Nietzsche und die Metaphysik 9783110858907, 3110101696, 9783110101690

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Nietzsche und die Metaphysik
 9783110858907, 3110101696, 9783110101690

Table of contents :
Vorbemerkung
Einleitung
I. Kritik der idealistischen Vernunftphilosophie
1. Kritik der Metaphysik als radikale Selbstkritik der Vernunft
2. Das Losbinden der Logik von der Ontologie
3. Wahrheit als nützliche Selbsttäuschung
4. Die sprachliche Gebundenheit des Denkens
5. Die Auflösung der erkenntnistheoretischen Konstruktion des Subjekts
6. Die methodische Funktion des Leibes
7. Die Forderung nach einer neuen Bestimmung der Vernunft
Anhang A. Hegel und Nietzsche
Anhang B. Nietzsche und Aristoteles
II. Kritik des metaphysischen Praxisbegriffs
III. Die Umwandlung der gesamten menschlichen Tätigkeit in Spiel
IV. Die Kunst als Organon der Philosophie
1. Die paradigmatische Bedeutung der Kunst für die Philosophie
2. Die Eigenart der ästhetischen Einstellung
3. Die tragische oder dionysische Kunst
4. Der Maßstab der Wahrheit und der Maßstab des Lebens
5. Die Kunst in der Zeit der Arbeit
6. Rausch als ästhetischer Zustand
7. Die Umwandlung der Philosophie nach dem Vorbild der Kunst
V. Die perspektivische Grenzüberschreitung
Abkürzungen
Personenregister
Sachregister

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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Herausgegeben von

Ernst Behler · Mazzino Montinari Wolfgang Müller-Lauter · Heinz Wenzel

Band 16

w DE

G

1985

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Nietzsche und die Metaphysik von

Mihailo Djuric

w DE

G

1985

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anschriften der

Herausgeber:

Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U . S . A . Prof. Dr. Mazzino Montinari via d'Annunzio 237, 1-501 35 Florenz Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-1000 Berlin 37 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D-1000 Berlin 33 Redaktion: Johannes Neininger Ithweg 5, D-1000 Berlin 37

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Djuric, Mihailo: Nietzsche und die Metaphysik / Mihailo Djuric. Berlin ; New York : de Gruyter, 1985. (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung; Bd. 16) ISBN 3-11-010169-6 NE: GT

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei - pH 7, neutral)

© Copyright 1985 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Vorbemerkung Das Buch enthält die stark erweiterte Fassung einer Vorlesung, die im Sommersemester 1982 an der Universität Augsburg gehalten wurde. Einzelne Partien desselben habe ich in der Zwischenzeit am Inter-University Center in Dubrovnik sowie auch an den Universitäten in Tübingen, München, Mainz und Bonn vorgetragen. Eine erste Fassung des zweiten Kapitels wurde in den Nietzsche-Studien 9 (1980) veröffentlicht. Den Herren Wolfgang Müller-Lauter und Heinz Wenzel gilt mein großer Dank für ihre kollegiale und freundschaftliche Unterstützung, Frau Gertrud Simon dafür, daß sie das Manuskript sprachlich-stilistisch überarbeitet hat. Die serbokroatische Fassung des Textes erscheint in Beograd. Beograd, Januar 1985

Mihailo Djuric

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung Einleitung I. Kritik der idealistischen Vernunftphilosophie 1. Kritik der Metaphysik als radikale Selbstkritik der Vernunft . . . . 2. Das Losbinden der Logik von der Ontologie 3. Wahrheit als nützliche Selbsttäuschung 4. Die sprachliche Gebundenheit des Denkens 5. Die Auflösung der erkenntnistheoretischen Konstruktion des Subjekts 6. Die methodische Funktion des Leibes 7. Die Forderung nach einer neuen Bestimmung der Vernunft Anhang A. Hegel und Nietzsche Anhang B. Nietzsche und Aristoteles II. Kritik des metaphysischen Praxisbegriffs III. Die Umwandlung der gesamten menschlichen Tätigkeit in S p i e l . . . . IV. Die Kunst als 0rganon der Philosophie 1. Die paradigmatische Bedeutung der Kunst für die Philosophie . . 2. Die Eigenart der ästhetischen Einstellung 3. Die tragische oder dionysische Kunst 4. Der Maßstab der Wahrheit und der Maßstab des Lebens 5. Die Kunst in der Zeit der Arbeit 6. Rausch als ästhetischer Zustand 7. Die Umwandlung der Philosophie nach dem Vorbild der Kunst V. Die perspektivische Grenzüberschreitung Abkürzungen Personenregister Sachregister

V 1 8 8 16 31 41 51 64 77 88 100 116 148 188 188 209 222 242 250 264 282 302 319 320 322

Einleitung Die jüngste Phase der Nietzsche-Rezeption, in der wir gerade stehen, ist vornehmlich philosophisch motiviert und ausgerichtet. Nietzsche gilt heute hauptsächlich als Denker, und zwar als hervorragender, nicht lediglich als Schriftsteller, sei es auch als bedeutender. Diese Phase hat Martin Heidegger durch seinen groß angelegten Interpretationsversuch eingeleitet. Seitdem kann Nietzsche nicht mehr bloß literarisch behandelt, geschweige denn ausschließlich weltanschaulich oder gar politisch ausgebeutet werden. Heidegger hat den philosophischen Maßstab gesetzt, der für jedes künftige Gespräch mit Nietzsche verbindlich sein müßte. Heidegger hat sogar exemplarisch gezeigt, daß Nietzsche ernst zu nehmen ist, daß man sich mit ihm gründlich auseinandersetzen muß, um seiner ungeheuren denkerischen Herausforderung überhaupt gerecht zu werden. Allerdings hat Heidegger das Verhältnis Nietzsches zur metaphysischen Tradition ganz eindeutig festgelegt. Darin scheint der fragwürdigste Punkt seiner Interpretation zu liegen. Heidegger hat Nietzsche bloß als einen „Vollender" der Metaphysik gesehen, seine Philosophie als deren „Endgestalt" erfaßt. 1 Im Rahmen der Heideggerschen Interpretation wurde Nietzsche nicht bloß als einem Denker gehuldigt. Es sollten in seiner Philosophie, vermöge der in ihr vollzogenen Umkehrung der Metaphysik, deren Wesensmöglichkeiten erschöpft werden. Dabei hat Heidegger bekanntlich keine sinngetreue Nietzsche-Interpretation vorgelegt. Vielmehr versuchte er Nietzsche besser zu verstehen, als er sich selber verstanden hat. 2 Sein Grundanliegen hat Heidegger selbst als einen Versuch gekennzeichnet, das „Ungedachte" in Nietzsches „Gedachtem" bloßzulegen. 3 Deswegen ist seine Nietzsche-Interpretation mehr eine Selbstauslegung Heideggers durch Nietzsche-Texte, als eine Nietzsche-Interpretation nach Heideggers eigenem philosophischen Maßstab. Auf die Beschränktheit und Fragwürdigkeit von Heideggers Anliegen (trotz aller hohen Einschätzung seiner Verdienste) hat zunächst Karl Ulmer, der Verfasser einer der vielleicht besten und anregendsten Einführungen in 1 2

3

Martin Heidegger, Nietzsche I (Pfullingen: Neske, 1961), S.480. Vgl. ebd., S. 33: „Doch bei all dem bleibt entscheidend, Nietzsche selbst zu hören, mit ihm, durch ihn hindurch und so zugleich gegen ihn, aber für die eine einzige und gemeinsame innerste Sache der abendländischen Philosophie zu fragen." Martin Heidegger, Was heißt denken? (Tübingen: M. Niemeyer, 3 1971), S.23.

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Einleitung

Nietzsches Philosophie 4 , hingewiesen. In zwei gedrängten Anmerkungen hob Ulmer entschieden hervor, daß Nietzsches Werk keineswegs nur „eine letzte Konsequenz der Uberlieferung" 5 sei, sondern vielmehr „eine ganz neue Art von Philosophie" 6 repräsentiere, insofern es „von Gedankengängen" durchdrungen sei, „die keineswegs in den Umkreis der überlieferten Metaphysik gehören". 7 O b w o h l er sich derart deutlich auf die Seite derjenigen Auslegungen gestellt hat, die bei Nietzsche das Wesentliche darin sehen, daß er den Bruch mit der bisherigen und den Ubergang in eine „neue Art des Denkens" 8 bezeichnet, konzedierte doch Ulmer dabei offen, daß es unmöglich sei, sowohl das Verhältnis von Nietzsches Denken zur Tradition, als auch das „Neue" darin gegenüber dieser Tradition „positiv" zu bestimmen. Man kann lediglich eine „negative" Bestimmung aus der Perspektive der traditionellen Philosophie geben, und zwar nur im Blick auf ein Merkmal dieser Philosophie, im Blick auf das „System". Aus der Perspektive der traditionellen Philosophie würde dann das „Neue" im Denken Nietzsches darin bestehen, „daß es ein systematisches Experiment' ist, oder daß das Systematische in diesem Denken nur dazu dient, durch seine Auflösung das tieferreichende Wesen dieses Denkens zu zeigen."' Aber schon diese negative Bestimmung enthüllt überzeugend, daß Nietzsches Philosophie keineswegs der Vergangenheit unwiederbringlich angehört, sondern daß sie mit Recht den Anspruch darauf erhebt, eine „Philosophie der Zukunft" zu sein. In diesem Sinne warf Ulmer Heidegger ausdrücklich vor, daß er Nietzsches Philosophie „in den Gang der überlieferten Metaphysik" gestellt, und sie „von dorther als deren Ende zu verstehen" 10 versucht habe. Auf diese Weise wurde schon von vornherein jede Möglichkeit einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit Nietzsche in Abrede gestellt, man hat stillschweigend vorausgeKarl Ulmer, Nietzsche. Einheit und Sinn seines Werkes (Bern/München: A.Francke, 1962). Ebd., S. 82. 6 Ebd., S. 8. 7 Ebd., S. 8. 8 Ebd., S. 82. ' Ebd., S. 82. Die Idee vom experimentalen Charakter der Nietzscheschen Philosophie hat Friedrich Kaulbach in seinem Buch Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie (Köln/Wien: Böhlau, 1980) breit entwickelt, allerdings in einem ganz anderen Sinn als Ulmer. Von der Uberzeugung ausgehend, daß Inhalt und Methode in jeder bedeutenden philosophischen Konzeption untrennbar verknüpft seien, unternahm es Kaulbach zu zeigen, daß die bekannte Heideggersche These, Nietzsches Philosophie sei die Endgestalt der europäischen Metaphysik, auch „für sein philosophisches Methodenkonzept gilt" (S. IX). Gerade als Experimentalphilosophie steht die Philosophie Nietzsches, nach Kaulbachs Meinung, auf einer Linie mit den bedeutendsten neuzeitlichen Versuchen, die philosophische Methode zu begründen (vor allem mit den Versuchen Descartes' und Kants, aber auch Hegels), so daß sie hauptsächlich als ein „radikales Endergebnis" (S. IX) der ganzen bisherigen Methodenreflexion verstanden werden kann. 10 Karl Ulmer, λ. λ. Ο., S. 82. 4 5

