahre mit ihren zentralen Elementen möglichst großer sozialer und ökonomischer Ungebundenheit, kollektiver und horizontal strukturierter Lebensformen und dem Lob der Kreativität sowie der liberalistischen individuellen »Freiheit« konnten in den Feldzug eingepasst werden, den der Neoliberalismus (in der Beschreibung seiner Protagonistinnen und Protagonisten) den Kollektivismen des 20. Jahrhunderts angesagt hatte. An diese Verhaltensweisen kann in Sachen Gegen-Verhalten also nicht ohne weiteres angeknüpft werden. Denn ihre Adaption durch die neoliberalen Diskurse hat deutlich gezeigt, dass sie als überhistorischen Dissidenzgaranten nicht taugen. Dennoch sollten sie aber auch nicht allein formal betrachtet werden. Sie dürfen ihrer antikapitalistischen, antibürgerlichen und kollektivistischen Inhalte nicht gänzlich beraubt werden. Gerade weil zwar viele der individuellen Verhaltensweisen, die vor vierzig Jahren noch als subversiv galten, heute zu den Imperativen einer flexibilisierten Ökonomie geworden sind, es aber zu den zentralen Inhalten des diskursiven oder ideologischen Modells des Neoliberalismus gehört, Kollektivität zu ver14 »Ja, es ist normal, daß die moderne Philosophie, die die Kritik der Repräsentation sehr weit vorangetrieben hat, jeden Versuch, anstelle der anderen zu sprechen, zurückweist. […] Sogar nach 68 war es noch üblich, daß zum Beispiel in einer Fernsehsendung über die Gefängnisse jeder zu Wort kam, Richter, Wärter, Besucher, der Mann von der Straße, jeder außer einem Häftling oder einem ehemaligen Häftling. Das ist heute schwieriger geworden, und das ist eine Errungenschaft von 68: daß die Leute für sich selbst sprechen.« (Deleuze 1993: 127)

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hindern und zu vernichten, scheint diese als Kriterium für »GegenVerhalten« entscheidend zu sein. Denn Kollektivität ist nicht notwendiger Weise der entindividualisierende Zwang von Faschismus oder Stalinismus, gegen den die Neoliberalen angetreten waren und den sie heute noch in gewerkschaftlicher Organisierung oder anderen Solidargemeinschaften sehen. Kollektivität ist darüber hinaus wohlgemerkt als politische Strategie in einer konkret-historischen Situation zu verstehen und nicht, wie bei Marchart, als Voraussetzung für Politik schlechthin.15 Denn genau hier scheinen die Antworten auf die dritte Frage an das Gegen-Verhalten zu liegen. Gegen was hat es sich zu richten? Geht man von den gouvernementalen Praktiken als den hegemonialen aus, dann hat Gegen-Verhalten sich gegen diese Hegemonie zu richten: Gegen die Ideologie der »individuellen Verantwortung«, die von den neoliberalen Strateginnen und Strategen bei gleichzeitiger Entdemokratisierung aller Lebensbereiche forciert wird, gegen das Subsidiaritätsprinzip und die Refamilialisierung, die sich als Folge der Privatisierungen ebenso ergeben wie sie in der neoliberalen Programmatik verfochten werden, während zugleich eine nicht weniger programmatische Politik der Entsolidarisierung betrieben wird. Und gegen die Durchkapitalisierung der Gesellschaft, die nicht selten unter dem Banner der Autonomie vollzogen wird.16 Damit die Willen der Individuen sich in diesem Sinne wirksam in die Realität eintragen können, sind die beiden skizzierten Kategorien des Gegen-Verhaltens nicht unbedingt gegeneinander auszuspielen. Gestützt auf seine eigene Bezugnahme auf bekannte NGOs, lässt sich bei Foucault 15 »Die Betrogenen und Verzweifelten müssen sich organisieren. Sie müssen ihre Verzweiflung organisieren, wie wir die unsere. Wir sind an einer politischen Option verzweifelt, andere an Lebensbedingungen, andere an rassistischer Diskriminierung, andere an sexistischer Diskriminierung, andere an der Diskriminierung ihrer Geschichte. Wir haben einen Haufen Verzweiflung zusammengebracht, ihn organisiert, und das Ergebnis war eine Hoffnung. So wurde die EZLN geboren. [...] Seine Verzweiflung organisieren kann jeder, das ist weder etwas Außergewöhnliches, noch braucht man viele Dinge dazu, weder ausgeklügelte Waffen, noch den ganzen Unsinn, den die Generalstaatsanwaltschaft erzählt hat. Man braucht Herz, Bewußtsein und Klarheit darüber, was man will.« (Subcomandante Marcos 1994: 62f.) 16 Gegenüber bzw. neben diesen grundsätzlichen Aspekten, haben sich Aktionen zivilen Ungehorsam immer wieder gegen konkrete Missstände formiert. Dabei sind die Formen des Ungehorsams vielfach weiter entwickelt worden, wobei die Techniken sich auch an den strukturell veränderten Bedingungen von Öffentlichkeit orientieren. Ein Beispiel dafür ist der zivile Ungehorsam gegen die massive Beteiligung der Fluggesellschaft Lufthansa an Abschiebungen. Der lapidare Eintrag »Versammlungsort: www.lufthansa.de«, mit dem die Aktivistinnen und Aktivisten die online-Blockade der Fluggesellschaft beim Ordnungsamt Köln anmeldeten, macht sehr schön zugleich zweierlei deutlich: dass es zum einen nicht um eine illegale, womöglich Daten zerstörende Aktion und zum anderen um die Proklamation des Internet als Ort ging, an dem massenhafter Protest stattfinden kann (vgl. Initiative Libertad! 2006: 16).

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selbst schon eine Tendenz zu einer solchen Kombination herauslesen. Ein »Außerhalb« der Macht wird dabei ebenso wenig proklamiert wie die Möglichkeit einer »großen Weigerung«. Die Option auf viele kleine (Ver-) Weigerungen und die Erfindung von Lebensmöglichkeiten jenseits von Effizienzkriterien und unternehmerischem Kalkül aber wird damit keinesfalls aufgegeben. Damit steht Foucault deutlich in der Tradition der antikapitalistischen Neuen Linken, wie sie sich in West- und Osteuropa vor allem zwischen 1967 und 1969 artikuliert hat (vgl. auch Brieler in diesem Band). Eine besondere, aktivistische Kontinuität von diesen 68er-Bewegungen hin zu gegenwärtigen Protestformen hat sich vor allem in Italien herausgebildet. Im Anschluss an die Globalisierungsproteste von Genua 2001, bildeten sich in Italien aus der Gruppe der Tute Bianche (Weiße Overalls) die so genannten Disobbedienti, die Ungehorsamen. Diese können als Beispiel für eine solche Verknüpfung gelten, denn sie wird hier sogar in den Begrifflichkeiten vollzogen, indem sich sowohl auf Zapatismus als auch auf zivilen Ungehorsam bezogen wird. Während die Tute Bianche noch als politische Straßenkämpferinnen und Straßenkämpfer auftraten, die den blauen Arbeiteroverall und die schwarze Kluft des Schwarzen Blocks gleichermaßen in eine weiße, unbeschriebene Form transformierten, entstand nach ihrer Auflösung ein weniger identifizierbares Netz sozialer Aktivistinnen und Aktivisten. »Aber die Disobbedienti haben ebenso wenig wie die Tute Bianche ein Programm, dem man sich anschließen könnte oder ein klares politisches Projekt«, sagt einer ihrer Aktivisten. Und weiter: »Sie wollen ein ständiges Fragen sein, ein zapatistisches fragend laufen, bei dem danach gesucht wird, wie man ungehorsam sein kann, wie man überflüssig werden kann als Bewegung.« (zit. n. Azzellini 2002: 158) Da sich schließlich Ausbeutung nicht nur auf einen gesellschaftlichen Bereich, eine Schicht oder einen Sektor beschränke, so eine andere Aktivistin der Disobbedienti (vgl. Azzellini 2002), gelte es auch, die Aktionen zivilen Ungehorsams auf alle Ebenen des Sozialen auszuweiten. Im Sinne dieser Ausweitung spricht auch der pro-zapatistische Theoretiker John Holloway vom »Schrei der Verweigerung« (Holloway 2002: 10), in dem sich Kritik an den gegenwärtigen alltäglichen Verhältnissen artikulieren müsse. Er knüpft damit implizit an Marcuse an und stellt zugleich die Verbindung jenes Denkens von 1968 mit dem »¡Ya Basta! Es reicht!« des zapatistischen Aufstands her. Es ist dieses – bei Holloway: schreiende – alltägliche Einklagen der legitimen Sprechweise und der damit verbundenen, potenziellen Erschütterung des sozialen Gefüges, das sich auch in Foucaults kämpferischem »jeden Tag aufs Neue entreißen« findet und das die eingangs erwähnte (Wieder)Einschreibung Foucaults in die Tradition der Neuen Linken ausmacht.17 17 Eine theoretische Annäherung aber ist damit nicht unbedingt verbunden. So führt Holloway beispielsweise in der Tradition von Marcuse mit seiner Unterscheidung von »kreativer« und »instrumenteller« Macht einen Dualismus

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Dass der soziale Ungehorsam funktionieren kann, »wo er kollektive Praxen erprobt und die neuen Konflikte der Arbeit, der migrantischen Arbeit, der Ausbildung oder der Wiederaneignung von Kultur durchzieht« (zit. n. Azzellini 2002: 162), wie ein dritter Disobbedienti erklärt, gilt wohl auch nach der Auflösung der Disobbedienti 2005. Die Suche nach dem Gegen-Verhalten im Neoliberalismus muss schließlich immer auch dessen Neubestimmung sein. Diese ergibt sich nicht aus geradlinigen Geschichten und muss stets in Relation zu den Machtverhältnissen entwickelt werden. Und für die Suchmethode gibt uns Foucault zumindest einen Hinweis: »wie Sie wissen«, schreibt er, »bin ich wie der Krebs, ich bewege mich seitwärts voran.« (Foucault 2000: 70)

Literatur Azzellini, Dario (2002): »Vom zivilen zum sozialen Ungehorsam. Stimmen der ›Disobbedienti‹«. In: ders. (Hg.), Genua. Italien Geschichte Perspektiven, Berlin/Hamburg/Göttingen: Assoziation A, S. 155-166. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Carson, Clayborne (2004): Zeiten des Kampfes. Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) und das Erwachen des afro-amerikanischen Widerstands in den sechziger Jahren. Nettersheim: Verlag Graswurzelrevolution. Castoriadis, Cornelius (1990): Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Certeau, Michel de (1988): Die Kunst des Handelns. Berlin: Merve Verlag. Deleuze, Gille (1993): »Die Dinge aufbrechen, die Worte aufbrechen«. In: ders.: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 121135. Dixon, Keith (1998): Die Evangelisten des Marktes. Die britischen Intellektuellen und der Thatcherismus. Konstanz: UVK. Dixon, Keith (2000): Ein würdiger Erbe. Konstanz: UVK. Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2000): »Staatsphobie«. In: Ulrich Bröckling/Susanne Krassmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart.

in den Machtbegriff wieder ein, den Foucault strikt abgelehnt hat. Und umgekehrt wirft Holloway (2002: 58) Foucault vor, er habe versäumt, »die Kategorie der Macht zu öffnen und auf den fundamentalen Antagonismus, der sie charakterisiert hinzuweisen.« Zu Holloways Verankerung innerhalb der Neuen Linken vgl. auch Kastner 2006b.

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»... nicht dermaßen regiert zu werden«. Über juridische Formen, Hartz IV und Widerstandspraktiken BERND HEITER Armut, Arbeitslosigkeit und Autonomieverlust sind die Merkmale einer neoliberalen Regimeform, in der die Ausübung von Freiheits-, Teilhabeund Teilnahmerechten Teilen der Bevölkerung entzogen werden, und zwar durch eine immer weitergehende Degradierung der Bedingungen der Lohnarbeit und der sozialen Sicherungssysteme. Foucault hat bereits in einem Gespräch von 1983 mit einem Gewerkschaftsfunktionär der C.F.D.T. auf die Gefahr einer neoliberalen »Programmierung der Gesellschaft« (Foucault 2005b [1983]: 446) hingewiesen, die eine neue Spaltung zwischen einer abgesicherten und einer ausgesetzten Bevölkerung herbeiführt, mit dem Ziel, den Anteil des ausgesetzten Sektors stetig anwachsen zu lassen. In einem Prozess der Destabilisierung wird – in der Sicht Robert Castels (2000) – eine neue Zone der Verwundbarkeit konstituiert, die zwischen der Zone der Integration (Inklusion) und der Zone der Entkoppelung (Exklusion) liegt. Diese Konstituierung einer neuen Zone der Verwundbarkeit oder Marginalisierung möchte ich im Folgenden im Rekurs auf Foucaults Konzept der Gouvernementalität beschreiben, ausgehend von den Vorlesungen am College de France von 1979 über Die Geburt der Biopolitik, die treffender als »Die Geburt des Neoliberalismus« zu bezeichnen wären. In einer zyklentheoretischen Perspektive betrachtet, beschreibt Foucault den Aufstieg der neoliberalen Programmatik bis unmittelbar vor den Regierungsübernahmen von Thatcher und Reagan. Nach Foucaults Tod folgte eine Phase der Durchsetzung dieser Regimeform, die mit der Verabschiedung des Hartz-IV-Gesetzes1 auch im bundesrepublika1

Mit »Hartz IV« ist das »Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitmarkt« gemeint, das zu einer Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld (ALG) II geführt hat und durch das

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nischen Kontext mittlerweile ihren Höhepunkt erreicht hat, deren Niedergang aber noch immer nicht abzusehen ist. Bei Foucaults Projekt einer Genealogie des modernen Staates geht es im Wesentlichen »um die Untersuchung der Rationalisierung der Regierungspraxis bei der Ausübung der politischen Souveränität« (Foucault 2004: 14). Der Begriff der Regierung spielt dabei die Rolle einer analytischen Klammer, um staatliche Institutionalisierungsformen und historische Subjektivierungsmodi zugleich analysieren zu können. Zunächst gehe ich auf die genealogische Darstellung des Verhältnisses von Recht und Regierung ein, um Foucaults These zu extrahieren, dass es eine Neigungslinie innerhalb der modernen gouvernementalen Vernunft gebe, die in meiner Lesart mit einer Entkoppelung von Rechtsform und Rechtsmedium verbunden ist. Danach werde ich versuchen zu zeigen, wie ein neoliberales Freiheitsdispositiv eine Zone der Marginalisierung erzeugt, in der Leute zu Recht gemacht werden. Abschließend möchte ich auf unterschiedliche Widerstandsformen in der Perspektive eines »nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault 1992: 12) eingehen, um kooperative und agonale Spiele in Beziehung zu individuellen und kollektiven Akteuren zu setzen.

Die Neigungslinie der modernen gouvernementalen Vernunft Die Genealogie des modernen Staates ist für Foucault durch zwei Wege gekennzeichnet, die zwar einen unterschiedlichen historischen Ursprung haben, aber seit ihrer Entstehung in einer heterogenen Logik miteinander verknüpft sind. Der erste Weg nimmt zu seinem Ausgangspunkt das Recht im Gegensatz zur Regierung, um ein System von Gesetz und kollektivem Willen zu konstruieren. Diese Konzeption lässt sich als eine Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie bzw. von Menschenrechten und Volkssouveränität verstehen. Der zweite, »radikale« Weg besteht dagegen in einer Umkehrbewegung, d. h. von der Regierungspraxis und nicht vom Recht auszugehen. Die Grenzen dieser Gouvernementalität werden nicht vom Recht gezogen, sondern »durch die Grenzen der Nützlichkeit einer Regierungsintervention bestimmt« (Foucault 2004: 67). Was ist das Kriterium für die Nützlichkeit dieser Regierungspraxis? Man begegnet hier – auf dem zweiten Weg – einer asymmetrischen Koppelung von Recht und Ökonomie. Der Diskurs der Ökonomen schreibt der Regierung nicht einfach ihre Praxis vor, vielmehr besteht die gouvernementale Rolle der politischen Ökonomie nach Foucault darin, den Markt als Wahrheitskriterium für die Angemessenheit der Regierungspraxis zu installieren. Gleichzeitig beinhalten beide Konzeptionen zwei verneue »Sozialgesetzbuch (SGB) II – Grundsicherung für Arbeitssuchende« geregelt wird.

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schiedenartige Begriffe von Freiheit: Einerseits wird Freiheit als aktive Ausübung eines Systems von Menschen- bzw. Grundrechten verstanden, andererseits als die »Unabhängigkeit der Regierten gegenüber den Regierenden« (Foucault 2004: 69). Die Unterscheidung eines Systems der Menschenrechte im Gegensatz zu einem System benutzt Foucault in der Vorlesungsreihe von 1979 über den Neoliberalismus für den Nachweis einer »Neigungslinie« (Foucault 2004: 72), die den radikalen Weg mit seiner Fokussierung auf das Problem der Nützlichkeit (der Regierung, der Individuen etc.) zu einem durchsetzungsfähigeren System gemacht hat. Worin besteht nun diese Neigungslinie? Ich möchte über Foucault hinausgehend eine Lesart der Wege vorschlagen, die mit der Unterscheidung von Rechtsform und Rechtsmedium operiert. Die »allgemeine Rechtsform« ist von Foucault in Überwachen und Strafen als »ein System prinzipiell gleicher Rechte« beschrieben worden, in dem »das repräsentative Regime formell ermöglicht, dass der Wille aller, direkt oder indirekt, mit oder ohne Vermittlung, die fundamentale Instanz der Souveränität bildet« (Foucault 1976: 285). Dies war zugleich mit der These verknüpft, dass die Disziplinen sich in den Nischen des Rechts als »eine Art Gegenrecht« (ebd.) einnisteten, ohne selbst ein Subsystem des Rechts darzustellen. Im Übergang von einer Disziplinar- zu einer Kontrollgesellschaft (Deleuze 1992) werden dagegen die Disziplinar- und Sicherheitstechnologien im neoliberalen Design in einem ausufernden Maße mit Hilfe des Rechtsmediums konstruiert. Das verdeutlicht die Unterscheidung von Rechtsform und Rechtsmedium. Die allgemeine Rechtsform ist fokussiert auf die Trias aus negativen Freiheitsrechten, politischen Teilnahmerechten und sozialen Teilhaberechten und begründet damit ein System von Rechten. Sie hat ihre Grundlage im Verfassungsrecht. Unter dem Gesichtspunkt des Rechts als Medium ist das Recht als Organisationsmittel für die Steuerung gesellschaftlicher Verhältnisse zu betrachten. Im Unterschied zu einem System von Rechten, das aufgrund seiner historisch kontingenten Entstehungsweise und ihres Prinzipiencharakters einer inhaltlichen Ausgestaltung bedarf, übernimmt das Recht als Steuerungsmedium konstituierende Funktionen. Unter den Bedingungen einer kapitalistischen Gesellschaftsformation ist das Rechtsmedium zutiefst ambivalent, da eine ungleiche Verteilung in den Machtverhältnissen der Rechtsform den Anschein von Legitimität geben kann. Der Unterschied und die Neigungslinie zwischen den beiden Wegen besteht in meiner Lesart darin, dass der erste Weg das Recht als Steuerungsmedium vollständig vom Recht als Form abhängig macht. Der radikale, neoliberale Weg dagegen entkoppelt das Steuerungsmedium Recht von der Rechtsform, um im Innern der Gesellschaft eine Reduktion der Grundrechte auf die negativen Freiheitsrechte zu erreichen und um an den Rändern der Gesellschaft selbst diese noch auszuhebeln.

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Das neoliberale Freiheitsdispositiv In Abhängigkeit von dieser Neigungslinie versuche ich aus Foucaults Darstellung des Neoliberalismus vier Formationselemente eines neoliberalen Freiheitsdispositvs zu rekonstruieren und sie zugleich auf aktuelle politische Phänomene zu beziehen. Ich überblende dabei die genealogische Perspektive aus Entstehungen, Zusammenhängen, Überschneidungen und Unterschieden, die Foucault anhand der diskursiven Formationen des deutschen, französischen und amerikanischen Neoliberalismus nachzeichnet. Ein Dispositiv entsteht für Foucault immer aus einem Notstand heraus – in unserem vorliegenden Fall aus der Krise des Liberalismus angesichts wohlfahrtsstaatlicher Politiken nach dem zweiten Weltkrieg; es verbindet ein Netz aus diskursiven und institutionellen Machtbeziehungen unter dem Gesichtspunkt einer strategischen Zielsetzung. Auch das neoliberale Dispositiv ist eine produktive Machtform – diese neue gouvernementale Vernunft vollzieht und verpflichtet sich zur Herstellung von Freiheit im Inneren der Gesellschaft, während sie an deren Rändern mit Repression arbeitet. Einem methodischen Vorschlag Andrea Bührmanns2 folgend, werde ich zur Rekonstruktion eines neoliberalen Freiheitsdispositivs zwischen (1) dem Referenzbereich, (2) der Regulationsinstanz, (3) den strategischen Imperativen und (4) dem Regulationsverfahren als Formationselementen unterscheiden. (1) Den Referenzbereich des neoliberalen Freiheitsdispositivs beschreibt Foucault als die Einheit einer ökonomisch-juridischen Ordnung. Für die Herstellung dieser systemischen Einheit ist eine Reihe programmatischer Verschiebungen gegenüber der liberalen Doktrin notwendig. Die erste Verschiebungslinie beinhaltet den Übergang vom Tausch zum freien Wettbewerb als Prinzip des Marktes. Der Neoliberalismus greift in diesem Kontext auf die neo-klassische Theorie des Wettbewerbs (Walras, Marshall) zurück, um den Markt als einen Ort des Spiels von Ungleichheiten zu kennzeichnen, dessen ökonomische Rationalität in der Herstellung eines Gleichgewichts von Angebot und Nachfrage durch die Preisbildung besteht. Die entscheidenden Neuerungen stellen für Foucault im Gegensatz dazu die beiden anderen Verschiebungslinien dar. In einer zweiten Linie wird dem Prinzip des Laissez-faire ein Ende bereitet. Der neoliberalen Doktrin zufolge ist es eine »naturalistische Naivität« (Foucault 2004: 172), zu meinen, dass der Markt ein Ort des Spiels von natürlichen Gegebenheiten darstelle, die sich spontan entwickeln und in ihrer Natürlichkeit vom Staat nicht beeinflusst werden dürfen. Der Wettbewerb ist ein formales und nicht natürliches Spiel von Ungleichheiten, das eine formale Struktur aufweist, die in ihrer inneren Logik respektiert werden muss, damit sich 2

Vgl. Bührmann (2004), die ihre Rekonstruktion nicht auf Foucault (2004) bezieht.

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die positiven Effekte und Wirkungen des Marktgeschehens einstellen können. Die Entgegensetzung von formaler Struktur und natürlicher Gegebenheiten führt in den unterschiedlichen neoliberalen Schulen zu der Betonung, dass eine Reihe von Bedingungen künstlich – mit Hilfe des Rechtsmediums – erzeugt werden müssen, damit der freie Wettbewerb seine positiven Wirkungen entfalten kann. Diese Dimension der künstlichen Erzeugung von Rahmenbedingungen führt nach Foucault zu einer dritten Verschiebungslinie: von einer passiven (laissez-faire) zu einer aktiven Gouvernementalität. Das neoliberale Modell moduliert das Verhältnis von Staat und Wirtschaft nicht als wechselseitige Begrenzung und Koppelung von ausdifferenzierten Subsystemen. Im Gegensatz zum liberalen Modell eines freien Marktes ohne staatliche Intervention in die Wirtschaft und zum wohlfahrtsstaatlichen Modell mit Intervention in den Markt führt der Neoliberalismus zu einer Entdifferenzierung. Die Regierungspraxis wird unter die Kontrolle des Marktes gestellt, sie soll aktiv für den Markt regieren. Diese Einheit einer ökonomisch-juridischen Ordnung resultierend aus den drei Verschiebungslinien stellt den Referenzbereich des neoliberalen Freiheitsdispositivs dar. Die künstliche Erzeugung von rechtlichen Rahmenbedingungen für das Prinzip des freien Wettbewerbs führt neben dem Trend zur Entdifferenzierung von Staat und Wirtschaft zu der Frage nach der Regulationsinstanz im neoliberalen Freiheitsdispositiv. (2) Es wäre nun naheliegend, im neoliberalen Freiheitsdispositiv den Staat als Instanz der Regulation auszuzeichnen. Foucault wehrt sich gegen eine solche Auffassung, wenn damit die Vorstellung verbunden ist, den Staat als eine politische Universale zu begreifen, aus dem die Regierungspraxis innerhalb eines normativen Designs deduktiv abgeleitet werden kann. Sein Gegenvorschlag besteht darin, den Staat – in Form einer aufsteigenden Analyse – als den »beweglichen Effekt eines Systems von mehreren Gouvernementalitäten« (Foucault 2004: 115) zu verstehen. Er wählt zu seinem Ausgangspunkt die Praktiken und Problematisierungen, »die Art und Weise, wie man innerhalb und außerhalb der Regierung und jedenfalls in unmittelbarer Nähe der Regierungspraxis versucht hat, diese Praxis, die im Regieren besteht, begrifflich zu fassen« (Foucault 2004: 14). Diese methodische Vorgehensweise beschränkt sich nicht auf die Analyse und Interpretation von (Regierungs-) Programmatiken, sondern versucht herauszuarbeiten, wie sich ausgehend von Praktiken und Problematisierungen »bestimmte Dinge wirklich konstituieren können« (Foucault 2004: 15). Diese Trias aus Praktiken, Problematisierungen und Konstitutionen lässt sich plastisch an der bundesrepublikanischen Reform des Sozialrechts illustrieren. Der erste Schritt war die Einsetzung einer Kommission für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Die Zusammensetzung dieser fünfzehnköpfigen Kommission bestand aus einem heterogen Geflecht von Interessengruppen mit Vertretern aus Industrie, Beratungsfirmen, Politik,

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Forschung, Banken, Ständischen Vertretungen und Gewerkschaften. Die Vorschläge der Kommission führten in einem zweiten Schritt zu Gesetzesentwürfen durch die Bundesregierung und einem Alternativentwurf der Hessischen Landesregierung, die im Bundestag und Bundesrat kleingearbeitet wurden. In einem dritten Schritt entstanden daraus die Gesetze Hartz I-IV zu einer umfassenden Reform des Sozialrechts, ohne dass es zu einer Eins-zu-eins-Übernahme der Vorschläge gekommen wäre. Entscheidend für den ersten Schritt war die Ungleichverteilung von Kräften in den Machtverhältnissen. Werner Eichhorst, der ehemalige Projektleiter für Benchmarking bei der Bertelsmann-Stiftung, hat dies plastisch beschrieben: »Gegenüber den etablierten parteipolitisch geprägten parlamentarischen Entscheidungsprozessen und auch im Vergleich zum blockierten ›Bündnis für Arbeit‹ profitierte die Arbeit der Hartz-Kommisssion von ihrer pluralistischen Zusammensetzung, bei der Vertreter der Parteien und Verbände sowie der Wissenschaft nur eine untergeordnete Rolle spielten. Prägender waren Unternehmer und Unternehmensberater.«3

Erst diese Verdichtung von Kräften ermöglichte – trotz aller strategischen Verhandlungen innerhalb des zweiten Schrittes – die Generierung und Umsetzung des Moduls 6 des Kommissionsberichts zur Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in das neue SGB II. Über die ungleichen Machtverhältnisse hinausgehend ist für die drei Schritte der Ausschluss der Betroffenen konstitutiv. Im Unterschied zu früher wurde weder bei der Bildung der Kommission noch bei der Anhörung der Gesetzesentwürfe den Betroffenenorganisationen ein Platz eingeräumt. In diesem Lichte betrachtet erscheint das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft als eine »Form der Schematisierung« (Foucault 2004: 438) von Regierungspraktiken, in denen Think Tanks, Lobbygruppen und Stiftungen wie zivilgesellschaftliche Akteure agieren. Der von Eichhorst betonte Pluralismus unterschlägt die Ungleichverteilung von Kräften und die Ausschlussmechanismen in den Machtverhältnissen. Das ermöglicht erst im neoliberalen Freiheitsdispositiv eine Entkoppelung von Rechtsform und Rechtsmedium herzustellen, in dem der Staat als Regulationsinstanz nur noch im Sinne einer Verdichtung von Kräfteverhältnissen – einer Bewegung von unten nach oben – fungiert, die das Steuerungsmedium Recht zur Regulierung der Bevölkerung benutzt. (3) Wie wird nun im neoliberalen Design der Markt zu einem Wahrheitskriterium für die Regierungspraxis? Dafür bedarf es der Durchsetzung von strategischen Zielen, die einem einheitlichen Muster folgen sollen. Die Frontstellung wird gegen den Typ eines keynesianischen Wohlfahrtsstaa3

Zit. nach Spindler (2007: 263), die den Einfluss der Bertelsmann-Stiftung auf die Hartz-Reformen untersucht hat.

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tes aufgerichtet, der sowohl mit seinen regulierenden Eingriffen in die Beziehungen der Marktprozesse korrigierend intervenierte als auch kompensatorisch auf die destruktiven Folgen des Marktes für den gesellschaftlichen Rahmen einwirkte. Das Neue – was das Präfix »neo« im Begriff Neoliberalismus erklärt – besteht darin, dass die Regierungspraxis keine Barriere im Sinne von »Kontrapunkt« oder »Trennwand« (Foucault 2004: 206) zwischen den Marktbeziehungen und dem gesellschaftlichen Rahmen mehr darstellen soll. Die Regierungspraxis soll vielmehr als Transformationsriemen wirken, um eine einheitliche Marktgesellschaft zu konstituieren, in der das Prinzip des Wettbewerbs bis in die kapillaren Verästelungen des Gesellschaftskörpers exportiert wird, um eine regulierende Funktion für den ganzen Körper ausüben zu können. Für dieses neue Muster der Gestaltung gesellschaftlicher Beziehungen bedarf es nach Foucault der Durchsetzung zweier strategischer Imperative: (a) der Generalisierung der Unternehmensform mit einer Ausweitung der ökonomischen Analyse auf zuvor nicht-ökonomische Bereiche und (b) der Entkoppelung des Wirtschaftlichen vom Sozialen. (a) Das neoliberale Selbst in der Zone der Integration. Die Klassik (Smith, Ricardo) und ihre Kritik (Marx, Keynes) hatten im Wesentlichen eine Bestimmung der Ökonomie in Begriffen von Arbeit, Kapital, Produktion und Investition gegeben, die in einem Kreislaufprozess aus einfacher und erweiterter Reproduktion aufeinander einwirken. Marx weitergehende These bestand darin, dass der Ausgangspunkt der Analyse im Verkauf der Ware Arbeitskraft (nicht der Arbeit) durch den Lohnabhängigen zu einer Wertschöpfung führt, die einerseits als Lohn zurückfließt und deren Mehrwert andererseits durch das Kapital angeeignet wird. In der Sichtweise Foucaults dreht die neoliberale Doktrin das Verhältnis von Arbeit und Kapital um, indem sie sich methodologisch-individualistisch auf den Standpunkt des Lohnabhängigen stellt und eine Analyse der Arbeit (nicht der Arbeitskraft) in Begriffen ihrer qualitativen Variationen und Abwandlungen durchführt. Worin besteht nun diese Umkehrung? Der Lohn, den ein Lohnabhängiger für seine Arbeit erzielt, ist ein Einkommen, das den Nutzen eines Kapitals darstellt, das aus den körperlichen und geistigen Fertigkeiten der arbeitenden Person besteht: ein Humankapital. Für Foucault sind mit dieser Umkehrung zwei Schlussfolgerungen verbunden. Erstens handelt es sich um einen personenzentrierten Kapitalbegriff, da dieser Begriff des Kapitals uniform an ein Selbst geknüpft ist, das dieses Humanvermögen besitzt. In diesem Kontext der Darstellung des neoliberalen Projekts verwendet Foucault den Begriff des Selbst als einer »Kompetenzmaschine« (Foucault 2004: 319), die für einen dauerhaften Einkommensfluss zu sorgen hat. Zweitens liegt ein unternehmenszentrierter Personenbegriff vor, da die Einheit aus dem Selbst als einer Kompetenzmaschine und einem Einkommensfluss so moduliert wird, dass das Kapital im Sinne eines Hu-

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mankapitals als (Re-)Investition in ein Unternehmen besonderer Art begriffen werden kann. Auch der strategische Imperativ des neoliberalen Projekts fußt immer noch auf der Vorstellung des Menschen als eines Homo oeconomicus, aber mit der entscheidenden Verschiebung, dass der Mensch des Tausches wie im liberalen Projekt oder der Mensch des Konsums wie im sozialstaatlichen Projekt »immer durch einen Homo oeconomicus als Unternehmer seiner selbst zu ersetzen« (Foucault 2004: 314) ist. Diese neue Subjektivierungsform eines unternehmerischen Selbst führt zu einem Diskurs der Responsibilisierung: Die Individuen müssen ihre Handlungsfähigkeiten, Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen in Form einer Kosten-Nutzen-Analyse auf die Risiken, die damit für ihr Einkommen, Privateigentum, Familie, Haushalt und Versicherungen entstehen können, beziehen und werden als aktive, selbstverantwortliche Subjekte von einer neoliberalen Gouvernementalität angerufen. Das beinhaltet für Foucault die Neigungslinie von einem System kollektiver Sicherheiten definiert über den Begriff der Solidarität zu einem System der privatisierten Versicherungsmechanismen. (b) Das neoliberale Selbst in der Zone der Verwundbarkeit. Die Wirtschaft hat in der neoliberalen Doktrin als ein Spiel von Ungleichheiten zu gelten: zwischen hohen und niedrigen Löhnen, zwischen flexiblen Preisen, die steigen und fallen können, und zwischen Leuten, die Arbeit haben, und denen, die keine haben. Das sind Bedingungen eines freien Wettbewerbs zur selbstregulierenden Herstellung von Gleichgewichtslagen durch den Markt. Foucault betont nun, dass es in diesem regelgeleiteten Spiel eine »Grenzfall-« oder »Sicherheitsregel« gibt, die ausschließen soll, »dass einer der Partner des Wirtschaftsspiels alles verliert und aufgrund dessen nicht mehr weiterspielen kann« (Foucault 2004: 282). Diese »Regel des Nicht-Ausschlusses« (Foucault 2004: 283) ist der einzige Berührungspunkt zwischen dem Ökonomischen und dem Sozialen im neoliberalen Freiheitsdispositiv; da es freiheitserzeugend sein will, darf keiner der Leute die Möglichkeit verlieren, an diesem Spiel teilzunehmen. Foucault sieht darin eine Umkehrung des Gesellschaftsvertragsmodells. Für den eingangs beschriebenen ersten Weg ist der freiwillige Zusammenschluss von Rechtsgenossen zu einer Rechtsgemeinschaft konstitutiv, in der die Adressaten des Rechts zugleich ihre Autoren sind. Diese können das Recht als Steuerungsmedium in Abhängigkeit von der Rechtsform zu einer weitgehenden Durchdringung des Ökonomischen und Sozialen gebrauchen, mit dem Ziel, kollektive Solidarität und Sozialversicherungssysteme durch regulierende Eingriffe in die Wirtschaft, Umverteilung der Einkommen und Stärkung des Massenkonsums herzustellen. Die Umkehrung dieses Modells durch den radikalen Weg besteht darin, von einem Wirtschaftsspiel auszugehen, für das kein kollektiver Teilnahmebeschluss notwendig ist; jeder kann, muss aber nicht teilnehmen. Das Recht als Steuerungsmedium wird in diesem Fall von einer Gouvernementalität zur Sicherung der Spiel-

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regeln und der Verhinderung des Ausschlusses aus dem Spiel genutzt. Damit wird die größtmögliche Unabhängigkeit der Regierten von den Regierenden gewährleistet, und der einzige Kreuzungspunkt zwischen dem Ökonomischen und dem Sozialen besteht in der Verhinderung der Exklusion. Worin besteht nun die Implementierung einer solchen Sicherheitsregel? In der Idee einer negativen (Einkommens-)Steuer, die eine soziale Beihilfe ausschließlich in monetärer Form für diejenigen Leute gewährt, die zeitweilig oder endgültig nicht mehr an dem Spiel teilnehmen können. Diese Ausschließlichkeit war und ist im radikalen Weg immer mit der Möglichkeit einer vollständigen Privatisierung der staatlichen Dienstleistungen (Gesundheit, Bildung etc.) verbunden. Nach Foucault ist das Projekt einer negativen Steuer durch drei Merkmale gekennzeichnet. Erstens setzt dieses Projekt immer nur auf der Outputseite, der Ebene der Auswirkungen der Armut an; eine Ursachenbekämpfung, indem nach den sozioökonomischen Bedingungen der Armut gefragt wird, ist kein vorrangiges Ziel. Zweitens gibt es eine Neubestimmung des Armutsbegriffs. Soziale Umverteilungspolitiken hatten immer eine Form relativer Armut im Blick, die durch die Abstände in der Einkommensverteilung begründet waren. Sie setzten dementsprechend auf der Inputseite, bei den Ursachen der Armut an. Das neoliberale Projekt setzt dagegen bei der absoluten Armut an, bei einer neuen Schwellendefinition, die diejenigen, die am Spiel teilnehmen können (die Nicht-Armen), von denen trennt (den Armen), die dazu nicht in der Lage sind. Drittens wird eine neue Schwellenbevölkerung – eine neue Zone der Verwundbarkeit – erzeugt, die oberhalb und unterhalb der Schwelle angesiedelt ist. Auch die Einführung einer negativen Steuer beinhaltet die Form einer allgemeinen Sicherheit, aber gleichsam nur noch von unten her: »Das impliziert aber einen Bodensatz einer flottierenden Bevölkerung, [...] innerhalb dessen Versicherungsmechanismen jedem auf eine bestimmte Weise zu existieren gestatten, nämlich so, dass er immer ein Kandidat für eine mögliche Anstellung ist, wenn die Bedingungen des Marktes es verlangen.« (Foucault 2004: 289) Oberhalb der Schwelle ist für Foucault nach der neoliberalen Doktrin jeder sein eigenes unternehmerisches Selbst, unterhalb der Schwelle wird er dazu gemacht. (4) Die Herstellung einer ökonomisch-juridischen Ordnung ist im neoliberale Modell mit der binären Unterscheidung von institutionellem Rahmen und ökonomischen Beziehungen innerhalb des Rahmens gekoppelt. Der strategische Witz dieser Unterscheidung liegt nach Foucault in drei Gesichtspunkten: erstens in der Behauptung des Neoliberalismus, dass die formale Logik der Wettbewerbsverfahren keine endogenen Widersprüche aufweist; zweitens in der Schlussfolgerung, dass die konkrete historische Ausgestaltung des institutionellen Rahmens für exogen verursachte Krisen (Marktversagen etc.) verantwortlich ist, und schließlich drittens in der Perspektive, durch eine Veränderung des institutionellen Designs die Unstimmigkeiten, Dilemmata und Irrationalitäten des Kapitalismus bewälti-

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gen zu können, indem man einen neuen Kapitalismus erfindet. Das Regulationsverfahren für diese Neuerfindung stellt im neoliberalen Modell der »juridische Interventionismus« (Foucault 2004: 235) dar, um in Form eines komplexen Ineinanders von De- und Re-Regulierung (a) die Beziehungen innerhalb des ökonomischen Rahmens von materialen auf formale Prinzipien umzustellen, und (b) gleichzeitig die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen neu gestalten zu können. (a) In einer Post-Foucault-Perspektive betrachtet, arbeitet die neoliberale Gouvernementalität einer Materialisierung des Rechts entgegen. Beim Übergang zu wohlfahrtsstaatlichen Regimen trat das Phänomen einer »Materialisierung des Formalrechts« (M. Weber) auf. Materialisierung meint dabei die Entstehung einer neuen Rechtsformkategorie, die im Gegensatz zu dem klassischen Vorbild des Schutzes gleicher Handlungsfreiheiten in Form subjektiver Rechte überleitet zu einer rechtlichen Verwirklichung von Sozialschutzpositionen, die einer rechtlichen Anerkennung von (partikularen) Bedürfnissen und Interessen gleichkommt. Materialisierung kann als eine Re-Kontextualisierung des Formalrechts unter den Bedingungen eines sozialstaatlichen Interventionismus verstanden werden. Materialisiertes Recht ist instrumentelles Recht zur Verwirklichung sozialer Zwecke; seine Rechtfertigung erlangt es durch Regulierung im Sinne der Übernahme sozialer Verantwortung durch den Staat und nicht in erster Linie durch den Schutz von Autonomie. Ein Beispiel für diese Vorgänge ist die Ergänzung des bürgerlichen Privatrechts durch die Sonderprivatrechte (damit sind alle verbraucherschutzrechtlichen Positionen, Schutzpositionen insbesondere im Arbeitsrecht etc. gemeint). Im neoliberalen Modell wird dagegen der Versuch unternommen, nun das Recht so weitgehend wie möglich wieder zu re-formalisieren. Die strategische Funktion besteht darin, das Recht als Medium der Steuerung weitgehend von der Rechtsform zu entkoppeln, mit dem Ziel einer Statusbeschränkung, indem soziale Teilhaberechte auf negative Freiheitsrechte reduziert werden. (b) Mit den sozialrechtlichen Reformen der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ist durch das Steuerungsmedium Recht ein ganz neues neoliberales Selbst geschaffen worden, ein sogenannter HartzIV-Empfänger, den es vorher nicht gegeben hat. Auch im bundesrepublikanischen Kontext wurde damit die Wende von einem aktiven (welfare) zu einem aktivierenden (workfare) Sozialstaat vollzogen, die zu einer neuen Schwellenbevölkerung mit erheblichen Statusbeschränkungen führt. Ich werde an vier Punkten verdeutlichen, wie durch rechtliche Fremdführung eine Selbstführung der Subjekte erzeugt werden kann, indem es zu einer massiven Einschränkung von negativen Freiheitsrechten kommt. Erstens wird durch die Zusammenlegung die Leistungshöhe insgesamt auf das alte Sozialhilfeniveau – in Verbindung mit einer Verschärfung der Anrechnung von Einkommen und Vermögen – abgesenkt. Dabei wurden die alten Re-

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gelsätze der RegelVO übernommen, die in der alten Sozialhilfe schon seit Jahren nicht mehr angehoben wurden. Die Begründung ergibt sich aus der rechtlichen Konstruktion eines sozio-kulturellen Existenzminimums (Art. 1 GG – Menschenwürdegrundsatz i.V.m. Art. 20 GG – Sozialstaatsgebot), das dem Gesetzgeber in der Bemessung der Regelsatzhöhe einen weiten Handlungsspielraum einräumt. Zweitens gibt es ein neues Gegenseitigkeitsprinzip (Fordern und Fördern), das das Fördern unter den rechtlichen Vorbehalt des Forderns stellt (§2 SGB II) und privatrechtliche Tauschverhältnisse zur Grundlage staatlicher Unterstützung macht. Durch die Zumutbarkeitsregel (§10 SGB II) wird jede Arbeit – auch unter einem bestehenden Qualifizierungsniveau oder einem vormals erreichten Lohnniveau – tragbar. Dieser rechtlich erzeugte Zwang zur Arbeitsaufnahme wird flankiert durch die Bereitstellung von Ein-Euro-Jobs, die die Vertragsfreiheit einschränken. Drittens werden durch die in §15 SGB II geregelte Eingliederungsvereinbarung dem Bedürftigen seine Eingliederungsbemühungen vorgeschrieben. Durch die rechtliche Tatsache, dass der Bedürftige die Freiheit hat, diese Willenserklärung nicht abzugeben zu müssen, ist in §15 Abs. 1 S. 6 SGB II die Möglichkeit vorgesehen, die Eingliederungsvereinbarung in Form eines Verwaltungsaktes zu substituieren. Viertens umfasst §31 SGB II einen umfangreichen Grundkatalog von Pflichtverletzungstatbeständen, die zwingend zur Durchführung von Sanktionen führen. Die Leistungshöhe muss dabei in einer ersten Stufe um 30% gesenkt werden und kann bei wiederholter Pflichtverletzung zu einem vollständigen Wegfall der Unterstützung führen. Alle genannten Punkte zeigen, wie weitgehend eine Entkoppelung des Rechtsmediums von der Rechtsform möglich ist, indem nicht nur soziale Teilhaberechte reduziert, sondern auch negative Freiheitsrechte massiv eingeschränkt werden. Dies kommt einer neuen Feinderklärung gleich, die gegenüber einer immer größer werdenden Schwellenbevölkerung ausgesprochen wird. Die Ironie des neoliberalen Freiheitsdispositivs besteht darin, den Leuten glaubhaft zu machen, es ginge um ihre Freiheit.

Widerstandsformen gegen Praktiken neoliberaler Gouvernementalität Es sollte deutlich geworden sein, dass zwei Aspekte zur relationalen Autonomie des Rechts gehören: intern ein widersprüchliches Verhältnis von Recht als Form zum Recht als Steuerungsmedium, das extern – bedingt durch neoliberale Entdifferenzierungsprozesse, in denen der Markt zu einem Ort der Veridiktion für die Regierungspraxis wird – zu einer Verdichtung von Kräfteverhältnissen führt, die das Rechtsmedium instrumentalisieren. Ich möchte nun der Frage nachgehen, was es heißt, »nicht dermaßen regiert zu werden« (oder in anderen Worten: wie das Wider-

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standspotential gegen diese Praktiken neoliberaler Gouvernementalität verfasst sein müsste), und welche Rolle das Recht dabei spielt. In Anknüpfung an eine Überlegung von Foucault versuche ich, (1) die Verbindung von Agonismus und intransitiver Freiheit darzustellen, um daraus (2) eine Typologie von Widerstandsformen im Kontext von Hartz IV zu entwickeln. (1) Foucault hatte in einem seiner letzten Interviews auf drei Ebenen seiner Machtanalyse hingewiesen, um deutlicher zwischen Macht und Herrschaft differenzieren zu können. Er unterscheidet zwischen »strategische[n] Beziehungen, Regierungstechniken und Herrschaftszustände[n]« (Foucault 2005c [1984]: 900). Der Ebene der Gouvernementalität kommt dabei eine intermediäre Funktion zu, sie liegt zwischen den Machtbeziehungen als strategischen Freiheitsspielen und den Herrschaftszuständen, die diese Freiheitsspiele einschränken oder sogar blockieren können. In Subjekt und Macht war dies mit der aktuellen Diagnose einer beharrlichen »Etatisierung der Machtbeziehungen« (Foucault 2005a [1982]: 291) verknüpft. Anhand der Regulationsinstanz des neoliberalen Freiheitsdispositivs habe ich mit Foucault versucht zu zeigen, dass die Machtbeziehungen nicht vom Staat abgeleitet, sondern auf ihn gerichtet sind. In diesem Zusammenhang wird für die Ebenendifferenzierung – in meinem Verständnis – eine weitere Unterscheidung Foucaults wichtig: die zwischen »Antagonismus« und »Agonismus« (Foucault 2005a [1982]: 287). Ein antagonistisches Verhältnis liegt dann vor, wenn Machtbeziehungen durch Praktiken neoliberaler Gouvernementalität in Herrschaftszustände transformiert werden; dabei sind gewisse Intensitätsgrade zu unterscheiden: unter liberaldemokratischen Bedingungen werden Freiheitsspielräume nur in der Zone der Exklusion (Illegale, Migranten etc.) massiv blockiert. In den Zonen der Inklusion und der Verwundbarkeit handelt es sich dagegen um ein agonales Verhältnis zwischen Machtbeziehungen und Praktiken der Freiheit. Ich denke, dass Foucault in diesem Kontext auf den Gegensatz von Antagonismus und Agonismus gestoßen ist, da er in Subjekt und Macht einen »neue(n) Forschungsansatz« (Foucault 2005a [1982]: 273) vorschlägt, der die Machtbeziehungen ausgehend von den unterschiedlichen Formen des Widerstands analysieren soll. Das führt in einem zweiten Schritt auch zu einer Konkretisierung des Machtbegriffs, der mit einem intransitiven Freiheitsbegriff verknüpft wird: »Macht kann nur über ›freie Subjekte‹ ausgeübt werden, insofern sie ›frei‹ sind – und damit seien hier individuelle und kollektive Subjekte gemeint, die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten verfügen. [...] In diesem Verhältnis ist Freiheit die Voraussetzung für Macht [...]. Aber zugleich muss die Freiheit sich einer Machtausübung widersetzen, die letztlich danach trachtet, vollständig über sie zu bestimmen.« (Foucault 2005a [1982]: 287)

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(2) In Rekurs darauf möchte ich mit Bezug auf die aktuellen Hartz-IVDebatten eine grobe Typologie der Widerstandsformen entwerfen. Dazu bedarf es des Rekurses auf eine Bemerkung, die Foucault (2003a [1978]) in einem Vortrag in Japan über Die analytische Philosophie der Politik gemacht hat. Ich löse sie aus ihrem Entstehungskontext und pfropfe sie unserer aktuellen Situation auf. Foucault hatte in Analogie zum Spielbegriff der sprachanalytischen Philosophie darauf verwiesen, dass Machtbeziehungen eine Analyse von Machtspielen implizieren, und war dann zu der Diagnose gelangt: »Ich glaube übrigens, dass man weitergehen und sagen müsste, dass nicht nur diese Machtspiele [...], sondern dass auch der Widerstand und die sich entfaltenden Kämpfe nicht mehr dieselbe Form besitzen. Es handelt sich jetzt im Wesentlichen nicht mehr darum, an den Machtspielen in der Weise teilzunehmen, dass man seiner eigenen Freiheit oder seinen eigenen Rechten besser Respekt verschafft; man will diese Spiele einfach nicht mehr. Es handelt sich nicht mehr um Konfrontationen innerhalb dieser Spiele, sondern um Widerstände gegen das Spiel und die Verweigerung des Spiels selbst. Dies ist ganz charakteristisch für eine Reihe von Kämpfen und Auseinandersetzungen.« (Foucault 2003a [1978]: 685)

Die implizite Unterscheidung, die Foucault an dieser Stelle macht, ist in meiner Lesart die zwischen kooperativen und agonalen Spielen, wobei Kooperation und Agonalität sich nicht auf die Teilnehmer des Spiels, sondern auf die Regeln des – durch das neoliberale Freiheitsdispositiv – bereits etablierten Machtspiels beziehen. Das kooperative Spiel ist defensiv und tastet die bestehende Konfiguration von Rechtsform und Rechtmedium nur bedingt an. Das agonale Spiel ist dagegen offensiv und unternimmt den Versuch einer Neukonfiguration. Dies lässt sich mit der Differenz von individuellen und kollektiven Subjekten in einer Kreuztabelle zu Widerstandsformen veranschaulichen.

Spielformen Subjekte individuell kollektiv

kooperativ (a) Verteidigung individueller Rechte (c) Forderung nach einem Grundeinkommen

agonal (b) Entzug (d) Protest

Tabelle: Widerstandsformen im Kontext von Hartz IV Es handelt sich hierbei um analytische und nicht um empirische Unterscheidungen. Ebenfalls schließt dies nicht aus, dass es horizontale, vertikale und diagonale Vernetzungen von Widerstandsformen geben kann. Die

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kooperativen Spielformen sind in Bezug auf die – vom neoliberalen Freiheitsdispositiv implementierten – rechtlichen Rahmenbedingungen defensiv ausgerichtet. Das individuell-kooperative Spiel (a) versucht in einer Widerständigkeit gegen das Verwaltungshandeln die eigenen individuellen Rechte in Anspruch zu nehmen. Das kollektiv-kooperative Spiel (c) will dagegen die Zwangsmechanismen abschaffen, ohne die neoliberale Trennung des Ökonomischen vom Sozialen anzutasten, um einen »kapitalistische(n) Weg zum Kommunismus« (Vanderborght/Van Parijs 2005: 89 ff.) zu finden. Die agonalen Spielformen sind im Unterschied dazu offensiv ausgerichtet. Das individuell-agonale Spiel (b) schert sich nicht um die rechtliche Struktur, sondern unternimmt den Versuch sich ihr zu entziehen. Das kollektiv-agonale Spiel (d) erhebt sich gegen den Machtmissbrauch der Regierenden im Rahmen der historisch gewachsen Rechtsform, um eine andere Verdichtung von Kräfteverhältnissen zu erzielen, die das Rechtsmedium wieder an die Rechtsform anbindet, mit der Implikation neue, inkludierende Rechte zu schaffen. (a) Der Deutsche Landkreistag hat in einer Pressemitteilung vom Juli 2007 darauf hingewiesen, dass bereits 7,4 Millionen Menschen in der Bundesrepublik von Hartz IV-Leistungen abhängig sind. Das ALG II hat sich inzwischen zu einem Kombi-Lohn-Modell fortentwickelt, dass den Langzeitarbeitslosen und den prekär Beschäftigten im Rahmen eines individuell-kooperativen Widerstandsspiels nur noch ermöglicht, ihre Rechte bei den Sozialgerichten einzuklagen, da die Richtigkeit der Bewilligungsbescheide in der Regel einer Black-Box ähneln. Dieser Zustand setzt bei den Betroffenen aber ein Wissen um ihre Rechte voraus, das sie häufig nur bei hilflos überlasteten Beratungsstellen erwerben können. Berliner Richter des Sozialgerichts haben im Oktober 2006 daraus geschlossen, dass aufgrund der exorbitant hohen Fehlerquote der Bewilligungsbescheide und der Tatsache, dass die Betroffenen im JobCenter keinen Ansprechpartner finden, »der Weg in die Rechtsantragsstelle des Sozialgerichts [...] deutlich effektiver (ist).«4 Die Individualisierungsstrategien neoliberaler Gouvernementalität haben in diesem Kontext dazu geführt, dass jeder sein eigener Kämpfer zu sein hat, wenn er an einem individuell-kooperativen Widerstandsspiel teilnehmen will (vgl. Jäger 2006). Die Inanspruchnahme eines »Recht(s) der Regierten« als Widerstandspotential gegenüber einem Staat, »der seine Funktionen über Gebühr bis hinein in die alltägliche Lenkung des Einzelnen ausdehnt« (Foucault 2003 [1977]: 469), besteht auch für Foucault in dem Recht, ein Gericht anrufen zu können, um sich dort gegen die Übergriffe zu verteidigen. Dieses Schutzpotential des Rechts ist – laut einer Übersicht der Bundesagentur für Arbeit – alleine im ersten Halbjahr 2007 bei den Sozialgerichten durch 45.5000 Klagen gegen Hartz IV zur 4

Bericht des Sozialgerichts Berlin über Probleme in der Zusammenarbeit mit den Jobcentern. Verfügbar über: http://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/2007/JobCenter.pdf [Zugriff: 26.08.2007].

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Anwendung gekommen. Die Rechtsmaterien, die zur Verhandlung kommen, sind allerdings so gebaut, dass es bei gegebener Gesetzeslage nur um die Illegitimität von Verwaltungsakten gegenüber den Betroffenen geht. Eine engere Verbindung von dem Recht als Form und dem Recht als Medium ist dadurch nicht zu erreichen. (b) Ein individuell-agonales Widerstandsspiel betrifft dagegen den Versuch, sich den beschriebenen Zwangsmechanismen des SGB II zu entziehen. Die Entzugsspielräume sind dabei jedoch stark eingeschränkt. Einer Informationsveranstaltung, die das Fallmanagement vorbereiten soll, kann man sich nur durch Krankschreibung entziehen. Dem Profiling selber, indem man die Fragebögen falsch ausfüllt. Nach dem Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung (dem nächsten Schritt in einem beschäftigungsorientiertem Fallmanagement der Jobcenter und ARGEn) und der Zuweisung einer MAE (Ein-Euro-Job), beginnt das Spiel mit dem Maßnahmeträger, an den man vermittelt wird. Die erste Möglichkeit besteht darin, das Vorstellungsgespräch möglichst hinauszuzögern, in der Hoffnung, dass der Job bereits vergeben ist. Fruchtet dieser Versuch nicht, wird in einem persönlichen Gespräch auf die nicht angemessene Qualifikation für die betreffende Maßnahme verwiesen oder auf weiterreichende Qualifikationen, die der Maßnahme nicht angemessen sind. Häufig haben diese Spielformen Erfolg, da die Maßnahmeträger eine Vielzahl von Personen für eine MAE zugewiesen bekommen. Darüber hinaus gibt es auch im Rahmen der Ausübung von Ein-Euro-Jobs Praktiken des Entzugs.5 Die individuell-agonalen Spiele weisen an ihren Rändern immer Überschneidungen mit individuell-kooperativen und kollektiv-agonalen Spielen auf (vgl. Allex/Eberle 2006: 65 ff.). Der Neo-Liberalismus bedient sich individualisierender Machttechnologien, daher zeigen die Punkte (a) und (b), dass erst einmal individuell kooperativer oder agonaler Widerstand geleistet werden muss, wenn man/frau in die Hartz IV-Maschine geraten ist. (c) Dagegen sind nach der Implementierung der Hartz-IV-Gesetze die massenhaften Proteste (im Jahr 2004) in Form von Großdemonstrationen verschwunden. Es hat sich allerdings eine neue Widerstandsfront gebildet, die ihren Fokus auf die Zwangsmechanismen der Gesetzesreform verlagert hat. In den Vordergrund der Agenda ist eine – im bundesrepublikanischen Kontext ältere – Forderung nach einem Grundeinkommen gerückt, die zu einer eigentümlichen Kreuzung von »rechten« und »linken« Lagern geführt hat. Bei den zivilgesellschaftlichen Akteuren reicht die Linie von Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen über attac bis hin zu Unternehmern und neoliberalen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern. In den Parteien gibt es mittlerweile Minderheitsfraktionen von der CDU bis zur Linkspartei, die ein Grundeinkommen befürworten. Die unterschiedlichen Modelle, die dabei zur Diskussion stehen, verlaufen auf einer Rechtslinks-Skala – grob charakterisiert mit Bezug auf ihre Extrempunkte – von 5

Vgl. den Beitrag von Axel Philipps in diesem Band.

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einer Negativen Einkommenssteuer (NES) bis zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) (vgl. Blaschke 2005: 10-15). Der Minimalkonsens zwischen den Lagern bezieht sich auf die, von Foucault in der Genealogie des neoliberalen Freiheitsdispositivs beschriebene, Zwanglosigkeit der Einkommensgewährung. Die positive Idee einer negativen Steuer besteht für Foucault darin: »dass am Ende jene berühmte Unterscheidung, die die abendländische Gouvernementalität so lange zwischen den guten und den schlechten Armen ziehen wollte, zwischen jenen, die absichtlich nicht arbeiten, und jenen, die aus unabsichtlichen Gründen ohne Arbeit sind, keine große Rolle mehr spielt. [...] Das einzige Problem besteht darin, ob er über oder unter der Schwelle liegt, was auch immer die Gründe dafür sein mögen. Was allein zählt, ist, dass die Person unter ein bestimmtes Niveau gefallen ist, und das Problem besteht zu diesem Zeitpunkt darin – ohne weiter zu blicken und daher auch ohne die ganzen bürokratischen, polizeilichen, inquisitorischen Untersuchungen durchführen zu müssen –, ihm eine Unterstützung zu gewähren, so dass der Mechanismus, durch den man sie ihm gewährt, noch dazu anreizt, wieder das Schwellenniveau zu überschreiten, und dass er hinreichend motiviert ist, wenn er die Unterstützung bekommt, um trotz allem den Wunsch zu haben, diese Schwelle zu überschreiten. Wenn er diesen Wunsch aber nicht hat, spielt das keine Rolle, und er bekommt die Unterstützung weiterhin. Das ist der [...] Punkt, den ich für sehr wichtig halte im Verhältnis zu allem, was seit Jahrhunderten von der Sozialpolitik im Abendland ausgearbeitet wurde.« (Foucault 2004: 286f.)

Die NES arbeitet – auch in Foucaults Verständnis – weiterhin mit einem »poverty gap«, der einen Anreiz zur Arbeitsaufnahme darstellt und mit einem Kombilohnmodell oder der Subventionierung eines Niedriglohnsektors kombinierbar ist. Das Leitmotiv des BGE betrifft dagegen eine vollständige Entkoppelung von Arbeit und Einkommen: »bedingungslos« heißt ein Einkommen, das von einem politischen Gemeinwesen an alle seine Mitglieder individuell ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Gegenleistung ausgezahlt wird (vgl. Vanderborght/Van Parijs 2005: Kap. II). Neben den normativen (»wirklich alle«, die Höhe der Auszahlungsrate) und den ökonomischen (Finanzierbarkeit) Fragen, die im linken Lager heftig diskutiert werden, ist in einer Foucaultschen Perspektive die Frage, was daran »gefährlich« ist, viel dringender. Die Forderung nach einem Grundeinkommen ist in meiner Lesart ein kooperatives Widerstandsspiel. Auch das BGE teilt den beschriebenen strategischen Imperativ des neoliberalen Freiheitsdispositivs, das Ökonomische vom Sozialen zu trennen. Die Gefahr besteht darin, dass im neoliberalen Regime durch die exorbitante Ausweitung der Zone der Verwundbarkeit (Erwerbslosigkeit, befristete Beschäftigung, Teilzeitarbeit, Zeitleiharbeit als differentielles Management der Arbeitskraft) das kooperative Spiel zu einem Herrschaftszustand werden kann, der die Abschaffung einer Schwellenbevölkerung und die

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Rückführung in die Zone der Integration verunmöglicht. Im Gegensatz zu einer Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) durchbrechen die NES und das BGE die Zwangsmechanismen des Regimes – und diese Forderungen sind unabdingbar –, aber sie gehen nicht über ein neoliberales Freiheitsverständnis, das jeden zum Unternehmer seiner selbst macht, hinaus. (d) Die Regulationsinstanz des neoliberalen Freiheitsdispositivs besteht – wie oben beschrieben – in einer aufsteigenden Vernetzung von Organisationen und Institutionen (Think Tanks, Lobbygruppen, Stiftungen etc.), die häufig selber als zivilgesellschaftliche Akteure auftreten, um den Abstand zu politischen Entscheidungen verringern zu können. Diese Beschreibung setzt einen weiten Begriff der Zivilgesellschaft voraus, der über Vereinigungen und Bewegungen, die aus nicht-staatlichen und nichtökonomischen Assoziationsstrukturen mehr oder weniger spontan entstehen, hinausgeht. Die Zivilgesellschaft bildet ein Konglomerat aus ökonomischen, politischen und juridischen Beziehungen, und die Machtbeziehungen bilden ihre Matrix. Wenn unter liberal-demokratischen Bedingungen Machtbeziehungen Praktiken der Freiheit implizieren, dann können diese in kollektiv-agonalen Widerstandsspielen als Protestformen ihren Ausdruck gewinnen. In diesem Fall müsste eine dreifache Strategie entwickelt werden: der Fokus von einem traditionellen Belagerungsmodell, in dem eine zivilgesellschaftliche Peripherie versucht, das politische Zentrum disruptiv zu unterwandern, sollte zugleich auf die Polyarchie der Peripherie gelenkt werden, um einerseits Widerstandsformen gegen eine aufsteigende Vernetzung von Kräfteverhältnissen zu entwickeln und andererseits dezentrale Protestformen gegen staatliche Verwaltungsorganisationen (Jobcenter, ARGEn etc.) zu initiieren.6 Das Rechtsmedium spielt hierbei zunächst keine Rolle, nur die Rechtsform bietet einen grundrechtlichen Schutzrahmen zum Aufbau von Gegenmächten. Die entscheidende Zielscheibe wäre dabei die Regulationsinstanz des neoliberalen Freiheitsdispositivs, um eine andere Verdichtung von Kräfteverhältnissen zu erreichen, der auch eine andere Regulierung in Abhängigkeit von der Form des Rechts entsprechen würde.

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Die Protestchronik für die Jahre 2002-2005 (Wehring 2006: 12-187) zeigt, in welchen flächendeckendem Ausmaß die disruptiven und dezentralen Widerstände stattgefunden haben. Es gibt aber bisher noch keine angemessene Widerstandsform gegen die aufsteigende Verdichtung von Kräfteverhältnissen, die in Organisationen und Institutionen (Think Tanks, Lobbygruppen, Stiftungen etc.) als zivilgesellschaftlichen Akteuren lanciert werden.

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Literatur Allex, Anne/Eberle, Anne (2006): »Praxis des Profiling«. In: Agenturschluss (Hg.), Schwarzbuch Hartz IV. Sozialer Angriff und Widerstand – Eine Zwischenbilanz, Berlin: Assoziation A, S. 46-72. Blaschke, Ronald (2006): Garantierte Mindesteinkommen. Aktuelle Modelle von Grundsicherung und Grundeinkommen im Vergleich. Dresden: Evangelischer Akademie Verlag. Bührmann, Andrea D. (2004): »Das Auftauchen des unternehmerischen Selbst und seine gegenwärtige Hegemonialität«. In: Forum Qualitative Sozialforschung (Online Journal) 6, 1. Verfügbar über: www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-05/05-1-16-d.htm [Zugriff: 26.08.2007]. Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Konstanz: UVK. Deleuze, Gilles (1992): »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«. In: Ders., Unterhandlungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 254-262. Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik?, Berlin: Merve Verlag. Foucault, Michel ( 2003 [1977]): »Wird Klaus Croissant ausgeliefert?« In: Ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Band III, Frankfurt /M.: Suhrkamp, Nr. 210, S. 468-474. Foucault, Michel (2003a [1978]): »Die analytische Philosophie der Politik«. In: Ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, Nr. 232, S. 675-695. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2005a [1982]): »Subjekt und Macht«. In: Ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Band IV, Frankfurt/M.: Suhrkamp, Nr. 306, S. 269-294. Foucault, Michel (2005b [1983]): »Ein endliches System angesichts einer unendlichen Nachfrage«. In: Ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Band IV, Frankfurt/M.: Suhrkamp, Nr. 325, S. 440-461. Foucault, Michel (2005c [1984]): »Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit«. In: Ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Band IV, Frankfurt/M.: Suhrkamp, Nr. 356, S. 875-902.

Widerstand und Widerstandsrecht. Ein politikphilosophischer Versuch im Ausgang von Foucault CHRISTIAN KUPKE

Foucaults menschenrechtliches Engagement und seine Idee des politischen Widerstands Auf die Frage, ob politischer Widerstand möglich ist, und, wenn ja, wie er möglich ist, hat Foucault stets eine doppelte Antwort gegeben: Auf die Frage, ob politischer Widerstand möglich ist, hat er eine reelle, praktische Antwort gegeben: Er hat selbst den politischen Widerstand, nach dem man ihn fragte, praktiziert. Er hat an einer derartigen Vielzahl politischwiderständiger Aktionen teilgenommen, dass es einiger Seiten bedürfte, sie alle im Detail aufzulisten und genauer zu beschreiben (vgl. hierzu die vielfältigen Hinweise bei Eribon 1991 [1989] und Defert 2001 [1994]). Und auf die Frage, wie politischer Widerstand möglich ist, hat Foucault stets folgende ideelle, theoretische Antwort gegeben: Politischer Widerstand ist immer nur möglich als Teil derjenigen Ordnung, gegen die er und innerhalb derer er sich artikuliert. Alle Widerstände, welcher Art sie auch sein und wogegen sie sich auch immer richten mögen, können immer nur im strategischen Feld des Diskurses, des Gesellschaftskörpers, der Machtbeziehungen selbst existieren: »Sie sind«, wie er an einer mittlerweile oft zitierten Stelle sagt, »in den Machtbeziehungen die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber.« (Foucault 1977 [1976]: 117)

Politischer Widerstand im Sinne Foucaults als absolutes und als neues Menschenrecht Ich möchte zunächst auf die praktische Antwort Foucaults eingehen. Dabei stütze ich mich auf eine seiner späten politischen Erklärungen, in de-

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nen er selbst auf das Problem des direkten politischen Widerstandes zu sprechen kommt: auf den Text Face aux gouvernements, les droits de l’homme (Foucault 2004 [1981]). Bei diesem Text handelt es sich um ein Dokument, das Foucault 1981 auf einer Pressekonferenz anlässlich der Gründung eines Internationalen Komitees zum Schutz der boat people verlas, das aber erst nach seinem Tod, am 30. Juni 1984, in Libération veröffentlicht wurde. Es gehört in den Kontext einer Reihe ähnlicher Texte und Erklärungen (vgl. Foucault 2003 [1979]; Defert 2001 [1994]: 88, 91, 100; Eribon 1991 [1989]: 399f., 444) und stellt, wie Didier Eribon zurecht betont, »eine Art Charta der Menschenrechte« dar (Eribon 1991 [1989]: 400). Foucault weist auf ein doppeltes Recht hin: einerseits auf das »absolute Recht« von Menschen, deren Menschenrechte missachtet werden, »sich zu erheben und sich an diejenigen zu wenden, die die Macht innehaben«; und andererseits auf das »neue Recht«, das »Recht der privaten Individuen, wirksam in den Bereich der Politiken und der internationalen Strategien einzugreifen« (Foucault 2004 [1981]: 874; Hervorh. C.K.). Von diesen »privaten Individuen« oder »Privatpersonen«, zu denen er selbst gehörte, hatte Foucault auch schon in den ersten Zeilen seines Textes gesprochen: »Wir sind hier nur Privatmenschen, die keinen anderen Anspruch darauf haben zu sprechen und gemeinsam zu sprechen als eine gewisse gemeinsame Schwierigkeit, das zu ertragen, was geschieht. [...] Wer hat uns also beauftragt? Niemand. Und das genau macht unser Recht aus.« (Foucault 2004 [1981]: 873) Das neue Recht ist demnach ein Recht von Personen, die nicht im Namen irgendeiner Partei, einer amtlichen Institution oder einer Regierung, sondern nur im eigenen Namen sprechen. Mit solchen ›Privatpersonen‹ meint Foucault allerdings auch öffentliche Organisationen, denn am Ende seines Textes heißt es einmal ausdrücklich: »Amnesty International, Terre des Hommes, Médecin du Monde sind Initiativen, die dieses neue Recht geschaffen haben [...]« (Foucault 2004 [1981]: 874). Ihr privater Charakter wird darin deutlich, dass sie sich aus natürlichen Personen zusammensetzen und dass sie, wie wir heute sagen würden, ›Nicht-Regierungs-Organisationen‹, so genannte NGOs darstellen. Insofern gehören auch sie zu jener »internationale[n] Bürgerschaft«, die Foucault am Anfang seines Textes gesondert herausstellt: als eine Bürgerschaft, »die ihre Rechte hat, die ihre Pflichten hat und die dazu verpflichtet« – Thomas Lemke 2001 übersetzt hier: »dazu auffordert« –, »sich gegen jeden Machtmissbrauch zu erheben, wer auch immer dessen Urheber ist und wer auch immer dessen Opfer sind. Schließlich sind wir alle Regierte und insofern miteinander solidarisch verbunden.« (Foucault 2004 [1981]: 874) Leitend für die Betonung von Privatheit und Individualität auf der Seite der internationalen Bürgerschaft ist hier also keineswegs, wie man im ersten Moment meinen könnte, die prominente Unterscheidung

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von Öffentlichem und Privatem, sondern – im öffentlichen Raum selbst – die zwischen Regierenden und Regierten. Weniger klar ist allerdings, ob das »absolute Recht« und das »neue Recht« von Foucault als Termini gebraucht werden, und vor allem, wo genau zwischen beiden die definitorische Grenze verläuft. Denn offenbar ist auch das absolute wie das neue Recht ein individuelles Recht, während umgekehrt auch das neue Recht ein Recht ist, sich aufzulehnen, da es ja in den Bereich der Politik und der internationalen Strategien wirksam eingreifen soll und dabei möglicherweise auch internationales Recht bricht (rein juristisch kann z. B. die Aufnahme von Flüchtlingen auf einem Flüchtlingsschiff als Menschenhandel verfolgt werden). Die semantische Grenze zwischen dem absoluten und dem neuen Recht verläuft also nicht zwischen Revolte bzw. Widerstand auf der einen und legitimem Protest auf der anderen Seite, sondern gerade zwischen zwei Formen des Widerstands, die man vielleicht primären und sekundären Widerstand nennen könnte: primären Widerstand, insofern er der Widerstand der unmittelbar Betroffenen ist (in diesem Fall der Widerstand der Flüchtlinge selbst), und sekundären Widerstand, insofern er der Widerstand derjenigen ist (zu denen sich auch Foucault rechnet), die den Betroffenen jenseits des gültigen Rechts, aber im Sinne eines neuen Rechts helfen wollen. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung werde ich im vorliegenden Text von folgender Überlegung ausgehen: Bei beiden Rechten, beim absoluten und beim neuen Recht, handelt es sich um zwei Varianten ein und desselben Rechts, nämlich des Rechts auf Widerstand, und zwar des Rechts auf Widerstand gegen die Regierungen (und nicht, wie Thomas Lemke will, nur eines Rechts für etwas; vgl. Lemke 2001: 276). Während aber das »absolute Recht«, das des primären Widerstandes, dasjenige Recht meint, das in einigen Staaten Europas und Amerikas bereits Verfassungsrang hat (wenn es auch noch kein internationales Menschenrecht darstellt), meint das »neue Recht«, das des sekundären Widerstands, ein Recht, das es in der Tat noch nicht gibt und das insofern eine Erweiterung der Menschenrechte darstellen würde. Foucault plädiert also meines Erachtens für eine solche Erweiterung und zeigt damit, dass juridische Formen politischen Widerstands durch eine nicht-juridische Theorie der Macht, wie sie Foucault selbst entwickelt hat, nicht notwendigerweise diskreditiert werden.