Einleitung

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setzt, daß die Aufgaben, vor denen heute die Philosophie steht, „nur durch eine ausdrückliche Abhebung gegen Nietzsche formulierbar" 11 sind. Und das bedeutet, daß Heidegger den Weg zum wirklichen Verständnis der Philosophie Nietzsches versperrt hat, daß bei ihm die Nietzschesche „eigentümliche Problemerfahrung" 1 2 verloren ging, daß ihre „positive Bedeutung für die gegenwärtige und zukünftige Entfaltung der Philosophie" 1 3 unterschätzt wurde. Schwerwiegender ist, und Ulmer hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß Heidegger seine eigenen Grundfragen überhaupt nicht gestellt haben könnte, wenn ihm Nietzsche nicht darin vorangegangen wäre. Denn gerade die Nietzschesche „Ansicht von seiner eigenen Stellung in der Geschichte der Philosophie sowie von ihrem bisherigen Verlauf, wie auch seine Ansicht von der Bedeutung der Philosophie für die menschliche Geschichte haben Heideggers Verständnis der gegenwärtigen Aufgabe der Philosophie wie auch seine Auslegung von Nietzsche selbst ermöglicht". 14 Freilich ist dabei anzumerken, daß Ulmer es nicht vermochte, alle Konsequenzen dieser berechtigten Kritik an Heideggers Gewaltsamkeiten vollständig zu entfalten, so daß sein eigener Versuch, eine andersartige Interpretation der Philosophie Nietzsches zu liefern, beträchtlich hinter dem zurückbleibt, was er grundsätzlich fordert und verspricht. Daß Nietzsches Verhältnis zur metaphysischen Tradition viel komplizierter ist, als Heidegger es gesehen oder zugestanden hat, hat auch Eugen Fink in seinem wertvollen Buch hervorgehoben. Er hat dies Verhältnis als ein Verhältnis von „Gefangenschaft und Befreiung" zu deuten versucht. 15 Auf diese Weise hat er zumindest die Möglichkeit eröffnet, daß Nietzsche, trotz all seiner Abhängigkeit von der metaphysischen Tradition, doch einen gewaltigen Schritt über die Metaphysik hinaus gemacht hat, daß es sich bei ihm sogar um einen „wesentlichen Ausbruch ins Freie eines neuen Weltaufgangs" 16 handelt. Die Grundthese der Heideggerschen Nietzsche-Interpretation hat dann Wolfgang Müller-Lauter in zahlreichen seiner bisherigen Publikationen grundsätzlich bestritten. 17 Dieser verdienstvolle Nietzsche-Forscher ist sogar viel weiter als Fink gegangen, indem er klar gesehen hat, daß in Nietzsches Denken nicht nur „Umkehrung", sondern „Zerstörung" der Metaphysik „aus ihr selbst

:

Ebd., S. 83. Ebd., S. 83. Ebd., S. 83. Ebd., S. 83. Eugen Fink, Nietzsches Philosophie (Stuttgart: W. Kohlhammer, Ί 9 7 3 ) , S. 179. Ebd., S. 186. Am vollständigsten in: „Das Willenswesen und der Übermensch: Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen", Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S. 134-177.

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Einleitung

heraus" geschieht.18 Obwohl Müller-Lauter konzedierte, daß Nietzsche auch Metaphysiker bleibt, sofern bei ihm die „Metaphysik der Subjektivität" die höchste Aufgipfelung erreicht, betonte er doch nachdrücklich, daß Nietzsches Denken sich entschieden gegen die Metaphysik richtet, daß „in Konsequenz seines unablässigen Fragens" die Metaphysik schlechthin „zerfällt".19 Also scheint Nietzsches Hinausgehen über die Metaphysik „wesentlicher", d.h. fundamentaler und folgenschwerer zu sein, als seine Zugehörigkeit zu ihr. Die erwähnten Stimmen gegen die von Heidegger behauptete starre Bindung Nietzsches an die metaphysische Tradition sind nicht die einzigen, die , beachtenswert sind, zumindest nicht in dem Maß, daß es sinnvoll wäre, sich darauf zu beschränken, und über alle anderen mit Stillschweigen hinwegzugehen. Sie sind vielleicht die tiefsten und besonnensten, aber nicht die lautesten und bestimmendsten in der gegenwärtigen Situation. Daß Heidegger in hohem Grade die Bedeutung der Nietzscheschen „Umkehrung" der Metaphysik unterschätzt hat, indem er diese „Umkehrung" als ein Ereignis innerhalb der Metaphysik, und nicht als Andeutung eines neuen philosophischen Anfangs aufgefaßt und gedeutet hat, haben auch viele andere zeitgenössische Interpreten und Kommentatoren des Nietzscheschen Werkes gezeigt, besonders einige französische Autoren, die neuerdings das wiedererwachte Interesse an Nietzsche auch außerhalb der akademischen Kreise bedeutend mitbestimmt haben. Keiner von ihnen befaßte sich zwar eingehend kritisch mit der Heideggerschen Interpretation (wenigstens nicht so, wie es dieser Interpretation, angesichts der Tragweite ihrer Grundthese, ziemen würde), vielmehr diente Heidegger ihnen lediglich als ein mehr oder minder unverbindlicher Anlaß zur Entwicklung der eigenen, Heideggers Grundthese entgegengesetzten, Interpretation Nietzsches. Am weitesten ist Jean Granier gegangen, der sich in seinem umfassenden Nietzsche-Buch ernstlich mit Heidegger auseinandergesetzt hat. Er ist zu dem Schluß gekommen, daß Heidegger „die eigene Definition der Metaphysik der Nietzscheschen Philosophie unterschiebt, ohne einzusehen, daß Nietzsche seine eigene Auffassung vom Wesen der Metaphysik hat, welche den Rahmen der Heideggerschen Definition überschreitet", so daß die Heideggersche

18

Wolfgang Müller-Lauter, „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht", Nietzsche-Studien (1974), S. 1 - 2 .

3

" Ebd., S.2. Vgl. auch die kritischen Bemerkungen desselben Autors zur Heideggerschen Auslegung des Willens zur Macht in seinem Buch Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie (Berlin: W . de Gruyter, 1971), S. 30-33. Die Fragwürdigkeit der anscheinend sehr plausiblen These, daß es sich bei Nietzsche nicht um „die bloße Zerstörung der überkommenen Metaphysik" sondern um „eine verwandelnde Neubegründung des Überkommenen" handele, die Karl-Heinz Volkmann-Schluck, „Nietzsches Stellung zur überlieferten Metaphysik", in: Leben und Denken. Interpretationen zur Philosophie Nietzsches (Frankfurt/M.: V. Klostermann, 1968), S.89 aufgestellt hat, wird erst im Laufe der vorliegenden Untersuchung zum Vorschein kommen.

Einleitung

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Nietzsche-Interpretation „vom streng Nietzscheschen Standpunkt betrachtet" völlig „unakzeptabel" sei.20 Eine andere Frage ist allerdings, inwiefern die ausführliche Darlegung Graniers tatsächlich unser Verständnis der Abkehr Nietzsches von der Metaphysik gefördert oder sogar wirklich den Charakter seiner neuen Denkweise aufgezeigt hat. Beachtenswert ist, daß die meisten französischen Autoren auf eine ganz eigentümliche Weise die Heideggersche These, Nietzsche gehöre zur Geschichte der Metaphysik als deren Abschlußkapitel, bestritten haben. Die Eigentümlichkeit dieses Bestreitens besteht darin, daß sie den größten Nachdruck auf die literarische, stilistische und linguistische Seite des Nietzscheschen Werkes legen. Nach Ansicht dieser Autoren - die zunächst Jacques Derrida, ihr unbestrittener Lehrer formuliert hat - sei die Heideggersche Lesart Nietzsches im Grunde „pretextuell", 21 d. h. Heidegger habe die einfache Tatsache übersehen, daß die Philosophie Nietzsches vor allem wesentlich Text sei und daß man an sie vornehmlich als an ein solches Gebilde herantreten müsse. N u r weil er die problematische Natur des Nietzscheschen Textes vernachlässige, weil er nicht erkannt habe, daß sich dieser vorwiegend als parodistischer und ironischer Text konstituiere, sondern ihn wie den Text jedes anderen Verfassers genommen habe, könnte Heidegger die Nietzschesche Philosophie auf die metaphysische Dimension zurückführen. In der Tat hat Nietzsche den Unterschied zwischen Philosophie und Dichtung aufgehoben, nach exzentrischen Ausdrucksmitteln gegriffen, den traditionellen Begriff des Textes in Frage gestellt. Bei ihm handelt es sich eher um die „Dekonstruktion" als um die „Destruktion" der Metaphysik, 22 insofern sich die „Dekonstruktion" zum Unterschied von der „Destruktion" nicht mit Worten, sondern mit der Syntax, d. h. mit deren systematischen Beziehungen befaßt.

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22

Jean Granier, Le Probleme de la vente dans la philosophic de Nietzsche (Paris: Editions du Seuil, 2 1969), S.626. Daß Nietzsche selbst danach strebte, durch seine Philosophie des Willens zur Macht die alte Metaphysik zu „ersetzen", d.h. sie zu „zerstören" und zu „überwinden", hat auch ohne Rücksicht auf Heidegger Gilles Deleuze hervorgehoben, dessen Buch alle anderen französischen Nietzsche-Bücher hoch übertrifft: Nietzsche et la philosophie (Paris: Presses Universitäres de France, 1962), S.92, deutsch: Nietzsche und die Philosophie (München: Rogner und Bernhard, 1976). Vgl. z . B . Jacques Derrida, Eperons. Les styles de Nietzsche (Paris: Flammarion, 1978), bes. S. 94 Anm. 1. Die Forderung, Nietzsche vor der Lesart Heideggerschen Typs zu schützen, hat Derrida schon im Buch De la grammatologie (Paris: Les Editions de Minuit, 1967), S. 3 1 - 3 2 gestellt. Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe, «La dissimulation. Nietzsche, la question de l'art et la Jitterature>», Nietzsche aujourd'huif 2. (Paris: Union Generale d'Editions, 1973), S. 21. Eine ausführliche kritische Besprechung der neueren französischen Nietzsche-Interpretationen gibt Gianni Vattimo, „Nietzsche heute?", Philosophische Rundschau 24 (1977), S. 6 7 - 9 1 . Kritisch intoniert ist auch der Aufsatz: Eric Blondel, „Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für das Verständnis Nietzsches: Nietzsche und der französische Strukturalismus", Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S. 5 1 8 - 5 3 7 .