Foucaults Frage nach den Möglichkeitsbedingungen politischen Widerstands Ich wende mich nun dem theoretischen Problem zu, wie politischer Widerstand möglich ist, und stelle anhand eines weiteren Textes die Frage, wie die These Foucaults genauer zu verstehen ist, dass politischer Widerstand immer nur als Teil derjenigen Ordnung möglich ist, gegen die er und in-

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nerhalb derer er sich artikuliert (eine Frage, die in der Foucault-Forschung schon sehr früh und immer wieder neu gestellt wurde; vgl. etwa Fink-Eitel 1980: 63ff.; Becker 1981: 171ff.; Dreyfus/Rabinow 1987 [1982/83]: 239f; oder Lemke 1997: 110ff.). Ich konzentriere mich dabei auf einen frühen Text über die Widerstandsproblematik mit dem Titel Réponse à une question (Foucault 2001 [1968]). In ihm führt Foucault, ganz im Sinne seiner späteren Grundthese »Macht ist überall« (vgl. Foucault 1977 [1976]: 114), zwei Überlegungen an: Zunächst hält er fest, dass es nicht den Widerstand gegen das System oder gegen den Diskurs geben könne, sondern immer nur spezifische Widerstände gegen spezifische Diskurse, in denen sich gelungene Widerstandsformen als ›Transformationen‹ dieser Diskurse aufzeigen ließen (vgl. Foucault 2001 [1968]: 860ff.). Und sodann stellt er klar, dass sich der Widerstand zwar stets an den Rändern und in den Zwischenräumen der einzelnen Diskurse, den ›Transformationsschwellen‹ zeige (vgl. Foucault 2001 [1968]: 862), aber dass er sich natürlich, insofern diese Schwellen mit zu den Diskursen gehörten, nur in und aus diesen Diskursen selbst heraus artikulieren könne: »Der Diskurs«, schreibt er, »ist nicht der Ort eines Einbruchs purer Subjektivität; er ist für die Subjekte ein Raum differenzierter Positionen und Funktionen.« (Foucault 2001 [1968]: 867) Insofern kann es also, auch im Widerstand gegen bestehende Diskurse, kein Außerhalb der diskursiven Ordnung geben: Alles spielt sich im Inneren der Diskurse selbst ab. Allerdings – und hier wird Foucault deutlich – sind die der Diskurstheorie zugrundeliegenden und von der historischen Forschung zu beschreibenden Diskurse nicht irgendwelche substantielle Textmassen: »nicht die Masse von Texten, die in einer bestimmten Epoche gesammelt werden konnten«, sondern formale Ensembles von Regeln: »die Gesamtheit der Regeln, die in einer bestimmten Epoche und für eine bestimmte Gesellschaft – die Grenzen und Formen der Sagbarkeit [...] der Aufbewahrung [...] des Gedächtnisses [...] der Reaktivierung« und schließlich »der Aneignung definieren« (Foucault 2001 [1968]: 869f). Mit anderen Worten: Die Diskurse haben überhaupt eine bestimmte Form und damit auch bestimmte formale Grenzen, die diesseits der Ordnung des Diskurses ein Jenseits des Diskurses indizieren: ein (aus der Perspektive des jeweiligen Diskurses) Unsagbares, das in ihm nicht aufbewahrt, nicht erinnert, nicht reaktiviert und auch nicht angeeignet werden kann. Der materiale Diskurs als die Verwirklichung des Regelwerks, der Nomie einer diskursiven Ordnung setzt also notwendig eine Grenze voraus, von der her diese Verwirklichung als eine – wie auch immer differenzierende – Wiederholung und Bestätigung der Regel gefasst werden kann. Und umgekehrt kann sich auch jede Transformation an den Transformationsschwellen – an denen »neue Regeln ins Spiel gebracht« werden (Foucault 2001 [1968]: 862) – immer nur aufgrund des durch eine solche Grenze eröffneten anomischen Feldes des Unsagbaren ereignen. Wäre eine

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solche Grenze nicht definiert, nicht gesetzt – und zwar durch das Regelwerk der diskursiven Ordnung selbst – gäbe es in ihr weder ihre Affirmation noch auch ihre Negation, weder eine Unterwerfung unter sie noch auch einen Widerstand gegen sie. Damit aber ist eine Ambivalenz entstanden, die die These Foucaults von einem unmöglichen Außen der diskursiven Ordnung differenzierter erscheinen lässt: In der Tat ist ein solches Außen, rein als Außen, unmöglich: Es gibt keine privilegierte Position, von der her irgendjemand irgendeinen (und schon gar nicht seinen eigenen) Diskurs überblicken könnte; denn dieser Überblick müsste selbst ein diskursiver sein. Aber es gibt auch kein Innen des Diskurses ohne ein Außen, ein Außen, das den Diskurs – oder eben diesen Überblick – von innen unterhöhlt. Es ist allerdings klar, dass der frühe Foucault im vorliegenden Text die Frage nach dem Widerstand in einer quasi objektivistischen Nomenklatur beantwortet und damit das Problem des subjektiven Widerstandes ausblendet. Nicht nur, dass er, und zwar zu Recht, die Widerstandsidee eines Einbruchs purer Subjektivität in den Diskurs explizit zurückweist, er möchte auch überhaupt ohne Rekurs auf das Bewusstsein und den Willen des sprechenden Subjektes auskommen (vgl. Foucault 2001 [1968]: 869). Aber der Verzicht auf einen solchen Rekurs schließt natürlich nicht aus, dass er möglich und legitim ist – legitim insbesondere dann, wenn man unter dem Subjekt nicht mehr das große Subjekt des transzendentalen Wissens, sondern das kleine Subjekt der empirischen Erfahrung versteht (vgl. Baumgartner 1993: 20; Schmid 2000: 112ff.), – jenes Subjekt, dessen Bewusstsein durch ein Unbewusstes untergraben und dessen Wille von einer ihm vorgängigen Unfreiheit unterminiert ist, die es stets nur unvollständig in Freiheit verwandeln kann. Insofern muss es also einen Spalt, eine Kluft in den Subjekten geben – eben das, was sie als empirische Subjekte auszeichnet – zwischen der reinen Möglichkeit, alles oder nur Unbestimmtes zu sagen, und der von dieser Möglichkeit durchdrungenen, sie implementierenden Wirklichkeit, nur etwas Bestimmtes zu sagen, das entweder der Gesamtheit der Regeln folgt und sie heteronom reproduziert oder aber ihnen widerspricht und autonom neue Regeln setzt. Wie, wenn nicht vermöge einer solchen Kluft zwischen der Nomie und der Anomie des diskursiven Feldes, des Subjektes, wären die Formationen und die Transformationen dieses Feldes denkbar? Die Abweichungen in den Diskursereignissen sind offenbar allein dieser Kluft geschuldet.

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Das Paradox der Souveränität und die Aporie des Widerstandsrechts Ich habe zu zeigen versucht, dass es im Ausgang von Foucault durchaus eine Möglichkeit gibt, politischen Widerstand zu denken, und zwar gerade aus der Immanenz des Diskurses heraus, d.h. auf der Basis einer diskursiven Trennung zwischen zwei Feldern: dem immanenten Feld einer im Diskurs, im Gesellschaftskörper, im Machtgefüge in bestimmter Weise geregelten, d. h. sagbaren Beziehung von binären, aber sich in Wahrheit überschneidenden Polen (z. B. Regierenden und Regierten, Autonomie und Heteronomie), und dem zu dieser Immanenz transzendenten Feld, einem unsagbaren Jenseits dieser Bestimmtheit, das sich aber im immanenten Feld stets als Möglichkeit einer anderen Bestimmtheit, einer völligen Umstrukturierung oder gar als Auflösung der binären Beziehung zeigt und geltend macht. Im Folgenden möchte ich verdeutlichen, wie diese Idee einer immanenten Transzendenz, eines im Sagbaren implementierten Unsagbaren (vgl. Kupke 2006) oder eines im Symbolischen implementierten Realen (vgl. Kupke 2007), hier konkret: einer anomischen Freiheit im demokratischen Regelungsfeld autonomer und heteronomer Subjektivität, demokratie- und rechtstheoretisch fruchtbar gemacht werden kann.

Das demokratietheoretische Paradox der ungeteilten und der geteilten Souveränität Ich frage zunächst: Wo ist die Idee einer Verschränkung von Immanenz und Transzendenz im gegenwärtigen politikphilosophischen Diskurs am deutlichsten artikuliert? Ich meine, unzweifelhaft in jenem Paradox, das Giorgio Agamben im Rückgriff auf die Theorie des Souveräns bei Carl Schmitt (»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.«; Schmitt 1979 [1922]: 11) als »Paradox der Souveränität« gedeutet und folgendermaßen auf den Begriff gebracht hat: »Der Souverän steht zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung.« (Agamben 2002 [1995]: 25ff.; Hervorh. C.K.) Damit aber nimmt der Souverän strukturell denselben uneindeutigen und riskanten – und nicht etwa, wie es der Cartesianismus will: eindeutigen und sicheren – Platz ein, an dem auch das Subjekt steht: Die Souveränität ist die Subjektivität, und umgekehrt; und es gibt daher – zumindest im modernen Denken – keine andere Souveränität als die des Subjekts. Aber was besagt das für das nähere Verständnis von Souveränität? Wenn das Subjekt, wie soeben dargestellt, ein in Anomie, Autonomie und Heteronomie zerklüftetes Subjekt ist, so ist die Souveränität offenbar stets eine gebrochene; denn sie ist die Souveränität des kleinen, empirischen und nicht des großen, transzendentalen Subjekts. Sie ist nicht jene Souveränität, die, wie die des mittelalterlichen Souveräns, direkt und unmittelbar

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über den Ausnahmezustand oder auch darüber bestimmen könnte, wer als Feind und wer als Freund anzusehen wäre (sie ist kein »Entscheidungsmonopol«; Schmitt 1979 [1922]: 20). Und sie ist auch nicht die Souveränität der staatlichen Gewalt, an die – und an deren Missbrauch – man in diesem Zusammenhang vor allem denken mag (sie ist kein »Staatsmonopol«). Sie ist vielmehr diejenige Souveränität, die durch eine autonome Selbsteinschränkung definiert ist, um individueller und staatlicher Willkür zuvorzukommen, und deren unmittelbarer Ausdruck in modernen demokratischen Gesellschaften die Verfassung und das auf ihr fußende Rechtssystem dieser Gesellschaften ist. Insofern stellt sich das gesamte Problem der Verfassungs- und Gesetzgebung als Selbstgesetzgebung des Souveräns und damit zunächst einmal als unmittelbarer Ausdruck des neuzeitlichen, insbesondere Kantschen Autonomiegedankens dar (vgl. etwa Maus 1992: 87, 326). Zunächst einmal. Denn diese ihre Autonomie ist nur die eine Seite der Souveränität. Insofern nämlich der Souverän, als Subjekt, selbst es ist, der sich bindet (oder durch eine Tradition gebunden ist, deren einziger und autonomer Rechtsnachfolger er ist), ist er nicht nur autonom; und er ist als dieses autonome Subjekt auch nicht nur an die Gesetze gebunden. Vielmehr ist diese seine Bindung, da sie eine gründende (oder den Gründungsakt stets wiederholende) Selbst-Bindung ist, stets von einer Ungebundenheit unterminiert, die gleichsam die andere, prekäre Seite, der Abgrund dieses Gründens ist. Insofern muss man also dieser Autonomie eine Anomie entgegensetzen, aus der die Gesetzgebung selbst – als Akt, als Performanz – überhaupt erst hervorgeht und verständlich wird und die gewissermaßen stets das Implement dieser Autonomie, sein sich in ihr selbst zeigendes radikales Anderes ist. Eben darin hat, trotz aller berechtigten Kritik (vgl. etwa Maus 1992: 89f.), die Schmittsche Insistenz darauf, dass der Souverän das Recht in seiner Totalität überhaupt erst »schafft und garantiert« (Schmitt 1979 [1922]: 20; vgl. Agamben 2002 [1995]: 25f.), ihren legitimen Grund. Nun ist allerdings in der Demokratie – und das ist der entscheidende Differenzpunkt gegenüber allen anderen, z. B. monarchischen oder oligarchischen Souveränitätskonzepten – die Souveränität potentiell unendlich geteilt. Zwar wurde in der Geschichte der Demokratietheorie bis zu Rousseau – darauf weist z. B. Derrida (2006 [2003]: 108ff.) hin – stets davon ausgegangen, dass die Souveränität eine einzige und unteilbare Kraft sei und von daher keine Teilung dulde, aber mit der Idee der Volkssouveränität und der mit ihr verbundenen Anerkennung der Rechte eines jeden Einzelnen als Mitglied der Gesellschaft ging die Souveränität notwendigerweise auch an jeden Einzelnen über. Er selbst, wie alle anderen und im Verbund mit allen anderen, war nun dazu aufgerufen, an der Verfassungsund Gesetzgebung mitzuwirken und sich damit strukturell an dieselbe Stel-

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le im Paradox der Souveränität zu setzen, an der auch die ungeteilte Souveränität ihren Ort hat: an die Stelle des Subjekts. Mit dieser Subjektivierung des Einzelnen als Rechtssubjekt, als Person, ist also notwendigerweise ein zweites Paradox verbunden, das die Wiederholung des ersten Paradoxes auf der Ebene des Einzelsubjekts darstellt und das ich das Paradox der geteilten Souveränität nennen möchte. Anders als das Paradox der ungeteilten Souveränität, das sich prinzipiell als Paradox immanenter Autonomie und transzendenter Anomie darstellen lässt, stellt sich das Paradox der geteilten Souveränität primär als Paradox immanenter Heteronomie und transzendenter Anomie dar. Denn die in eine Gesellschaft hineingeborene bzw. »geworfene« Einzelne erfährt die Verfassung und die Gesetze einer Gesellschaft zunächst als heteronom. Das heißt, da die Gesetze nicht von der Einzelnen selbst gesetzte Gesetze sind, ist sie diesen Gesetzen unterworfen (er ist subiectum), so dass schließlich die Aufgabe ihrer weiteren Subjektwerdung darin besteht, entweder dieses Übermaß an Heteronomie abzubauen und die eigene Heteronomie in Autonomie zu verwandeln oder eine solche Zumutung zurückzuweisen und – in der Revolte, im Widerstand – seine radikale Anomie geltend zu machen.

Die Aporie und Doppelstruktur des Widerstandsrechts Kraft seiner Anomie oder genauer, seiner paradoxalen Stellung innerhalb und außerhalb der Rechtsordnung, kann also jedes Subjekt, nicht nur im demokratischen Rechtsstaat, sondern in jeder beliebigen Rechtsordnung überhaupt, Widerstand leisten. Dieses Können ist offenbar unbezweifelbar, denn ohne es würde es offenbar keine Gesetze geben – und umgekehrt auch ohne Gesetze keinen Widerstand: »Il n’y pas de de révolte sans interdit«, sagt Julia Kristeva. »Sinon, contre qui se révolter?« (Kristeva 1998: 38) Die Gesetze stellen also eine Art Widerstand gegen den Widerstand dar (vgl. Becker 1981: 175) und ermöglichen so, die Negativität widerständiger Subjektivität in gesellschaftliche Positivität umzukehren. Die Frage ist aber, ob es, im Rahmen der Gesetze selbst, auch ein Recht auf Widerstand, d.h. ein Gesetz geben kann, das den Widerstand gegen das/ein Gesetz für rechtens erklärt. Wenn nämlich, wie die Formel »Widerstand gegen das/ein Gesetz« nahe legt, jeder Widerstand tendenziell rechtsbrechend ist, dann ist das Recht auf Widerstand offenbar ein Recht auf Rechtsbruch, kurz: ein aporetisches Recht. Allerdings kann diese Aporie nur unter zwei Bedingungen entstehen: erstens unter der Bedingung geteilter Souveränität und zweitens unter der einer Trennung von Regierenden und Regierten. Das heißt, erst wenn »die nominelle Zuweisung der Macht und ihre tatsächliche Ausübung« getrennt werden (Sartori 1997 [1987]: 39), es also zu einer systemischen Entgegensetzung von regierender und regierter Demokratie kommt (vgl. Sartori

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1997 [1987]: 94ff), macht ein Widerstandsrecht politisch Sinn. Denn nur dann kann es auf Seiten der Regierenden zu jenem Rechtsbruch kommen, der auch einen Rechtsbruch auf Seiten der Regierten legitimieren würde: »Gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen«, heißt es in Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG), »haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« Wobei der Zusatz »wenn andere Abhilfe nicht möglich ist« als Hinweis auf Art. 19 Abs. 4 GG verstanden werden kann (vgl. Dreier 1991 [1983]: 40), in dem es heißt, dass, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, ihm der Rechtsweg offen steht. Aber selbst dann bliebe ein Problem, dem sich bisher noch jeder stellen musste, der ernsthaft darüber nachgedacht hat, politischen Widerstand zu leisten: was es heißt, dass jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Denn da diese Rechte subjektiv gesetzte und damit prinzipiell revozierbare Rechte sind, geht der demokratische Streit zwischen Regierenden und Regierten gewissermaßen stets um die eine agonale Frage: ab wann Widerstand rechtens ist (denn möglich ist er immer). Positiv gewendet: Das Widerstandsrecht ist eine Waffe in der Hände der Regierten gegen die Regierenden, und zwar in doppelter Weise: als absolutes Recht der Resistenz gegen bestimmte Formen des Regierungshandelns bzw. -unterlassens und als Insistenz darauf, Grundrechte in ihrem Wesensgehalt nicht nur zu erhalten und auszubauen, sondern gegen die Trägheit der staatlichen Apparate auch neu zu setzen, d.h. neues Recht zu konstituieren. Um diesen entscheidenden strategischen Pol, den agonalen Status des Widerstandsrechts, in seiner politischen Produktivität besser fassen zu können, muss man sich zunächst über die Funktion des Widerstandsrechts genauer verständigen. Diese liegt darin, dass das Widerstandsrecht demokratietheoretisch ein im Paradox der Souveränität (und zunächst in nichts anderem) gegründetes unveräußerliches Menschenrecht darstellt, aber zugleich rechtstheoretisch auf allen übrigen in der Verfassung formulierten Menschenrechten basiert. Das heißt, Widerstand ist dort, wo er als Recht verankert ist, im Allgemeinen und vernünftigerweise immer nur dann erlaubt, wenn gegen eines dieser Menschenrechte verstoßen wird. Insofern ist das Widerstandsrecht, da es die übrigen Menschenrechte gleichsam schützt, ein gegenüber allen anderen Menschenrechten exzeptionelles – Foucault würde sagen absolutes – Recht: Es kann selber nicht eingeschränkt werden bzw. wenn es eingeschränkt werden würde, bliebe es paradoxerweise (vermöge der dargestellten Paradoxie der Souveränität) immer noch erhalten. Denn die Anomie des Souveräns lässt sich stets als ein Recht formulieren; und ob es als ein solches formuliert wird oder nicht, ändert nichts an seiner Geltung (deshalb ist es absolut). Darin liegt zunächst die demokratietheoretische Stärke dieses Rechts: Es gründet im

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demokratischen Prinzip der Souveränität selbst und ist, solange dieses Prinzip gültig ist, uneingeschränkt gültig. Was aber offenbar nicht uneingeschränkt gültig ist – und darin liegt die entscheidende rechtstheoretische Schwäche des Widerstandsrechts – sind die übrigen und deshalb relativen Menschenrechte, auf denen das absolute Widerstandsrecht basiert. Das heißt, es ist nicht immer ganz klar bzw. es unterliegt stets einer semantischen Deutung, wann gegen ein Menschenrecht verstoßen wird und wann nicht. Liegt z.B. ein Menschenrechtsverstoß schon dann vor, wenn Grundrechte durch Gesetze eingeschränkt werden? Eine solche Einschränkung von Grundrechten sieht jedenfalls unser Grundgesetz in Art. 19 Abs. 1 selbst ausdrücklich vor, wobei wiederum in Abs. 2 sogleich hinzugefügt wird: »In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.« Aber was bedeutet das? Kann in jedem Fall immer definitiv gesagt werden, was der »Wesensgehalt« eines solchen Rechtes ist? Und kann deshalb jederzeit mit Bestimmtheit gesagt werden, wann es angetastet wird?

Formen und Strategien des politischen Widerstandes Im letzten Abschnitt habe ich mich, um die politische Produktivität der Aporie des Widerstandsrechtes – genauer: um dessen agonalen Status – deutlich herauszustellen, mit der demokratie- und rechtstheoretischen Funktion des Widerstands beschäftigt. Diese liegt darin, dass Widerstand überhaupt ein exzeptionelles Menschenrecht darstellt, dessen Geltung vom Status der übrigen Menschenrechte so abhängt, dass es diese, gleichsam letztinstanzlich, schützt. Das Widerstandsrecht ist also ein Grundrecht, das sich diskursiv auf den Wesensgehalt anderer, ihm rechtstheoretisch vor-, aber demokratietheoretisch nachgeordneter Grundrechte bezieht bzw. gemäß unserer Verfassung von der Verletzung dieses Wesensgehaltes abhängt. Das aber ist meines Erachtens der entscheidende Ansatzpunkt für eine Theorie des politischen Widerstandes. Denn diese Doppelstruktur erlaubt es, zumindest im Rahmen einer demokratischen Widerstandstheorie (für die ich plädiere), zwei wesentliche, ineinander verschränkte und sich ergänzende Formen des Widerstandes herauszuarbeiten, auf die ich nun noch zu sprechen kommen möchte.

Die primäre und die sekundäre Form des Widerstands Zunächst, das heißt primär, bedeutet das Recht auf Widerstand das Recht des jeweils Betroffenen auf rechtsbrechende Handlungen unter der Voraussetzung, dass der Staat bzw. die öffentliche Gewalt eines seiner Grundrechte verletzt hat und andere Abhilfe nicht möglich ist. Zu erwähnen wä-

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ren hier, im internationalen Maßstab, Widerstandsformen wie die illegale Einwanderung (z. B. an der spanischen Grenze) oder, im nationalen Maßstab, alle Formen des alltäglich-praktischen Widerstands, wie sie Axel Philipps beschrieben hat (2006: insbes. 147ff.), z. B. gegenwärtig bestimmte Versuche von Betroffenen, die – offenbar gegen Art. 12 Abs. 2 GG verstoßenden – Hartz-IV-Regelungen zu unterlaufen, aber auch offene Proteste, wie man sie z. B. von Jugendlichen in der sogenannten Banlieue von Paris kennt. Diese Form des Widerstandes möchte ich, mit einem ironischen Seitenblick auf Derrida, die schurkisch-unintellektuelle Widerstandsform nennen (auf die ›Schurken‹ in der Banlieue weist Derrida 2006 [2003]: 98f. explizit hin). Sie setzt nicht auf den Rechtsweg, der meistens schon ausgeschöpft oder aussichtslos ist, und auch nicht auf die so genannten politischen Kräfte (hier ›la politique‹ im Unterschied zu ›le politique‹), sondern auf die Anomie der Individuen und die ihrer zufällig bzw. frei agierenden, d. h. nicht organisatorisch oder institutionell gebundenen Kollektive. Sodann, das heißt sekundär, bedeutet das Recht auf Widerstand aber auch das Recht nicht unmittelbar Betroffener, rechtsbrechende Handlungen zu begehen, um den Betroffenen Unterstützung zukommen zu lassen, und zwar indem man ihnen in der Durchführung ihrer aktiven oder passiven Widerstandshandlungen konkret hilft und/oder durch die das Recht brechende Handlung unmittelbar neues Recht setzt und damit in der Folge auf bestehende Rechtslücken auch und gerade im gültigen Grundrechts- bzw. Menschenrechtskatalog hinweist. So verletzen etwa NGOs wie Cap Anamur immer wieder internationale Seerechte, oder Flüchtlingsorganisationen und manchmal auch Einzelpersonen gewähren Asylanten bzw. von Abschiebung Bedrohten Gastrecht, um einerseits den Betroffenen zu helfen, aber um andererseits auch den damit verbundenen Menschenrechtsforderungen Nachdruck zu verleihen und auf diese Weise die etablierte Politik (im Sinne von »la politique«) politisch (im Sinne von »le politique«) unter Zugzwang zu setzen. Diese Form des Widerstandes möchte ich die anti-bürgerlich-intellektuelle Widerstandsform nennen (die bürgerliche Strategie wäre der so genannte ›Marsch durch die Institutionen‹, auf dem der politische Intellektuelle zum Politiker mutiert). Sie setzt nicht primär auf Individuen, sondern auf Institutionen und wird daher zumeist von Organisationen, z. B. in neuerer Zeit auch von Attac, getragen. Für beide Widerstandsformen scheint sich Foucault in seinem oben schon analysierten Text auszusprechen: Das »absolute Recht«, auf das er hinweist (»sich zu erheben und sich an diejenigen zu wenden, die die Macht innehaben«; Foucault 2004 [1981]: 874), scheint mir das Widerstandsrecht in seiner basalen bzw. primären, d.h. schurkisch-unintellektuellen Version zu sein. Und das »neue Recht«, auf das er ebenfalls hinweist (als »Recht der privaten Individuen, wirksam in den Bereich der Politiken

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und der internationalen Strategien einzugreifen«; Foucault 2004 [1981]: 874), scheint mir das Widerstandsrecht in seiner sekundären, d.h. antibürgerlich-intellektuellen Version zu sein. Da aber das absolute Recht zum Widerstand noch kein internationales Recht ist und das andere Widerstandsrecht, um das es Foucault geht, nämlich das Recht von NGOs, durch Rechtsbruch an der Setzung und Durchsetzung internationaler Rechte mitwirken zu können, ebenfalls noch nicht verbrieft ist, kann Foucault den Unterschied zwischen beiden vernachlässigen. Um des genaueren Verständnisses willen scheint es mir aber wichtig, diesen Unterschied zu machen, denn im einen Fall werden die Betroffenen selbst und im anderen Fall Organisationen und Einzelpersonen aktiv, um den Betroffenen zu helfen und ihre Rechte zu stärken. Aber in beiden Fällen handelt es sich um ein Widerstandsrecht. Das heißt, es geht nicht nur darum, im Rahmen von bestehenden Gesetzen politische Veränderungen herbeizuführen (das ist die bürgerliche Vorstellung von Widerstand), sondern um das Recht auf rechtsbrechende Handlungen, die selbst um eines höheren Rechtes willen, eines Menschenrechtes, z. B. auch des Menschenrechts auf Widerstand, begangen werden. Da aber die bürgerliche Vorstellung von Politik (als »la politique«) einen solchen Rechtsbruch nicht kennt, ja nicht kennen darf – denn dieser Vorstellung nach muss man sich an Recht und Gesetz halten –; und da auch die Aporie, die das Widerstandsrecht impliziert, perhorresziert wird – denn dieser Vorstellung nach muss man sich auch an die logischen Gesetze halten –, ist die Frage des politischen Widerstandes weitgehend aus den demokratieund rechtstheoretischen Debatten verschwunden. Gerne beruft man sich dabei auf Kant, der gegen den logischen Widerspruch im Widerstandsrecht opponiert hat (vgl. Kant 1983 [1797/98]: 438f.), oder man weist darauf hin, dass die Orientierung am Widerstandsrecht »vordemokratisch« sei und zu einer »Refeudalisierung des Demokratieverständnisses« führe (vgl. Maus 1992: 32ff.). Auf die damit verbundene Kritik kann ich an dieser Stelle leider nicht eingehen, sondern nur betonen, dass beide Widerstandsformen verfassungstheoretisch legitimiert werden können (auch international) und sich gegenseitig ergänzen: Die Legitimation für den Rechtsbruch ist in beiden Fällen die Verletzung des Wesensgehaltes eines Grund- oder Menschenrechtes durch die öffentliche Gewalt, aber der primäre Widerstand der direkt Betroffenen würde wahrscheinlich ohne die Unterstützung anderer Regierter kaum irgendwelche nennenswerten Folgen haben (»schließlich«, schreibt Foucault, »sind wir alle Regierte und insofern miteinander solidarisch verbunden«; Foucault 2004 [1981]: 874), während wiederum der sekundäre Widerstand der indirekt Betroffenen ohne den Widerstand der direkt Betroffenen nicht oder nur selten zustande käme, vor allem dann nicht, wenn es sich bei diesen um Flüchtlinge, Asylsuchende oder so genannte »Illegale« handeln sollte. Mit anderen Worten, das Widerstands-

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recht schützt zwar die Grund- und Menschenrechte, aber effektiv ist dieser Schutz nur dann, wenn er von den direkt und/oder indirekt Betroffenen auch tatsächlich wahrgenommen wird. Die Berufung auf das angeblich »nachmetaphysische« bzw. »nachtraditionalistische Prinzip der Volkssouveränität«, wie sie sich bei Ingeborg Maus findet (vgl. Maus 1992: 32), löst jedenfalls beim Vorliegen einer tatsächlichen Verletzung von Grundrechten kein Problem. Denn eine Souveränität, die nicht in der prinzipiellen Möglichkeit des Widerstandes gründet, kann überhaupt nicht als solche bezeichnet werden.

Internationalisierung, Präzisierung und Pluralisierung von Widerstands- und Menschenrechten Allerdings ist die Explikation der behaupteten politischen Produktivität der Aporie des Widerstandsrechts (die im Rückgriff auf Kant von Maus und anderen »Habermasianern« gerne bestritten wird) damit noch nicht abgeschlossen. Denn Foucaults »neues Recht« ist nach dem bisher Gesagten lediglich ein neues Widerstandsrecht. Zwar ist auch dieses ein Menschenrecht, aber es hängt, wie bereits deutlich wurde, als exzeptionelles, absolutes Menschenrecht stets von anderen, im Verhältnis zu ihm relativen Menschenrechten ab, die es schützen soll – und die es nur in dem Maße schützen kann, als deren Geltungsbereich festgelegt und klar umrissen ist, ab wann sie verletzt werden. Das heißt, ein Widerstandsrecht kann nur dann einen Schutz für alle Menschen und darüber hinaus einen starken Schutz liefern, wenn zum einen sein Geltungsbereich universalisiert und damit internationalisiert wird, und wenn zum anderen eine aktive internationale Menschenrechtspolitik betrieben, also »neues Recht« auch in dem Sinne gesetzt wird, dass der Katalog der Menschenrechte präzisiert und pluralisiert, d.h. ausgeweitet wird. Die Anomie, die sich im gegebenen Kontext als Widerstand äußert, muss sich also – ich habe bereits darauf hingewiesen – in der Nomie einer diskursiven Ordnung, hier im Rechtssystem, in irgendeiner Weise geltend machen; und sie ist letzten Endes auch nur von dieser Ordnung bzw. diesem System her begreifbar. Formal ist eine solche Voraussetzung im Falle des Widerstandsrechts dadurch gegeben, dass es selbst von der Geltung bestimmter Rechte abhängig ist. Aber diese formale Voraussetzung ist im Grundgesetz zunächst rein negativ formuliert (»jeder, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen ...«) und erweckt daher den Eindruck, Widerstand und Rechtssystem seien nicht miteinander zu vereinbaren, bzw. für ein Widerstandsrecht sei im demokratischen Rechtsstaat kein Raum mehr (vgl. zu dieser Frage generell Dreier 1991 [1983]). Dass dieser Eindruck täuscht, sollte durch die vorangegangenen Überlegungen deutlich geworden sein, und ebenso, dass es einen Weg von der rein negativen zur positiven Formulierung gibt, die in etwa lauten könnte: Jede

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Form der Drohung mit – wie gesagt: rechtsbrechendem – Widerstand muss und wird letzten Endes in einer Internationalisierung, Präzisierung und Pluralisierung von Menschenrechten ihren Ausdruck finden. Oder umgekehrt: Je universeller, genauer und umfangreicher Menschenrechte kodifiziert sind, desto stärker wird auch die Drohung des Widerstandes für den Fall sein, dass diese Rechte verletzt werden. Das Widerstandsrecht dürfte also einer der politischen Hebel sein, an dem basisdemokratische Politik ansetzen kann. Denn das Widerstandsrecht ist die Basis der demokratischen Rechtsordnung, und es sollte daher auch die Basis der internationalen Rechtsordnung sein. Wobei die Internationalisierung der Menschenrechts- und Widerstandspolitik schon allein deshalb erforderlich ist, um endlich global jenes (absolute) Recht auf (relative) Rechte durchzusetzen, für das schon Hannah Arendt – mit Blick auf das Problem der Flüchtlinge und der Staatenlosen – vor mehr als einem halben Jahrhundert plädiert hat. Das heißt, wenn es nicht einen internationalen Menschenrechtsschutz gibt, der in einem internationalen Widerstandsrecht und einer damit verbundenen internationalen Rechtswegegarantie fundiert ist, wird das Flüchtlingsproblem, um das es auch bei Foucault geht, als »Vorbote der großen Wanderungsbewegung des 21. Jahrhunderts« (Foucault 2003 [1979]: 998f.) weiterhin unlösbar bleiben. Allerdings darf man bei einem solchen abstrakten und formalen Recht, wie es das von Hannah Arendt geforderte (absolute) Recht auf (relative) Rechte ist, auch nicht stehen bleiben. Worauf man im Zuge der kapitalistischen Globalisierung vor allem drängen sollte, ist meines Erachtens eine Ausweitung der positiven Menschenrechte im Sinne sozialer Teilhaberechte, weil nur durch eine Ausweitung solcher Rechte auch das Flüchtlingsproblem realistisch angegangen werden kann. Eine Flüchtlingspolitik jedenfalls, die nicht auch die wirtschaftlichen Motive von Flüchtlingen anerkennt, macht sich etwas vor und will Menschenrechtspolitik und die Bekämpfung der Folgen kapitalistischer Verwertungsprozesse künstlich voneinander trennen. Foucault erklärt zwar noch, dass wir an den Ursachen, die bewirken, dass Männer und Frauen lieber ihre Heimat verlassen, als dort weiterzuleben, nicht viel ändern können (vgl. Foucault 2004 [1981]: 873). Aber die zweite Globalisierung hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass wir genau daran etwas ändern müssen, und zwar nicht, indem wir unsere Einwanderungs- und Asylbestimmungen verschärfen, sondern indem wir u.a. globale soziale Teilhaberechte formulieren, die durch ein internationales Widerstandsrecht (und möglicherweise sogar durch ein Migrationsrecht) geschützt werden. Gleichzeitig sollte dann aber auch das Widerstandsrecht selbst präzisiert werden, und zwar sowohl national als auch – in weiter Ferne – international. Gegenwärtig sieht beispielsweise das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 4 ein Recht auf Widerstand nur dann vor, wenn es jemand unter-

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nimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen. Aber wann ist das der Fall? Da man dies wahrscheinlich erst dann weiß, wenn es zu spät ist, scheint es mir sinnvoller zu sein, das Widerstandsrecht an Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes zu binden, in dem es heißt: »In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.« Widerstand wäre also immer dann rechtens, wenn überhaupt ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet wird. Und wann wäre das der Fall? Genau hierüber muss – in politischer Opposition zur herrschenden Politik – der reelle und ideelle Kampf geführt werden. Der reelle Kampf: als derjenige, der stets mit Widerstand droht und gegebenenfalls, national wie international, auch in praktischen politischen Widerstand übergeht; und der ideelle Kampf: als derjenige, der sich in den theoretischen Diskursen, z.B. auch über Widerstand und Widerstandsrecht, widerspiegelt, – etwa in einem Buch wie dem, in dem dieser Text veröffentlicht ist.

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Kritik oder die Umkehrung des Genitivs. Eine Bricolage 1 ULRICH BRÖCKLING I Kritik [gr.-lat.-frz.], die, -, -en: 1. [wissenschaftliche, künstlerische] Beurteilung, Begutachtung, Bewertung, 2. Beanstandung, Tadel. (Duden. Das Fremdwörterbuch)

Jeder Akt der Kritik setzt sich aus zwei Momenten zusammen: Der Kritiker trifft erstens eine Unterscheidung; er versieht zweitens eine Seite der Unterscheidung mit einer wertenden Markierung und erklärt das, wovon er sich absetzt, für verwerflich, unwahr, stümperhaft, hässlich oder sonst wie ungenügend. Er sagt »ich sehe es anders« und sagt »ich will es nicht«. Der Kritiker ist ein Richter ohne Gesetzbuch, sein Urteil zugleich Verurteilung. Vor dem Tribunal der Kritik gibt es niemals einen Freispruch, aber stets eine Fortsetzung der Beweisaufnahme. Und für jeden Schuldspruch gilt: Revision zugelassen. II Polemik heißt, ein Buch in wenigen seiner Sätze vernichten. Je weniger man es studierte, desto besser. Nur wer vernichten kann, kann kritisieren. Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet. (Walter Benjamin)

Kritik ist mehr als moralischer Einspruch, wissenschaftliche Aufklärung oder ästhetisches Urteil. Sie wurzelt immer auch in einem Affekt. Leiden und Leidenschaften, Klage und Anklage fallen in ihr zusammen: Der kriti1

Der folgende Beitrag ist zuerst erschienen in: Mittelweg 36 15/4, 2006: 93100; für die vorliegende Publikation wurde er geringfügig überarbeitet.

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sche Impuls speist sich aus Idiosynkrasien ebenso wie aus Lust an der Zerstörung. Ekel, Empörung, Abscheu, Hass auf den ersten Blick, die Freude am virtuos gesetzten Treffer und das Triumphgefühl der Überwältigung treiben ihn an. Noch im sachlichsten Argument, im freundschaftlichsten Einwand steckt etwas vom atemlosen Schlachtgetümmel und dem Wunsch nach Annihilation des Gegners. Polemik ist nicht Entgleisung von Kritik, sondern ihr Glutkern. Sie weiß nichts besser, aber dafür, wo es weh tut. III Ich mache kleine Leute mit meiner Polemik so groß, daß sie nachher würdige Objekte für meine Polemik sind und mir kein Mensch einen Vorwurf machen kann. (Karl Kraus)

Kritik braucht Augenmaß und Sinn für Proportionen – um sie zu verzerren: Nicht Gerechtigkeit, Genauigkeit ist ihr Ziel. Deshalb schießt sie darüber hinaus. Der Kritiker porträtiert nicht, er karikiert. Keine noch so gewichtige Autorität, keine noch so erhabene Idee, die er nicht der Lächerlichkeit preisgäbe. Umgekehrt ist ihm keine Mücke zu klein, um nicht einen Elefanten aus ihr zu machen. Vom Kaiser weiß er nur, dass er nackt ist, doch im falsch gesetzten Komma erkennt er die verkehrte Welt. IV Das politische Programm dieser Zeitung scheint somit dürftig; kein tönendes ›Was wir bringen‹, aber ein ehrliches ›Was wir umbringen‹ hat sie sich als Leitwort gewählt. (Karl Kraus)

Nichts wünscht der Kritiker mehr, als dass das Kritisierte verschwindet. Verschwände es aber tatsächlich, was bliebe von ihm selbst? Kritik bewahrt deshalb etwas von dem, was sie zerstört. Sie will abschaffen und erweist sich gerade darin als ungeheuer produktiv: Das erledigte skandalon, der aufgedeckte Irrtum, das entzauberte Kunstwerk – sie wesen fort als Trümmer, Trophäe, Memento. Kritik ist Totenkult am lebenden Objekt; ihr Pathos nicht nur Heroismus des Kampfes, sondern auch vorweggenommene Melancholie des Sieges. V Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie muß mit dem Terrain fertigwerden, das ihr so vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert. Sie ist nicht in der Lage, sich bei sich selbst aufzuhalten, also auf Distanz, in einer Rückzugsposition, wo sie Vorausschau üben und sich sammeln kann: sie ist eine Bewegung ›innerhalb des Sichtfeldes des Feindes‹ […], die sich in einem von ihm kontrollierten Raum abspielt. Sie hat also nicht die Möglichkeit, sich

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einen Gesamtüberblick zu verschaffen und den Gegner in einem abgetrennten, überschaubaren und objektivierbaren Raum zu erfassen. Sie macht einen Schritt nach dem anderen. Sie profitiert von ›Gelegenheiten‹ und ist von ihnen abhängig; sie hat keine Basis, wo sie ihre Gewinne lagern, etwas Eigenes vermehren und Ergebnisse vorhersehen könnte. Was sie gewinnt, kann nicht gehortet werden. Dieser Nicht-Ort ermöglicht ihr zweifellos die Mobilität – aber immer in Abhängigkeit von den Zeitumständen –, um im Fluge die Möglichkeiten zu ergreifen, die der Augenblick bietet. Sie muß wachsam die Lücken nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die Eigentümer auftun. Sie wildert darin und sorgt für Überraschungen. Sie kann dort auftreten, wo man sie nicht erwartet. (Michel de Certeau)

Kritik benötigt gleichermaßen Distanz wie Nähe zu ihrem Gegenstand: Fehlt ihr der Abstand, verheddert sie sich im Gestrüpp des Gegebenen; vermag sie ihn nicht zu überwinden, gleitet sie über die Dinge hinweg. – Kein Plädoyer für eine kritische Theorie mittlerer Reichweite, sondern für taktische Klugheit: Der Kritiker muss sich ebenso ins Handgemenge begeben wie mit dem Zielfernrohr umgehen können. So unsicher wie sein Ort ist auch sein Zeithorizont. Nicht auf Beständigkeit, sondern auf den richtigen Augenblick kommt es ihm an. Und viel, wenn nicht alles hängt daran, die Wahl der Waffen nicht dem Gegner zu überlassen. VI Die Gleichsetzung der Negation der Negation mit Positivität ist die Quintessenz des Identifizierens, das formale Prinzip auf seine reinste Form gebracht. Mit ihm gewinnt im Innersten von Dialektik das antidialektische Prinzip die Oberhand, jene traditionelle Logik, welche more arithmetico minus mal minus als plus verbucht. […] Die Negation der Negation macht diese nicht rückgängig, sondern erweist, daß sie nicht negativ genug war. (Theodor W. Adorno)

Dass konstruktive Kritik ein hölzernes Eisen ist, hat sich herumgesprochen. Die Frage: »Wo bleibt das Positive?« wirkt heute so angestaubt wie Erich Kästners Gedichte. Wer noch immer dem Kritiker vorhält, er möge gefälligst besser machen, was er tadelt, oder zumindest sagen, wie man es besser machen könne, der setzt sich dem Verdacht aus, am status quo zu kleben und nichts dazulernen zu wollen. Das Positive versteckt sich in der pädagogischen Indienstnahme des Negativen; Irritationen, nicht Direktiven sind ihr didaktisches Programm. Nur wer sich aufstören lässt, soll dem Imperativ lebenslangen Lernens folgen können. Der Stachel als kybernetisches Frühwarnsystem: Kritik wird zur Rückkopplung, die Anpassungsbedarf signalisiert und ein flexibles Aussteuern ermöglicht. Permanente Verbesserung sabotiert so die Wende zum Guten.

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VII So lang die Welt steht, war noch keine Autorität Willens, sich zum Gegenstand der Kritik nehmen zu lassen; und gar die Moral kritisiren, die Moral als Problem, als problematisch nehmen: wie? war das nicht – ist das nicht – unmoralisch? – Aber die Moral gebietet nicht nur über jede Art von Schreckmitteln, um sich kritische Hände und Folterwerkzeuge vom Leibe zu halten: ihre Sicherheit liegt noch mehr in einer gewissen Kunst der Bezauberung, auf die sie sich versteht, – sie weiss zu ›begeistern‹. Es gelingt ihr, oft mit einem einzigen Blicke, den kritischen Willen zu lähmen, sogar zu sich hinüberzulocken, ja es giebt Fälle, wo sie ihn gegen sich selbst zu kehren weiss: so dass er sich dann, gleich dem Skorpione, den Stachel in den eignen Leib sticht. (Friedrich Nietzsche)

Kritik braucht keinen normativen Maßstab, aber sie wird ihn nicht los. Jeder Versuch, sie auf einen Wertekanon oder den zwanglosen Zwang diskursiver Rationalität zu verpflichten, immunisiert gerade jenen Kanon und diesen Zwang gegen kritische Fragen. Wo jedoch die Negation keinem allgemeinen Gesetz sich fügen mag, avanciert die Berufung aufs Partikulare zum kategorischen Imperativ – und das kritische Ego wird für sich selbst zum blinden Fleck. Dem Kritiker ist Haltlosigkeit keine Tugend und Moral kein Laster, sondern beides ein Ärgernis. Die einzige Bindung, die er akzeptiert, ist die an die Sache, die seinen Einspruch herausfordert. VIII Gesellschaftskritik ist weniger ein praktischer Abkömmling wissenschaftlichen Wissens als vielmehr der gebildete Vetter der gemeinen Beschwerde. Wir werden gewissermaßen auf natürliche Weise zum Sozialkritiker, indem wir auf der Grundlage der bestehenden Moral(auffassungen) aufbauen und Geschichten von einer Gesellschaft erzählen, die gerechter ist als die unsere, aber niemals eine völlig andere Gesellschaft. Es ist besser, Geschichten zu erzählen – besser, obwohl es keine definitive oder beste Geschichte gibt, besser, obwohl es keine letzte Geschichte gibt, die, sobald sie einmal erzählt wurde, alle künftigen Geschichtenerzähler beschäftigungslos machen müßte. (Michael Walzer)

Der Kritiker weiß, dass seine Geschichte nicht das letzte Wort sein wird, aber er setzt alles daran, es zu behalten. Er duldet keinen Widerspruch und wünscht doch nichts mehr, als dass der Fortgang der Geschichte ihn widerlegt. Er ist rechthaberisch, nur um nicht recht zu behalten. Selbstzweifel sind ihm fremd, sein Pessimismus ist Camouflage im Dienst der selfdestroying prophecy. Stets beschwört er das Schlimmste, aber glaubte er nicht an die Macht seiner Worte, den Gang der Dinge aufzuhalten, so würde er verstummen.

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IX Der Einwand, daß der Gesichtspunkt des Ganzen niemals Teil des Ganzen, daß der Gesichtspunkt der Universalität niemals selbst universal sein kann, stellt uns vor die Frage, wie eine Kritik aussehen könnte, die der Kontingenz unserer Ordnungen, ihrer Selektivität und Exklusivität gerecht wird. Eine solche Kritik müßte sich hüten, den Ort, von dem aus sie ihre Stimme erhebt, in einem Universalisierungs- oder Totalisierungsgeschehen aufgehen zu lassen. Eine Kritik, die aufs Ganze geht, verliert den Boden unter den Füßen. (Bernhard Waldenfels)

Sozialkritik ist ihrer Intention wie ihren Effekten nach entweder korrektiv oder radikal. Entweder konfrontiert sie hehren Anspruch (Freiheit, Wohlstand, Anerkennung…) und finstere Wirklichkeit (Unterdrückung, Elend, Ausbeutung…), oder sie verwirft auch das Ideal (den guten Staat, den freien Markt, den gerechten Lohn…) und postuliert eine alternative Ordnung des Sozialen. Folgt die korrektive Kritik dem Prinzip von Norm und Abweichung und kann daher die Norm selbst nicht in Frage stellen, so steht die radikale Kritik vor dem performativen Widerspruch, sich gegen eine Totalität (des gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs, der reellen Subsumption unter das Kapitalverhältnis, der souveränen Biopolitik…) zu stellen, deren reflexives Moment sie doch ist. Krankt jene an ihrer unerschütterlichen Hoffnung auf die Versöhnung von Sein und Sollen, so verzehrt sich diese im Gestus verzweifelter Unversöhntheit. Jene wird niemals fertig mit der Reform des Bestehenden, diese beschwört unablässig den Einbruch des ganz Anderen. Die Adepten der einen gründen Kirchen oder Parteien, die der anderen warten auf den Messias oder die Revolution. Beide haben immer Recht – vor allem gegenüber einander. X In der Periode des klassischen Modernismus wurde die Krise immer als tatsächliche Möglichkeit eines Bruches erfahren und die Kritik als dieser Bruch selbst. Heute gibt es offensichtlich keine solche Erfahrung, es gibt keine Erfahrung einer Interaktion zwischen Krise und Kritik. […] Das Resultat ist eine permanente Kritik, die blind ist für die Krise, und eine permanente Krise, die taub ist für die Kritik, kurz gesagt – eine perfekte Harmonie! (Boris Buden)

Kritik, so die Hoffnung des Kritikers, funktioniert als Generator: Er provoziert, spitzt zu, verwandelt latente Widersprüche in manifeste Konflikte. Die krisis, die er nicht lösen, sondern auslösen will, ist ihm zugleich der kairos, der Rettung bringen soll. Die Unterscheidungen, die er trifft, sollen den Unterschied machen, auf den es ankommt: »Das Arbeitsfeld der Zeitschrift ist die heutige Krise auf allen Gebieten der Ideologie«, skizzierten Brecht und Benjamin Ende 1930 das Programm der von ihnen geplanten Monatsschrift Krisis und Kritik, »und die Aufgabe der Zeitschrift ist es,

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diese Krise festzustellen oder herbeizuführen, und zwar mit den Mitteln der Kritik«. – Das Problem heute: Eine auf Dauer gestellte Krise ist keine; einer Kritik, die nichts zu entscheiden hat, bleibt nur die Pose der Entschiedenheit. XI Every tool is a weapon – if you hold it right. (Ani DiFranco) Every weapon is a tool – if you hold it right. (UB)

Kritik und Kapitalismus gehören zusammen. Der Kapitalismus erhält sich, indem er sich fortwährend ändert; »schöpferische Zerstörung« (Schumpeter) ist sein Motor, »die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände« (Marx/Engels) seine Konsequenz. Weil unter kapitalistischen Bedingungen nur diejenigen sich behaupten können, die besser, schneller, billiger, kurzum: die anders sind als die Konkurrenz, steht Kritik am Kapitalismus vor der paradoxen Aufgabe, anders anders zu sein. Auf einen festen Standpunkt, von dem aus sie ihr Nein formulieren könnte, muss sie verzichten, den Gestus der Überbietung vermeiden. Ein unberührtes Außen oder einen dem Akkumulationszwang entzogenen Innenraum gibt es nicht oder wenn, dann nur als Zone künftiger Eroberungen, wo ungenutzte Ressourcen ihrer Erschließung harren. Der Markt ›verarbeitet‹ unentwegt Alteritäten, indem er sie entweder als Alleinstellungsmerkmale privilegiert oder sie als unverwertbar aus dem gesellschaftlichen Verkehr ausschließt. Die Kunst, anders anders zu sein, ist nichts anderes als der Versuch, die Unausweichlichkeit dieser Alternative in Frage zu stellen und Wege jenseits von Einverleibung und Aussonderung aufzutun. Sie verlangt deshalb immer neue Absetzbewegungen, den Mut zur Destruktion, Kreativität, Eigensinn – und damit selbst durchaus kapitalistische Tugenden. Gleichwohl erschöpft sie sich nicht in Mimesis: Die Virtuosen des Andersanders-Seins beschleunigen nicht einfach nur den Wettbewerb der Alteritäten. Beharrlich setzen sie dem Distinktionsregime ihre Indifferenz entgegen, dem Imperativ der Nutzenmaximierung die Spiele der Nutzlosigkeit und bestehen darauf, dass es jenseits der Freiheit zu wählen und der Unfreiheit, nicht wählen zu dürfen, noch etwas Drittes gibt: die Freiheit, nicht wählen zu müssen. XII Das ganze Problem der kritischen gouvernementalen Vernunft wird sich um die Frage drehen, wie man es anstellt, nicht zu viel zu regieren. (Michel Foucault)

Kritik der Macht war bisher entweder Kritik der Gewalt oder Kritik des Gesetzes, nicht jedoch Kritik der individuellen Autonomie und vertragli-

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chen Bindung. Gegenüber den Exzessen staatlich organisierter Herrschaft, die das vergangene Jahrhundert prägten, lag es nahe, den Einspruch gegen das Regiertwerden im Namen der Selbstbestimmung zu führen und die freie Assoziation zum Fluchtpunkt sozialer Utopien zu machen. Solche Kritik war letztlich ein liberales Projekt. Ihr Grundverdacht: es wird zuviel regiert. Noch das anarchistische »Keine Macht für Niemand!« übersetzte sich entweder in ein Stirnersches »Mir geht nichts über mich!« oder mündete in basisdemokratische Gruppenexperimente. Dem entfesselten Liberalismus der Gegenwart ist von dieser Position aus kaum beizukommen. Die Transformation der Gesellschaft im Zeichen des Marktes fordert und fördert gerade jenen Typus des unabhängigen Individuums, den die antitotalitäre Kritik retten wollte. Distinktionszwang hat den Furor der Homogenisierung abgelöst. Eine Kritik auf der Höhe der Zeit hätte genau hier anzusetzen. Statt das Spiegelspiel von Markt versus Staat, von Selbst- versus Fremdbestimmung weiterzuführen und wahlweise die eine gegen die andere Seite auszuspielen oder ihr Verhältnis neu auszubalancieren, hätte sie nach Wegen zu suchen, dieses Spiel hinter sich zu lassen. XIII Die Kritische Theorie ist eine Success Story. […] Ja, wir leben in einer Gesellschaft der Gesellschaftskritiker. Ist doch okay. (Michael Rutschky)

Kritik mag unbequem sein – für den, der sie übt, wie für den, dem sie gilt –, aber unter dem Diktat der Fitness ist Bequemlichkeit ohnehin ein unverzeihliches Laster. Ein kritischer Habitus gehört deshalb zur Grundausstattung zeitgenössischer Selbstinszenierungen; für dogmatisch, affirmativ, konformistisch, kurzum, für unkritisch gehalten zu werden, disqualifiziert. Kritik ist chic, eine sportlich-subversive Attitüde, die gerade durch Unangepasstheit Anpassungsfähigkeit demonstriert. Noch die Kritik des kritischen common sense bleibt diesem verhaftet. Die Klage, die Arbeit der Negation sei zum bloßen Distinktionsspiel verkommen, ist nicht der schlechteste Spielzug in eben diesem Spiel. XIV Die kritische Theorie muß sich in ihrer eigenen Sprache mitteilen. Diese Sprache ist die Sprache des Widerspruchs, die in ihrer Form dialektisch sein muß, wie sie es in ihrem Inhalt ist. Sie ist Kritik der Totalität und geschichtliche Kritik. Sie ist kein ›Nullpunkt des Schreibens‹, sondern seine Umkehrung. Sie ist keine Negation des Stils, sondern der Stil der Negation. In ihrem Stil selbst ist die Darlegung der dialektischen Theorie nach den Regeln der herrschenden Sprache und für den von ihnen anerzogenen Geschmack ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in der positiven Verwendung der bestehenden Begriffe zugleich auch das Verständ-

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nis ihrer wiedergefundenen fließenden Bewegung, ihren notwendigen Untergang einschließt. […] Dieses theoretische Bewußtsein der Bewegung, in dem die Spur der Bewegung selbst gegenwärtig sein muß, äußert sich durch die Umkehrung der etablierten Beziehungen zwischen den Begriffen und durch die Entwendung aller Errungenschaften der früheren Kritik. Die Umkehrung des Genitivs ist dieser in der Form des Denkens aufbewahrte Ausdruck der geschichtlichen Revolutionen, der als der epigrammatische Stil Hegels betrachtet wurde. Als der junge Marx, dem systematischen Gebrauch Feuerbachs entsprechend, den Ersatz des Subjekts durch das Prädikat empfahl, gelangte er zu der konsequentesten Anwendung dieses aufrührerischen Stils, der aus der Philosophie des Elends das Elend der Philosophie hervorzieht. (Guy Debord)

Kritik ist Platzhalterin. Als intellektuelle und/oder künstlerische Praxis antizipiert sie jene Umwälzungen, die sie selbst nicht herbeiführen kann. Genitivkonstruktionen lassen sich leichter umkehren als Herrschaftsstrukturen, das Objekt eines Satzes lässt sich leichter zum Subjekt machen als das der Geschichte. Weil der Kritiker weiß, wie beschränkt seine Macht ist, ermächtigt er sich selbst. Der Glaube, die »versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen« zu können, »daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt« (Marx), ist seine – vielleicht notwendige – Autosuggestion. Seine Waffe ist der Spiegel, den er seinem Gegenüber vorhält und es darin zur Kenntlichkeit entstellt. Überraschende Perspektivwechsel, dialektische Volten, das ironisierende détournement sind seine Taktiken. Wenn aber Beschleunigung, nicht Versteinerung das Signum der Zeit ist, wird die Bewegung der Kritik zur Kritik der Bewegung. Auch sie ist das Gegenteil von Stillstand.

Literatur Adorno, Theodor W. (1975): Negative Dialektik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 161f. Benjamin, Walter (1972): »Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen«. (1927) In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 108f. Benjamin, Walter/Brecht, Bertold (2004): »Dokumente zum Zeitschriftenprojekt ›Krise und Kritik‹«. In: Erdmut Wizisla (Hg.), Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 302. Buden, Boris (2006): »Kritik ohne Krise: Krise ohne Kritik«. http://transform.eipcp.net/transversal/0106/buden/de [Juni 2006]. De Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns, Berlin: Merve Verlag, S. 89.

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Debord, Guy (1978): Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg: Edition Nautilus, S. 113f. DiFranco, Ani (1993): »My IQ«. Auf: Puddle Dive, CD/Righteous Babe Records. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 29. Kraus, Karl Die Fackel, Nr. 1 (April 1899), S. 1; Nr. 381-383 (19. September 1913), S. 71. Marx, Karl (1976): »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«. In: ders./Friedrich Engels: Werke, Bd. 1, Berlin: Dietz Verlag, S. 380. Nietzsche, Friedrich (1999): »Morgenröthe. Gedanken über moralische Vorurtheile«. in: G. Colli/M. Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe, Bd. 3, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, S. 12f. Rutschky, Michael (2003): »Kritisches Bewusstsein«. die tageszeitung, 22. Januar 2003, S. 12. Waldenfels, Bernhard (2001): »Abenteuer der Kritik«. In: ders., Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge, Göttingen: Wallstein Verlag, S. 126f. Walzer, Michael (1993): Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuchverlag, S. 78.

Spielräume? WOLFGANG FACH 1. Häufig genug hat sich Michel Foucault die Frage anhören müssen, wie denn in »seiner« Welt Widerstand überhaupt noch möglich sei. Diese Thematik gehört zum Standardrepertoire einer Theorietradition, die »kritisch« sein will, aber nicht »negativ«, deren Botschaft also lautet: dass es zwar im schlechten Leben kein gutes geben könne, die schlechte Welt indes nicht auf alle Ewigkeiten bestehen müsse, weil wir sie abschütteln oder wenigstens soweit ummodeln könnten, dass ihre Bewohner gut zu leben vermöchten. 2. Wie aber sollte diese Transformation auf Foucaults Spuren passieren? Sie funktioniert nicht, haben kritische Stimmen gemeint und dabei gerne auf die Gefängnis-Metapher verwiesen: Wer die Welt als ein einziges großes Gefängnis konstruiere, das sein Regiment auf perfektionierte Techniken des »Überwachens und Strafens« gründe, der könne an Spielräume für Abweichungen nicht denken. In der Tat: Man muss sich nur die Gefängnisordnung, wie sie Foucault rekonstruiert hat, in Erinnerung rufen, um dem Einwand etwas abzugewinnen: Die Menschen unterliegen dort einem strikten Regime, das jeden Tag zum fugenlosen Arbeits-Tag macht und jeden Bewohner zum maschinellen Arbeitstier. Dank des ewig-gleichen, schweigsam absolvierten Trotts werden sie so lange an eine willfährige Disziplin gewöhnt, bis sie gar nicht mehr anders können – und, fahren moderne Apologeten dieser Habitualisierung fort, am Ende sogar lieb gewinnen, was ihnen zunächst andressiert werden musste (Foucault 1977; Wilson 1995). Das Kalkül setzt eine Differenz und eine Relation voraus – zwischen Willen (»Seele«) und Handlung (»Körper«), wobei diese auf jenen zurückwirkt:

Wille ĸ Handlung

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Die Differenz ist nicht neu. Als politisches Problem wird sie zum Beispiel bei Hobbes thematisiert. Seiner Meinung nach ist die Vorstellungswelt des Willens nicht kontrollierbar – Gedanken sind nun mal frei, niemand kann sie erraten; Handlungen hingegen lassen sich regieren. Konkret: Welchen Gott die Menschen anbeten wollen, bleibt ihnen überlassen; besuchen aber muss jedermann den staatlich verordneten Gottesdienst (wobei man spekulieren mag, ob nicht auch Hobbes auf konditionierende Effekte baut). 3. Foucault schlägt im selben Atemzug, da er Praktiken der Überwachung und Bestrafung analysiert, ein Konzept von Macht vor, das mit dem Gedanken der Dressur nicht zusammenpasst. Bekanntlich stellt er eine unauflösliche Verbindung von Macht- und Kampfbegriff her. Einen Kampf aufnehmen kann aber nur, wer über einen Rest an Autonomie verfügt, sich also nicht willenlos unterworfen hat. Woher aber soll diese Autonomie kommen? Und wie sollte sie sich äußern? Wo wäre der archimedische Punkt außerhalb der Gefängniswelt? Quellen der Resistenz könnten dann »sprudeln«, wenn die Umgebung nicht ihrerseits hermetisch in eine Machtmatrix eingespannt wäre. Doch auch das externe Terrain wird von einem dichten Netz gefängnis-äquivalenter Organisationen bedeckt. 4. Das zeigen Foucaults Analysen ebenfalls: Zu einer bestimmten Zeit wiederholen sich die Disziplinartechniken in organisatorisch völlig separaten Institutionen, weil diese arbeitsteilig dasselbe Ziel verfolgen: die Produktion des disziplinierten Subjekts. Was Foucault an Schulroutinen ausgräbt, zeigt exakt dieselbe Logik wie das Prozedere im Gefängnis: Der Schultag ist, solange er eben dauert, restlos verplant und zergliedert, alle Phasen haben markante Anfänge und Enden (Glockentöne), die Klassenpopulation bewegt sich möglichst militärisch-synchron. In gewissem Sinne wird dieses Regime insofern noch weiter perfektioniert, als es seine Unterworfenen hierarchisiert und die oberen »Chargen« am Regierungsgeschäft teilhaben lässt (gute Schüler überwachen schlechte etc. pp.). Dadurch entsteht ein fließender Übergang, dessen Raffinesse darin besteht, dass sich Befehl und Gehorsam sozial nicht mehr eindeutig zuordnen lassen – die Regierten regieren sich selbst und werden damit auch zu Regenten. Gefängnisse und andere Organisationen haben sich dieses »Tricks« freilich ebenfalls bedient (man denke nur an »verdiente« Gefangene, die Verwaltungsaufgaben übernehmen, oder »Vorarbeiter« mit der Funktion, ihre Kohorte auf Trab zu bringen) 5. Die Architektur, auch im wörtlichen Sinne, der Totalität und Ambivalenz des Regierens geht auf Jeremy Bentham zurück, dessen Panopticon als multifunktionale Disziplinierungsanstalt konzipiert ist. Bentham will jedweden Betrieb, der nach dem Maschinenprinzip funktioniert – Gefäng-

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nisse, Schulen, Kasernen, Fabriken, letztlich: die arbeitsteilige Gesellschaft – in vielzellige Gebäude stecken, die ihre Insassen dazu bringen, sich lückenlos selbst zu regieren – deshalb besonders, weil sie nicht wissen können, wann ihre Kontrolleure anwesend sind, um jede Art von Gegenwehr schon im Keim zu ersticken. Dass in solchen Gemäuern die Insassen daran gehindert werden, miteinander zu kommunizieren, also: nichts verabreden können, ist ein wesentlicher Aspekt ihres Designs. 6. Dieses »kristallisierende« Denken ins Zeitalter der Massen und Klassen verlängert zu haben, ist die spezifische Leistung Emile Durkheims und der französischen »Solidaritätsbewegung« um Léon Bourgeois. Gesellschaften sind danach arbeitsteilig-funktionale Organismen, die jedem Menschen an seinem Platz eine spezifische Aufgabe zuweisen – weswegen er sich nicht »bewegen« darf, weil ansonsten Sand ins Getriebe käme, mit unabsehbaren Konsequenzen. So gesehen sind Mitglieder einer Gesellschaft zur Solidarität verdammt, zu einer anderen sind sie deshalb verpflichtet: die totale Kooperation impliziert eine totale Kompensation, falls etwas schief geht: Das moderne Leben ist eine Ansammlung von Risiken, gegen die jeder durch alle versichert werden muss. Diese doppelte Solidarität stellt sich freilich, ihrer »objektiven« Zwanghaftigkeit ungeachtet, nicht von selbst ein. Man muss von ihr überzeugt worden sein – und dafür »erfindet« Durkheim die Massenerziehung in »Volksschulen« (vgl. Durkheim 1984). Dort lernen nachwachsende Generationen, was Simmel zur selben Zeit als Bedingung einer glückenden Vergesellschaftung formuliert hat: dass, subjektiv gesehen, »für jede Persönlichkeit eine Position und Leistung innerhalb der Gesellschaft bestehe, zu der sie ›berufen‹ ist« (vgl. Simmel 1983: 292). 7. Die Schule kann also beides sein: Organisation der Disziplin (wie bei Foucault) und Agentur der Ideologie. In beiden Hinsichten ist sie aber Teil einer Welt, die als Anstalt begriffen wird, formal öffentlich, faktisch geschlossen. Hermetische Pläne nach Benthams oder Durkheims Art verraten tiefsitzende Ängste – davor, dass unkontrollierte Nischen entstehen, in denen sich unkontrollierbare Dynamiken herausbilden mögen. Diese obsessive Bewegungs-Aversion entspringt einer »Sorge um sich«, die den modernen Herrschaftsapparat an seine »alteuropäischen« Vorläufer bindet (vgl. Lovejoy 1993). Bis ins 18. Jahrhundert hielt sich die Idee, der Kosmos sei eine »große Kette der Wesen« und, so verstanden, durch drei Prinzipien gekennzeichnet. Erstens: das der Fülle – die Welt ist voll in dem Sinne, dass es nichts gibt, was nicht schon wirklich existiert; weswegen niemand, vor allem kein Herrschender, befürchten muss, eines Tages mit Phänomenen gleich welcher Art konfrontiert zu werden, auf die er nicht gefasst sein konnte. Zweitens: das der Kontinuität – unser Kosmos kennt keine Lücken, ihre Elemente schließen nahtlos aneinander an (der nied-

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rigste Engel grenzt an den höchstmögenden Menschen, der ordinärste Mensch ist Anrainer des höchstentwickelten Affen usw.), da Zwischenräume schwarzen Löchern gleichen, in deren Innern sich potentiell Schädliches entwickeln mag. Drittens: das der Hierarchie – es gibt durchgehend oben und unten, wobei jede Position auf dieser »Himmelsleiter« mit spezifischen, konstanten Rechten und Pflichten ausgestattet ist – deren geheime Funktion darin besteht, die ewige Ordnung funktional zu verewigen. Denn würde einer seinen »Stand« verlassen und »nach oben« streben oder aber »unten« landen, hinterließe er auf seinem Niveau eine Lücke – und Lücken sind, wie wir wissen, überaus fatal. 8. Ob »die« Welt oder die Gefängnis-, Schul-, Militär- oder Arbeitswelt – es fällt auf, dass überall dieselben Prinzipien gelten. Offenbar waren die Menschen gute Schüler ihres göttlichen Meisters. Oder besser gesagt: Augenscheinlich sind die »herrschenden Gedanken« über jene Zeitenschwelle hinweg gleich geblieben – beherrschbar scheint nur ein absolut bewegungsloses Universum zu sein. Mobilität ist potentielles Chaos, ein Vorbote von Unruhe, der Keim des Krieges, das Indiz für Zerfall. 9. Die (soziale) Welt als geschlossene Anstalt ist ein Sachverhalt, der hergestellt werden muss, innerhalb von Organisationen nicht weniger als draußen »in der Freiheit« (davon zeugen hinreichend viele Schul- und Gefängnisreporte). Foucault subsumiert die Gesamtheit der einschlägigen Praktiken unter dem Begriff Dispositiv. Architektonische (Bentham) oder pädagogische (Durkheim) Dispositive sind allerdings monomane Versionen, die – illusorisch – alles auf eine Karte setzen. Am anderen Ende steht Hegel, der praktisch die gesamte bürgerliche Gesellschaft »disposivitiert«: In Familien, Kommunen, Verbänden üben wir das Zusammenleben, der Markt weitet die Perspektive und bewirkt, dass wir über den Tellerrand unserer kleinen Kreise hinaus auf weitere Zusammenhänge schauen, im alles krönenden Staat schließlich verbindet sich beides, Gemeinschaft und Gesellschaft. In Hegels Welt »wimmelt« zwar viel, doch wirklich bewegen soll sich auch hier nichts. Weder das institutionelle Spektrum noch sein komplexes Resultat sind allerdings Resultat menschlichen Regierens – über so viel Komplexität gebietet nur eine transzendentale Instanz, der »Weltgeist«. Und nur er selbst, keine Gegenmacht dieser Erde, könnte die Verhältnisse durcheinanderbringen. 10. Geschlossene »Anstalten« (im doppelten Sinne) wie das Gefängnis oder die Pädagogik sind zunächst einmal Produkte, hinter denen strategische Kalküle stehen. Ihre Propheten sind Perfektionisten, sprich: sie gehen euphorisch davon aus, dass die verfolgten Absichten bei den verfolgten Adressaten tatsächlich ankommen, eins zu eins. Daher stehen sie nicht vor dem Problem, das immer wieder gegen Foucault ins Feld geführt worden

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ist – dass die Rezeptionsseite ein blinder Fleck bleibt: Gesetzestexte, Baupläne oder Verhaltensbreviere müssen »wirken« und dürfen nicht nur auf dem Papier stehen. Foucault konzediert selbst, dass sein Blick nur herrschende Logiken, nicht aber reale Effekte erkennen kann. 11. Regieren ist keine »lineare« Angelegenheit. Dispositive wirken immer nur auf Distanz, auch wenn Distanzen variieren: Gefängnisregeln sind viel näher am Adressaten und haben daher die Vermutung für sich, dass sie dessen Verhalten deutlich stärker programmieren als Programmschriften (von Meisterdenkern) oder Gesetzestexte (etwa das Verbot von Drogen). Doch immer bleibt eine »ontologische« Differenz, jener Lücke in der »großen Kette der Wesen« gleich, die den Kosmologien alter und neuer Art seit je ein Graus gewesen ist. Die Lage ist allerdings insofern komplizierter, als die Lücke nun im Innern des Subjekts entsteht. Schon im 16. Jahrhundert hat La Boétie darauf hingewiesen, dass kein Tyrann seine Untertanen tyrannisieren kann, wenn sie nicht wollen, also stillschweigend sich fügen; auch Hegel lässt keinen Zweifel, dass ohne ein »Ich will« das letzte Wort nicht gesprochen ist. Wenn dem so sein sollte, dann sind Strategien, die das Bewusstsein einkreisen sollen, vom »Gewebe« der jeweiligen Zwischenwelten abhängig. Nicht von ungefähr haben jene Gefängnisverwalter, deren Anweisungen Foucault auswertet, alles daran gesetzt, den Alltag lückenlos zu organisieren und Insassengespräche ebenso strikt zu untersagen. 12. Andererseits: So falsch es wäre, eine »regierende« Omnipotenz zu unterstellen, so falsch wäre es, Machtmängel umstandslos als Spielräume zu deklarieren. Wer nichts von dem, was er wollen darf, umsetzt, weil ihn die Mächtigen daran hindern, genießt eine wertlose »Zitadellenfreiheit«. Aus Gedanken müssen mindestens Taten folgen oder, wie Hegel sagt, die Freiheit muss ein »Dasein« haben, im unwahrscheinlichen Idealfall das ursprünglich gewollte:

Wille ĺ Handlung ĺ [Wirkung § Absicht] Auf beiden Seiten der Machtrelation treten mithin Irritationen auf – Regierung wie Opposition muss mit unerwünschten Effekten oder gar Effektlosigkeit rechnen. Die Differenz liegt auf der Hand. Hegel hat sie, bezogen auf Absicht und Wirkung von Aktionen, so formuliert: »Es ist allerdings der Fall, daß bei einer Handlung mehr oder weniger Umstände zuschlagen können [...]. Trotzdem ist hier keine Unterscheidung von Glück und Unglück zu machen, denn der Mensch muss sich handelnd mit der Äußerlichkeit abgeben. Ein altes Sprichwort sagt mit Recht: der Stein, der aus der Hand geworfen wird, ist des Teufels. Indem ich handle, setze ich mich selbst dem Unglück

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aus; dieses hat also ein Recht an mich und ist ein Dasein meines eigenen Wollens.« (Hegel 1986: 286, 225)

Und Hirschman (1991) hat resümiert, welche Typen des »Unglücks« ins Feld geführt worden sind: perversity – Pläne werden umgesetzt, erzeugen freilich Effekte, die das Kalkül in sein Gegenteil verkehren ; futility – Absichten werden zwar verfolgt, doch heraus kommt dabei gar nichts: alles bleibt so, wie es vorher war, weil sich mit den gegebenen Möglichkeiten manche Dinge eben nicht verändern lassen; endlich jeopardy – es werden die anvisierten Ziele zwar erreicht, doch entstehen dabei Kosten in einer Höhe, die das ganze Unterfangen kontraproduktiv erscheinen lassen. 13. Es kommt also auf die Natur der Welt an, die sich zwischen Dispositiv (»Befehl«) und Disposition (»Gehorsam«) schiebt. Foucault siedelt eben da die »Mikrophysik der Macht« an – ihre »Wirksamkeit liegt sozusagen zwischen diesen großen Funktionseinheiten [den Institutionen] und den Körpern mit ihrer Materialität und ihren Kräften.« (1977, 38). Im Großen und Ganzen gibt es vier konkurrierende Vermutungen, gefasst in vier abstrakten Konzepten: Werk, System, Fetisch, Serie. 14. Welt als Werk – wenn nicht dem Begriff, so doch der Sache nach hat Carl Schmitt dieses Bild einer politisch-romantischen Kosmologie zugeordnet, die unterstellt, dass sich das (gesellschaftliche) Sein widerstandslos jedem Impuls fügt: »Aus immer neuen Gelegenheiten entsteht eine immer neue, aber immer nur occasionelle Welt, eine Welt ohne Substanz und funktionelle Bindung, ohne feste Führung, ohne Konklusion und Definition, ohne Entscheidung, ohne letztes Gericht, unendlich weitergehend, geführt nur von der magischen Hand des Zufalls, the magic hand of chance.« (Schmitt 1998: 19f.)

Das was ist, und sähe es noch so festgemauert aus, kann also jeden Augenblick von jedermann und durch jede Aktion »gekippt« werden – unter solchen Umständen »kann wirklich alles zum Anlass für alles werden« (Schmitt) – und jeder »Spinner« zum Schöpfer. Diese (später chaostheoretisch aktualisierte) Botschaft ist eine gute Nachricht für jene, die den Status quo »zum Tanzen bringen« wollen, weil sie ihm ihre Melodie nur vorpfeifen müssen; und weil Plastizität als »großer Leveller« wirkt: Machtdifferenzen werden nivelliert, weil Übermacht zu überflüssiger Macht wird. Dafür ist freilich ein Preis zu entrichten: die Impulse löschen sich zwar nicht wechselseitig aus, so dass am Ende doch alles beim Alten bliebe, doch der Vektor des Kräftefelds verliert alle Konstanz und damit Berechenbarkeit. An eine gezielte Veränderung ist unter solchen Bedingungen nicht zu denken – was den monadisch »gestrickten« Romantizis-

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mus so lange nicht stört, wie er nicht zur Tat schreiten will: was ihm (Schmitt zufolge) sowieso ferne liegt. 15. Die Welt hat den Charakter eines Systems (oder einer »großen Kette«), wenn sie funktional so feingliedrig ausdifferenziert und vernetzt ist, dass Akteure zu »Marionetten« oder »Charaktermasken« degenerieren. Verstoßen sie an ihrem jeweiligen Platz gegen herrschende Funktionsbedingungen, werden sie einfach aussortiert und gegebenenfalls durch besser funktionierende »Ersatzleute« ersetzt. Dieser Kosmos lässt keine Abweichungen zu oder korrigiert sie zumindest umgehend, und so gesehen nivelliert auch er: weder vermag die (Über-)Macht »großer Funktionseinheiten« sich den Systemzwängen zu entziehen, noch kann das Subjekt »aus seiner Haut heraus« und gewissermaßen gegen das Ganze und seine Mängel Amok laufen. Insofern herrscht streng genommen niemand. Durkheims Gesellschaftsbild tendiert natürlich in diese Richtung, doch seine konsequenteste Ausprägung findet dieses Denken zeitgleich bei Herbert Spencer – er sieht in Gesellschaften ein evolutionäres Moment wirken, dem sich keine Macht der Welt entziehen kann; versucht sie es, bezahlt sie dafür: »Humanity is being pressed against the inexorable necessities of its new position – is being moulded into harmony with them, and has to bear the resulting unhappiness as best it can. The process must be undergone, and the sufferings must be endured. No power on earth, no cunningly-devised laws of statesmen, no world-rectifying schemes of the humane, no communist panaceas, no reforms that men ever did broach or ever will broach, can diminish them one jot. Intensified they may be, and are« (Spencer 1981: 108). Punkt.

16. Die Welt (der Gesellschaft) als Fetisch – so sieht sie Durkheim, nicht von ungefähr in seiner Abhandlung über das »religiöse Leben«. Es ist danach »nicht zweifelhaft, daß eine Gesellschaft alles hat, um in den Geistern [sprich: Hirnen], allein durch ihre Wirkung auf sie, das Gefühl des Göttlichen zu wecken; denn sie ist für ihre Mitglieder das, was Gott für seine Gläubigen ist.« Daraus kann man folgern, dass, »wenn wir ihren Befehlen gehorchen«, wir das nicht einfach darum tun, »weil sie über unseren Widerstand triumphieren kann, sondern vor allem, weil sie Gegenstand einer wirklichen Ehrfurcht ist.« (Durkheim 1994: 285) Zum Teil resultiert diese Mythologisierung aus strategischen Operationen derer, die davon profitieren: Polit-Priester inszenieren Rituale und zelebrieren Distanzen, um sich als »sterbliche Götter« im allgemeinen Bewusstsein einzunisten. Den Grundbestand ihrer Transzendentalität verdankt die soziale Welt freilich dem so schlichten wie eindrücklichen Faktum, dass sie immer schon da ist, um die Menschen mit ihren »Techniken und Traditionen« (Durkheim) zu »rahmen«. Sämtliche Zivilisationsgüter verdanken wir schließlich »der Gesellschaft, und wenn wir auch im allgemeinen nicht wissen,

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aus welcher Quelle sie kommen, so wissen wir wenigstens, dass sie nicht unser Werk sind.« (Durkheim 1994: 292). Die Gesellschaft schenkt uns wie Gott das Leben, gewissermaßen. Deswegen sind oppositionelle Handlungsspielräume ohne Aufklärung, also eine kritische Sozialwissenschaft, nicht zu haben. Und sogar dann wird es schwer, denn wenn »die Wissenschaft sich gegen eine starke öffentliche Meinungsströmung stellt, gerät sie in Gefahr, ihren Kredit zu verlieren.« (Durkheim 1994: 287). 17. Serie – dieses Konzept geht auf Bourdieu zurück und bezeichnet eine (»serielle«) Gesellschaft, »bestehend aus ständig fluktuierenden isolierten einzelnen, die nur für sich sprechen und handeln können«. (Bourdieu 1989: 38). Daraus würde eine unübersichtliche, zersplitterte Welt entstehen (der »romantischen« Wirklichkeit nicht unähnlich), hätten privilegierte Gruppen nicht eine patente Möglichkeit gefunden, das unübersichtliche Feld in ihrem Sinne zu strukturieren. Dazu dienen ihnen zwei Mechanismen: sie lassen sich von dem »Haufen« (Hegel) »delegieren« und »repräsentieren« ihn dann. Delegation »ist der Akt, durch den sich eine Gruppe formiert, indem sie sich mit all dem ausstattet, was sie zu einer Gruppe macht: eine Art Zentralstelle mit ständigem Personal« und »ein Büro samt allem, was zu einer entsprechenden bürokratischen Organisation gehört« (Bourdieu 1989: 38). Delegation, auch die stillschweigende, begründet Repräsentation: »Durch den unbewussten Akt der Delegierung [...] wird der Mandatsträger befähigt, als Substitut der Mandanten seiner Gruppe zu handeln.« Glaubt man Bourdieu, dann ist dies überhaupt die einzige Form, in der sich Kollektive gemeinhin äußern können, denn »wo Individuen isoliert sind, stumm, sprachlos, unvermögend oder machtlos, ihre Stimme zu erheben und sich verständlich zu machen, steht ihnen stets nur die eine Alternative offen: zu schweigen oder andere für sich sprechen zu lassen.« (Bourdieu 1989: 39). Mit anderen Worten: In einem nennenswerten Sinn entstehen Handlungsspielräume erst oberhalb der folgenlosen Geschäftigkeit des vor sich hin werkelnden Subjekts: dann jedenfalls, wenn sich Wortführer herauskristallisieren, die durch das Wort führen und dadurch ihre Klientel in bestimmte Richtungen dirigieren. 18. Naiv wäre es allerdings, die unterschiedlichen Welten gegeneinander ausspielen und herausfinden zu wollen, welche von ihnen die wirkliche ist. Alle Konstrukte reflektieren bestimmte Erfahrungen mit bestimmten Welten, und kein Kosmos ist so festgefügt, dass er sich seinen Bewohnern kategorisch aufdrängen würde. Zur Erinnerung: Durkheims Weltaltar ist nicht mehr als ein »Schleier des Nichtwissens«, den die wissenschaftliche Aufklärung einfach wegziehen könnte, sobald sie im politischen Kampf mit dem ideologischen Lager erst einmal am längeren Hebel sitzt. Und selbst Spencer, der wortstarke Missionar evolutionärer Sachgesetzlichkeit, kann ja nicht einfach zuschauen, wie sich die natürlichen Zwänge ihre

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Bahn brechen: muss er doch mit ansehen, wie ein blinder Aktivismus, getrieben vom zeitgenössischen Elend, hartnäckig versucht, gegen die ewige Natur anzuregieren: »There is a great want of ... practical humility. Though we have less confidence than our ancestors, who did not hesitate to organize in law their judgements on all subjects whatever, we have yet far too much. Though we have ceased to assume the infallibility of our theological beliefs and so ceased to enact them, we have not ceased to enact hosts of other beliefs of an equally doubtful kind. Though we no longer presume to coerce men for their spiritual good, we still think ourselves called upon to coerce them for their material good: not seeing that the one is as useless and as unwarrantable as the other.« (Spencer 1981: 267f.)

Natur und Wider-Natur, Macht und Gegenmacht halten sich also die Waage, jedenfalls dann, wenn der Widerstand staatlich organisiert ist: individuelle Opposition gegen den Fortschritt wäre »natürlich« zwecklos. 19. Die Frage muss also sein: Wann und wo findet sich wer in welcher Welt wieder – und hat deshalb welchen Spielraum? Oder etwas karger formuliert: Verhindern die Umstände, dass Entscheidungen in Handlungen umgesetzt werden? Und/oder dass Effekte den anvisierten Zielen entsprechen?

Wille ĺ Handlung ĺ [Wirkung § Absicht] 20. Überraschen mag, dass selbst die occasionalistische Willkür nach romantischer Art nicht »aus der Welt« ist: »Für Hush Puppies – die klassischen amerikanischen Wildlederschuhe mit der leichten Kreppsohle – kam der Tipping Point irgendwann zwischen Ende 1994 und Anfang1995. Die Marke war bis zu diesem Zeitpunkt praktisch tot gewesen. Es wurden nur noch etwa 30.000 Paar im Jahr verkauft, zum größten Teil in der Provinz und in Schuhläden in Kleinstädten. Wolverine, die Firma, die die Hush Puppies herstellt, dachte daran, die Produktion der Schuhe, die sie berühmt gemacht hatten, ganz einzustellen. Aber dann geschah etwas Seltsames. Bei Modeaufnahmen wurden zwei leitende Wolverine-Manager – Owen Baxter und Geoffrey Lewis – von einem Designer angesprochen, der ihnen berichtete, dass die klassischen Hush Puppies in den Clubs und Bars in Downtown Manhattan plötzlich der letzte Schrei seien.« Kurze Zeit später hatte sich die Schuh-Welt völlig gedreht: »1995 verkaufte die Firma 430.000 Paar der klassischen Hush Puppies, und im nächsten Jahr verkaufte sie vier Mal so viele und im darauf folgenden Jahr noch mehr, bis Hush Puppies wieder ein unverzichtbarer Teil der Kleidung junger amerikanischer Männer geworden war « (Gladwell 2000: 3f.).

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Baxter und Lewis waren Romantiker contre coeur – sie hatten die Wirklichkeit unwissentlich, ja unwillentlich verändert, in ihrem Sinne. aber ohne ihr Zutun: tipping points oder the magic hand of chance. 21. Man sage nicht, dass dies eben die nervöse Welt der Moden sei, in der alles jederzeit möglich und eben nichts berechen-, geschweige denn kontrollierbar ist. Es gibt auch the politics of little things, sprich: politische tipping points mit dem Potential, das herrschende Mächteparallelogramm zu destabilisieren: »Our first picture«, so leitet Jeff Goldfarb seine typisierende Skizze eines solchen Moments ein, »is of a general but significant location: the kitchentable in Poland and elsewhere in the old bloc. During the Soviet period, small circles of intimate friends were able to talk to each other without concern for present party line around the kitchen table. This free zone, where one could speak one´s mind without concern about the interaction between the official and the unofficial, produced unusually warm and intense ties among family and friends. Here Communist Party members would complain about ›them‹, meaning the party, without consciousness of contradiction. Here personal and collective memories were told and retold in opposition to official history. This was the private place that was remote from official mandates and controls […].« (Goldfarb 2006: 10)

Wir wissen inzwischen, was die »kleinen Dinge« bewirkt haben, nachdem sie über sich hinaus und in Netzwerke hineingewachsen sind: für die Akteure letztlich genau so überraschend wie für jene, denen diese Inseln der (Red-)Seligen unbekannt waren. 22. Ein beliebiger anderer Fall, der dasselbe Muster zeigt und seine epochale Dramatik gleichfalls einer eher planlosen Kette minimaler Bewegungen verdankt: Noch »überraschender«, rekapituliert Adam Hochschild, »als die weite Verbreitung der Sklaverei in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ist aus heutiger Perspektive die Schnelligkeit, mit der sie ihr Ende fand. [...] Die Abolitionisten hatten Erfolg, weil sie sich insbesondere einer Aufgabe gewachsen zeigten, vor die sich noch heute jeder Verfechter sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit gestellt sieht: der Aufgabe, Verbindungen zwischen Nah und Fern herzustellen« – sprich: afrikanische Sklavenschicksale als englisches Problem zu präsentieren. Und: »Noch etwas lässt diese Männer und Frauen aus dem Zeitalter der Perücken, Degen und Kutschen erstaunlich modern erscheinen. Diese kleine Gruppe Menschen leistete nicht nur einen wesentlichen Beitrag dazu, dass eine der schlimmsten menschlichen Ungerechtigkeiten im mächtigsten Staat seiner Zeit ihr Ende fand, sie ersannen auch praktisch alle wichtigen Instrumente, die von Bürgerbewegungen in den heutigen demokratischen Staaten verwendet werden.« (Hochschild 2007: 13, 15f.)

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23. Vergleichsweise wenig beachtet haben Arlette Farge und Michel Foucault die gründlichste Mikroanalyse eines bestimmten Typus von Handlungsspielraum geliefert (1989). Sie skizzieren die Auffälligkeiten ihres (Archiv-)Materials so: »Zunächst die große Zahl der [...] Bittschriften an den Polizeileutnant oder an die Kanzlei des Königs direkt, um vom Herrscher eine Order zu erhalten, die die Freiheit einer Person einschränken sollte (es kann sich um Zwangsaufenthalt, Verbannung oder, wie in den meisten Fällen, um eine Festsetzung handeln).« Erstaunlich ist, »dass diese Anträge in vielen Fällen aufgrund von Familienangelegenheiten ganz privaten Charakters gestellt wurden: wegen unbedeutender Konflikte zwischen Eltern und Kindern, Unstimmigkeiten in der Ehe, der Verfehlung eines Partners, der Liederlichkeit eines Sohnes oder einer Tochter.« Auffällig auch, »dass die meisten Anträge aus den unteren Schichten, manchmal sogar von sehr armen Leuten gestellt wurden«. Endlich wundert man sich zunächst darüber, dass zu jedem Antrag eine ganze Serie begleitender Dokumente gehört: »Aussagen der Nachbarn, der Familie oder aus dem sozialen Umfeld, Ermittlungen der Polizeikommissare, die Entscheidung des Königs, Anträge auf Freilassung seitens der Opfer, die festgesetzt worden waren, oder sogar seitens derer, die eine Festsetzung beantragt hatten.« (Farge/Bourdieu 1989: 9). Diese Utensilien dokumentieren ein Drama, das exemplarisch so skizziert werden kann: Eine Ehefrau leidet unter ihrem trunk- und streitsüchtigen Gatten, der durch sein Verhalten den Quasi-Vertrag gebrochen hat, den er mit seiner Gattin eingegangen ist. Dieser Vertragsbruch provoziert die Empörung des Opfers, das freilich glaubwürdige Zeugen beibringen muss, etwa den Ortspfarrer, um die Obrigkeit als Schutzmacht instrumentalisieren zu können. Die greift ein, um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen – manchmal freilich rabiater, als es der gepeinigten Ehefrau lieb sein konnte, war doch das Leben ohne Gatten auch kein Zuckerschlecken. Weswegen sie versuchen mochte, den Denkzettel für ihren Grobian in (für sie kommoden) Grenzen zu halten: the selfempowerment of the weaker sex. 24. Farge und Foucault machen vor, wie sich Spielräume identifizieren lassen: mit Hilfe einer möglichst präzise Analyse des Bauplans einer Situation. Zusammengestellt werden: handelnde Personen, Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen, Motive und Erwartungen, geltende Normen und herrschende Traditionen, Territorien wie Haus, Amt, Gemeinde oder Gefängnis, unterschiedliche Ebenen, zwischen denen Prozesse gegebenenfalls hin und her pendeln, Dynamiken, die durch Handlungen ausgelöst werden, bewusst oder unbewusst. Deutlich wird am Ende vor allem eines: Spielräume zeigen sich erst in Aktionen. Deswegen sind sie erst im Nachhinein erfassbar und überraschen aus Prinzip. Wissen kann man immerhin, dass die Welt lockerer »gestrickt« ist, als viele annehmen. Wer Gesellschaften primär unter dem Aspekt ihrer Fetisch-, System- oder Serienqua-

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lität analysiert, verliert den Sinn für Lücken und Brüche. Diese Sensibilität sich bewahrt zu haben: darin liegt das analytische Privileg des »romantischen« Blicks aufs Subjekt (das er freilich solange verhimmelt, bis nichts anderes mehr zählt.) 25. Methodologisch folgt aus solchen Beobachtungen ein Plädoyer für das, was Gilles Deleuze assemblage genannt hat (vgl. DeLanda 2006) und was bei Bruno Latour (2005) unter dem Etikett reassembling figuriert. Die Welt ist aus Bausteinen, Personen und Sachen, zusammengesetzt – also kein prä-existierendes Ganzes mit eigener Logik, der seine Teile einfach unterworfen wären. Daher sind assemblages von totalities zu unterscheiden (DeLanda 2006, 8ff.), oder in Latours Worten: Eine »Totalität« zeichnet sich dadurch aus, dass »every activity – law, science, technology, religion, organization, politics, management, etc. – could be related to and explained by the same social aggregates behind those activities«. Im Falle einer assemblage hingegen »exists nothing behind those activities even though they might be linked in a way that does produce a society – or doesn´t produce one.« (Latour 2005: 8) Befreit von ihrem ontologischen Anspruch präferiert diese Sichtweise einen Typus der empirischen Analyse, wie ihn schon vor mehr als einem halben Jahrhundert die amerikanische Gemeindesoziologie praktiziert hat. Man nehme etwa W. Lloyd Warners Rekonstruktion des Beziehungsgeflechts in einer Gemeinde (1942). Sie führt auf eine Gitterstruktur, die sechs Klassenlagen mit elf Cliquen-/ Vereinszugehörigkeiten paart und so auf 89 unterschiedliche Positionen kommt, von denen jede empirisch mindestens einen Eintrag (= Einwohner) enthält.

Quelle: Warner 1942: 23. 26. Warners Matrix ist ein »emergentes« Phänomen, sprich: es entsteht erst durch Attitüden und Aktionen – im Gegensatz zu einer Total-Perspektive, die mit einem abstrakten set sozialer Positionen beginnen und Menschen entsprechend sortieren würde. Spielräume lassen sich in beiden Fällen auffinden, doch werden sie ganz unterschiedlich definiert. Einmal wären es Positionen, die nicht besetzt sind und, gleich den Lücken in jener »großen Kette der Wesen«, Krisen auslösen könnten, weil unruhige Men-

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schen die Möglichkeiten hätten, in leere Stellen einzurücken, mit dem Effekt, dass unkontrollierte Dynamiken entstehen mögen: das totalityModell. Die assemblage-Welt hingegen ist in diesem Sinne immer »voll«, weil es mehr als das, was ist, nicht gibt. Spielräume entstehen hier dadurch, dass »the capacities of the whole [...] afford their parts opportunities and risks« (DeLanda 2006: 35). Information, Kommunikation, Organisation sind nur innerhalb der Matrix möglich – dort werden natürlich auch Risiken generiert (z.B. entdeckt und sanktioniert zu werden). Diese Lektion kann man von Farge und Foucault ebenso lernen wie eine weitere, die schon bei Hegel, wenngleich in anderer Absicht, festgehalten wird: Menschen können zwar einiges bewegen, es gibt also Spielräume, doch was aus ihren Absichten »in der Welt« wird, steht auf einem ganz anderen Blatt. Häufig genug wartet auf die Glücksritter das Unglück. 27. Allerdings läuft man mit dem Bild des Gitters Gefahr, die Vorstellung einer nachgerade gefängnishaften Enge zu transportieren. Soll indes mehr erreicht respektive erklärt werden, als der Freiheitsgrad des alltäglichen Lebens kleiner Leute, müssen zwei Grenzüberschreitungen mit ins Kalkül gezogen werden. Einerseits rein zufällige Kettenreaktionen oder Schneeballeffekte, wie sie den Hush Puppies zum überraschenden und »hirnlosen« Erfolg verholfen haben, andererseits »jene Verbindungen zwischen Nah und Fern« (Hochschild), hergestellt durch Diskurse und Dispositive, die dafür sorgen, dass die soziale Enge durch mentale Exkursionen gegebenenfalls zwanghaft durchbrochen wird – wenn man also, um beim Thema Sklaverei zu bleiben, den »Löffel in der Zuckerdose« mit dem »Seufzen der fernen und unsichtbaren Sklaven« assoziieren muss (Jürgen Osterhammel).

Literatur Bourdieu, Pierre (1989): »Delegation und politischer Fetischismus«. In: R. Ebbighausen/S. Neckel (Hg.): Anatomie des politischen Skandals. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 36-54. DeLanda, Manuel (2006): A New Philosophy of Society. New York: Continuum International Publishing Group. Durkheim, Emile (1984): Erziehung, Moral und Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Durkheim, Emile (1994): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Farge, Arlette/Foucault, Michel (1989): Familiäre Konflikte. Die Lettres de cachet. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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Gladwell, Malcom (2000): Der Tipping Point. Wie kleine Dinge Grosses bewirken können. Berlin: Berlin-Verlag. Goldfarb, Jeffrey C. (2006): The Politics of Little Things. Princeton: University of Chicago Press. Hegel, Georg W. F. (1986): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hirschman, Albert O. (1991): The Rhetoric of Reaction. Cambridge. Mass.: Belknap Press. Hochschild, Adam (2007): Sprengt die Ketten. Stuttgart: Klett Cotta. Latour, Bruno (2005): Reassembling the Social. Oxford: Oxford University Press. Lovejoy, Arthur O. (1993): Die große Kette der Wesen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Schmitt, Carl (1998): Politische Romantik. 6. Aufl. Berlin: Duncker und Humblot. Simmel, Gerog (1983): Schriften zur Soziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Spencer, Herbert A. (1981): The Man versus the State. Indianapolis: LibertyClassics. Warner, W. Lloyd (1942): The Status System of a Modern Community. New Haven: Yale University Press. Wilson, James Q. (1995): On Character. Washington: AEI Press.

Mut zur Lücke? Widerstand im französischen Parlament mit Foucault und Giddens gelesen HAGEN SCHÖLZEL

Einleitung Inspiration zu dem folgenden Text lieferte die Konferenz »Foucault und Widerstand«, die in ihrem Untertitel die Präzisierung »Die Kehrseite der Machtbeziehung« trug. Der folgende Text will sich jedoch nicht der Kehrseite der Machtbeziehung widmen, sondern in leichter Verschiebung zu diesem Untertitel einer möglicherweise vorhandenen »Lücke im Herrschaftszustand« nachspüren. Herrschaftszustände unterscheidet Foucault in seinem Spätwerk von Machtbeziehungen, indem er sie als besondere, nämlich stabilisierte Form der Machtbeziehung beschreibt. Während eine ›tatsächliche‹ Machtbeziehung schon per definitionem Widerstandspotential im Sinne von prinzipiell möglichem, freiem Handeln impliziert (Machtbeziehungen sind strategische Spiele zwischen Freiheiten – vgl. Foucault 1985: 26), suggeriert das Konzept des Herrschaftszustands offenbar dessen prinzipielle Unmöglichkeit. Hier soll die These vertreten werden, dass Herrschaftszustände wohl in den wenigsten Fällen das sind, was sie zu sein vorgeben: irreversible, prinzipiell unumkehrbare Beziehungen, die Herrschaftsunterworfene auf sich selbst zurückwerfen und in hilfloser Paralyse erstarren lassen, so dass die Herrschaft Ausübenden es in jedem Fall erreichen, »das Verhalten der anderen zu lenken und zu bestimmen« (Foucault 1985: 25). Möglicherweise sind die Herrschaftsunterworfenen hilflos, paralysiert müssen sie jedoch nicht sein. Ob der Zustand irreversibel ist und sie zu Gehorsam gezwungen sind, muss sich in der Praxis erst erweisen. An einen solchen Herrschaftszustand zu glauben, wäre aber ein Paradestück von Gouvernementalität.

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Als Beispiel widerständiger Praxis wird bewusst ein Ort politischen Geschehens gewählt, der in jüngerer Zeit nicht unbedingt als Hort der Widerständigkeit gegen herrschaftsstabilisierende soziale Prozesse gilt: das Parlament. Zunächst wird ein Sachverhalt dargestellt, der sich im Frühherbst 2006 in der französischen Nationalversammlung zutrug. Daran anschließend folgt der Versuch, vor dem Hintergrund des vorgestellten Beispiels mit Hilfe der Foucaultschen Werkzeugkiste sowie einiger Begriffe aus Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung nach einer »Lücke im Herrschaftszustand« zu suchen. Existiert diese Lücke, könnte sie Platz für widerständiges Handeln bieten. Auch wenn das Heranziehen gerade dieser beiden Theoretiker zur Analyse jenes begrenzten Ausschnitts der Gesellschaft im Grunde kontingent ist, so könnte im Zusammendenken beider theoretischer Perspektiven doch die Möglichkeit liegen, über das ›romantische‹ Gesellschaftsbild Foucaults ein kleines Stück hinaus zu schauen, ohne allerdings dessen ›Geist‹ verlustig zu gehen.1 Zudem verbirgt sich die Überlegung dahinter, dass das Knüpfen von Verbindungen gerade zwischen solchen Gedankengebäuden, die zunächst inkommensurabel erscheinen, interessant sein könnte, wenn man der Möglichkeit solidarischer Lebensführung nachspüren will.

Die Debatte um die Privatisierung von Gaz de France im französischen Parlament Am 30. Juni 2006 brachte die konservative Regierung Frankreichs, vertreten durch Wirtschafts- und Finanzminister Thierry Breton, in die Pariser Nationalversammlung einen Gesetzentwurf ein, welcher die Reduzierung des Kapitalanteils des französischen Staates am Energieversorger Gaz de France vorsah. Hintergrund dieses Gesetzentwurfs war es, Gaz de France die Möglichkeit zur Fusion mit Suez zu schaffen, einem multinationalen Konzern der Energie-, Wasser- und Abfallwirtschaft mit Sitz in Paris, gegen welche die Kommission der Europäischen Union aus Wettbewerbsgründen zunächst Bedenken angemeldet hatte (vgl. Europäische Kommission 2006). Seinen zuvor 80%igen Aktienanteil an Gaz de France wollte der französische Staat auf »mindestens ein Drittel« (Assemblée Nationale 2006a: 4) des neu entstehenden Konzerns reduzieren. Die linke Opposition im Parlament aus Sozialdemokraten (Parti socialiste) und Kommunisten (Parti communiste) reagierte auf die Gesetzesinitiative mit einer Obstruktionstaktik, um die Debatte über den Entwurf und dessen Verabschiedung zu verhindern. Bis zum 7. September 2006, an 1

Dass Foucault ein Romantiker sei, führte v. a. im Anschluss an Wolfgang Fachs Tagungsbeitrag: Spielräume? (vgl. in diesem Band) zu Diskussionen, ob seine Analysen allein für die Frage nach möglichem Widerstand in der Politik einsetzbar seien, oder nicht.

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dem der Entwurf in der Nationalversammlung diskutiert werden sollte, brachten beide Fraktionen zusammen über 137.000 Änderungsanträge ein. Diese wurden teilweise automatisch mit Computerprogrammen erzeugt, um die genannte Zahl zu erreichen. Dabei wurden kleine Änderungen am Entwurf jeweils durch jedes einzelne Mitglied der Fraktionen beantragt. Folgendes Beispiel mag zur Illustration dienen. Es handelt sich um die Anträge Nr. 99.598 bis 99.817 des kommunistischen Abgeordneten Daniel Paul sowie 21 weiterer Mitglieder seiner Fraktion. Sie beantragten, den staatlichen Anteil nicht bei einem Drittel, sondern jeweils bei 80%, 79%, ... bis 71% festzuschreiben. Zu jedem möglichen Prozentsatz innerhalb dieser Spanne beantragte jedes einzelne Fraktionsmitglied eine entsprechende Gesetzesänderung (vgl. Assemblée Nationale 2006b: 1ff., eigene Übersetzung): »Artikel 10 Im letzten Satz des zweiten Absatzes dieses Artikels sollen die Worte ›ein Drittel‹ ersetzt werden durch den Prozentsatz ›80 %‹ [...] Folgende Änderungsanträge sehen die Festschreibung des staatlichen Anteils am Kapital der Gaz de France auf: - 80 % des Kapitals vor: Antrag Nr. 99598 von Herrn Daniel Paul Antrag Nr. 99599 von Herrn Asensi Antrag Nr. 99600 von Herrn Biessy [...] Antrag Nr. 99619 von Herrn Vaxès - 79 % des Kapitals vor: Antrag Nr. 99620 von Herrn Daniel Paul [...] Antrag Nr. 99641 von Herrn Vaxès [...] - 71 % des Kapitals vor: Antrag Nr. 99796 von Herrn Daniel Paul [...] Antrag Nr. 99817 von Herrn Vaxès«

In der gesamten vorangegangenen Legislaturperiode zwischen 1997 und 2002 wurden in der Assemblée Nationale ›nur‹ 50.957 Änderungsanträge gestellt. Diese Zahl bezieht sich auf alle in dieser Zeit eingebrachten Gesetzentwürfe. In der nun laufenden Legislaturperiode zwischen 2002 und Sommer 2006 waren es insgesamt ca. 75.000 Änderungsanträge (vgl. Le Figaro 2006b). Die Zahl von über 137.000 Änderungsanträgen zu einem einzigen, dem vorliegenden, Gesetzentwurf war also außergewöhnlich hoch. Alle Anträge zu bearbeiten hätte, wie Jean-Louis Debré, Präsident

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der Nationalversammlung, am 6. September 2006 in einem Interview des Figaro (vgl. Le Figaro 2006a) erklärte, unter Einhaltung des normalen Tagungsrhythmus des Parlaments mit jeweils fünf Minuten Bearbeitungszeit pro Antrag über acht Jahre in Anspruch genommen – länger als eine komplette Legislaturperiode dauert. Der normale Gesetzgebungsprozess war durch diese Taktik der Opposition also faktisch blockiert. Die Blockade zu umgehen wäre der französischen Regierung nur unter Rückgriff auf Artikel 49/3 der Verfassung der 5. Republik möglich gewesen. Dieser Artikel erlaubt ihr es, ein Gesetz unter Umgehung des Parlaments selbst zu verabschieden (vgl. Service du Conseil Constitutionel 2007: 15f.). Frankreichs Regierung hatte jedoch erst im März 2006 eine Parlamentsdebatte auf diese Weise abgebrochen und das Gesetz über einen umstrittenen Arbeitsvertrag für Erstanstellungen (CPE – Contrat première embauche) durchgesetzt – und damit eine massive Streik- und Protestwelle unter französischen Schülern, Studierenden, Lehrern und Eltern ausgelöst. Dieses Mittel erneut zum Einsatz zu bringen, so wurde antizipiert, wäre danach mit erheblichen Risiken für die Regierung verbunden gewesen. Im vorliegenden Fall war sie zur Durchsetzung ihres Vorhabens letztlich nicht auf die Anwendung des Artikels 49/3 angewiesen, da die Opposition ihre Anträge nach einigen Tagen Diskussion zurückzog. Grund dafür war zum einen die Tatsache, dass es ihr nicht gelungen war, größere Gruppen der Bevölkerung zur Unterstützung ihrer kritischen Haltung zu gewinnen. Auch unter den politischen Gegnerinnen einer Privatisierung, vor allem der oppositionellen Zentrumspartei UDF, gab es Stimmen, die in der angewandten Taktik eine kritikwürdige Verhinderung »nicht der Annahme, sondern der Diskussion des Textes«2 erblickten. Daneben und vor allem versprach sich die linke Opposition aber dank des schließlich verabschiedeten Gesetzes für den wenige Monate später anstehenden Präsidentschaftswahlkampf gute Argumente gegen den voraussichtlichen Kandidaten der Konservativen, Nicolas Sarkozy. Wie andere Politiker der Regierungsfraktion auch, hatte Sarkozy selbst erst zwei Jahre zuvor anlässlich der Debatte um die Umwandlung des Staatsunternehmens Gaz de France in eine Aktiengesellschaft im Parlament erklärt, das Unternehmen werde nicht privatisiert werden3 – aus der Sicht des Jah-

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François Bayrou, Vorsitzender der UDF (Union pour la Démocratie Française): »Le PS est mal inspiré en choisissant de déposer des milliers d’amendements dont le but est d’empêcher non pas l’adoption, mais l’examen du texte.« (»Die Sozialistische Partei ist schlecht beraten, wenn sie tausende von Anträgen einreicht, deren einziger Zweck darin besteht, nicht etwa die Annahme des Entwurfes zu verhindern, sondern dessen Diskussion.« – zitiert nach: Libération 2006; eigene Übersetzung). Nicolas Sarkozys Erklärung vor der Nationalversammlung am 15. Juni 2004 lautet wörtlich: »Je l’affirme parce que c’est un engagement du Gouvernement: EDF et GDF ne seront pas privatisées.« (»Ich bekräftige es, denn es handelt sich um eine Zusage der Regierung: EDF [=Electricité de France]

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res 2006 konnte man darin zumindest eine inkohärente Regierungspolitik erkennen.

Parlamentarischer Herrschaftszustand Lässt sich die kurz dargestellte Konstellation im Foucaultschen Sinne als Herrschaftszustand beschreiben und könnte man aus seiner Untersuchung allgemeinere Rückschlüsse in Bezug auf die Möglichkeit ziehen, angesichts von Herrschaftszuständen Widerstand zu leisten? Diesen Fragen soll in diesem und den folgenden Abschnitten nachgegangen werden. Zunächst sei daran erinnert, was Herrschaftszustände im Sinne Foucaults sind: »Die sozialen Kräfteverhältnisse [sind dabei] in Institutionen stabilisiert, ihre Mobilität und Reversibilität ist eingeschränkt, ihre Asymmetrie kristallisiert.« (Lemke 2002: 485) Ein Parlament konstituiert in seinem Innern sicherlich den Prototyp eines solchen Herrschaftszustandes. Seine Geschäftsordnung, Verfahrensregeln und traditionellen Verhaltenskodizes sowie die in ihm für die Dauer einer Legislaturperiode feststehende Asymmetrie der Kräfteverhältnisse schreiben eine Machtbeziehung durch das Unterbinden »strategische[r] Spiele zwischen Freiheiten« (Foucault 1985: 26) fest und etablieren damit einen Herrschaftszustand. Parlamentarische Verfahren sind hoch strukturierte und ritualisierte Einrichtungen zur Führung von Menschen. Die ganze Praxis parlamentarischer Arbeit ist darauf ausgelegt, ein im Moment des Wahlaktes sich ausdrückendes soziales Kräfteverhältnis über einen längeren Zeitraum zu stabilisieren, in den Fraktionen zu perpetuieren und durch die einzelnen Entscheidungen des Parlaments (im Sinne eines strategischen Ziels von Regierungspolitik) zu reproduzieren. Indem der Zeitraum in dem dieser Zustand aufrechterhalten werden kann aber von vornherein festgelegt wird, seine Unterbrechung also bereits von Beginn an absehbar ist, schafft das Parlament selbst die Voraussetzung für seine Akzeptanz bei den ihm Unterworfenen. Die abstrakte Möglichkeit eines Politikwechsels, verbunden mit dem Glauben an die gesellschaftliche Repräsentativität der im Parlament Versammelten hält die Menschen in weitgehender Passivität auch angesichts ihnen eventuell unangenehmer politischer Entscheidungen. Diese Mechanismen wirken sowohl innerhalb der Institution Parlament wie über sie hinaus auf die gesamte Gesellschaft. Hier soll nun der Versuch unternommen werden, die Unterscheidung von Machtbeziehungen und Herrschaftszuständen (vgl. Foucault 1985: 26) einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, aufbauend auf der These, dass beide, als heuristische Konzepte verstanden, einer Überarbeitung bedürfen, um näher an die empirische Wirklichkeit herantreten zu können. Denn dort und GDF [=Gaz de France] werden nicht privatisiert werden.« – vgl. Assemlée Nationale 2004: 4924; eigene Übersetzung).

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lassen sich reine Herrschaftszustände und reine Machtbeziehungen nicht ausmachen. Zur Begründung dieser These soll zusätzlich zu Foucaults Konzepten auf einige Ideen der Strukturationstheorie von Anthony Giddens zurückgegriffen werden. Das mag zunächst paradox erscheinen, da beide sehr unterschiedliche Ideen entwickelt haben. Es soll hier jedoch nicht eine sicherlich mögliche wechselseitige Kritik, sondern stattdessen der Versuch unternommen werden, Verbindungen zwischen beiden zu knüpfen. Es lassen sich in bestimmten grundlegenden Punkten einige interessante Parallelitäten der Ideen erkennen, die neben- und miteinander wahrzunehmen möglicherweise fruchtbar für die Suche nach Widerstandsmöglichkeiten sein könnten. Die grundlegende Übereinstimmung besteht für die hier vertretene Argumentation darin, dass beide Autoren die Möglichkeit bieten, die überkommene Dichotomie von Subjekt und Struktur bzw. Handlung und System zu überwinden. Ihre Konzepte von Subjekt und Herrschaft sollen daher in den folgenden Abschnitten kurz vorgestellt werden.

Subjekt und Herrschaftsstruktur (Anthony Giddens) Giddens verwendet den Subjektbegriff wie folgt: »Alle menschlichen Wesen sind bewußt [und zweckgerichtet] handelnde Subjekte« (Giddens 1997: 335, vgl. 53). Ein simpler Voluntarismus ist mit diesem zweckgerichteten Handeln jedoch nicht gemeint: »Zweckgerichtetes Handeln ist nicht aus einem Aggregat oder einer Serie separater Intentionen, Gründe und Motive zusammengesetzt«, sondern als »reflexive Steuerung« mittels eines ständigen Prozesses der »Rationalisierung« zu verstehen (ebd.). Innerhalb Giddens’ Strukturationstheorie ist der Begriff der Dualität von Struktur zentral. Mit dessen Hilfe versucht er zu erklären, dass die Annahme aktiv handelnder Subjekte nicht der Verwendung eines sozialwissenschaftlichen Strukturkonzeptes widersprechen muss, wenn man Struktur als Medium und als Resultat eines aktiv strukturierenden Handelns auffasst (vgl. Lamla 2001: 286f.). Die Dichotomie von Subjekt und Struktur wird mit diesem Ansatz im Prinzip aufgelöst. Für das aktiv handelnde Subjekt sind Regeln und Ressourcen die Strukturbedingungen, die sein Handeln zwar beschränken aber auch erst ermöglichen. Giddens Paradebeispiel ist hierfür die Sprache, die mit grammatikalischen und orthographischen Regeln sowie einem beschränkten Wortschatz (Ressource) das verständigungsorientierte Sprechen (und Schreiben) erst ermöglicht, die Möglichkeiten des Ausdrucks jedoch gleichzeitig beschränkt. Im vorliegenden Beispiel bilden die Verfassung und die Geschäftsordnung der Assemblée Nationale wesentliche Strukturbedingungen, indem sie die Regeln des Gesetzgebungsprozesses definieren. Zudem muss das Vorhandensein

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elektronischer Datenverarbeitung als bedeutende Ressource angesehen werden, durch deren Existenz erst die Möglichkeit geschaffen wurde, die oben genannte hohe Zahl an Änderungsanträgen zum Gesetzentwurf in so kurzer Zeit zu generieren. Giddens’ Lesart des Sozialen scheint, wie gesagt, die Annahme nahe zu legen, dass das strukturierend handelnde Subjekt und die durch Handeln (re)produzierte Struktur prinzipiell nicht voneinander zu trennen sind. Dennoch spricht Giddens auch von sozialen Systemen. Von der strukturalistischen Tradition der Soziologie setzt er sich konzeptionell jedoch in einem entscheidenden Punkt ab. Soziale Systeme sind in seiner Lesart »reproduzierte soziale Praktiken, [die] weniger ›Strukturen‹ haben, als daß sie vielmehr ›Strukturmomente‹ aufweisen« (Giddens 1997: 69). Etwas Systemisches existiert also nicht außerhalb der Subjekte. Die Strukturmomente organisieren aber rekursiv die sozialen Praktiken. Mit diesem Satz wird gewissermaßen die Kehrseite des zweckgerichteten Handelns der Subjekte ausgedrückt. Zweckgerichtetes Handeln und organisierende Strukturmomente bilden dabei eine unauflösliche Einheit sich gegenseitig (rekursiv bzw. reflexiv) bedingender Seiten. Die Strukturmomente lassen sich nun laut Giddens in eine hierarchische Ordnung fassen, je nachdem, wie weit sie in Raum und Zeit rekursiv organisierend für zweckgerichtetes Handeln der Subjekte wirksam werden. »Die am weitesten in Raum und Zeit ausgreifenden Strukturmomente, die in die Reproduktion gesellschaftlicher Totalitäten einbegriffen sind, nenne ich Strukturprinzipien« (ebd., kursiv im Original). Für die politische Praxis drängt sich die Frage auf, auf welche Weise Strukturmomente, die jeglichem zweckgerichtetem Handeln immanent sind, zu Strukturprinzipien werden, und vor allem, worin der genaue Unterschied besteht, der eine begriffliche Differenzierung rechtfertigen würde. Eine einfache Antwort wäre, Strukturmomente werden zu Strukturprinzipien dadurch, dass bestimmtes zweckgerichtetes, strukturierendes Handeln immer wieder in Zeit und Raum reproduziert stattfindet. Die Pariser Nationalversammlung existiert also beispielsweise nur deshalb überhaupt und in ihrer spezifischen, derzeitigen Form, weil sich seit ca. 50 Jahren immer wieder Menschen finden, die sie wählen, sie bilden und die bestimmte Gesetzgebungsprozesse abwickeln, welche für alle Menschen in Frankreich strukturierende Effekte erzielen. Bis zum Herbst 2006 wurde dieser (Re)Strukturierungszusammenhang kaum in Frage gestellt, weshalb er relativ ungestört ablaufen konnte. Diese deskriptive ›Erklärung‹ klärt die Frage nach der Art und Weise dieses Prozesses jedoch noch nicht. Um die Frage beantworten zu können, wie die Reproduktion von Handeln in Raum und Zeit geschehen kann, kommt nun die andere Frage, was Macht und Herrschaft in dieser Konzeption sind, in den Blick. Macht, so lautet Giddens’ These, setze »Herrschaftsstrukturen voraus, innerhalb derer die in den Prozessen sozialer Reproduktion ›sanft fließende‹ (und

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gleichsam ›unerkannte‹) Macht ihre Wirkung entfaltet.« Herrschaft wiederum sei ein »ausdehnbare[r] Aspekt [im Sinne der Raum-Zeit-Ausdehnung – H.S.] sozialer Systeme.« Wie Handeln und Struktur, so bilden offenbar auch Macht und Herrschaft eine Art dialektische Beziehung. Weiter heißt es: »Es gibt zwei Arten von Ressourcen, aus denen sich Herrschaftsstrukturen aufbauen: allokative und autoritative« (Giddens 1997: 314). Unter allokativen Ressourcen versteht Giddens • materielle Aspekte der Umwelt (Rohmaterialien, materielle Machtquellen), • materielle Produktions-/Reproduktionsmittel (Produktionsinstrumente, Technologien) und • produzierte Güter (Erzeugnisse, die durch ein Zusammenwirken der oben genannten Ressourcen entstanden sind). Autoritative Ressourcen sind • Organisation von Raum und Zeit, wie diese für soziales Handeln relevant werden (raum-zeitliche Konstitution von Wegen und Regionen), • Produktion und Reproduktion des Körpers (Organisation und Beziehung von Menschen in gegenseitiger Gemeinschaft) sowie • Organisation von Lebenschancen (Konstitution von Chancen der Entwicklung und des Ausdrucks des Selbst) (vgl. Giddens 1997: 316). Die Behauptung, dass sich Strukturprinzipien (d. h. Herrschaftsstrukturen) auf Ressourcen stützen, bleibt insgesamt sehr schematisch. Der Bezug auf Ressourcen scheint für die oben aufgeworfene Frage der Art und Weise (der Transformation von Strukturmomenten in Strukturprinzipien, d. h. der Etablierung von Herrschaftsstrukturen) dennoch wenigstens eine Annäherung zu ermöglichen. Die Herrschaftsstrukturen, die rund um das französische Parlament existieren, stützen sich beispielsweise auf das Vorhandensein der Idee(n) demokratischer Herrschaft, der entsprechenden Infrastruktur und der Menschen, die an sie glauben und sie aufrecht erhalten. Auf welche Art und Weise sie das genau tun, bzw. welchen Regeln der Aufbau von Herrschaft folgt, ist damit jedoch nicht beantwortet. Es stellt sich die Frage, wie soziale Veränderung überhaupt möglich ist, wenn Strukturen Handeln strukturieren und Handeln Strukturen (re)produzieren. Und wie und auf welche Weise kann Widerstand geleistet werden? Giddens spricht in seiner Theorie sowohl von der Möglichkeit eines »strukturellen Zwangs« (Giddens 1997: 359ff.) wie auch der eines »strukturellen Widerspruchs« (Giddens 1997: 366ff.). Während ersteres die Möglichkeit impliziert, dass Strukturen auf Widerstand treffen können, verweist letzteres offensichtlich auf einen (raum-zeitlich definierbaren) ›Ort‹, an dem verschiedene Strukturen aufeinander treffen und in Widerspruch zueinander geraten können. An diesem Ort könnte sich die Möglichkeit eröffnen, anders als »strukturiert-strukturierend« zu handeln. Wichtig ist in dem Zu-

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sammenhang zudem die »Bestimmung der Grenzen der Bewußtheit von Handelnden in wechselnden Raum-Zeit-Kontexten« (Giddens 1997: 386). Eine Art Struktur-Lücke existiert also auch aufgrund der so banalen wie weit reichenden Tatsache, dass bewusstes Handeln immer an eine dem menschlichen Bewusstsein inhärente Grenze stößt. Der oben erwähnte ständige Prozess der Rationalisierung scheint also auf zweierlei Weise begrenzt zu werden: an einer subjektiven Grenze (wegen der endlichen Kapazitäten der Subjekte in Bezug auf Wissen, Zeit etc.) und an einer strukturellen Grenze (wenn verschiedene, in sich rationale Strukturen in Widerspruch zueinander geraten). In Bezug auf das Beispiel würde das folgendes bedeuten: Die oppositionellen Parlamentarier interpretierten ihr Recht Änderungsanträge zu Gesetzentwürfen stellen zu dürfen in einer Weise neu, an die vorher niemand gedacht hatte, und entdeckten damit eine Art Lücke in der Geschäftsordnung des Parlaments, die ihnen die Möglichkeit bot, den Gesetzgebungsprozess zu blockieren. Diese Lücke zu entdecken wurde aber erst möglich, nachdem Computer und Softwareprogramme entwickelt waren, welche die Reproduktion von Seriendokumenten mit überschaubarem Arbeitsaufwand ermöglichten. Diese spezifische Lücke hat somit vorher faktisch nicht existiert. Man kann aber davon ausgehen, dass kein Programmierer sein Textverarbeitungsprogramm mit der Intention geschrieben hat, es zum Zwecke der Blockade von Gesetzgebungsprozessen zu benutzen. Es bedurfte also einer kreativen Aneignung dieses Werkzeugs durch die Parlamentarier, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Vielleicht ist hier bereits angedeutet, wie Lücken in einer Herrschaftsstruktur bewusst gesucht und genutzt werden könnten, um widerständig zu handeln. Fassen wir das bisher Dargestellte noch einmal zusammen: Menschen handeln nach Giddens zweckgerichtet und bewusst. Voraussetzung, Medium und Resultat ihres Handelns ist Struktur im Sinne von Regeln und Ressourcen. Durch immer wieder gleiches Handeln unter gleichen Voraussetzungen, mit Unterstützung des gleichen Mediums und mit dem gleichen Resultat wird Struktur reproduziert, gewinnt gewissermaßen ›systemischen‹ Charakter. Die Ausdehnung von Struktur in Raum und Zeit wird Herrschaftsstruktur genannt. Sie bedeutet, dass Menschen in räumlich und zeitlich ausgedehnten ›Räumen‹ immer wieder gleich zweckgerichtet und bewusst handeln. Die Grenzen menschlicher Rationalität bilden die Grenzen von Herrschaftsstrukturen. Wichtige Voraussetzung für die Existenz von Herrschaftsstrukturen sind bestimmte (allokative und autoritative) Ressourcen. Die Frage nach den Regeln von Herrschaftsbildung bleibt zunächst offen. Ihr soll im folgenden Abschnitt mit Michel Foucault nachgegangen werden.

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Regeln der Herrschaft (Michel Foucault) Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass einige konzeptionelle Ähnlichkeiten in Bezug auf Subjekt und Herrschaft bei Foucault und Giddens angenommen werden. Welchen Subjektbegriff verwendet Foucault? Nach seiner Lesart des Sozialen sind die beiden Ideen des modernen souveränen Staats und des modernen autonomen Subjekts durch »Ko-Formierung« (Lemke 2000: 33) in einem parallelen Objektivierungsprozess entstanden, der die Möglichkeit der Unterscheidung von Subjekt und (objektiver) Herrschaftsstruktur erst schuf. Es handelt sich also bei beiden Konzepten um Denkfiguren, was sie einerseits als empirisch fraglich kennzeichnet, andererseits ihre (historische oder prinzipielle) Verschränktheit offenbart. Angesichts des heute zu besichtigenden Dogmas der Differenzierung von subjektivem Individuum und objektiver Herrschaftsstruktur (Individuum vs. Staat, Markt, Organisation etc.) erscheint eine Lesart angebracht, deren Effekt ein Infragestellen dieses Objektivierungsergebnisses ist. Ähnlich Giddens gibt uns also auch Foucault ein Mittel zur Hand, Subjekt und Herrschaftsstruktur zusammen zu denken. Beide Autoren betonen die Ununterscheidbarkeit von (handelndem) Subjekt und sozialen Strukturen mit unterschiedlichem Akzent. Foucault identifiziert »drei Weisen der Objektivierung, die Menschen in Subjekte verwandeln« (Foucault 1987: 243), nämlich Wissensformen, Machttechnologien und Selbstformierungsprozesse. Giddens mehr schematisches Verständnis sieht Struktur als Medium und Resultat eines bewusst strukturierenden Handelns. Regeln und Ressourcen bilden die Strukturbedingungen, die das Handeln der Subjekte beschränken aber auch ermöglichen. Foucault beschreibt mit den Begriffen der Macht und Führung eine ähnliche Konstellation, allerdings mit einem deutlicher auf (Führungs-)Handeln gelegten Akzent. Der Begriff der Regierung bildet das entscheidende Scharnier zur Beschreibung der sozialen Zusammenhänge. Regierung wird von Foucault in einem allgemeinen Sinn verstanden, der weit über die heute gebräuchliche politische Bedeutung hinausreicht. Er knüpft damit an ältere Bedeutungen an, die neben der Lenkung des Staates oder seiner Verwaltung auch Selbstbeherrschung, Leitung der Familie, Steuerung des Haushaltes, Lenkung der Seele etc. als Regierung verstehen (vgl. Lemke 2000: 33). Allgemein bezeichnet Regierung die Führung von Menschen. Es kommt dabei besonders auf den doppelten Sinn von Führung an, der einerseits das Anführen, andererseits das Sich-Führen impliziert. Foucault schreibt: »Vielleicht eignet sich ein Begriff wie Führung gerade kraft seines Doppelsinns gut dazu, das Spezifische an den Machtverhältnissen zu erfassen. ›Führung‹ ist zugleich die Tätigkeit des ›Anführens‹ anderer [...] und die Weise des Sich-Verhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten. Machtausübung besteht im ›Führen der Führun-

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gen‹ [...]« (Foucault 1987: 255). Die ›Führung der Führungen‹ hebt auf Relationalität und Reflexivität des Führens ab (vgl. Lemke 2002: 482). Macht wird, Giddens Strukturbegriff ähnlich, als beschränkend und ermöglichend zugleich verstanden. Giddens Strukturmomente lassen sich durch Foucaults Machtbeziehung ergänzen; beide erscheinen als Phänomene, ohne die soziales Leben nicht denkbar ist. Man könnte unser Beispiel aus dem französischen Parlament als einen Moment interpretieren, in dem es der Opposition gelungen war, die ›Führung der Führungen‹ an sich zu reißen und die Regierungsfraktion in eine Lage des (an der Nase herum) geführt Werdens zu bringen. Ein solcher Moment widerspricht zutiefst der Logik des ›normalen‹ Parlamentsbetriebs, in dem eine parlamentarische Mehrheit Macht ausübt und die Minderheit bestimmte Rechte genießt, welche jedoch die asymmetrische Beziehung zur Mehrheit nicht ernsthaft in Frage stellen kann. Hinter dem konkreten Fall der Blockade des Verkaufs der Gaz de France scheint daher im Grunde die Möglichkeit des in Frage Stellens der gesamten Herrschaftsinstitution Assemblée Nationale in ihrer aktuellen Verfassung auf. Denn entweder schließt die Mehrheit im Parlament die Herrschaftslücke, indem die unbegrenzten Rechte der Opposition, Änderungsanträge zu Gesetzentwürfen zu stellen, beschnitten werden, um ähnliche Blockaden zukünftig zu vermeiden, oder sie rechnet damit, im Zweifel nicht mehr im Parlament regieren zu können, weil kleine Gruppen oder sogar einzelne Abgeordnete jeden parlamentarischen Gesetzgebungsprozess unterbrechen könnten. Beide Varianten würden die Möglichkeiten Macht auszuüben insgesamt verändern. Foucaults Begriff der Führung ist bedeutsam für die Analyse von Machtbeziehungen. Machtverhältnisse können als »ubiquitäres Merkmal menschlicher Interaktion« (Lemke 2002: 484) angesehen werden, was in der Rezeption oft zu Konfusion geführt hat4, da Foucault erst in seinem Spätwerk zwischen Macht und Herrschaft unterscheidet. Vor der Einführung dieser Unterscheidung schien Macht/Herrschaft unausweichlich und Widerstand unmöglich. Mit der Differenzierung aber »muß [man] zwischen Machtbeziehungen als strategischen Spielen zwischen Freiheiten [...] und Herrschaftszuständen unterscheiden, die das sind, was man üblicherweise Macht nennt. Und zwischen beiden, zwischen den Spielen der Macht und den Zuständen der Herrschaft, gibt es Regierungstechnologien« (Foucault 1985: 26). Auf der ersten dieser drei »Ebenen« (Foucault 1985: 27; vgl. in der Folge ebd.: 25ff.), der grundlegenden Ebene der strategischen Beziehungen oder strategischen Spiele, »mit denen die Individuen das Verhalten der anderen zu lenken und zu bestimmen versuchen«, sind Machtbeziehungen, 4

Auch Giddens ist hier offenbar nicht auszunehmen, nimmt er doch bei Foucault Macht ausschließlich als eine »Eigenschaft der Gesellschaft« wahr, also als Phänomen des geführt Werdens (vgl. Giddens 1997: 66).

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obwohl stets präsent, doch prinzipiell veränderbar und umkehrbar. Das Verhalten der anderen kann nur punktuell beeinflusst werden, prinzipiell hat jede Person die Möglichkeit, jede andere zu beeinflussen. Machtbeziehungen schließen Freiheit nicht aus: »Macht [wird] nur auf ›freie Subjekte‹ ausgeübt und nur sofern sie ›frei‹ sind« (Foucault 1987: 254). Durch die vermittelnde Ebene der Regierungstechnologien werden »Machtbeziehungen in einer Weise [systematisiert] und [stabilisiert], so dass sie schließlich die Form von Herrschaftszuständen annehmen« (Lemke 2002: 486). Im Herrschaftszustand sind Machtbeziehungen starr, unbeweglich und blockiert. Herrschaft bedeutet, eine Machtbeziehung auf Dauer zu etablieren, das Verhalten der anderen dauerhaft zu lenken. Die Begriffe Herrschaftszustand (Foucault) und Herrschaftsstruktur (Giddens) sollen hier in gewissem Sinne synonym verstanden werden, weil beide Konzepte dasselbe soziale Phänomen zu erklären versuchen, dass nämlich Menschen immer wieder in bestimmter Hinsicht handeln (bzw. sich dazu veranlasst sehen, so zu handeln). Giddens gibt, wie wir gesehen haben, jedoch Hinweise darauf, dass Herrschaftsstrukturen niemals in sich abgeschlossen, sondern immer lückenhaft sind. Lücken existieren einerseits aufgrund der potentiellen Widersprüchlichkeit verschiedener Strukturen, andererseits aufgrund des begrenzten menschlichen Bewusstseins, das jenes Handeln anleitet, das Strukturen (re)produziert. Folgt man der bisherigen Argumentation, so bedeutet das, dass Herrschaftszustände im Sinne Foucaults niemals ›perfekt‹ sein können, auch Gouvernementalität stößt an die prinzipielle Grenze menschlichen Bewusstseins. Eine Lücke im Herrschaftszustand muss demnach notwendig existieren. Reine Machtbeziehungen ohne Herrschaftseffekte scheinen empirisch jedoch ebenso wenig erkennbar zu sein. Foucault schreibt: »Ich glaube, daß es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann, sofern man darunter Strategien begreift, mit denen die Individuen das Verhalten der anderen zu lenken und zu bestimmen versuchen. Das Problem ist also nicht, sie in der Utopie einer vollkommen transparenten Kommunikation aufzulösen zu versuchen, sondern sich die Rechtsregeln, die Führungstechniken und auch die Moral zu geben, das Ethos, die Praxis des Selbst, die es gestatten, innerhalb der Machtspiele mit dem geringsten Aufwand an Herrschaft zu spielen.« (Foucault 1985: 25; Hervorhebung H.S.)

Versuchen wir, am Beispiel der Sprache zu verdeutlichen, warum Machtspiele völlig ohne Herrschaftseffekte nicht möglich scheinen. Die Sprache ist, wie oben erwähnt, Giddens Paradebeispiel einer sozialen Struktur. Dank ihrer Existenz ermöglicht sie verbale Verständigung. Mit ihren grammatischen und orthographischen Regeln sowie dem begrenzt zur Verfügung stehenden Wortschatz etabliert Sprache aber auch Grenzen der verbalen Ausdrucksfähigkeit. Ihre ständige Reproduktion im

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Gebrauch verändert sie jedoch fortlaufend. Versteht man verbale Kommunikation als ein strategisches Spiel (zum Beispiel indem im Parlament über die Vor- und Nachteile eines Verkaufs von Gaz de France debattiert wird), also eine Machtbeziehung im Sinne Foucaults, dann wird deutlich, dass die spezifische Sprache innerhalb dieses Spiels einen Herrschaftszustand etabliert. Nur wer die französische Sprache beherrscht, kann in der Pariser Nationalversammlung überhaupt Argumente vortragen. Nur was innerhalb der Grenzen dieser Sprache fassbar ist, kann sprachlich zum Ausdruck und im strategischen Spiel verbaler Kommunikation zum Einsatz gebracht werden. Es scheint völlig klar, dass diejenige Person, welche die Sprache besser beherrscht, in diesem (idealisierten) Spiel die Oberhand behalten wird. Sei es, dass sie über eine ausgefeilte Rhetorik verfügt oder dass sie, wie es in unserem Beispiel relevant sein könnte, mit präzisen Fachbedeutungen und Zusammenhängen von Begriffen der Erdgas- und Energiewirtschaft vertraut ist usw. In einem weiteren Sinne scheint auch die Idee der Gouvernementalität mit dem Beispiel des Sprachspiels fassbar, beruht sie doch darauf zu zeigen, dass Regierungstechniken das Denk- und damit auch das Sagbare beschränken können. Wenn Foucault einen Neologismus wie gouvernementalié dem Wortschatz hinzufügt, dann vermutlich deshalb, weil sich der Gedanke, dass Regierungstechniken auf die Denkweisen von Menschen wirken, nicht oder nicht so gut ausdrücken bzw. verbreiten ließ, bevor dieses Wort zu existieren begann. Foucault schreibt: »Die Vorstellung, daß es einen Zustand der Kommunikation geben kann, worin die Wahrheitsspiele ohne Hindernisse, Beschränkungen und Zwangseffekte zirkulieren können, scheint mir zur Ordnung der Utopie zu gehören.« (Foucault 1985: 25) Das bedeutet jedoch nicht nur, dass Hindernisse, Beschränkungen und Zwangseffekte von außerhalb auf das Sagbare wirken, etwa indem unterschiedliche kulturelle oder materielle Ressourcen bestimmen, was und auf welche Weise etwas durch eine Person mitgeteilt werden kann, sondern ebenso, dass bereits innerhalb der Sprache Hemmnisse existieren, durch die das Sagbare beschränkt ist. Diesen zu entrinnen und völlig frei von z. B. grammatikalischen oder orthographischen Regeln bzw. einem vorgegebenen Wortschatz zu kommunizieren, scheint nicht möglich zu sein. Das Phänomen »Gesellschaft« würde in einer solchen Welt obsolet, weil Kommunikation ohne Regeln und Ressourcen kaum denkbar, Gesellschaft ohne Kommunikation aber ebenso wenig möglich scheint. Möglicherweise dennoch existierende Beziehungen würden sich vermutlich über physische Gewalt ausdrücken.

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Mut zur Lücke? Der vorliegende Text versuchte zwei Zielstellungen zu verfolgen. Zum einen sollte das empirische Beispiel darauf hinweisen, dass auch in hoch strukturierten Zentren der Herrschaft die Möglichkeit besteht, Widerstand zu leisten. Zum anderen wurde mit Hilfe von Ideen aus Giddens’ Strukturationstheorie der Versuch unternommen, über Foucaults ›Romantik‹ ein Stück hinauszublicken. Foucault bezeichnet die Abwesenheit von Machtbeziehungen im sozialen Miteinander als Utopie (vgl. Foucault 1985: 25). Die zurückliegende Argumentation läuft zudem darauf hinaus zu begründen, dass zwischen Machtbeziehung und Herrschaftszustand theoretisch kein Unterschied besteht. Wenn dem so ist, dann scheint eine ›herrschaftsfreie Gesellschaft‹ ebenso utopisch, wie eine machtlose. Die Idee eines prinzipiell herrschaftsfreien Zustandes scheint eine Illusion zu sein.5 Reine Machtbeziehungen ohne Herrschaftseffekte und reine Herrschaftszustände ohne Lücken scheinen nicht möglich zu sein. Die Behauptung, dass kein prinzipieller Unterschied zwischen Machtbeziehungen und Herrschaftszuständen besteht, soll jedoch nicht gleichbedeutend mit einem ›zurück zum frühen Foucault‹ sein. Bevor er diese Differenzierung einführte, sah man ja, wie oben erwähnt, oft überall Macht wirken und nirgends die Möglichkeit Widerstand zu leisten. Hier würde demgegenüber die Schlussfolgerung lauten, dass überall Macht oder Herrschaft existiert, aber auch überall Möglichkeiten bestehen, Widerstand zu leisten. Man müsste ›nur‹ die prinzipiell vorhandenen Lücken finden und nutzen. Eine Unterscheidung von Machtbeziehung und Herrschaftszustand könnte trotzdem weiterhin sinnvoll sein. Die beiden Begriffe würden dann jedoch keine voneinander verschiedenen Ebenen beschreiben, sondern die in verschiedene Richtungen weisenden ›Entwicklungstendenzen‹ eines sozialen Prozesses benennen. Strukturen im Sinne von Giddens und mit ihnen ihre Lücken konstituieren einen Möglichkeitsraum bzw. ein ›mehr oder weniger offenes Feld von Möglichkeiten‹ im Sinne Foucaults, in dem sich die Machtbeziehungen und Herrschaftszustände zwischen Menschen ausprägen. In einem solchen Prozess ist dann nicht mehr die Frage, ob »strategische Spiele zwischen Freiheiten« möglich bzw. unmöglich sind, sondern, da sie prinzipiell immer möglich sind, wie viel Möglichkeitsraum den Menschen bleibt, diese Spiele zu spielen. Die Regierungstechniken erscheinen hier nach wie vor sehr interessant. Sie lassen sich nun zwar nicht mehr als vermittelnde Ebene zwischen Machbeziehungen und Herrschaftszuständen beschreiben, dafür aber als ein Phänomen, mit dessen Hilfe sich der Möglichkeitsraum für das Handeln der Menschen einengen lässt. Re5

Bewusst wirft Foucault deshalb das Problem des Nicht-regiert-werdenWollens im Sinne von »nicht dermaßen, nicht von denen da, nicht um diesen Preis regiert [...] werden« und nicht als Problem des »überhaupt nicht regiert werden« auf (Foucault 1992: 52).

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gierungstechniken ziehen Herrschaftseffekte nach sich. In Bezug auf die Lücken in Herrschaftsstrukturen könnte man dasjenige Handeln als Regierungstechnik bezeichnen, womit die Lücken im Sinne einer bestimmten Struktur aufgefüllt oder geschlossen werden. Theoretisch denkbar ist aber ebenso, dass eine gegenläufige Entwicklungstendenz, ein (Widerstands-)Handeln weg von Herrschaftszuständen und hin zu Machtbeziehungen existiert. Das Beispiel der Obstruktionstaktik der französischen Sozialisten und Kommunisten in der Pariser Nationalversammlung kann man auf diese Weise interpretieren, und es zeigt, dass Widerstandshandeln in diesem Sinne auch praktisch umsetzbar ist. Ihnen war es gelungen, eine Lücke im Herrschaftszustand zu identifizieren und zu nutzen. Sie konnten den Herrschaftsanspruch der Regierungsfraktion in Frage stellen nicht indem sie eine eigene ernsthafte Alternative angeboten haben, sondern indem sie nur klar machten, »nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren« (Foucault 1992: 11) regiert werden zu wollen. Hätte die Regierung ihr Vorhaben mit Hilfe des Artikels 49/3 der Französischen Verfassung durchsetzen müssen, wäre der Opposition zumindest gelungen, den Zwangscharakter der Politik zu entlarven. Die potentiellen Folgen müssen freilich im Dunkeln bleiben, Rückwirkungen auf die Legitimität dieser Form von Herrschaft scheinen jedoch unausweichlich. Im konkreten Fall scheint den Politikern der französischen linken Opposition jedoch ihr ›Mut zur Lücke‹ nach relativ kurzer Zeit verlassen haben. Ihren Widerstand gegen den Gesetzentwurf zur Privatisierung von Gaz de France stellten sie nach wenigen Tagen ein, ohne dass ein erkennbares Ziel verwirklicht worden wäre.

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Libération (2006): »Bayrou met le gaz pour attaquer l’UMP dès la rentrée«. 04. September 2006, Quelle: http://www.liberation.fr/actualite/ politiques/202137.FR.php (Zugriff am 02. April 2007). Service du Conseil Constitutionel (2007): Constitution du 4 Octobre 1958.

Widerstehen und Werden ANDRÉ REICHERT »In den Diskurs, den ich heute zu halten habe [...] hätte ich mich gern verstohlen eingeschlichen. Anstatt das Wort zu ergreifen, wäre ich von ihm lieber umgarnt worden, um jedes Anfangens enthoben zu sein. Ich hätte gewünscht, während meines Sprechens eine Stimme ohne Namen zu vernehmen, die mir immer schon voraus war: ich wäre es dann zufrieden gewesen, an ihre Worte anzuschließen, sie fortzusetzen, mich in ihren Fugen unbemerkt einzunisten, gleichsam, als hätte sie mir ein Zeichen gegeben, indem sie für einen Augenblick aussetzte. Dann gäbe es kein Anfangen. Anstatt der Urheber des Diskurses zu sein, wäre ich im Zufall seines Ablaufs nur eine winzige Lücke und vielleicht sein Ende./Ich hätte gewünscht, dass es hinter mir eine Stimme gäbe, die schon seit langem das Wort ergriffen hätte und im vorhinein alles, was ich sage, verdoppelte und dass diese Stimme so spräche: ›Man muss weiterreden, ich kann nicht weitermachen, man muss weiterreden, man muss Wörter sagen, solange es welche gibt; man muss sie sagen, bis sie mich finden, bis sie mich sagen – befremdende Mühe, befremdendes Versagen; man muss weiterreden; vielleicht ist es schon getan, vielleicht haben sie mich schon gesagt, vielleicht haben sie mich schon an die Schwelle meiner Geschichte getragen, an das Tor, welches sich schon auf meine Geschichte öffnet [...]« »Ich glaube, es gibt bei vielen ein ähnliches Verlangen, nicht anfangen zu müssen; ein ähnliches Begehren, sich von vornherein auf der anderen Seite des Diskurses zu befinden und nicht von außen ansehen zu müssen, was er Einzigartiges, Bedrohliches, ja vielleicht Verderbliches an sich hat [...]« »Das Begehren sagt: ›Ich selbst möchte nicht in jene gefährliche Ordnung des Diskurses eintreten müssen; ich möchte nichts zu tun haben mit dem, was es Einschneidendes und Entscheidendes in ihm gibt; ich möchte, dass er um mich herum eine ruhige, tiefe und unendlich offene Transparenz bilde, in der die anderen meinem Erwarten antworten und aus der die Wahrheiten eine nach der andren hervorgehen; ich möchte nur in ihm und von ihm wie ein glückliches Findelkind getragen werden.‹ Und die Institution antwortet: ›Du brauchst vor dem Anfangen keine Angst zu haben; wir alle sind da, um dir zu zeigen, dass der Diskurs in der Ordnung der Gesetze steht; dass man seit jeher über seinem Auftreten wacht; dass

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ihm ein Platz bereitet ist, der ihn ehrt, aber entwaffnet; und dass seine Macht, falls er welche hat, von uns aber nur von uns stammt.‹« (Foucault 2001: 9f.)

Mit diesen Worten eröffnet Foucault am 2. Dezember 1970 seine Antrittsvorlesung am College de France, diesem traditionsreichen Institut, das seinen Angestellten eine Forschungsprofessur verspricht, die sie von universitären Lehr- und Pflichtveranstaltungen freistellt und ihrem Werk eine fächerübergreifende Anerkennung garantiert, kurz, Foucault hat mit der Berufung an dieses College erreicht, was man als Wissenschaftler in Frankreich erreichen kann. Andererseits stellt diese Berufung für Foucault aber auch ein Problem dar, findet sich der Diskursanalytiker, der er bereits war, wenn er die Zwänge, die auf Diskursen lasten, zum Thema seines bisherigen Werkes gemacht hat, schließlich nun in einer Situation, in der er selbst als Sprechender der Anforderung unterliegt, seine Berufung durch seine Rede zu rechtfertigen. Er kann weder die Zwänge, die seine Rede einbetten, stillschweigend übergehen, da er so seine eigene Forschungsarbeit in der Zeremonie ihrer Anerkennung vernichten würde, noch kann er sie mit einer surrealistischen Infragestellung der Institution durchbrechen. Das ist die Klemme, in der sich Foucault befindet, indem er das Wort ergreift. Die Frage, die man mir nun stellte, und zu deren Beantwortung ich hier antrete, lautet: Wo beginnt Widerstand? Sie suggeriert einen neuen Anfang, zu dem ich zurückgehen soll, um ihn aufzuspüren, auf ihn zu zeigen, ihm seine Neuartigkeit zu entreißen. Dieser Punkt müsste also ein Ereignis bezeichnen, von dem ab sich alles ändert. Bis hier her haben wir weggesehen, doch jetzt ist es zu viel. Solange habt ihr uns ausgebeutet, doch jetzt werden wir uns erheben und in unserem Widerstand uns gegen euch stellen. Entweder ein Kampf ums Überleben oder der totale Rückzug, der dem Anderen jeden Zugriff verweigert. Gibt es bei Foucault Widerstand und gibt es diesen Punkt, wo der Widerstand anfängt? Vielmehr scheint Foucault sich um diesen Anfang herumzumogeln, scheint er sich in den Diskurs einzuschleichen. Er interpretiert den Moment, in dem der Redner das Wort ergreift, als den Akt der Aneignung des Diskurses durch das Subjekt, wobei das Subjekt gleichzeitig in eine Ordnung eintritt, die es auf Bestimmtheit der Aussage verpflichtet und damit festlegt. Dagegen scheint das Sprechen und Schreiben Foucaults eher als Selbstauslöschung, denn als Selbstausdruck: »Mehr als einer schreibt wahrscheinlich wie ich und hat schließlich kein Gesicht mehr. Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.« (Foucault 1981: 30)

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Und auch im zweiten Band der Geschichte der Sexualität gibt Foucault noch den Wunsch an: »sich von sich selber zu lösen.« (Foucault 1991: 15) Aufgrund dieser Differenz, die sich eröffnet zwischen der Sprache des Diskurses und dem unbezähmbaren Sprechen, spricht Peter Buerger von einem doppelten Begriff des »discours« bei Foucault. Einerseits sei der »discours« eine Art diffuses Gerede, dessen Unberechenbarkeit eine dauernde Gefährdung menschlicher Ordnung darstelle. Andererseits erscheint der »discours« bei Foucault aber auch selbst als kontrollierte und geregelte Sprachpraxis, wobei gerade die Zwangsmechanismen den Sprechenden produktiv machen. »Der discours wäre also zugleich das Bedrohliche, alle Ordnung Sprengende und regelgeleitete Ordnung, gleichsam ein Indifferenzpunkt absoluter Gegensätze.« (Buerger 1991: 99) Was bei Buerger nun aber den ersten Begriff des »discours« ausmacht, das diffuse Gerede als »discours«, lässt sich bei Foucault so aber nicht durchhalten, berücksichtigt man die frühen Texte zur Literatur, in denen das Sprechen als Nicht-Diskurs verhandelt wird. Vielmehr unterliegt das diffuse Sprechen dem Diskurs, da es von einer geregelten Sprache stets zum Schweigen gebracht wird. In dieser Differenz verbirgt sich kein dialektisierbarer Gegensatz oder Widerspruch, vielmehr wird hier eine produktive Teilung zwischen Sprechen und Sprache ausgesprochen, die den einen Diskurs durchwirkt. Gilles Deleuze hat versucht, dem Foucaultschen Denken eine Einheit zu bescheinigen1, indem er nachwies, dass Foucault einen neuen philosophischen Gegenstand entdeckt habe, den »énoncé« (die Aussage), der sein gesamtes Werk bestimme. Vielleicht ist der neue Gegenstand, den Foucault entdeckte, und um den sein gesamtes Denken kreist, vielmehr der Diskurs, der aus den verschiedensten Beziehungen der »énoncés« untereinander besteht. Denn zwischen den Aussagen entfaltet sich ein neues Denken, wenn es diese neu in Relation zueinander setzt. So würde man nicht nur zu fragen haben, was die jeweiligen Aussagen bedingt, sondern man bekäme vielmehr ein Geflecht (von Aussagen) in den Blick, verschiedenste Relationen, die sich verfestigen und wieder aufgebrochen werden, wobei die Relationen durch den Abgrund der Aussagen bestimmt werden. Vielleicht ein neuer Leibnizianismus, eher als ein neuer Kantianismus. So hat Foucault nie ein Buch über das Sprechen geschrieben, eher verstreute Texte, Kritiken und Rezensionen, die je einen Blickpunkt entwerfen auf die »Monas«, das nomadisierende Sprechen, wobei die Texte selbst der »Monas« als »Nomas« folgen, selbst nomadisieren2. Eine Philo1

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Die Rede ist von der Auseinandersetzung mit Foucault, die in ihrer Ausrichtung bis jetzt einzigartig blieb, Foucault als Philosophen ernst zu nehmen. Vgl. Deleuze (1992). Leibniz versuchte in verschiedenen verstreuten Texten das Wesen der Monade, der Ein-heit, zu ergründen, wobei diese Texte selbst Ein-heiten bilden, die immer nur einen Blickpunkt auf die »monas« entfalten. Indem Foucault nun die »monas« durch den »nomas« (griech.: »mit Viehherden oder wie

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sophie der Verben, oder besser: ein nomadisches, ein vagabundierendes Denken3, das nicht in einer Philosophie ruht, sondern beständig anrennt, verschiebt, umläuft und wieder ansetzt. Vielleicht müsste man eher eine Nomado-Monadologie, als eine neue Aussagenlogik entwerfen, eher den Bewegungen des Denkens folgen, als eine Begriffsanalyse betreiben, will man diesem Denken auf die Spur kommen. Foucault vielleicht weniger auf ein Problem antworten lassen, als sein Denken als Projekt entfalten, das nicht ein Selbst auf die Dinge projiziert, sondern das Selbst in die Analyse wirft, ins Denken schleudert. Eine dritte Erfahrung, die man bei der Lektüre von Foucault machen kann, schildert Wolfgang Welsch als Dialektik von Präzision und Suggestion (Welsch 1991). Welsch artikuliert das Paradox, dass die sehr präzisen Arbeiten Foucaults unausgesprochene Suggestionen provozieren, wie »Alles ist Macht« oder »Die Geschichte ist wie ein Theater«, wenngleich man sie niemals aus Foucault zitieren könnte. Der Grund dafür liege in zwei Arten zu schreiben, die für die Texte Foucaults charakteristisch seien. Einerseits eine präzise Analyse der Aussagen, sowie von deren Bedingungen, und andererseits ein literarisches Sprechen, dass wesentlich Impräzision sei und aus deren Appellstruktur eine suggestive Kraft erwüchse. Aus dem Befund, dass es bei Foucault neben der Sprache des Diskurses noch ein weiteres Sprechen gibt, das eine andere Beziehung zu den Dingen unterhält, als sie präzise zu beschreiben, leitet Welsch die Einsicht ab, dass aus dieser der Präzision entgegenstehenden Impräzision, aus einem irgendwie literarischen Schreiben die suggestive Kraft erwächst, die die Texte Foucaults trägt. Um dieses literarische Sprechen genauer bestimmen zu können, müssen wir auf die Texte zur Literatur zurückgehen, die Foucault in den 1960er Jahren schrieb. Hier entdeckt Foucault in den Texten von Sade, Rousseau, Mallarmé, Flaubert, Hölderlin bis Klossowski, Blanchot und Bataille ein Sprechen, dass unterhalb der Diskurse oder neben ihnen verläuft, ein nichtdiskursives Sprechen, das Foucault in einer Archäologie des Schweigens aufspüren will und das ihn eine Ontologie der Sprache andeuten lässt. Ein solches Sprechen, das die Diskurse verflüssigt, erlaubt es ihnen zu widerstehen und sie in ein Werden zu verwickeln. Ausgangspunkt für das Denken Foucaults ist Nietzsches Diktum vom Tod Gottes als dem Beginn eines neuen Zeitalters gewesen, in dem der

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Viehherden ohne festen Sitz umherschweifend«) ersetzt, übernimmt er die Theorie der Perspektive von Leibniz, verschiebt aber den Gegenstand auf das nomadisierende Sprechen, das, genau wie bei Leibniz, zur gleichen Zeit eins und vielfältig ist. Vgl. die Einleitung zu Dispositive der Macht von Francois Ewald, in der er von einer »Kunst des Ausweichens« redet, wie sie für die Arbeit Foucaults charakteristisch sei: »Überall dabei, ist er doch immer anderswo, dort, wo man ihn nicht erwartet. Schwer greifbar und flüchtig. Man könnte mit Foucault von einem vagabundierenden Denken sprechen« (Ewald 1978: 8)

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Mensch nicht länger im Zentrum des Denkens stehe. Foucault schließt an Nietzsche an, wenn er behauptet, dass mit dem Tod Gottes auch der Mensch aus der Episteme der Moderne verschwindet. Insofern erkennt Foucault in Nietzsche nicht nur den Verkünder vom Tod Gottes, sondern auch vom Tod des Menschen. So verabschiedet Foucault das philosophische Privileg der modernen Subjektivität in der Verlängerung der nietzscheanischen These vom Tod Gottes zu der Idee vom Tod des Menschen: »Durch eine philologische Kritik, durch eine bestimmte Form des Biologismus hat Nietzsche den Punkt wiedergefunden, an dem Mensch und Gott sich gehören, an dem der Tod des zweiten synonym mit dem Verschwinden des ersten ist und wo die Verheißung des Übermenschen zunächst und vor allem das Bevorstehen des Todes des Menschen bedeutet [...] In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist, zu denken.« (Foucault 1974: 412.)