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Einleitung

Aber trotz der Distanzierung von Heidegger richtet sich diese ausdrücklich strukturalistische Lesart Nietzsches doch nach Heidegger, sie hängt in hohem Maße von ihm ab. Schon dadurch, daß sie sich ausschließlich auf den Text konzentriert, daß sie den Text als eine neue metaphysische Größe nimmt, daß sie alle anderen Faktoren außer acht läßt, stimmt sie stillschweigend der Heideggerschen Grundthese zu. Es erweist sich, daß sich die Philosophie Nietzsches in der metaphysischen Dimension bewegt, daß ihr eine Affinität zur Metaphysik eignet, daß sie letzten Endes in einer parodistisch-ironischen Wiederholung der Metaphysik besteht. Mit Recht können wir uns fragen, ob so nicht unwiederbringlich gerade dasjenige, was einzig behilflich sein könnte, die Irrtümer und Beschränktheiten der Heideggerschen Interpretation zu überwinden, aus den Augen verloren worden ist. Es sei hier noch erwähnt, daß die Heideggersche Nietzsche-Interpretation wenig Spuren in der angelsächsischen Literatur hinterlassen hat. Kaum jemand hat sie berücksichtigt, geschweige denn sich ihr konfrontierte. Weder gibt es begeisterte Zustimmung, noch wird sie nüchtern bestritten. Dies hängt zunächst damit zusammen, daß das Interesse für die Philosophie Nietzsches selbst in der angelsächsischen Welt lange im Schatten des Interesses für die rein literarische Seite der Schriften Nietzsches verblieb. Aber vielleicht wirkte noch stärker, daß die ideologisch-politische Abneigung gegen den ehemaligen nationalsozialistischen Rektor hier viel länger lebendig blieb, und so jede ernstere Beschäftigung mit seinen Nietzsche-Vorlesungen und anderen Nietzsche gewidmeten Abhandlungen verhindert hat. Anscheinend hat sich die Situation erst in den letzteren Jahren zu verbessern begonnen. Soweit die Heideggersche Nietzsche-Interpretation überhaupt die Aufmerksamkeit der angelsächsischen Autoren auf sich gezogen hat, sind dies gewöhnlich beiläufige Verwahrungen und nicht tatsächliche Auseinandersetzungen mit ihm. So bemerkte ζ. B. Walter Kaufmann nur, der Wille zur Macht sei „kein primär metaphysisches Prinzip, wie es sich Heidegger einbildet", 23 während Ruediger Hermann Grimm nur insofern gegen Heidegger polemisierte, als er feststellte, daß „beharrlich auf Nietzsche als auf einen Metaphysiker zu blicken" bedeute, „diesen völlig falsch zu verstehen". 24 D e r beste amerikanische Kenner Nietzsches, Arthur C . Danto, hat Heidegger in seinem Buch sogar nicht einmal erwähnt, obwohl seine Einsicht, daß Nietzsche eine „totale Revolution in Logik, Wissenschaft, Moral und Philosophie" 25 fordere, als eine Art stillschweigender Kritik der Heideggerschen Interpretation aufgefaßt werden 23

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Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist (Princeton, N . J . : Princeton University Press, "1974), S.420. Ruediger Hermann Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge (Berlin/New York: W. de Gruyter, 1977), S.2. Vgl. S.38, 40, 62, 126 Anm. 1. Arthur C. Danto, Nietzsche as Philosopher (New York/London: Macmillen, 1963), S.35.

Einleitung

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kann. D e n ersten entscheidenden Schritt in der gewünschten Richtung hat erst Bernd Magnus gemacht, der die Heideggersche Auffassung Nietzsches als letzten Metaphysikers nicht nur prinzipiell in Frage stellte, sondern sogar ausdrücklich feststellte, daß Nietzsche ebensowenig Metaphysiker sei wie Heidegger selbst. 26 D i e vorliegende Untersuchung wurde vielfältig durch die Heideggersche Nietzsche-Interpretation angeregt, um nicht zu sagen provoziert. Freilich ist diese Untersuchung keineswegs im Geiste der genannten Interpretation konzipiert worden, noch hat sie überhaupt irgendeine tiefere Beziehung zu ihr. Es handelt sich eigentlich um einen Versuch, den rebellisch-umstürzlerischen, ja revolutionären Sinn der Nietzscheschen Kritik der metaphysischen Tradition den Heidegger so unbedacht in den Hintergrund rückte, um den Uberresten der metaphysischen Denkweise in Nietzsches Philosophie den Vorrang zu geben - unter Berücksichtigung aller diesbezüglichen Texte frei herauszuarbeiten und in möglichst differenzierter F o r m zum Ausdruck zu bringen. Dabei wird der N a c h d r u c k nicht auf jene berühmten Losungsworte Nietzsches wie „der T o d G o t t e s " , „der Wille zur M a c h t " , „der U b e r m e n s c h " , „die U m w e r tung aller W e r t e " und „die ewige Wiederkunft des G l e i c h e n " gelegt, mit denen man zunächst und am häufigsten seinen N a m e n verknüpft. I m Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit wird eine tiefere und verborgenere Schicht seiner Philosophie stehen, aus der heraus, wie es scheint, einzig und allein der Sinn dieser Losungsworte angemessen geklärt und verstanden werden kann. Insofern versteht sich diese Untersuchung in erster Linie als eine verbindliche mitdenkende Ü b e r n a h m e der philosophischen Aufgabe Nietzsches, als eine ernsthafte Besinnung auf Nietzsches Bemühung um die Uberwindung der Metaphysik, und erst dann auch als eine direkte oder indirekte Konfrontierung und Auseinandersetzung mit der Heideggerschen Nietzsche-Interpretation.

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Bernd Magnus, Heidegger's

Metahistory of Philosophy: Amor Fati, Being and Truth (The

Hague: M . N i j h o f f , 1970), S. 132, 133. Schwerlich könnte man vom späteren Buch desselben Autors ( N i e t z s c h e s Existential Imperative. Bloomington/London: Indiana University Press, 1978) sagen, daß es die gleiche Richtung verfolge und daß es die Bestätigung dieser frühen Einsicht darstelle.

I. Kritik der idealistischen Vernunftphilosophie 1.

Uber dem philosophischen Werk von Friedrich Nietzsche schwebt ein Schatten von Zweifel und Mißtrauen, trotz seines glänzenden literarischen Erfolges. Dieser Schatten wurde nicht erst nachträglich darüber geworfen, sondern er begleitet dessen Rezeption gleichsam von Anfang an. Sogar nach so vielen Jahrzehnten, in denen man sich intensiv und hartnäckig damit beschäftigte, ist sein Werk für uns nicht vertrauter, verständlicher und annehmbarer geworden. N o c h heute verfallen wir in ernste Bedenken, schon bei der ersten Begegnung mit ihm, teils weil seine Gedankengänge so seltsam abgebrochen und verflochten sind, daß man sich in ihnen kaum zurechtfinden kann, aber mehr, weil darin eine unheimliche Atmosphäre herrscht, weil seine theoretischen Gipfel so steil emporragen, daß einem leicht schwindlig wird. Es ist eine große Frage, ob man an dieses Werk angemessen herantreten, ob man daran überhaupt ein fruchtbares Gespräch anknüpfen kann. Ist es mehr als nur ein fragwürdiger Versuch der Verneinung und Ablehnung aller menschlichen Konstanten? Gibt es darin auch einige positive Stellungnahmen, gleichviel ob ausdrücklich formuliert oder nur angedeutet, die beachtenswert wären, sei es auch nur als verhängnisvoller Abweg, wenn schon nicht als unumgänglicher Wegweiser? Ist dieses Werk von der „tragischen" Einsicht 1 geprägt, daß es unmöglich sei, über die Metaphysik hinauszugehen (und somit auch mit der ganzen bisherigen Geschichte zu brechen), oder aber verkündigt es die „frohe"

1

Die „tragische Erkenntniss" bricht durch, sagt Nietzsche, wenn „der edle und begabte Mensch" die „Grenze" der Wissenschaft erfährt, wenn er ,,ihr[en] im Wesen der Logik verborgenen Optimismus" durchschaut, wenn er „zu seinem Schrecken" entdeckt, „wie die Logik sich [ . . . ] um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst". Siehe G T 15: K G W III 1, S. 97. (Zitiert wird nach: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: W . de Gruyter, 1967ff.) Daß die Philosophie Nietzsches im Grunde „tragisch" sei, da sie sich in allen ihren Phasen mit dem „Problem der,tragischen' Begrenztheit" des menschlichen Denkens und Erkennens befaßt, darauf verweist nachdrücklich Josef Simon, „Friedrich Nietzsche", in: Ottfried Höffe (Hrsg.), Klassiker der Philosophie II (München: C . H . B e c k , 1981), S . 2 2 0 .

Kritik der idealistischen Vernunftphilosophie

9

Botschaft, 2 daß erst die nihilistische Katastrophe die Möglichkeit einer wesentlich andersartigen Weise des menschlichen Daseins auf dieser Erde eröffne? 3 Nietzsches philosophisches Werk erweckt Verdacht und Widerstände nicht nur deswegen, weil es ausdrücklich kritisch gegenüber der gesamten Uberlieferung ausgerichtet ist, weil es alle denkerischen Errungenschaften des europäischen Menschen bestreitet, weil es die gesamte kulturelle Vergangenheit des Abendlandes einer schonungslosen Kritik unterzieht. So richtig es auch sein mag, daß schon diese Grundeinstellung einen unbehaglichen Eindruck hinterläßt, wirkt dieses Werk doch nicht verwirrend und abstoßend durch die Verschrobenheit und Rätselhaftigkeit der gewaltigen Bilder und Metaphern, die darin reichlich gebraucht sind, obwohl in vielen dieser Bilder und Metaphern dessen Sinn tatsächlich eher verdeckt und verstellt als erschlossen und aufgedeckt wird. Die weitaus größte Schwierigkeit des Werkes liegt darin, daß Nietzsches Kritik der modernen Welt entschieden philosophisch motiviert und ausgerichtet ist, insofern sie sich auf die Kritik der Metaphysik konzentriert, dabei aber zugleich auch auffallend relativistisch-perspektivisch beschränkt ist, da sie sich von keinen rational überprüfbaren Kriterien leiten läßt, so daß vollkommen ungewiß ist, inwieweit die Resultate überhaupt noch der Philosophie zuzurechnen sind. Als „Herold und Vorläufer" der „Philosophen der Zukunft" nach eigenem Selbstverständnis, 4 nicht nur als Denker, der das Ende des traditionellen Philosophierens verkündet, stellt Nietzsche die vernünftige Grundlage des philosophischen Gesprächs selbst in Frage, er lehnt sich gegen die Herrschaft des „Logischen" auf, er verläßt den Boden des diskursiven Denkens. Bei ihm gibt es keine festen kategorialen Bestimmungen, seine Philosophie kennt und anerkennt keine verbindlichen, keine allgemeingültigen Wahrheiten. U m die Vergewaltigung der Wirklichkeit durch das Denken zu verhindern (worin er eine unumgängliche Folge der Herrschaft der Metaphysik in der bisherigen Geschichte erblickte), verwarf Nietzsche grund-

2

3

4

In seiner autobiographischen Schrift Ecce homo sagt Nietzsche von sich selbst, nachdem er sich gegen mögliche Qualifikationen verwahrt hat, daß er ein „froher Botschafter" sei, „wie es keinen gab", daß es erst von ihm an „wieder Hoffnungen [giebt]". Vgl. E H Götzen-Dämmerung 2; Warum ich ein Schicksal bin 1: K G W VI 3, S. 353, 364. Daß das Verhältnis Nietzsches zur metaphysischen Tradition ambivalent, aber doch viel eher dogmatisch als kritisch ausgeprägt sei, da Nietzsche angeblich im Banne der Tradition selbst dort noch geblieben sei, wo er sich erfolgreich für die Befreiung von ihrer Herrschaft eingesetzt habe, betont Eugen Fink, Nietzsches Philosophie (Stuttgart: W . Kohlhammer, 3 1973), S. 185. Freilich darf diese Alternative nicht allzusehr zugespitzt werden, da Nietzsche „tragisch" vor allem als froh, fröhlich, freudig aufgefaßt hat. Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie (Paris: Presses Universitäres de France, 1962) (deutsche Ubersetzung München: Rogner/ Bernhard, 1976), S.42. Vgl. E H Die Geburt der Tragödie 3: K G W V I 3 , S . 3 1 0 : „In diesem Sinne habe ich das Recht, mich selber als den ersten tragischen Philosophen zu verstehn - das heisst den äussersten Gegensatz und Antipoden eines pessimistischen Philosophen". J G B 4 4 : K G W VI 2, S.56.