Der Tod Gottes bedeutet nun weder das Ende seiner geschichtlichen Herrschaft, noch die Feststellung seiner Nichtexistenz, sondern vielmehr den nunmehr beständigen Raum unserer Erfahrung, in dem nichts mehr die Äußerlichkeit des Seins anzeigen kann, weshalb man diese Erfahrung innerlich und souverän nennen könnte. Und da der Tod Gottes unserer Existenz die Grenze des Grenzenlosen nimmt, führt er zur Endlichkeit der Erfahrung, in der die Grenze grenzenlos herrscht. Ihre Durchbrechung hinterlässt nichts mehr als eine Leere. »Der Tod Gottes gibt uns nicht einer begrenzten und tatsächlichen Welt zurück, sondern einer Welt, die sich in der Erfahrung der Grenze auflöst, die in dem Exzess entsteht und vergeht, der sie übersteigt.« (Foucault 2003: 67)

Diese Erfahrung der Überschreitung, wie Foucault sie bei Sade beispielsweise findet, ist nun aber insofern eine begrenzte Bewegung, da sie in dem beständigen Begegnen der Grenze besteht. Diese winzige Strichellinie, die bei einer Überschreitung überquert, gekreuzt wird, bildet ihren ganzen Raum. Ihre Beharrlichkeit liegt nun darin, dass die Überschreitung eine Linie durchbricht und unaufhörlich aufs Neue ansetzt, eine Linie zu durchbrechen, die sich hinter ihr sogleich wieder in einer Welle verschließt, die kaum eine Erinnerung zulässt. Deshalb ist die Überschreitung in keiner Weise dialektisch, da sie allein das Spiel zwischen Begrenzung und Entgrenzung eröffnet. So ist nichts an der Überschreitung negativ, da sie das begrenzte, genauso wie das unbegrenzte Sein bejaht. »Dennoch kann man sagen, dass diese Bejahung nichts Positives hat: Kein Inhalt kann sie binden, da per definitionem keine Grenze sie zurückhalten kann. Vielleicht ist sie nichts anderes als die Bejahung der Teilung. Allerdings sollte man

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dieses Wort von allem entlasten, was an die Geste des Bruchs oder an die Herbeiführung einer Trennung oder an das Maß einer Abweichung erinnern kann und ihr allein das lassen, was in ihr das Sein der Differenz bezeichnen kann.« (Foucault 2003: 70) Hier entfaltet sich ein Denken, »das absolut und in ein- und derselben Bewegung eine Kritik und eine Ontologie wäre, ein Denken, das die Endlichkeit und das Sein dächte.« (Foucault 2003: 71)

Wie äußert sich nun aber ein Denken, das aus der Erfahrung der Endlichkeit und des Seins, der Grenze und der Überschreitung entspringt? Vielleicht muss man versuchen, über diese Erfahrung zu sprechen und sie genau in der Höhlung der Ohnmacht der Sprache zum Sprechen zu bringen, da, wo ihr die Worte fehlen, wo das sprechende Subjekt ohnmächtig wird. Aber überkommt uns die Möglichkeit eines solchen Denkens nicht in Wirklichkeit in einer Sprache, die uns gerade diese Möglichkeit als Denken entzieht und sie bis hin zur Unmöglichkeit der Sprache zurückführt, rührt ein derartiges Denken nicht an jener Grenze, an der das Sein der Sprache fraglich wird? Eine neue, nicht-dialektische Philosophie, die die Differenz bejaht und nicht sofort in einen Widerspruch verwandelt, den sie dann aufheben kann, ist laut Foucault »eine vielfache Wüste« (Foucault 2003: 74): »Dies ist nicht das Ende der Philosophie, sondern eine Philosophie, die nur an ihren äußersten Grenzen das Wort ergreifen und sich in ihm wieder in Besitz nehmen kann: Nur in einer geläuterten Metasprache oder in der Dichte von Worten, die sich über ihrer Nacht und über ihrer blinden Wahrheit verschlossen haben, ist dies möglich. Diese ungewöhnliche Distanz, in der sich unsere philosophische Zerstreuung zeigt, bedeutet weniger eine Hilflosigkeit als einen tiefen Zusammenhang: Diese Kluft, diese tatsächliche Unvereinbarkeit ist der Abstand des Grundes, aus dem die Philosophie zu uns spricht.« (Foucault 2003: 74f.)

Ein neuer Philosoph wäre dann derjenige, der nicht wie ein all-sprechender Gott die Totalität seiner Sprache bewohnt, er entdeckt vielmehr, dass es daneben eine Sprache gibt, die spricht und die er nicht meistert. Eine Sprache, die sich bemüht, die scheitert, die ins Schweigen verfällt und die er nicht bewegen kann. Und vor allem entdeckt er, dass er beim Sprechen nicht stets in derselben Weise im Innern seiner Sprache aufgehoben ist, dass sich an der Stelle des sprechenden Subjekts eine Leere auftut, in der sich eine Vielzahl sprechender Subjekte verbinden und wieder lösen, kombinieren und gegenseitig ausschließen. Doch das bedeutet nicht das Ende der Philosophie, sondern eher das Ende des Philosophen als souveräne und grundlegende Form der philosophischen Sprache. Ein neues Sprechen entsteht, das in der philosophischen Sprache spricht. Bataille sagt es: »Ja, bei mir fängt alles immer wieder an, nichts wird jemals ausgespielt. Ich richte mich zugrunde in der unendlichen Möglichkeit von meinesgleichen: sie ver-

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nichtet den Sinn dieses Ichs. Wenn ich für einen Augenblick das Extrem des Möglichen erreiche, so werde ich wenig später geflüchtet sein, woanders sein. [...] Wie eine Herde, die von einem unendlichen Hirten gejagt wird, würde das blökende Gekräusel, das wir sind, entfliehen, ohne Ende fliehen vor dem Entsetzlichen einer Reduktion des höchsten Wesens auf die Totalität« (Bataille 1999: 53).

Dazu Foucault: »Dies ist genau die Umkehrung der Bewegung, die, mit Sicherheit seit Sokrates, die abendländische Weisheit geprägt hat: Dieser Weisheit verhieß die philosophische Sprache die heitere Einheit einer in ihr triumphierenden, mittels ihrer und im Durchgang durch sie gänzlich konstituierten Subjektivität. Wenn sich jedoch gerade in der philosophischen Sprache die Marter des Philosophen unermüdlich wiederholt und seine Subjektivität regelrecht vom Winde verweht wird, dann kann nicht nur die Weisheit nicht länger als eine Form der Zusammenführung und Belohnung gelten; vielmehr eröffnet sich schicksalhaft im Verfall der philosophischen Sprache eine Möglichkeit (das, worauf sie fällt – die Seite des Würfels; und das, worin sie fällt: die Leere, in die hinein der Würfel geworfen wird): die Möglichkeit des wahnsinnigen Philosophen. Das heißt des Philosophen, der nicht außerhalb seiner Sprache (durch ein Geschehen, das von außen einwirkt, oder durch eine imaginäre Übung), sondern in ihr im Kern ihrer Möglichkeiten die Überschreitung seines Seins als Philosophen findet. Eine nichtdialektische Sprache der Grenze, die sich erst in der Überschreitung dessen, der spricht, entfaltet.« (Foucault 2003: 77)

So setzt Foucault gegen das »Ich denke« der alten Philosophie ein »Ich spreche«. Führte das »Ich denke« zur unbezweifelbaren Gewissheit des Ich und seiner Existenz, so rückt das »Ich spreche« diese Existenz in die Ferne, zerstreut sie, löscht sie aus und lässt nur eine Leerstelle aufscheinen und wird so folgerichtig zum »Es spricht«. Während uns das Denken des Denkens ins Tiefste unseres Innern führte, so verführt uns das Sprechen des Sprechens an ein Außen, wo das sprechende Subjekt verschwunden ist. Hier ist nun reine Bewegung, das Projekt, das den Anfang aufschiebt, wo vorher die Selbstprojektion des Ich das Problem des Anfangs stellte und im gleichen Atemzug beantwortete. Vielleicht könnte man diesen frühen Texten eine Art Poetik entlocken, die Foucaults Schreiben und Sprechen bedingt hat, fehlen die Einlassungen dieses Sprechen doch in keinem seiner Bücher. Fiktionen, im Deckmantel der Historie, die in die großen Fabeln eine Hinterfabel eingraben, die in den Diskursen ein Sprechen beleben, dass jede Prosa und jede Poesie, jeden Roman und jede Reflexion unterschiedslos durchquert, ein Sprechen, das die Diskurse unterspült und ihnen ihren Grund nimmt. Ein so bestimmtes Sprechen, das dem Diskurs eine Öffnung antut, wird Foucaults gesamtes Werk insofern bestimmen, dass es einerseits ein Widerstehen gegen die festgefügte Form des Diskurses erlaubt und diese, sowie denje-

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nigen, der spricht selbst mit einem Werden infiziert, so dass jegliche Verfestigung seiner eigenen Position unmöglich wird. Die Überschreitung dieser subjektphilosophischen Position wird aber nicht in dem Sinne bei Foucault praktiziert, dass hier ein Schritt in eine neue Episteme gewagt würde, sondern gedacht, wenn sie die epistemische Konstellation in ihren historischen Determinationen analysiert. Hier ist ein Denken am Werk, das sich an der Grenze positioniert, ohne den Anspruch auf eine neue Episteme zu erheben. Die Neuheit dieses Denkens besteht in eben dieser Positionierung genau auf der epistemischen Grenze. »Ein Denken der Grenze, das den Schwellenbereich nutzt, um die Determinierung des Denkens zu beleuchten.« (Klawitter 2003: 134) So kann auch Widerstand bei Foucault nicht auf ein Außen hoffen, sondern muss sich vielmehr im Hin und Her einer Ausweichbewegung ausdrücken. Widerstand ist hier Bewegung, die keine anderen Mittel besitzt, als das Bestehende. Vielleicht eher sich winden oder kriechen als ein fester Stand. Eher einen neuen Umgang mit den Dingen finden, als wider das Bestehende zu handeln. Gegen Ende von Überwachen und Strafen schildert Foucault den Widerstand der Sträflinge gegen eine bestimmte Bestrafungskunst, die Sträflingskette, zu der die Gefangenen zusammengeschmiedet wurden, um sie aus der Stadt zu ihrem Hinrichtungsort zu bringen4. Dieser Widerstand bestand jedoch nicht darin, die Ketten zu sprengen und sich gegen die Mächtigen aufzubäumen, vielmehr setzte man die Ketten selbst als Waffen ein, indem man sie anders benutzte. Doch wie kann man etwas anders benutzen? Gilles Deleuze und Félix Guattari haben einen Unterschied aufgemacht zwischen Werkzeugen und Waffen. Extrinsisch könne man Waffen und Werkzeuge unterscheiden, indem man darauf hinweist, dass Waffen verwendet werden, um Menschen zu vernichten, während Werkzeuge Güter produzieren. Doch viel entscheidender ist, dass Waffen eine Beziehung zur Pro-jektion haben, zum Werfen: »Alles, was wirft und geworfen wird, ist grundsätzlich eine Waffe und der Antrieb ist dabei das wichtigste Moment.« (Deleuze/Guattari: 2002: 545) Und selbst, wenn nicht alle Waffen geworfen werden oder werfend sind, so verlangen selbst Handwaffen »einen anderen Gebrauch der Hand und des Armes als Werkzeuge, nämlich einen projektiven Gebrauch«. (ebd.) Und darauf kommt es an: während das Werkzeug bewegt wird, sind Waffen selbstbewegend. »In alle Städte, durch die sie zog, brachte die Kette ihr Fest mit. Es waren Saturnalien der Strafe, aus der damit ein Privileg wurde. Und in der Folge einer merkwürdigen Tradition, die den gewöhnlichen Riten der öffentlichen Hinrichtung zu entrinnen scheint, kam es bei den Verurteilten weniger zu den obligaten

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Foucault beschreibt hier den Übergang von der Sträflingskette zum Sträflingszug. Während die Delinquentinnen vorher zusammengekettet von Ort zu Ort zogen, so wurden sie später in einem geschlossenen Zug transportiert.

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Zeichen der Reue als vielmehr zum Ausbruch einer irren Freude, welche die Bestrafung verneinte. Dem Schmuck von Halsringen und Eisen fügten die Sträflinge selbst die Zierde von Bändern, Strohgeflecht, Blumen oder kostbarer Wäsche hinzu. Die Kette ist Reigen und Tanz. Sie ist auch Paarung – die erzwungene Vermählung in verbotener Liebe« (Foucault 1976: 334)

Die Kette formte aus den einzelnen Sträflingen eine Waffe, die sich gegen alles Verfestigte, alles Still-Gestellte, sogar gegen die Sträflinge selbst richtet. Eine verbotene Liebe, weil hier nicht zwei Individuen eine höhere Vereinigung finden, sondern in der Masse aufgelöst werden. Sogar doppelt verboten, weil von ihr eine Ansteckung ausgeht, die nicht einzudämmen ist. Die Kette verwandelte die Sträflinge in einen umherziehenden Nomadenstamm, der aus einer Bewegung der Abstoßung heraus eine andere Geschwindigkeit entwickelte, die alles, was mit ihr in Berührung kommt, in ein Werden verwickelt: »Und während des ganzen Abends, der dem Zusammenschweißen der Kette folgte, bildete die Sträflingskette eine große Farandole, die sich ohne Unterlass im Hof von Bicêtre drehte: ›Für die Aufseher wurde es gefährlich, wenn sich ihnen die Kette näherte; sie umringte sie und erwürgte sie in ihren Ringen. Die Sträflinge blieben bis zum Einbruch der Nacht Herren auf dem Schlachtfeld.‹ Der Sabbatsreigen war die Antwort auf das Zeremoniell der Justiz. Er kehrte die Ordnung der Macht und die Zeichen der Herrlichkeit und die Gestalten der Lust um... Man musste taub sein, wollte man nichts von diesen neuen Tönen hören.« (Foucault 1976: 334f.)

Man meint ihre Lieder zu vernehmen, die sie selbst erfanden und die vom Publikum übernommen wurden, wenn Foucault die Zusammengeschmiedeten zum Sprechen kommen lässt. Die Kette entfaltet namenlose Widerstandspunkte, die, so scheint es, nur erzählt werden können. »Es ist die Schilderung des Geschehens, die über den bloßen Beleg für einen Formenwandel hinausgeht und an der Schwelle der Neuerung ein Ereignis im emphatischeren Sinne eines Widerstandes oder auch jener Widerstandspunkte deutlich macht.« (Gehring 2004: 280f.) Die Narration bringt dieses Ereignis zur Sprache, oder besser: Die Sträflingskette wird in der Sprache zum Sprechen gebracht. Und so wie sich die Stimme des Erzählers in die Stimme des Materials flicht, so knotet die Stimme des Materials die Stimme des Erzählers. Das Denken verliert und verheddert sich in der Fremdheit eines Materials, wenn es seine Geschichte erzählt, wird Waffe, die sich am Ende sogar gegen sich selbst richtet und die Möglichkeit, sich aufzubäumen, untergräbt: Projekt. So scheint weniger die Werkzeugkiste Foucaults einen Widerstand vorzubereiten, vielmehr ist das Denken Fou-

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caults, wie es in der Bergung des Sprechens entsteht, eine Waffe, die der Philosophie widersteht und sie mit einem Werden infiziert.5 Wenn Foucault nun in Die Ordnung des Diskurses, also der Antrittsvorlesung am College de France den Diskurs anstimmt, indem er den Anfang, an dem er das Wort ergreift, vor sich her schob, so aktualisierte er gleichzeitig ein Sprechen, das immer schon spricht und das der Diskurs, indem er neu anfinge, zum Schweigen brächte. Auf dieses anfängliche Zögern, das in den Wunsch, zu verschwinden, überging, antwortete die Institution: Es gibt gar keinen Anfang, was Anfang zu sein scheint, ist in Wahrheit Vollzug eines Rituals, du brauchst es nur zu vollziehen. Und die Institution behält das letzte Wort. Der Redende fügt sich ihr. Nach einer kurzen, durch Sternchen gekennzeichneten Pause. Er fährt wie verwandelt fort, mit den Worten: »Die Hypothese, die ich heute abend entwickeln möchte« (Foucault 2001: 10) ist die folgende. Er ergibt sich, alles hat seine Ordnung. Der Vortragende trägt eine Hypothese vor, führt Unterscheidungen ein, stiftet Ordnung. Die Irritation, die der Vortragende bei den Zuhörerinnen ausgelöst haben mag, ist verschwunden; sie können sich in ihren Sesseln zurücklehnen. Jedoch am Schluss der Vorlesung dürfte zumindest aufmerksamen Zuhörern ein erneutes Unbehagen überkommen haben. Der Vortragende fügt sich zwar dem Ritual, aber er fügt sich beinahe schon zu vollkommen. Erneut evoziert das sprechenden Subjekt seine Auflösung, wenn Foucault betont, das er alles, was er je geleistet habe, ausschließlich seinen Lehrern verdanke. Finden wir in den Text zurück, an der Stelle, wo er Jean Hyppolite, den Hegelianer und Dialektiker, preist: »Ihm verdanke ich zweifellos den Sinn und die Möglichkeit dessen, was ich tue. Er hat mir oft den Weg gewiesen, wenn ich bei meinen Versuchen im dunkeln tappte. Darum wollte ich meine Arbeit unter sein Zeichen stellen und darum wollte ich die Vorstellung meiner Projekte mit seiner Erwähnung beenden. Auf ihn hin, auf dieses Fehlen – wo ich zugleich seine Abwesenheit und meine Schwäche spüre – zielen die Fragen, die ich mir nun stelle./Da ich ihm soviel verdanke, verstehe ich wohl, dass die Wahl, die Sie getroffen haben, indem Sie mich eingeladen haben, hier zu lehren, zu einem Gutteil auch eine Ehrung für ihn ist. Ich danke Ihnen zutiefst für die Ehre, die Sie mir erwiesen haben, aber ich danke Ihnen nicht weniger für das, was in dieser Wahl ihm gehört. Wenn ich

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So definiert Foucault die Philosophie, wenn auch nur beiläufig, doch trotzdem überraschend wie folgt: »Die Frage der Philosophie ist die Frage dieser Gegenwart, die wir selbst sind. Deshalb ist die Philosophie heute voll und ganz politisch und voll und ganz Sache des Historikers. Sie ist die der Geschichte immanente Politik, sie ist die für die Politik unerlässliche Geschichte.« (Foucault 2003: 349) Hier ist Philosophie nicht mehr eine Disziplin, die sich gegen das Vorphilosophische und die Nichtphilosophie abschirmen muss. Vielmehr resultiert sie bei Foucault aus dem Verhältnis von Politik und Geschichte.

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mich der Aufgabe, Ihm nachzufolgen, nicht gewachsen fühle, so weiß ich doch, dass ich an diesem Abend, wäre uns dieses Glück vergönnt, von seiner Nachsicht ermutigt worden wäre./Und nun verstehe ich besser, warum ich eben soviel Schwierigkeit hatte, sogleich anzufangen. Ich weiß auch, welche Stimme es war, von der ich gewünscht hätte, dass sie mir vorangeht, dass sie mich trägt, dass sie mich zum Sprechen einlädt und sich in meinen eigenen Diskurs einfügt. Ich weiß, warum ich solche Angst hatte, das Wort zu ergreifen: ich habe das Wort an dem Ort ergriffen, wo ich ihn gehört habe, und wo er nicht mehr ist, um mich zu hören.« (Foucault 2001: 48f.)

Literatur Bataille, Georges (1999): Die innere Erfahrung nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953 (Atheologische Summe 1). München: Matthes & Seitz. Buerger, Peter (1991): »Denken als Geste. Versuch über den Philosophen Michel Foucault«. In: F. Ewald/B. Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 89-105. Deleuze, Gilles (1992): Foucault, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (2002): Tausend Plateaus, Berlin: Merve Verlag. Ewald, Francois (1978): »Foucault – Ein vagabundierendes Denken«. In: M. Foucault, Dispositive der Macht, Berlin: Merve Verlag, S. 7-20. Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1978): Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1991): Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2001): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuchverlag. Foucault, Michel (2003): »Nein zum König Sex«. In: M. Foucault, Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 336-353. Foucault, Michel (2003): »Vorrede zur Überschreitung«. In: M. Foucault, Schriften zur Literatur, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 64-85. Gehring, Petra (2004): »Sind Foucaults Widerstandspunkte Ereignisse oder sind sie es nicht? Versuch der Beantwortung einer Frage«. In: M. Rölli (Hg.), Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München: Wilhelm Fink Verlag, S. 275-284. Klawitter, Arne (2003): Die »fiebernde Bibliothek«. Heidelberg: Synchron Verlag.

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Welsch, Wolfgang (1991): »Präzision und Suggestion. Bemerkungen zu Stil und Wirkung eines Autors«. In: F. Ewald/B. Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 136-149.

Grenzen eines Widerstandsdenkens

Foucault und der Widers tand: Anmerkung zu einem Missverständnis TOBIAS N. KLASS

Einleitung Sich auf die Seite der Macht zu schlagen scheint – in der politischen Theorie ebenso wie in der Politik selbst – nicht nur eine Frage des Realitätssinns, sondern auch (und vielleicht gar zuerst) eine Frage der Redlichkeit: Denn wer Macht verleugnet – etwa, in dem er machtfreie Räume postuliert –, scheint im besten Fall naiv, im schlimmsten blind oder gar zynisch. »Macht ist überall« (vgl. Foucault 1977: 114): dieses Foucaultsche Diktum kann wohl nur der leugnen, der in der Politik, theoretisch wie praktisch, wirklich glaubhaft mitreden zu wollen längst aufgegeben hat. »Eine Gesellschaft ›ohne Machtverhältnisse‹ kann nur eine Abstraktion sein« (Foucault 2005a: 257), so hält es Foucault unmissverständlich fest, denn »wir sind nirgendwo frei von jeder Machtbeziehung.« (Foucault 2005b: 916) Mit dieser Feststellung tut sich freilich zugleich ein Problem auf, das man das post-macchiavellische oder auch post-nietzscheanische nennen könnte: Denn das Eingeständnis der Omnipräsenz der Macht scheint mit ihrer Unentrinnbarkeit gleichbedeutend zu sein und damit dem nackten Machtwillen das Wort zu reden. »Macht ist überall« wird so von einer schlichten Beschreibung eines Phänomens zur Apotheose der Macht selbst: Was überall ist kann man sinnvoll nicht leugnen – weil man sich unglaubwürdig machen würde – und ergo nur anerkennen – was freilich gefährlich nah an »gutheißen« liegt. Nietzsche – Foucaults großes Vorbild vor allem (aber beleibe nicht nur) in Fragen der Macht – scheint diese Konsequenz mit größter Radikalität gezogen zu haben und ist aus der Entdeckung der Allwirksamkeit von Machtwillen den Schritt zum »heiligen

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Ja« zum Willen zur Macht gegangen.1 Ein Schritt, der natürlich nur möglich ist, wenn man sowohl in der Politik wie auch in der politischen Theorie sich jenseits von gut und böse zu stellen bereit ist.2 So viel Foucault Nietzsche verdankt und so sehr er Nietzsche in fast allem gefolgt ist3: in eben dieser Konsequenz mochte er ihm nicht folgen. Politik nur noch als »große Politik«, als ungebrochenes Ausleben und einsame Entscheidung des Willens zur Macht zu verstehen, der nur in »Ausnahmezuständen« noch regieren kann, das war auch Foucault nicht geheuer, selbst in seiner Hochzeit als ein Theoretiker der Macht nicht. Im Gegenteil: Schon in der Ordnung des Diskurses, in dem die Macht zum ersten Mal – als ein alles »Plötzliche«, »Gefährliche« und »Ordnungslose« aus dem Diskurs ausschließender »Wille zur Wahrheit« – in voller Präsenz sein Denken bestimmt, liegt sein ganzes Ethos auf ihrer Begrenzung: »Man muß«, lautet eine der wohl bekanntesten Passagen des Textes, »unseren Willen zur Wahrheit in Frage stellen; man muß dem Diskurs seine Ereignishaftigkeit zurückgeben; endlich muß man die Souveränität des Signifikanten aufheben.« (Foucault 1991: 33) Mit diesem dreifachen »Man muß« freilich hat sich Foucault das besagte post-nietzscheanische Problem in ganzer Breite eingehandelt: Wie bzw. wodurch die Macht begrenzen, wenn zugleich Macht überall, d h. alles von ihr durchwirkt ist? Jenseits der Macht, das scheint klar, kann eine solche Begrenzung nicht begründet werden: denn ein solches Jenseits gibt es schlicht nicht. Die einzig sinnvolle Antwort kann daher nur lauten: Die Begrenzung der Macht muss aus der Macht selbst kommen. Nur: dass die Begrenzung der Macht aus der Macht selbst kommen muss, klärt die viel schwerwiegendere Frage nicht: ob sie es denn auch kann? Dies ist die zentrale Frage aller modernen machttheoretischen An1

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Was natürlich nur die halbe Wahrheit ist: Auch Nietzsche kennt den Gedanken der notwendigen Eingrenzung der Macht durch die Macht selbst, freilich ohne Widerstandspathos und ohne Moralität. Dazu später Genaueres. Was dies in bezug auf Nietzsche bedeuten kann, findet sich am pointiertesten zusammengefasst bei Taureck (1989); zur Relativierung dessen zumindest in bezug auf den Begriff der »Rasse« siehe vor allem Schank (2000). Heideggerianer zitieren gern Foucaults Aussage aus dem Interview Die Rückkehr der Moral: »Heidegger ist für mich der wesentliche Philosoph gewesen.« (Foucault 2005c: 867). Was dabei gerne unerwähnt gelassen wird ist, dass Foucault sich damit auf eine bestimmte Epoche seiner eigenen intellektuellen Biographie bezieht, der dann die Phase »Nietzsche« gefolgt ist, mit dem Ergebnis: »Mein ganzes philosophisches Werden war durch die Lektüre Heideggers bestimmt. Aber ich erkannte dass Nietzsche über ihn hinausgegangen ist.« Aus dieser Erkenntnis speist sich dann auch Foucaults grundsätzliches Credo: »Ich bin einfach Nietzscheaner.« (Foucault 2005c: 868) – Auf eine wirklich ernstzunehmende Auseinandersetzung NietzscheFoucault hat man lange warten müssen. Erste Ansätze finden sich bei Ostwald (vgl. Ostwald 2001), der aber nicht über allgemeine Feststellungen hinauskommt. Wesenhaft interessanter ist dagegen die erst vor kurzem erschienene Dissertation von Martin Saar (vgl. Saar 2007).

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sätze, die nicht gewillt sind, im Nietzscheanismus zu enden: Wie vermag die Macht sich selbst zu begrenzen? Was in oder an der Macht ist es, das dafür sorgt, dass sie nicht ungebrochen alles sich unterjocht, sondern Grenzen ihrer Ausübung – wie die Unversehrtheit des Leibes, die Integrität der Person oder auch die Alterität des anderen (um nur einige Figuren der aktuellen Diskussion zu bemühen) – akzeptiert? Auf diese denkbar komplizierte Frage hat Foucault – sehr zur Freude vieler seiner Adepten, die daraus eine ganze politische Theorie meinen ableiten zu können (so auch im vorliegenden Band) – scheinbar mit einer denkbar simplen Formel geantwortet: »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.« (Foucault 1977: 116) Widerstand, d. i. das Sich-Wehren gegen das Ausufern der Macht, scheint nach diesem Diktum nicht bloß machtintern möglich, sondern, mehr noch, ist ein mit der Macht automatisch mitgegebenes Phänomen: keine Macht ohne Widerstand. Die Frage, die die folgenden Zeilen beschäftigen wird ist: Ist diese These zu halten? Mehr noch: ergibt sie überhaupt Sinn? Und – um dies gleich vorweg zu nehmen – die Antwort wird lauten: Die These ist nicht zu halten, denn sie ergibt keinen Sinn. Zumindest den nicht, den man ihr gemeinhin unterschiebt. Um dies zu belegen, werde ich in folgenden Schritten vorgehen: da viele der Missverständnisse, die über die Foucaultsche Widerstandsformel kursieren, offensichtlich aus einem nur oberflächlichen Verständnis des Machtbegriffs resultieren, werde ich mit einigen groben und allgemeinen Reflexionen zum Machtbegriff beginnen. Zuerst, weil grundlegend, zum Machtbegriff bei Nietzsche, danach, weil daraus abgeleitet, zu dem Foucaults. Nach diesen allgemeinen Vorüberlegungen werde ich mich dann der oben vorgestellten Formel zuwenden, die, schaut man nur etwas genauer hin, verschiedene Interpretationen zulässt, die Schritt für Schritt vorgestellt und diskutiert werden. Beendet sei der vorliegende Aufsatz mit einer systematischen Zusammenfassung der wichtigsten Argumente und einem kurzen Ausblick auf einen Schritt über verbreitete Lesarten Foucaults hinaus.

Macht Begonnen sei also mit dem Machtbegriff, und zwar dem Nietzsches. Dessen Ausgangspunkt ist bekanntlich Schopenhauers Kraftbegriff. Ohne die Auseinandersetzung Nietzsches mit Schopenhauer hier auch nur im Ansatz darstellen zu können4 scheinen mir doch folgende Züge des Nietzscheschen Machtbegriffs5 für ein Verständnis des Foucaultschen unerlässlich.

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Für eine detailliertere Auseinandersetzung erlaube ich mir auf mein Buch (vgl. Klass 2002) hinzuweisen, insbesondere das dritte Kapitel. Unter den vielen möglichen Kandidaten der Darstellung des Machtbegriffs sei nur auf die wohl auch heute noch genauste Studie von Volker Gerhard (vgl. Gerhard 1996) verwiesen.

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Nietzsche denkt die Macht nicht nur relational, sondern zugleich agonal und dynamisch. Wäre Macht allein relational gefasst – und so verstehen viele, die Foucault adaptieren, Macht vornehmlich – d. i. als ein Netz voneinander abhängiger, auf einander bezogener Punkte (»Kraftquanta« oder »Machtquanta«, wie Nietzsche es nennt), die nur durch diese ihre Bezüglichkeit aufeinander überhaupt existieren, dann würde sich der Machtbegriff kaum vom Kraftbegriff unterscheiden: denn auch der Kraftbegriff, so, wie Nietzsche ihn bei Schopenhauer – und einigen naturwissenschaftlichen Autoren seiner Zeit6 – vorfindet, stellt Kraft eben zuerst als eine reine Bezugsgröße dar. Was »Macht« über die »Kraft« hinaus bedeuten soll – und weshalb Nietzsche im Laufe der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts den Kraftbegriff durch den Machtbegriff ersetzt wissen will – ist, dass jedes einzelne »Machtquantum« stets, wie Nietzsche sagt, sich nicht nur selbst erhalten will, d. i. nicht nur seinen Ort, den es in der Topik der Kräfte einnimmt, verteidigen will, sondern »ins ganze Sein hinaus [wirkt]« (Nietzsche 1988, 13: 258). Will sagen: ein Machtquantum ist anders als ein Kraftquantum nicht bloß auf dieses andere Quantum nach Maßgabe der in ihm vorhandenen Kraft bezogen, sondern will per se »mehr«7: es will »Macht« über das andere Quantum, und das bedeutet: es will dieses andere Quantum »vergewaltigen«, sich dabei »einverleiben«, es »ausbeuten« (um nur einige der Umschreibungen zu zitieren, die Nietzsche zur Beschreibung der Macht bemüht). Machtquanta wirken nicht bloß wie Kraftquanta nach einem vorgegebenen Schema aufeinander – eine Kugel, die mit einer bestimmten Kraft angestoßen wird, trifft auf eine andere Kugel, die ebenfalls mit einer bestimmten Kraft angestoßen wurde, so dass beide nach dem Zusammenprall nach Maßgabe der in ihnen wirksamen Kraft ihren Weg fortsetzen –, sondern Machtquanta wissen nie um das ihnen innewohnende Quantum Macht, suchen und brauchen daher »Gegner«, an deren Widerstand sie sich messen können, durch deren Überwindung sie einzig überhaupt erst erfahren können, wie viel Macht ihnen innewohnt. Diese Selbstbemessung der eigenen Stärke freilich dient nicht einfach einer irgend gearteten Selbstbestimmung oder Selbstfindung, sondern zuerst dazu, die so erfahrene eigene Macht zu steigern; denn, wie Nietzsche im Nachlass der späten achtziger Jahre festhält, »eine kleine Hemmung, die überwunden wird und der sofort wieder eine kleine Hemmung folgt, die wieder überwunden wird – dieses Spiel von Widerstand

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Stellvertretend für die umfangreiche Literatur zum Thema verweise ich hier nur auf die einen Überblick verschaffende Studie von Spiekermann (vgl. Spiekermann 1992). Denn: »Das Leben […] ist essentiell ein Streben nach Mehr von Macht das Unterste und Innerste bleibt dieser Wille« (Nietzsche 1988, 13: 262), bzw.: »›Der Kampf um’s Dasein‹, das bezeichnet einen Ausnahme-Zustand. Die Regel ist vielmehr der Kampf um Macht, um ›Mehr‹ und ›Besser‹ und ›Schneller‹ und Öfter‹.« (Nietzsche 1988, 11: 492).

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und Sieg regt jenes Gesamtgefühl von überschüssiger überflüssiger Macht am stärksten an.« (Nietzsche 1988, 13: 358). Dass Machtquanta im Gegensatz zu Kraftquanta nicht nur relational, sondern stets auch agonal und dynamisch zu denken sind, soll demnach – zusammengefasst – besagen, dass sie einerseits stets den »Kampf« oder »Krieg« (so Nietzsches an der antiken Vorstellung der agôn geschultes Vokabular) mit einer anderen Macht brauchen, um sich als sich zu bestimmen. »Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt und der es widersteht, bezeichnet« (Nietzsche 1988, 13: 258), lautet eine der prägnantesten Definitionen der Macht bei Nietzsche, die sich seines Erachtens wie folgt begründet: »Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsen-wollendes Etwas da sein, das jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt.« (Nietzsche 1988, 12: 139). Ziel des »Kampfes« oder »Krieges« zweier aufeinander stoßender »wachsen-wollender Etwas« ist es dabei, den Widerstand der entgegenstehenden Macht nicht nur zu erfahren, sondern zu brechen (»überwinden«), um die eigene Stärke zu steigern. Und es besagt, dass dabei andererseits, d. i. in diesem »Kampf« der »Mächte«, die einander zum Zweck der Selbststeigerung zu vereinnahmen und als Widerstand zu brechen versuchen, nie von vorneherein feststeht, welche Macht wie groß und also die siegreiche sein wird, sondern dass sich dies erst im Kampf selbst entscheidet. Und zwar nur für genau einen Augenblick: denn der nächste Augenblick könnte schon wieder einen anderen »Kampf« und damit eine andere »Machtfeststellung« der im Kampf wirksamen »Machtquanta« ergeben. Anders als bloße Kräfte sind Mächte daher grundsätzlich dynamisch, mit Nietzsches Worten gesagt: »noch nicht festgestellt«: beweglich, in stetem Wandel begriffen, weil nur in diesem Wandel sich als sich überhaupt erfahrend. Und eben deshalb stets auf ein neues, anderes Gegenüber aus, an dessen Widerstand sie sich kämpfend erproben können. Was natürlich, und dies sei die letzte Bemerkung zu Nietzsches Machtbegriff, voraussetzt, dass dieses andere ein anderes gleicher Art und sogar – paradoxerweise – von etwa gleicher Macht ist: denn nur im Kampf mit und in der Überwindung von seinesgleichen kann eine Macht überhaupt etwas über sich erfahren. Wäre das Gegenüber nicht gleicher Art, käme gar kein Kontakt zustande: es gäbe keine gemeinsame Basis der Kommunikation; wäre es nicht etwa gleicher Macht, wäre der Kampf beendet, lange bevor die eigenen Grenzen erreicht und damit als zu überschreitendes Maß festgestellt sind. »Die Stärke des Angreifens«, umschreibt Nietzsche in diesem Sinne das Ziel der »Kriegs-Praxis« jedes Willens zur Macht in Ecce Homo, »hat in der Gegnerschaft, die er nöthig hat, eine Art Maass: […] Die Aufgabe ist nicht, überhaupt über Widerstände Herr zu werden, sondern über solche, an denen man seine ganze Kraft, Geschmeidigkeit und Waffen-Meisterschaft einzusetzen hat, – über gleiche Gegner.« (Nietzsche 1988, 6: 274)

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Von diesen grundsätzlichen Überlegungen zum Machtbegriff bei Nietzsche sei nun der Schritt zu Foucaults Machtbegriff unternommen, vor allem seinem oft besprochenen Systematisierungsversuch des Begriffs im vierten Teil des Buches Der Wille zum Wissen, dem die Formel »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« entstammt. Liest man die im Abschnitt »Methode« gegebenen zusammenfassenden Beschreibungen des Phänomens der Macht, ist das Vorbild Nietzsche allerorten zu spüren: wenn etwa vom »Spiel« die Rede ist, in dem »Kraftverhältnisse« als eine »komplexe strategische Situation« in »unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen […] verwandelt, verstärkt, verkehrt« werden (Foucault 1977: 113); wenn von der »Allgegenwart der Macht« (Foucault 1977: 114) die Rede ist oder auch davon, dass die Macht nicht »etwas« ist, »das man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert«, sondern dass die Macht sich »von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht« (Foucault 1977: 115). Auch die in Frage stehende Behauptung »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« (Foucault 1977: 116) ist – das sollte klar geworden sein – deutlich Nietzscheanischen Ursprungs: denn Foucault führt diese Behauptung an dieser Stelle zuerst auf den »strikt relationalen Charakter der Machtverhältnisse« (Foucault 1977: 117) und deren Vielgestaltigkeit und Vielfältigkeit zurück. Kurz: auch bei Foucault ist Macht zuerst relational (»komplexe strategische Situation«, »Beziehungen«), agonal (»Kämpfe und Auseinandersetzungen«) und dynamisch (»unaufhörlich«, »beweglich«). Bei dieser reinen Beschreibung des Phänomens der Macht freilich bleibt es bei Foucault nicht. Denn anders als Nietzsche kennt Foucault über die Beschreibung hinaus ein Pathos des Widerstands, das dafür sorgt, dass die hier in Frage stehende Formel »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« aus einer Beschreibung eines Zuges der Macht sich unter der Hand in ein Postulat über die Möglichkeit und sogar Notwendigkeit von Widerstand verwandelt (und dieses Postulat haben nicht nur viele »kritische« Theoretiker, sondern auch Foucault selbst Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre im Zuge seiner Reflexionen zur Möglichkeit von »Kritik« und der »Sorge um sich« immer mehr in den Vordergrund seines Denkens gestellt). Beispielgebend ist in dieser Hinsicht schon Der Wille zum Wissen: Aus der Bestimmung des allgegenwärtigen Phänomens der Macht leitet Foucault hier im folgenden eine Reihe von »Regeln« ab, die zuerst quasimethodischer Natur zu sein scheinen, gleichzeitig aber auch politische Implikationen zumindest nahe legen. In der vierten von Foucault angegebenen Regel etwa – der »Regel der taktischen Polyvalenz der Diskurse« (Foucault 1977: 122) – spricht er davon, dass Diskurse nie ganz auf der Seite der Macht oder aber ihr widerstrebend, niemals ganz ihr unterworfen oder gegen sie gerichtet sind, sondern dass der Diskurs die Macht stets »befördert und produziert«, aber zugleich eben auch »unterminiert«, sie »zerbrechlich und aufhaltsam« macht. Und sein berühmtestes – als theore-

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tisches Projekt vor allem von Judith Butler (vgl. Butler 1991) später weiter ausgearbeitetes – Beispiel für diese These ist, dass es im 19. Jahrhundert in der Psychiatrie, der Jurisprudenz und der Literatur eine Reihe von Diskursen gegeben hat, die »Perversitäten« wie etwa »Homosexualität« zu kontrollieren ermöglicht haben; aber, fährt er fort »es hat auch die Konstitution eines Gegen-Diskurses ermöglicht: die Homosexualität hat begonnen, von sich selber zu sprechen, auf ihre Regelmäßigkeit oder auf ihre ›Natürlichkeit‹ zu pochen – und dies häufig im Vokabular und in den Kategorien, mit denen sie medizinisch disqualifiziert wurde.« (Foucault 1977: 123) Was sich hier noch als reine Beschreibung einer historischen Tatsache liest, hat sich in dem berühmten Interview, das Foucault einige Jahre nach dem Erscheinen von Der Wille zum Wissen der jungen Zeitschrift Gai Pied gegeben hat, in einen Imperativ verwandelt. Dort behauptet er, dass es ihm mit dem, was er tut, nicht so sehr darum gehe, »die Wahrheit seines Geschlechtslebens an sich aufzudecken«, sondern darum, »seine Sexualität nunmehr zum Aufbau vielfältiger Beziehungen zu nutzen.« Und er schließt diesen Gedanken mit der Forderung: »Und das ist ohne Zweifel der eigentliche Grund, weshalb die Homosexualität keine Form des Begehrens, sondern etwas Begehrenswertes ist. Wir sollten uns deshalb bemühen, Homosexuelle zu werden, statt hartnäckig erkennen zu wollen, das wir homosexuell sind.« (Foucault 2005d: 201)8 Aus der Feststellung der historischen Realität und strukturellen Möglichkeit von »Gegen-Diskursen« in den Netzen der Macht ist so unter der Hand die Aufforderung zu einem eben solchen »Gegen-Diskurs« geworden. Nun könnte man Foucault an dieser Stelle natürlich dadurch verteidigen, dass man darauf hinweist, dass es sich hier nicht nur um zwei verschiedene Texte, sondern auch zwei verschiedene Kontexte handelt: Analyse eines Phänomens auf der einen Seite, Anwendung der Ergebnisse der Forschung in einem nach der Praxis fragenden Interview andererseits – ganz im Sinne der Vorstellung von Theorie als »Werkzeugkasten« für Praktiker. Doch diese Verteidigung hält einem genaueren Blick nicht stand, denn die Tendenz, aus der einfachen Beschreibung eines Machtgefüges nahtlos zum Postulat des Widerstandes gegen eben dasselbe überzugehen, verstärkt sich in den späteren Texten Foucaults zunehmend. Als Beispiel sei hier nur ein Blick in den Text Das Subjekt und die Macht geworfen. Anders als in Der Wille zum Wissen und seinem lebensweltlichen Pendant, dem Interview mit der Zeitschrift Gai Pied, argumentiert Foucault hier freilich nicht systematisch, sondern historisch. Auch im Aufsatz

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Und wie er dies meint, erläutert er einige Seiten später: »Homosexualität ist eine historische Gelegenheit, Beziehungs- und Gefühlsmöglichkeiten neuerlich zu eröffnen, und zwar nicht so sehr wegen bestimmter innerer Eigenschaften der Homosexualität, sondern weil die Diagonale, die jemand, der ›quer‹ zum sozialen Geflecht steht, darin ziehen kann, solche Möglichkeiten sichtbar zu machen vermögen.« (Foucault 2005d: 204)

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Das Subjekt und die Macht geht es zuerst um die Frage, was Macht ist und welche Formen sie kennt; dann darum, wie wir durch diese Machtformen »Gefangene unserer eigenen Geschichte« geworden sind und wie dies bisher analysiert wurde. Gegen diese bisherigen Analyseverfahren möchte Foucault nun, wie er sagt, »einen anderen Weg zu einer neuen Ökonomie der Machtbeziehungen vorschlagen, der stärker empirisch ausgerichtet und unmittelbarer mit unserer gegenwärtigen Situation verbunden ist.« (Foucault 2005a: 273) Und um diese Verbindung hinzubekommen schlägt Foucault vor, »als Ausgangspunkt den jeweiligen Widerstand gegen die verschiedenen Formen der Macht« zu wählen (ebd.). Dies scheint zuerst eine gut nachvollziehbare methodische Setzung: Will man ein bestimmtes Phänomen verstehen, dann macht es Sinn, da zu beginnen, wo eben dieses Phänomen zum Problem geworden ist: weil ein Phänomen erst da als Phänomen überhaupt in die Sichtbarkeit rückt. Was, bezogen auf das hier in Frage stehende Thema eben meint: Um zu begreifen, wie spezifische Machtverhältnisse funktionieren, setzt man, da sie, solange sie funktionieren, unsichtbar bleiben, da an, wo sie sichtbar werden: in Momenten des Widerstands gegen sie. Im weiteren Text aber zeigt sich, dass Foucault dabei allein nicht stehen bleibt. Denn die dann im Text vorgeführte historische Analyse verschiedener Formen des Widerstands gegen bestimmte Machtformen endet in der allgemeinen Feststellung, dass schon die kantische Philosophie, als sie zum ersten Mal den Blick in die Historie wagte, nicht mehr einfach nach zeitlosen Begriffen gefragt, sondern »uns und unsere aktuelle Situation [analysiert]« hat (Foucault 2005a: 280). Damit aber wurde – wieder: zuerst historisch betrachtet – für Foucault »die kritische Analyse der Welt, in der wir leben, […] immer mehr zur großen Aufgabe der Philosophie«, um daran anschließend festzustellen: »Das Hauptziel [der Philosophie] besteht heute zweifellos nicht darin, herauszufinden, sondern abzulehnen, wer wir sind. Wir müssen uns vorstellen und konstruieren, was wir sein können. […] Wir müssen nach neuen Formen von Subjektivität suchen und die Art von Individualität zurückweisen, die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt.« (ebd.)

Wie dieser Sprung von der Beschreibung eines Phänomens namens »Widerstand« zur Forderung, dass eben solcher Widerstand zu leisten sei, en detail zu denken ist, welche Zwischenschritte er geht und ob und in welcher Form er überhaupt Sinn macht: darum wird es genauer nun im nächsten Abschnitt gehen, systematisch durchgeführt an der eingangs genannten, für viele an Foucault anknüpfende Theoretiker zum Leitspruch erhobenen Formel:

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»Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« Auf den ersten Blick ist kaum zu ersehen, warum die Formel überhaupt eine problematische sein soll. Denn sie scheint nichts anderes zu bedeuten, als was eben in ihr gesagt wird: Wo das Phänomen der Macht erscheint – und das erscheint bekanntlich überall –, da erscheint eben auch zugleich das Phänomen des Widerstandes. Denn »Macht«, zumindest in der Nietzsche/Foucault-Version, existiert ja überhaupt nur dadurch, dass sie sich auf eine andere, ihr entgegenstehende Macht bezieht, und also kann es gar nicht anders sein als es gesagt wird: Wo es Macht gibt, gibt es eine dieser Macht entgegenstehende, d. i. sich ihr widersetzende Macht. Gleichwohl bleibt hinter der Klarheit dieser Lesart ein Fragezeichen und ein nicht unerhebliches dazu. Und dieses Fragezeichen betrifft die Gleichsetzung von einer sich einer Macht entgegensetzenden Macht mit »Widerstand« (im Französischen: »résistance«9). Die Rede von der »Gegen-Macht« lässt an ein Gegeneinander zwar unterschiedener, aber gleichartiger Mächte denken: A trifft auf A’, beide wollen das gleiche und nur einer von beiden kann sich durchsetzen. Im physikalischen Sinne spricht man derart von »Widerstand«, wenn eine Kraft sich einer anderen, auf sie einwirkenden entgegensetzt. Nicht so aber, wenn einer »Macht« – die ja, wie oben dargelegt, stets »mehr« ist und will als eine Kraft – »Widerstand« entgegen gesetzt wird: Da steht nicht einfach eine Macht der anderen, gleichartigen entgegen, sondern es stehen sich, wenn man derart terminologisch zwischen »Macht« und »Widerstand« unterscheidet, mit zwei Mächten auch zwei verschiedene Formen von Macht entgegen. Auf einer ersten Ebene – die auch für das Spiel der »Kräfte« noch gilt – die, die angreift, gegen die, die sich verteidigt: Widerstand ist immer reaktive, niemals aktive Macht, da sie immer antwortet auf einen zuvor auf sie gerichteten Übergriff. Und auf einer zweiten, nur für die »Macht« gültigen Ebene die, die unrechtmäßigerweise angreift gegen die, die sich legitimerweise verteidigt. Die Rede vom »Widerstand« in den Netzen der Macht impliziert stets ein normatives Moment: »Widerstand« geschieht nicht nur, sondern Widerstand zu leisten ist etwas Legitimes und bisweilen gar geboten Erscheinendes (wobei die Gründe dafür variieren können). »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« kann demnach nicht einfach bedeuten: Wo es Macht gibt, gibt es Gegen-Macht (d. i. »Widerstand« im quasi-physikalischen Sinn: als Gegen-Kraft). Sondern es trägt deutliche Anklänge an: »Wo es Macht gibt, gibt es eine Gegen-Macht, die anderer Art ist als die erste Macht, auf deren Übergriff sie reagiert und zwar legitimerweise« in sich. Auch wenn, wie Foucault schreibt, Widerstand nicht »von irgendwelchen ganz anderen Prinzipien her [rührt]« (Foucault 1977: 117), – natürlich nicht: würde er von ganz anderen Prinzipien herrühren, 9

»Là ou il y a pouvoir, il y a résistance«, lautet die französische Originalstelle; vgl. Foucault 1976: 125f.

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würden Macht und Widerstand einander gar nicht begegnen, kämen gar nicht in Kontakt miteinander: nur Gleichartiges kann das –, so muss er doch eine Macht anderer Art sein: sonst macht seine terminologische Auszeichnung als »Widerstand« keinen Sinn. Mit dieser Lesart aber kommen natürlich eine ganze Reihe von Fragen auf. Noch vor der grundsätzlichen Frage nach dem Maß und dem Grund der Legitimität oder auch Gebotenheit dieses Widerstandes, die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Formel selbst: Gibt es tatsächlich überall da, wo es Macht gibt – und das ist nach Foucault, man kann nicht müde werden, es zu betonen, bekanntlich überall – tatsächlich nicht nur immer eine Gegen-Macht (die es notwendigerweise geben muss), sondern tatsächlich auch immer »Widerstand« in dem beschriebenen, normativ aufgeladenen Sinn? Sowohl historisch als auch empirisch ist dies wohl mit gutem Grund zu bestreiten. Vielleicht – und es finden sich viele Formulierungen vor allem beim späten Foucault, die eine solche Lesart unterstützen – will Foucault dies auch gar nicht sagen: dass es immer da, wo es Macht gibt, notwendigerweise auch Widerstand gibt. Sondern vielleicht will er – schwächer – nur sagen: Wo es Macht gibt, da gibt es Widerstand der »realen Möglichkeit« nach (wie Schmitt sagen würde), anders gesagt: da bleibt Widerstand zumindest möglich, ist nicht per se ausgeschlossen, unvorstellbar. »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« verwiese bei einer solchen Lesart über den relationalen Charakter von Macht hinaus auf ein Moment der Wahl: anders als Kräfte, die notgedrungen immer nur auf eine ausgezeichnete Art aufeinander wirken, gibt es im Aufeinanderprallen der Mächte Spielräume der Reaktion – nämlich der entgegenwirkenden Macht nachzugeben, sich ihr zu ergeben, oder aber sich ihr entgegen zu stellen, »Widerstand« zu leisten. Es ist wohl in etwa dies gemeint, wenn Foucault später seine Formel wie folgt erläutert (und dabei transformiert): »Wenn einer der beiden [in einer Machtbeziehung] vollständig der Verfügung des anderen unterstünde und zu dessen Sache geworden wäre, ein Gegenstand, über den dieser schrankenlose und unbegrenzte Gewalt ausüben könnte, dann gäbe es keine Machtbeziehungen. Damit eine Machtbeziehung bestehen kann, bedarf es also auf beiden Seiten einer bestimmten Form der Freiheit. […] Das heißt, dass es in Machtbeziehungen notwendigerweise Möglichkeiten des Widerstands gibt, denn wenn es keine Möglichkeit des Widerstands – gewaltsamer Widerstand, Flucht, List, Strategien, die Situation umzukehren – gäbe, dann gäbe es keine Machtbeziehungen.« (Foucault 2005e: 890)10

Will sagen: »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« bedeutet eigentlich: ›Wo Macht es gibt, gibt es Möglichkeiten des Widerstands‹. 10 Vgl. auch die ganz ähnlich lautende Bekundung in Sex, Macht und die Politik der Identität: »Wenn es keinen Widerstand gäbe, gäbe es keine Machtbeziehungen. Weil einfach alles eine Frage des Gehorchens wäre.« (Foucault 2005b: 915)

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Eine solche Lesart aber macht natürlich nur dann Sinn, wenn man sich, nachdem man den Terminus »Widerstand« genauer unter die Lupe genommen hat, sich auch den Terminus »Macht« noch einmal genauer anschaut. Wenn »Widerstand« eine besondere Form, einen besonderen Typus von Macht darstellt (nämlich den, der als Antwort auf einen erfolgten Übergriff in der Wahl von Nachgeben oder Sich-Entgegenstellen letzteres wählt), dann muss wohl auch die Machtform, der sich Widerstand entgegenstellt, einen besonderen Machttyp darstellen. »Der Macht« als solcher sich entgegenzustellen macht nach Foucault keinen Sinn: Macht ist ein omnipräsentes, Wirklichkeiten bestimmendes Phänomen, das man nicht einfach loswerden kann, dem man sich nicht als Ganzem entgegenstellen kann. »Widerstand« ist niemals Widerstand gegen »die Macht«, sondern »Widerstand« ist, wie Foucault selbst oft genug wiederholt. »in den Machtbeziehungen die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber.« (Foucault 1977: 117) »Widerstand« als eine besondere »Seite« in einer Machtbeziehung braucht demnach ein ihr entsprechendes Gegenüber, eine ihr entsprechende Gegen-»Seite«, der gegenüber sie einzig »Widerstand« leisten kann; und zwar eine, der gegenüber es angemessen und möglich ist, Widerstand zu leisten. Was für eine Machtform könnte dies im Kosmos Foucault sein? Zuerst einmal: könnte es wohl nicht einfach eine Frage der Moral sein zu entscheiden, welcher Macht berechtigterweise »Widerstand« entgegen zu setzen ist. Auch wenn Foucault sich nicht so explizit und polemisch »jenseits von Gut und Böse« stellt wie Nietzsche, so ist doch klar: eine überhistorische, universell gültige Moral, die dem Phänomen der Macht vorzuordnen ist, gibt es auch bei ihm nicht mehr. Ebenso wenig, wie es für Foucault die eine Macht gibt, die alles bestimmt (wie etwa: »die Vernunft«, der es dann »das Andere der Vernunft« entgegen zu setzen gilt, wie lange, Foucault grausam verkürzend, postuliert worden ist11), ebenso wenig gibt es für ihn »den einen Ort der Großen Weigerung – die Seele der Revolte, den Brennpunkt aller Rebellionen, das reine Gesetz des Revolutionärs. Sondern es gibt einzelne Widerstände […], die nur im strategischen Feld der Machtbeziehungen existieren können.« (Foucault 1977: 117) Gleichwohl zeichnet Foucault in diesem »strategischen Feld der Machtbeziehungen« jenseits der einen Frage von gut und böse eine Machtform aus, der sich entgegenzusetzen generell geboten und somit »Widerstand« ist: der Machtform nämlich, »die Machtbeziehungen derart verfestigt, dass sie auf Dauer asymmetrisch sind und der Spielraum der Freiheit

11 Vgl. vor allem das einflussreiche Buch von Böhme/Böhme (1983). Gegen derartige Lesarten hat sich Foucault selbst schon zu Lebzeiten gewehrt: »Es genügt nicht, der Vernunft im Allgemeinen den Prozess zu machen. Was man in Frage stellen muss, ist die vorhandene Form der Rationalität.« (Foucault 2005f: 197)

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äußerst beschränkt ist.« (Foucault 2005e: 891) Diese Machtform nennt Foucault – wie auch Nietzsche – »Herrschaft«: »Die Analyse der Machtbeziehungen bildet ein äußerst komplexes Feld; sie stößt manchmal auf etwas, das man als Herrschaftstatsachen oder als Herrschaftszustände bezeichnen kann, in denen die Machtbeziehungen, anstatt veränderlich zu sein und den verschiedenen Mitspielern eine Strategie zu ermöglichen, die sie verändern, vielmehr blockiert und erstarrt sind. Wenn es einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen und jede Umkehrung der Bewegung zu verhindern […], dann steht man vor etwas, das man als einen Herrschaftszustand bezeichnen kann.« (Foucault 2005e: 878)

»Herrschaft« als die andere Seite von »Widerstand« ist damit weniger dadurch als bekämpfenswert ausgezeichnet, dass sie gegen eine ihr von außen entgegen gesetzte Moral verstößt, als dadurch, dass sie das Prinzip der Macht selbst gefährdet: allem voran ihre Offenheit und Beweglichkeit. Anders gesagt: Die Machtform »Herrschaft« als Gegenüber der Machtform »Widerstand« ist für Foucault nicht zuerst deshalb problematisch, weil sie inhaltlich bestimmte, ihr externe Zwecke und Ziele in Frage stellt – wie das Recht der beherrschten Person auf freie Selbstbestimmung oder aber die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Menschen –, sondern weil sie die Macht daran hindert, Macht zu sein: ein stets veränderbares, bewegliches Netz aus Bezüglichkeiten. Auf diese Weise wird aus der fast physikalistisch anmutenden Beschreibung »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« – in der Foucault, wie anzunehmen ist, bewusst mit dem Changieren des »Widerstand«-Begriffes zwischen Sein und Sollen spielt – tatsächlich: »Wo es Herrschaft gibt, gibt es die Möglichkeit von Widerstand.« Was eben eine nicht unerhebliche Verschiebung bedeutet: denn hier ist nicht nur Widerstand nicht überall, sondern hier ist Widerstand auch da nur möglich, wo in einem Machtverhältnis eine der Mächte dazu tendiert, sich zu »Herrschaft« zu verfestigen. Wo das Machtverhältnis an sich ein ausgewogenes ist – was ja, ich werde später darauf noch zurückkommen, etwa als eine »Praxis der Freiheit« für Foucault immerhin möglich ist –, da »gibt« es auch keinen Widerstand – selbst nicht der Möglichkeit nach. Zugleich aber bedeutet diese Verschiebung natürlich noch mehr, denn sie ist Grundlage einer – bei Foucault, wie eingangs exemplarisch dargelegt, immer wieder aufblitzenden – normativen Aufladung, die aus »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« tatsächlich »Wo es Herrschaft gibt, soll Widerstand sein« werden lässt. Der Grund dafür scheint auf der Hand zu liegen: Denn »Herrschaft« ist für Foucault eben nicht nur eine ausgesuchte Machtform unter anderen, sondern die Machtform, die die Macht am Macht-Sein selbst hindert; weshalb es gilt, dieser Machtform nicht einfach eine beliebige, möglichst stärkere Gegen-Macht entgegen zu setzen – denn

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dies liefe auf ein simples »survival of the fittest« hinaus, was Herrschaft als Prinzip nicht wirklich in Frage stellen würde – , sondern durch die besondere Machtform »Widerstand« unmöglich zu machen. Um verstehen zu können, wie sich dies vorgestellt werden muss, führt Foucault Anfang der achtziger Jahre – in ganz ähnlicher Konzeptualisierung wie Hannah Arendt12 zwanzig Jahre zuvor – die Unterscheidung »Befreiung« vs. »Freiheit« bzw. »Praxis der Freiheit« in seine Diskussion des Begriffes der Macht ein. Allen »Befreiungs«-Postulaten stand Foucault bekanntlich spätestens seit der Analyse der Sexualitätsdispositive eher skeptisch gegenüber, da, wie er zeigen konnte, was unter dem Banner der »Befreiung« segelte, nicht selten schlicht zu einer Verfeinerung und damit Vertiefung der Beherrschungszustände geführt hat. Gegen diese Idee der bloßen Befreiung von etwas setzt Foucault daher die Idee einer »Praxis der Freiheit«: eine Reihe von Praktiken, Verhaltens- und Seinsweisen und vielleicht auch Institutionen, die verhindern, dass überhaupt aus Machtzuständen Herrschaftszustände werden können, Widerstände dagegen so möglich wie möglich bleiben (und nicht in die Quasi-Unmöglichkeit abgedrängt werden). Die Idee bloßer »Befreiung«, so lautet Foucaults durchaus überzeugendes Argument, suggeriert, dass es da einen natürlicherweise, an sich guten anthropologischen Kern gäbe, der durch Repressionsmechanismen von sich selbst »entfremdet« wurde, so dass es »genügen [würde], die repressiven Riegel aufzusprengen, damit sich der Mensch wieder mit sich selbst versöhnt.« (Foucault 2005e: 877) Dagegen macht Foucault geltend, dass man »sehr genau [weiß], dass diese Praxis der Befreiung nicht ausreicht, um die Praktiken der Freiheit zu definieren, die in der Folge nötig sind, damit dieses Volk, diese Gesellschaft und diese Individuen für sich annehmbare und akzeptable Formen der Existenz oder der politischen Gemeinschaft definieren können.« (ebd.) Mit der Einführung dieser – bei genauer Betrachtung vor allem in Bezug auf die Bestimmung der »Praktiken der Freiheit« sehr vage bleibenden – Unterscheidung handelt sich Foucault freilich zugleich wieder mindestens ein gewichtiges Problem ein: Wenn die »Praktiken der Freiheit« versuchen, sich nicht einfach nur von aktueller Herrschaft zu befreien, sondern Herrschaft dadurch generell unmöglich zu machen, dass man die Freiheit qua Praktiken derart in einer Gesellschaft verankert, dass Freiheit nicht zunichte gemacht werden kann (was ja das vornehmliche, wenn auch nie ganz erreichbare Ziel jeder Herrschaft ist), dann werden diese Praktiken der Freiheit selbst zu einer Herrschaftsform: denn sie würden, anders als die bloße »Befreiung«, die einfach nur Spielräume wieder eröffnet, die vordem von Herrschaft verschlossen wurden, zumindest eine Wahl generell unmöglich machen: die der Herrschaft. So dass – paradoxerweise – ausgerechnet das Machtverhältnis, das den Machttyp zu verunmöglichen sucht, gegen den Widerstand sich allererst erhebt, eben durch diese Ver12 Vgl. vor allem Hannah Arendt (2000).

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unmöglichung auch Widerstand selbst unmöglich machen würde: da sie ihm seinen Gegenspieler nimmt13. Diese etwas sophistisch anmutenden Überlegungen, könnte man nun natürlich mit einigem Recht einwenden, zeigen zweifellos eine Schwäche in der Terminologie des späten Foucault, doch lassen sie die zuletzt besprochene Vorstellung, dass »Widerstand« die besondere Machtform ist, die die Machtform »Herrschaft« per se verunmöglicht (und sich ihr nicht einfach als eine stärkere entgegensetzt), in ihrem ansonsten überzeugenden Kern unangetastet: denn »Herrschaft« kann man glaubwürdig nur dadurch entgegentreten, dass man ihr etwas anderes als wieder nur Herrschaft entgegensetzt, das doch zugleich eine Form von Macht ist: da das EntgegenSetzen sonst ohne Wirkung bliebe. Doch selbst wenn man so denkt, bleibt eines auch bei dieser letzten Übersetzung von »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« in »Wo es Herrschaft gibt, soll Widerstand sein« offen: Die schon oft an Foucault gerichtete Frage nämlich, wieso man sich überhaupt auf die Seite der Macht und gegen die Herrschaft stellen soll. Denn es leuchtet eben nicht ohne weiteres ein, dass und wieso man etwas unterstützen soll, was das Prinzip der Macht erhält, wenn man doch gleichzeitig so sehr wie Foucault bestrebt ist, Macht eben nicht zu ontologisieren (wie viele dies Nietzsche unterstellt haben). Wenn »Macht« nicht das allem zugrunde liegende Etwas ist, das ein jedes Ding in seinem Sein erhält und bewegt, sondern nur ein »Name« oder ein »Analyse«-Raster für bestimmte Wirkungszusammenhänge (vgl. etwa Foucault 2005a: 281 oder Foucault 1977: 102) – wieso sich dann derart anstrengen, dieses bloß als heuristische Fiktion eingeführte Etwas qua Widerstand am Leben zu halten? In seinem berühmten Aufsatz Was ist Kritik?, in dem Foucault gegen seine damaligen Kritiker sich und seine Arbeit explizit in die Tradition der »Aufklärung« zu stellen versucht, geht er auch diese Frage abermals zuerst historisch an. So wendet er sich – nachdem er über die Entdeckung der Machtform »Biomacht« noch am Ende von Der Wille zum Wissen auf das generelle Problem der »Regierungstechniken« gestoßen ist (in seinen so genannten »Gouvernementalitätsstudien«14) – dem Phänomen zu, dass und wie mit den Manualen, die sich eben der Frage der guten Regierungstechniken zugewandt haben, immer schon neben der Frage: »Wie bestmöglich regieren?« die Frage aufgetaucht ist: »Wie nicht regiert werden?« bzw. »Wie nicht derart regiert werden?« (vgl. Foucault 1992: 11f) Da klingt, wenn auch in verwandelter Form, das bekannte: »Wo es Herrschaft (in diesem Fall: Regierung) gibt, da gibt es auch Widerstand (hier die Frage nach Nicht-Regierung bzw. Nicht-derartigen-Regierung)« an. Dieses letzte Phänomen – also die auftauchende Frage nach dem »Wie nicht derart re13 Nietzsche würde hier wohl – genealogisch – von einer Selbstaufhebung des Widerstands sprechen. 14 Die in Deutschland bekannt gemacht und luzide analysiert zu haben das besondere Verdienst von Thomas Lemke (vgl. Lemke 1997) ist.

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giert werden?« –, so lautet Foucaults zentrale Wendung des Themas in Was ist Kritik?, beschreibt freilich nicht nur eine historische Tatsache, sondern darüber hinaus auch eine generelle Haltung, ein Ethos, das in der Historie je nach dem aktuellen Stand und der aktuellen Struktur der Herrschaftsbeziehungen unterschiedliche Formen angenommen hat. Und dieses generelle Ethos will Foucault eben am Ursprung des Widerstandes wissen: die Haltung, nicht derart regiert werden zu wollen, d. i. nicht so, wie es gerade der Fall ist. »Wenn man diese Bewegung […] historisch angemessen einschätzt und einordnet«, beschreibt Foucault das Aufkommen der Machtform »Regierung« zusammenfassend, »dann kann man ihm, glaube ich, das zur Seite stellen, was ich die kritische Haltung nenne. Als Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu misstrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurück zu führen, sie zu transformieren […] ist damals in Europa eine Kulturform entstanden, eine moralische und politische Denkungsart, welche ich nenne: die Kunst nicht regiert zu werden bzw. nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden.« (Foucault 1992: 12)

Damit ist freilich eines genauso offen wie zuvor: Warum sollte ich mich für diese »kritische Haltung« entscheiden? Spült die Geschichte mich zufällig auf die Seite der »Aufklärung«? Oder gibt es einen Grund dafür, auf dieser zu sein, einen, den ich benennen kann, um mich vor mir (und vor anderen) für diese Haltung zu rechtfertigen und mich (und auch andere) von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen? Foucault selbst gibt – so weit ich sehe – auf diese Frage keine Antwort. Und er hat auch einen – durchaus plausiblen – Grund dafür: »Die Kritik«, so bestimmt er ausdrücklich Ziel und Einsatz seiner Arbeit in der Diskussion vom 20. Mai 1978, »hat nicht die Prämisse eines Denkens zu sein, das abschließend erklärt: und das gilt es jetzt zu tun. Sie muss ein Instrument sein für diejenigen, die kämpfen, Widerstand leisten und das, was ist, nicht mehr wollen. Sie muss in Prozessen des Konflikts, der Konfrontation, des Widerstandsversuchs gebraucht werden. Sie darf nicht das Gesetz des Gesetzes sein.« (Foucault 2005g: 41) Es gibt bei Foucault kein »Gesetz«, das allen ihre Pflichten diktiert, wie etwa die, unveräußerliche Menschenrechte durch Widerstand zu schützen.15 Foucaults »Ethos« soll eines sein, das nicht der Macht entgegengesetzt wird, sondern das sich von selbst aus der Macht ergibt, Teil der Geschichte der Machtnetze und überhaupt des Phänomens der Macht ist. Die Frage des Widerstands ist damit für ihn niemals eine Frage nach einem Jenseits der Macht, sondern, wie er es deutlich in einem seiner letzten Interviews sagt – rein eine Frage der richtigen »Konversion der Macht«, d. i. »eine Art und Weise, sie [die Macht] zu kontrollieren und zu

15 Für eine Kritik des Foucaultschen »Gesetz«-Begriffes siehe sehr instruktiv: Sarasin (2006), vor allem das letzte Kapitel.

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begrenzen.« (Foucault 2005e: 884) Wie und warum dies geschieht, dies können allgemeine Prinzipien oder für alle verbindlichen Regulative weder grundsätzlich gebieten noch in seiner Form vorzeichnen, sondern dies muss aus den jeweiligen Machtverhältnissen und den von ihnen bestimmten Koordinaten hervorgehen: »Man muss jeden Augenblick, Schritt für Schritt, das, was man denkt, und das, was man sagt, mit dem konfrontieren, was man tut und was man ist. […] Den Schlüssel zur persönlichen politischen Haltung eines Philosophen wird man nicht seinen Ideen abgewinnen können, sondern seiner Philosophie als Leben, das heißt seinem philosophischen Leben, seinem ethos.« (Foucault 2005h: 717)

Schluss Und damit bin ich am Ende meiner Überlegungen angelangt, die noch einmal wie folgt zusammengefasst seien: Die Formel »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« macht – als einfache Aussage verstanden – wenig Sinn. Denn da Macht für Foucault omnipräsent ist, zur Präsenz von »Macht« aber – nimmt man die Formel wörtlich – immer auch die Präsenz ihrer Form »Widerstand« gehören würde, würde die Formel, wenn man sie denn als eine Bestimmung von »Widerstand« und nicht einfach als eine Ausdifferenzierung des Begriffs der Macht versteht, bedeuten: Wo es Macht gibt, gibt es immer auch die ihrer Formen, die man »Widerstand« nennt. Was, da es Macht bekanntlich überall gibt, zugleich bedeuten würde: Widerstand gibt es überall. Und eben dies ist in dieser Allgemeinheit nicht nur empirisch schwer zu belegen, sondern – zumindest im Kosmos Foucault – sogar falsch: denn es widerspricht dessen Vorstellung, es könne Machtformen – wie die »Praktiken der Freiheit« – geben, die Machtverhältnisse ohne Herrschaft und damit ohne Widerstand sind. Sinn erhält die Formel »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« erst, wenn man sie entweder als Beschreibung der Art versteht: ›Wo es die Machtform ›Herrschaft‹ gibt, da ist Widerstand zwar erschwert, niemals aber unmöglich‹; Zweck einer solchen ebenfalls sehr allgemeinen Aussage könnte wohl nur sein – und viele der Interviews, in denen Foucault über die Macht spricht, zeigen, dass es genau das ist, worum es ihm mit seiner Formel über »Widerstand« geht16 – dem Fatalismus entgegen zu steuern, der vielen seiner

16 »Wenn ich nicht sage, was zu tun ist, so nicht, weil ich glaubte, es gebe nichts zu tun. Im Gegenteil, ich denke, dass es tausend Dinge zu tun gibt von denen, die – in Kenntnis der Machtbeziehungen, in die sie verwickelt sind – beschlossen haben, ihnen zu widerstehen oder ihnen zu entkommen. So gesehen beruht meine gesamte Forschung auf dem Postulat eines unbedingten Optimismus. Ich unternehme meine Analysen nicht, um zu sagen: Seht, die Dinge stehen so und so, ihr sitzt in der Falle. Sondern weil ich meine, dass

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Leser als die einzig mögliche und zugleich niederschmetternde Konsequenz aus der Vorstellung von der Omnipräsenz und damit Unentrinnbarkeit der Macht erschienen ist. Die Formel würde dann vor allem so viel besagen wie: Ihr denkt, weil Macht überall ist, ist jede Form von Auflehnung umsonst; aber das stimmt nicht, im Gegenteil: Widerstand ist weiter möglich! Oder aber man liest – wie viele politisch an Foucault anknüpfende Theoretiker bzw. Aktivisten und zum Teil auch der späte Foucault selbst – aus der Formel die normativ aufgeladene Variante ›Wo Herrschaft ist, soll Widerstand sein‹. Eine Variante, die freilich schnell ihre Schärfe verliert, wenn man sich den normativen Hintergrund dieses Soll-Satzes vergegenwärtigt. Denn dass es Widerstand geben soll, sagt im Kosmos Foucault nicht mehr, als dass es da ein Ethos des Widerstands gibt, das historisch zeitgleich mit dem Erscheinen bestimmter Machtformen und – techniken aufgekommen ist und das man als Haltung teilt – oder eben nicht. »Wo Herrschaft ist, soll Widerstand sein« ist damit kein Aufruf zum Widerstand, der sich als Stimme mit zwingender Gewalt an jeden richtet wie der Achtung vor dem Gesetz gebietende Ruf der Vernunft, sondern richtet sich als Appell zuerst an die, die das Ethos der Widerständigkeit ohnehin teilen, ist also zuerst eine Selbstvergewisserungsbekundung derer, die sich ohnehin zu »Widerstand« aufgerufen fühlen (ein vor allem aus der politischen Praxis ja nicht unbekanntes Ritual). Was aus dem politischen Schlachtruf, zu dem »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« nicht selten umfunktioniert werden soll, von der Sache her kaum mehr als einen gentle reminder innerhalb einer peer-group macht: Bitte vergesst, wenn ihr der Machtform »Herrschaft« begegnet, nicht euer »aufklärerisches« Ethos, dieser Machtform Widerstand entgegen zu setzen! Eine Entdeckung, die vielleicht manchen Versuch, ausgerechnet Foucault zum Gewährsmann der eigenen politischen Widerständigkeit zu machen, zumindest in seinem Pathos relativiert. Dies alles – und an dieser Stelle, an der der vorliegende Aufsatz nun endet, müsste es eigentlich erst richtig losgehen – ist natürlich das letzte Wort in Sachen »Foucault und der Widerstand« noch lange nicht, sondern kaum mehr als die Eröffnung des Feldes, auf dem man sich der Frage allererst wirklich anzunehmen hätte. Dieses Feld hätte dabei einen Raum zur Erscheinung zu bringen, in dem auch Derrida Foucault befragen wollte: einen Raum »jenseits des Machtprinzips« (vgl. Derrida 1998: 125). Ein solcher Raum freilich käme erst durch eine konsequente Auto-Dekonstruktion des Foucaultschen Machtbegriffes in den Blick, durch die auch die Macht sich als etwas erwiese, das nicht nur denkbar ist als ein in sich geschlossenes Netz sich aufeinander beziehender und dabei klar voneinander abgrenzender Partikel, Partikel zumal, die immer Teil eines »Drinnen« sind, in klarer Entgegensetzung zu einem an sich unfassbaren das, was ich sage, geeignet ist, die Dinge zu verändern. Ich sage alles, was ich sage, damit es nützt.« (Foucault 2005i: 115f)

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»Draußen«. Stattdessen würde diese Autodekonstruktion erweisen, dass es bereits in der Macht ein Jenseits der Macht gibt, das nicht einfach ein »Außerhalb« ist und damit ein »ganz anderes«, sondern ein Moment der Machtferne in der Macht selbst. Dies zu zeigen vermag besagte Autodekonstruktion vor allem dadurch, dass sie die klare Relationalität von Macht und Gegen-Macht in Frage stellen würde, weil sie die Vorstellung von eindeutig fassbaren und sich dadurch ebenso eindeutig einander entgegensetzenden Entitäten unterlaufen und damit auflösen würde. Was bliebe, wäre stattdessen ein Denken der Grenzen und Grauzonen, so wie Foucault selbst es vor allem in seiner so genannten »vor-machttheoretischen« Phase, also in den frühen sechziger Jahren im Anschluss an Bataille unter dem Stichwort »Überschreitung« erwogen hat, und das sich, wie oft übersehen wird, bis in die späten Texte zieht. So etwa, wenn er in Was ist Aufklärung? das von ihm postulierte Ethos als eine »Grenzhaltung« verstanden wissen will, die er wie folgt bestimmt: »Es handelt sich dabei nicht um eine Verweigerungshaltung. Man muss der Alternative des Drinnen und des Draußen entkommen; man muss an den Grenzen sein.« (Foucault 2005j: 702) Ein solcher Ansatz würde die Frage nach der normativen Grundierung des Widerstand-Postulats ebenso wenig klären, wie die bisher vorgestellten Interpretationen. Aber sie würde – vielleicht – zu klären helfen, in wie fern Widerstand eine andere Art von Macht ist, d. i. eine, die sich dem Spiel von Macht und Gegen-Macht zu entziehen verstünde und zugleich doch Teil des Netzes der Macht wäre: »jenseits des Machtprinzips« in der Macht selbst. Die so in Erscheinung tretende Form von »Widerstand« wäre natürlich kein klar benennbarer und vorzeigbarer Kombattant mehr, den in die eigenen Reihen einzugliedern dem eigenen Ethos Autorität und Unzweideutigkeit verliehe. Sondern es wäre allerhöchstens dessen gespenstischer Doppelgänger: dessen Erscheinen vor allem Unsicherheit und Verwirrung stiftet, hüben wie drüben – nicht zuletzt darüber, was »hüben« und was »drüben« ist. Und damit, vielleicht, Zonen des Nicht-Kampfes, genauer: des verunmöglichten Kampfes erfahrbar werden ließe, in denen nicht einfach A Widerstand gegen B leistet, sondern in denen A und B in einer Art aufeinander stoßen, die es beiden gleich unmöglich macht, sich zueinander zu positionieren und damit eben auch: einander zu unterjochen. Der realen Möglichkeit nach zumindest.

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Subjekte im gesellschaftlichen Desintegrationsprozess. Zur Analyse flexibilisierter und prekärer Arbeits- und Lebensweisen und ihrer Segregationsformen INES LANGEMEYER ›Selbsttechnologien‹ umfassen nach Michel Foucault Formen oder Methoden der Selbstdisziplinierung, Selbstkontrolle, der Modellierung der eigenen körperlichen Erscheinung und der Ästhetisierung der eigenen Lebensweise. Sie verweisen damit immer auf eine bewusste Beeinflussung und Steuerung von Welt- und Selbstverhältnissen. Foucault (Foucault 1988: 26) versteht sie neben den Technologien der Produktion, der Zeichensysteme und der Macht als Schlüssel zu Herrschaftsverhältnissen. In der Geschichte der Sexualität entdeckt er Selbsttechniken als Moment antiker Herrschaft: Sie ermöglichen dem Hausherrn über seine Familie – Frauen, Kinder und Sklaven – zu herrschen, weshalb Selbstbeherrschung und Selbstzurichtung also nicht nur der Preis, sondern auch die Voraussetzung dieses patriarchalen Regimes sind. Darüber hinaus sind Selbsttechniken auch ein Hervorbringen und eine Schulung von Fertigkeiten, Haltungen und Denkformen, so z. B. in der »Beziehung zwischen der Manipulation von Gegenständen und der Herrschaft im Marxschen Kapital, wo es heißt, dass jede Produktionstechnik Modifikationen des individuellen Verhaltens gebiete, und zwar nicht nur in der Sphäre der Fertigkeiten, sondern auch in der Sphäre der Einstellungen« (Foucault 1988: 26f). Denn »mehr und mehr interessiere [er sich] für die Interaktion zwischen einem selbst und anderen und für die Technologien individueller Beherrschung, für die Geschichte der Formen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt, für die Technologien des Selbst« (ebd.). Allgemein seien Selbsttechnologien auch Formen, »die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und

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seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt« (ebd.). Angesichts der gegenwärtigen Individualisierungs-, Flexibilisierungsund Prekarisierungstendenzen wächst in den verschiedenen Disziplinen das Interesse, die Wechselwirkungen zwischen Herrschafts- und Selbsttechniken genauer zu verstehen (vgl. Thomas/Langemeyer 2007; Langemeyer 2007; Weber/Mauerer 2006). So werden heute Verfahren der Selbstexploration, der Selbstaffirmation, der Selbstverpflichtung oder Techniken des Feedbacks kritisch untersucht (z. B. Bröckling 2002, 2006). Damit wird häufig das Anliegen verknüpft, die neuen ›Anrufungen an die Subjekte‹ etwa zur Eigenverantwortung, unternehmerischem Denken oder ›Beschäftigungsfähigkeit‹ kritisch zu hinterfragen. Teilweise geraten dabei die daraus folgenden Ausgrenzungsprozesse und Segregationseffekte, die sich hinterrücks bzw. im Handeln unintendiert herstellen, in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass Foucaults Ansatz in der Frage der sozialen Exklusionsformen in der Tat wichtige Einsichten liefern kann, die mit anderen kritischen Ansätzen wie z. B. der Habitus-Feld-Theorie Pierre Bourdieus nicht beleuchtet werden. Andererseits vertrete ich die These, dass auch Foucaults Theorie die gesellschaftlichen Ein- und Ausschlussprozesse nicht hinreichend erfassen kann – und dies wohl auch selbst nicht beansprucht –, auch wenn er versucht, Freiheitsperspektiven zu denken. Daran scheitert er jedoch, weil er unterdrückende, ausbeutende oder unterwerfende Formen der Macht letztlich nicht von antiherrschaftlichen Formen kollektiver Handlungsfähigkeit analytisch unterscheiden kann. Zunächst möchte ich jedoch einige Stärken Foucaults herausarbeiten, indem ich sie – nicht unbedingt Schwächen, aber zumindest – Leerstellen bei Bourdieu gegenüberstelle. Zweitens werde ich Foucaults analytischen Blick auf die neuen Subjekte und ihre Individualisierung prüfen und mit Bourdieus Habitus-Feld-Theorem vergleichen. Drittens werde ich ihre Interpretationen von gesellschaftlicher Integration bzw. ihre Interpretationsmöglichkeiten neuer Segregationsformen problematisieren.

Foucault und Bourdieu – eine Konfrontation zweier Denkweisen Im Folgenden kann kein umfassender Vergleich zwischen Foucault und Bourdieu geleistet werden. Hier muss auf vorliegende Arbeiten wie die von Staf Callewaert (2006) oder Lois McNay (1999) verwiesen werden. Worum es hier geht, sind zwei überzeugende Erklärungen Bourdieus für das Entstehen sozialer Ungleichheit. Erstens zeigt er, wie sich aus der

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Strukturhomologie1 von Feld und Habitus als inkorporierte, haltungsmäßige Disposition (Bourdieu 1997: 62) eine gewisse Trägheit in gesellschaftlichen Institutionen und Praktiken entwickeln, die, bildlich gesprochen, für bestimmte Anziehungs- und Abstoßungskräfte verantwortlich sind und damit soziale Öffnungs- bzw. Schließungsmechanismen etwa für Frauen und Migrantinnen in bestimmten Berufen erklären. Darüber hinaus liefert Bourdieu ein Verständnis dafür, warum die ungleiche Verteilung von Chancen, Ressourcen, Anerkennung und Aufmerksamkeit im Alltag häufig unsichtbar ist, oder anders gesagt, wie sie erfolgreich verschleiert werden. Er geht davon aus, dass der »praktische Sinn« der handelnden Subjekte in einem bestimmten Feld dem »objektivierten Sinn« entspricht, woraus folgt, dass die Art und Weise, wie die Einzelnen in einem Feld spontan handeln, rational, selbstverständlich, angemessen oder natürlich empfunden wird. So wie »die Handelnden an der in den Institutionen objektivierten Geschichte beteiligt sind«, entsteht ihr Habitus, ihre in den Körper eingeschriebenen Verhaltensmuster, die es ihnen ermöglichen, »Institutionen zu bewohnen (habiter), sie sich praktisch anzueignen und sie damit in Funktion, am Leben, in Kraft zu halten« (Bourdieu 1987: 107). Und genau »als ständig von regelhaften Improvisationen überlagerte Erzeugungsgrundlage bewirkt der Habitus als praktischer Sinn das Aufleben des in den Institutionen objektivierten Sinns«, so dass die »erzeugten Praktiken wechselseitig verstehbar und unmittelbar den Strukturen angepasst« sind (ebd.). Dementsprechend erscheint in einem Feld die ungleiche Verteilung von Ressourcen als natürliche Ordnung, so, wenn der Erstgeborenen das Erbe, dem Bankier das Finanzkapital zukommt: »Das Eigentum eignet sich seinen Eigner an, indem es sich in Form einer Struktur zur Erzeugung von Praktiken verkörpert, die vollkommen mit seiner Logik und seinen Erfordernissen übereinstimmen.« (ebd.) Die Verteilungsstruktur des ökonomischen Kapitals reproduziert sich wiederum über andere Kapitalarten, wie über das kulturelle und das soziale, und sichert vermittels symbolischer Gewalt den privilegierten Schichten eine bestimmte Position in der Gesellschaft (Bourdieu 1983). Dieser Analyseansatz ist dort am überzeugendsten, wo sich erstens innerhalb eines gesellschaftlich abgegrenzten Bereichs (eines Feldes) ein dominantes System kultureller Formen etabliert und verstetigt hat, so dass zweitens die Formen der Interaktion und der sozialen Verhältnisse nicht die strukturelle Habitus-Feld-Homologie durchbrechen und somit eine gewisse Integrations-, aber auch Segregationskraft ausüben können. Zwar versteht Bourdieu sowohl Feld als auch Habitus als etwas Veränderliches,

1

Wie Wacquant hervorhebt, »stellt Bourdieu die These auf, dass soziale Aufteilungen und mentale Schemata deshalb strukturell homolog sind, weil sie genetisch zusammenhängen und weil die mentalen Schemata aus der Inkorporierung der sozialen Aufteilungen resultieren« (Bourdieu/Wacquant 2006 [1992]: 32).

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das permanent im Fluss ist oder das im Spiel immer wieder neu geschaffen werden kann, wobei Distinktionslinien und Regeln umkämpft sind (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006 [1992]: Teil II), jedoch bleiben einige Fragen zu Vergesellschaftungsprozessen in Umbruchsphasen offen. Bourdieu selbst ›entdeckt‹ in den 1990er Jahren die Tendenzen der Prekarisierung und verbindet damit »die Destrukturierung des unter anderem seiner zeitlichen Strukturen beraubten Daseins und der daraus resultierende Verfall jeglichen Verhältnisses zur Welt, zu Raum und Zeit«. Dies sei eine Veränderung, bei dem »die objektive Unsicherheit […] eine allgemeine subjektive Unsicherheit [bewirke]« (Bourdieu 1998: 97). In ähnlicher Weise stellt auch Castel in den Metamorphosen der sozialen Frage fest, dass aufgrund kaum oder nicht mehr existenzsichernder Arbeitsverhältnisse zentrale gesellschaftliche Integrationsmomente wegbrechen, da sich ein »Prekarisierungsprozess […] durch manche früher stabilisierte Beschäftigungszonen hindurch[zieht]« und »die Wiederkunft der massenhaften Verwundbarkeit […] keineswegs ›marginal‹« ist: Die Angst vor Ausgrenzung und sozialem Abstieg verbreitet sich nicht mehr nur an den Rändern, sondern erfasst die Mitte der Gesellschaft. Sie entstehe dabei auch angesichts einer wachsenden Bevölkerungsgruppe, »die nicht integriert und zweifelsohne auch nicht integrierbar« sei (Castel 2000: 357, 359). Wenn wir dieser Diagnose folgen, stellt sich die Frage, wie sich dieser Tatbestand unter dem Gesichtspunkt der Habitus-Feld-Homologie und der Integrations-/Segregationsfrage fassen lässt. Angesichts jener weit reichenden Erosionsprozesse ist nur Folgendes denkbar: Entweder es bildet sich ein neuer Habitus, der die herrschenden Anforderungen und Regeln des Flexibelseins mit der Zeit inkorporiert und verstetigt, oder es entstehen Strukturkonflikte zwischen dem vor der Prekarisierung erworbenen Habitus und dem Feld prekarisierter Arbeitsverhältnisse. Unsinnig wäre jedoch, den Habitus selbst als eine flexible Disposition anzunehmen, die in jedem neuen Moment der Erosion sozialer Integrationsstrukturen der im Feld entstandenen Logik und praktischen Rationalität2 entsprechen würde. Dies würde die besondere Zeitlichkeit der Habitus-Genese vernachlässigen und letztlich einem kruden Strukturalismus Vorschub leisten, der die Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheit auf einen bloßen Ausschlussmechanismus zurückführt. Denn die Anpassung an und die Einverleibung von bestimmten feldabhängigen Regeln geschähen spontan und automatisch, quasi ohne Bewusstsein der handelnden Subjekte. Nun ist aber Bourdieu ja gerade dafür bekannt, die Fallstricke des Objektivismus aufgedeckt zu haben, durch die man »Geschichte auf einen ›Prozess ohne Subjekt‹ [reduziert] und […] das ›schöpferische Subjekt‹ 2

Damit möchte ich allerdings keineswegs sagen, dass Habitus oder Feld an sich rational wären, sondern daran erinnern, dass sich das Rationalitätsempfinden der Menschen aus der Strukturhomologie und der Korrespondenz zwischen dem objektivierten und dem praktischen Sinn des Handelns ergibt.

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des Subjektivismus schlicht durch einen Automaten [ersetzt]« (Bourdieu 1987: 78). Seiner Homologiethese entsprechend sieht er mentale Strukturen jedoch aus den gesellschaftlichen genetisch hervorgehen; ihre Leistung bleibt daher im Wesentlichen eine Anpassung an die Verhältnisse, die freilich nicht nur adaptiv verläuft, sondern auch Spielräume schafft und ausnutzt. Dennoch ist aus Bourdieus Sicht die Prekarisierung als Erosion sozialer Integrationsstrukturen auf der Subjektebene desaströs: Menschen würden dabei erfahren, dass ihre habitualisierten Verhaltensweisen und Denkformen nunmehr funktions- bzw. resonanzlos sind, weshalb sie langfristig aus dem ›sozialen Netz‹ herausfallen und zu den »Überzähligen« gehören (Castel 2000: 359). Das heißt mit anderen Worten, dass die Menschen im Zuge ihrer Ausgrenzung aus der Gesellschaft zugleich entsubjektiviert werden. Andererseits bleibt so die Frage unbeachtet, inwiefern Menschen die gesellschaftlichen Integrations- und Desintegrationsmomente reflektieren, für sich verarbeiten und versuchen, sich angesichts der unbeständigen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisse handlungsfähig zu machen und alternative Lebensformen zu entwickeln. Neben der Habitus-Feld-These findet man für die Frage sozialer Ungleichheit und ihrer Segregationsformen auch noch eine andere interessante Überlegung in Bourdieus Konzeption verschiedener Kapitalformen. Hier deutet er an, dass man gemäß der ungleichen Verteilung von Bildung und Kompetenzen eigentlich erwarten könnte, »dass die kollektive Macht der Inhaber von Kulturkapital« zunimmt, dass also eine integrative gesellschaftliche Kraft von ihnen ausgehen müsste. Jedoch werde eine Art Neutralisierung ihrer Macht von den »Inhabern von ökonomischem Kapital (als der dominierenden Kapitalform)« dadurch erreichen, indem sie »die Inhaber von kulturellem Kapital in eine Konkurrenzsituation bringen«, was umso leichter fiele, »als letztere aufgrund der von ihnen erfahrenen Ausbildungs- und Auslesebedingungen (und insbesondere der Wettbewerbslogik in der Schule und bei Prüfungen) ohnehin zum Konkurrenzverhalten neigen« würden (Bourdieu 1983 189). Machtverhältnisse, die In- und Exklusion bewirken können, entstehen demnach nicht nur im Kampf um und durch Etablierung bestimmter Normen und Regeln in einem Feld, sondern bereits durch die Konkurrenz um knappe Ressourcen, welche das Entstehen einer kollektiven Handlungsmacht verhindert. Aber auch diese Antwort ergibt keinen weiter reichenden Blick auf die Subjektebene. Anders als mit Bourdieu lässt sich mit Foucault denken, dass Felder nicht nur als objektivierte Strukturen und verstetigte Anforderungen und Handlungsweisen existieren, sondern dass sie gleichwohl sehr dynamische und variable Machtverhältnisse sein können, insofern sie für die darin handelnden Subjekte unterschiedlich real sind, abhängig davon, wie sie wahrgenommen und interpretiert werden und wie sich die Subjekte darin aktiv selbst verorten. So können auch Ausgrenzungsprozesse anders gedacht werden. Am Beispiel von Normalisierungsprozessen lässt sich dies kon-

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kretisieren: Wie Hannelore Bublitz (2005) mit Bezug auf Foucault argumentiert, würde mit der zunehmenden Medialisierung des Alltags der »›Zwang‹ zur Individualisierung« nicht länger »fixen Normen« unterliegen, sondern einer »Dynamisierung individueller und kollektiver Erfahrungshorizonte« (Bublitz 2005: 62), wobei die »Individuen sich selbst in Normalitätsfeldern situieren, die eigene Position mit der imaginierten Position der Anderen vergleichen« (Bublitz 2005: 58). Dies verdeutlicht schließlich, mit welch unterschiedlichen Bedeutungshorizonten die subjektiven Sichtweisen ausgestattet sind und warum sie dementsprechend unterschiedliche Selbsttechniken aufgreifen, entwickeln oder »optimieren« (ebd.), um sich in Konkurrenzverhältnissen gegen andere zu behaupten. Es ist anzunehmen, dass hier, in der Praxis der Selbstkontrolle, -disziplinierung und -modellierung, zugleich Mechanismen des Entstehens und der Reproduktion von Ungleichheit liegen. Insbesondere die Studie von Barbara Ehrenreich Qualifiziert und arbeitslos veranschaulicht hierbei, wie die »Abwärtsmobilität der Mittelklasse« sich auf die Subjekte auswirkt. Durch einen Selbstversuch, sich auf qualifizierte Stellen für mittlere und höhere Führungspositionen zu bewerben, zeigt die Publizistin, mit welchen Anforderungen sie konfrontiert ist. Wie es die meisten Arbeitsuchenden in diesem Bereich tun, holte sie sich kostspieligen Rat bei Karrierecoachs, um ihre Bewerbungsunterlagen an die Erwartungen heutiger Personalabteilungen anzupassen. Verkauft wurden ihr zugleich Persönlichkeitstests, mit denen die Coachs ihr nicht nur eine maßgeschneiderte Beratung versprachen, sondern ihr überhaupt eine eigene Persönlichkeit nachweisbar an die Hand geben wollten, als ob diese ohne Testergebnisse gar nicht existierte. Mit biographischen Merkmalen wie ihrem wahren Alter solle sie sich nicht länger aufhalten, wenn dies einer gut verkäuflichen Identität widersprach. Letztlich, so resümiert sie, ging es bei solchen Selbstführungskonzepten darum, eine »Siegerhaltung« anzunehmen und den einzig gefragten Persönlichkeitstyp zu verkörpern: heiter, enthusiastisch, leidenschaftlich und zugleich gehorsam (Ehrenreich 2006: 239) – Eigenschaften und Haltungen, die die Arbeitgeber von ihren Angestellten aller negativen Erfahrungen zum Trotz erwarteten. Für Bewerbungsgespräche und das informelle ›Networking‹ mit einflussreichen Personen sollte Ehrenreich mit Hilfe der Coachings die nötigen Techniken erlernen, um diesen Erwartungen zu entsprechen und ihre Chancen auf Einstellung zu erhöhen. Doch in den meisten Fällen wurden ihre Bewerbungen und Kontaktversuche ignoriert. Die angeblich freien Stellen, die man ihr schließlich anbot, hatten zur Voraussetzung, dass sie einen selbst zu zahlenden Einstiegskurs belegt oder sich eine teure Ausrüstung anschafft, während die Unternehmen ihr weder einen Arbeitsvertrag mit Sozialversicherungen, noch einen ausgestatteten Arbeitsplatz, noch irgendein Grundgehalt anboten.

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Deutlich wird in diesem Beispiel, dass Selbsttechnologien im Konkurrenzkampf um rare Stellen eine bedeutende Rolle spielen. Sie sind ein Anzeichen dafür, dass Arbeitslosigkeit insbesondere von qualifizierten Arbeitskräften in höherem Maße psychologisiert verarbeitet wird. Um zu klären, wie sich dabei subjektive Sichtweisen, Selbsttechnologien und Machtverhältnisse bzw. Ausgrenzungsprozesse zueinander verhalten, wende ich mich im Folgenden zunächst einmal dem foucaultschen Subjekt- und Machtverständnis zu.

Foucaults Subjekt- und Machtverständnis Nach Foucault stehen Selbsttechnologien in enger Beziehung zur Subjektivierung als einer immer bedeutenderen Machtform (s. o.). Diese analysiert er als Effekt von Machtverhältnissen, welche anders als direkte Gewalt oder gesellschaftlicher Konsens ›durch die Subjekte hindurch‹ wirken, insofern jedes Machtverhältnis sich als »ein Ensemble von Handlungen im Hinblick auf mögliche Handlungen« konstituiert, als ein Operieren »auf dem Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der handelnden Subjekte eingeschrieben hat« (vgl. Foucault 1994 [engl. 1982]: 254ff.; Rose 2000: 9). Foucault geht es somit nicht um eine Homologie zwischen gesellschaftlichen und individuellen Handlungsstrukturen, sondern um das Problem, wie sich individuelle Handlungen vor dem Hintergrund bestimmter Regulationstechniken und Regierungsweisen konstituieren oder hervorgebracht werden und welche Machtverhältnisse daraus resultieren. Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, dabei das Widersprüchliche der von Bublitz und Ehrenreich beschriebenen Vergesellschaftungsprozesse fassen zu können, dass sich Menschen nämlich just dann, wenn sie sich angesichts unsicherer Lebenslagen und verschärfter Konkurrenzverhältnisse handlungsfähig machen (oder zu machen versuchen), vereinzeln und dadurch die herrschenden Verhältnisse, die Bedingungen ihrer Verunsicherung, mit reproduzieren. Ein solch widersprüchlicher Vorgang der gleichzeitigen Er- und Entmächtigung wäre mit Bourdieu jedoch undenkbar. In der Stärke Foucaults liegt jedoch auch eine entscheidende Schwäche. In seiner Subjektivierungsthese werden nämlich die herrschaftsförmige Zurichtung von Subjekten und die produktive Verwertung ihrer Subjektivität mit der Entwicklung eines Denk- und Handlungsvermögens kurzgeschlossen. Das heißt, jede erreichte Kontrolle oder Führung über das eigene Selbst, über die eigene Lebensführung, ist immer schon mit der Unterwerfung als Subjekt verbunden. Jeder Versuch, eine Handlungsmacht zu gewinnen, wäre demnach eine Form der (Selbst-)Entmächtigung. In Foucaults Untersuchungen zur Gouvernementalität wird dieses Problem besonders deutlich, dort, wo er die Ökonomisierung des Sozialen und die Etatisierung der Machtverhältnisse als totalisierend beschreibt: Da sie der

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Tendenz nach »kein Außen« mehr hätten und die Subjekte überall in ihrem Handeln durchdringen (Foucault 1994 [engl. 1982]), scheint vor allem die neoliberale Regierungsform im Endeffekt leichtes Spiel zu haben. Regulations- und Rationalisierungsanforderungen würden von den Subjekten über ihre ›Selbstpraktiken‹ bzw. Selbsttechniken verinnerlicht und so subtil in ihrem Handeln wirksam sein. Doch schon die frühere Behauptung in Überwachen und Strafen, dass die Macht des panoptischen Gefängnisses »automatisiert« funktionieren würde (Foucault 1994 [1976]: 259), ist, wie Jan Rehmann kritisiert, unhaltbar: »Über den Zwangscharakter ihrer Lage sind sich die Betroffenen in der Regel sehr wohl im Klaren, auch wenn sie über die Berechtigung des ihnen auferlegten Zwangs unterschiedlicher Auffassung sein mögen. Von einer ideologischen Unterstellung könnte man idealtypisch dann sprechen, wenn die Häftlinge Schlüssel hätten, um Zelle und Gefängnis zu verlassen, aber keine Motivation, dies zu tun, weil sie es vorziehen, ›gute‹ Gefangenensubjekte zu sein. […] [G]erade die überwachte Einzelzelle [hat] den spezifischen Sinn […], das (alte) Subjekt durch den Entzug sämtlicher sozialer Handlungs- und Sprachbezüge zu zerstören« (Rehmann 2004: 166).

Die Disziplinaranlage des Gefängnisses arbeitet also nicht ähnlich, sondern konträr zur Formung des Körpers durch das Militär oder die Individualisierungstechniken der Schule, welche den Subjekten in der Tat eine bestimmte Form von Handlungsmacht verleihen. Sie bildet also vielmehr eine widersprüchliche Einheit von repressiver und produktiver Macht. Genau genommen ist das Problem aber noch anders gelagert, als es Rehmann darstellt, da Foucault nicht das Zwangsmoment an sich leugnet, sondern von einer Internalisierung des Machtverhältnisses spricht, die den Zwang entkörperlichen würde: »Die Wirksamkeit der Macht und ihre Zwingkraft gehen sozusagen auf ihre Zielscheibe über. Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selbst aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung. Aus diesem Grunde kann ihn die äußere Macht von physischen Beschwerden befreien. Die Macht wird tendenziell unkörperlich und je mehr sie sich diesem Grenzwert annähert, um so beständiger, tiefer, endgültiger und anpassungsfähiger werden ihre Wirkungen« (Foucault 1994 [1976]: 260f.).

Dass sich eine tendenziell vollständige Entkörperlichung des Zwanges, also eine nicht-physische Macht durch die Internalisierung des Machtverhältnisses durchsetzen würde, ist aber aus einem anderen Grund als in Rehmanns Kritik eine merkwürdige theoretische Schlussfolgerung. Sie führt zu dem Kunstgriff, dass Foucault zwar physische und psychische Gewalt der Gefängnisarchitektur als ein Macht-Dispositiv treffend heraus-

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streicht, dann aber die psychische Machtwirkung künstlich von der physischen abtrennt, um daraus einen neuen Machttypus, die Subjektivierung, ableiten zu können (vgl. Foucault 1994 [engl. 1982]). Die auf Subjektivierung beruhende Regierungsweise erscheint so als verselbständigte Macht, die, indem sie reguliert und steuert, überall schon da ist und Einfluss nimmt. Foucault legt zwar Wert auf den Unterschied, dass er nicht die tatsächlichen Wirkungsweisen der Machtformen untersucht, sondern lediglich ihre historische Entstehung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Problemlagen: »[W]hat I intended to analyse in most of my work was neither past people’s behaviour (which is something that belongs to the field of social history), nor ideas in their representative values. What I tried to do from the beginning was to analyse the process of ›problematization‹ – which means: how and why certain things (behaviour, phenomena, processes) became a problem […] it is not a way of denying the reality of such phenomena […] madness, crime or sexuality […] it was precisely some real existent in the world which was the target of social regulation« (Foucault 2001: 171ff., zit. n. Callewaert 2006: 93).

Damit immunisiert er sich jedoch gegen Kritik, die sich auf eine genauere empirische Analyse der Regulationsweisen einlässt. Ein entscheidenderer Grund, warum sich Foucaults Subjektivierungsverständnis für genauere Analysen neuer sozialer Integrations- und Segregationsformen als untauglich erweist, liegt aber darin, dass er bei der historischen Analyse den Bezug zum »sozialen Raum« meidet, wie Bourdieu es nennt.3 Indem Fou-

3

Bourdieu kritisiert (1999 [1992]), dass Foucault »die absolute Autonomie [eines] ›Felds strategischer Möglichkeiten‹ behauptet« (316) und versuche, »in den ‚Interessenunterschieden und mentalen Gewohnheiten der Individuen (also in allem, womit ich fast gleichzeitig die Begriffe ›Feld‹ und ›Habitus‹ füllte...) die Grundlage zur Erklärung dessen zu finden, was sich im ›Feld der strategischen Möglichkeiten‹ zuträgt und was ihm bloß durch die ›strategischen Möglichkeiten von Begriffsspielen‹ determiniert scheint« (317). Damit projiziere er, so Bourdieu, die in den Beziehungen zwischen den Produzenten verankerten (wenngleich nicht auf sie reduzierbaren) Gegensätze und Antagonismen in den Ideenhimmel und weigere sich, die Kulturprodukte zu den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion in Beziehung zu setzen (wie er es auch fernerhin in einem kritischen Diskurs über Wissen und Macht tue, der die Akteure und ihre Interessen und vor allem die Gewalt in ihrer symbolischen Funktion außer acht lasse und somit abstrakt und idealistisch bleibe (ebd.). Will man, so Bourdieu weiter, Geschichte und Realität nicht »eine geheimnisvolle Form von Selbstbewegung« zusprechen »wie bei Hegel« (ebd.), dürfe man zu keiner »erneuerten Form von Kulturalismus« kommen. »Für jede einzelne historische Konfiguration wären einerseits die strukturellen Analogien zwischen verschiedenen Feldern zu überprüfen, die Koinzidenzen und Korrespondenzen zugrunde liegen können, ohne dass ausgesprochene Anleihen mitspielten, und andererseits die direkten Austauschbeziehungen, die in ihrer Form und sogar in ihrer Existenz von den Positionen der betreffenden Akteure oder Institutionen im Feld abhän-

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cault versucht, Subjektivierung unabhängig von diesem zu bestimmen (z. B. als Machtverhältnisse außerhalb von Institutionen, vgl. Foucault 1994 [engl. 1982]: 257), vereitelt er das, was er mit Bezug auf die Wechselwirkung von Herrschafts- und Selbsttechniken eigentlich tun müsste: die Momente der Unterwerfung, Entmächtigung und Fremdbestimmung von Potenzialen und Formen der Selbstbestimmung analytisch zu unterscheiden. Dies wäre ebenso auf der Ebene der Handlungsfähigkeit wichtig. Eine solche Unterscheidung ist keineswegs ein Rückfall in ein dualistisches, essentialistisches oder idealistisches Denkmuster, weil es ja nicht um das Klassifizieren von Gegenständen oder Gegensätzen geht, sondern eben um ein analytisches Differenzieren. Es soll damit das Handeln oder die Praxis in seinen gesellschaftlichen Formen untersucht werden, was etwas ganz anderes ist als souveräne Subjekte, Essentialismen oder Gegensätze zu konstruieren. Regulationsformen lassen sich in ihrer Praxis nur dann kritisch hinterfragen, wenn man zeigen kann, wodurch sie Herrschaftsverhältnisse reproduzieren und auf welche Weise stattdessen bestimmte Machtverhältnisse anti-herrschaftlich verändert werden (könnten). Dies ist freilich eine empirisch offene Frage, sie aber schon theoretisch auszuklammern, wäre eine reaktionäre Wendung kritischen Denkens. Wenn sich heute Menschen wie ein ›Unternehmer ihres Selbst‹ verhalten, sich eigenverantwortlich und aktiv um ihre eigene Konkurrenzfähigkeit in flexibilisierten Arbeitsverhältnissen bemühen, so ist dabei nicht nur eine Koinzidenz von Er- und Entmächtigung entscheidend. Stattdessen wäre das Ineinander von freisetzenden und Zwangsmomenten analytisch auseinanderzulegen. Das Gegenargument, dass »die Kontrastierung von Selbstund Fremdbestimmung« machttheoretisch eine »Engführung« sei (Maurer/Weber 2006: 14), zielt ins Leere, wenn letztlich Herrschafts- und Selbsttechniken selbst kaum mehr zu unterscheiden sind. Nivelliert sich die Frage nach selbst- und fremdbestimmter Handlungsfähigkeit in der bloßen Aufdeckung von subtilen Macht- und Unterwerfungsmechanismen, denen scheinbar immer schon Macht zukommt, dann lassen sich Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Subjektpositionen aufgrund sozialer Ungleichheit nicht mehr fassen. Alle sind gleichermaßen Regierte und damit Unterworfene. Dass aber z. B. eher qualifizierte als unqualifizierte Arbeitslose zum Selbstmanagement und zur Internalisierung der Marktverhältnisse bereit sind, wie etwa die Führungskräfte oder Karrierecoachs bei Ehrenreich, also diejenigen, die sich noch eine Chance auf einen Arbeitsplatz ausrechnen oder die durch ihren Arbeitsplatzverlust eine gesellschaftliche Position aufgeben müssen, wird daher bei vielen an Foucault anschließenden Anagen, also von der Struktur dieser Felder und auch von ihrer jeweiligen Stellung in der Hierarchie, die sich zwischen ihnen zu dem bewussten Zeitpunkt herstellt und alle möglichen Effekte symbolischer Herrschaft herbeiführt« (319).

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lysen übersehen. Foucault verleitet dabei auch zu der Fehlannahme, dass einfach unkörperlich gewordene Machtmechanismen, Wahrheitseffekte und Glückbestrebungen der Einzelnen ausreichend wären, um Subjekte für bestimmte herrschende Interessen zu instrumentalisieren. ›Freiwillig‹ sind aber zu den Anstrengungen, zur Risiko- und Kostenübernahme nur die bereit, die gesellschaftliche Privilegien zu gewinnen oder zu verlieren haben und über Fähigkeiten zur Selbstkontrolle und Selbstdiszplinierung verfügen. Die Führungskräfte und Karrierecoachs bei Ehrenreich sind keineswegs als neuer Menschentyp zu verallgemeinern. Übersehen wird dabei, wie die Existenzsicherung einer breiten Masse von Menschen in Frage gestellt wird, so durch die Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen, die Befristung von Arbeitsverträgen, durch Androhung von Leistungskürzungen und den Abbau des Sozialstaates usw. usf. Dieser Druck ist zwar mitunter auch eine subtile, weil strukturelle Form von Gewalt, nichtsdestotrotz ist er sehr materiell und auch körperlich spürbar, und baut, wie Bourdieu indes betont, auf einer repressiven Regierungsstrategie auf: So ist die »Prekarität […] eine neuartige Herrschaftsform«, weil sie »das Ziel hat, die Arbeitnehmer zur Unterwerfung, zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen« (Bourdieu 1998: 100).

Veränderungsperspektiven aus Foucaults und Bourdieus Sicht Auf unterschiedliche Weise zeigen also sowohl Foucault als auch Bourdieu, inwiefern wir als handelnde Subjekte ein durchaus eigenwilliges Produkt bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse sind, und bieten Erklärungsansätze für die Frage, wie gesellschaftlich Integrations- und Segregationsprozesse zustande kommen. Suchen wir jedoch nach Veränderungsperspektiven stoßen wir bei Foucault, wie schon Jean Améry deutlich machte, auf das grundlegende Problem, dass sein philosophisches Denken zwar auf Freiheit ausgerichtet, sein Freiheitsbegriff jedoch leer bleibt (Améry 2004 [1977]: 217). So bleibt ohne eine nennbare Entwicklungsperspektive für die Menschen offen, warum sie sich überhaupt weigern und eine »Kunst« erlangen sollten, um »nicht dermaßen regiert zu werden«. Foucault liefert uns keinen Grund, warum sie sich überall der Subjektivierung widersetzen und entziehen sollten, oder worin die Macht der Kritik besteht, die ihnen eine »Entunterwerfung« ermöglichen könnte (Foucault 1992 [1977]: 12, 15). Und um es noch weiter zuzuspitzen: Sollte es denn wirklich erstrebenswert sein, eine Freiheit zu erlangen, die lediglich dort entsteht, »wo man aufhört sie zu managen«, wie Ulrich Bröckling es einmal nannte (Bröckling 2002: 190). Dies erscheint eine überaus abstrakte Freiheit, die wir vielleicht erlangen könnten, wenn wir uns keiner

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Aufgabe und keiner Beziehung mehr widmen und uns für nichts und niemanden mehr anschlussfähig machen. Sowohl bei Foucault als auch bei Bourdieu fehlt daher ein Ansatz, die Problemebene der individuellen und kollektiven Handlungsfähigkeit im wissenschaftlichen Diskurs so zu bearbeiten, dass die handelnden Subjekte nicht immer schon als Unterworfene erscheinen oder als Ausgegrenzte und ›Desintegrierte‹ nicht automatisch ihr Subjektsein, ihre Handlungsfähigkeit verlieren. Erst dann werden auch erstrebenswerte Perspektiven für eine gesellschaftliche Integration sichtbar. Folgen wir Foucault, erliegen wir seiner Annahme subtiler Machtformen, die jegliche Integration entweder zur Farce oder zur Tragödie machen: Jede Anstrengung, gesellschaftliche Integrationskräfte zu schaffen, die nicht auf Ausgrenzung beruhen, käme dem Wettlauf zwischen Hase und Igel gleich: Wirken die neuen Machtverhältnisse zugleich individualisierend und totalisierend (vgl. Foucault 1994 [engl. 1982]), so schlägt jedes desintegrierende Moment um in Integration durch Individualisierung und Subjektivierung. Im Unterschied dazu ringt Bourdieu ernsthaft mit dem Problem, wie die Ausgegrenzten wieder gesellschaftliche Teilhabe erringen könnten. Wird der Integrationsbegriff aber nur aus der Korrespondenz zwischen Feldstrukturen und habitualisierten Denk- und Verhaltensweisen hergeleitet, so verschwinden dahinter zum einen die besonderen subjektiven Verarbeitungsweisen von Ausgrenzung und zum anderen die gesellschaftlichen Widersprüche. Deshalb wäre die Integrationsfrage besser mit der Frage der Handlungsmacht und der kollektiven Handlungsfähigkeit der Subjekte zu verknüpfen. Damit kommen wir zwar wieder in die Nähe der foucaultschen Theorie, folgen ihm aber nicht in dem Kurzschluss, jeder Handlungsmacht grundsätzlich einen subtilen Unterwerfungsmechanismus zu unterstellen. Auch wenn die Verkehrung von Autonomie in Fremdbestimmung, von Verfügung in Verfügtwerden, heute eine größere Rolle spielt, so würde uns die ungeprüfte Verallgemeinerung dieser These wohl eher in Hypnose versetzen (vgl. Améry 2004 [1978]: 229), als zu einem kritischen Denken anzuregen. Die Kritik müsste anders ansetzen. Über produktive Unterwerfungsverhältnisse und Selbsttechnologien hinaus brauchen wir eine kritische Aufmerksamkeit dafür, dass Herrschaftsverhältnisse nicht nur aus Herrschaftsmechanismen oder Machtformen bestehen. Sie anzutasten heißt, sich nicht nur Strukturen zu entziehen, die hinterrücks (ohne das Bewusstsein der Handelnden) wirken, sondern die Vergesellschaftungsmomente zu ändern, die Strukturen der Herrschaft und der Ungleichheit reproduzieren und stabilisieren. Dies schließt ein, das Sich-Einrichten in Herrschaftsverhältnissen, die Formen der Subalternität und das Ausblenden der Widersprüche zu hinterfragen. Die wechselseitige Kritik der theoretischen Zugänge Bourdieus und Foucaults kann in diesem Sinne als Beitrag zur

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Weiterentwicklung der Analyse sozialer Ungleichheiten unter Prekarisierungstendenzen verstanden werden.

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Wi(e)derstand vs. Traum / Programm vs. Utopie: Zukünfte bei Butler und Foucault MAXIMILIAN SCHOCHOW

Ein Foto.1 Aufgenommen in einer chilenischen Kleinstadt, nicht weit von Santiago entfernt. Es zeigt eine dreispurige Straße, gelbe Blumen, Laternen- und Strommasten, verschiedene Häusergiebel und einige satt-grüne Bäume und Sträucher. Dieses urbane Ensemble bildet den Rahmen für die im Zentrum stehende, weiße Wand. Sie ist mehr als eine blütenreine Mauer – sie ist das Medium für die verstörende Frage: »¿Leyó a Foucault?«. Die Frage »Hat er Foucault gelesen?« beziehungsweise »Wollte er Foucault lesen?« war für mich aus zwei Gründen irritierend. Zum einen, weil die Spraydosen-Losung keine Aussage ist, sondern eine Frage formuliert. Zum anderen, weil die Losung die Möglichkeit eröffnet, sie als eine Absage an Foucault zu lesen. In deutschen Großstädten, so meine Erfahrung, sind auf zerfallenden Fassaden Parolen folgender Couleur aufgesprayt: »Aufruhr, Widerstand, wir wollen kein einig Vaterland!«, »Widerstand braucht keine Vermittler!«, »Chaos in the city. I love violence!« oder schlicht: »Nazis raus!« 1

Ich danke Anne Seitz für die Aufnahme.

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Auf den ersten Blick fällt auf, dass es sich bei diesen Losungen weniger um Fragen als vielmehr um Aussagen handelt. Zum anderen hallen in diesen Losungen, fast schon melancholisch, die kraftstrotzenden Sentenzen einer Ton Steine Scherben-Song-Tradition nach. Doch die Forderung »Schreibt die Parole an jede Wand!/Keine Macht für niemand!« scheint in den letzten Jahren verklungen oder schlicht mit dem »Paradies« abgebrannt zu sein. »Hat er Foucault gelesen?«, so meine Annahme, passt nicht so recht in dieses Bild von Widerstands-Parolen. Auf der anderen Seite, ich erwähnte es bereits, las ich die Losung als eine Art Absage. »Hat er Foucault gelesen?« eröffnete bei mir das Assoziationsfeld der Foucault-Kritik. Vor mir breitete sich die Ungewissheit aus: Hat hier ein »Schmierfink« eine Frage formuliert oder ist die Losung Ergebnis einer wie auch immer realisierten Foucault-Lektüre? Ist dies eine resignative Absage an Foucault und seine Macht/Wissen-Theorie? Oder tritt mir hier das viel zitierte Missverständnis entgegen: Bei Foucault sei doch sowieso alles Macht. Und wenn ja, wird hier die Form der politischen Losung verwendet, um den Lesern mitzuteilen: Wenn Macht allgegenwärtig ist, so wie es Foucault behauptet, dann ist Widerstand sowieso nicht möglich!? Zwischen diesen beiden Polen oszillierte für mich die Losung – den Signaturen der Melancholie auf der einen und der Möglichkeit einer Absage an Foucault auf der anderen Seite. Ich möchte eine dritte Assoziation anbieten: Was ich bisher verschwiegen habe und nur vom Hörensagen weitergeben kann, ist die Erweiterung der fragenden Losung. Würden wir um die Ecke gehen, entdeckten wir auf der Rückseite der Wand das Pendant zur Foucault-Frage. Nicht Butler, das wäre vielleicht zuviel des Guten, nein, hier wird Marx ins Spiel gebracht: »Es lebe die marxistische Revolution!« steht dort in roten Lettern geschrieben. Und so wird aus der Frage nach Foucault eine Antwort. Anstelle der Absage an Foucault offenbart sich im Dialog eine mögliche Absage an Marx. Anders formuliert: Die Parole »Es lebe die marxistische Revolution!« wird durch die Antwort »Hat er Foucault gelesen?« infrage gestellt. Für einen Augenblick möchte ich bei Marx und Foucault verweilen und über die Losungen spekulieren. Angenommen, der Autor der Frage, der Antwort, hat Foucault gelesen und ist im Verlauf seiner Lektüre »der Ordnung der Dinge« auf Foucaults Marxismus-Beschreibung gestoßen: »Der Marxismus ruht im Denken des neunzehnten Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser. Das heißt: überall sonst hört er auf zu atmen.« (Foucault 1999: 320) Ich konstruiere weiter und behaupte: Der Parolenschreiber hat Die Ordnung der Dinge bis zur letzten Zeile gelesen: »Wenn diese Dispositionen [die der Moderne, Anm. M.S.] verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der

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Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Foucault 1999: 462)

Genau in dem Moment, so meine dritte Annahme, da er die Absage Foucaults an Marx entdeckt und »die Ordnung der Dinge« ausgelesen hat, befindet er sich an den Rändern des Foucaultschen Feldes der Utopien und Träume.2 Ich möchte diesen Gedanken etwas konkretisieren und ein weiteres Mal bei Foucault nachschlagen – in Der Wille zum Wissen und wieder auf den letzten Seiten. Hier erscheint das Paar – Utopie und Traum – im Gefolge der Genealogie der Macht (vgl. Lemke 1997: 28). Foucault formuliert dort: »Und träumen müssen wir davon, daß man vielleicht eines Tages, in einer anderen Ökonomie der Körper und der Lüste, nicht mehr recht verstehen wird, wie es den Hinterhältigkeiten der Sexualität und der ihr Dispositiv stützenden Macht gelingen konnte, uns dieser kargen Alleinherrschaft des Sexes zu unterwerfen«. (Foucault 1998: 189)

Wenn ich die beiden letztgenannten Zitate zusammenziehe, offenbaren sich umrisshaft die Utopien und Träume als künftige Ereignisse. Zukunft, so meine erste These, könnte mit Foucault bedeuten: Die Dispositionen der Moderne geraten ins Wanken, wenn eine neue Ökonomie der Körper und der Lüste in Erscheinung tritt und der Mensch nicht mehr existieren wird. Im Zentrum der Beschreibung des künftigen Umbruchs stehen jedoch keine Schilderungen von oder Anleitungen zu widerständigen Handlungen. Ganz anders die Zukunftsbilder von Butler. Sie, die sich in ihren Arbeiten explizit auf Foucault und dessen Macht-Begriff beruft, skizziert, wenn sie von Zukunft spricht, Formen widerständiger Akte. Nicht träumen, sondern handeln ist ihre Devise. Dort, so meine zweite These, wo Foucault in seinen Büchern abbricht, dort, wo seine Analysen enden und die normativen Aussagen beginnen würden, setzt Butler mit ihrem Widerstandsprogramm an. Doch dessen Effekt ist weniger die Aussetzung oder Verschiebung, als vielmehr die Stabilisierung und (Re-)Produktion von Diskursen.

2

Vgl. zur Absage Foucaults an den Marxismus und die Reaktionen von Teilen der französischen Linken: Brieler (1997: 156f.), (Eribon 1999: 251ff.). Wie inspirierend die Analysen von Marx für Foucault waren, lässt sich unter anderem an seinem Text Die Maschen der Macht erahnen (vgl. Foucault 2005).

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Butler und die »heteronormative Matrix« Vor einer genaueren Bestimmung der wi(e)derständigen Akte soll kurz beschrieben werden, wogegen sich deren subversive Gesten überhaupt richten. Ähnlich wie Foucault versteht Butler den ›Menschen‹ und die ›Sexualität‹ als Ereignisse ein und derselben Episteme, die im Gefolge der Moderne auftauchten. Sie sind, im Sinne der Queer-Theorie, kontingente Produkte, die durch eine heteronormative Matrix hervorgebracht wurden und werden. Jene Matrix organisiert die Einheit von Geschlecht, Identität und Sexualität durch sich ständig wiederholende performative Akte. Deren Effekte sind unter anderem die ›natürlichen‹ Geschlechter beziehungsweise die heteronormative Sexualität. Gegen die Natürlichkeitsphantasmen der Geschlechter tritt Butler unter anderem mit ihrer These auf, dass die Trennung beziehungsweise Gegenüberstellung von sex und gender, von materieller und theatraler Geschlechtlichkeit, einerseits empirisch und andererseits theoretisch nicht haltbar ist. Vielmehr müsse davon ausgegangen werden, dass im Prozess der Anrufung und der Benennung der Subjekte – beispielsweise ›Es ist ein Mädchen‹ – diese performativ produziert werden. Kurz gesagt: Es gibt keine vordiskursive Materialität, es existiert kein physischer Ursprung. Doch die heterosexuelle Matrix produziert nicht nur Mädchen beziehungsweise Jungen, sondern zeitigt Effekte, die in modernen Beziehungsund Normalisierungsverfahren zum Tragen kommen. Queer-Politik geht davon aus, dass die Zwei-Geschlechter-Ordnung und das Regime der Heterosexualität in komplexer Weise koexistieren, sich bedingen und wechselseitig stabilisieren. Was ist hierunter zu verstehen? Bereits der Begriff der Heterosexualität, der auf ein ›normales‹ Empfinden für das jeweils andere Geschlecht rekurriert, deutet die dichotome Teilung der Geschlechter als ›Normalfall‹ an. Verbunden mit dem Verdikt des immer schon so Seienden, man denke an erste Erzählungen der menschlichen Vergemeinschaftung – Stichwort Adam und Eva – wird die sexuelle Anziehung des Gegensatzes im Koordinatensystem des Alltagswissens und der Sprache der Wissenschaft organisiert. »Geschlechternormen wirken, indem sie die Verkörperung bestimmter Ideale von Weiblichkeit und Männlichkeit verlangen, und zwar solche, die fast immer mit der Idealisierung der heterosexuellen Bindung in Zusammenhang stehen.« (Butler 1995: 306) Die Zwei-Geschlechter-Ordnung konstituiert und strukturiert die von ihr produzierten Subjekte beispielsweise über Formen des autorisierten Sprechens. Hierunter versteht Butler, in Anlehnung an Austins Sprechakttheorie, unter anderem Erklärungen, die mit ihrer Äußerung eine Handlung vollziehen und eine bindende Macht ausüben. Erinnert sei an dieser Stelle an Eheschließungen oder richterliche Entscheidungen. Macht agiert in diesem Sinne als Diskurs der Nachahmung und Wiederholung von diskursi-

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ven Gesten: Wenn der Richter das Gesetz zitiert, hat seine Äußerung bindende Kraft. Sie ist ein performativer Sprechakt, der Wirklichkeit produziert beziehungsweise eine Materialisierung erzeugt. Das Regime der Heteronormativität vollzieht/beschreibt aber nicht nur das Subjekt, sondern organisiert auch gesellschaftliche Institutionen wie Recht, Ehe oder Familie sowie ökonomische Verhältnisse, beispielsweise Arbeitsteilung. Regulierungs- und Normalisierungsverfahren sind, so Butler, gesamtgesellschaftliche Phänomene, die an diskursive Gesten des Zitats gebunden sind und die Mechanismen der Reproduktion, des Rechts oder der Zurichtung von Körpern beziehungsweise Vorstellungen von Individualität determinieren. Auf der anderen Seite, und dies verweist auf Taktiken der Inklusion und Exklusion, werden alle Formen von Körpern, Handlungen und Subjektpositionen, die nicht mit der heterosexuellen Geschlechtsidentität übereinstimmen, ausgeschlossen und verworfen.

Butler und der Widerstand Gegen die Prozesse der Normierung einerseits und die Akte der Verwerfung andererseits setzt Butler eine Politik des subversiven Widerstands. Diese ist jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Wenn Subversion möglich ist, so Butler, »dann nur eine, die von den Bedingungen des Gesetzes ausgeht, das heißt den Möglichkeiten, die zutage treten, sobald sich das Gesetz gegen sich selbst wendet und unerwartet Permutationen seiner selbst erzeugt. Dann wird der kulturell konstruierte Körper befreit sein [...] für eine offene Zukunft kultureller Möglichkeiten.« (Butler 1991: 141f.)

Merkmale des Gesetzes sind die Prozesse der Normierung von Körpern einerseits und die Verwerfungen beziehungsweise Ausschlüsse andererseits. Wie aber sollen die Gegenbewegungen in Erscheinung treten? Ganz allgemein lässt sich sagen, dass der zentrale Begriff in Butlers Widerstandsprogramm die diskursive Resignifikation ist, verstanden als theatralische Zitierung. Konventionen sollen über die Nachahmung und Übertreibung als solche erkennbar gemacht und umgekehrt werden. Widerständiges Agieren wird hier als Geschlechterparodie und Geschlechterimitation verstanden. Ziel ist es, einerseits durch die Reproduktion der Struktur oder durch wiederholende Sprachpraxen die existierende ›Wirklichkeit‹ aufzubrechen und andererseits die Möglichkeit der Rekonfiguration und Neu-Einsetzung zu erzeugen durch Parodie, Travestie oder andere experimentelle Praktiken. Durch die Wiederholungen sollen Verschiebungen produziert werden, die neue Bedeutungen evozieren. Doch wie wird Butlers Widerstandsbegriff, die Bedeutungsverschiebung, gefüllt? Ich möchte an dieser Stelle eine Antwort von Butler in den Vordergrund stellen, die bisher offensichtlich nicht wahrgenommen wur-

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de.3 Butler spricht von einem Moment des Umfunktionierens »im Brechtschen Sinne« (Butler 1995: 295). Sie geht also nicht von einem allgemein formulierten Theaterbegriff aus, sondern legt eine sehr spezifische Auffassung von Theater, eben die Brechtsche, ihrem Konzept von Queer-Politik beziehungsweise des performativen Widerstands zu Grunde. Widerstand im Sinne Butlers bedeutet also performatives Handeln, oder etwas spezifischer formuliert: theatralische Wut. »Mobilisiert von den Verletzungen der Homosexuellenfeindlichkeit, leistet die theatralische Wut eine ständige Wiederholung jener Verletzungen genau vermittels eines ›Ausagierens‹, das jene Verletzungen nicht bloß wiederholt oder abermals zitiert, sondern das auch ein übertriebenes Zurschaustellen von Tod und Verletzung taktisch einsetzt, um den epistemischen Widerstand gegenüber AIDS und gegenüber den Bildern des Leidens zu überwinden, […] um die epistemische Blindheit gegenüber einer zunehmend bildlich und öffentlich werdenden Homosexualität zu zerschlagen.« (Butler 1995: 308)

Diese theatralische Wut soll unter anderem über die Gesten der Travestie zum Bestandteil des öffentlichen Widerstands werden. In diesem Sinne fungieren die zitierten Gesten der Verletzungen/Verwerfungen nicht nur als bloße Wiederholungen, so Butler, sondern in ihrer übertriebenen Zurschaustellung als taktisches Mittel der Außerkraftsetzung. Butler etabliert widerständiges Ausagieren nicht nur auf dem Feld der Gender-Debatten, sondern erweitert das Programm der widerständigen Resignifikation und überträgt es unter anderem auf rassistische Anrufungen und Verwerfungen (vgl. Butler 1998). Auch in diesem Zusammenhang wird das Individuum über die Benennung des Anderen – sei es durch beschimpfende Ausdrücke oder nicht – subjektiviert und in eine diskursive Existenz versetzt. An der grundsätzlichen Position, nach der die performative Kraft der Sprache diskursive Unterwerfungsmechanismen bewirkt sowie die Hierarchien einer komplexen Gemeinschaft produziert, hält Butler fest. Gegen diese sprachlichen Be- und Abwertungen sollen individuelle, konkret resignifizierende Sprechakte gewendet werden, um eine Umwertung hervorzubringen. Die Adressaten der Verwerfungen, so Butler, können sich gegen die diskursiven Herrschaftsverhältnisse nur zur Wehr setzen, wenn sie die Subversion des Anders-Sprechens über originelle und einfallsreiche sprachliche Gesten für sich und gegen die Anrufungen Dritter taktisch einsetzen. Diese allgemeine Beschreibung dessen, was Butler unter Widerstand versteht, soll durch den zitierten Hinweis – die Gesten des Widerstands realisieren sich über ein Umfunktionieren im Brechtschen Sinne – konkretisiert werden. Zwar bleibt Butler in ihrer Bezugnahme auf Brecht recht vage, sie benennt keinen konkreten Text. Doch die Analogien zu seinem 3

Vgl. hierzu u.a.: Hauskeller (2000), Weinman (2001), Sullivan (2006).

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programmatischen Theatertext Kleines Organon für das Theater scheinen evident. Brecht fordert hierin ein Theater, das »sich in der Wirklichkeit engagieren [muss], um wirkungsvolle Abbilder der ›Wirklichkeit‹ herstellen zu können und zu dürfen.« (Brecht 1993: 74) Auf den ersten Blick verwundert es, dass Butler, die mit dekonstruktivistischen Methoden arbeitet, sich auf ein Theaterkonzept bezieht, das offensichtlich mit einem essentialistischen Begriff von ›Wirklichkeit‹ operiert. Auf den zweiten Blick hingegen werden die Überschneidungen deutlicher: Brecht wie Butler sind sich im Ziel einig, das Gegebene zu überwinden – wie auch immer die gegebene ›Wirklichkeit‹ hervorgebracht wird. Brecht will einerseits die historischen Bedingungen mit Hilfe des Theaters ändern und andererseits die reine Abbildung von ›Wirklichkeit‹ auf der Theaterbühne überwinden. Butler hingegen zielt auf die Resignifikation der produzierten Natürlichkeit der Heterosexualität ab. Welches sind aber die Theater-Techniken, die eine Verflüssigung der Geschlechterdichotomie einerseits und die Überwindung des Gegebenen andererseits erzeugen sollen? Brecht will mit Hilfe des Theaters »sein Publikum wundern, und dies geschieht vermittels einer Technik der Verfremdungen des Vertrauten.« (Brecht 1993: 82) Und hier sind wir bei Butler und ihrer Idee der Verfremdung mittels der Travestie. Die Technik der Verfremdung, des Wundern-Machens, findet sich insofern bei Butler wieder, wenn sie die theatralische Wut, verstanden als Geschlechterparodie, als Mittel der Resignifikation einsetzt. Travestie dient »der subversiven Funktion in dem Maße, in dem sie die banalen imitierten Darstellungen widerspiegelt, mit denen heterosexuell idealisierte Geschlechter performativ realisiert und naturalisiert werden, und unterminiert deren Macht, kraft dessen, dass sie jene Bloßstellung erzielt« (Butler 1995: 305)

Bloßstellung über die Produktion von Verwunderung erscheint hier als Mittel oder Taktik, das Gegebene zu überwinden. Ein zweites Moment der Gemeinsamkeiten: Über fiktive Montagen versucht Brecht, dem aktuellen Verhalten »etwas ›Unnatürliches‹« zu verleihen – die »Triebkräfte« sollen »ihre Natürlichkeit einbüßen« (Brecht 1993: 80). ›Denaturalisieren‹ will auch Butler. Wenn sie an Travestie denkt, die das andere Geschlecht in der Darstellung vollendet zur Erscheinung bringt und zugleich das Wissen der Zuschauer betont, dass diese Darstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit nichts als Inszenierung ist und dass der Parodist eigentlich zum anderen Geschlecht gehört, dann wird hierüber die Idee des natürlichen Geschlechts erfolgreich ad absurdum geführt. Anders gewendet: Indem man die Geschlechter-Binarität mittels der Travestie in Verwirrung bringt, wird »ihre grundlegende Unnatürlichkeit enthüllt« (Butler 1991: 218). Butler bedient sich also offensichtlich der Methode des Brechtschen V- beziehungsweise Verfremdungs-Effekts. Ihre Idee des performativen

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Widerstands ist darauf ausgerichtet, den gesellschaftlich beeinflussbaren Vorgängen »den Stempel des Vertrauten wegzunehmen« (Brecht 1993: 81). Ziel der Geschlechterparodie und des Schauspielens soll es sein, um noch einmal mit Brecht zu sprechen, die »Figur lediglich zu zeigen oder, besser gesagt, nicht nur lediglich zu erleben« (Brecht 1993: 83). Über diese Art des Zeigens wird die theatralische Zitierung in Erscheinung treten, indem sie die diskursive Konvention nachahmt, wodurch, so Butlers Idee, die Bloßstellung der normierenden Strukturen ersichtlich und verschoben beziehungsweise ausgesetzt wird.

Vom Theater zur Bühne des ›alltäglichen Lebens‹ Die Frage, die sich hier aufdrängt, lautet: Verfestigt und reproduziert nicht die Geschlechterparodie die Geschlechterdichotomie gerade dadurch, dass sie dieselbe fortwährend inszeniert? Erzielt die Resignifikation, die Verschiebung in die Wiederholung, tatsächlich eine Umwertung oder gar Auflösung der Kategorien? Anders gewendet: Wie kann ein Subjekt, das im Sinne Butlers ein reines Produkt der Diskurs- und Machtverhältnisse ist, sich gleichzeitig gegen diese Verhältnisse auflehnen? In der letztbenannten Frage liegt ein zentrales Problem verborgen: Wenn Butler das Subjekt nicht vor oder außerhalb der diskursiven Konstruktion bestehen lässt, werden die Akte des Widerstands zum zentralen Bestandteil ihrer Subjekttheorie. Dies bedeutet, dass Widerständigkeit eine dem Subjekt inhärente, eine es auch konstituierende Eigenschaft darstellt. In diesem Sinne würde das Subjekt aufgrund der Sprachakte, die es hervorbringen, zum Widerstand fähig sein. In der Konsequenz führt die Subjekttheorie Butlers, verbunden mit ihrem Widerstandsbegriff, zu folgendem Paradox: Einerseits muten die Diskurs- und Machtverhältnisse den Individuen die Ausbildung einer konformen Subjektivität zu, verstanden als Normalisierungsprozeduren. Andererseits appellieren sie an das Subjekt, gegen sich selbst und die es produzierende Macht widerständig zu handeln. Somit wäre Widerstand zugleich wesentlicher Bestandteil und Aufgabe des Subjekts. In dieser Lesart würde die Widerständigkeit des Subjekts im Dienste der Machtverhältnisse stehen (vgl. Hauskeller 2000: 147f.). Kurz gesagt: Widerstand und Macht fallen hier ineinander. Unter diesen Voraussetzungen wäre widerständiges Handeln durch die, das Subjekt produzierenden, Machtdiskurse bestimmt. Dies lässt zwei Schlussfolgerungen zu. Zum einen ist die Idee Butlers, durch die Veränderungsstrategie der theatralischen Wut die vorhandenen, diskursiv konstruierten Subjekte im Verlauf von Verschiebungsprozessen des übertriebenen Zitats zu verflüssigen, so dass am Ende keine in die Matrix integrierten Subjekte mehr stehen, nicht möglich. Dies aus einem Grund: Das subversive Potential selbst ist in der performativen Sprache, in den Gesten der performativen Hand-

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lungen angesiedelt. Sprechakte, die eine produzierende Kraft besitzen, sollen bei Butler als Technik für eine Gegenbewegung angewendet werden. Doch durch die zitathafte Wiederholung wird keine Außerkraftsetzung, sondern eine Bestätigung, anstelle einer Verschiebung lediglich eine Wiedereinsetzung erzeugt. Das eher linear angelegte Modell einer Subjekttheorie bringt das Subversions- und Widerstandsprogramm zum Scheitern. Mit Foucault formuliert: Die Ironie des performativen Widerstands und seiner Geschlechterparodien besteht darin, dass uns glauben gemacht werden soll, es ginge in ihren übertriebenen Gesten um eine Art Rebellion (vgl. Foucault 1998: 190). Zum anderen tritt Butler mit dem Anliegen an die einzelnen Subjekte heran, sich stetig/täglich neu zu produzieren. Sie sollen ihrerseits über eine sprachliche und gestische Neu-Einsetzung zu einer Verschiebung des normativen Sprach- und Gestengebäudes beitragen. Diese Subjekte sollen Widerstand zum Bestandteil des eigenen und des öffentlichen Lebens machen – je nach Situation: einerseits als Reaktion auf geschlechtliche oder rassistische Anrufungen beziehungsweise Verwerfungen mit Hilfe der theatralischen Wut und andererseits unter gezielter Verwendung der Gesten der Verfremdung. Die Verschiebungen durch verfremdete Sprachpraxen sollen eine Verflüssigung der Geschlechterdichotomie erzeugen, indem die zitierten Gesten der Verwerfung als taktisches Mittel einsetzt werden. Diese Forderung nach einem alltäglichen Widersetzen erinnert an neoliberale Selbstmanagement-Programme (vgl. Bröckling 2000). Das sich selbst optimierende Individuum – flexibel und stets zur neuen Selbsterfindung bereit – wird von den Widerstandsdiskursen inkorporiert und produziert sich täglich neu. Kurz gesagt, Butlers Subjekt geht in neoliberalen Technologien des Selbst auf (vgl. Soiland 2004).

Foucault und die Widerstände Im zweiten Schritt möchte ich auf Foucaults Widerstandbegriff, die Zukünfte und die Träume beziehungsweise Utopien zu sprechen kommen. Meine erste These besagte, dass im Zentrum der Foucaultschen Umbruchs-Beschreibungen, jener, die sich um das Ende der modernen Episteme gruppieren, keine widerständigen Handlungen oder Ereignisse auftauchen. Die Macht/Wissen-Komplexe der Moderne zerschellen nicht infolge revolutionärer Begebenheiten, hervorgerufen beispielsweise durch kalkulierte Widerstandsakte, sondern lösen sich im Meer der Träume und Utopien auf. Was könnte für die Verbindung von Umbruch einerseits sowie Traum und Utopie andererseits sprechen? Und welche Argumente lassen sich dagegen aufstellen, die also einer Ersetzung der Kategorie Widerstand – durch das Begriffspaar Utopien und Träume – entsagen?

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Vorerst scheint es mir recht auffällig zu sein, dass Foucault die Brüche genau dort lokalisiert, wo in die jeweils ausgehende Episteme ein Traum oder eine Utopie einbricht. In Cervantes’ Roman Don Quichotte träumt der »Heros des Gleichen« von den Analogien und erwacht in einer Welt, in der sich alles um die Identitäten und Unterschiede dreht (vgl. Foucault 1999: 78f.). In den Figuren De Sades wiederum lebt der Traum fort, dass sich jede Repräsentation »sofort im lebendigen Körper des Verlangens beleben« (Foucault 1999: 262). muss und die »dunkle, wiederholte Gewalt des Verlangens« (Foucault 1999: 263) als Utopie. Schließlich Bentham und seine wundersame Maschine, dessen architektonisches und optisches System am Ende des klassischen Zeitalters den Traum der panoptischen Institution die Techniken der Disziplin erscheinen lassen (vgl. Foucault 1994: 256ff.). Diese und weitere Beispiele zeigen, dass Foucault die Umbrüche von Wissensformationen im Umfeld sprachlicher Wunden manifestiert. Gleichzeitig wäre die Frage möglich: Warum sollte der Widerstandsbegriff ersetzt werden, wenn Foucault in Der Wille zum Wissen explizit mit dieser Kategorie operiert? Hier taucht die allzu bekannte Formel auf: »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.« (Foucault 1998: 116) Und nicht nur dieser Hinweis findet sich dort. Darüber hinaus könnte der Einwand in die Debatte geworfen werden: Foucault verwendet nicht nur einen Widerstandsbegriff, sondern lokalisiert darüber hinaus den Ort für Widerstand im Zeitalter der Moderne: »Gegen das Sexualitätsdispositiv kann der Stützpunkt des Gegenangriffs nicht das Sex-Begehren sein, sondern die Körper und die Lüste.« (Foucault 1998: 151)4 Diese Positionen scheinen mir schwerwiegend zu sein. Zum einen lässt sich feststellen, dass Foucault nicht nur in Der Wille zum Wissen mit dem Begriff Widerstand arbeitet. In der Foucault-Ausgabe Schriften in vier Bänden taucht der Begriff Widerstand in vielseitigen Gewändern auf. Wir treffen ihn im Zusammenhang mit Revolten. Beispielsweise in seinen Analysen der iranischen Revolution oder der Oppositionsbewegung in Polen (vgl. Foucault 2003: 882f.; Foucault 2005a: 408f.). Wir finden ihn in Untersuchungen, die widerständiges Handeln gegen die Medizinisierung der Gesellschaft thematisieren (vgl. u. a. Foucault 2002: 321f.). Des Weiteren lassen sich hier Beschreibungen von Erhebungen und Bürgerkriegen, die mit bloßen Händen ausgefochten werden, entdecken (vgl. u. a. Foucault 2003a: 878f.). Darüber hinaus begegnen uns Analysen, die von widerständigem Verhalten im Zusammenhang mit der Einführung des Panopticons sprechen (vgl. u. a. Foucault 2003b: 266f.). Schließlich thematisieren einige Texte die Rolle des widerständigen Intellektuellen (vgl. u. a. Foucault 2003c: 670f.) oder einfach Widerstand, der im Gefolge des Sexualitätsdispositivs auftaucht (vgl. u. a. Foucault 2003d: 351f.). 4

Vgl. zum Widerstandsbegriff von Foucault u. a: Pickett (1996), Daiber (1999), Hauskeller (2000), Thompson (2003).