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Kritik der idealistischen Vernunftphilosophie

sätzlich die logisch-ontologischen Kategorien als Mittel der Erkenntnis und verzichtete bewußt darauf, seine neue Erfahrung des Seins rational darzulegen und zu begründen. So setzte er sich unweigerlich dem Odium des Irrationalismus 5 aus. Vielen ist noch heute unklar, welchen Sinn es überhaupt hat, über seine philosophischen Ansichten zu streiten, wie kann man seine Ansichten überhaupt im Ernst wörtlich nehmen, da sie doch selbst keinen Anspruch darauf erheben (und sogar keinen erheben können), irgendeinen Erkenntniswert im traditionellen Sinn zu haben. 6 O b w o h l aber seine nahezu programmatisch zugespitzte Paradoxie abstoßend wirkt, ist Nietzsches philosophisches Werk alles andere als eine hermetische Konstruktion, mit der überhaupt nichts anzufangen ist. Es wäre ein Fehler anzunehmen, daß dieses Werk nur eine willkürliche Sammlung von mehr oder weniger seltsamen Intuitionen und blitzartigen Einfällen darstelle, die jeder nach Belieben interpretieren könne, da sich deren Sinn dem wirklichen Verständnis entziehe. Obwohl Nietzsche buchstäblich gegen die Grenzen der Logik anrennt, war er doch kein verschworener Widersacher des Denkens. Und das heißt, daß seine Kritik der philosophischen Tradition keineswegs sinnlos ist. Ganz besonders kann keine Rede davon sein, daß sie vermeintlich völlig unzugänglich und undurchsichtig sei. Allein man muß sich ernsthaft anstrengen, um auf die Spur dessen zu kommen, was Nietzsche eigentlich mit dieser Kritik sagen wollte. Sonst droht die Gefahr, ihren wesentlich philosophischen Inhalt zu verfehlen und nur bei demjenigen zu bleiben, was sie weltanschaulich bedeutet. Ohne eine nüchterne Überprüfung der Nietzscheschen Kritik der Vernunft könnte man schwerlich den Charakter und die Tragweite seiner Kritik der Metaphysik überhaupt verstehen, geschweige denn die relative Bedeutung der nihilistischen und revolutionären Motive in seinem Philosophieren abwägen, d. h. aufzeigen, worin die eigentliche Aktualität seines denkerischen Unterfangens liegt. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Nietzsche außerordentlich großen Wert auf die Frage nach der Wahrheit legte, daß die Überlegungen zum Ursprung und den Grenzen der menschlichen Erkenntnis einen bedeutenden

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Zu diesem schlechten Ruf ist Nietzsche nicht erst durch Lukäcs gekommen, der ihn beschuldigte, daß er nicht nur mit dem aufklärerischen humanistischen Ideal gebrochen, sondern auch für die Erfordernisse der dekadenten Bourgeoisie die „Konzeption der Entfesselung der Instinkte" geliefert habe (Georg Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied: Luchterhand, 1954, S . 2 7 7 ) , denn ähnliche Einwände wurden schon beträchtlich früher von einigen anderen, verständigeren und sensitiveren Nietzsche-Kommentatoren erhoben.

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Nietzsche verkündigt keine höhere „Wahrheit", sondern behauptet ausdrücklich, daß er für die „Freiheit der Vernunft" kämpfe ( Μ Α 1 6 3 8 : K G W I V 2 , S.374). Vgl. F W 110: K G W V 2 , S. 147. Die Möglichkeit einer „direkten Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie" bezweifelt Jürgen Habermas in seinem „Nachwort" zu Friedrich Nietzsche. Erkenntnistheoretische Schriften (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1968), S . 2 4 1 .

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O r t in seiner Kritik der Metaphysik einnahmen, daß die fundamentale logischontologische Kategorie des Subjekts und der Substanz im Mittelpunkt aller seiner Angriffe gegen die philosophische Tradition stand. Darüber gibt es unzählige Äußerungen von ihm, sowohl in den veröffentlichten Schriften als auch im Nachlaß. Jedenfalls spielte diese „erkenntnistheoretische" 7 Problematik keineswegs eine nebensächliche oder beiläufige Rolle in Nietzsches Gedankenexperiment, obwohl sie vielleicht am fragmentarischsten geblieben ist. Ohne Ubertreibung könnte man sagen, daß Nietzsche sehr weit in seiner Kritik der logischen Grundlagen der Metaphysik gegangen ist, daß er der radikalste Kritiker der Vernunft war von allen, die bisher aufgetreten sind. Vielleicht liegt die magische Anziehungskraft (und nicht nur das Abstoßende) seines philosophischen Werkes gerade darin, daß auf eine möglichst radikale und drastische Weise die Fragen besprochen sind, deren Nennung schon mit einer der größten Gefahren verbunden ist - der, daß man zum Schweigen gezwungen wird. Weit kühner und schonungsloser als alle seine aufklärerischen Vorgänger, sogar Kant darin übertreffend, der ihm sonst in vielem als Vorbild diente, 8 hat Nietzsche den Glauben an eine autonome und unparteiische Kraft der Vernunft zerstört. Er hat das Vorurteil der reinen Vernunft über sich selbst entlarvt, er spottete über alle Versuche, diese Vernunft als göttliche Instanz aufzufassen, er brandmarkte alle Kategorien der Vernunft als gewöhnlichen Irrtum und Täuschung. Mit Rücksicht auf diesen kritischen Leitgedanken des Nietzscheschen Philosophierens (in dem Elemente von Skeptizismus und Agnostizismus durchbrechen, wenn nicht auch ein offener Irrationalismus zum Ausdruck kommt), ist es keineswegs verwunderlich, daß seine Kritik der modernen Kultur die Möglichkeit verschiedener Interpretationen zuläßt. Wie könnte man einen Denker auf eine einzige Formel reduzieren, der so mißtrauisch gegen den diskursiven Begriff und die logischen Axiome war, daß er weder Bedürfnis noch Möglichkeit sah, den eigenen Standpunkt rational zu entwickeln und zu begründen? Es fällt auf, daß Nietzsche sich selbst oft einen „Immoralisten" 9 nannte, offenkundig in der Absicht, auf diese Weise seine vornehmlich kritische Einstellung zur traditionellen Moral wie auch zur traditionellen moralistischen

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Ü b e r den Unterschied zwischen der „Frage nach dem Wesen der Erkenntnis" und der Erkenntnistheorie „als Gegenstand für wissenschaftliche Beschäftigung" siehe Martin Heidegger, Nietzsche I (Pfullingen: Neske, 1961), S. 4 9 6 - 4 9 7 . Daß Nietzsche eine „radikale Transformation" des Kantischen kritischen Projekts versucht habe, d. h. eine „Wiederholung" dieses Projekts auf neue Weise und auf neuen Grundlagen, darauf verweist Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, S. 59, 9 6 - 1 0 3 . Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Marx und Nietzsche in ihrem Verhältnis zu Kant zeigt Ivan Soll, „Marx, Nietzsche und die Kopernikanische Revolution Kants", in: Reinhold G r i m m / J o s t Hermand (Hrsg.), Karl Marx und Friedrich Nietzsche (Königstein/Ts.: Athenäum, 1978), S. 6 3 - 7 7 . Μ Vorrede 4 : K G W V I , S . 8 ; Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W VIII 3, 23 (12), S . 4 2 2 .

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Auffassung der menschlichen Praxis überhaupt möglichst stark hervorzuheben, daß er jedoch nirgends von sich selbst sagte, er sei ein „Antirationalist", obwohl er nicht weniger heftig als die Moral auch die logischen Kriterien der Wahrheit verwarf und sogar offen sowohl der traditionellen Metaphysik als auch der gesamten modernen Wissenschaft jeden Erkenntniswert abstritt. Im Blick darauf, daß dieser große Meister der Selbststilisierung sich selbst noch eine Anzahl anderer Namen gab, um möglichst eindrucksvoll die Aufmerksamkeit auf die übrigen Aspekte der Andersartigkeit seines Denkens zu lenken ( z . B . „Nihilist", 1 0 „Atheist"," „Antimetaphysiker",' 2 u.a.), ist es schwer vorstellbar, daß diese Unterlassung zufällig war. Es ist nicht ersichtlich, warum Nietzsche nicht offen zugestanden hat, daß er auch die Möglichkeit jeglicher Erkenntnis bezweifelt, wenn er sich nicht weigerte, andere, vielleicht noch gefährlichere und herausforderndere Zugeständnisse zu machen. Vielleicht weist schon das Ausbleiben des Namens „Antirationalist" unter so vielen anderen Selbstbenennungen Nietzsches darauf hin, daß dieser eigenmächtige und eigenwillige Denker tatsächlich nicht jede Möglichkeit des Erkennens verneinte, so daß seine Kritik der Logik möglicherweise gar nichts mit dem Irrationalismus zu tun hat (obwohl es auf den ersten Blick gerade so erscheint, und obwohl es viele ältere und jüngere Interpreten seines Werkes fest glauben). Daß dieses letztere weit weniger wahrscheinlich ist als das erstere, folgt übrigens auch daraus, daß Nietzsche sich auf kein mystisches Erlebnis als letzte, höchste Instanz aller seiner Einsichten berufen, sondern seine Kritik entschieden den Forderungen des Denkens unterzogen hat. Dies ist jedoch nur eine These, die erst durch eine eingehende Uberprüfung der relevanten Äußerungen Nietzsches bewährt werden muß. Nietzsches Kritik der Metaphysik gibt deutlich zu erkennen, daß ein vornehmlich philosophisches Interesse seine gesamte Kritik der modernen Kultur bewegt. 13 Diese Kritik ist mit der Kritik der praktischen Philosophie wie auch mit der der herrschenden ästhetischen Anschauungen am engsten verbunden. Vielleicht kann man sie sogar überhaupt nicht verstehen, wenn man diesen breiteren Zusammenhang aus den Augen verliert, wie man auch die Kritik der praktischen Philosophie, zumal die der philosophischen Ästhetik, nicht angemessen auffassen und verstehen kann, wenn man sie getrennt von der Kritik der Metaphysik nimmt. Nichts Merkwürdiges liegt darin, daß das

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Ν 1887/88: K G W VIII2, 11 (411) 3, S.432. GM III 27: K G W VI 2, S.427; E H Warum ich so klug bin 1: KGW VI 3, S.276. Häufiger kommen die Ausdrücke der „Gottlose" (M Vorrede 4: K G W V I , S.8; F W 344: KGW V2, S. 259), der „Ungläubige" (FW 346: K G W V2, S. 261) und der „Antichrist" vor (AC 47: KGW VI 3, S.224). F W 344: K G W V2,S. 259. Darauf verweist Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, S. 8-9.