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All diesen Texten, die von Widerstandskämpfen der letzten zweihundert Jahre berichten, ist eines gemein: Es sind Analysen von Widerstandsformen. Und es lässt sich noch etwas sagen: Sie sind durch ein Netz von sechs Gemeinsamkeiten miteinander verbunden. Diese sechs Übereinstimmungen finden wir als Kriterien-Katalog in einem einzigen Vortrag ausgearbeitet, veröffentlicht unter dem Titel Subjekt und Macht. Erstens, sagt Foucault, sind alle Widerstandskämpfe transversale Kämpfe. Es sind Auseinandersetzungen, die sich nicht auf ein einzelnes Land beschränken (vgl. Foucault 2005b: 244). Die zweite Gemeinsamkeit ist, dass gegen die Auswirkungen der Macht angekämpft wird. Es geht hier um die unkontrollierte Macht, die unter anderem Ärzte auf den Körper des Menschen ausüben (vgl. Foucault 2005b: 244). Als drittes Kriterium taucht das Bild der unmittelbaren Kämpfe auf. Die Kämpfe sind einerseits anarchisch und beziehen sich auf die Kritik des unmittelbaren Gegners (vgl. Foucault 2005b: 244). Die vierte Übereinstimmung sieht Foucault darin, dass die Kämpfe sich gegen die Infragestellung des Status des Individuums richten. Verkürzt gesagt, es geht um das Recht, anders zu sein, beziehungsweise darum, gegen die Isolierung und Abspaltung des Einzelnen aufzutreten (vgl. Foucault 2005b: 244f.). Als fünftes Kriterium für Widerstand gibt er an, dass die Kämpfe sich stets gegen eine Privilegierung des Wissens, der Kompetenz und der Qualifikation richten. Es geht um die Infragestellung von Wissensregimen (vgl. Foucault 2005b: 245). Das letzte Bindeglied zwischen allen Widerstandsformen ist die Rebellion gegen Identitätsfestlegungen (vgl. Foucault 2005b: 245). Was aber können wir mit diesen Kriterien, diesen Gemeinsamkeiten der Widerstände, anfangen? Welche Funktion haben sie und wie sollen sie strategisch eingesetzt werden? Ich glaube, dass die Antwort recht kurzweilig ausfällt. Denn in demselben Vortrag, auf den ich mich eben bezogen habe, gibt Foucault zu bedenken: »[W]enn wir wissen möchten, was Machtbeziehungen sind, müssen wir vielleicht die Widerstände dagegen untersuchen und die Bemühungen, diese Beziehungen aufzulösen.« (Foucault 2005b: 243) Das Ziel der Kriterienbildung besteht offensichtlich nicht in einer normativen Beschreibung dessen, wie Widerstand organisiert, mobilisiert oder instrumentalisiert werden sollte. Es finden sich hier auch keine Handlungsanleitungen für künftiges widerständiges Verhalten. Vielmehr, so meine Interpretation, versucht Foucault, mit der Kategorisierung von widerständigen Handlungen eine Möglichkeit zu öffnen, seine Theorie der Macht um einen zusätzlichen Analyseansatz zu erweitern. All den oben genannten Widerstandstexten aus Foucaults Schriftenband ist eines gemein: Es handelt sich um die Lokalisierung von Machtverhältnissen anhand von Widerständen. Es sind archäologische Tiefenbohrungen für die anstehende Arbeit, Macht zu analysieren. Wir stehen hier vor der methodologischen Anmerkung Foucaults, die seine These – Wo es Machtverhältnisse gibt, dort existieren auch Widerstandsformen (vgl. Foucault

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2003d: 352) – umdreht und sagt: Wo es Widerstand gibt, dort existieren auch Machtverhältnisse. Wie, so könnten wir fragen, ist die Analyse von Macht möglich? Offensichtlich auch über die Lokalisierung und Beschreibung von Widerstandsformen, denn Macht und Widerstand fallen bei Foucault zusammen. Sein Interesse an Macht- oder Widerstandsmechanismen ist jedoch auf die Herausarbeitung dessen, was ihre Spezifität ausmacht, gerichtet und nicht auf die Geste des Sagens, »was zu tun ist.« (Foucault 2005c: 115)

Foucaults Utopien und Träume Wie aber, um auf meine Frage zurückzukommen, verhält es sich mit den Utopien und Träumen in Foucaults Denken? Was für eine Rolle spielen sie in seinen Arbeiten und welche Schlüsse lassen sich aus seinen Ausführungen ziehen, wenn er sagt, dass wir von einer anderen Ökonomie der Körper und der Lüste träumen müssen? In einem Gespräch mit Christian Delacampage, das den Titel Der maskierte Philosoph trägt, träumt Foucault nicht nur »von einem neuen Zeitalter der Wißbegierde« (Foucault 1984: 18), sondern von einer Philosophie als Aktivität. »Philosophie«, so Foucault, »ist eine Bewegung, mit deren Hilfe man sich nicht ohne Anstrengung und Zögern, nicht ohne Träume und Illusionen von dem freimacht, was für wahr gilt, und nach anderen Spielregeln sucht. Philosophie ist jene Verschiebung und Transformation der Denkrahmen, die Modifizierung etablierter Werte und all der Arbeit, die gemacht wird, um anders zu denken, um anderes zu machen und anders zu werden als man ist.« (Foucault 1984: 22)

Ähnliche Ausführungen zur Funktion der Philosophie finden sich in dem wohlbekannten Vortrag Was ist Kritik? Und wir entdecken hier eine weitere Utopie: Die Historie als künftige Schwesternwissenschaft der Philosophie. »Es bedeutet zunächst einmal, daß man sich auf eine Praktik einlässt, die man eine historisch-philosophische nennen könnte – die aber weder mit der Philosophie der Geschichte noch mit der Geschichte der Philosophie etwas zu tun hat.« (Foucault 1992: 26) Auch in diesem Vortrag begegnen wir auf den ersten Seiten Analysen widerständigen Verhaltens. Erinnert sei einerseits an Foucaults Ausführungen zur Entstehung der Pastoral-Macht im 16. Jahrhundert und die erstmals auftauchende Frage: »Wie regiert man?« Andererseits an die hiermit korrespondierende Frage: »Wie wird man denn nicht regiert?« (Foucault 1992: 11) An dieser Stelle entdecken wir das Schema, wo Machtverhältnisse auftauchen, dort lässt sich Widerstand lokalisieren, und wir erfahren nicht nur etwas über die Geburtsstunde vielfältiger Regierungskünste, sondern auch etwas über deren Gegenstück, das Ereignis des Widerstands. Es sei dies eine politische Haltung, eine Denkart, die Foucault wie folgt beschreibt: Die »Kunst nicht

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regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden.« (Foucault 1992: 13) Diese sehr allgemeinen und vagen Aussagen Foucaults führen ihn direkt zur Auseinandersetzung mit Kant, da sein Kritikbegriff Kants Ausführungen zur Frage »Was ist Aufklärung?« sehr nahe kommt. Thomas Lemke hat in Bezug auf den Text Was ist Kritik? darauf hingewiesen, dass die darin enthaltene Beschäftigung Foucaults mit Kants Frage »Was ist Aufklärung?« eine strategische Bedeutung hat. Zum einen, weil die Aufklärung seit Kant eine zweideutige Tradition hat. Kants »philosophisch-juridische Kritiktradition verlangt die Identifizierung von Normen, anhand derer Kritik sich auszuweisen habe, um die Richtigkeit, Begründetheit, Angemessenheit etc. zu verbürgen – und wird damit selbst zu einem wichtigen Bestandteil der modernen politischen Rationalität« (Lemke 1997: 350).

Zum anderen, weil diese doppeldeutige Tradition der Aufklärung bis hin zu Habermas die Moderne bestimmt hat und sich beharrlich hält. Foucault seinerseits will »andere mögliche Wege als die bisher am häufigsten begangenen andeuten« (Foucault 1992: 29). Und diese anderen Wege, die Suche nach neuen Spielregeln, erinnert sei an die Traumbewegung der Philosophie, verstehe ich als Träume und Utopien. Sie manifestieren sich in der Idee von einer künftigen historisch-philosophischen Forschung. Drei Begriffe stehen im Zentrum dieser Forschung und bilden den allgemeinen Rahmen: Archäologie, Genealogie und Strategie. Zunächst zur Archäologie. Sie versucht, Mengen von Elementen zu identifizieren, bei denen sich, ganz allgemein, Verschränkungen von Zwangsmechanismen und Erkenntnisinhalten feststellen lassen. Dabei steht nicht die Frage im Vordergrund, ob eine Aussage wahr oder falsch, legitim oder unbegründet ist, sondern die Frage, welche Verbindungen zwischen Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen auftauchen. Es geht um die Aufdeckung der Verwicklungen und Verweise, die zwischen ihnen bestehen. Wieso also bringt ein bestimmtes Erkenntniselement eine spezifische Machtwirkung hervor? In diesem Zusammenhang begegnen uns zwei bekannte Begriffe: Macht und Wissen, denn die Erkenntnisverfahren werden mit Wissen und die Mechanismen des Zwangs mit Macht bezeichnet (vgl. Foucault 1992: 32ff.). Die Genealogie geht davon aus, dass die Verschränkungen der Zwangsmechanismen und Erkenntnisinhalte, die Positivitäten einer bestimmten Epoche, einerseits spezifischen Akzeptanzbedingungen unterworfen sind und andererseits in einer signifikanten Struktur künstlich hervorgebracht wurden. Es geht um die Frage, durch welche Gewohnheiten sie vertraut gemacht und quasi als natürlich beziehungsweise selbstverständlich etabliert wurden. Anders formuliert: Nicht die Ursprünglichkeit, sondern die Kontingenz von Akzeptabilitätsbedingungen und die Bruchlinien zwischen ihnen müssen beleuchtet werden. Diese Bedingungen und Brüche, frei von Ursprünglichkeit und Kausalität, aufzuzeigen, bedeutet

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Genealogie. Dabei ist zu beachten, dass jene positiven Ensembles nicht als Universalitäten, sondern als reine Singularitäten zu erfassen und zu analysieren sind. Kurz gesagt: Es geht um das Problem, singuläre Positivität in ihrer Singularität einsichtig zu machen (vgl. Foucault 1992: 34ff.). Und schließlich die Strategie. Sie kommt ins Spiel, da die Analyse der Singularitäten sich auf ein Netzwerk der Akzeptabilitätsbedingungen bezieht. Dieses Netzwerk fragiler, nicht fixierter beziehungsweise lockerer Beziehungen gehorcht der jeweils spezifischen Logik der zugehörigen Interaktionsbeziehungen. Es geht um die Aufdeckung der spezifischen Logik und des Spiels der Interaktionen, die die Singularitäten als Effekte sichtbar machen. Archäologie, Genealogie und Strategie sind jedoch nicht auf drei unterschiedlichen Niveaus angesiedelt. »Vielmehr will ich drei simultane Dimensionen ein und derselben Analyse charakterisieren: drei Dimensionen, die gerade in ihrer Simultanität erfassen lassen sollten, was es an Positivem gibt: welches die Bedingungen sind, die eine Singularität akzeptabel machen, die durch die Auffindung der Interaktionen und Strategien, in die sie sich integriert, einsichtig wird.« (Foucault 1992: 39) Das sich an dieser Stelle öffnende methodologische Möglichkeitsfeld könnte, korrespondierend mit der Entscheidung, nicht regiert zu werden, in der Entknotung von Machtwirkungen liegen. Foucaults Kritikbegriff widersetzt sich einer Konzeption von Widerstand, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnis gründet. So führt er in dem Interview Politik und Ethik aus, man müsse sich »das Wenige an ›analytischer‹ Verbindung, das zwischen einer philosophischen Auffassung und der konkreten politischen Haltung desjenigen besteht, der sich darauf beruft« bewusst machen, denn »auch die ›besseren‹ Theorien stellen keinen richtig wirksamen Schutz gegen verhängnisvolle politische Entscheidungen dar, und gewisse große Themen wie der ›Humanismus‹ können zu wer weiß was dienen« (Foucault 2005d: 716f.). In der Kopplung von Theorie und Politik sieht Foucault die stete Gefahr, dass theoretische Konzepte in ›richtige‹ politische Programme überführt werden und durch einen Imperativ des Wissens als eine Zensurinstanz auftreten. Über diese Produktion von ›Wahrheiten‹ könnte jegliche Kritik, die nicht den etablierten Kriterien genügt, als unbegründet oder ›falsch‹ zurückgewiesen werden. Foucault lehnt es also im Gegensatz zu Butler ab, Kriterien für Verfahren künftiger Widerstandshandlung zu produzieren, weil dann Theorie ein Mittel wäre, »um bestimmte normative Orientierungen zu ›rationalisieren‹« (Lemke 1997: 356). Vielleicht bin ich mit diesen Ausführungen den Träumen von einer neuen Ökonomie der Körper und der Lüste keinen Schritt näher gekommen. Vielleicht ist es aber möglich, die historisch-philosophische Forschung als einen methodologischen ›Korpus‹ zu betrachten, der künftige theoretische Analysen ermöglicht. In diesem Fall würde Widerstand weni-

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ger eine Rebellion gegen bestehende ›Gesetzmäßigkeiten‹ sein, deren politische Zielsetzungen durch theoretische Konzepte begründet sind. Vielmehr wäre Widerstand dann als ein sich stetig fortschreibender analytischer Vorgang zu verstehen, dessen kritisches Potential in der Reflektion der eigenen historischen Bedingungen besteht. Theorie würde dann die Aufgabe übernehmen, die Ansprüche auf Universalität zu prüfen. Träumen wir also mit Foucault von einem Moment, da Theorie nicht die Begründung, sondern Ausdruck des Widerstands sein wird.

Literatur Brecht, Bertolt (1993): »Kleines Organon für das Theater«. In: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 23, Berlin [u.a.]: Aufbau-Verlag, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 65-97. Brieler, Ulrich (1998): Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker. Köln [u.a.]: Böhlau. Bröckling, Ulrich (2000): »Totale Mobilmachung, Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement«. In: ders./S. Krasmann/T. Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 131-167. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin-Verlag. Butler, Judith (1998): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin: Berlin-Verlag. Daiber, Dirk (1999): Subjekt – Freiheit – Widerstand. Die Stellung des Subjekts im Denken Foucaults. Konstanz: Hartung-Gorre. Eribon, Didier (1999): Michel Foucault. Eine Biografie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1984): »Der maskierte Philosoph«. In: ders., Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch, Berlin: Merve Verlag, S. 9-24. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve Verlag. Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1998): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Bd. I, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1999): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2002): »Mein Körper, dieses Papier, dieses Feuer«. In: ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. II, 1970-1975, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 300-330.

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Vom Simulationsraum der Macht. Foucault mit Baudrillard gelesen ROBERT FEUSTEL Toni: Was ist zum Beispiel mit Gary Cooper? Das würde ich gerne wissen. Silvio: Der ist tot. Ach, nur weil der immer in den Western gegen die Rothäute gekämpft hat? Toni: Ach, verfluchte Scheisse, Gary Cooper, das war ein Amerikaner, ein starker stiller Typ, der tat, was er tun musste. Er stellte sich der MorrowBande, als keiner von den Arschlöchern in der Stadt ihm zu Hilfe eilen wollte. Und hat er sich beklagt? Und hat er gesagt: »Ich stamme aus dem armen texanisch-irischen AnalphabetenBackground« oder so’n Scheiss? »Also haltet mich da raus, weil meine Leute so Scheisse zu mir waren?« Silvio: Nichts für ungut, aber du bringst da was durcheinander. Erstens: Das war ein Film... Toni: Und? Was macht das für einen scheiss Unterschied? Columbus ist schon so lange her, das könnte genauso gut ein scheiss Film sein. (The Soprano’s, HBO-Fernsehserie, USA 2002)

Kaum ein Autor des 20. Jahrhunderts hat so immense Wellen geschlagen und ist zum Markenzeichen hoch komplexer Theoriegebäude geworden wie Michel Foucault. Es wird mit ihm und über ihn gestritten, er ist von einigen zum Verriss freigegeben und von anderen zur Integrationsfigur politischer (Nicht-)Identität stilisiert worden. In gewisser Weise ist er, vor allem im anglophonen Sprachraum, godfather politischer Theorien. Eine andere Koryphäe seiner Zeit hat, eher in philosophischen Zirkeln und Künstlerkreisen als an Universitäten, mit ähnlicher Präsenz sein Feld

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abgesteckt und einen eigenen Horizont gesellschaftlicher Wirklichkeit produziert: Jean Baudrillard. Auf den ersten Blick haben beide nicht viel gemein. Foucault (als Historiker) frisst sich durch meterlange Regale, um längst vergangene Diskurse zum Vorschein zu bringen und zugleich der humanistischen Moderne ein Schnippchen zu schlagen. Baudrillard hat zwar ein ähnliches Ziel, müht sich aber weniger mit Archivalien ab oder gräbt verstaubte Texte aus. Sein Werk ist eher ein permanenter Taumel im verhängnisvollen und zirkulären Kontinuum der Simulation; immer leicht säuerlich darum bemüht, sein assoziatives Gebäude begreiflich und begrifflich zu machen – wohl wissend, dass der Leser damit seine Schwierigkeiten haben wird. Während Foucault (zumeist) minutiös und quellenreich argumentiert, oder besser: die Quellen sprechen lassen möchte, verschanzt sich Baudrillard hinter einem Gestus des Philosophierens, der gegen Kritik immunisiert. Baudrillard wusste es schon immer besser. Zumindest suggeriert dies sein Stil, der, wenig an Konsistenz interessiert, kaum Anknüpfungspunke zulässt. Diese Differenzen mögen ein Grund sein, warum beide Autoren selten gemeinsam verhandelt werden. Leider hat dies auch zur Folge, dass Baudrillards durchaus spannende Auseinandersetzung mit Foucault wenig bis keine Resonanz gefunden hat. Zwar trennt die beiden einiges, dies sollte jedoch nicht über Kreuzungspunkte hinwegtäuschen, denn die alte Phrase der Internalisierung von Herrschaftsmechanismen, deren Weg nur über Wissen und Wahrheit, über Subjektivierung und Repression führt, treibt beide um. Nur für Antworten stehen sie sich gewissermaßen im Weg. Es wird kaum möglich sein, Baudrillard mit Foucault zu lesen. Letzterer hat sich nie konkret und inhaltlich auf eine Auseinandersetzung eingelassen. Und für Baudrillards Stil gilt: Abdichten nach allen Seiten – was zur Folge hat, dass entsprechende »Übersetzungen« in andere theoretische Begriffswelten schwer möglich sind. Deshalb wird der folgende Beitrag den umgekehrten Weg wählen und ausgehend von Baudrillards wenig rezipierter Kritik an Foucault, die er in Oublier Foucault und in Von der Verführung entwickelt, den Versuch unternehmen, einerseits Baudrillards Welt ein Stück weit ihrer begrifflichen Komplexität zu entkleiden (und ihr damit den Charme des ganz Anderen zu rauben) und andererseits, die durchaus stichhaltige Kritik an Foucault zum Vorschein zu bringen. Schließlich, so die Hoffnung, könnte ein zaghafter Versuch unternommen werden, beide zu verknüpfen. Dies führt zwangsläufig aufs Glatteis und kann deshalb nur als Versuch gelten. Dieser läuft darauf hinaus, Foucaults Konzept von Macht/Wissen um die Vorstellung totaler Simulation oder der Referenzenlosigkeit der Zeichen zu erweitern und zugleich ein Transformationsproblem anzugehen. Eine Frage muss sich Foucault gefallen lassen: Wie wird aus Wissen Macht? Über welche Kanäle interna-

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lisieren Subjekte Wissen und werden zugleich Teil spezifischer Machtkomplexe? Und schließlich: Wie könnte Widerstand gedacht werden?

Foucault revisited Foucaults Texte als Bündel zu diskutieren, gleicht – vorläufig – einer Quadratur des Kreises, denn dieser antwortete auf Fragen nach Widersprüchen in seinem Werk immer damit, dass nicht von Belang sei, was er früher geschrieben oder gesagt habe. »Wen kümmert’s, wer spricht?« Dies ist im Kontext der Kritik von Subjektivierung und Identitätszwang programmatisch und bisweilen zwingend. (Es ist tatsächlich wenig sinnvoll, nach dem einen Theoriegebäude zu suchen, Bruchlinien und Widersprüche als Kritik auf den Autor zu spiegeln und jenem, Unfähigkeit zu einer konsistenten Position vorzuwerfen.) Gleichwohl verschiebt es kritische Fragen auf ein Feld der Indifferenz und lässt die Kritik ins Leere laufen. Dies könnte Baudrillards Versuch schlagartig diskreditieren. Eine solche Form der Kritik bliebe jedoch oberflächennah und würde sich selbst als ideologisch überführen – wenngleich sie, mit Blick auf die Vielschichtigkeit der Texte Foucaults, zunächst einleuchtet. Schon bei der Lektüre des Klapptextes von Oublier Foucault schrillen beim Foucault-geneigten Leser die Alarmglocken: »Die Macht hat sich nicht immer für die Macht gehalten, und das Geheimnis der großen Politiker war zu wissen, dass es die Macht nicht gibt, dass sie nur ein Simulationsraum ist wie der perspektivische Raum in der Renaissance-Malerei.« (Baudrillard 1983: Klapptext)

Diese Kernthese Baudrillards ruft reflexartig jene Kritikerinnen auf den Plan, die die Kontingenz des Foucaultschen Machtbegriffs be- oder einklagen. Die Macht, als monolithischer Block, als adressierbare Handlungseinheit, habe es für Foucault nicht gegeben – je nach Position ist dies entweder heilsam oder unheilvoll. Der Begriff selbst ist, mit Rückschau auf Foucaults Bücher und Interviews, mit Blick auf den Autor, komplex und trägt verschiedene Bedeutungen. Worauf bezieht sich Baudrillard, wenn er von der Macht spricht? Wie und warum kann er Foucaults Machtbegriff Konsistenz attestieren und ihn von dort aus einer scharfen Kritik unterziehen? Bevor Baudrillards Kritik an Foucaults Konzept der Macht weiter unten genauer beleuchtet werden soll, gilt es zunächst, die »short story« von Oublier Foucault zu erzählen. Die Irritation, die Foucaults Machtbegriffe verursachen und Baudrillards Kritik widersinnig erscheinen lässt, entstammt einer späten Lektüre. Baudrillard schreibt seine Streitschrift 1978, während der intensiven Nachwehen zweier Publikationen Foucaults: Überwachen und Strafen (1975) und Sexualität und Wahrheit (1976). Für

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beide gilt auf eine knappe Formulierung heruntergebrochen: »Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.« (Foucault 1983: 114) Während Foucault erst nach Sexualität und Wahrheit in einer Schaffenskrise, auf die Deleuze zielsicher hinweist (vgl. Deleuze 1987: 131ff.), den Machtbegriff umdreht, verwischt und neu definiert, herrscht in beiden erwähnten Büchern Klarheit. Die Macht ist zwar zersplittert, hat keinen Ort und ist mit keiner Institution identisch, dennoch ist sie der bewegliche Knotenpunkt von Subjektivierung und Unterwerfung. Ihre Wege sind vielfältig und reichen hinab (oder hinauf) bis in die kleinsten und intimsten Elemente. Aber in ihrer Wirkung, einer Zurichtung des Individuums, einer spezifischen Produktion von angepassten Subjekten im Sinne des Systems und der Ökonomie, ist sie komplex und allgegenwärtig. Insofern ist es plausibel, mit Foucault (zunächst) von der Macht zu sprechen, da zwar ihre Wirkungsweisen komplex und vielschichtig sind, ihre Morphologie und ihre Stoßrichtung sind dagegen konsistent. Zunächst steigt Baudrillard über einen Umweg in seine Diskussion Foucaults ein und diskutiert dessen Stil: »Foucaults Schreibweise ist vollkommen, da der Text in seiner Bewegung bewundernswert das nachzeichnet, wovon er spricht: von jenem gewundenen Weg, auf dem die Macht entsteht. [...] Sie ist von einer geschmeidigen Objektivität, nicht linear, stets auf gleicher Höhe kreisend, makellos. [...] Kein Taumel.« (Baudrillard 1983: 9)

Die staunende Anerkennung für Foucaults Stil ist durchaus ernst gemeint und an keiner Stelle ironisiert. Sie fordert dennoch zur Skepsis auf – vor allem wenn wir Foucault vergessen sollen. Dessen minutiös historische Darstellungen, die nie den Gegenstand der Analyse aus den Augen verlieren, ist, so argumentiert Baudrillard, das Spiegelbild der Macht. Der historische Raum, dessen Gegenwartswirkungen stets von Belang sind und den Foucault nie um seiner selbst Willen detailverliebt ausfüllt, ist mit einer »geschmeidigen Objektivität« angereichert. Er reproduziert das Historische ebenso intim und feinteilig, wie die Macht in Strukturen und Individuen einsickert. Beide, die Macht und Foucaults Stil, kennen weder Anfang noch Ende, sie verbinden Detail und Struktur zu einem unauflösbaren Gesamtbild und haben keinen fassbaren Bodensatz. Dies hat für Baudrillard zwei zum Teil widersprüchliche Konsequenzen. Foucaults »verführerische Kraft« beziehe sich nicht auf den Wahrheitsgehalt seines Diskurses sondern auf die Tatsache, das dieser »als Spiegel der Mächte« fungiere. Zwar legt Baudrillard fest, dass Foucaults Diskurs nicht »wahrer ist als irgendein anderer«, er weiß diese Behauptung allerdings nicht zu begründen. Seine Kritik scheint bis hier hin ziemlich unplausibel. Wenn Foucault tatsächlich die Macht spiegelt, das heißt sie reflektiert, in ein sprachliches Korsett, in Begriffe packt und schließlich einem kritischen Denken überantwortet, dann ist sein »Wahrheitswert«

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kaum hoch genug einzuschätzen. Wenn, wie Baudrillard später klarstellen wird, die Macht gar nicht »real« existiert oder als solche keine Bedeutung hat, dann könnte Foucault sie nicht spiegeln und würde nicht jene magische Kraft entfalten, die Baudrillard Foucaults Diskurs zugesteht. Liest man diesen Absatz gegen den Strich, dann kommt er einer ungemeinen Überschätzung Foucaultscher Thesen gleich, die als Spiegel der Macht diese »tatsächlich« und ohne Einschränkungen zum Vorschein bringen würden. Sicherlich hatte Baudrillard diese Lesart nicht intendiert. Doch sie zeigt, wie »erhitzt« der Pariser Philosoph schreibt und gelegentlich vom eigenen Diskurs überholt wird. Der zweite Punkt, an dem Baudrillard ansetzt, um Foucault vergessen zu machen, hat deutlich mehr Substanz und gibt erste Hinweise, in welche Richtung die Argumentation läuft: »Wie ein Wasserzeichen zeichnet sich hinter dieser Schrift, die zu schön ist, um wahr zu sein, die Erkenntnis ab, daß dieses Zeitalter insgesamt schon auf der Kippe stehen muss, wenn es möglich ist, derart endgültige Einsichten über die Macht, die Sexualität, den Körper und die Disziplin bis hin zu deren äußersten Metamorphosen auszusprechen.« (Baudrillard 1983: 11f.)

Baudrillard argumentiert, dass Foucault nur an der Grenze, im Moment des Übergangs, seine tiefgreifenden Einsichten zum Besten geben kann. Dies konterkariert die erste Kritikebene, auf der er noch den Wahrheitswert auf Null setzte. Für das Grenzargument muss er voraussetzen, dass jenes von Foucault beschriebene Tableau der Macht einst existierte – um schließlich im Übergang zu etwas neuem zu verschwinden. Man könnte sagen, Baudrillard habe Foucault selbst historisiert und damit – partiell – für eine Gegenwartskritik durchgestrichen. In diesem Sinne ist wohl Oublier Foucault zu verstehen. Zwar bleibt auch die Argumentation von der Erkenntnis an der Grenze, im Moment der Transformation, spekulativ, sie entbehrt jedoch nicht einer gewissen Plausibilität. Deleuze hat in seiner Schrift zu Foucault dessen Denken ebenso an einer Grenze verortet: am oder auf dem Rand des Diskurses. Es scheint zwingend, diese Denkfigur einzuführen, da sich, wenn überhaupt, nur so die inhärente Spannung des Sprechens über Macht und Wahrheit auflösen lässt. Es geht um die simple Frage, aus welcher (Sprecher-)Position heraus die Wahrheitsspiele der Macht analysiert und das Wissen selbst als relational dechiffriert werden können. Foucault ist immer mit dem Problem konfrontiert, das Wissen als Machteffekt zu decodieren und zugleich auf irgendeine Weise selbst wahr zu sprechen – und wenn er nur die Wahrheit über die Wahrheit zum Ausdruck bringt. Um nicht in die Falle einer übergeordneten, einer transzendenten Wahrheitsannahme zu tappen, in deren Folge das eigene Denken sich wieder als metaphysisch entpuppen würde, kommt die Grenze ins Spiel, auf der der Autor eine erhöhte (aber keine überhöhte) Position einnehmen kann und die ihm die

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Fundamente des Wissens und dessen Machtwirkungen sichtbar werden lässt. Zwei Annahmen einer Grenze, die eine erkenntnistheoretisch und spekulativ (Deleuze), die andere historisch und spekulativ (Baudrillard). Es ist für sich genommen dennoch schlüssig, eine »Beobachtung zweiter Ordnung« (Luhmann) erst in der Rückschau (oder im Moment der Transformation) etablieren zu können. Baudrillard betont, dass es nicht um eine philosophische Reflexion der Gegenwart geht, sondern um eine detailgenaue Archäologie. Diese reißt nicht einen groben Problemhorizont auf, sondern erfasst die Funktionsweise bis ins kleinste Detail. Genau dies ist innerhalb einer Epoche schwer denkbar und nur mit der Differenzierung zwischen Philosophieren und bis ins Detail analysieren, die wie ein Taschenspielertrick anmutet, kann Baudrillard dem Dilemma aus dem Weg gehen, seine Kritik an Foucault gegen sich selbst richten zu müssen. Wenn er das Zeitalter der Simulation ausruft, wäre die Anmerkung, er könne dies nur im Moment der Transformation, an jener Grenze, wo die SimulationsMacht schon nicht mehr ist, keineswegs deplatziert. Schließlich gibt es aus dem Paradox, entweder wahr (über die Wahrheit oder etwas anderes) sprechen zu wollen oder andernfalls zu schweigen, keinen Ausweg. Alles übrige (Fiktion, Lüge etc.) ist Literatur. Deshalb hat es wohl mehr Sinn, sich auf die konzeptionelle Debatte zurückzuziehen. Wenn wir uns auf Baudrillard einlassen und seinem Denken jenseits bissiger Polemisierungen Relevanz attestieren wollen, dann stellt sich die Frage, welche historische Transformation, welcher Übergang ihm so bedeutungsvoll erschien, dass er Foucault ins Vermächtnis einer vergangenen Zeit versetzen will.

Totale Macht oder deren Ende? Baudrillard schwingt eine brachiale Keule und wirft Foucault (und Deleuze) vor, selbst immer auf der Ebene der Produktion (deren »Vorhaben darin besteht, alles in den Rang des Sichtbaren zu heben«1) und damit auf der Seite der Macht geblieben zu sein. Beide hätten nie die tatsächliche Problemlage erkannt und seien deshalb für Kritik und Widerstand wertlos. Die gesamte Attacke setzt voraus, dass Deleuze als verlängerter Arm Foucaults zu betrachten ist und beide gemeinsam verhandelt werden können – oder müssen. (Die gleiche Front wird einige Jahre später Slavoj Žižek (2004, 2005) aufmachen und beide Theoretiker als kongeniale Agenten von Macht und Produktion entlarven. Ob diese Behauptung haltbar ist, steht auf einem anderen Blatt und es ist müßig, Baudrillard erneut überzeichnete Polemik vorzuwerfen.) 1

Baudrillard 1983: 26.

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Doch was ist dran an Baudrillards Diagnose? Wenn Foucault seine Linse ausschließlich auf die Produktion (von Wissen und Subjekt) fokussiert, dann ist es so einsichtig wie banal, dass er nicht von der Verführung spricht; von jenem Modell, jener Skizze, die Baudrillard als bisweilen einzige Möglichkeit diskutierte, der totalen Macht der Produktion zu entkommen. Die Verführung (séduction) als Umkehrung und Revision der Produktion, als rituelles Spiel und Wette, ist eine vergessene Kunst; es ist ein Spiel ohne Mehrwert, ohne Gewinn. Die Dinge zu verführen statt sie zu produzieren, ist Baudrillards eindringliche Ansage. Die Behauptung, Foucault habe mit seinen detailgenauen Analysen der Macht dieser methodisch in die Hände gespielt und im Umkehrschluss zu ihrem Funktionieren noch beitragen, entbehrt aus dieser Perspektive nicht jeder Grundlage. Da sich Foucault in den beiden von Baudrillard thematisierten Büchern jede konkrete Skizze einer anderen (und vielleicht besseren) Welt verbietet, muss Baudrillard auf Deleuze zurückgreifen. Dieser hatte zusammen Felix Guattari 1972 im Anti-Ödipus (1995) das Modell der Wunschmaschinen etabliert und es am Ende tatsächlich gewagt, eine »Programmatische Bilanz« für diese zu formulieren. Der Wunsch (désir: auch Begehren), so könnte verkürzt formuliert werden, sei der heimliche und unheimliche Grund menschlichen Handelns, den es, auf subversive und nicht-identitäre Art zu produzieren gilt. Zwar ist der Wunsch keine Aneignung, er hat nichts mit den »spezifischen Gesetzen des externen Marktes des Kapitalismus oder denen des internen Marktes der Psychoanalyse« (Deleuze/Guattari 1995: 497) zu tun. Dennoch wird er produziert. Baudrillard zufolge kaufe man die Katze im Sack. Egal ob es um eine Schizo-Analyse oder um den Mikro-Wunsch geht, alles verbleibt auf der Seite der Produktion: »Die Maschinen sind immer schon da, unaufhörlich produzieren wir sie, lassen sie laufen, weil sie Wunsch, Wunsch wie er ist, sind.« (Deleuze/Guattari 1995: 512) Die Analyse der Mikrostrukturen der Macht, als zerstreutem Wunsch, als progressives und antikapitalistisches Begehren, gegen die Macht zu wenden, sei Unsinn. Es sei nichts Progressives, die Machtstrukturen einfach »mikroskopisch zu verkleinern«. Im Gegenteil. Beide, Foucault und Deleuze, verbleiben systemimmanent: »Er [Foucault] wird dazu beigetragen haben, eine Macht zu erreichen, die zur selben Ordnung gehört und in derselben Weise funktioniert, wie der Wunsch. Ebenso wird sich zeigen, daß Deleuze einen Wunsch konzipiert hat, der nur zu gut in die Ordnung der künftigen Mächte paßt.« (Baudrillard 1983: 22f.)

Die Zeit, so könnte vorschnell kombiniert werden, habe Baudrillard recht gegeben. Schließlich hat der neoliberale Zeitgeist das Selbst und den Wunsch als Ressource, als Quelle der Produktion entdeckt und in Form des unternehmerischen Selbst das Begehren zur Macht gebracht – und umgekehrt. Der Wunsch als Macht des Widerstandes und Macht zum Widerstand ist selbst konsequent Teil der Strukturen, weil er von der Macht,

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vom System in einer bestimmten Weise hervorgebracht und schließlich absorbiert wird. Und die Multitude hält nach wie vor die Füße still. Doch der Macht- und Wunschdiskurs hat auch eine reziproke Wirkung. Da Foucault »nur Augen für die Produktion von Sex als Diskurs« hat und von der »irreversiblen Entfaltung und der interstitiellen Sättigung eins Sprachfeldes« (Baudrillard 1992: 71f.) fasziniert ist, entgehen ihm die Machtwirkungen des eigenen Diskurses. Die Analysen von Foucault (und Deleuze) setzen auf einem Prinzip, einer Matrix auf (die Macht), die keineswegs unhinterfragt als konstante und reale Größe angenommen und vorausgesetzt werden kann. Diese selbst ist als Diskurs produziert und deshalb nicht minder kontingent. Baudrillard erhebt einen überdenkenswerten Vorwurf, indem er formuliert, dass die Macht als Diskurs auch oder erst von den Größen ihrer kritischen Analyse entfaltet wurde: »Doch woraus schöpft die Macht diese schlafwandlerische Funktionalität, diese unaufhaltsame Fähigkeit zur Sättigung des Raums? Wenn weder Sozialität noch Sexualität anders als von der Macht erschlossen und in Szene gesetzt existieren, vielleicht existiert dann die Macht auch nicht anders als vom Wissen (von der Theorie) erschlossen und in Szene gesetzt – und in diesem Fall ist es ratsam, das Ganze für Simulation zu nehmen und diesen allzu perfekten Spiegel umzukehren [...].« (Baudrillard 1992)

Nun, wo endlich die Simulation ins Spiel kommt und die Macht nur noch als hohler Schein gilt, ist es ratsam, noch einmal genau zu trennen. Dass das Verhältnis zwischen Knecht und Herr in Hegels Beispiel reziprok und der Herr nur so lange mächtig ist, wie der Knecht die symbolische Ordnung akzeptiert (und unter Umständen für wahr und richtig hält), dass also jedes Herrschafts- und Machtverhältnis auf einer ideellen Basis der Zustimmung (und auf Waffengewalt) basiert, wird auch Foucault schon begriffen haben. Baudrillard muss folglich, um seinen Simulationsansatz vom einfachen Modell einer nur geglaubten Ordnung abzugrenzen, eine historische Marke setzen. Dieser Zusammenhang verdichtet sich im Begriff des Realen. Wenn dieser in seiner Negation nur beschreiben würde, das gesellschaftliche Strukturen auf einer symbolischen Ordnung basieren und somit nie real und immer nur »geglaubt« seien, dann wäre der Begriff so banal wie konturlos. Am Ende wäre nichts, was in irgendeiner Verbindung zu Macht, Herrschaft und Ordnung steht, real. Zudem hatte Baudrillard an anderer Stelle längst zugestanden, dass das Reale, auch die reale Macht, im »klassischen Zeitalter« tatsächlich existiert habe und das von Foucault beschriebene Tableau für diese Geschichte ins Schwarze trifft. Vielleicht ist es deshalb ratsam, Baudrillards Angriff auf Analysen der Macht als postmodernen Beissreflex zu interpretieren und sich dem Transformationsprozess anzunähern, der dem Simulationsmodell Kontur verleiht.

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Dies hat schließlich zu Folge, das wir die Macht doch nicht ganz vergessen können, wie es Baudrillard an anderer Stelle fordert: »Wenn die Macht sich zum Wunsch begibt und der Wunsch zur Macht, sollten wir beide vergessen.« (Baudrillard 1983: 23) Er selbst hat, durchaus inkonsequent, auch nicht aufgehört, von ihr zu sprechen. Und die eingangs gestellte Frage, ob die Macht total oder am Ende sei, lässt sich nicht beantworten. In dem Moment, wo sie zum Wunsch gekommen ist (und diese These Baudrillards ist in der neoliberalen Zeit der Abschöpfung des Selbst als Ressource durchaus plausibel) und die Disziplinen (zum Teil) hinter sich gelassen hat, ist sie tatsächlich breiter und intensiver; ein Stück weit total. Ihr mögliches Ende im Moment ihrer simulativen Verdopplung wird noch zur Debatte stehen.2

Die Macht als Simulationsraum Zunächst muss vorweggenommen werden, dass jeder Versuch, Baudrillards zirkuläres Denken linear zu fassen und als stichhaltige Ergänzung und Korrektur zu Foucault zu lesen, den Cheftheoretiker der Simulation auf die Barrikaden gebracht hätte. Baudrillard für eine treffsichere Analytik der (Simulations-) Macht nutzbar zu machen, wäre selbst Baustein der Macht und müsse konsequent dem Vergessen überantwortet werden. Doch dass es zu nichts führt, die Macht einfach zu vergessen und vor allem nicht darüber zu sprechen, hat die Konsequenz, dennoch, trotz aller Widersprüche, an einer Analyse von Machtstrukturen festzuhalten – in der Hoffnung, irgendwer kann irgendwann daraus Kapital schlagen. Wenn Baudrillard weiterhin von Macht spricht und die Assoziationswelt Foucaults kritisiert, dann nimmt er vieles von dem vorweg, was Foucault später gegen seinen eigenen Methodenapparat wenden wird. Baudrillard hat erkannt, dass die Machtkonzeption, wie sie in Überwachen und Strafen aufgebaut wird, in eine Sackgasse führt. Wenn die Macht omnipräsent ist und alle möglichen Sprachfelder bis ins kleinste Detail sättigt, dann ist es weder möglich, über sie kritisch zu schreiben, noch Widerstand zu leisten. »Damit befinden wir uns in einem erfüllten Universum, einem von der Macht überstrahlten Raum.« (Baudrillard 1983: 44f.) Dennoch

2

In Oublier Foucault wird Baudrillard gegen Ende des Buchs noch den Einsatz Todes, die totale Herausforderung als Widerstand gegen die Macht einklagen. Das Soziale ist als strategisches Modell immer schon Macht selbst gewesen, oder besser: von der Macht installiert. Die totale Konfrontation treibt die Macht an ihre Grenzen, wo sie sich zugleich auflöst. Es geht für Baudrillard folglich nicht mehr um taktische oder strategische Spiele, um Verschiebungen und politische Kämpfe. Man müsse die Macht im Ganzen herausfordern. Da der Text der Idee anhängt, Baudrillards Simulationsmodell mit Foucault zu denken, wurde diese Argumentationslinie ausgespart (vgl. Baudrillard 1983: 65 ff.).

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bleibt die Welt in Bewegung und es wird über die Macht gesprochen. Dies führt Baudrillard zur Einsicht, dass die Macht nicht alles anordnet und produziert und »in ihrer Form umkehrbar ist.« (Baudrillard 1983: 51) Foucault wird diese Vorstellung später in ähnlicher Weise entfalten und nur noch von Machtverhältnissen sprechen, die freie Subjekte voraussetzen (vgl. Foucault 1985: 19). Doch die Konvergenzen sind nur oberflächlich. Während Foucault die Macht als offene Konstellation neu konzipiert (und von Herrschaftsverhältnissen trennt), entlarvt Baudrillard sie als »Trug«, als reine Vorstellung und Simulation. Für ihn geht der gesamte Machtdiskurs in die Falle eines Realitätsprinzips. Die Macht produziert nichts Reales, sie ist nur ein trügerischer und deshalb umkehrbarer Zusammenhang. Wieder steuert Baudrillard zielsicher auf das gleiche Problem zu, welches weiter oben schon angedeutet wurde. Wenn die Macht per se, ohne historische Verortung, ein trügerisches Bild, weil nur ein Diskurs, eine Art und Weise des Sprechens ist, dann sagt uns Baudrillard wenig Neues. Foucault selbst bindet die Wirkung der Macht an spezifisches und historisch veränderbares Wissen. Nur über das Wissen von sich, der Welt sowie gut und böse etablieren sich Strukturen von Macht und Herrschaft. Dieses Wissen ist selbstverständlich nicht absolut und gegenständlich. Baudrillards Vorwurf, die Macht sei nur ein Trugbild, eine Repräsentation im Kopf, ist so gesehen ein alter Hut. Doch wenden wir den Blick wieder auf historische Geschehnisse, auf jenen (schwer zu fixierenden) Transformationsprozess, an dessen Grenze Foucault schreibt. Nun zeichnet sich ab, worauf Baudrillard hinaus will. Er paraphrasiert Foucault treffend: »Ein Diskurs ist ein Diskurs, aber seine Funktionsweisen, Strategien und Machenschaften sind doch real: die hysterische Frau, die perverse Erwachsene, das onanierende Kind, die ödipale Familie: reale historische Anordnungen, [...] Und tatsächlich, es hat sie einmal gegeben.« (Baudrillard 1983: 17)

Die spezifischen Macht-Wissenskomplexe, so könnte man Baudrillard verstehen, haben im klassischen Zeitalter eine tatsächliche Beziehung zu realen Körpern und Subjekten unterhalten. Diese waren einer straffen Disziplinierung und Anordnung unterworfen. Die Ebene der Repräsentation, das Zeichen als kodifiziertes Wissen hatte ein Signifikat, einen Körper als Pendant und die »Einübung« (Foucault) des Wissens war eine reale weil physische und konfrontative Praxis. Doch das 19. Jahrhundert ist zu Ende und die Dinge haben sich geändert. Die Loslösung des Zeichens vom Gegenstand (und damit der Macht vom Realen) ist komplex und vielschichtig. Sie lässt sich vielleicht am Beispiel, an einer Lokalisierung der Wissensproduktion veranschaulichen. Während noch im 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) Schule, Fabrik und Familie u.a. reale Orte der Übersetzung von Wissen in Macht waren, wo

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(um im Bild zu bleiben) das masturbierende Kind und die hysterische Frau diszipliniert und das Dispositiv der Sexualität produziert wurden und wo noch konkrete Interaktionen das Machtfeld sättigten und Wissen transportierten, hat sich mittlerweile die Wissensproduktion von jedem realen Ort gelöst. Massenmediale Zeichen und Codes haben das Terrain erobert und zugleich die auf Körper und Subjekt fokussierte Mikro-Macht verdrängt. Das pubertäre Kind wird kaum noch im realen Kontakt, in einer face-toface-Situation sein Wissen über die Sexualität ordnen oder gar dazu gezwungen werden. Diese Aufgabe haben Medien wie die Bravo oder Aufklärungsfilme übernommen. Mehr noch: Das gesamte Feld des Politischen formiert sich über massenmediale Repräsentationen, über Zeichen. Mann könnte es auch als (neuen) Ort von Problematisierungen auffassen. Nicht reale, sicht- und wahrnehmbare Konflikte werden zu politischen Themen und zugleich problematisiert, sondern jene (kalten) »Ereignisse«, die als unendlich vervielfachte Zeichen von Bedeutung die Wohnzimmer erreichen. Diese Transformation ist keine banale Verschiebung der Agenten des Wissens. Die Bedeutung massenmedialer Kommunikation (ob als Popkultur, StudiVZ, Tagesschau oder Werbetafeln) als die Instanz politischer, individualisierender und subjektivierender Wissensvermittlung ist schwer in Frage zu stellen. Die radikalen Konsequenzen, die Baudrillard konstatiert, nämlich dass nichts jenseits spezifischer Codierungen gilt, dass das Reale simulativ verdoppelt und damit bedeutungslos wurde und die politischen Kämpfe (sofern vorhanden) nur noch dissimulativ3 das trügerische Realitätsprinzip zu retten vorgaukeln, sind es wert, bedacht zu werden. Was Baudrillard schon in den siebziger Jahren formulierte, scheint mittlerweile angesichts der Bedeutung von Zeichen und Information durchzusickern. Der reale Zeit/Raum (des Urbanen), dessen Assoziationen und Konflikte auf dem wirklichen Terrain des ökonomischen und sozialen Austauschs ihre Referenz fanden, hat keine Bedeutung mehr: »Heute ist zwar die Fabrik als Modell der Vergesellschaftung durch das Kapital nicht verschwunden, aber in der allgemeinen Strategie tritt sie ihren Platz ab an die gesamte Stadt als Raum des Codes. Die Matix des Urbanen ist nicht mehr die der Realisierung einer Kraft (der Arbeitskraft), sondern die der Realisierung einer Differenz (der Operation des Zeichens).« (Baudrillard 1978: 20)

Die selbstzweckhafte und beliebige Reproduktion der Zeichenökonomie, der Wert von Information und Codierung hat dem Realen längst den Rang abgelaufen. Die Bezugspunkte sozialer Kontakte (z.B. communities) und politischer Konflikte sind simulativ weil zeichengesteuert. Ihr Bodensatz ist die massenmediale Information. Folglich ist nur das politisch von Be3

Dissimulation: Verkleidung, Maskierung, Verstellung, Schein, Verheimlichung

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lang, »was heute diese Semiokratie4, diese Form des Wertgesetzes attackiert.« (Baudrillard 1978: 23) Abschließend soll angedeutet werden, dass es für Gegenwartsanalysen sinnvoll wäre, beide Autoren, beide Diskurse zu verbinden. Dieser Versuch bleibt eine Andeutung, von der Idee getragen, Anknüpfungspunkte zu setzen. Foucaults Konzept des Macht/Wissens hat tatsächlich eine Schwachstelle: die Frage der Transformation von Wissen in Macht. (Man könnte es auch als Frage der Quellen darstellen.) Wie kommt es, dass produziertes Wissen beim (oder besser im) Subjekt landet und entsprechende Wirkungen hervorruft? Die Schlagkraft der Wissenschaft in den Ring zu schicken, wie es Foucault für die Geschichte (jedenfalls zumeist) getan hat, wird wenig bringen. Selbst für das »klassische Zeitalter« ist der Zusammenhang von Wissenschaft und Machtstruktur umstritten.5 Für die Gegenwart taugt er sicherlich kaum. An diesem Punkt ist es sinnvoll, Baudrillards Perspektive aufzunehmen und die massenmediale Kommunikation als Ankerpunkt von Macht/ Wissen zu installieren – mit allen Konsequenzen. Die Medien (Fernsehen, Radio, Zeitungen, Werbung etc.) produzieren Zeichen, Codes und Bilder, die schließlich politisches und alltägliches Wissen strukturieren. Dabei geht die Trennung von Fiktion und Realität verloren, oder besser gesagt sie wird in der Anordnung simulativer Bilder irrelevant. (Genauso wie Gary Cooper real sein könnte, könnte Columbus ein Film sein.) Die Medien übertragen nicht reale Bilder, sie produzieren sie als simulativen Effekt, der nur scheinbar auf etwas Reales verweist. Als 2006 der Karikaturenstreit ausbrach, hat dieser weltweit für Aufregung gesorgt und politische Konflikte verschärft. Dabei treffen sich die Karikaturen und die brennenden Botschaften im hyperrealen Raum und können erst dort als Zeichen ins Spiel des Politischen eingreifen. Dies heißt nicht, dass die Botschaften gar nicht gebrannt hätten, doch politisch relevant wurde diese Tatsache erst als »kaltes Ereignis«, in ihrer simulativen Verdopplung und unendlichen Vervielfachung. Die Bilder sind in einem strengen Sinn referenzlos, da nicht das reale Ereignis von Belang ist, sondern das Zirkulieren der (beliebigen) Bilder und Informationen. Auch die Geschichte hat, seit Hayden White ihre Schriften als Fiktion überführte, kein Vetorecht mehr. Die Debatte um die deutschen Kriegsopfer zeigt dies aufschlussreich. Die simulativen Ereignisse der letzten Jahre6 haben »Geschichte gemacht« – oder besser simuliert. Mit einer histori-

4 5 6

Semiokratie: Zeichenherrschaft. Z. B. Sarasin (2001), Colin/Porter (1998) und Valverde (1998). Gemeint sind historische Dokumentationen (vor allem von Guido Knopp), Filme wie »Dresden«, »Der Untergang«, »Die Flut«, »Speer und Er« u. a. bis hin zu Günter Grass: Im Krebsgang.

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schen Faktendebatte wird man dem Wehklagen der restaurierten Nation nicht entgegentreten können, weil deren Basis selbst als simulative Rekonstruktion überführt und den einflussreichen medialen Kompositionen weit unterlegen bleiben wird. Was das Wir der »erfundenen Deutschen« (Der Spiegel) zusammenhält und konstituiert, ist nicht nur ein historisches Konstrukt. Die Referenzen sind simulativ. Die Nation ist ein hyperrealer Machteffekt, dessen Zeichenökonomie das Subjekt selbst anordnet. Dies stellt keineswegs nur eine Kritik instrumentalisierter Medien dar, die reformiert werden könnten. Die Struktur selbst ist das Problem, da sie konkrete und reale Kommunikationen unterbricht und das Moment der Wissensvermittlung als Botschaft vom Sender zum Empfänger organisiert. Diese hat keine Möglichkeit der Antwort. Ihr bleibt ein »feedback«, ein belangloses Kreuz als Antwort auf eine binäre Frage (Umfragen und Wahlen). Das ganze Spiel des Politischen ist in eine Ökonomie der Zeichen eingetreten, die sich gegeneinander austauschen und nur in Abgrenzung zueinander Sinn produzieren. Die viel diskutierte Protestkultur gegen den G8-Gipfel ist auf genau diese Weise sublimiert: Der Widerstand muss an allen Fronten symbolisch sein, um als Zeichen in der öffentlichen Arena wahrgenommen zu werden. Diese Form des Widerstandes ist nicht nur belanglos sondern systemimmanent. Sie protegiert die Semiokratie (ohne jemals eine tatsächliche Verschiebung von Bedeutungen hervorrufen zu können) statt sie anzugreifen. Das Simulationsmodell sollte man auch aus antikapitalistischer Pose ernst nehmen. Die simulative Wirkung der Zeichen ist dem Gegenstand vorgelagert, es geht nicht mehr um den realen Tausch von Waren, sondern um den symbolischen von Zeichen und Vorstellungswelten. Manche Waren sind vielleicht noch greifbar, ihre Bedeutung ist es längst nicht mehr. Der simulative Effekt, der Wert für Subjekt und Ego wird verkauft und das Produkt, der Gegenstand ist nur Mittel zum Zweck. Der Warenfetischismus hat neue Dimensionen erreicht und ist zugleich an einen Umkehrpunkt gelangt. Nicht mehr das Objekt selbst ist sein Ziel, sondern die simulativen Codes, die seine Bedeutung (und zugleich Individualität) formen. Die Werbewelt hat dies längst erkannt. Nicht das Auto wird verkauft, sondern Freiheit und nicht Axe, sondern Sex. Dass die Konsumenten sich nicht verwundert auf der Suche nach realer Freiheit und nach dem wirklich schönen Leben (was immer dies sein mag) die Augen reiben und stattdessen freudig Lebensstile konsumieren, verweist darauf, wie sehr das Subjekt selbst zur Simulation geworden ist; beziehungsweise dass das Wissen von sich und der Welt nur noch simulative Referenzen (Ratgeber, Nachrichten, Werbung etc.) aufweist. Sicher, die totale Simulation ist eine Übertreibung, da es beispielsweise noch immer einer Ordnung stiftenden Polizei bedarf. Doch diese Instanz realer Macht (und Gewalt) agiert nur noch an den Grenzen der Simulation und strahlt kaum auf Subjektivierungs- und politische Problematisierungs-

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prozesse aus. Dies unterscheidet sie grundlegend von jener Policey des 18. und 19. Jahrhunderts (und deren Wissenschaft). Mittlerweile hat das »team green« diesen Mangel an Einfluss erkannt und versucht verbissen, mittels Internetseiten (www.polizei-beratung.de) und Werbekampagnen im Spiel der Zeichen mitzumischen. Um es theoretisch zu formulieren: Dass Macht-Wissenskomplexe Gesellschaft strukturieren, steht außer Zweifel. (Es bleibt nötig, Foucault auf der Rechnung zu haben.) Nur Form und Instanz der Wissensproduktion und -vermittlung haben sich entscheidend geändert. Die Macht hat vermutlich eine weitere Spiralwindung durchlaufen (oder sie ist gerade dabei, dies zu tun). Ob das ihr Ende ist, mag bezweifelt werden. Diesen Transformationsprozess jedoch nicht zu registrieren und sich ans Reale (und die Realität des Politischen) zu klammern, führt schließlich dazu, der Simulation selbst auf den Leim zu gehen. Auch wenn der Vergleich von Foucault und Baudrillard am Ende nicht trägt, wenn Foucaults Gouvernementalitätskonzept und sein Spätwerk Teile der Kritik obsolet machen und die Totalität der Simulation eine schräge Idee Baudrillards bleibt, kann es dennoch zu neuen Einsichten führen, die verschiedenen begrifflichen Instrumente gemeinsam zu verwenden um die Macht in ihrer Funktionsweise zu sezieren und zugleich, neue Perspektiven widerständiger Praxis zur Diskussion zu stellen. Der Aufstand der Zeichen, die leeren Signifikanten der Graffiti-Bewegung, die Baudrillard als letzte Widerstandsbastion gegen die Zeichenherrschaft adelte, lassen sich nicht ohne Weiteres aktualisieren. Zwar durchbrechen sie temporär das bedeutungsgeladene Zeichensystem und irritieren den codierten Raum. Als zielgerichtetes Mittel des Widerstandes treten sie allerdings als sinnvolle Form ins Spiel der Zeichen ein und verlieren ihre irritierende Sprengkraft. Die Graffitis bleiben der Macht und dem System ein Dorn im Auge, dies zeigt das immer repressivere Vorgehen gegen sie. Für Widerstandskonzepte, die zwingend sinnig sind, haben sie wenig Bedeutung. Sie finden statt oder nicht. Im Moment ihrer politischen Instrumentalisierung büßen sie ihre Namenlosigkeit ein. Dennoch hat die Parole: »Schmiert alles voll!« mehr widerständiges Potenzial als jede Demo gegen die G8 oder Harz IV, da das wilde Schmieren sich schwer als sinnhaftes Zeichen sublimieren lässt – ganz anders als Bush-Masken und Merkel-Büsten. Schließlich bleibt zu konstatieren, dass – Baudrillard hin oder her – das Nachdenken über Widerstand die Perspektive der Simulation, der Zeichen, aufnehmen müsste, um nicht vollends zur Marginale degradiert zu werden. Was konkret zu tun wäre, ist eine andere Kanne Bier.

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Literatur Baudrillard, Jean (1978): Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen. Berlin: Merve Verlag. Baudrillard, Jean (1983): Oublier Foucault. München: Raben-Verlag. Baudrillard, Jean (1992): Von der Verführung. München: Matthes und Seitz. Deleuze, Gilles (1987): Foucault. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix (1995): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1975): Überwachen und Strafen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1976): Sexualität und Wahrheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucualt, Michel (1984): Der Wille zum Wissen. Band I, Sexualität und Wahrheit, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1985): Freiheit und Selbstsorge. Frankfurt/M.: Materialis-Verlag. Jones, Colin/Porter, Roy (1998): Reassessing Foucault. Power, medicine and the body. London: Routledge. Sarasin, Phiipp (2001): Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Valverde, Marianna (1998): Diseases of the Will: Alcohol and the Dilemmas of Freedom. Cambridge: Cambridge University Press. Žižek, Slavoj (2004): »The Ongoing soft Revolution«. Critical Inquiry 30, 2, http://criticalinquiry.uchicago.edu/issues/v30/30n2.Zizek.html [Zugriff am 05.07.2007]. Žižek, Slavoj (2005): Körperlose Organe. Bausteine einer Begegnung zwischen Deleuze und Lacan. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Analysen von Widerständigkeiten

Tempelbau als Widerstand? Überlegungen zum Begriff der Heterotopie URSULA RAO Im Stadtbild in Indien sind junge Tempel häufig eine Provokation. Sie sind in aller Regel illegal gebaut und entstehen nicht selten an Orten – wie verkehrsreichen Kreuzungen, Parks, in Vierteln von Andersgläubigen –, an denen sie leicht als Behinderung wahrgenommen werden können. Ihre Gründung stößt nicht selten auf den Widerstand von Staatsdienern, die Verwaltungshoheit über den öffentlichen Raum beanspruchen und illegale Tempel zu beseitigen versuchen. Die häufig in Nacht- und Nebelaktionen errichteten religiösen Gebäude konfrontieren Fantasien von einer modernen, geordneten, rationalisierten, sauberen Stadt. Sie verkörpern die Widerspenstigkeit von Subalternen, die hartnäckig an Traditionen festhalten und sie im Stadtraum durchsetzen. Gläubige verteidigen ihre Tempel als legitim. Sie bieten mit Erzählungen von göttlichen Selbstmanifestationen auf und verweisen auf die – von einem unsensiblen Staat ignorierten – Bedürfnisse von Gläubigen. Auf den folgenden Seiten werde ich diesen Konflikt um städtische Tempel analysieren und seine Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit herausarbeiten. Es ist kaum überraschend, dass sich Kategorien wie »Gläubige« und »Staat« dabei schnell auflösen. Wesentlicher noch erscheint mir, dass sich die Beschreibung von Tempelkonflikten jeder klaren Kategorisierung in einer Dichotomie von Macht und Widerstand entzieht. Macht und Widerstand werden zu fluktuierenden, punktuellen und ephemeren Positionen in einem komplexen Netzwerk relativer Über- und Unterordnung. Foucaults Begriff von Macht als Praxis der Machtausübung zeigt sich hier als äußerst hilfreiches Instrument für die Interpretation eines Konfliktkomplexes. Weniger fruchtbar dagegen ist Foucaults Bemühen, Widerstand räumlich im Konzept der Heterotopie zu fixieren. Während der Begriff der Heterotopie zunächst durchaus hilfreich erscheint, um Tempel auch im physi-

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schen Sinne als Orte des Widerstandes zu begreifen, so zeigt sich doch, dass Foucaults Entwurf der Heterotopie zu statisch ist, um die Wechselgestaltigkeit von Widerständigkeiten zu erfassen. Die Herausforderung dieses Artikels besteht somit darin, die Idee von einem festen, geographisch lokalisierbaren und damit fixen Ort der Widerständigkeit mit dem Gedanken der fluiden und wandelnden Praxen der Machtausübung in Beziehung zu setzen. Während ich dafür plädiere, Heterotopie als analytisches Konzept beizubehalten, argumentiere ich für eine offen Lesweise eines Konzepts, das in Foucaults Entwurf nicht nur unausgegoren, sondern auch widersprüchlich ist.

Von illegalen und legitimen Tempeln Mit dem Ziel eine Studie über die Rolle von Tempeln im urbanen Indien zu schreiben, begann ich meine Feldforschung1 in der mittelindischen Landeshauptstadt Bhopal mit einem Besuch beim Bauamt. Ich bat die Genehmigungsverfahren von Tempeln einsehen zu dürfen, um so einen Überblick über religiöse Gebäude in der Stadt zu erhalten. Die Stadtplaner reagierten abweisend. Nach einigem Nachhaken erfuhr ich den Grund. Es gab diese Unterlagen nicht. Nur ein einziger Tempel in der ganzen Stadt – er wurde von dem indischen Großindustriellen Birla gestiftet – war mit offizieller Genehmigung erbaut worden. Alle anderen Tempel begannen als illegale Schreine. Ich fand mich also auf der Straße wieder und zog von Nachbarschaft zu Nachbarschaft, um einen religiösen Stadtplan von Bhopal zu entwerfen. Die Anzahl von Tempeln war überwältigend. Und es war für mich als Novizin zunächst schwer zu verstehen, dass diese alle illegal entstanden sein sollten. Die Fragen nach dem Wie und Warum verwickelte mich in Geschichten über den Willen und die Handlungsmacht von Göttern. Informanten meditierten über die Bedeutung von Religion in der modernen Gesellschaft und erklärten mir die Konflikte zwischen religiösen Gruppen. Ich begegnete der Unterscheidung zwischen ›echter‹ Spiritualität und politisch motivierter Manipulation von Religion und lernte nach und nach eine Vielzahl von Gruppen unterscheiden, die im Namen von Religion um begrenzten urbanen Raum konkurrieren (Rao 2003b). Das Eindringen in die Tiefe von Fallstudien wurde für mich zur einzigen Möglichkeit, der Komplexität der sich hier entfaltenden Praxis der Raumaneignung gerecht zu werden. Zwei Beispiele dienen mir im Folgenden als Mittel, um in eine Diskussion über Macht und Widerstand einzusteigen. Es handelt sich um zwei Altstadttempel – geweiht den Göttinnen Kali und Durga –, deren Geschichte von sozialer Solidarität und städti1

Die Daten entstammen einer sechzehnmonatigen Feldforschung, die ich in den Jahren 1996 bis 2002 unternommen habe.

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schem Konflikt spricht. Ich beginne mit einer kurzen Rekapitulation der Gründungsgeschichte, bevor ich die jeweiligen sozialen Kontexte einführe und die beiden Fallstudien vergleiche. Der Vergleich wird zum Ausgangspunkt für eine Diskussion mit Foucaults Begriff von Macht und Widerstand, die in eine Re-Fokussierung des Begriffs der Heterotopie mündet.

Kastensolidarität im Kali-Tempel Am Ufer des kleinen Sees am Rande der Altstadt von Bhopal befindet sich ein ständig wachsender stark frequentierter Kali-Tempel. Seine Gründung erfolgte in einer Nacht- und Nebelaktion im Jahr 1968, als Mitglieder der lokalen Kastengruppe der Khatiks2 illegal die Göttin installierten. Der Zeitpunkt der Gründung war geschickt gewählt. Es war die letzte Nacht vor dem Ende eines beliebten Festes zu Ehren des Gottes Ganesha. Am nächsten Tag würden unzählige von Prozessionen an dem neuen Tempel vorbeiziehen, um provisorische Ganesha-Schreine im See zu versenken. Der neue Kali-Tempel würde dabei von einer großen Anzahl Gläubiger gesehen und sofort berühmt, was es der Stadtverwaltung schwer machen würde, gegen die illegale Landbesetzung einzuschreiten. Die Rechnung ging auf. Die Stadtverwaltung protestierte, aber unternahm nichts, denn sie musste befürchten, dass es zu massivem Protest kommen würde. Erst im Jahr 1986 als der Schrein in einer großen Halle eingefasst wurde, kam es zur Konfrontation. Die Stadtverwaltung kündigte schriftlich an, die illegale Konstruktion einzureißen. Die Khatiks nahmen diese Drohung sehr ernst und mobilisierten in einer dramatischen Aktion höchste politische Amtsträger, die für sie bei der Verwaltung intervenierten. Daraufhin wurde die Halle abgesegnet und die gesamte Tempelanlage legalisiert. Von diesem Zeitpunkt an hörte der Tempel nicht mehr auf zu wachsen und ist heute einer der imposantesten Tempelbauten in der Stadt. Obwohl der Tempel für alle offen ist und Menschen aus der ganzen Stadt anzieht, bleibt er doch eng mit der ihn verwaltenden Kaste verbunden. Khatiks nutzen den Raum für ihre jahreszyklischen Kastenfeste sowie für Hochzeitsfeierlichkeiten. Der Tempel ist auch ein informeller Treffpunkt für Khatiks. In einer Zeit, in der aufgrund fortschreitender Urbanisierung, Modernisierung und Klassenausdifferenzierung Kastenmitglieder nicht mehr zusammen in ihrem traditionellen Stadtviertel wohnen, ist der Tempel zum sozialen Zentrum und symbolischen Abbild der Kaste geworden. Schließlich ist der Tempel Katalysator in einem landesweiten Vereinigungsprozess. Er beheimatet überregionale Khatik-Veranstaltungen, die es den vielen verschiedenen lokalen Khatik-Gruppen im Lande ermöglichen, sich als Gemeinschaft zu erleben und damit als Einheit zu erfinden. 2

Der traditionelle Beruf der Khatiks ist der Handel mit Fleisch, Obst und Gemüse. Sie sind als Scheduled Caste registriert und gehören damit zur Gruppe der ehemals Unberührbaren.

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Als Ort für die Produktion von Khatik-Solidarität ist der Tempel zugleich ein Symbol für die Neuerfindung und Repositionierung der Kaste im urbanen Umfeld. Als ehemalige Unberührbare sind Khatiks vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt. Der über die Maßen beliebte Tempel positioniert Khatiks symbolisch – ganz entgegen ihrer traditionellen Rolle am Rand der Hindugesellschaft – nun zum ersten Mal im Zentrum eines im Wachsen begriffenen populären Hinduismus. Auch wenn das die soziale Position Einzelner nicht unmittelbar oder radikal verändert, ist im Tempel doch ein Ort entstanden, der es Khatiks ermöglicht, stolz auf ihre Kaste und deren Errungenschaften zu sein (Rao 2002).

Politischer Hinduismus und der Durga-Tempel Die Gründung des Durga-Tempels im Jahr 1982 im Herzen eines stark von Muslimen geprägten Teils der Altstadt war hoch dramatisch. Die Ereignisse waren von einer Gruppe lokaler Händler gut vorbereitet. Sie nutzten die Zeit des jährlichen Göttinnen Festes (navratri) dazu, im Zentrum der größten Straßenkreuzung von Alt-Bhopal statt eines provisorischen Schreins – wie es üblich war – einen festen Tempel zu installieren. Zwei Gründe machten den Tempel für die Stadtverwaltung an dieser Stelle absolut inakzeptabel. Erstens drohte er für religiöse Spannungen in einem von Muslimen dominierten Viertel zu sorgen. Zweitens verstopfte er die neue Verkehrsader, die gerade erst durch den Abriss mehrerer Häuser – die Muslims gehört hatten – entstanden war. Der Leiter der Stadtverwaltung war entschlossen einzugreifen, wartete aber bis zum Ende des zehntägigen Festes. Dann ließ er den Tempel in der Nacht einreißen und die Göttin von einem Priester evakuieren. Hindus antworteten am nächsten Tag mit massiven Protesten. Die Stadtverwaltung befürchtete Ausschreitungen, verhängte eine Ausgangssperre und setzte sie mit harter Polizeigewalt durch. Es folgten zähe Verhandlungen zwischen Stadtverwaltung, Polizei, Hindus und Muslimen, die schließlich zu der Einigung führten, dass der Tempel neu an einem Rand der Kreuzung erbaut werden durfte. Der Tempel wurde in aller Pracht (und größer als eigentlich verabredet) in Marmor errichtet. Er ragt heute als Zeichen von Hindusolidarität deutlich im Zentrum der Stadt heraus (Durga erhielt hier den zusätzlichen Namen: »Göttin der Ausgangssperre«). Es ist allgemein bekannt, dass der Bau von jenen politischen Kräften befördert wurde, die die Marginalisierung von Muslimen im gegenwärtigen Indien betreiben. Der Tempelbau hat sich für sie ausgezahlt. Die neue Verehrungsstätte hat nicht nur die Präsenz von gläubigen Hindus in der Altstadt erhöht, sondern den Innenstadtbereich dramatisch verändert (mehr Details finden sich in Rao 2007). Der früher als Freizeittreff von Muslimen bekannte Platz ist heute der Ort mit den größten und meisten Hindufesten; die Teegeschäfte um den Tempel sind zum beliebten Treffpunkt der politischen Hindu Rechten gewor-

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den; unzählige Protestveranstaltungen mit hindufundamentalistischem Inhalt finden auf der Kreuzung statt, die heute einen neuen hinduistischen Namen trägt. Es scheint, als würde auch der Häusermarkt um den Tempel zunehmend von Hindus dominiert. Ähnlich wie auch im Falle des KaliTempels führten der Bau und die Ausgestaltung des Durga-Tempels zur Neuverhandlung eines urbanen Hinduismus. In diesem Fall handelt es sich jedoch nicht um die Repositionierung einer Kastengruppe, sondern um die Stärkung der politischen Rechten, die das Heil Indiens in der Hinduisierung der Nation sieht. Ihr Ansinnen ist im Durga-Tempel und seiner Geschichte symbolisch dokumentiert.

Von Macht und Widerstand im Stadtraum Schon diese kurze Zusammenfassung veranschaulicht, dass Tempel in eine Vielzahl verschiedener sozialer Prozesse eingebunden sind, die aufeinander wirken. Als Projekte sind sie politisch, sozial und religiös. Sie sind beteiligt an einer Repositionierung von Kaste, der Reformulierung eines städtischen Hinduismus und der Veränderung von Klassendynamiken. Sie berühren das Verhältnis von Hindus und Muslimen sowie von Staat und Bevölkerung. Dieser letzte Aspekt scheint mir hier besonders relevant, thematisiert er doch direkt die Frage nach dem Machtgleichgewicht in einem postkolonialen Staat. Was beide Tempel verbindet – und was sie mit allen anderen gemein haben – ist ihre illegale Gründung. Der Gründungsakt war dabei keinesfalls naiv. Im Gegenteil waren die Parteien nicht nur bestens über die rechtliche Situation informiert. Protest von Seiten der Machthaber wurde antizipiert und im Keim erstickt. Obwohl die Tempelgründer bewusst das Gesetz brachen, sahen sie sich doch im Recht und positionierten sich in einer Widerstandshaltung. Sie handelten gegen eine aus ihrer Sicht bevölkerungsfeindliche Vorschrift. Ein Hindu-Aktivist formulierte: »Illegal oder legal, man kann machen was man will, sie geben einem nie eine Genehmigung. Wie kann man einen legalen Tempel bauen? Alle Tempel sind aus den Bedürfnissen der Menschen heraus entstanden.« Auf der anderen Seite positionieren sich Verwaltungsbeamte. Sie wittern politische und wirtschaftliche Motive hinter den Tempelprojekten und bekämpfen manipulierende politische Akteure, die aus egoistischen Motiven heraus Unruhe stiften und sich illegal Land aneignen. Der damalige Polizeichef von Bhopal brachte es so auf den Punkt. »This [Kali-Temple] is an illegal construction, a typical case of land-grabbing. People do this to get power and earn money. This is not the right type of temple [...] 99% of the temples are constructed illegally [...]. The people don’t build houses but temples because they know that in this case no one can do anything against it and they can simultaneously earn money with it. Behind the shrine they can build their house in peace. All this happens because people are uneducated.«

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Die Aneignung des Konflikts als Widerstreit zwischen zwei stereotypen kollektiven Akteuren ist nicht die Klassifikation einer außerhalb des Konflikts positionierten Sozialwissenschaftlerin, sondern eine im Konflikt selber generierte Differenzierung, die das Handeln von involvierten Individuen prägt. Der Konflikt erscheint klar und übersichtlich vor einer Folie, die gläubige Hindus und säkulare Administration als eindeutige Gegner darstellt. Der Staat sei unsensibel gegenüber den religiösen Anliegen der Bevölkerung und zwinge die Gläubigen dazu, den Bau von Verehrungsstätten gegen die Stadtplaner durchzusetzen. Tempel sind nicht nur wichtige religiöse Institutionen, sondern auch soziale Einheiten, die hier z.B. Kastensolidarität stärken und Hindus repräsentieren. Entgegen dieser Sichtweise entwerfen Stadtplaner ihre Träume von einer übersichtlichen, klaren, planbaren Stadt. Sie sehen Religion als Privatsache und kämpfen für die Überwindung von ›traditionellen‹ Loyalitäten. Sie plagt vor allem die Sorge von inter-religiösen Konflikten. Schließlich sehen sie die Notwendigkeit der Planbarkeit von Infrastruktur in den schnell wachsenden Städten. Ein Blick auf die Praxis lässt diese durch eine dichotome Klassifikation gewonnene Übersichtlichkeit schnell verschwinden. Tempelbauer wissen, dass die Administration ein von Individuen bevölkertes kompliziertes Machtnetzwerk ist, in das sie eingreifen können. So sind die Erzählungen der Tempelgeschichten mit Anekdoten über politische Manipulation gespickt. Die Gründungsväter des Kali-Tempels berichten von der Unterstützung, die sie gleich im Jahr 1968 von der lokalen Polizei erhielten, die protestierende muslimische Nachbarn abwimmelte. Sie können zudem eine ganze Reihe von einflussreichen Politikern aufzählen, die sich ihr Anliegen zu Eigen gemacht haben. Nur so ist zu erklären, dass der Tempel schließlich legalisiert wurde. Ähnliches gilt auch für den DurgaTempel. Der Bau war geschickt geplant. Nicht nur fand der Gründungsakt zur Zeit eines wichtigen Hindu-Festes statt. Auch das Jahr war bewusst gewählt. 1982 waren sowohl der Chef der Stadtverwaltung, als auch der Chef der städtischen Polizei neu im Amt. Dies veranlasste die Tempelbauer zur Einschätzung, dass die relevanten staatlichen Organe in einer schwachen Ausgangsposition seien und wahrscheinlich nicht das nötige Durchsetzungsvermögen hätten, effektiv eingreifen zu können. Alle folgenden Anbauten an den Tempel waren von Lobbyarbeit bei jenen Mitarbeitern der Stadtverwaltung begleitet, die als Sympathisanten von HinduAnliegen gelten. Auch Beamte weichen ihre Position auf, wenn es um konkrete Details geht. Sie schätzen Religion oder sind selber religiös und vermögen anzuerkennen, dass Tempel wichtige Funktionen übernehmen. In Tempeln wird für die Armen gesorgt, Menschen finden Trost und Stärke, Arbeitslose werden absorbiert, Jugendliche diszipliniert, Reisende und Pilger finden Unterkunft. Die Anerkennung dieser Funktionen religiöser Institutionen veranlasst sie manchmal zu Akten, die kaum zur Ideologie vom säkularen

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Staat passen. Eindringlich ist der Fall des Stadtverwalters von Ujjain.3 Nach einer Massenpanik im berühmten Shiva-Tempel, die über fünfzig Todesopfer forderte, ordnete er eine komplette Reorganisation des Tempels an. Er ließ Sicherheitspersonal postieren, montierte Kameras und Bildschirme und installierte Geländer für die Organisation von Warteschlangen. Als er hörte, dass unter Gläubigen das Gerücht kursierte, der Unfall sei ein Zeichen von Shivas Wut, der im Zorn über den Verfall des silbernen Yantras (magisches Diagramm) im inneren Heiligtum gehandelt habe, beschloss er, dieses restaurieren zu lassen. Dafür spendete er selber ein Kilo Silber und ermutigte alle seine Mitarbeiter, es ihm nachzutun. Er unternahm diese Maßnahme nicht aus persönlichem Glauben, sondern weil er es als seine Pflicht ansah, die Glaubensvorstellungen der Menschen in seiner Stadt ernst zu nehmen. Diese Einsicht in Handlungspraktiken veranschaulicht, was Foucault (1978 [1976]; 1999) theoretisch auf den Punkt gebracht hat. Macht ist ein Aushandlungsprodukt. Macht ist nicht an einem Ort in einer Struktur lokalisiert und sie kann nicht besessen werden, sondern manifestiert sich in der Praxis von Beziehungen. Was von den involvierten Akteuren theoretisch als Dichotomie von Macht und Widerstand, Staat gegen Bevölkerung oder Bevölkerung gegen Staat konstruiert wird, wird von den eigentlichen Handlungen unterlaufen. Menschen wenden sich komplexen Beziehungsnetzwerken zu und bemühen sich, sie in ihrem Sinne zu manipulieren. Macht und Widerstand lösen sich als Gegensätze auf. Macht, die sich in Beziehungen manifestiert, beinhaltet immer schon Widerstand. »Where there is power, there is resistance, and yet, or rather consequently, their resistance is never in a position of exteriority in relation to power. … [P]oints of resistance are present everywhere in the power network. Hence there is no single locus of great Refusal, no soul of revolt, source of all rebellions, or pure law of the revolutionary.« (Foucault 1978 [1976]: 95f.)