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philosophische Werk Nietzsches im Grunde folgerichtig ist, trotz all seiner Verzweigtheit und Verstreutheit. Der nihilistische Zusammenbruch der höchsten bisherigen Werte hat so entscheidend die kritische Perspektive Nietzsches bestimmt, dieses epochale Geschick des Abendlandes sein Bewußtsein und sein Gewissen so tief beunruhigt, daß seine Philosophie hauptsächlich auf Auslegung und Deutung dieses Ereignisses zielt, 14 wenigstens insofern, als alles auf dieses Ereignis hinweist und jeder Teil für dessen Verständnis gleich relevant ist. Daher könnte der, der es versuchen würde, sich nur auf einen Problembereich der Nietzscheschen Philosophie zu beschränken, dasjenige leicht außer acht lassen, was darin das Wichtigste und Wesentlichste ist. Nietzsche hat sich nicht nur mit den einzelnen Aspekten der bisherigen philosophischen Entwicklung beschäftigt, vielmehr hat seine Kritik die Philosophie als solche und als Ganzes miteinbezogen. Obwohl aber die Kritik der Metaphysik bei Nietzsche in einen breiten Zusammenhang gestellt ist, nimmt sie doch eine bedeutende Stelle innerhalb seiner Kritik der philosophischen Tradition ein. Vielleicht ist sie sogar als Mittelpunkt, als tiefster Kern dieser Kritik aufzufassen. Sie ist auf die Kritik der Vernunft konzentriert, wenn sie auch nicht in ihr aufgeht, so daß man ohne Bedenken sagen kann, sie habe einen vornehmlich erkenntnistheoretischen Charakter. In dieser Hinsicht folgt die Kritik Nietzsches vorwiegend der Kantischen Kritik der Metaphysik, die gerade als Selbstkritik der Vernunft konzipiert worden ist. Kant hat bekanntlich die Grenzen der Metaphysik dadurch bestimmt, daß er die Grenzen festgelegt hat, innerhalb derer der legitime Gebrauch der Vernunft-Kategorien einzig und allein möglich ist. Obwohl Nietzsche häufig offen über Kant spottete, weil er bezweifelte, daß das „Erkenntnisvermögen" sich selbst erfolgreich und unparteiisch kritisieren könne, 15 ist sein Denken doch beträchtlich durch die Kantische Kritik angeregt. Nur hat Nietzsche den Kantischen Ansatz radikalisiert, indem er die Kritik in eine neue Richtung wandte. Er begnügte sich nicht damit, den Vernunftgebrauch durch die Vernunft einzuschränken, vielmehr stellte er auch die Zuständigkeit der Vernunft dafür in Frage. Nietzsches Kritik ist in höchstem Grade destruktiv, da sie radikal mit den tief verwurzelten Vorurteilen der metaphysisch verblendeten Menschheit bricht. Von ihren Pfeilen wurden nicht nur die höchsten kategorialen Bestim-

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Daß die Erfahrung des Nihilismus die „Grunderfahrung" des Nietzscheschen „denkerischen Daseins" sei, betont Martin Heidegger, Nietzsche I, S. 182-183. Vgl. hierzu meine Arbeit „Die geschichtliche Erfahrung des Nihilismus", Wiener Jahrbuch für Philosophie VIII (1975), S. 2 1 2 - 2 4 9 . Daß dieses Argument zunächst Hegel gegen Kant gebrauchte und daß Nietzsche später zu diesem Argument gegriffen hat, um die Unmöglichkeit der Selbstreflexion zu beweisen, daran erinnert Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2 1973), S.362.

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mungen des Seins getroffen, sondern auch die logischen Axiome selbst. Seine Kritik ist aber nicht bei diesem negativen Ergebnis stehen geblieben. Es wäre sogar schwer zu glauben, daß dies überhaupt das Wichtigste war, was Nietzsche erzielen wollte, als er mit der Metaphysik zu ringen begann. Nicht weniger als an der Entlarvung der Vorurteile der Vernunft, war ihm auch daran gelegen, den Boden für ihre künftigen Erfolge vorzubereiten, wenn es überhaupt einen Sinn hat zu sagen, daß Nietzsche sich durch einen bestimmten Zweck leiten ließ, daß er irgendein positives Ziel vor Augen hatte. Gewiß ist jedoch, daß Nietzsches Kritik nicht minder konstruktiv als destruktiv orientiert ist, insofern sie die Uberwindung der Metaphysik und nicht nur die Abschaffung ihrer Herrschaft anstrebt, insofern sie bemüht ist, den Weg einer neuen, andersartigen Denkweise zu bahnen. Anstatt sich mit einer bloßen Verneinung der Vernunft zu begnügen - und wäre er dabei geblieben, würde das allein den Vorwurf rechtfertigen, er habe mit seiner Kritik dem Irrationalismus jeder Art die Tür weit geöffnet - zeigte Nietzsche entschieden, daß eine neue Bestimmung der Vernunft nötig sei, die der neuen ontologischen Erfahrung entspreche, daß die Vernunft wesentlich anders zu bestimmen sei als in der Tradition, im Hinblick darauf, daß sich hinter demjenigen, was bisher als Sein aufgefaßt wurde, eine tiefere und umfassendere Realität verberge. 16 Es ist nicht wichtig, wieweit Nietzsche mit dem, wonach er strebte, gekommen ist. Viel wichtiger ist, daß er gesehen hat, daß dies ein dringendes Bedürfnis der Zeit ist, daß er das Denken vor eine solche Aufgabe gestellt hat und daß er auf die Möglichkeit hingewiesen hat, so etwas überhaupt zu versuchen. Man kann vorbehaltlos sagen, daß Nietzsches Gedankenexperiment ganz im Zeichen einer großen Umwandlung steht. Die Kritik der Metaphysik ist nicht eine bloße Bestätigung des Endes des traditionellen Philosophierens, sondern auch eine dramatische Ankündigung eines neuen philosophischen Anfangs. Nietzsche war sich durchaus bewußt, daß er von allen traditionellen Vorbildern und Mustern abweicht, daß er allen bisherigen Auffassungen und Heiligkeiten Trotz bietet. Sein Unterfangen nannte er sogar ausdrücklich eine

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Diese tiefere und umfassendere Realität, die sich in unaufhörlicher Bewegung und Wandlung erhält und behauptet und insofern als einzig wahrhaftes Sein aufzufassen ist, nennt Nietzsche am häufigsten schlechthin „Leben". Uber die Gleichsetzung von Sein und Leben gibt es eine eindeutige Äußerung: „Das ,Sein' - wir haben keine andere Vorstellung davon a l s , l e b e n ' . - Wie kann also etwas Todtes .sein'?" ( N 1885/87: K G W V i l l i , 2 (172), S. 151). Vgl. Ν 1887/88: K G W V I I I 2 , 9 (63), S. 33: „ ,Sein' als Verallgemeinerung des Begriffs,Leben' (athmen),beseelt sein' .wollen, wirken' ,werden'". Freilich ist diese Verwendung des Ausdrucks „Sein" bei Nietzsche sporadisch, wie auch die Verwendung dieses Ausdrucks im Sinn von „Wesen", „Wirklichkeit", „Seiendes im ganzen" sporadisch ist. Üblicherweise verstand Nietzsche unter „Sein" das tote, starre, versteinerte Ding, in der Uberzeugung, daß gerade in diesem Sinne die gesamte metaphysische Tradition das Sein aufgefaßt hätte.

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„neue und verwegene Denkweise", 1 7 so als wollte er schon damit allen möglichen Mißverständnissen seines Werkes vorbeugen. Zumindest ist sicher, daß Nietzsche nicht nur das Alte zerstören wollte, sondern ebenso, oder vielleicht zuallererst, das Neue vorbereiten. Seine Philosophie ist zwar vollkommen vom nihilistischen Pathos durchdrungen, da sie selbst in vielem erst zum Entstehen des Phänomens, das sie identifiziert, beiträgt, aber zugleich eine „Gegen-Bewegung", 1 8 d. h. eine Bewegung gegen den Nihilismus. Sagen wir es so: Nietzsche hat schon auch anders gedacht, nicht nur, daß er bemüht war, auf die Möglichkeit eines neuen Denkens hinzuweisen, obwohl er sich vielleicht selbst nicht genügend im Klaren war, womit er zuerst diese Grenze überschritten hatte. In seinen zahlreichen Bildern und Metaphern, denen jede feste Sicherheit eines positiven Wissens fehlt, ist gerade dieses neue Denken am Werk. Daher kommt jene unheimliche Atmosphäre, die in Nietzsches philosophischem Werk herrscht, daher alle Schwierigkeiten, seine eigentliche Intention zu verstehen. Eigentlich muß man sagen, daß Nietzsche weder ganz sicher noch ganz folgerichtig in seinen Angriffen gegen die Metaphysik war. Bei ihm gibt es viel mehr Schwankungen als man überhaupt erwarten würde. Nietzsche wußte eigentlich weder, wie und in welchem Sinn die Logik zu bestreiten wäre, noch wußte er, wie und auf welche Weise ihr metaphysischer Mißbrauch verhindert werden könne. Auch war er nicht mit sich im Reinen darüber, was er als Ersatz für das Verworfene bieten könne. Nietzsche hat kein „positives" philosophisches Programm. Der Ansatz einer perspektivischen Weltinterpretation, sein vielleicht wertvollster und fruchtbarster philosophischer Gedanke, demgemäß der Schein zum „Wesen" der Dinge gehört, ist bei ihm nur ein Keim geblieben. Nicht weiter ist auch der Ansatz einer „ästhetischen Rechtfertigung" der Welt und des Lebens entwickelt, von dem man gewissermaßen sagen darf, daß er den Angelpunkt seiner gesamten philosophischen Bemühung um die „Philosophie der Zukunft" bilde. Nietzsches Kritik ist heftig, da sie auch vor den radikalsten Konsequenzen nicht zurückscheut, sie verwirrt jedoch mehr, als daß sie zur Besinnung bringt, da sie ungenügend philosophisch durchdacht ist." Der völlige Bruch mit der Logik im Namen der Ν1888/89: KGW VIII3, 16 (63), S.303. Die aphoristische Denkweise Nietzsches ist so wenig philosophisch im traditionellen Sinn, daß Gilles Deleuze sie sogar einer „mobilen Kriegsmaschine" gleichsetzte, welche die Nomaden im Kampf gegen die despotische und bürokratische Organisation des Staates gebrauchen, und als einen „nomadischen Diskurs" interpretierte, der gegen die Philosophen „als Bürokraten der reinen Vernunft" gerichtet sei. S. Gilles Deleuze, «Pensee nomade», in: Nietzsche aujourd-hui? 1 (Paris: Union generale d'edition, 1973), S. 159-174. " Ν 1887/88: KGW VIII2, 11 (411) 4, S.432. " Im Interesse der Sache selbst, für die sich Nietzsche mit seinem ganzen denkerischen Wesen so eifrig eingesetzt hat, muß man deshalb nach der Möglichkeit der Uberwindung der Metaphysik 17

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Ästhetik, worauf Nietzsche so beharrlich insistierte, kann schwerlich eine notwendige Bedingung für den Ubergang der Philosophie in eine neue Form darstellen. Zumindest ist es unklar und ungewiß, ob man die kritische Einstellung Nietzsches wirklich aufnehmen und fortsetzen kann, ob die Grundlagen seiner Einsichten wirklich geeignet sind, irgend etwas darauf aufzubauen. Übrigens setzt die Philosophie Nietzsches weder einen absoluten Maßstab, noch beansprucht sie, als Vorbild zu dienen. Nietzsche verdächtigt nicht nur die gesamte bisherige Philosophie, die Wirklichkeit zu verfälschen, er schließt vielmehr auch die eigene Philosophie von diesem Verdacht nicht aus. Er strebt nicht nach Gewißheit und lehnt jede Eindeutigkeit ab. Nietzsche verläßt nämlich die überlieferte Begriffssprache der Philosophie, verabsolutiert jedoch nicht den Wert von Bild und Metapher, er brandmarkt die theoretische Einstellung als den größten und gefährlichsten Irrtum der bisherigen philosophischen Entwicklung, bildet sich jedoch nicht ein, die künstlerische Erfahrung sei die einzig mögliche Alternative dieser Einstellung. A m Ende ergibt sich sogar, daß Nietzsche auch die Möglichkeit des eigenen kritischen Unternehmens bezweifelt, so als wäre er nachträglich vor der Kluft des Irrationalen zurückgeschreckt, die vor ihm aufgerissen wurde, als hätte er nachträglich eingesehen, daß ein Standpunkt außerhalb der Metaphysik nicht möglich sei, als hätte er sich nachträglich mit der Erkenntnis abgefunden, daß die logische Unterjochung des Denkens unumgänglich sei. Fürchterlich mißtrauisch gegen Dogmatismus und Fanatismus jeder Art, gibt Nietzsche keine endgültige Antwort auf irgendeine der vielen Fragen, die er selbst aufgeworfen hat. Gerade deshalb, weil seine Kritik der Metaphysik einen vornehmlich experimentellen Charakter hat, weil sich in ihr so verschiedene Motive verschränken und durchdringen, weil deren Sinn sich so seltsam verbirgt und wandelt, wird diese Kritik noch lange auch Stein des Anstoßes bleiben und nicht nur Quelle der Inspiration des gesamten künftigen Philosophierens.

2.

U m Nietzsches Verhältnis zur Logik zu verstehen, sein tiefes Mißtrauen gegen die logischen Forderungen und sogar seine kühne Auflehnung gegen alle logischen Zwangsformen, muß man zunächst an den früheren Status des Logischen erinnern, da dies heute leicht aus den Augen verloren wird. In der philosophischen Tradition galt nämlich das Logische als göttliche Auszeichnung. Es wurde als Vernunft aufgefaßt, die im strengen Sinn des Wortes nur auch unabhängig von Nietzsche und sogar gegen ihn fragen. Vgl. Martin Heidegger, I, S. 33.

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dem Gott zukommt, da dieser allein das, was wirklich ist, denkt, d . h . Gedanken hat, die zugleich auch reale Dinge sind. O b w o h l jedoch vornehmlich ein göttliches Prinzip, 20 ist das Logische ebenso von wesentlich konstitutiver Bedeutung für das Menschliche als solches. Der Mensch bestätigt seine höchste Bestimmung nur, insofern er logisch denkt. Seine Gedanken sind nur wahrhaftig die seinen, d. h. seines Ranges würdig, insofern sie zugleich die Gedanken Gottes sind. Der Mensch kann sich als denkendes Wesen nur innerhalb des Logischen ausdrücken, obwohl er nie das göttliche Ideal erreichen, d. h. mit seinem Denken das Sein vollkommen erfassen kann. In diesem Sinne nahm man in der Tradition an, die Logik sei das Band aller menschlichen Verhältnisse zur Welt, sie sei eine unersetzliche Stütze des Denkens, ein Hebel, mit dessen Hilfe der Mensch seine Gedanken sicher bewegt und fortschreiten läßt. Es ist schwer zu sagen, inwieweit diese göttliche Verherrlichung der Vernunft tatsächlich Nietzsche dazu bewogen hat, sich gegen die Logik aufzulehnen. D o c h scheint es höchst wahrscheinlich, daß ihm all dies abscheulich erscheinen mußte, als er den Irrtum vom Gottmenschentum durchschaute und auf den Gedanken der radikalen Endlichkeit des Menschen kam. 21 Warum übrigens würde derjenige, der einmal aufgehört hat, an Gott zu glauben, überhaupt noch an die Logik glauben? An seine Aufgabe ist Nietzsche sehr nüchtern herangegangen, ohne überhaupt die Vernunft als göttliches Wahrzeichen besonders zu beachten. Seine Kritik bewegt sich in streng historischem Rahmen, sie ist wesentlich historisch ausgerichtet, setzt die historische Perspektive voraus, jedoch nicht in irgendeinem kultursoziologischen, sondern in einem betont naturalistischen Sinn. Nietzsche interessiert sich nicht so sehr für die philosophische Geschichte der Vernunft, sondern für deren „Entstehungsgeschichte" 22 (gerade so, wie er sich für die „Naturgeschichte" 2 3 der Moral interessiert und nicht etwa für deren geistesgeschichtlichen Hintergrund). Seine Aufmerksamkeit richtet sich ausschließlich auf die Frage der Genealogie, die Frage eigentlich nach dem Ursprung des Erkenntnisvermögens als eines physiologisch-anatomischen Apparats. Und das bedeutet, daß Nietzsche zunächst nur nach den äußeren Bedingungen des Ursprungs der Vernunft fragt und nicht nach ihren inneren Möglichkeiten. Sein Gesichtskreis ist wesentlich begrenzt, um nicht zu sagen 20

Z u m berühmten Hegeischen Satz (aus der Einleitung zur Wissenschaft der Logik), daß der logische Inhalt „die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der N a t u r und eines endlichen Geistes ist", vgl. den Kommentar bei Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein 6 / 1 . Der menschliche Begriff (Frankfurt/M.: P . L a n g , 1974), S. 2 0 2 - 2 0 5 .

21

An einer bekannten Stelle verknüpft Nietzsche ausdrücklich die Kritik der Vernunft mit der Kritik der Religion, indem er seine eigene Philosophie als die „Gegenbewegung gegen die absolute Autorität der Göttin .Vernunft'" hinstellt ( N 1885: K G W V I I 3 , 40 (25), S.373). M A 1 1 6 : K G W I V 2 , S . 3 3 . Vgl. Ν 1 8 8 1 / 8 2 : K G W V 2 , 11 (274), S. 4 4 4 - 4 4 5 . Μ Α I 3 9 : K G W I V 2 , S. 6 0 - 6 2 ; J G B 185: K G W VI 2, S. 109.

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gefesselt durch die Erkenntnis, daß der Mensch vom Tier abstammt. Zunächst denkt er überhaupt nicht daran, daß die wahre Geschichte der Vernunft erst diejenige sein könnte, die deren Metamorphose in theoretischer Hinsicht beschreibt (etwa den Fortschritt vom Dogmatismus über den Skeptizismus zum kritischen Standpunkt, im Sinne des berühmten Kantischen methodischen Hinweises am Schluß der Kritik der reinen Vernunft). Mit höchstmöglicher Entschlossenheit spricht Nietzsche von der Abstammung des Menschen als einer Tierart. In diesem Zusammenhang betont er, die Logik sei nichts „Ursprüngliches", „Uranfängliches", „Ewiges", sondern sie sei geschichtlich „geworden".24 Sie habe tiefe Wurzeln in der Sphäre des organischen Lebens überhaupt, sie sei eine Erfindung „kluger Tiere"25 im Kampf ums Dasein. Diese Grundeinstellung vertritt Nietzsche schon in seiner frühen Schrift Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne - die er, gemäß einem späteren Bekenntnis, für seinen persönlichen Gebrauch verfaßte und absichtlich geheimgehalten hat26 - und nie ist er davon abgewichen. Diesem historischen Zugang, der vorwiegend nur eine Konsequenz der evolutionistischen Auffassung ist, legte er große Bedeutung bei, und das war sein Tribut an eine zu seiner Zeit sehr einflußreichen Tendenz sowohl in der Philosophie als auch in der Wissenschaft.27 Nietzsche stellt jedoch nicht nur fest, daß die Logik ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung des Menschengeschlechts sei. Das ist nur der erste Schritt in seiner Bemühung, ihren Wert zu relativieren. Hätte sich Nietzsche nur auf diesen Hinweis beschränkt, hätte er sich mit der Feststellung begnügt, daß der Mensch nicht seit jeher logisch gedacht habe, sondern daß er sich erst allmählich gewöhnte, so zu denken, könnte man kaum gegen seine Auffassung etwas einwenden. Man müßte sogar anerkennen, daß seine Erklärung der Entstehung der Logik mit Hilfe des Schemas Mutation-Selektion, d.h. aus der Perspektive der Anpassung des menschlichen Erkenntnisvermögens an das Lebensmilieu, bedeutend zur Festigung der evolutionistischen erkenntnistheoretischen Orientierung beigetragen hat, die gerade in den letzten Jahren, wenn auch ohne Berufung auf Nietzsche, wieder sehr aktuell geworden ist.28 Nietzsche jedoch ergänzte unverzüglich diese Auffassung durch eine kategorische Verurteilung der Entwicklung. Auf diese Weise ist er auf Abwege geraten; er verschärfte radikal seine Kritik und ließ sich auf ein