Foucault hält hier am Begriff des Widerstandes fest, löst ihn aber heraus aus einer monumentalen Dichotomie. Widerstand erscheint genauso wie Macht pulverisiert. Er besteht aus unzähligen kleinen Akten des NeinSagens, Nicht-Tuns, Vermeidens, Ignorierens, Opponierens (siehe auch Lüdtke 1991). So betrachtet ist Widerstand auch nicht mehr klar einer Akteursgruppe zuzuordnen, sondern ein an vielen Stellen im Machtgefüge platziertes Verhalten. Dies zeigt sich sehr deutlich an unserem Fallbeispiel. Macht und Widerstand sind Spielvarianten in einem Aushandlungsprozess. Im Tempelkonflikt überschneiden sich verschiedene dichotom organisierte Narrative mit Praktiken, die diese nutzen oder unterlaufen. Beginnen wir noch einmal mit dem Gegensatz von Staat und Bevölkerung. Er kennt 3

Ujjain ist ein berühmter Pilgerort in Madhya Pradesh, der jährlich von tausenden von Hindu-Pilgern besucht wird.

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drei Varianten. In der ersten Variante erscheint der Konflikt als eine Konfrontation zwischen einem totalisierenden Staat und einer widerständigen Bevölkerung. Modernisierung und Säkularisierung gelten als Instrumente, um eine gläubige Bevölkerung zu entmündigen und entmachten. Hindus sind gezwungen Gesetze zu brechen, wollen sie eine angemessene Beheimatung ihrer Götter in der Lebensumwelt sicherstellen. Götter haben in dieser Version ein Eigenleben. Sie manifestieren sich auch ohne menschliches Eingreifen. Göttliche Akte sind der Macht des Staates entzogen und stehen klar über der Staatsgewalt (vergleiche zum Beispiel Miller 1987; Nandy 1988). Eine zweite Variante erklärt den Staat zum Widerständigen gegen eine ungebildete Bevölkerung. Der Staat verkörpert den höheren Wert von Recht und Ordnung. Recht und Ordnung sind Kernstücke eines Modernisierungsideals, das Fortschritt, Frieden und Wohlstand verspricht, in einem multi-religiösen Land, das sich in einer ›Aufholjagd‹ mit dem Westen befindet. Religion muss zur Privatsache werden, um sozialen Frieden zu sichern. Die Vorstellung von aktiven Göttern gilt hier als ›Aberglaube‹, den es durch Bildung zu beseitigen gilt (Chakrabarty 1990; siehe auch Rao 2003a). Eine letzte Variante fokussiert die Beziehung zwischen Hindus und Muslimen. Alle ›säkularen‹ Kräfte werden aufgefordert, sich gegen die Fundamentalisierung von Religion zu wehren. Die Dringlichkeit dieses Handelns lässt sich am Beispiel des Durga-Tempels besonders eindrücklich darstellen. Die Marginalisierung von Muslimen im Zentrum von Bhopal ist Teil eines politischen Projektes der Hinduisierung von Stadt, Land und Nation. Radikale Hindus transformieren den Ausdruck religiöser Verehrung in politisches Kapital für ein bestimmtes ideologisches Projekt.4 Der Staat widersteht dieser Tendenz. Er deeskaliert die Situation, vermittelt und erzwingt einen Kompromiss (Engineer 1985, siehe auch Rao 2003a). Die Rede vom notwendigen Widerstand gegen einen unsensiblen Staat, böse Muslime, fanatische Hindus, zynische Politiker oder ungebildetes Lumpenproletariat, ist das ideologische Rüstzeug, das eine widersprüchliche und unübersichtliche Praxis ordnet. Die wertenden Zuordnungen geben dem Handeln Deckung, legitimieren es, machen es als rationales erkennbar und verschleiern dabei zugleich die eigenen Manipulationsakte. Sie verdecken die Überschneidungen in den Netzwerken von ›Machthabern‹ und ›Widerständigen‹, sowie Ähnlichkeiten im Machtgehabe, die Parallelität der Mittel und die kompromisslose Selbstbezogenheit aller Beteiligten. 4

Das Durga-Tempel-Projekt lässt sich hier durchaus als eine lokale Variante dessen interpretieren, was in Ayodhya mit massiver Unterstützung nationaler politischer Gruppen und Parteien durchgesetzt wird (Nandy 1995; Rajagopal 1995; van de Veer 1994.)

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Weiteres Eindringen in die Details der Praxis unterläuft diese Rechtfertigungspraxis, die versucht durch trennscharfe Klassifikationen die Anderen ins Unrecht zu setzen. Der naive unterdrückte Gläubige ist genauso eine Schimäre wie der aufgeklärte, rationale Beamte. In den Akten ahmen sie sich gegenseitig nach. Alle werfen ihr ganzes soziales Gewicht in die Waagschale, um Tatsachen zu schaffen, die ihrem Weltbild und ihren Interessen entsprechen. Gläubige erzwingen sich Vorteile. Sie planen Tempel in einer Weise, die den Abriss praktisch unmöglich macht. Tempel werden nicht nur heimlich und im Dunkeln erbaut. Bereits im Vorfeld findet eine Radikalisierung bestimmter Anhängergruppen statt, die für öffentlichen Protest dann jederzeit bereit stehen. Behörden auf der anderen Seite ignorieren Bitten um die Berücksichtigung religiöser Anliegen im Bauplan mit der Begründung, dass es längst viel zu viele Tempel gebe. Sie vernachlässigen dabei bewusst soziale Dynamiken, die neue religiöse ›Bedürfnisse‹ erzeugen. Auch die Provokation einer religiösen Gruppe durch eine andere hat eine lange Geschichte. In Bhopal besteht ein regelrechtes Wettrennen zwischen Hindus und Muslimen darin, wer mehr, größere und höhere Gebetshäuser hat. Jede dieser Gruppen zerfällt in Subgruppen und Individuen, die sich über imaginäre Gruppengrenzen hinweg als mit den ›anderen‹ solidarisch zeigen. Sie sind verstrickt in Führerschaftskonflikte und ideologische Kämpfe. Die Gründung und der Bau des Kali-Tempels sind begleitet von einem Konflikt zwischen verschiedenen erfolgreichen Khatiks, die um die Führerschaft in der Kaste kämpfen. Sie nutzen den Tempel, um sich kastenintern als einzige effektive und legitime Führer zu behaupten. Muslime aus der Nachbarschaft des Kali-Tempels unterhalten enge Kontakte zu Khatiks. Sie sind miteinander in Handelsnetzwerke verstrickt. In privaten Gesprächen zeigen sie sich oft solidarisch mit Khatiks, auch wenn sie im Falle des Tempels nach außen einen Hindu-Muslim Konflikt darstellen. Muslimische Jugendliche nutzen den Tempel, um sich dort mit ihren Altersgenossen von der Khatik-Kaste zu treffen. Khatiks nehmen gerne die Hilfe von hochrangigen Politikern der Hindu Rechten an und ignorieren dabei geflissentlich, dass sie ihnen damit in die Hände spielen. Öffentlich zeigen sie sich weiterhin als Anhänger der Kongress Partei, als der einzigen Kraft im Land, die ein friedliches Zusammenleben zwischen Hindus und Muslimen garantieren könne. Auch die Beziehung zum Staat ist ambivalent. Durch die Reservierungspolitik für ehemals Unberührbare haben es einige Khatiks in wichtige staatliche Ämter geschafft. Sie sind stolz darauf, dass sie ›den Staat‹ repräsentieren, den sie zu anderen Gelegenheiten als unsensible, von der Bevölkerung abgetrennte Einheit bekämpfen. Dazu nutzen sie jedoch genau jene Macht, die sie selber als Träger von Staatsämtern haben. Die Situation im Fallbeispiel des Durga-Tempels ist nicht weniger komplex. Während einige Anhänger den Durga-Tempel öffentlich als Ort

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für freie Religionsausübung verteidigen, geben sie auch zu, dass der Tempel ein für alle Mal ein »inneres Pakistan« in Bhopal zunichte machen soll. Sie schimpfen auf »den Staat«, der sie in diesem Unterfangen nicht unterstützt, da er muslimisch unterwandert sei. Gleichzeitig nutzen einige Mitglieder des Tempelkomitees ihren direkten Draht zu hindunationalistisch gesinnten Mitgliedern der administrativen Elite, um ihr Projekt abzusichern. Die Betreiber hinter dem Bau des Durga-Tempels sind Teil der alteingesessenen politischen Elite der Stadt. Ihre Rede vom unsensiblen, übermächtigen oder gar muslimisch unterwanderten Staat kann nur als Ausdruck zynischer Vertuschung ihrer eigenen Position verstanden werden. Auf der anderen Seite hat die Stadtverwaltung in ihrer Verteidigungshaltung nicht unwesentlich zur Eskalation des Konfliktes beigetragen. Die alleine auf die politische Dimension des Projektes zugeschnittene Reaktion ignoriert, dass der Erfolg des Durga-Tempels wesentlich auch darauf zurück zu führen ist, dass Gläubige in der Tat einen Mangel an religiöser Infrastruktur in der Lokalität empfanden. Indem Polizei und Stadtverwaltung das Projekt aggressiv angingen, habe sie dazu beigetragen, den Ort im politischen Bewusstsein fest in eine Narrative von Hindu-Muslim Feindschaft zu verankern. Ihre Aktionen spiegeln eine typische Dynamik, die darin besteht, dass ausgeprägte Vorsichtsmaßnahmen, die eine HinduMuslim-Konfrontation verhindern sollen, durch die Verankerung des ›Problems‹ im öffentlichen Bewusstsein oft direkt zur Verschärfung des Gegensatzes beitragen (Brass 1998). Alternative Aneignungen werden unterdrückt und vernichtet. Die Komplexität der Strukturierung religiöser Räume im urbanen Indien entzieht sich eindeutigen Zuordnungen. Foucaults dezentralisierte Auffassung von Macht und Widerstand hilft der Vielgestaltigkeit und moralischen Ambivalenz der Bewegung gerecht zu werden. Es gibt keine Position des absoluten Oben oder Unten. Alle Akteure kämpfen für ihre Momente des Triumphes. Dabei nehmen sie alle vier Haltungen ein, die Ranajit Guha als Grundkonstellationen von Machtbeziehungen beschrieben hat. Sie produzieren situationsbedingte Momente von Widerstand und Kollaboration und nutzen Strategien von Überredung und Zwang (Guha 1989: 229-32). Damit sei nicht gesagt, dass es ein Machtgleichgewicht gibt. Einige Akteure ragen als erfolgreicher und machtvoller heraus als andere. Sie lassen sich aber nicht stereotyp ›dem Staat‹ oder ›der Bevölkerung‹ zuordnen. Sie sind Mitglieder einer Kastenelite, einer dominanten Klasse, sie sind Inhaber von politischen Posten oder Mitarbeiter staatlicher Stellen. Sie sind reiche Kaufleute oder gehören zur einflussreichen religiösen Elite. Ihr Erfolg ist dem sozialen Kapital (Bourdieu 1983) geschuldet, das sie durch Beziehungen und Positionen erworben haben. Gleichzeitig sind sie abhängig von der erfolgreichen Kommunikation ihrer Position

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gegenüber städtischen Bewohnern, deren Unterstützung und Bereitschaft zum Protest entscheidender Teil von Tempelbewegungen ist. Die Deutung von Tempeln als Orten der Widerspenstigkeit rückt sie in die Nähe der Heterotopie. Das Konzept scheint sich als Interpretationsfolie geradezu aufzudrängen, stellt es doch Foucaults Versuch dar, Überlegungen zu Macht und Widerstand zu verräumlichen. Die Diskussion gerät jedoch schnell in problematisches Fahrwasser, da der Begriff der Heterotopie genau jene Fluidität zu unterlaufen scheint, die Foucaults Arbeiten zu Macht und Widerstand charakterisieren. Im Folgenden werde ich diese Problematik auf den Punkt bringen und für eine Repositionierung des Begriffs der Heterotopie werben.

Tempel als Heterotopie? Foucault ist weit entfernt davon, ein kohärentes Konzept der Heterotopie entworfen zu haben. Seine Veröffentlichung hierzu ähnelt eher einem Konzeptentwurf, der seinen Gedanken zu Kultur und Widerstand eine räumliche Dimension gibt. Foucault beginnt die Abhandlung mit folgender Definition: »Es gibt gleichfalls […] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierung oder Widerlage, tatsächliche Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.« (Foucault 1992: 39)

Heterotopien sind anders, weil sie etwas beheimaten, das außerhalb der Ordnung steht. Sie sind die Orte, an denen Kulturen mit Krisen und Abweichungen umgehen. Ihr Zugang ist genau geregelt und von Übergangsritualen begleitet. Manche Heterotopien sind fester Bestandteil des kulturellen Raums, wie Museen, Gefängnisse, Friedhöfe oder Erholungsheime; andere manifestieren sich nur für kurze Zeit, wie Feste, das Ziel einer Reise oder eine Theateraufführung. In ihrer Andersartigkeit stehen Heterotopien der Ordnung entgegen. Gerade deshalb übernehmen sie aber wichtige Funktionen in ihr. Sie schaffen oder veranschaulichen die absolute Ordnung oder kompensieren Unordnung und Unübersichtlichkeit (Foucault 1992). Was Foucault hier als Eigenschaften bestimmter Räume beschreibt, entspricht in vieler Hinsicht dem Charakter von Ritualen als ›Gegenzeiten‹. Ähnlich wie zu Gegenräumen ist der Zugang zu Ritualen genau gere-

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gelt und von vielen Tabus und Regeln begleitet. Das Ritual ist zwar Ausnahmezustand, in ihm werden jedoch gerade deshalb auch die zentralen Themen der Alltagswelt aufgenommen. Rituale heilen die Ordnung, erschaffen und veranschaulichen sie, oder setzen sie für kurze Zeit außer Kraft, um durch die Markierung des Ausnahmezustandes die Regelhaftigkeit der Ordnung zu unterstreichen (Leach 1968; Tambiah 1979; Turner 1989 [1969], für eine kritische Reflektion siehe Rao 2008). Im Tempel verschmilzt Gegenzeit und Gegenort. Der Tempel ist ein Gegenort, weil er die Gegenzeit beheimatet (Eliade 1991, siehe für das indische Beispiel Rao 2003b). Er ist der Ort, an dem sich die unvollkommene Welt der Menschen auf die vollkommene Welt der Götter hin öffnet. Er ist der Ort, an dem zyklische Rituale, Krisenrituale und tägliche Verehrung der Heilung und Stabilisierung der sozialen Welt dienen. Darüber hinaus sichert er soziale Ordnung ab. Um die Göttin versammelt sich eine Kaste oder die Gemeinschaft der Hindus. Der Tempel wird zum Katalysator für die Erfahrung von Gruppensolidarität, die im Alltag oft nur Illusion ist. Der Tempel erscheint hier in seiner Inkarnation als »Kompensationsheterotopie« (Foucault 1992: 45). Er schafft eine perfekte Ordnung, die nur im Symbolischen Bestand hat. Die Bedeutung des Tempels ist damit jedoch nicht erschöpft. Der Tempel sichert nicht nur Struktur ab, er schürt auch Konflikt. Er ist in mancher Hinsicht geradezu disfunktional. Er zwingt sich, Menschen zwängen ihn, in Nischen und Räume, in denen er ungeplant wächst und eine ständige Provokation darstellt. Er fordert Stadtplanung heraus und schürt Hass zwischen und innerhalb von Religionsgruppen. Der Tempel als Provokation kann keine Utopie sein. Dazu ist er selber zu tief in Konflikte verstrickt. Er ist die Unordnung; er bringt Unordnung; er verwundet ›die Kultur‹. Ich möchte hier jedoch keinesfalls die bekannte Trennung zwischen Religion und Politik verfestigen und den Tempel in seiner religiösen Dimension als Heterotopie und seiner politischen Dimension als nichtHeterotopie darstellen. Das Problem scheint mir tiefer zu liegen. Foucault kennt die Heterotopie auch als Ort der Subversion und nennt sie dann »Illusionsheterotopie«. Sie veranschaulicht die perfekte Ordnung und schafft damit eine Folie, vor der die soziale Wirklichkeit als unvollkommen denunziert wird. In dieser Variante gebärdet sich die Heterotopie nicht als Ort der Kollaboration, sondern zeigt ihre Fähigkeit, Ordnung zu hinterfragen und den Glauben an sie zu zerstören. Die politische Durchsetzung von Tempeln befördert eine solche kritische Sichtweise. Spiegelt der Tempel doch die Utopie von einer religiös gesättigten Gesellschaft, in der die Menschen den Göttern folgen (und nicht umgekehrt). Das Problem mit dieser Utopie ist jedoch, dass sie nicht von allen geteilt wird. Was religiösen Hindus als Wirklichkeitsideal erscheinen mag, wird von säkularen Kräften und Muslimen aus ihren je ei-

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genen Gründen abgelehnt. Es gibt nicht die eine Gesellschaft mit einer geteilten Utopie, die in der Wirklichkeit zwar nur unvollkommen, im Ort der Heterotopie jedoch vollkommen verwirklicht ist. Konflikte, wie ich sie hier beschrieben habe, zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie unterschiedliche Wege zur Verwirklichung einer Utopie vorschlagen. Sie projizieren unterschiedliche und unvereinbare Versionen idealer Wirklichkeiten. Der Tempel lässt sich nicht außerhalb dieser Spannung denken. Er ist der Ort einer Utopie, aber eben einer ganz bestimmten. Er ist auch Ort der Politik und stellt den Versuch dar, ein bestimmtes Wirklichkeitsideal machtvoll durchzusetzen. Dies macht den Tempel aber nicht zu einem schlechten Beispiel für Heterotopie. Das Problem ist nicht das Beispiel sondern Foucaults Konzept. In all seiner Unklarheit erzwingt Foucaults Entwurf der Heterotopie doch eine klare Dichotomie von Ort und Gegenort. Er unterfüttert diese mit einem in Teilen strukturfunktionalistischen Bild von einer integrierten Kultur. Ort und Gegenort sind komplementär. Der Gegenort ist, was der Ort nicht ist. Er hat die Funktion, Ordnung zu stützen oder zu denunzieren. Eine solche klare, in die Räumlichkeit eingeschriebene Dichotomie, muss im Kontext einer poststrukturalistischen Debatte, die sich davon entfernt hat, Kultur als integrierten Organismus, System oder Struktur zu betrachten, scheitern. Foucault hat durch seine Beschreibung von Machtnetzwerken entscheidend zur Dynamisierung des Kulturbegriffs beigetragen. Das Konzept von Macht und Widerstand als wandelbaren Positionen in einem in der Praxis ausgehandelten relativen System von Über- und Unterordnung bricht gerade mit der Idee zeitloser, fixierbarer Strukturen. Kultur ist Aushandlung. Diese Aushandlung bezieht sich keinesfalls nur auf die Frage nach der besten möglichen Annäherung an eine ideale Ordnung. Der Konflikt betrifft die Utopie selber und die Frage nach den Idealen, die ein Kollektiv anstreben sollte. Ein Ort, der dem Einen als Ort der idealen Ordnung erscheint, mag für den Anderen ein Horrorszenario abgeben. Tempel sind auch in diesem Sinne widerspenstig. Sie schüren nicht nur Machtkonflikte, sondern provozieren einen Streit über kulturelle Ideale und Glaubensvorstellungen. Sie thematisieren und verändern nicht nur die Beziehung von Kasten und politischen Gruppierungen, von Frauen und Männern, Hindus und Muslimen, englischsprachiger und lokalsprachiger Elite (Rao 2006). Sie schaffen auch ein Bewusstsein für die Unterschiede in ideologischen Ausrichtungen. Als Heterotopie ist der Tempel kein fester Bestandteil eines funktionierenden Ganzens. Tempel sind spirituelle Zentren und Horte des Aberglaubens. Sie perpetuieren Kasten- und Geschlechterdifferenzen und unterlaufen sie. Sie bewahren Tradition in einer orientierungslos gewordenen Gegenwart und befördern fundamentalistische Tendenzen. Tempel sind Heterotopien, nicht weil sie die ideale Ordnung verkörpern oder im Imaginären verankern. Sie sind Heterotopien, weil sie

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provozieren und herausfordern. Sie sind auf keiner Seite einer Dichotomie von Utopie und Realität eindeutig platziert. Sie sind gelebte Utopie und Dystopie. Sie thematisieren einen Mythos und drängen ihn der Ordnung auf. Der Begriff der Heterotopie scheint mir verfehlt, wenn er die Position eines Ortes als Gegenort in einer verräumlichten Dichotomie fixiert. Heterotopie muss genauso verflüssigt werden, wie Foucault es mit dem Begriff des Widerstandes getan hat. Foucault hält am Begriff des Widerstandes fest, obwohl er erkennt, dass er im Begriff der Macht bzw. der Machtausübung bereits enthalten ist. Die begriffliche Differenzierung zwischen Macht und Widerstand dient dann nicht dazu, ein absolutes Gegenüber zu beschreiben, sondern eine Attitüde, eine Position, eine Reaktion in einer konkreten Begegnung. Genauso ist der Ort der Heterotopie kein absoluter Ort. Es gibt keine fest beschreibbare Anzahl typischer Heterotopien, die als die ganz Anderen im kulturellen Ganzen das Gegengewicht bilden. Es gibt Provokationen, die sich im Ort kristallisieren. Und es gibt Orte, denen im kulturellen Repertoire eine Sonderstellung eingeräumt wird, da sie typische Spannungsfelder abbilden und die Auseinandersetzung mit ihnen provozieren.

Literatur Bourdieu, Pierre (1983): »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital«. In: R. Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten. Sonderband 2 der Sozialen Welten, Göttingen: Schwartz, S. 183-198. Brass, Paul R. (1998): Theft of an Idol. Text and Context in the Representation of Collective Violence. Calcutta: Seagull. Chakrabarty, Bidyut (Ed.) (1990): Secularism and Indian Polity. Delhi: Segment Book Distribution. Eliade, Mircea (1991 [franz. 1965]: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Engineer, Ashgar Ali/Shahir, M. (Eds.) (1985): Communalism in India. Delhi: Ajanta Publication. Foucault, Michel (1978): The Will to Knowledge. The History of Sexuality I. London: Penguin. Foucault, Michel (1992): »Andere Räume«. In: K. Barck et al. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam, S. 34-46. Foucault, Michel (1999): Botschaften der Macht. Fankfurt/M.: Suhrkamp. Guha, Ranajit (1989): »Dominance without Hegemony and its Historiography«. In: R. Guha (Ed.), Subaltern Studies VI, Delhi: Oxford University Press, pp. 210-309.

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Meine kleine Welt DANIEL HECHLER »Mag auch einer noch so sehr mit der Welt rumgezankt haben, umhergeschoben worden sein, zuletzt bekommt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stelle, heiratet und wird Philister so gut wie die anderen auch.« (Hegel)

I Der Begriff Spießbürger1, so stellt 1941 ein Wehrmachtspsychologe fest, deutet in bezug auf die geistige Seite einer Person an, dass diese »Begabung irgendwie mittelmäßig oder unbedeutend ist und daß man, was wesentlicher ist, keine Selbständigkeit und Freiheit des Denkens und Urteils erwarten kann. Und zwar wird dabei diese Unselbständigkeit des Denkens allerdings weniger auf fehlende intellektuelle Anlagen, sondern auf das Fehlen eines gewissen Mutes zum Risiko gegründet gedacht: der Spießbürger‚›traut sich nicht zu denken‹.« (Gniza 1941)

1

Da sich der folgende Text dem Spießer widmet, wird abweichend von dem restlichen Buch durchgehend die männliche Form verwendet. Dies jedoch nicht aus sprachökonomischen Gründen oder aus Taktgefühl. Der Spießerbegriff adressiert einen Vorwurf an ein Subjekt, welches »eine veraltete oder bornierte Lebensweise erwählt hat und auch unter Kritik stur daran festhält« (Barfuss 2002: 8f). Das Subjekt wird somit als gesellschaftlicher Akteur anerkannt, das seine Lebensweise selbst zu verantworten hat. Frauen wurden (und werden) daher häufig einfach unter eine spießige Lebensweise subsummiert. So wäre es eine Verkennung, etwa die Hausfrauen der 50er Jahre Spießer zu nennen: »Sie reinigten und hielten die Gesetze der Spießer ein. Sie waren Spießerfrauen oder spießige Frauen oder bessere Hälften von Spießern.« (Vorkoeper 2006)

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Da dem Verharren in der selbstverschuldeten Unmündigkeit ähnlich gravierende Defizite im Handeln und Erleben, etwa einem »Mangel an Aktivität, Idealismus, Phantasie und Mut zum Risiko« zur Seite stehen, drängt sich die Vermutung einer insgesamt defizitären Grundstruktur des spießigen Subjekts auf. »Ichbegrenztheit«, so lautet die Diagnose des Spezialisten, charakterisiert das Wesen des Spießers und führt letztlich zu einer chronischen »Bedürfnisbefriedigung am Surrogat«. Die tiefere Ursache für einen derartigen Persönlichkeitsdefekt verortet er schließlich in »der einseitigen Dominanz des ›Bürgerlichen‹ in der Lebensauffassung und dem Lebensstil des Spießbürgers«. Diese Vorherrschaft des Systematischen, Pflichtgemäßen, Dauerhaften und Ruhigen gekoppelt mit mangelhafter innerer Dynamik produziert eine solche »Minusvariante« des Bürgers, die sich schließlich in vier zentralen Merkmalen offenbart: »der Sattheit, der Engherzigkeit, der Besorgtheit und in der uneingestandenen Sehnsucht des Spießbürgers, etwas vorzustellen.« (Ebd.) Von keinem inneren Antrieb gestört, mit dem guten Gewissen, seine Pflicht getan zu haben, hält sich der Spießbürger für den Menschen schlechthin. Lediglich die Sorge um seine Ruhe und Sicherheit spendenden Routinen, aus Furcht vor jedem – sei es durch das »Drängen der Jugend« oder das »Weisen frischer Ziele« durch politische Führer induzierten – Wandel, lässt ihn gelegentlich zum aggressiven Verteidiger der Normalität avancieren. Diese Normalität, so schließt der Psychologe etwas versöhnlicher, kann, wenn sie denn nur der totalen Sklerotisierung entgeht, letztlich auch die dynamischste Gesellschaft nicht entbehren. Exakt 65 Jahre später hat sich die Stoßrichtung der Spießeranalyse spürbar verschoben. Ausgehend von der Feststellung, dass immer mehr Jugendliche die Vorzüge einer konservativen Lebenseinstellung zu schätzen lernen (»Papa, wenn ich groß bin, werde ich auch mal Spießer«), jedoch in der lebensweltlichen Umsetzung allzu häufig an einer ungenügenden Vorbereitung durch die Gesellschaft scheitern, weist eine (ironische) Anleitung zur methodischen Lebensführung dem werdenden Spießer den Weg: »Voraussetzung für ein aufgeräumtes Leben sind Grundsätze, die Ihr Leben durchwirken. Dazu zählen die ›wichtigen Werte‹ und die ›Reduktion‹. Die wichtigen Werte bedingen Handlungsentscheidungen. Es gibt zehn wichtige Werte, sie lauten: ›Treue, Höflichkeit, Präzision, Fleiß, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Voraussicht, Standhaftigkeit, Bescheidenheit, Disziplin‹. Bei Anwendung ergänzen sie sich wie ein geschlossenes System. Zur Reduktion: [...] Verinnerlichen Sie, dass es immer nur einen Zweck gibt. Die Arbeit ist für die Erwirtschaftung von Lebensgrundlagen da, die Freizeit zur Erholung, die Familie für den Fortbestand der Gene.« (Ertl 2006)

Innerhalb eines so gesteckten Rahmens ergeben sich die weiteren Regeln wie die Kontrolle des Äußeren und des Benehmens, die Körperhygiene,

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eine klare Rollentrennung der Geschlechter, die Rationalisierung des Alltags oder die Identifizierung und anschließende Interaktion mit Gleichgesinnten fast deduktiv und lassen Erinnerungen an die alten Habitualisierungstrategien eines Benjamin Franklin aufleben. Eine bemerkenswerte Transformation. Erkannte der Wehrmachtpsychologe im Spießbürger noch das quasi-natürliche Abfallprodukt einer bürgerlichen Lebensweise, die alles andere als erstrebenswert war, so erfordert ein solcher Lebensentwurf heute offenbar nicht nur einige Anstrengungen, um ihn als Alltäglichkeit zu etablieren, er erscheint zudem auch noch als neu, begehrt und zeitgemäß. Coincidentia oppositorum: der Spießer als Hipster.

II Der Vorwurf des Spießertums trifft, wie jeder Akt der Kritik, »erstens Unterscheidungen; und er versieht zweitens eine Seite der Unterscheidung mit einer wertenden Markierung und erklärt das, wovon er sich absetzt, für verwerflich, unwahr, stümperhaft, hässlich oder sonst wie ungenügend.« (Bröckling in diesem Band: 93). Der Spießer ist mithin niemals eine einfach gegebene Tatsache, sondern verweist immer auf ein Gegenüber, welches in konfrontativer Absicht eine Demarkationslinie zieht. Dieser konfliktorientierten Distinktion liegen zumeist zwei einander widerstrebende Intentionen zugrunde: Einerseits kann die Unterscheidung stabilisiert werden, etwa um die eigene Identität auszuarbeiten und im Rahmen eines strategischen Essentialismus politisch zu mobilisieren, und andererseits als mögliche Schwelle für eine Transformation der negativ markierten Seite in pädagogisch Anschlag gebracht werden – was freilich im Erfolgsfalle die Unterscheidung selbst zum Verschwinden bringt. Die Unterscheidung von Spießern und Devianten schließt dabei an die Unterscheidung von Normalität und Abweichung an. Während etwa der Begriff des Jedermann eine positive Kopplung an die Normalität ermöglicht, erlaubt der Spießerbegriff eine Affirmation der Außenseiterrolle, indem die er die Ursache für die konfliktreiche Spaltung auf der Seite der Normalität lokalisiert. Die Normalität selbst offenbart damit im moralisch aufgewerteten Blick ihres Anderen einen defizitären Charakter. Damit erweist sich auch die Konformität der Subjekte, welche in der Selbstverständlichkeit des Normalen ihre Heimat finden, als inadäquat. Da das Verhältnis von Normalität und Abweichung in der Regel auf einer Machtasymmetrie zuungunsten des Devianten ruht, artikuliert der Vorwurf des Spießertum nicht nur eine Kritik an einer offenbar dominierenden Lebensform, sondern auch »immer die Klage des Unterlegenen, der sich bedroht fühlt« (Jessen 2006). Mithin richtet sich der Vorwurf des Spießertums

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»gegen ein Subjekt, das eine veraltete oder bornierte Lebensweise erwählt hat und auch unter Kritik stur daran festhält« (Barfuss 2002: 9). Gelingt es nun dieser Perspektive, sich erfolgreich zu etablieren und somit gleichsam eine planned obsolescence (Packard 1964), eine geplante Veraltung der attackierten Lebensform durchzusetzen, wird deren Transformation zugleich zur Notwendigkeit und zum Bedürfnis der Subjekte: »Der Spießer wird unter dem Druck drohender Deklassierung und Desintegration zunehmend versuchen, nicht mehr Spießer zu sein« (Barfuss 2002: 100). Verharrt jedoch die Absetzbewegung gegenüber Normalität mittels des Spießerbegriff – ob intentional oder nicht – in der bloßen Stabilisierung der Distinktion und der erzeugten Identität, so droht dieser ein gemeinsames Veralten mit der weiterhin hegemonialen Lebensform, an welche sie qua Negation gekoppelt bleibt. Mit jeder Transformation der Normalität kollabiert schließlich die historisch konkrete Ausgestaltung des Gegensatzpaars von Spießer und Außenseiter und steht wiederum neuen Kräften für eine Aktualisierung offen: Der Nonkonformist von heute ist der Spießer der Zukunft. Und gelegentlich ist der Spießer von heute der Nonkonformist von gestern.

III »A square is some guy forces himself arbitrarily into a square auto-life mould« (Corso)

Gelegentlich streift ein wehmütig-nostalgischer Blick die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und entdeckt hier das Vorbild »einer, mittlerweile verlorengegangenen, ordentlichen Gesellschaft [...] in der bestimmten Werten noch der ihnen gebührende Rang zukam.« (Etzioni 1999: 93) Die Menschen erfreuten sich eines schier unglaublichen Sinns für die Verpflichtungen gegenüber ihren Familien, den Gemeinschaften und der Gesellschaft, die Frau wirkte im Haushalt und der Erziehung nach innen, der Mann in Gesellschaft und Beruf nach außen, auch die christliche Religion prägte noch das öffentlichen und private Leben. Kurz: Die meisten Menschen »hatten das Gefühl, ein sicheres und geordnetes Leben führen zu können. In vielen Teilen des Landes konnte man sich ohne Angst in den Straßen und auf den öffentlichen Plätzen aufhalten; man ließ die Wohnungstür unverschlossen, die Zündschlüssel im Auto stecken und die Kinder unbeobachtet draußen spielen. Die Mehrheit hatte den Eindruck, einer geordneten und relativ ruhigen Gesellschaft anzugehören.« (Etzioni 1999: 96)

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Doch unterhalb dieser spannungslosen Harmonie bemerkt der zeitgenössische Beobachter ein subtiles Leiden der Subjekte. In eine total verwaltete Welt geworfen, erkannten sie sich als das vollendete Produkt einer »anthropologischen Mutation« (Pasolini 1993: 40) wieder, die einen scheinbar unendlich formbaren Menschentypus hervorgebracht hatte: den außengeleiteten Menschen. Seinem Vorgänger, dem innen-geleiteten Menschen, war noch von gestrengen Autoritäten ein »seelischer Kreiselkompaß« (Riesman 1958) eingepflanzt worden, der ihm das gesamte Leben lang eine starre Orientierung aufzwang, aber zugleich auch eine relative Autonomie gegen die Zumutungen seiner Zeitgenossen verlieh. Nur »seinem starken und dabei nüchternen Ich« (Horkheimer 1997: 134) unterworfen, unflexibel und indifferent gegenüber seiner Umwelt, fand er im günstigsten Falle seinen Lebenssinn und sein Selbstwertgefühl in der zielgerichteten, zumeist einsamen Arbeit: »Er überwand Grenzen, baute Monopole oder machte Jagd auf weiße Wale – was immer auch ihm sein inneres Steuerorgan diktierte.« (Ehrenreich 1984: 41) Das Scheitern an den eingepflanzten und daher unausweichlichen Zielen stürzte ihn dann freilich in einen Strudel von Schuld und Gefühlen sittlicher Minderwertigkeit. Gegenüber einer solchen, nun fast asozial wirkenden Raubeinigkeit wirkt der außen-geleitete Mensch des neuen corporate capitalism wie ein durchaus liebenswerter Typus. An die Stelle des von innerer Disziplin, moralischem Charakter und Wettbewerb durchdrungenen Subjekts tritt ein extrovertierter Menschenschlag, immer bemüht, sich mit den Augen der anderen zu sehen, um sich rechtzeitig deren Wünschen anzupassen, Konflikte zu vermeiden und letztlich eine gewinnende Persönlichkeit zu entwickeln. Wohin man auch schaut, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Anerkennung, »Fairness – statt Fitness« (Fach 2003: 146) dominieren das gesellschaftliche Leben des organization man. Seine berufliche Heimat findet er in den Großorganisationen, die nicht nur angeleitet vom scientific management eines Frederik Taylor die Arbeitsprozesse technologisch optimieren, sondern sich im Anschluss an Elton Mayo zunehmend den human relations widmen – und so neben reibungsloser professioneller Interaktion zwischen den Kollegen auch ein wenig menschliche Wärme produzieren. Flankiert von zunehmender Versorgung und garantierten Aufstiegschancen schlägt das beruflich eingeübte, umgängliche und konsensorientierte Wesen des außen-geleiteten Menschen auch auf die Beziehung zur Familie und Freizeit durch. Assistiert von wissenschaftlicher Aufklärung ringt man in der Ehe um eine gute Passung der Partner, inklusive einer gelungenen Sexualität; statt harter genealogischer Erfordernisse motiviert nun der intrinsische Wert die Beziehung zwischen moderner Hausfrau und ihrem Kind. Ebenso nimmt man in der Freizeit von einer protzenden Zurschaustellung seines Konsums Abstand, der die nachbarschaftlichen Be-

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ziehungen nur mit Neid und Missgunst vergiften würde, und verlegt sich in seiner Gruppenorientierung stattdessen auf eine angenehm ziellose Geselligkeit im ästhetisch perfekten Ambiente des unauffälligen, weil massenhaft kopierten Konsums. Nicht starre Norm, sondern fließende Normalität, nicht protestantische, sondern soziale Ethik, nicht hartes Ringen, sondern soft skills durchwirken das Leben. Gilt eine solche selbstgesteuerte, von Beruf und Ehe eingerahmte Einpassung auch als Ausdruck einer zeitgemäßen Lebensweise, einer robusten Gesundheit und psychologischen Reife (vgl. Ehrenreich 1984: 25ff), so durchzieht ein gewisses Unbehagen beständig die Welt der Organisationen und Apparate. Der geforderte Konformismus, die Ausrichtung an einer beweglichen Normalität sichert nicht nur eine relative Homogenität legitimer Verhaltensweisen, sondern individualisiert zugleich die um Anpassung ringenden Subjekte. Beklagen die Frauen nun zunehmend die Beschneidung von Lebensmöglichkeiten durch ihre systematische Festsetzung am heimischen Herd (vgl. Friedan 1966), so befällt den Mann parallel dazu das weit subtilere Gefühl, Opfer eines Projekts der zunehmenden Feminisierung der sozialen Welt zu sein, welches ihn systematisch jeglicher Potenziale für heroisches Agieren beraubt. Doch der Grat, auf dem er zur Wiederaufrichtung seines geschundenen männlichen Egos wandeln kann, ist schmal. Lauert auf der einen Seite das Risiko der Überanpassung, so droht bei einer starken Normabweichung das allmähliche Abgleiten in die Anomie, in die Unfähigkeit, »den Normen seiner Gesellschaft zu gehorchen.« Da »diese Anomalität in irgendwelche Zwangsgesetzlichkeiten des Verhaltens, Neurosen, Hysterien Verwahrlosung, Kriminalität usw.« führt und entsprechend Flucht vor Ehe und Beruf den Verdacht unreifen Eskapismus und latenter Homosexualität nahe legen, entscheidet sich der außen-geleitete Mann für die weit weniger gefährliche Option einer »verdünnten Askese gegenüber den Sozialansprüchen und –exzessen unserer ›Welt‹« (Schelsky 1958, 18). Eine so verstandene Autonomie stellt zwar noch nicht die einstige robuste und selbstbestimmte männliche Kämpfernatur wieder her, schützt aber wenigstens vor exzentrischer Emotionalität und markiert eine gewisse ironische Distanz zur grassierenden Überanpassung.

IV Freilich bringt die schweigende, wenn auch skeptische Generation der 50er Jahre nicht nur reife Männer hervor, die gänzlich in der netten, höchstens reflexiv gebrochenen Konformität in Beruf und Ehe aufgehen. Eine neuartige Variante, wenigstens noch einige wenige Rudimente verschütterter Männlichkeit freizulegen, bietet der seit 1953 herausgegebene Playboy, der offenbar in der Befreiung des Mannes vom Joch der Ehe, im Zerbre-

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chen der strikten Kopplung von Ehe und Männlichkeit seine zentrale Mission sieht. Vermag auch dem gewohnten psychologischen Blick die Unreife des karriere- und konsumbegeisterten Junggesellenlebens nicht entgehen, so lässt sich diese doch angesichts des demonstrativen Interesses für das andere Geschlecht nicht mehr umstandslos als Verlust echter Männlichkeit deuten (vgl. Ehrenreich 1984: 73). Neben solche harmlosen Placebo-Fluchten in die distanzierte Innerlichkeit oder in den egozentrischen Konsum tritt mit den Beats schließlich eine dritte Bewegung in Erscheinung, welche dem verwalteten Leben ein Dasein »unterwegs« entgegenstellt. Obwohl von Psychologen rasch als schwächliche Eskapisten identifiziert, von der Kulturindustrie assimiliert und zum harmlosen Beatnik verniedlicht, gelingt es ihnen doch, am Gefühl der Inauthentizität des konformen Subjekts anzusetzen und es schließlich in Richtung Spießigkeit zu verstärken. Darüber hinaus liefern die Beats die Grundausstattung fast aller nachfolgender Subkulturen: Die Leidenschaft für geistig-intellektuelle und körperlich-sinnliche Abenteuer jenseits aller Sicherheitsversprechen und Normen der bürgerlichen Existenz, der experimentelle Umgang mit Drogen wie die Entdeckung einer Spiritualität jenseits des Christentum (vgl. Kraushaar 2002). Als wenige Jahre später die »Kinder von Marx und Coca-Cola« (Godard) das erste Mal unter dem offiziellen Label der Gegenkultur die Bühne betreten, haben sich die Vorzeichen deutlich geändert. Männliche Resthärte, die ihren Rückhalt im Antikommunismus fand, verliert ihre Legitimität angesichts eines schwer zu rechtfertigen Krieges in Vietnam; besorgte Kardiologen warnen im Hinblick auf das schwächelnde Herz eindimensionaler Männer eindringlich vor den gesundheitlichen Gefahren eines Lebens in der konformen Ernährerrolle und Psychologen entdecken schließlich nicht mehr in der Reife, sondern im unendlichen Wachstum einer reichhaltigen Innenwelt, in Spontaneität und Kreativität den letzten Fluchtpunkt des menschliches Lebens. Standen Beats und Psychologen noch in harter Konkurrenz im Kampf um die geeignete Beobachterposition auf die Gesellschaft, so verschmilzt im Laufe der 60er Jahre ihre Kritik an Monotonie und Konformitätsdruck von Arbeits- und Lebenswelt in einer massiv politisierten Revolte (vgl. Ehrenreich 1984: 76ff.). Für kurze Zeit verbinden sich Sozial- und »Künstlerkritik« (Boltanski) in einer kraftvollen Symbiose und lockern an den Spannungspunkten der fordistischen Konformität die Bindung des Subjekts an die von den signifikanten Anderen hervorgebrachten Normalitätsvorstellungen – nicht zuletzt in bezug auf die Geschlechterrollen. Doch ob nun auf der emanzipatorischen Suche nach neuen Lebens-, Liebes- und Arbeitsformen in und »außerhalb« der Gesellschaft, nach einem authentischen Selbst oder lediglich nach betonter Differenzmarkierung durch abweichenden Konsum – die ersten Schritte in der Lösung von der zunehmend als spießig empfundenen Normalität der organisierten Moderne finden noch unter der Ägide der verwalteten Welt mit ihren sorgen-

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den Institutionen statt. Gewisse Beschwerlichkeiten des Regierens, die sich nicht zuletzt vermehrten wirtschaftlichen Turbulenzen verdankten, provozieren verstärkt neue Versuche, die zunehmend der fordistischen Konformität entgleitenden Lebensentwürfe wieder in vernünftige Bahnen zu lenken: Wenn die »Kinder der Freiheit« ihr Leben schon autonom zu Kunstwerken gestalten wollten, dann doch bitte in gesellschaftlich und wirtschaftlich nützlichen Formen.

V Hatten die »postheroischen Versorgungsgesellschaften« (Nassehi) den bürgerlichen Helden, der noch den äußeren Zwang kulturgestützt sublimiert hatte, Richtung Mülleimer der Geschichte verwiesen, so kündet in den 80er Jahren eine »geistig-moralische« Wende« von seinem triumphalen Comeback. Statt Experimente aller Art an sich und der Gesellschaft zu vollziehen, ohne jedoch den Rahmen gesicherter Arbeitverträge und gewerkschaftlich regulierter Einkünfte wirklich zu sprengen, sollen nun die neuen Heroen der frechen Anspruchsmentalität entsagen und sich stattdessen verantwortungsbewusst und leidenschaftlich für lohnende Leistungen verausgaben. Doch den Bemühungen, dem bornierten Bewusstsein mittels einer Kombination aus motivierenden Appellen und sozialpolitischen Kürzungen den begeisterten und selbstlosen Einsatz für das Gemeinwohl näher zu bringen, ist zunächst wenig Erfolge beschieden: Statt in familienbasiertem Kommunitarismus und in gelungenen Transformationen risikofreudiger, doch leider privater Energien in wagemutige berufliche Entscheidungen den Vorschein neuer Freiheiten zu erblicken, verharrt das angerufene Volk (vorerst) träge in seinem Wunsch nach staatlich abgesicherten Spielräumen. Das Kanalisieren postfordistischen Begehrens in Richtung bürgerlichen Heldentums bedarf offensichtlich stärkerer Motivationshilfen. Mehr als eine Dekade später scheint die Lage für den neuen Helden schon wesentlich günstiger. Parallel zum Abbau verwaltender Sozialeinrichtungen, der Einführung neuer Kommunikationstechnologien und dem Verblassen der Distinktionskraft alternativer Milieus befreien überall neue Organisationsstrukturen risikofreudige Subjekte vom Zwang, die Befriedigung ihrer kreativen Impulse jenseits rigider bürokratischer Institutionen im privaten Rahmen zu suchen. Im einstigen Hort der Entfremdung winkt nun endlich die einst dem selbständigen Bürger vorbehaltene Möglichkeit, den ganzen Menschen in die Arbeit einzubringen. Das allein bringt zwar noch keine neuen Bürger hervor, aber immerhin scheint die Beförderung der Subjekte vom Lohnsklaven zum Arbeitskraftunternehmer ebenso wie der nun volksweite Aktienhandel die einst prägende Dichotomie von Arbeit und Kapital zu sprengen.

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Statt spießiger Normallebensläufe im Schutze einer sklerotisierten Gesellschaft zeugen nun Flexibilität, Kreativität und mögliche Diskontinuitäten von einem reifen, im ständigen Wachstum begriffenen Leben. Da der Arbeitsmarkt aber kaum Sicherheit bietet, dass jene persönlichen Wachstumswünsche auch mittels einer entsprechenden Karriere gefördert werden und im Falle des Scheiterns weder Staat noch Gewerkschaft helfend zur Seite springen, wird eine methodische Lebensführung oder wenigstens die Fähigkeit, zum gutgelaunten Kind der Ereignisse zu werden, unabdingbar. Während der begeisterten Bejahung des Lebensflusses, der »Tugend der Orientierungslosigkeit« (Goebel/Clermont) gelegentlich die eigenen Ansprüche im Wege stehen, vermittelt die vollständige Indienstnahme des Lebens qua Selbstmanagement zwar eine beständige employbility, aber leider keine Garantie, dass diese Potenzialität auch tatsächlich eine Aktualisierung erfährt. Schließlich droht Demoralisierung statt Wachstum. Doch Rettung naht in Gewande des »Retro-Liberalismus« (Weimer) oder der neuen Bürgerlichkeit.

VI Keine Frage, das Spießerschema hat sich gedreht. Das Verdikt der neuen Bürgerlichkeit zielt auf ein neues Subjekt: »Achtundsechzig«. Die Vermutung, dass hier nur die Begleitmusik eines Generationenwechsel innerhalb der deutschen Elite erschallt, führt ins geradezu ins Abseits. Die Rebellion gegen die neuen Spießer trägt vielmehr wahrhaft heroische Zügen, stemmt sie sich doch in ihrem Kampf für zeitlose Werte und anthropologische Grundkonstanten gegen nichts geringes als das »Schicksal« (Bolz), welches mittels einer tyrannischen Diskurspolizei namens political correctness jeden Widerstand im Keim zu ersticken droht. Doch solche Gefahren können die Demaskierung des neuen Spießertums nicht stoppen: Die »komplett verblödete Selbstgerechtigkeit linker Spießer« (Mattusek 2006: 152) wurzelt in einer hedonistischen Selbstüberhebung und letztlich jeden Wert, allen voran die Liebe zu Gott und Vaterland, zerstört. Daraus folgt fast zwangsläufig eine innere Ungerührtheit angesichts des drohenden Aussterbens des eigenen Volkes. Leichtfertig entbindet der er die Frau von ihrer Mutterrolle, denunziert die bürgerliche Familie, schiebt die Kleinkinder in Tagesstätten ab und bleibt dabei blind für die Folgen, die eine solch perverse Entfesslung von naturgegebenen »Urgewalten« (Schirrmacher) unausweichlich zeitigen. Stattdessen »drangsaliert« der Achtundsechziger die wenigen, noch verbliebenen Kinder aus zerbrochenen Familien mit einer »Kuschel- und Betroffenheitspädagogik« (Hahne 2004: 25), die im besten Fall lediglich durch den Pisa-Test fallen, im schlimmsten zum Amokläufer werden. Kurz: Er schwelgt in der »Verächtlichmachung des christlichen Bekenntnisses«, der »Verhöhnung des Papstes«, der »Be-

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schimpfung der Familie« sowie »der Beschmutzung nationaler Symbole« und »hält all dies für ›Forschritt‹« (die Fabio 2004: 33). Aber auch lebensweltlich ist der neue Spießer leicht zu identifizieren als »jemand, der links ist, nach Kreuzberg zieht, da verharrt und ausschließlich die taz liest« (Ulmen/Kuhl 2007: 42). Die Forderungen der neune Bürgerlichkeit bergen nach ihren Angriffen gegen den verhärteten Spießer kaum Überraschung: Zunächst gilt es durch neue »Helden der Familie« (Bolz) das Aussterben der Deutschen zu verhindern, welches die Deutschen bei anhaltendem Trend bereits in »zwölf Generationen« (Bild) ereilen könnte. Mehr noch: Ohne die familiäre Schule der Liebe verliert die Gesellschaft ihr Fundament und gebiert nur noch sozial unverträgliche Ungeheuer. Dabei versteht sich von selbst, dass richtige, gesellschaftstragende Liebe nicht im Kindergarten gedeihen kann. Frauen sollten sich daher dem »Megatrend Homing« (Matthias Horx) anschließen und dem Gatten für die »Jagd« (Bolz) den Rücken freihalten. Solche Einschnitte mögen für die selbstsüchtige Frau auf den ersten Blick erschreckend wirken, doch ein gewisser Patriotismus mag hier die natürliche weibliche Opferbereitschaft beflügeln. Vatersliebe kann allerdings weit mehr als nur den demographisch katastrophalen nationalen Selbsthass der »Achtundsechziger« überwinden. Sie ist zugleich ein Rettungsanker in der globalisierten Welt, rührt doch die wirtschaftliche Schwäche Deutschlands nicht zuletzt aus der »gebrochenen nationalen Identität« (Matussek 2004: 241). Doch nicht nur an nationalen oder familiären Defiziten gilt es zu arbeiten, auch die neuentdeckte Unterschicht ist in den Selbstheilungsprozess einzubeziehen. Massive Verwahrlosungen machen hier den Einsatz verschiedenster »Instrumente« notwendig, die letztlich die Implementierung einer neuen »Liberalität der selbständigen Lebensführung« samt erwünschter »bürgerlichen Zivilisierungseffekte« (Dahrendorf/Nolte 2005: 6). Diese neue Freiheit der wohlverstandenen bürgerlich Selbstregierung atmet wieder den »Eros« (di Fabio), welcher das alte Bürgertum ausgezeichnet hatte: Eros im Zeichen des Neoliberalismus, als neue Liebe zu Gott, Volk und Familie soll wie einst die Harmonie von Sein und Sollen, die Einsicht in die Notwendigkeit im Inneren der Menschen garantieren und ein neues »Grundvertrauen« schaffen. Denn »ohne Grundvertrauen gibt es kein Selbstvertrauen. Solche Menschen sind weder leistungsfähig noch leistungsbereit oder risikofreudig, geschweige denn leidensfähig.« (Hahne 2004: 81)

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VII »But don’t you try to fight it/›An idea who’s time has come.‹/It’s hip to be square« (Huey Lewis & The News)

Wo nacktes Interesse war, soll Liebe werden – eine Liebe, die der spießige »Achtundsechziger« der letzten Jahre offensichtlich harten Herzen aus der Welt verbannte. Einem solch kalten und zugleich unsteten Dasein in der »Spaßgesellschaft« (Hahne) stellt der neue Bürger seine neue Autonomie gegenüber, geprägt von gelungener Selbstführung, demonstrativer kultureller Distinktion gegenüber der Unterschicht und sorgendem Agieren im nächsten Umfeld. Risiko diszipliniert, zerfranste Gesinnungen und unattraktive Institutionen lassen den Aktionskreis schrumpfen. Die neuen Helden bestehen im Job, sorgen für die Familie, kämpfen für einen dealerfreien Stadtpark bei gleichzeitiger Toleranz für alles Distanzierte. Man unterscheidet wieder zwischen guten und schlechten Armen, das Ringen um gelungene Integration in die Gesellschaft und die Bemühungen um Kultiviertheit trennen von spießigen Ausfügen in antibürgerliche Verhaltensmuster. Gelegentlich betrachtet der neue Bürger sich augenzwinkernd aus der Perspektive der alten Antibürgerlichkeit und bekennt sich heroisch zu seinem Spießerdasein, freilich nur um zu demonstrieren, wo die neuen, die wirklichen Spießer sitzen. Wenn Widerstand bei Foucault sich in einer bestimmten Grenzhaltung artikuliert, in einer beständigen Kritik der Gegenwart, in dem Kampf gegen bestimmte Exklusionslinien und der Zurückweisung angebotener Identitäten sowie dem Versuch, öffentlich einen kritischen Diskurs mit engagierten Handeln zu verknüpfen, dann geht es vielleicht heute darum, diesen Impuls zu mobilisieren, um das neue Heldentum zurückzuweisen. Auch wenn es spießig ist.

Literatur Barfuss, Thomas (2002): Konformität und bizarres Bewusstsein. Zur Verallgemeinerung und Veraltung von Lebensweisen in der Kultur des 20. Jahrhunderts. Hamburg: Argument-Verlag. Bolz, Norbert (2006a): Helden der Familie. München: Wilhelm Fink Verlag. Dahrendorf, Ralf/Nolte, Paul (2005): »Bürgerlichkeit in Deutschland. Ein Gespräch über bürgerliche Gesellschaft, Religion, engagierte Intellektuelle und Generationserfahrungen nach 1945«. Vorgänge 170, 2, S. 320. Ehrenreich, Babara (1984): Die Herzen der Männer. Auf der Suche nach einer neuen Rolle. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

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Ertl, Miriam (2006): »Die acht Schritte zum Spießertum – Eine Anleitung«. Internet: http://zuender.zeit.de/2006/10/spiesseranleitung [Zugriff am: 01.12.2007]. Etzioni, Amitai (1999): Die Verantwortungsgesellschaft. Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie. Berlin: Ullstein Verlag. Fabio, Udo di (2005): Die Kultur der Freiheit. München: Beck. Fach, Wolfgang (2003): Die Regierung der Freiheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Friedan, Betty (1966): Der Weiblichkeitswahn oder Die Mystifizierung der Frau, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Gniza, Erwin (1941): »Der ›Spießbürger‹. Eine Persönlichkeitsanalyse des Wehrmachtspsychologen Dr. Gniza (Dresden) 1941«. Internet: http://www.sgipt.org/politpsy/spies0.htm [Zugriff am 03.10.2007]. Hahne, Peter (2004): Schluss mit lustig!: das Ende der Spaßgesellschaft. Lahr/Schwarzwald: Johannis Verlag. Jessen, Jens (2006): »Geistiger Jägerzaun«. Internet: http://www.zeit.de/ online/2006/05/spiesser_1. Kraushaar, Wolfgang (2002): »Sie hatten einen Traum«. die tageszeitung, 17.08.2002, Internet: http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig = 2002/08/17/a0238 [Zugriff am 10.11.2007]. Matussek, Matthias (2006): Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können. Frankfurt/M.: Fischer Verlag. Packard, Vance (1964): Die große Verschwendung. Frankfurt/M./Hamburg: Fischer Bücherei. Pasolini, Pier Paolo (1993): Freibeuterschriften. Aufsätze und Polemiken über die Zerstörung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. München: Deutsche Taschenbuch-Verlag. Reckwitz, Andreas (2006): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaftsverlag. Rickens, Christian (2006): Die neuen Spießer. Von der fatalen Sehnsucht nach einer überholten Gesellschaft. Berlin: Ullstein Verlag. Riesman, David (1958): Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlung des amerikanischen Charakters. Hamburg: Rowohlt. Schelsky, Helmut (1958): »Einführung«. In: D. Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlung des amerikanischen Charakters, Hamburg: Rowohlt, S. 7-19. Schirrmacher, Frank (2006): Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft. München: Blessing Verlag. Ulmen/Kuhl (2007): »Spießeralarm!« U_mag 05, S. 42-44. Vorkoeper, Ute (2006): »Rücken frei für den Gatten«. Internet: http://www.zeit.de/online/2006/12/spiesser_6 [Zugriff am 03.10.2007]. Whyte, William H. (1958): Herr und Opfer der Organisation. Düsseldorf: Econ Verlag.

Schweigen. Gert Neumann CHRISTIAN DRIESEN »So ist das Außen stets die Öffnung einer Zukunft, mit der nichts endet, da nichts begonnen hat, sondern in der alles sich wandelt [...] und das Denken des Außen somit ein Denken des Widerstands.« Gilles Deleuze, Foucault »Die Freiheit [...] der, das Leben geheißenen, Zeichen bedeutet Sätze zu bilden, die Gelegenheit haben müssen, sich selbst wieder auslöschen zu können, ehe die Dummheit und Ignoranz Gelegenheit findet, aus ihnen dekretierende Sätze zu machen.« Gert Neumann, Elf Uhr

Der folgende Text schreibt sich aus der Begegnung mit den Sätzen Gert Neumanns heraus. Er versteht sich als der Versuch, einerseits das Spezifische seiner Schriften wie auch seiner Schreibpraxis festzuhalten und andererseits von der Intensität zu zeugen, mit der der Autor auf diese Texte traf. Dass Neumanns Sprechen nicht einfach spurlos vorüberzieht, zeigt sich hier in der Weigerung, einem einfach kommentierenden Stil statt zu geben, um etwa den heutzutage nahezu vergessenen Schriftsteller einer größeren Leserschaft vorzustellen. Gleichwohl bringt dies das Problem mit sich, in allzu stark mimetischer Manier den wenn auch schwach umrissenen Gegenstand vorliegenden Textes zu verlieren. Aber gerade darin liegt auch die Wette, die der Autor eingehen möchte: im Schreiben von einer Erfahrung zeugen, ohne sie sogleich in vielsagenden Deutungen wieder zu ersticken; schreibend ein, wie Neumann es nennt, Außen zu verteidigen – das Schweigen –, indem gerade nicht von ihm gesprochen, es jedoch unaufhörlich in Szene gesetzt wird; letztlich in der Schrift, in den

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schmalen Worten eine Stille ahnen zu lassen, in die man gerät und aus der man nicht herauskommt, weil sie die exzentrische Wirklichkeit selbst bedeutet. Innerhalb solcher, oftmals unversucht gelassenen und als aussichtslos abgewiesenen Konstellationen des Sprechens trifft Gert Neumann auf Michel Foucault, der in seinen frühen Schriften zur Literatur von den mannigfaltigen Erfahrungen des Außen berichtet und in einem hastenden, überwältigten Stil von einer außerordentlichen Begegnung zeugt.1 Dieses Ergriffensein führt Foucault zu einem literarischen Schreiben, das dergestalt nicht von seinem »Gegenstand« getrennt werden kann, denn das Enigmatische jener Texte gründet schließlich im Rätsel dessen, was das Außen eigentlich sei. Insofern man aber davon ausgeht, dass das Schweigen erfahren wird – wenn nicht gar das Schweigen, oder allgemein: das Außen dasjenige ist, was einzig erfahren werden kann –, so ist es zunächst einmal unmöglich, in sowohl positiver als auch negativer Weise davon zu sprechen. Es bedarf hier, wie es Foucault beispielsweise anhand Maurice Blanchots, Georges Batailles, Pierre Klossowskis oder Raymond Roussels gezeigt hat, besonderer Weisen des Sprechens, die sich, im Grunde genommen, allesamt zum Schweigen bringen, was gleichsam deren Widerstandsmoment ausmacht. Das heißt, jene Autoren zeugen von einem Anderen der Sprache, dem sie sich aussetzen und das sie zu verschlingen droht. Im Schreiben widerstehen sie auf der einen Seite diesem klaffenden Abgrund, wobei sie auf der anderen Seite einer einfach erzählenden Stimme entsagen, um von diesem tatsächlichen Ereignis – dem Aufriss der Sprachlosigkeit – in bloß darstellender Weise zu handeln. Doppeltes Widerstehen also, worin sich seine aktive Kraft äußert: sich der vernichtenden Verstummung entgegensetzen und die permanente (kritische) Beflissenheit ablehnen. Im Wort dem Wort widerstehen. Dass Michel Foucault in folgendem Text nur ein einziges Mal erwähnt wird, stellt Teil der erwähnten Wette dar, nämlich Gert Neumanns Erfahrungen in denen des lesenden und schreibenden Autors Ausdruck zu verleihen und so mit jenen Michel Foucaults zu verketten, auch wenn, ohne Zweifel, die Schriften zur Literatur eine solche unwahrscheinliche Konstellation erst ermöglichten. Daher ließe sich auch sagen, Foucault und Neumann durchdrängen sich gegenseitig, wobei der Ort, an dem dies sich zuträgt, der nun endlich folgende Text sei. Das Sprechen der Diktatur ist leer. Ihre Sätze verschweigen notwendigerweise die Möglichkeiten eines Zusammenhangs, in dem einem Schweigen statt gegeben würde, das jegliches Sprechen durchzieht. Ein solches Geschehen, worin diese stummschweigende Stimme zum Ausdruck kommen könnte, ohne zugleich innerhalb von statischen Bedeutungen gesetzt zu werden, besteht für Gert Neumann im Gespräch: 1

Zuletzt versammelt in Foucault (2003).

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»Mit den Methoden des Nichtssagens lassen sich die Möglichkeiten des Gesprächs nicht entdecken. Solange das Sprechen glaubt, dem Schweigen Stimme oder Gelegenheit zum Sprechen geben zu können oder geben zu müssen –, erfahren wir gewöhnlich nichts von den Inhalten des Schweigens. Die Methoden solchen Sprechens sind gewohnt, Räume für ein Sprechen einzurichten, das behauptet, mit ihm sei ausgemacht, in ihnen könne sich das Schweigen sagen. In diesen Räumen bleibt auf immer neue Weise die Dimension des Schweigens unbekannt; denn in Räumen des Nichtssagens wird das Schweigen gedeutet.« (Neumann 1992:107)

Von dem unaufhörlichen Versuch, das tiefe, aber darin eben nicht begründbare Schweigen keiner Bedeutung oder keiner Deutung auszusetzen, handelt Gert Neumanns Schreiben. Es ist dies eine Poetik des Widerstands, die in ihrer sperrigen Gestalt einerseits das versuchende Tasten in grammatischen und semantischen Gegenden verteidigt, wo die grundlegende Funktion der Schließung eines Sinnbogens zugunsten einer Mannigfaltigkeit von Verkettungen aufgegeben wird, um andererseits im dergestalt sprechenden Text von jenem Schweigen und dessen Inhalten zu zeugen. Widerstand in dem Sinne operierte aus der Erfahrung um den schweigenden Ausdruck heraus in einer Realität, die unnachgiebig diese Erfahrung zur Unmöglichkeit erklärt. Dass »in allem Geschehen jenes Verhinderte, das sich Poesie nennt, enthalten« (Neumann 1988: 24) sei, soll umgekehrt andeuten, wie ein herrschendes Sprechen gerade ein anderes Sprechen zu einem fehlenden, nicht existierenden macht, um somit den eigenen Anspruch notwendiger Allgegenwart jeglicher Situation einzusenken. »Die, inzwischen, eindeutige Absicht solcher Sätze, die Anwesenheit eines Schweigens in der, für die Wirklichkeit, notwendig erscheinenden Sprache bis zur: Unmöglichkeit zu leugnen, um den Menschen ihren Kontakt zu diesem Schweigen vollkommen, als dann schon nicht mehr einklagbares, Menschenrecht nehmen zu können […], wenn nämlich endlich die Regeln für das Sprechen der Sätze und Situationen im Menschen vernichtet sind.« (Neumann 1988: 107)

Die Macht der Diktatur, d. h. die herrschenden Sätze und Ereignisse erklären die Anwesenheit eines völlig stillen, aber nichtsdestotrotz vollen Schweigens zur Unmöglichkeit – womit dessen Erscheinen, auch in einem messianischen Sinne, niemals eingefordert werden kann. Als eigentliches Recht der Menschen, in dem ihre Würde eine zaghafte Stimme erhielte, ohne jemals in einem möglichen Rahmen festgehalten werden zu können, wird es in der Leugnung seiner Existenz vernichtet. Und eben nicht nur ins Abwesen geschoben, sondern: ausgelöscht. Die für Gert Neumann unüberwindliche Zensur der DDR hat ein äußerstes Interesse daran, die »permanente Existenz jener Leere« im Denken zu verankern, um »den Leib von den ›lebendigen Buchstaben‹« (Neumann 1987: 17) zu trennen.

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Von dieser Erfahrung spricht die Literatur Gert Neumanns, dessen eigener Körper als seismographische Einschreibfläche realsozialistischer Gewalt erscheint: eine nahezu unbegreifliche Sensibilität für das Verfahren, einer wahrhaftigen Stimme die Bedeutung zu entziehen, indem es alle Deutungen von Ereignissen besetzt, um sie mit einer fundamentalen Leere zu versehen. Diese dem Schweigen zugefügte (Sprach-)Losigkeit wendet sich in die positive Verstummung dort, wo stets noch Möglichkeiten verteidigt werden können, die überhaupt keine Sprache hatten, aber in einer solchen Virtualität durchaus real Gestalt erhielten: schweigend in den Tränen, die angesichts des schwarztobenden Verfalls die Augen verschlossen. Die umsichtige Vernichtung dessen, was sich im Grunde der Position der Macht entzieht, schlägt permanent die Wunde eines Denkens, das nicht aufhören darf, das Zerstörte, das bis in den Tod hinein Ausgeschlossene: das Außen zu inszenieren. Dieses Außen bildet, wie einst Michel Foucault ganz unwahrscheinlich in Bezug zu Maurice Blanchot sagte, einen reinen Ort der Bedeutungslosigkeit, an dem – einer resonierenden Bühne gleich – Sätze und Ereignisse entstehen können, die ihr eigenes Auftauchen in einem stillschweigenden Entgleiten der Bedeutung selbst aufzulösen vermögen. Im Ohne der Bedeutung, das die Diktatur auferlegt, vollzieht sich aber auch die Würdigung einer Stimme, deren Sprechgesang der statischen Alternative von Affirmation und Kritik entgeht, d. h. einen tatsächlichen Nicht-Ort, einen u-topos schafft, der statt hat in der Schrift Gert Neumanns. Diese anwesende Ortlosigkeit des Schweigens korrespondiert, etwa in der Suche eines geeigneten Schreiborts, dem Begehren der Poetik selbst. In seinem ersten Roman Elf Uhr aus dem Jahre 1981 versucht er, der im ehemaligen Zentrum Warenhaus Konsument als Haushandwerker beschäftigt ist, jeden Tag um dieselbe Zeit seine Notizen zu schreiben, wofür es eines Ortes bedarf, an dem die Gefahren der Entdeckung, mit anderen Worten: die Gefahren der aufstöbernden Deutung fast nicht bestehen. Die vernichtende Unmöglichkeit eines bedeutungsvollen Ausdrucks in der Geste sichtbaren Schreibens verschlägt Gert Neumann immer wieder in die Atemlosigkeit, Angst und verwundete Konzentration, die es jedoch für das Ereignis des Schweigens in einem Satz abzuschirmen gilt. Von purer Offensichtlichkeit in der Leipzig Information, abgerungen aufgrund unrechtmäßigen Entfernens vom Arbeitsplatz, bis hin zu den Toiletten und Telefonzellen des Warenhauses in uriniertem Hass oder höchster Erwürgung erstreckt sich die reale Odyssee eines Sprechens, dessen Widerstand ja gerade in diesem Parcours der Abschirmung eines eingefalteten Schweigens sein noch fahles Licht erhält. Daher fehlt auch nicht jene beschworene Poetik des Lebens, sondern die Bezeugung von deren zu schützender Existenz bildet das Moment eines Widerstehens, das sich nicht in einer bloßen Kritik herrschender Zustände erschöpft. Gert Neumann zeigt in seinem Schreiben, in welchem Maße die Opposition an der Diktatur selbst teilhat:

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»Tatsächlich gebrauchen diese Erscheinungen allerdings schon die Ordnung des Gesetzes, um sich artikulieren zu können: ohne noch nach dem Diskurs zu fragen, den das Gesetz in das Fleisch der Gegenwart zu schreiben beabsichtigt!, und schreibt!...« (Neumann 1988: 18)

Der Diskurs erscheint hier nahezu als Sieb, als eine gestanzte Ebene, die das Auftauchen möglicher Sätze und Handlungen regelt, strukturiert, wobei das Gesetz die Möglichkeiten des Körpers: seine Affekte zu deuten vermag. Und das heißt zu behandeln, einzukreisen, um die eigene Macht und deren Gestalt, also die eigene Präsenz unendlich gewährleisten zu können. Für Gert Neumann findet im oppositionellen, im kritischen, im negativen Sprechen kein Denken statt, »weil es sich schon nach der Ordnung des Gesetzes zu sehnen begonnen hat.« (Neumann 1988: 18) Demnach begehrt das kritische Denken die Ordnung des Gesetzes, der es kritisch gegenüber steht, weil es selbst zum Ausdruck gelangen möchte, den es nur vermittels jener Ordnung erhält. Sucht die Kritik die Wahrheit der Ordnung in einer Geste, die das Gesetz und dessen Ordnung denunziert, um derart selbst wahrer Ausdruck der unerbittlichen Verhältnisse zu werden, so hat sie unauflöslich an dieser Ordnung teil – weil sie die Weise des (be)deutungsvollen Sprechens wiederholt und darin immer wieder herstellt. Indem die Kritik das Außen des Denkens – die stummschweigende Stimme – im Denken selbst verfehlt oder, wie die Macht, in die Abgründigkeit wohlfeilen Denkens verlöscht, vernichtet sie letztlich eine Hoffnung der Menschen, deren Würde erst in einem anderen Sprechen zum Vorschein käme. Auf der Seite herrschender Sprachhandlungen erfährt Gert Neumann, nachdem er seinen Sohn, der nicht mit dem Stasi gegen seinen Vater zusammenarbeiten wollte, aus dem Gefängnis begleitet, das Begehren der Observation in deren Übersetzung in einen Straßenbahnkontrolleur. Diese Übersetzung stellt für ihn eine Verkörperung, eine Stülpung, eine notwendige Maske dar, die sich aber »nicht als eine Maske demaskieren lässt«. (Neumann 1988: 24) Hinter der Observation und ihrem Begehren gelangt man nicht zu einer Tiefe, die eine Verstellung in der Maske erfahren würde und worauf ein couragierter Maskenabreißer hinwiese. Dem Kontrolleur kann nicht durch Empörung begegnet werden – hier kann einzig die Erfüllung seines Begehrens geschehen, worin die Maske als notwendige erkannt wird. Und zugleich das perfide Begehren der Observation, die Insubordination heraufzubeschwören, um den schon grundlegenden Gesetzes-Text, die Realität immerfort zu bestätigen. Weil das Interesse der Observation sich erfüllen möchte, muss es sich an Abweichungen – oder Orten möglicher Abweichung – beweisen. Diese sind also auf der Seite des Gesetzes bekannt, das ja immerzu diese Subversionen begehrt, damit sich die Interpretation der Wirklichkeit von den Sätzen des Gesetzes aus bewahrheitet. Darin steckt aber auch der Entwurf, die Projektion der

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Wahrheit selbst, die einzig ihrer Erfüllung im abweichenden Akt harrt. Und somit vollzieht sich die offensichtliche Opposition: die Umsetzungen im Auge des empörten Körpers, im Einverständnis mit dem Gesetz, wogegen verstoßen wird. Aber dies nicht so sehr, weil das Gesetz als Verbot seine Überschreitung mitsetzt (als sein notwendiges Anderes), sondern eher weil es im Abweichen zu seiner Wahrheit gelangt: nämlich als Wirklichkeit gestaltendes Sieb. Gert Neumann sagt daher: »Widerstand war, das will ich Ihnen sagen, notwendig von seinen Verpflichtungen auf sein ›Gegen‹ zu trennen […] meine Auffassung vom Widerstand [war] vollkommen richtig in einem Ungesetz entdeckt; wo Widerstand außerhalb seiner Bindungen an die Sicherheiten eines ihm gegenüberstehenden anderen, nach Antwort über seine Rechte zu suchen hat.« (Neumann 1999b: 102f., 107)

Ist die Verteidigung der Würde des Sprechens zutiefst damit verbunden, auf die Negationen des opponierenden Denkens zu verzichten, so kann dieses Widerstehen nicht von einem Fehlen oder einer Nichtexistenz des Schweigens ausgehen. Eher wird hier die Rede sein von dessen eigener Überfülle, die sich nicht vollendet oder erschöpft in der Resistenz aller möglichen Einsprüche. Utopie in dieser Hinsicht zeugt von der unendlichen Bewegung, die ein anderes, bedeutungsloses Sprechen erfährt, das schweigt und in dieser Weise in allem Sprechen und Schweigen ausgedrückt ist. Wie geschieht dies? Welchen Gesang verleiht Gert Neumann seinen Texten, die die Intensitäten der Realität selbst offen zu halten versuchen, indem sie »die Eitelkeit der Verhältnisse […] aus dem Denken drängen […] das sich […] zu erschöpfen droht«? (Neumann 1988: 9) Zunächst schreibt sich ein Text in der Realität und als Realität weiter in den Möglichkeiten der Worte. Die Gegenwart eines Schweigens wird durch diesen Text vergessen gemacht, obwohl sich die Existenz des Schweigens, also sein Ausdruck, im Schattentext befindet: d. h. in niemals sichtbar zu machenden Worten. Schweigen ist somit unleugbar anwesend. Gert Neumann taucht nun in den Gegenwartstext ein, um das Verschollene zu finden, das in einem Dialog steckte, der sich etwa aus zwei Lesarten eines Ereignisses zusammensetzte. In dieser Begegnung, die eine sprechende Zukunft offen hält, entsteht ein Tasten in den Räumen des Schweigens, das jedoch missachtet wird, indem dessen Sensibilitäten übergangen werden. Mit seinem Schreiben verbindet Gert Neumann selbst die Hoffnung, das Ghetto der Gegenwart zu verlassen, wobei die »gefügten Wörter sich geduldig weigern [müssen], etwas in diesem schwierig sichtbaren Dialog zu repräsentieren, das seine Gestalt in der, dieses dialogische Schweigen ganz verschweigenden Gegenwart hat.« In dieser gemeinsamen Weigerung des Bedeutens und Deutens ist es dringlich, »diese Stimme nicht zu ver-

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fehlen, die jedoch in dieser Gegenwart eine erstaunliche Konzentration verlangt: sie, als eine Möglichkeit, zwischen den driftenden Dingen überhaupt zu hören.« (Neumann 1988: 10)

Ein Sprechen muss vom Schweigen zeugen können, das sich zugleich in ihm zuträgt. Vom Schweigen, von der Poesie zeugen, heißt nicht, sie zu repräsentieren oder vorzustellen als etwas, das seinen Ort und sein Bild hat. Dieses Sprechen kann einzig die Kunde tun und anzeigen, dass das Schweigen statt hat, womit es sich – weil nicht determiniert oder mit einer reflexiven Form versehen – dem umtriebigen Blick entzieht und dergestalt seine Wirkung entfaltet. Es sei notwendig, »dieses Denken mit einer Konspiration zu schützen, die ich poetisch nenne« (Neumann 1988: 11), was beinhaltet, die Observation permanent zu täuschen, um klandestin eine Nachricht über die Präsenz eines Schweigens in die Dämmerung zu flüstern. Ein widerstehendes Sprechen zeugt schweigend vom Schweigen, in dessen Undurchdringlichkeit wiederum das Sprechen dem Geschehenszusammenhang entrinnt. Gert Neumann erhebt, an Gilles Deleuze orientiert, die Klandestinität zum geistigen Programm einer solchen untergründigen Praxis und sagt: »Die Zeichen der Klandestinität gehören einem poetischen Prinzip an, das in der Praxis lebt, wenn sie die Zeichen, aus denen sich die Realität rekurriert [...], anders als die Realität: bedeutet. Nämlich, dass aus ihnen das Wunder der Wirklichkeit entsteht, das (um der Phrase zu entgehen) das Denken in der Gegenwart nicht verwahrlosen lässt oder sich des Menschen entfremden, indem es sich in den Gegenständen erschöpft […] Die Dinge sind, wenn wir über sie sprechen, nur noch über den äußeren Buchstaben zu begreifen. Das sind sie allerdings nicht, wenn wir es gelernt haben, diese Sprache zu schweigen. Mit solchen Fragen beschäftigt sich die Klandestinität; im Text und in der Praxis.« (Neumann 1987: 14f.)