ΜΑ I 18: K G W IV 2, S. 35-36. W L 1: KGW III 2, S.369. 26 Ν 1884: K G W VII 2, 26 (372), S.247; Ν 1885/87: KGW VIII 1, 6 (4), S.239. 27 Näheres darüber bei Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist (Princeton, N . J . : Princeton University Press, 4 1974), S. 87-88. 2 ' Vgl. z.B. Gerhard Frey, „Möglichkeit und Bedeutung einer evolutionären Erkenntnistheorie", Zeitschrift für philosophische Forschung 34/1 (1980), S. 1-17. 24

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ganz gewagtes Abenteuer ein. Seinen Worten zufolge, ist „unsre menschliche Logik" (d. h. die Logik des gesunden Menschenverstandes) keine „Logik an sich", sie ist nicht „die einzige Art Logik", sie ist „nur ein Spezialfall" der Logik, „vielleicht einer der verwunderlichsten und dümmsten".29 Es liegt etwas Erschreckendes, Unangemessenes, Ubermäßiges in diesen Worten, so daß man sich im ersten Augenblick ratlos fragt, ob dies nicht vielleicht nur eine bittere Ironie sei, die Nietzsche hier formuliert habe, so daß man sich darüber keine Sorgen zu machen brauchte. Dies liegt um so näher, als Nietzsche nicht einmal angedeutet, geschweige denn ausführlich gezeigt hat, was für eine Logik es wäre, die anders sei als die vorhandene, und besonders, worin diese Logik überhaupt bestehen würde, wenn die vorhandene nur ihr Spezialfall sei. In der Tat hatte Nietzsche guten Grund, sich gegen die Herrschaft der Logik aufzulehnen, wenigstens im Blick darauf, daß zu seiner Zeit, und zwar trotz der Kritik Kants, die aristotelisch-scholastische Tradition des logischen Realismus noch immer sehr lebendig war. Nietzsche lehnte sich nämlich gegen das tief eingewurzelte Vorurteil auf, daß die Logik den Wesenskern der Welt entdecke, daß das Logische zu den Dingen als solchen hinzukomme, daß die logischen Bestimmungen ontologische Bedeutung hätten. Die Analogie der menschlichen Vernunft zur göttlichen gefiel ihm ganz und gar nicht, er konnte sich überhaupt nicht mit dieser „hinterlistigen Theologie"30 versöhnen, die schon Hegel gegen Kant zu verteidigen bemüht war. Er behauptete, daß die Logik mit der Wirklichkeit nichts zu tun habe, daß sie nichts beschreibe und nichts erkläre und daß ihre Sätze überhaupt keinen Erkenntniswert hätten. Vielmehr wies er die theoretischen Ansprüche der Logik zurück, da er deren gewalttätiges Gesicht kannte. Er sah in ihr nur ein fiktives Schema, das in den Irrtum „verstrickt", das zum Irrtum „necessitirt"Er konnte höchstens gelten lassen, sie als „Imperativ" aufzufassen, jedoch nicht als Anweisung „zur Erkenntnis des Wahren", sondern als Anweisung „zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt, die uns wahr heißen sollV2 Im Blick darauf, daß Nietzsche dabei den Unterschied zwischen den logischen Axiomen und den transzendentalen Begriffen, um die Kant sich sehr bemühte, völlig vernachlässigte, ist es offenkundig, daß dieser Schritt weittragende erkenntnistheoretische Implikationen hat.

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FW 357: K G W V 2 , S.281. A C 1 0 : K G W VI 3, S . 1 7 4 . G D Die .Vernunft' in der Philosophie 5: K G W VI 3, S. 71. Ν 1 8 8 7 / 8 8 : K G W VIII 2, 9 (97), S.53. Vgl. Ν 1885/87: K G W VIII 1, 7 (4), S . 2 7 4 : „Die Grundsätze der Logik, der Satz der Identität und des Widerspruchs, sind reine Erkenntnisse, weil sie aller Erfahrung vorausgehen. - A b e r das sind gar keine Erkenntnisse! sondern

regulative

Glaubensartikel!"

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Es versteht sich von selbst, daß Nietzsche nicht der erste war, der den theoretischen Charakter der Logik leugnete. Er war auch nicht unter den ersten, die ihre ontologische Grundlage in Frage stellten, nicht nur daß er nicht als erster die Aufmerksamkeit auf ihre grundsätzliche Beschränktheit lenkte. Daß das Denken nicht mit dem Sein übereinstimmt, daß sich die Wirklichkeit nicht in den logischen Bestimmungen erschöpft, daß sich das Leben der Begriffsbestimmung entzieht - all dies wußte man schon lange vor Nietzsche. Selbst dieser erbitterte Kritiker der Metaphysik erhob keinen Anspruch darauf, in dieser Hinsicht irgendeinen Vorrang zu haben, und zwar trotz der Tatsache, daß die äußerste Schärfe einiger seiner Formulierungen leicht zu einem Fehlschluß führen kann. Nicht umsonst haben viele Nachfolger des Aristoteles, in der Antike und in der Neuzeit, oft hervorgehoben, daß die logischen Axiome nur für das Denken und nicht für das Sein gälten, so daß sie keiner ontologischen Begründung bedürften." Das war unumgänglich in einer Situation, die schon durch den Anspruch der Philosophie, freie Wissenschaft zu sein, geschaffen wurde, schon durch ihre Zuwendung zur endlichen menschlichen Wahrheit. Übrigens müßte es schon von vornherein einleuchten, daß die Logik eigentlich die Trennung zwischen Denken und Sein voraussetzt, daß die Verselbständigung der Vernunft in bezug auf das Sein gewissermaßen erst die Frage nach den logischen Kriterien der Wahrheit aufwarf, daß die Logik von Anfang an mehr eine instrumentale Funktion als einen substantiellen Charakter hatte. Sagen wir es so: das Denken hat nicht mit der Logik begonnen, sondern ist erst später in ihr zur Besinnung gekommen. Das Bedürfnis nach der Logik ist erst akut geworden, als die ursprüngliche Einheit von Vernunft und Sein ernstlich erschüttert, wenn nicht ganz verloren wurde, erst als die Vernunft den Weg des Selbstbewußtseins beschritt und das Denken die Erfahrung der unmittelbaren Berührung mit dem Sein vergessen hatte, so daß es gezwungen wurde, nachträglich seine Bewegung methodisch zu sichern, sich selbst die Bedingungen vorzuschreiben, unter denen es allein die Wirklichkeit objektiv erkennen kann. Mit Rücksicht darauf, daß die Logik als Organon der „reinen" Vernunft entstanden ist, d. h. des Denkens, das an das Sein diskursiv herantritt, dürfte es nicht wundern, daß schon viele Philosophen vor Nietzsche die ontologische Begründung der Logik offen bezweifelten, und sogar den Irrtum des „Ontologismus in der Logik" als einen ihrer schwersten Irrtümer bezeichneten.

33

Vgl. Ernst Kapp, Greek Foundations of Traditional Logic (New Y o r k : Columbia University Press, 1942) (deutsche Ubersetzung Der Ursprung der Logik bei den Griechen, Göttingen: Vandenhoeck/Ruprecht, 1965), S. 2 5 - 2 6 , 8 7 - 8 8 , 1 0 1 - 1 0 3 . Über die Aristotelische Aufspaltung der Platonischen Dialektik in eine „erste Philosophie" (Metaphysik) und eine „Analytik" (Logik), siehe Max Scheler, Logik I (Amsterdam: Rodopi, 1975), S. 1 3 0 - 1 3 4 .

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Nun bedeutet dies keineswegs, daß hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Logik und Ontologie in der philosophischen Tradition alles schon von vornherein zum Schaden der Logik entschieden sei, so daß Nietzsche das, was die anderen vor ihm festgestellt hatten, nur angenommen und wiederholt habe. Es kann keine Rede davon sein. Im Unterschied zu Nietzsche, der äußerst radikal dachte und selbst die schwersten Anklagen gegen die Logik nicht scheute, waren seine kritischen Vorgänger bei weitem vorsichtiger und enthaltsamer. Weder glaubten sie, daß die Logik das Denken verführe, noch machten sie ihr den Vorwurf, die Wirklichkeit zu verfälschen. Es fiel ihnen gar nicht ein, daß derlei überhaupt möglich wäre. Im Gegenteil, sie waren alle fest überzeugt, daß die Vernunft, die sich selbst überlassen sei, sich nirgendwo ohne Logik bewegen könne, daß die Logik für die Vernunft unerläßlich sei, daß sie ohne deren Leitung überhaupt nicht zur Wahrheit über die Wirklichkeit gelangen könne. 34 Ihr Vertrauen auf die Logik war so groß, daß sie eigentlich mit allen dogmatischen Vertretern der philosophischen Tradition, die beharrlich auf dem ontologischen Sinn und Ursprung der logischen Axiome bestanden, vollkommen einverstanden waren, daß sie den Glauben an die Möglichkeit einer wahren Erkenntnis der Wirklichkeit hegten, daß sie zu der traditionellen Auffassung neigten, die menschliche Vernunft sei mit der göttlichen wenn schon nicht identisch, so doch dieser sehr ähnlich, insofern sie letzten Endes doch fähig sei, sei es auch nur unvollkommen, sich des Seins zu bemächtigen, sein Wesen begrifflich zu bestimmen und dadurch Herr über es zu werden. Allerdings gefährdet die instrumentale Auslegung der Logik keineswegs ihre propädeutische Bedeutung für die Philosophie. Es ist sinnlos zu fragen, ob die logischen Axiome der Wirklichkeit angemessen seien, d. h. ob sie irgendeinem realen Tatbestand entsprächen, da sie erst eine Voraussetzung der Wirklichkeitserkenntnis sind. Es hat keinen Sinn zu fragen, ob die logischen Axiome wahr seien, bzw. was sie wahr machte, da erst durch sie die Wahrheit erschafft wird. Vom logischen Standpunkt aus ist es völlig gleichgültig, ob das Denken einen realen Grund im Sein hat. Die Logik gilt sowohl für die realen als auch für die irrealen," erdachten Gegenstände. 35 Jedenfalls sind die logischen Axiome verbindlich, unabhängig davon, inwieweit sie ontologisch begründet sind. Diese Axiome sind von ausschlaggebender Bedeutung für das Denken: es 34

35

Obwohl sie ihr freilich nur in formaler, nicht auch in inhaltlicher Hinsicht behilflich sein kann. Uber die Kantische Idee einer transzendentalen Logik, die sich von der Aristotelischen formalen Logik dadurch unterscheidet, daß sie apriorische Prinzipien enthält, die den Gebrauch der apriorischen Begriffe regeln, sowie auch über die Hegeische Idee einer spekulativen (dialektischen) Logik, die die beiden Logiken von Aristoteles und Kant „aufhebt", d. h. negiert und auf eine höhere Stufe hebt, referiert Walter Bröcker, Formale, transzendentale und spekulative Logik (Frankfurt/M.: V. Klostermann, 1962). Vgl. Günther Jacoby, Allgemeine Ontologie der Wirklichkeit I (Halle/S: M. Niemeyer, 1925), S. 398-399.