Diesem Prinzip der Unwahrnehmbarkeit entspricht die Veröffentlichungspraxis Gert Neumanns, der Mitte und Ende der 1980er Jahre in Leipzig einige Zeitschriften in minimalster Auflage herausbrachte, um alsgleich in den Konflikt mit der Observanz zu geraten. Dabei publizierte er selbst, wie auch andere, verschiedene Texte immer wieder auch in anderen Zeitschriften befreundeter Herausgeber, womit sich ein Geflecht seines Sprechens in ganz untergründiger Weise ausbreitete. Auch jetzt noch ist Gert Neumann der Klandestinität verpflichtet, wenn er nahezu ausschließlich in kleinsten Kunst- und Poesiezeitschriften oder Kunstbüchern seine strömende Prosa zum Schweigen bringt. Die Klandestinität bezeugt eine metallurgische Schreibweise, die das Schweigen und dessen Stimme gewissermaßen als Material auffindet. Genauer gesagt: Eine Stimme begleitet stumm all das, was erscheint, und es sind die unendlichen Inhalte des Schweigens, die auf jene Stimme deuten, indem sie in ihnen zum Ausdruck kommt. Die Stim-

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me ist in allem dasselbe. Die Inhalte des Schweigens dagegen sind mannigfaltig, wie das davon zeugende Sprechen, die Dinge, deren Konstellationen, die Körper, Arbeitsvorgänge und alle Handlungen stets verschiedene sind. Die klandestine Schrift erfährt ihre eigenen Zusammenhänge in Gestalten der Arbeit, die Gert Neumann in einem evangelischen Krankenhaus ausführt. Riesige Heizkessel sollen von Rost befreit werden, um Funktionsmessungen an der Wandstärke vornehmen zu können. Diese im Realsozialismus hoffnungslose Konstellation, die mit der Bereitstellung eines Winkelschleifers etwa noch verhöhnt wird, weil jener aufgrund vernichtenden Materialmangels gar nicht zu benutzen ist, jedoch in seinem plötzlichen Auftauchen den Willen der Observation ausdrückt, in die unmögliche Arbeit kontrollierend und eventuell denunzierend einzugreifen – diese Konstellation also wird mit dem Prinzip der Kesselreiniger in Bewegung gebracht, indem deren Abtauchen in die Dunkelheiten des Kesselbauches sich auf das Sprechen wendet. Unwahrnehmbarkeit im Dialog selbst, den Gert Neumann mit seinem bulgarischen Kollegen Angel schweigend pflegt, bedeutet: die Realitäten mittels einer Poetik zu befreien, die er auch »Himmel des Gesprächs« (Neumann 1988: 38) nennt. Die Realitäten, beispielsweise sozialistischer Arbeit oder städtischen Verfalls, deuten im Grunde alle Infamie als Bestätigung ihrer Existenz und sind demzufolge stumm: verdrängend hinsichtlich anderer Intensitäten. Die Klandestinität der Kesselreiniger hingegen widersteht dieser Verfehlung eines Gesprächs, dessen Himmel nicht das gesamte Geschehen überwölbt, sondern eher als Ungesetz transformierend durchzieht. Das Gespräch, dessen Bewegungsmöglichkeiten weitestgehend offen gehalten werden, gestattete und hielte lebendig eine Differenz – nämlich jene Poetik –, die immerfort in den Affekten der Bewegung zum Ausdruck käme. Subversion geschieht in diesem Sinne und nicht in der Weise, die Differenz des Dialogs – auch im Schweigen – mittels einer harten Deutung oder einer festen, vollendeten Geste stets zu wiederholen und genau dieses Verfahren noch zu repräsentieren. Die Infamie, die Gewaltsamkeit... Eher schon von den simplen Sätzen negativer Bestätigung der Realitäten ablassen und positive Sätze außerhalb der allumgreifenden falschen Alternative von Affirmation und Kritik sich ereignen lassen. Es bedarf – zu jeder Zeit – der Künste des Schweigens: eines »geschwiegenen Widerstands« (Neumann 1988: 66)2, dessen Klandestinität dem Werden der Dinge, und das heißt stets: ihrem Sprechen, ihrer Nichtidentität, statt gibt, um sich selbst in einem Lächeln auszulöschen, das sich dem Gesang der Wirklichkeit hingibt. Es gilt, sich dem statischen Denken zu entziehen, das das Schweigen der Stimme in eine natürliche Form deutet, die den Anspruch dieser Siebung: die absolute Fundamentierung eines bedeutungsvollen, jedoch nie erfüllten Sprechens (=die Grammatik des Entzugs) in 2

Vgl. »klandestines Schweigen« (Neumann 1988: 71).

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jedem Geschehen zu verwirklichen sucht. Es gilt, sich dieser Grundlegung immer wieder zu entwinden, in jeglicher Handlung, in jedem Sprechen... Man muss ein dynamisches Denken bezeugen und darin zugleich vollziehen. Das Denken, in dem die stummschweigende Stimme statt hat, muss folglich selbst als Ereignis des Denkens verstanden werden – denn die Poetik gelangt hier zu ihrem Recht, weil sie sich auszudrücken vermag, ohne einer grundlegenden, also entwürdigenden Bestimmung anheim gestellt zu werden. Im Denken als Ereignis, in einem inszenatorischen Denken des Außen, das ein Sprechen der Transformation, der Überfülle und des Werdens entwirft, ist die Kraft jener Poetik von ihren Verkörperungen niemals getrennt, weil sie unmittelbar im Subjekt oder im Ding sich ereignet. Deshalb vermögen die Dinge zu singen oder, was dasselbe ist, von sich zu zeugen: Der Stein spricht und deutet auf seine tiefe Dunkelheit, indem er in seinem am Wegesrand Daliegen von einem Geschehen zeugt, das die Differenz seines Entstehens verkündet. Die Welt singt in ihrem Dasein von ihrer je erstaunlichen Singularität und verweist im selben Moment auf den darin begriffenen universellen Charakter der Stimme selbst – weil sie sich als dasselbe in allem je verschieden ausdrückt. Statisches Denken nach Gert Neumann streute hingegen unaufhörlich einen »zur Bejahung des Nichts verpflichten wollenden Mangel« (Neumann 1988: 38) ins Sprechen, um diesen zur Natur zu machen. Das heißt aber zunächst, dass es nicht vom Mangel, von einer Leere oder einem im Realsozialismus allgegenwärtigen Fehlen handelt, sondern die Wirklichkeit in dieser Weise repräsentiert. Was zu Beginn mit der Unmöglichkeit von Schweigen angedeutet wurde, erhält in einem aktiven Bild der Repräsentation der Leere seinen konkreten Ausdruck, denn den herrschenden Sätzen geht es mit aller Gewalt um die Vernichtung desjenigen, der das Schweigen in ganz unmöglicher Weise zu verteidigen sucht. Es handelt sich hierbei um den bis in die staatliche Verfolgung und Verhaftung durchgesetzten Vorwurf der Bedeutungslosigkeit von Gert Neumanns Sprechen, einem Vorwurf, der in drei Bedeutungsohne Gestalt und Wirkung erhält. Ein Bedeutungsohne weist nicht bloß auf einen Sinnzusammenhang, der innerhalb eines Gefüges nicht von Bedeutung ist, was mit einer Wertung angesprochen würde, aber keinesfalls die Existenz des Geschehens angriffe. Darüber hinaus deutet dieser mögliche Begriff auf den fundamentalen Eingriff in ein Denken, um es einerseits in die Marginalität zu drängen und dann andererseits als nichtig oder letztlich: nicht existent zu erklären. Dies lässt sich mit trauriger Beispielhaftigkeit zeigen, denn wenn es einen faktisch in die Unmöglichkeit vernichteten Autor der DDR gab, so Gert Neumann. Die Bestimmung seines Schreibens treibt auf einer ersten Ebene zur absoluten Unverständlichkeit des Textes selbst. Die mäandernden Sätze, vollgestopft mit Einschüben, Einwendungen, eingekapselten Räumen, Faltenwürfen, zerborsten aufgrund fliehender und umherirrender Kommata,

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zersetzt, aber damit zugleich intensiviert durch Mehrdeutigkeiten, nahezu physische Zustände in der Dichte, im Andrängen offener Worthälse, die Buchstaben als Ereignisse eines Sehens und Sprechens, in deren Schößen noch ganz Unbegreifliches zum Tragen kommt – diese Sätze, die fast ausschließlich von Sätzen handeln, haben für die Zensur keine Geschichte, keine mögliche Rezeptionsform. Und weil sie für die Verlage der DDR nicht sprechen, nicht vom Realsozialismus und schließlich nicht für denselben handeln, bedarf es dieser Literatur nicht, zumal keineswegs von Literatur gesprochen werden kann, allenfalls noch von theoretisierenden Texten. Gert Neumanns Schreiben spricht, für die Diktatur, von nichts. Kein einziger Satz dieses Autors, den manche für den radikalsten aller Dissidenten in der DDR halten wollen, wird jemals in diesem Land mit einer Genehmigung erscheinen. Das erste Bedeutungsohne operiert demnach inhaltlich und formal auf der Ebene der Texte selbst, wobei es sich in perfider Weise noch offenherzig gibt, indem es sich zu fadenscheinigen Gesprächen bereit erklärt, die über gewisse Zugeständnisse seitens des Autors nachdenken, weil er doch – als Arbeiter – vom Geschehen realsozialistischer Arbeitszusammenhänge auch schreiben solle und könne, um möglicherweise zur Veröffentlichung zu gelangen. Dies leitet das zweite Bedeutungsohne: das Veröffentlichungsverbot, wodurch Gert Neumann in die Bedeutungslosigkeit, in die Anschlussunmöglichkeit gezwungen wird. Man muss erneut alle Absagen, sich daran anschließende Verhandlungen, die verachtenden Verzögerungen... durchsehen, um das Entsetzen angesichts herrschaftlicher Drohungen wieder empfinden zu können. Alle Versuche, in ein Gespräch mit der Realität hindurch seine Texte zu treten, scheitern in aufgezwungenen Gesprächen über das richtige Denken und Schreiben; scheitern an herrschende Sätze Ausstoßenden, die ihren eigenen Grund für ein solches banales, zugleich aber umfassendes Denken zu verteidigen meinen, indem sie drohendes Unverständnis über diese schweigende Poesie äußern. In den Androhungen der Bedeutungsohne zeigt sich die systematische Notwendigkeit, Gert Neumann in der (Sprach-)Losigkeit jeglicher Bedeutung zu halten, weil er die herrschenden Deutungen dennoch unaufhörlich in Gefahr bringt. Daraus muss geschlossen werden, dass die Denaturierung seines Denkens im gleichen Zug die Gefahr hervorbringt, die doppelt zurückgeschlagen wird: die Vernichtung des Schreibakts und des Sprechakts in der Drohung des Ohne. Aber zugeben wird man gleichwohl, dass diese Maßnahmen offenbar nicht ausreichen, eine solche Widernatur zu bekämpfen, weil die Gefahr als völlig nichtig in Bezug zum Leser vorgestellt werden muss. Gert Neumanns Schrift ist dermaßen ohne Bedeutung, dass die Leserschaft davor zu schützen ist. Indem man ihm keine Rolle in der Diktatur zugesteht, verrät diese ihren totalen Anspruch auf eine bestimmte Weise der (Be)Deutung des Lebens selbst (vgl. Neumann 1999a: 110). Und sie wird bis zu jenem Punkt

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gehen, wo sie die Zensur, das bloße Verbot verlässt, um direkt auf den Körper, etwa in Gestalt seines Sohnes oder Bruders zuzugreifen, damit er die wohl brandgefährliche Position außerhalb eingespielter Zuweisungen und Bezichtigungen aufgibt. Auch Gert Neumann wird des öfteren verhaftet, lebt selbst in einem realen Verfolgungswahn, der in seinen Entstehungszusammenhängen die paranoische Struktur des realsozialistischen Systems im Grunde einfach spiegelt. Sein Bruder Michael wird die psychotisierenden Versuche des Stasi mit seinem Selbstmord beantworten (vgl. Neumann 1991: 148ff.). Sollte deswegen nicht von einem dritten Bedeutungsohne gesprochen werden: nämlich von der Austauschbarkeit des lebendigen Menschen, von dessen Ersetzung durch die gähnende Leere, die dem Verordnungsbeamten angesichts einer solchen Erwägung entfährt? Es bleibt dies die letzte Drohung – heute gewendet in die Entlassungsdrohung –, die einem Menschen entgegengebracht werden kann. Und vielleicht bildet dieser Umstand tatsächlich eine Ausnahme zur Bemühung, das Lebendige eher produktiv zu halten, als es möglicherweise zu verschleißen. Zudem scheint dieses dritte Bedeutungsohne in jetziger Gesellschaft wieder zu wirken und die vorherigen Entwürdigungen in einer perfiden, also bürokratisch banalen Vernichtung zu vervollständigen, zu erfüllen und zu erschöpfen.3 Verbirgt beispielsweise die Androhung von Arbeitslosigkeit im Hinweis auf die eigene Austauschbarkeit nicht den heimlichen, aber doch offenkundigen Satz, der Vernichtung in einem gesellschaftlichen Abgrund nur bei Einhaltung gleichen Drucks auf die psychophysische Produktion des Individuums zu entrinnen? Die Möglichkeit des Todes – das letzte und vielleicht erste Ohne – schwingt mit in einer Gesellschaft, deren Begriff von Arbeit jegliche freie Tätigkeit (Gert Neumann nennt dies: »positive Arbeit« (vgl. Neumann 1988: 87, 94) und verkoppelt sie direkt als Widerstand, im Gegensatz zu Strategien der Verweigerung, des Zynismus oder gar Alkoholismus4) einem Monolog unterstellt, der die Würde der Dinge und der Menschen missachtet, indem er alles in den identischen, identifizierenden und identifizierbaren Satz stürzt. Von der Würde des schweigenden Denkens zu sprechen, worin die Dinge und die Welt leise summen können; worin die Handlungen der Menschen aus Freiheit den Dingen hörend und zarten Lächelns entgegengehen – erscheint dem statischen Denken als Gefahr, weil es gerade mit der Überfülle dessen, was sich nicht auf den Begriff bringen lässt, operiert oder spekuliert. Es möchte ihrer habhaft werden, um sie in die Bedeutungslosigkeit zu reißen, da es zugleich gewahr wird, in welchem Maße dieses poetische Schweigen die herrschenden Sätze und Geschehen tatsächlich bedroht.

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Was, insofern man dessen noch bedarf, die Aktualität der Erfahrungen Neumanns bestätigen mag. Hierzu vgl. Neumann (1999).

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»Mehr wäre zu sagen vom blendenden Schwarz..., wenn der Ausdruck der Brandmauer nicht doch plötzlich nach innen schlüge, von der irgendwann vergessen war, welch ein Ereignis sie verließ. War es Krieg, der sie vom eigentlich wie folgenden trennte, oder war es Inflation oder der danach gekommene letzte Krieg? – oder war es die Zerstörung, die mit dem ermüdeten Gebrauch dann nicht mehr neu oder gar nicht wieder gefundener Dinge kommt und zurücklässt, was im so herrschenden Schweigen als verfehlte oder dialogunwürdige Sache bleibt, die sich wie allein noch zu etwas wandelt, das immer bemerkt werden kann zur Errichtung verantwortungsloser Utopien, die davon leben, dass die Dinge oder Ansichten oder die Menschen vereinsamen müssen; oder sich vereinsamen lassen müssen. Spätestens das wäre der Augenblick, von innen das Außen zu schützen: das heißt, vor den Konsequenzen so nie gewesener Stille aus Schwarz zu bewahren, die bis in endgültige Tiefen der inneren Möglichkeiten reichen wollen: wo also neue Generationen bisher erfolgloser Gedanken versuchen, dem Stein draußen beispielsweise das zurückzuformen, was ihnen die Sinnerosion eigentlich schon nahm. Sie können ihm nämlich tatsächlich neue Bedeutungen geben, wenn die gerundeten Kanten roter Steinfeuchten von Spatzen oder stadtblauen Tauben unter vorsichtig matt gesetztem Flügelschlag besetzt werden, um aus den Fugen hinter gebreiteten Flügeln tief mit dem Kopf hineingebeugt ihnen mangelnde Minerale zu bergen. Denn dann ist die Verwahrlosung eine, die sofort nach endgültig neuen Sätzen aus diesen Nähen verlangt. ›Geduld!‹ möchte die Stimme da innen rufen, und: ›Es braucht vielleicht noch einmal eine konzentrierte Nacht, und dann ist es an der Zeit, um zum Vereinsamten ganz verändert hinauszugehen, um die Versöhnung zusammen mit den Steinen hinter meiner noch immer weißen Wand zu erfahren! Dann wird das Pathos des bis dort gediehenen Untergangs in der eintreffenden Gebärde meines Sprechens enden..., dass also, endlich, alle auch mir einsamen Gedanken in ihre wahren Gestalten durch die Dinge zurückkehren können...‹ Der Morgen begann aber mit dem dann bösen Geschrei der Vögel; die die Hand und den Gedanken des Menschen vermissen. Ihre Geräusche kamen mit der genauen Logik des Lichts am Morgen und sie herrschten über dem fortan nicht mehr gelungenen Denken. Und die Außenwand war schwarz als Ahnung der Unmöglichkeit nach innen geschlagen. So, dass die Frage sofort immer weniger lautete: wohin man also wirklich nicht mehr aufbrechen könne und fortgehen, um doch anders denken und sprechen lernen zu können. Es war eine andere Mauernmetapher, real, in der Antwort.« (Neumann 1988: 134f.)

Literatur Deleuze, Gilles (1992): Foucault, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2003): Schriften zur Literatur, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Gert Neumann (1987): »Geheimsprache Klandestinität«. Neue Rundschau 98, 2. Gert Neumann (1988): Die Klandestinität der Kesselreiniger, Frankfurt/ M.: Fischer Taschenbuchverlag.

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Gert Neumann (1991): »Das nabeloonische Chaos«. In: ders., Übungen jenseits der Möglichkeit, Frankfurt/M.: Koren und Debes. Gert Neumann (1992): »Sprechen in Deutschland«. Der Prokurist, Nr. 9. Gert Neumann (1999): Elf Uhr, Köln: DuMont Verlag. Gert Neumann (1999a): »Brief in das Gefängnis«. In: ders., Verhaftet. Dresdner Poetikvorlesung 1998, Dresden: Thelem Verlag. Gert Neumann (1999b): Anschlag, Köln: DuMont Verlag.

Proteste und Resistenzen der Erwerbslosen AXEL PHILIPPS Mit der Arbeitsmarktreform Hartz IV wurde zum Anfang des Jahres 2005 neben anderen Maßnahmen ein neues staatliches Instrument zur »Reaktivierung« von Langzeiterwerbslosen für den ersten Arbeitsmarkt eingeführt: die Ein-Euro-Jobs. Die Bezeichnung ist dahingehend irreführend, dass es sich bei den Arbeitsgelegenheiten gegen Mehraufwandsentschädigung (MAE) – so die amtliche Benennung – um keine regulären Arbeitsverhältnisse handelt. Diese Art der Beschäftigung stellt weder eine sozialversicherungspflichtige Arbeit dar, noch haben die dort tätigen Erwerbslosen die Rechte von Arbeitnehmern. Schafft eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) dagegen wenigstens ein reguläres Beschäftigungsverhältnis auf dem zweiten Arbeitsmarkt, besteht das Ziel dieser Arbeitsgelegenheiten allein darin, die Fähigkeit der »Betroffenen« zu stärken, sich aus ihrer Notlage zu befreien und ihre Existenz zu sichern. In den Blick der Parteien war dabei vor allem jene Gruppe von Menschen geraten, die aufgrund ihrer langjährigen Erwerbslosigkeit in der Öffentlichkeit das Stigma von Müßiggängern und Faulenzern haben (vgl. Oschmiansky 2003). Für diese wurde schließlich ein neuer Beschäftigungssektor geschaffen, der gemeinnützige Arbeiten im öffentlichen Interesse umfasst, ohne Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt zu verdrängen. Weiterhin wird den dort Beschäftigten kein Lohn, sondern eine Entschädigung für den anfallenden Mehraufwand durch Anfahrten und sonstige Kosten gezahlt und sie können eine Teilnahme nur unter hohen finanziellen Einbußen ablehnen. Seit dem 1. Mai 2006 wurden diese Bestimmungen noch weiter verschärft, so dass die Sachbearbeiter den Arbeitslosengeld (ALG) II-Beziehern bei Ablehnung eines Ein-Euro-Jobs die staatlichen Leistungen um bis zu 60 Prozent kürzen können. Unter diesen Bedingungen möchte ich betrachten, auf welche Weise sich Protest und Resistenz regt. Dabei konzentrieren sich meine Betrachtungen auf die unterschwelligen, verdeckten Renitenzen und Widerbors-

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tigkeiten der Erwerbslosen in Ein-Euro-Jobs. Sie praktizieren teilweise eine alltägliche Resistenz, die einem gängigen Verständnis von sozialem Ungehorsam leicht entgeht, insbesondere wenn unter Protest nur soziales Verhalten verstanden wird, das aufgrund sozialstruktureller Ursachen gesellschaftliche und/oder gesetzliche Normen verletzt und zugleich innovatorisch oder restauratorisch zielgerichtet agiert (vgl. Volkmann/Bergmann 1984: 14). Diese Minimaldefinition ist zwar in der Lage, sowohl kollektive und individuelle als auch spektakuläre und stumme Proteste einzuschließen, aber sie betrachtet Resistenz als eine bewusst ausgerichtete Herausforderung der gegebenen Machtverhältnisse. Dies soll gewährleisten, dass sich ein anonymer, individueller Protest vom so genannten »abweichenden Verhalten« wie Faulheit, Desinteresse oder Arbeitsscheu unterscheiden lässt. Die Definition von Resistenz als eine reflektierte und geplante Handlung birgt jedoch die Gefahr, dass eine Analyse von Resistenzformen nach Beweggründen sucht, die auf einer identifizierbaren Gegenwelt aufbauen. Dieses Verständnis setzt damit voraus, dass Widerborstigkeit auch außerhalb der Machtbeziehungen ein Eigenleben führt, weil es auf einer Alternative zu den gegebenen Verhältnissen beruht. Dabei muss aber resistentes Verhalten zwangsläufig unberücksichtigt bleiben, das erst durch die Markierung und Ahndung der Macht entsteht. Zur Resistenz kann schließlich auch alltägliches Verhalten werden, das mit einer Macht in Berührung kommt, weil es den Vorstellungen und Absichten der dominierenden Gruppen nicht entspricht und als Widerspenstiges gebrandmarkt und verfolgt wird. Beispielsweise beschreibt Michel Foucault die Einführung systematischer Aufzeichnungen alltäglicher Schrulligkeiten, Unregelmäßigkeiten und unbedeutender Verstöße am Ende des 17. Jahrhunderts, die willkürlich aus einfachen Menschen »Ungeheuer« machten, wenn sie unter den wachsamen Blick von Verantwortlichen oder Institutionen gerieten, »die zweifellos dazu bestimmt waren, jede Unordnung zum Verschwinden zu bringen« (Foucault 2003 [1977]: 317). Es war zumeist nur ein kurzer Augenblick, in dem die kleinen Leben die Macht kreuzten und ihre Kräfte herausforderten, um als Infamien abgestempelt zu werden. Ihre Resistenz ist jedoch dieser Moment: »Der intensivste Punkt der Leben, der Punkt, an dem sich ihre Energie konzentriert, ist eben da, wo sie mit der Macht zusammenstoßen, sich mit ihr herumschlagen, ihre Kräfte zu verwenden oder ihren Fallen zu entgehen versuchen.« (Foucault 2003 [1977]: 316) Solche Praktiken, die erst aus der Berührung mit einer Macht hervorgehen, haben zwar keine utopischen oder revolutionären Intentionen, aber sie verändern auf ihre Art die gesellschaftlichen Verhältnisse, da die dominierenden Gruppen bestimmtes alltägliches Verhalten zu Widerstand erklären und somit selbst das Spektrum resistenter Handlungen erweitern und verschieben. Dieses Geschehen verdeutlicht, dass diese Mächte einerseits neue Konfliktlinien aufmachen und andererseits selbst dazu bei-

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tragen, die Reibungen im Herrschaftsgetriebe zu verstärken. Ich möchte daher auch dort Potentialen und Formen von Resistenz nachspüren, wo auf den ersten Blick nur ein auffälliges Verhalten vorliegt. Bei den Reaktionen auf Ein-Euro-Jobs im Vorfeld und nach deren offizieller Einführung durch die Arbeitsagenturen lässt sich eine Vielfalt von Protesten und Resistenzen beobachten. Ich werde daher zuerst einen Überblick zu verschiedenen Protestformen im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktreform Hartz IV geben, um dann das Verhalten von Ein-EuroJobbern in einem konkreten Kontext näher zu betrachten. Anhand ihres Umgangs mit der zugewiesenen Arbeitsgelegenheit soll aber auch der Versuch unternommen werden, zwischen bewussten und unintendierten Resistenzen zu unterscheiden.

Die Vielfalt der Proteste Während die Bevölkerung frühere Reformen fast ohne öffentlichen Widerspruch hinnahm, regten sich im Vorfeld der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und der Einführung der Ein-Euro-Jobs im Sommer 2004 bundesweite Proteste. In einer relativ kurzen Zeit kam es zu einer spontanen Protestwelle, die von Magdeburg ausgehend binnen weniger Wochen das ganze Land erfasste. Zur Hochphase waren schließlich ungefähr 70.000 Menschen in mehr als 200 Städten und Gemeinden auf der Straße.1 So überraschend und gewaltig die Teilnehmerzahlen in den ersten Wochen auch zunahmen, konnten die Montagsdemonstrationen nach kaum einem Monat nicht mehr ausgeweitet werden. Vielmehr verschwanden die Massenproteste schnell aus dem Straßenbild. Spätere Umzüge zogen dann nur wenige hunderte (teilweise weniger) Menschen an. Der öffentlich bemerkbare Unmut verebbte und schien der Parteienpolitik das Feld zu überlassen.2 Dieser Eindruck verändert sich jedoch, wenn andere Protestformen neben den öffentlichen Demonstrationen berücksichtigt werden. Balistier (1996) zeigt beispielsweise eine Spur zu weiteren Widerstandshandlungen auf. So stellt er fest, dass teilweise die Protestierenden Demonstrationen als unbefriedigend empfinden und zu direkten Aktionen übergehen. Damit erfolgt ein Wechsel von anerkannten Formen des Widerspruchs (angemeldete Kundgebung oder Demonstration) zu verdeckten und teilweise im 1

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Rucht und Yang (2006) kommen in ihrer Analyse von Indymedia-Daten sogar auf bis zu 200.000 Teilnehmern bundesweit. Die Diskrepanz zwischen den offiziellen Zahlen und den Größenordnungen bei Indymedia führen sie auf unterschiedliche Angaben seitens der Polizei, der Presse und der Organisatoren zurück. Zu diesem Ergebnis kommen zumindest Rink/Philipps (2007) und Rucht/ Yang (2006).

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Illegalen operierenden Maßnahmen. Konkret handelt es sich dann um Schadensandrohungen durch Verweigerung, Behinderung, Besitznahme oder Zerstörung. Der gehorsame Staatsbürger entspricht in diesem Spektrum des Protestes nicht mehr seiner Rollenerwartung, sondern verweigert spontan seine Arbeitskraft in wilden Streiks, betreibt Konsumboykott, behält Steuern- bzw. Gebührenanteile ein, macht Wahlunterlagen ungültig oder bleibt gleich der Wahl fern. Darüber hinaus kann es aber auch zu offensiven und gewalttätigen Protesten in Form von Unruhen in Stadtteilen kommen, bei denen Fenster eingeschlagen, Zäune umgeworfen und Brände gelegt werden. Ähnliche Phänomene traten teilweise auch im Umfeld der Sozialproteste gegen die Arbeitsmarktreform Hartz IV auf.3 Eine anschauliche Sammlung dieser offensiven und teilweise gewalttätigen Akte findet sich bei Sonnenfeld (2006) und Wehring (2006). Die Autoren berichten im Zeitraum von Oktober 2003 bis November 2005 von Zerstörungen, Farbbeutelattacken, Bombendrohungen, Briefbomben an Politiker und Brandanschlägen gegen Arbeitsagenturen oder das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung4. Einerseits haben diese Aktionen kleine (politische) Gruppen ausgeführt, andererseits sind darunter auch viele Handlungen von einzelnen Personen. Dahinter stehen jedoch keine zentralen Organisationen (z. B. Gewerkschaften, Parteien, soziale Bewegungen), sondern diese Akte treten spontan, anonym und unvernetzt auf.5 Neben den Massenprotesten beschränken sich die Widerborstigkeiten jedoch nicht allein auf die anhaltenden Montagsdemonstrationen und die direkten Aktionen. Vermutlich wirkungsvoller und zunehmend bedeutender sind die unabhängigen Hilfen für Erwerbslose. Damit sind weniger die karitativen und betreuenden Tätigkeiten der Kirchen und Wohlfahrtsverbände gemeint, sondern die Gespräche, rechtlichen Unterstützungen und Beratungen diverser lokaler Erwerbsloseninitiativen oder des überregionalen Internetportals des Tacheles e. V., die über Beratungsstellen und rechtliche Spielräume informieren. Sie wollen Erwerbslose dazu befähigen, ihre Situation zu erkennen und selbstbewusster ihre Rechte einzufordern. Eine anonyme Umfrage zum Arbeitsamt und zu Ein-Euro-Jobs (MAG Wompel/Pandorf 2006) hat zudem den Wunsch und Bedarf nach Beratung unter

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Zwar gab es solche direkten Aktionen bereits vor den großen Massenprotesten im Sommer 2004, was aber möglicherweise auf frühere Enttäuschungen über die Wirkungslosigkeit öffentlicher Proteste zurückgeht. Im Bekennerschreiben gilt dieses Institut als »Denkfabrik und Schulungsschmiede des Kapitals«. Im Zusammenhang mit den militanten Aktionen im Vorfeld des G8-Treffens in Heiligendamm (Mecklenburg-Vorpommern) kam auch der Begriff der »Freierabend-Guerilla« auf. Er bezeichnet selbstständig agierende Gruppen, deren Mitglieder neben dem legalen Alltagsleben ihrem Selbstverständnis nach nur gelegentlich illegale Aktionen durchführen (vgl. die tageszeitung vom 17./18. März 2007, 4)

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Erwerbslosen gezeigt, auch wenn eine Begleitung zu den Behörden für die wenigen Mitarbeiter von Erwerbsloseninitiativen schwierig ist. Jäger (2006) fordert daher verstärkte Selbstorganisation, was das Bemühen um und die rechtliche Einklage von optimaler Unterstützung einschließt. Vermutlich sind die vermehrten Eingaben und Klagen gegen ALG IIZahlungen und Auflagen bereits ein Ausdruck dieser wachsenden Resistenz und Ermächtigung. Exemplarisch sei hier auf die steigenden Klagen vor dem Sozialgericht Berlin verwiesen: Dort gab es im Jahr 2005 noch 7.000 Klagen zu Hartz IV-Regelungen, deren Anteil aber bereits im nächsten Jahr auf 12.000 Eingaben anwuchs. Dieser Weg dürfte zudem in Zukunft häufiger beschritten werden, da die Hälfte aller Klagen erfolgreich ist (vgl. die tageszeitung vom 28. Dezember 2006: 6, 17). Schließlich sind die unterschwelligen und anonymen Praktiken der Erwerbslosen zu erwähnen. Unter dem Begriff des stummen Protestes subsumieren Rein und Scherer (1993) alle kollektiven und individuellen Handlungen, um staatlichen Regelungen und Anweisungen auszuweichen, sie auszutricksen oder sich ihnen zu verweigern. Aus seiner tagtäglichen Arbeit mit Erwerbslosen unterscheidet Rein (1997: 74) dabei zwischen verschiedenen Typen. Da sind die individuellen Leistungsverweigerer, die auf ihr selbstbestimmtes Lebensniveau achten und nur in äußerster Not einer regelmäßigen Lohnarbeit nachgehen. Ansonsten halten sie sich mit sozialen Leistungen über Wasser. Die selbstbewussten Bezieher kennen dagegen ihre rechtlichen Grundlagen und fordern die ihnen zustehenden staatlichen Sozial- oder Lohnersatzleistungen selbstbewusst ein. Zu guter Letzt sehen Freiraumschaffer Erwerbslosigkeit als Chance für ein individuelles autonomes Handeln, um über alternative Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten nachzudenken und sie umzusetzen. Auch aus der Industriearbeit ist ein breites Spektrum an Resistenzformen bekannt (vgl. Hoffmann 1981, Maier 1991). Eine direkte Übertragung auf die Erwerbslosen ist aber nur begrenzt möglich, da die Industriearbeiter unter den spezifischen Bedingungen der Arbeits- und Produktionsverhältnisse agieren. So besteht eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen dem Unternehmensmanagement und den beschäftigten Lohnempfängern: Letztere müssen einerseits ihre Arbeitskraft entäußern, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, andererseits haben sie jedoch auch die Möglichkeit, das Unternehmen durch kollektive Arbeitsniederlegungen oder Sabotagen unter Druck zu setzen. Den Erwerbslosen fehlen solche Einflusspotentiale, weil das Abhängigkeitsverhältnis gegenüber den Arbeitsagenturen einseitig ist. In diesem Beitrag soll es jedoch konkret um Widerspenstigkeiten mancher Langzeiterwerbsloser gegen die Vereinnahmung in Ein-Euro-Jobs gehen. Da die offene Verweigerung der staatlichen Maßnahme aber erhebliche finanzielle Einbußen für die Betroffenen mit sich bringt, ist es nur zu verständlich, wenn der Protest gegen diese Maßnahmen von Seiten der

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Erwerbslosen eher verhalten bzw. unterschwellig auftritt. Zugleich muss dies nicht bedeuten, dass sich erst gar keine Resistenz regt. Resistenzen, so wird zu zeigen sein, werden erst in den Machtbeziehungen vielmehr erzeugt bzw. gehen auf Wechselwirkungen darin zurück. Widerborstigkeit muss dabei nicht per se aus einer Intention gesellschaftlicher Umwälzungen erwachsen, sondern kann sich auch als Hemmung oder Blockierung strategischer Umsetzungen ausdrücken.

Ein Fallbeispiel Die folgenden Bedingungen und Umgangsweisen sind vermutlich einmalig und lassen sich nicht wiederholen oder generalisieren. Ein Umstand, der anscheinend für alle Situationen gilt, in denen taktische Widerspenstigkeiten auftreten, da sie Reaktionen auf die spezifischen Gegebenheiten und die darin enthaltenen Lücken sind. Die Praktiken sind weder gradlinig noch treten sie unter strukturell stabilen Verhältnissen auf. Das Beispiel selbst basiert auf einem Gespräch mit einer Person, die 2005 und in den folgenden Jahren Ein-Euro-Jobber beschäftigte. Die Herangehensweise mag irritieren, da nicht die Erwerbslosen sprechen, sondern diejenigen, die die Umsetzung der Arbeitsmarktreform Hartz IV realisieren. Ein solches Vorgehen rechtfertigt sich dadurch, dass die Erwerbslosen die hier interessierenden unterschwelligen Handlungen verdeckt halten. Einerseits schützt Anonymität die einzelne Person und andererseits sind Resistenzen häufig nicht intentional, also unreflektiert und können somit gar nicht von den Erwerbslosen als solche artikuliert werden. Letztlich können aber auch unbeabsichtigte Handlungen in den Augen der Mächtigen als Resistenzen erscheinen, wenn dieses Verhalten die dominierenden Erwartungen und Vorgaben durchkreuzt. So bekommt man über ein Gespräch mit einem Beschäftigungsanbieter einen guten Eindruck von den kleinen Konflikten, Reibungen und Verweigerungen seitens der Beschäftigten, da sie sich in den enttäuschten Erwartungen des Anbieters niederschlagen. Dieser Spiegel dürfte immer dann funktionieren, wenn die Vorgesetzten eben voraussetzen, dass die Erwerbslosen durchweg ein Interesse an einem Ein-Euro-Job haben und entsprechende Arbeitsbereitschaft und -leistung erbringen.6 Für einen großen Teil der Langzeiterwerbslosen kann man schließlich auch davon ausgehen, dass sie Arbeitsgelegenheiten begrüßen, da sie ihnen soziale Kontakte und Beschäftigungen bringen (vgl. Dörre 2007). Es gibt aber auch Fälle, die Widerborstigkeiten erahnen lassen. Das Besondere an diesen Taktiken ist die Überlistung der Anforderungen innerhalb des 6

Lüdtke (1984) empfiehlt beispielsweise zur Untersuchung des stummen Protestes auch die Empörungen und erfahrene Zurückweisungen von Anliegen der Herrschenden einzubeziehen.

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eng abgesteckten Rahmens. Um nämlich der staatlichen Maßnahme der Arbeitsgelegenheiten gegen Mehraufwandsentschädigung zu entkommen, ohne Leistungskürzungen in Kauf zu nehmen, müssen sich die Erwerbslosen inhärenter Schwachstellen der Beschäftigungsstrukturen bedienen. Der besagte Gesprächspartner ist Leiter eines Tiergeheges. Die Anlage stellt schon seit 17 Jahren heimische Tiere in einem weitläufigen Gelände aus und ist für Besucher kostenfrei. Dabei ist der Hauptverantwortliche Rentner und kümmert sich rein ehrenamtlich um den Tierpark. Die Finanzierung des Tierparks ist nur teilweise durch die Stadt geregelt. Sie gibt zwar einen Zuschuss für Strom und andere Kosten, übernimmt aber keine weiteren Ausgaben. Gelder für Futter oder den Tierarzt müssen dagegen aus anderen Einnahmequellen (z. B. Spenden) eingebracht werden. Ferner kann der ehrenamtliche Leiter die Anlage nicht allein betreuen. Es bedarf weiterer Unterstützung, wobei Mittel für eine Festanstellung fehlen. Daher bestehen die Beschäftigten zumeist aus Sozialhilfeempfängern oder neuerdings aus bezuschussten ALG II-Beziehern (konkret 1,20 € pro Stunde). Zeitweise sind auch Personen tätig, die zu einer gemeinnützigen Arbeit in Stundenform rechtskräftig verurteilt wurden. Hauptsächlich wird die Anlage nun aber durch ALG II-Empfänger bewirtschaftet. Aus Sicht des Leiters der Anlage gibt es unterschiedliche Erfahrungen mit Langzeiterwerbslosen. So erwies sich eine Gruppe (Anfang 2005) nach seiner Einschätzung als sehr unmotiviert und unselbstständig. Eine andere – zur Zeit des Gespräches beschäftigt – arbeitete dagegen eigenständig und sehr engagiert. Die erste Gruppe bestand dabei aus vier EinEuro-Jobbern, die aus Sicht des Arbeitgebers scheinbar nur bei schönem Wetter arbeiten wollten, da sie stets in Turnschuhen erschienen. Ihre eingeschränkte Arbeitswilligkeit drückte sich, dem Interviewten zufolge, auch in ihrer Unselbstständigkeit aus, weil ihnen alle Arbeitsschritte und -tätigkeiten angewiesen werden mussten. Weiterhin berichtet der Leiter der Anlage über die Arbeitsweise der unmotivierten Ein-Euro-Jobber: Sie erschienen genau zum Arbeitsbeginn und hatten bereits mit Arbeitsende den Arbeitsplatz verlassen. Im Kontrast dazu kam die zweite Gruppe eine Viertelstunde früher als Arbeitsbeginn und ging erst zum Schluss des Arbeitstages in den Umkleideraum. Die erste Gruppe machte zudem sehr ausgedehnte Pausen und schien die Arbeitszeit ohne Aufsicht des Leiters mit anderen Dingen (z.B. Schneemänner bauen) zu verbringen, anstatt sich um die Erfüllung der Arbeitsaufgaben zu kümmern. An einem Beispiel berichtet der Leiter, dass die »Unselbstständigen« den Auftrag bekommen hatten, Kiefernstämme an einen ca. 100 Meter entfernten Punkt zu tragen. Die körperliche Arbeit erforderte von den Beschäftigten, dass sie auf ihren Schultern die Stangen bewegten. Laut Darstellung des Gesprächspartners hätte ein Waldarbeiter an einem Tag ca. 60 bis 80 Stangen gerückt. Die ALG II-Empfänger schafften aber innerhalb von sieben Stunden, nur eine Stange zu transportieren. Auf die geringe Leistung angesprochen, nannten

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die Beschäftigten als Grund ihre nassen Füße und Hände. Da die Arbeit im Schnee erfolgte und sie Turnschuhen trugen, waren ihre Schuhe schnell durchgeweicht. Man hatte zwar die Beschäftigten aufgefordert, ihr Schuhwerk an die Witterungsverhältnisse anzupassen, zugleich mussten sie ihre Arbeitskleidung aber selbst stellen. Unzufrieden mit der Arbeitsleistung und den Gegebenheiten wendete sich der Leiter an das Beschäftigungswerk, welches jene Ein-Euro-Jobber bereitstellte und bat um andere. Berücksichtigt man die Umstände, dass ein Langzeiterwerbsloser die Aufforderung des Arbeitsamtes, eine bezuschusste, kurzfristige Arbeitsgelegenheit anzunehmen, nicht ohne Kürzungen seiner ausgezahlten Leistungen ablehnen kann, ist der Erwerbslose gezwungen, die Stelle anzunehmen, falls er die vollen Leistungen weiter beziehen will. Ihm stehen aber auch Möglichkeiten offen, mit den vorgegebenen Bedingungen taktisch umzugehen. Um das Arbeitsverhältnis erträglicher zu machen oder bald wieder entlassen zu werden, ohne dass er selber kündigt, was dann ja zeitweise zu Kürzungen der Sozialleistungen führt, muss der ALG IIEmpfänger die Situation für sich umarrangieren. Beispielsweise kann er – wie das eben gebrachte Beispiel zeigte – die erwartete Arbeitsleistung unterwandern, ohne in einen offenen Konflikt mit dem Arbeitgeber durch Arbeitsverweigerung oder Streik zu geraten. Letztlich handelt es sich hierbei um eine spezifische Form von Widerspenstigkeit, die auch anders ausfallen können (z. B. Fehlzeiten, Flucht in Krankheit, Pausen überziehen, Arbeit vortäuschen, langsam arbeiten, fehlerhafte Leistungen, Sabotage, Diebstahl etc.; vgl. dazu Maier 1991, no service 2005). Die Beschäftigten im Tiergehege nutzten der Situation entsprechend folgende Lücke: Da von Erwerbslosen erwartet wurde, dass sie sich um ihre Arbeitsbekleidung selbst kümmern, stellten sie diese nach eigenen Gesichtspunkten zusammen. Es gab zwar Aufforderungen, die Kleidung den Witterungsbedingungen anzupassen (z. B. Gummistiefel bei Regen, festes Schuhwerk bei Schnee), aber weil der Beschäftigungsanbieter keine Ausrüstung stellte, konnte er auch keinen Zwang in dieser Richtung ausüben. Die fehlende Disziplinarmöglichkeit ist an dieser Stelle bedeutend, da sie den Ein-Euro-Jobbern einen Freiraum bot. Hätte man ihnen festes Schuhwerk gegeben, wäre das Tragen von unpassenden Schuhen eine offene Weigerung gewesen. So kamen die Beschäftigten aber in Turnschuhen bei nassem Wetter, was dazu führte, dass ihre Schuhe bald durchweichten und sie nur unter unverhältnismäßigen Bedingungen hätten weiterarbeiten können. Schließlich riskierten sie ihre gesundheitliche Unversehrtheit. Ein Arbeitgeber kann unter den gegebenen Bedingungen sein Interesse kaum über die Gesundheit seiner Beschäftigten stellen, da er einerseits deren Reproduktionsfähigkeit von Arbeits- und Lebenskraft gefährdet bzw. andererseits mit rechtlichen Konsequenzen seitens der Unterstellten rechnen muss. Durch diesen Schritt konnten die Beschäftigten die Situation aber

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für sich umdefinieren, dass heißt, sie konnten ihre Arbeitsleistung gering halten.7 In wenigen Worten zusammengefasst, lassen die Praktiken der erwähnten Erwerblosen keine geplanten Überwindungen der gegebenen Zustände erkennen, sondern erschöpfen sich in kurzzeitigen Siegen über die staatlichen Steuerungsversuche. Anstatt die dominierenden Bedingungen abzuschaffen, nutzen sie vielmehr Lücken und Unbestimmtheiten, um das Geschick für einen Moment zu den eigenen Gunsten zu verändern.

Bewusste und unintendierte Resistenzen Um die Praktiken der Erwerbslosen zur Unterwanderung von Arbeitgelegenheiten gegen Mehraufwandsentschädigung zu verstehen, bedarf es eines Widerstandsbegriffs, der das gebräuchliche Verständnis erweitert. Resistenz kann hier nicht gleichgesetzt werden mit organisierten, systematischen und kooperativen Handlungen, welche selbstlos und prinzipienorientiert revolutionäre Konsequenzen haben und/oder zumindest eine Umwälzung oder Negierung der bestehenden Verhältnisse anstreben (vgl. Scott 1985: 292). Entsprechend dieser Definition geht Widerstand auf eine Gegenwelt jenseits der gegebenen Machtbeziehungen zurück, die Orientierungen durch Prinzipien oder eine Ideologie bereitstellt und auch fortbestehen kann, wenn die gegenwärtigen Bedingungen längst überwunden sind. Damit stehen aber vielmehr die inhaltlich-intentionalen Merkmale als die praktischen Ausübungen und Gestaltungen der Resistenzen im Vordergrund. Dagegen trennt Michel de Certeau (1988) entsprechend den Möglichkeiten, über die räumlichen und zeitlichen Bedingungen zu verfügen, zwischen Strategie und Taktik. Strategisch meint dabei ein planendes Vorgehen, das auf der Macht über den Raum und dessen Ressourcen sowie zeitlichen Abläufen und Strukturen beruht. Taktisch agieren resultiert dagegen aus den Umständen, kaum oder gar nicht über die gegebenen Bedingungen und Verhältnisse bestimmen zu können. Taktiker nutzen vielmehr die Gelegenheiten und die kreative Umgestaltung der bereitgestellten Ressourcen, um die Situation den eigenen Absichten entsprechend umzuformen (vgl. de Certeau 1988: 23, 87ff.). De Certeau sieht bei Michel Foucault vor allem eine Analyse jener Prozeduren angelegt, die strategisch operieren, da sie spezifische Machtfunktionen erfüllen, einer eigenen logischen Gesetzmäßigkeit folgen und

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Seit 30. März 2006 kann laut Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts 7. Senat (Az L 7 AS 120/05 ER) die Ausübung zumutbarer Arbeit nach §16 Abs 3 S 2 SGB II aufgrund fehlender bereitgestellter Arbeitskleidung und –ausrüstung ohne Absenkung des Arbeitslosengeldes II verweigert werden.

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eine grundsätzliche Umorientierung in den Institutionen der Ordnung und des Wissens bewirken können. Dabei würde jedoch den zahllosen anderen, kleinen Praktiken, die sich »zwischen den Maschen der institutionellen Technologien entfalten« (de Certeau 1988: 112) zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, also jenen Finten und Tricks der Schwachen. Und tatsächlich finden sich zu Gegenmächten nur sehr wenige Aussagen bei Foucault. Eine für mein Anliegen sehr ergiebige machte er in einem späten Interview (1978), wo er an einer Stelle vom Plebejischen als die Kehrseite der Macht spricht. Es heißt dort: »[I]n den Klassen, in den Gruppen und Individuen selbst gibt es wohl immer irgendetwas, das in gewisser Weise den Machtbeziehungen entgeht; etwas, das durchaus nicht ein mehr oder weniger fügsamer oder widerspenstiger Rohstoff ist, sondern eine zentrifugale Bewegung, eine umgepolte Energie, ein Entwischen. Es gibt etwas Plebejisches in den Körpern und in den Seelen, es gibt etwas derartiges in den Individuen, im Proletariat, es gibt so etwas in der Bourgeoisie, aber immer in einer unterschiedlichen Ausdehnung, mit unterschiedlichen Formen, Energien, Unauflösbarkeiten. Dieser Teil der Plebs bildet im Verhältnis zu den Machtbeziehungen weniger ein Äußeres als ihre Grenze, ihre Kehrseite, ihre indirekte Folge; er ist dasjenige, was auf jedes Vorrücken der Macht mit einer Bewegung antwortet, um von ihr sich zu befreien; er ist also das, was jede neue Entwicklung von Machtnetzen motiviert.« (Foucault 1978: 204-205).

Im Unterschied zu den Taktiken nach de Certeau (1988), die auf einen kreativen Umgang der Schwachen mit den Ressourcen und Strukturen der Macht verweisen, betont das Plebejische in den Klassen, Gruppen oder Individuen eine Gegenkraft zur Macht, die nicht allein auf die Schwachen begrenzt ist (vgl. auch Foucault 1983: 118). Gemeinsam ist beiden Autoren jedoch der Fokus auf Praktiken, mittels derer man sich der Vereinnahmung durch die herrschende Macht entzieht. Während es de Certeau aber darum geht, vor allem die Potentiale der Schwachen (der Konsumenten) bei der Aneignung der Warenwelt zu zeigen, bleibt Foucault auf einer höheren Ebene der Wechselwirkungen zwischen Macht und Plebejischen, um auf das Dynamische und gegenseitig Bezogene hinzuweisen. Demnach steht das Plebejische in einer direkten Beziehung zur Macht und bewirkt ihr fortgesetztes Agieren. Auch wenn Foucault in Was ist Kritik? (1992) mit der Entunterwerfung eine Bewegung benennt, die sich »auf jedes Vorrücken der Macht« durch Ablehnungen und Alternativen entzieht, denke ich, dass es sich dabei nur um eine besondere Form des Plebejischen handelt, da die Entunterwerfung als Begehren – »daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird« (Foucault 1992: 11f.) – einem strategischen Vorgehen entspricht. Strategisch, weil es selbstbewusst der dominierenden Macht eine Alternative, ein anderes Leben entgegenhält und auf diese

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Weise versucht, bestehende Verhältnisse zu überwinden. Für Foucault ist es ein intellektuelles Projekt der Philosophen, durch kritische Analyse unserer Welt, unserer Identitäten und Wahrheiten, diese abzuweisen und neue Formen der Subjektivität bereitzustellen, also auszudenken und aufzubauen, was wir sein könnten (vgl. Foucault 1994a: 250). Das Plebejische umfasst aber auch »volkstümliche Gesetzwidrigkeiten«, die sich mit einer immer strengeren Gesetzgebung vervielfachen. Dazu zählen neben politischen Bewegungen und Arbeiterkämpfen auch lokal begrenzte Praktiken wie Preisfestsetzungen, Plünderungen, Steuern oder Wehrpflicht verweigern, denen es nicht »immer direkt um den Sturz der Macht (geht), aber in ihrer Häufung können sie dazu führen.« (Foucault 1994: 352) Die dominierenden Gruppen versuchen diese Ausweitung durch Delinquenz als festgestellte Gesetzwidrigkeit zu kontrollieren. Mit den gesetzlichen Verboten sollen die Delinquenten einerseits an den Rand der Gesellschaft verschoben, auf dürftige und unsichere Existenzbedingungen reduziert werden, und andererseits sollen die Verbote die übrigen gesetzwidrigen Praktiken durch ihre Kriminalisierung abschrecken und damit einschränken (vgl. Foucault 1994: 358). In dieser Perspektive betont Foucault jedoch allein den Umgang der herrschenden Macht mit dem Plebs und erzeugt den Eindruck, die vielfältigen Gesetzwidrigkeiten seien durch Überführung in Delinquenz beherrschbar. Diese Sichtweise unterschlägt aber die Idee vom Plebejischen als »ein mehr oder weniger fügsamer oder widerspenstiger Rohstoff«, wovon immer irgendetwas den Machtbeziehungen entgeht. Zu diesem »irgendetwas« dürften letztlich nicht nur intellektuelle Gegenentwürfe zählen, sondern auch alltäglich praktizierte Taktiken, die sich der dominierenden Macht durch Listen, Tricks und Ausweichen entziehen und dabei Bewährtes aushöhlen und unterwandern. Dies muss kein bewusster Akt sein, um Machtverhältnis aufzuheben oder zu ersetzen, sondern kann sich in einer temporären Umgestaltung der Verhältnisse im Interesse eines Einzelnen erschöpfen. Der Taktiker umgeht damit aber vorgegebene Identitäten oder Wahrheiten und kann somit zu einem Regelverletzer in den Machtverhältnissen werden, der dann von der herrschenden Macht geahndet und verfolgt wird, um die eingesetzte Ordnung per Verbot aufrechtzuerhalten. Das Anliegen der Macht muss aber in seiner Totalität scheitern, da sich die Menschen immer wieder die Grauzonen und Lücken im Kontrollapparat aneignen und für sich nutzen. Kritik und öffentlicher Widerstand lassen sich nach ihren (strategischen) Zielen und Motiven befragen. Diese entscheidende Eigenschaft fehlt jedoch der alltäglichen Resistenz und Widerspenstigkeit. Sie lässt sich allein als Ergebnis der Machtbeziehungen und der konkreten Gegebenheiten verstehen: Dort, wo die dominierenden Gruppen auf Hindernisse in ihren Bestrebungen, die Gesellschaft zu verändern, stoßen, kann bereits aus einer schlicht anders gerichteten Bewegung Resistenz werden. Exemplarisch ist hier die gelebte Alltäglichkeit zu nennen, mit

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ihrer im Verhältnis zu politischen Entscheidungen und Geschichte eigenen Kontinuität und Geschwindigkeit. Oft genug zeigt sich, dass eine daraus hervorgehende unintendierte Resistenz nur einen Beweggrund kennt: den Status quo bzw. Routinen zu reproduzieren. Definiert sich Resistenz allein durch ein Motiv wie Umsturz der gegebenen Verhältnisse oder Revolution, muss alltägliches Verhalten der Erwerbslosen unverständlich bleiben, da sich die Handlungen des Entziehens und Ausweichens nur schwer bis gar nicht von Faulheit oder Arbeitsscheu unterscheiden lassen. Anstatt also von der Handlungsabsicht auszugehen, bietet es sich an, stummen Protest bzw. die alltägliche Widersetzlichkeit ebenso als die Grenze der herrschenden Macht zu verstehen, die in jeder Machtbeziehung auftritt (vgl. Foucault 1983). Die alltägliche Resistenz zeichnet sich dabei nicht als eine Gegenbewegung mit einer eigenen (politischen) Zielstellung aus, sondern wird als Widerborstigkeit von Seiten der Mächtigen wahrgenommen. Sie resultiert also aus einer Markierung von Hindernissen oder Regelverletzungen durch die Mächtigen, wo diese bei der Durchsetzung von gesellschaftlichen Veränderungen und Steuerungen auf Grenzen in der Gesellschaft stoßen. Diese Störungen werden dann aus Sicht der dominierenden Gruppen als Widerstand definiert, wenn öffentliche Proteste und Abwanderungen, aber auch der Rückzug ins Private, die Verweigerung und die Zurückweisung die Umsetzung ihrer Ziele hemmen bzw. verhindern. Insbesondere die unintendierte Resistenz muss kein bewusstes Motiv einer Kritik im Sinne der Entunterwerfung beinhalten. Diese Widerspenstigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Maßnahmen der Mächtigen kann sich bereits aus der Aufrechterhaltung und Kontinuität des Alltagslebens ergeben. Die alltägliche Resistenz als spürbarer Widerstand (im Sinne einer hemmenden Kraft) existiert dann zuerst für die Mächtigen und ist keine Frage der Motivation, sondern der Beziehungen zur Macht.

Schlussbemerkung Das Plebejische bei Foucault als Resistenz gedacht, impliziert also nicht nur den öffentlich ausgetragenen Widerspruch oder die Opposition, indem sich Menschen bewusst und utopisch denkend der Vereinnahmung durch die dominierenden Kräfte entziehen, sondern Resistenzen und Widerspenstigkeiten ergeben sich auch aus dem taktischen Agieren und Momenten des privaten Rückzugs, der Verfolgung eigener Interessen oder des Ausweichens. Die Taktik gehört selbst zwar zu den Grundpraktiken des alltäglichen Lebens, aber aus ihr wird immer dann Resistenz, wenn sie in den Blick der dominierenden Gruppen gerät, von ihnen markiert und als störend verfolgt wird. Aus Sicht der dominierenden Macht ist alles Hindernis oder Störung, woran sie bei ihrem Versuch der Umgestaltung und Steuerung der Gegebenheiten scheitert bzw. nicht weiterkommt. Hier er-

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weist sich die Grenze der Macht als unintendierter Resistenz, da sich etwas der Fremdaneignung entzieht. Von einer aktiven, bewussten Resistenz kann man in diesem Fall jedoch nicht sprechen, da das Hindernis für die Macht nicht zwingend von einer Motivation zur Überwindung der bestehenden Machtverhältnisse angetrieben ist. In diesem Sinne sind auch die Handlungen der oben beschriebenen Erwerbslosen zu verstehen. Sie suchen nur die Gelegenheit, sich der Fremdbestimmung zeitweise zu entziehen, ohne diese zugleich zu verändern oder zu überwinden. Aus Sicht des Anbieters der Arbeitsgelegenheit sind es aber Störungen seiner Durchdringung und Dominanz der Arbeitsbedingungen. Damit kann letztlich die Frage aufgeworfen werden, ob die unintendierte Resistenz trotz alldem einen gesellschaftlichen Wandel anstoßen kann. Dies bejaht zumindest Foucault für das Plebejische, da es »jede neue Entwicklung von Machtnetzen motiviert.« (Foucault 1978: 205) Wie kann aber eine unintendierte Widerborstigkeit neue Machtnetze produzieren? Diese Annahme würde schließlich bedeuten, dass die Erwerblosen einen nicht unbedeutenden Anteil am gesellschaftlichen Wandel hätten. Ohne Zweifel haben Erwerbslose die Gesellschaft mit verändert, als sie an der Revolution 1789 in Frankreich, an den schlesischen Weberaufständen 1844, den Barrikadenkämpfen in Paris 1848, der Pariser Commune 1870 und an unzähligen Hungerunruhen und Enteignungsaktionen jener Zeit mitwirkten. Auch Ende des 19. Jahrhunderts bildeten sie einen »permanenten Unruheherd« und trugen zum kurzzeitigen Gelingen der deutschen Revolution 1918/19 bei. Ihr Anteil ist jedoch kaum sichtbar, weil sie keine Spuren in der Geschichte hinterlassen (vgl. Kaschuba 1990, Rein/Scherer 1993). Abgesehen von den revolutionären Beteiligungen der Erwerbslosen verändert aber auch die unintendierte Resistenz gegen die Ein-Euro-Jobs die Gesellschaft. Die äußeren Zeichen können sich in Zugeständnissen von Seiten der Regierung oder in der Verschärfung von Gesetzen und Regelungen manifestieren. Dabei versucht die herrschende Macht zeitgleich Kontrolle an zuvor weniger von ihr dominierten Räumen auszuüben. Im Vorrücken der Regierung in die verbliebenen Nischen der Erwerbslosen will sie letztlich Störungen überwinden, was jedoch nie vollständig gelingt, so dass den Betroffenen weiterhin Möglichkeiten bleiben, die Gegebenheit zumindest für Momente zu ihren Gunsten umzugestalten. Der Staat muss sich bei diesem Akt des Kontrolle aber selber fragen, wie viel Einsicht er will, denn ein fortgesetztes Eindringen der Macht in situativ bedingte oder tatsächliche Freiräume, formt unintendierte Resistenzen nur in kriminelle Aktivitäten bzw. mit Foucaults Worten in »volkstümliche Gesetzwidrigkeiten« um. Das Ende ist die Barbarei oder die offene Revolte.

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Literatur Balistier, Thomas (1996): Straßenkampf. Münster: Westfälisches Dampfboot. Certeau, Michel de (1988): Kunst des Handelns. Berlin: Merve Verlag. die tageszeitung: »Der militante G-8-Widerstand«. 17./18. März 2007, S. 4. die tageszeitung: »Klageflut gegen Hartz IV steigt«. 28. Dezember 2006, S. 6. die tageszeitung: »Hartz IV schafft sieben neue Jobs«. 28. Dezember 2006, S. 17. Dörre, Klaus (2007): »Prekarität – Zentrum der sozialen Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts?« Vortrag auf der Konferenz »Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts – Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung« vom 04. Mai 2007 in Jena. Foucault, Michel (2003 [1977]): »Das Leben der infamen Menschen«. In: ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 309-332. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht, Berlin: Merve Verlag. Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve Verlag. Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1994a): »Das Subjekt und die Macht«. In: H. Dreyfus/ P. Rabinow (Hg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, 2. Aufl. Weinheim: Beltz, S. 241-261. Hoffmann, Rainer (1981): Arbeitskampf im Arbeitsalltag. Frankfurt/M./ New York: Campus. Jäger, Frank (2006): »Wenn wir uns nicht selbst helfen, wird uns niemand helfen!« In: Agenturschluss (Hg.), Schwarzbuch Hartz IV: Sozialer Angriff und Widerstand – Eine Zwischenbilanz, Berlin/Hamburg: Assoziation A, S. 122-134. Kaschuba, Wolfgang (1990): Lebenswelt und Kultur der unterbürgerlichen Schichten im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg Verlag. Lüdtke, Alf (1984): »Protest – oder: Die Faszination des Spektakulären«. In: H. Volkmann/J. Bergmann (Hg.), Sozialer Protest, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 325-341. MAG Wompel/Pandorf, Ralf (2006): »Anonyme Umfrage zum Arbeitsamt und zu Ein-Euro-Jobs«. In: Agenturschluss (Hg.), Schwarzbuch Hartz IV: Sozialer Angriff und Widerstand – Eine Zwischenbilanz, Berlin/Hamburg: Assoziation A, S. 73-83. Maier, Walter (1991): Kontrolle und Subjektivität in Unternehmen. Opladen: Westdeutscher Verlag.

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no service (2005): »Sie halten uns kontrolliert arbeitslos«. wildcat 74, S. 913. Oschmiansky, Frank (2003): »Faule Arbeitslose? Zur Debatte über Arbeitsunwilligkeit und Leistungsmißbrauch«. Aus Politik und Zeitgeschichte. 3.Februar 2003, S. 10-16. Rein, Harald (1997): »Wir kämpfen um das, was wir brauchen«. Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 10, S. 70-75. Rein, Harald/Scherer, Wolfgang (1993): Erwerbslosigkeit und politischer Protest: zur Neubewertung von Erwerbslosenprotest und der Einwirkung sozialer Arbeit. Frankfurt/M.: Peter Lang. Rink, Dieter/Philipps, Axel (2007): »Mobilisierungsframes auf den AntiHartz-IV-Demonstrationen 2004«. Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 20, S. 52-60. Rucht, Dieter/Yang, Mundo (2006): »Hartz IV als Politikum: Protestmobilisierung und Medienresonanz«. Vortrag beim DVPW-Kongress am 27.06.2006 in Münster (Ms.). Scott, James C. (1985): The weapons of the weak. New Heaven/London: Yale University Press. Sonnenfeld, Christa (2006): »Widerstand: Spricht jetzt die Tat? Zur Veränderung der sozialen Proteste«. Internet: http://www.hartzkampagne.de/html/themen/themen_text_2.php?zid=137 [Stand: 3.5.2006] Volkmann, Heinrich/Bergmann, Jürgen (1984): Sozialer Protest. Studien zu traditioneller Resistenz und kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vormärz bis zur Reichsgründung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Wehring, Lutz (2006): »Unsere Agenda heißt Widerstand«. In: Agenturschluss (Hg.), Schwarzbuch Hartz IV: Sozialer Angriff und Widerstand – Eine Zwischenbilanz, Berlin/Hamburg: Assoziation A, S. 12187.

Autorinnen und Autoren Ulrich Brieler, Dr. arbeitet in der Stadtverwaltung Leipzig im Geschäftsbereich des Oberbürgermeisters, Referat Grundsatzfragen. Wichtige Publikationen sind: »Genealogie im ›Empire‹. Erste Anmerkungen zum theoretischen Produktionsverhältnis von Antonio Negri und Michel Foucault«. In: Clemens Kammler/Rolf Parr (Hg.): Foucault in den Kulturwissenschaften (Heidelberg 2007) und »Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker« (Köln/Weimar 1998). Ulrich Bröckling, Prof. Dr. hat den Lehrstuhl für Ethik, Politik, Rhetorik am Institut für Politikwissenschaften der Universität Leipzig. Seine jüngste Publikation ist »Das unternehmerische Selbst« (Frankfurt/Main 2007). Christian Driesen, M. A. promoviert über Gilles Deleuzes und das Denken der Psychoanalyse und er ist Mitherausgeber von »molpé. Zeitschrift für ambulante Metallurgie«. Seine Arbeitschwerpunkte sind: französische Philosophie, Begriffe der Sicherheit, Literaturen des Außen und Morton Feldman. Wolfgang Fach, Prof. Dr. ist Prorektor für Studium und Lehre der Universität Leipzig. Er ist Autor von »Die Regierung der Freiheit« (Frankfurt/Main 2003) und »Das Verschwinden der Politik« (Frankfurt/Main i.E.). Robert Feustel, M.A. arbeitet am Institut für Politikwissenschaften am Lehrstuhl Ethik, Politik, Rhetorik an der Universität Leipzig. Er promoviert dort im Bereich Politische Theorie zum Thema »Grenzgänge. Kulturen des Rauschs seit der Renaissance«. Daniel Hechler, M. A. arbeitet am Institut für Hochschulforschung (HoF) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und ist Mitglied der

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»Leipziger Forschungsgruppe Soziales«. Sein Arbeitsschwerpunkt ist ›Promovieren in der Zeitgeschichte‹. Bernd Heiter, M. A. hat mehrere Jahre im Frankfurter-Foucault-Projekt mitgewirkt und ist Vorstandsmitglied der »Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche«. Er schrieb einen Beitrag und ist Mitherausgabe des Bandes »Michel Foucault, Das Wahrsprechen des Anderen. Zwei Vorlesungen von 1983/84« (Frankfurt/Main 1992). Jüngst erschien von ihm: »Immanuel Wallerstein: Unthinking Culture«. In: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart (Wiesbaden 2006). Jens Kastner, Dr. ist Soziologe und Kunsthistoriker. Er lebt als freier Autor und Dozent in Wien und Münster. Veröffentlichungen in diversen Zeitungen und Zeitschriften (Jungle World, springerin u. a.) zu Sozialen Bewegungen, Cultural Studies und zeitgenössischer Kunst. Koordinierender Redakteur von Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst. Letzte Buchveröffentlichung: »Transnationale Guerilla. Aktivismus, Kunst und die kommende Gemeinschaft« (Münster 2007). Tobias Nikolaus Klass, Prof. Dr. ist Juniorprofessor am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal. Neben Veröffentlichungen zu Nietzsche, Foucault, Derrida, Rancière u. a. sind von ihm erschienen »Das Versprechen. Gründzüge einer Rhetorik des Sozialen« (München 2002) und jüngst »Politik der Verantwortung. Jacques Derrida und die Frage nach der Praxis« in: Ludger Heidbrink/Alfred Hirsch (Hg.): »Verantwortung in der Zivilgesellschaft« (Frankfurt/Main 2006). Christian Kupke, M. A. ist Honorardozent und freischaffender Philosoph mit den Arbeitsschwerpunkten: Philosophie und Psychoanalyse, Philosophie und Psychiatrie, Zeit-Psychopathologie der Schizophrenien und Melancholien. Gründungs- und Vorstandsmitglied der Berliner »Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche«. Eine Auswahl veröffentlichter Sammelbände: »Zeit und Zeitlichkeit« (Würzburg 2001), »Das Maß des Leidens« (Würzburg 2003, hrsg. Zusammen mit M. Heinze u. a.) und »Lévinas’ Ethik im Kontext« (Berlin 2005). Ines Langemeyer, Dr. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Industriesoziologie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus. Von ihr erschien »Kompetenzentwicklung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung« (Münster u.a. 2005). Axel Philipps, Dr. ist Sozialwissenschaftler am Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht in Heidelberg und Mitglied der »Leipziger

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Forschungsgruppe Soziales«. Als Mitherausgeber erschien von ihm der Sammelband »Kritik-Entwürfe. Beiträge nach Foucault« (Münster 2006). Ursula Rao, PD Dr. ist Senior Lecturer in Soziologie und Ethnologie an der University of New South Wales, Sydney. Sie ist Autorin von »Negotiating the Divine. Temple Religion and Temple Politics in Contemporary Urban India« (Manohar 2003). Ihre jüngster Sammelband heißt »Celebrating Transgression. Method and Politics in Anthropology« (Berghahn 2006, hrsg. zusammen mit John Hutnyk). André Reichert, M. A. promoviert über das Projekt des Anfangs in der Philosophie. Nebenbei ist er als freier Übersetzer tätig. Seine jüngste Übersetzung Catherine Malabou »Dialektik und Dekonstruktion. Ein neues ›Moment‹« erschien in Ulrich J. Schneider (Hg.): Der französische Hegel (Berlin 2007). Maximilian Schochow, M. A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte. Seit 2004 promoviert er zu dem Thema »Die Ordnung der Hermaphroditen-Geschlechter«. Aktuell beschäftigt er sich mit dem Forschungsschwerpunkt »›Deutsche Defizite‹ und das ›Aussterben Europas‹. Von der nationalen zur europäischen Bevölkerung?« im Rahmen der Projektgruppe »Die vergangene Zukunft Europas«. Hagen Schölzel, M. A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich ›Kommunikationsmanagement in Politik und Wirtschaft‹ an der Universität Leipzig und Mitglied der »Leipziger Forschungsgruppe Soziales«. In seinem Arbeitsfeld beschäftigt sich mit Regierungs- und Subversionspraktiken in der politischen Kommunikation.

Sozialtheorie Andrea D. Bührmann, Werner Schneider Vom Diskurs zum Dispositiv Eine Einführung in die Dispositivanalyse Juni 2008, ca. 140 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN: 978-3-89942-818-6

Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze Mai 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-703-5

Kay Junge, Daniel Suber, Gerold Gerber (Hg.) Erleben, Erleiden, Erfahren Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft Mai 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-829-2

Janine Böckelmann, Frank Meier, Claas Morgenroth (Hg.) Politik der Gemeinschaft Zur Konstitution des Subjekts in der politischen Philosophie der Gegenwart April 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-787-5

Patricia Purtschert, Katrin Meyer, Yves Winter (Hg.) Gouvernementalität und Sicherheit Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault April 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-631-1

Manfred Füllsack (Hg.) Verwerfungen moderner Arbeit Zum Formwandel des Produktiven März 2008, 180 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-874-2

Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Spatial Turn Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften März 2008, 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-683-0

Daniel Hechler, Axel Philipps (Hg.) Widerstand denken Michel Foucault und die Grenzen der Macht März 2008, 280 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-830-8

René John Die Modernität der Gemeinschaft Soziologische Beobachtungen zur Oderflut 1997 März 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-886-5

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Sozialtheorie Jens Warburg Das Militär und seine Subjekte Zur Soziologie des Krieges Februar 2008, 378 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-852-0

Ekaterina Svetlova Sinnstiftung in der Ökonomik Wirtschaftliches Handeln aus sozialphilosophischer Sicht Februar 2008, 220 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-869-8

Franz Kasper Krönig Die Ökonomisierung der Gesellschaft Systemtheoretische Perspektiven 2007, 164 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-841-4

Andreas Pott Orte des Tourismus Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung 2007, 328 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-763-9

Tanja Bogusz Institution und Utopie Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne 2007, 354 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-782-0

Johannes Angermüller Nach dem Strukturalismus Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich 2007, 290 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-810-0

Anette Dietrich Weiße Weiblichkeiten Konstruktionen von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus 2007, 430 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-807-0

Daniel Suber Die soziologische Kritik der philosophischen Vernunft Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie um 1900 2007, 524 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-727-1

Susanne Krasmann, Jürgen Martschukat (Hg.) Rationalitäten der Gewalt Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert 2007, 294 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-680-9

Markus Holzinger Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie 2007, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-543-7

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Sozialtheorie Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen

Nina Oelkers Aktivierung von Elternverantwortung Zur Aufgabenwahrnehmung in Jugendämtern nach dem neuen Kindschaftsrecht

2007, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-477-5

2007, 466 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-632-8

Sandra Petermann Rituale machen Räume Zum kollektiven Gedenken der Schlacht von Verdun und der Landung in der Normandie

Thomas Jung Die Seinsgebundenheit des Denkens Karl Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie

2007, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-750-9

2007, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-636-6

Benjamin Jörissen Beobachtungen der Realität Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien

Ingrid Jungwirth Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman

2007, 282 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-586-4

Susanne Krasmann, Michael Volkmer (Hg.) Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften Internationale Beiträge 2007, 314 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-488-1

Hans-Joachim Lincke Doing Time Die zeitliche Ästhetik von Essen, Trinken und Lebensstilen 2007, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-685-4

2007, 410 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-571-0

Christine Matter »New World Horizon« Religion, Moderne und amerikanische Individualität 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-625-0

Petra Jacoby Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe 2007, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-627-4

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