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gibt keine Wahrheit außerhalb ihrer oder neben ihnen. Obwohl sie nichts darüber sagen, was wirklich ist und wie die Menschen wirklich denken, ermöglichen und sichern sie doch einen freien Zugang zur Wirklichkeit, da sie vorschreiben, wie man denken soll, wenn man überhaupt denken will. Aber Nietzsche ist bedeutend weiter als alle seine Vorläufer gegangen, • insofern er als erster die Logik als Hindernis des Denkens kategorisch verurteilte. Dies ist das unangenehm Neue seiner Auffassung. Es gibt bei Nietzsche keine Achtung mehr für die Logik, sie wird mit äußerster Geringschätzung betrachtet. Ihre praktische Verwendbarkeit, ihre Nützlichkeit fürs Leben wird nicht negiert - an vielen Stellen betont Nietzsche sogar, der Mensch könne seine biologischen Bedürfnisse nicht ohne Logik befriedigen, die Logik sei eine unumgängliche „Lebens-Bedingung" 3 6 - aber jeder positive Anteil in theoretischer Hinsicht wird ihr bestritten. Nietzsche griff die Logik eigentlich an ihrer empfindlichsten Stelle an. Er fand, daß ihre Axiome nicht einmal als Leitfaden des Denkens tauglich seien, daß sie die Erkenntnis überhaupt nicht förderten, sondern der Vernunft in ihrem Bemühen, das zu denken, was wirklich ist, eher hinderlich als behilflich seien. Nietzsche wälzte sogar auf die Logik die ganze Schuld an den Irrtümern und Fehlschlüssen der Metaphysik. Ausdrücklich nannte er die Wahrheit nach ihren Maßstäben eine bloße Lüge und grobe Verfälschung der Wirklichkeit. Als Denker, der von sich meinte, daß er die Menschengeschichte in zwei Teile aufteilte, der sich „am anderen Ende" der Tradition erblickte, im Gegensatz zu Parmenides als seinem Stammvater, behauptete er, daß die Vernunft, die sich von der Logik leiten lasse, schon von vornherein jedes wahre Interesse an der Erkenntnis verraten habe, so daß alles „sicherlich eine Fiktion sein [muß]", 37 was diese Vernunft überhaupt denken kann. Von Nietzsches Kritik wurden beide logischen Grundaxiome getroffen der Satz vom Widerspruch und der Satz der Identität. Das dritte Axiom der Logik, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, das mit den beiden ersteren das System der logischen Grundsätze bildet, fand Nietzsche überhaupt nicht erwähnenswert. Die Schärfe seiner Kritik richtete sich meistens gegen den Satz der Identität, viel öfter als gegen den Satz vom Widerspruch. Offenkundig teilte Nietzsche die Uberzeugung des Aristoteles nicht, daß der Satz vom Widerspruch der wichtigste von allen logischen Axiomen sei. Nicht zufällig steht seine Reihenfolge der Erwähnung dieser Sätze in umgekehrtem Verhältnis zur aristotelischen. Schon auf Grund dieser Änderung kann man schließen, daß Nietzsche dem Satz der Identität eine weit größere Bedeutung als dem Satz vom Widerspruch beilegte, da er in ihm den Grund des letzteren sah und nicht 56 37

Ν 1884/85: K G W VII 3, 35 (37), S.249. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (148), S. 124.

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umgekehrt, so daß der Satz der Identität für ihn in vollem Sinn des Wortes das erste Axiom der Logik war. Aber obwohl Nietzsche einen klaren Unterschied zwischen dem Satz vom Widerspruch und dem Satz der Identität machte, im Hinblick auf ihr gegenseitiges Verhältnis besteht doch kein Zweifel, daß das Prinzip seiner Kritik in beiden Fällen das gleiche war. Daher ist es völlig gleichgültig, von welcher Seite man an die Erörterung seiner Kritik der Logik herantritt. Seine Kritik des Satzes vom Widerspruch richtete Nietzsche unmittelbar an Aristoteles,38 so als wollte er damit hervorheben, wie aktuell seine Entdekkung dieses Satzes noch immer ist. Nietzsche hat zwar nirgends den aristotelischen Satz wörtlich angeführt, aber aus seiner Darlegung geht unzweideutig hervor, daß er beide Versionen vor Augen hatte: „es ist unmöglich, daß dasselbe demselben zugleich in derselben Beziehung zukommt und nicht zukommt" (to gar auto hama hyparchein te kai me hyparchein adynaion toi autoi kai kata to autof, und „es ist unmöglich anzunehmen, dasselbe sei und sei nicht" (adynaion gar hontinoun tauton hypolambanein einai kai me einai).w Gerade weil Aristoteles fest überzeugt war, daß der Satz vom Widerspruch unbedingt gilt, daß er den Grundsatz alles Wissens darstellt, daß er eine notwendige Bedingung der Wahrheit ist, meinte Nietzsche, daß man ernstlich darüber nachdenken solle, was dieser Satz voraussetze, worauf sich seine vermeintliche Geltung gründe41. Zu diesem Zweck erwog er beide Möglichkeiten, von denen er glaubte, daß sie allein in Betracht kämen. Nach Nietzsches Ansicht kann man zunächst voraussetzen, daß der Satz vom Widerspruch tatsächlich im Sein begründet ist, daß er für die Wirklichkeit selbst gilt, daß er die Eindeutigkeit alles Seienden festlegt. Aristoteles setzte dies offenbar voraus, ungeachtet dessen, daß die Logik schon bei ihm größtenteils im Verhältnis zur Ontologie verselbständigt wurde. Nietzsche verwirft jedoch diese Voraussetzung als völlig unbegründet. Sein Grund ist ganz einfach. Wäre nämlich der Satz vom Widerspruch wirklich dem Sein angemessen, würde sich dieser Satz auf die Wirklichkeit selbst beziehen, dann würde das bedeuten, daß wir irgendwie schon im voraus wissen, daß das Sein an sich widerspruchsfrei ist, daß entgegengesetzte Prädikate keinem Seienden zukommen. So etwas können wir indes nicht wissen, denn zu einem solchen Wissen gelangen wir eigentlich erst mittels des Satzes vom Widerspruch. Folglich ist es nicht notwendig zu glauben, daß das Positive und das Negative nicht zugleich im Sein selbst vereint sein können. Es bleibt also die zweite Möglichkeit. Man 38 35 40 41

Ν 1 8 8 7 / 8 8 : K G W VIII 2, 9 (97), S. 53. Arist. Met. IV 3, 1005 b 1 9 - 2 0 . Arist. Met. IV 3, 1005 b 2 3 - 2 4 . Die Berechtigung dieser Forderung Nietzsches bezweifelt Martin Heidegger, Nietzsche S. 6 0 2 - 6 0 6 .

I,

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muß nämlich voraussetzen, der Satz vom Widerspruch gelte nur für das Denken, er stelle eine Bedingung auf, welche das Denken erfüllen müsse, um überhaupt als Denken zu bestehen. Nach Nietzsches Ansicht ist diese zweite Möglichkeit die eigentlich und einzig annehmbare. Der Satz vom Widerspruch schreibt der Wirklichkeit nichts vor, sondern verlangt allein, daß das Denken mit sich selbst im Einklang stehe, daß es sich nicht widerspreche. Darin ist keine objektive Notwendigkeit ausgedrückt, sondern nur unser subjektives „Nichtvermögen", 42 entgegengesetzte Prädikate zu verknüpfen. Folglich ist der Satz vom Widerspruch keine oberste Wahrheit der Wirklichkeit, sondern nur ein bloßes Gebot für das, was als Wahrheit betrachtet werden soll. Aber auch der so aufgefaßte Satz vom Widerspruch (auf das reine Denken beschränkt), genügte Nietzsche nicht. Er bestritt jede Möglichkeit, mittels dieses Satzes irgend etwas philosophisch Zutreffendes über die Wirklichkeit selbst zu erfahren. Er behauptete sogar, dieser Satz sei völlig unbrauchbar für die Erkenntniszwecke, da er die wirklichen, allem Seienden immanenten Gegensätze verberge. Nach Nietzsches Ansicht ist der logische Widerspruch etwas ganz anderes als die faktischen Entgegensetzungen, die in der wirklichen Welt unaufhörlich stattfinden. Die Gegensätze, welche die Logik kennt, haben nichts mit den wirklichen Gegensätzen zu tun.43 Daraus, daß man entgegengesetzte Bestimmungen aus einem Sachverhalt ausscheiden kann, folgt keineswegs, daß es möglich sei, deren Bestehen zu leugnen. Die wirklichen Gegensätze sind unabwendbar, denn sie drängen sich faktisch immer von neuem auf. Sie schließen einander nicht aus, im Gegenteil, sie entspringen einer aus dem anderen, sie ergänzen und unterstützen sich gegenseitig. Insofern der Widerspruch vermieden werden kann, ist dessen fiktive Bedeutung offenkundig. Die Wirklichkeit besteht nicht aus getrennten, ein für allemal fertigen Dingen, die unvermittelt einander entgegengesetzt sind, sie hat vielmehr einen wesentlich prozessualen Charakter, d.h. sie bildet eine ununterbrochene Kette fest untereinander verbundener und verflochtener Ereignisse. In derselben Aufzeichnung aus dem Nachlaß, in der er den Satz vom Widerspruch einen „subjektiven Erfahrungssatz" 44 nennt, versuchte Nietzsche zu erklären, wie es zu dem falschen Glauben gekommen sei, daß dieser Satz für die Wirklichkeit gelte, daß er das Gesetz des Seins darstelle. Er fand, daß beide Extreme in der Betrachtung der Natur des menschlichen Erkennens dazu in gleichem Maße beigetragen hätten. Das eine ist das sensualistische Vorurteil. Hier wird stillschweigend oder ausdrücklich vorausgesetzt, daß die Erkenntnis 42 45

44

Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (97), S.53. Diesen Unterschied hat unterstrichen und sorgfältig herausgearbeitet Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie (Berlin/New York: W. de Gruyter, 1971), S. 14-17. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (97), S.53.

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ausschließlich Sache der Sinne sei, d. h. daß die Empfindungen zunächst den Menschen über die Wahrheit von der Wirklichkeit belehrten. Und dann wird sogleich daraus der Schluß gezogen, daß der Satz vom Widerspruch irgendein ontologisches Korrelat haben müsse, da man von ein und demselben Ding nicht zugleich zwei entgegengesetzte Empfindungen haben könne. Von diesem vermeintlichen Beweis sagt Nietzsche, daß er „ganz grob und falsch" sei,45 offenkundig darum, weil er bezweifelte, daß die Sinne, getrennt vom Denken, eine verläßliche Quelle der Erkenntnis sein könnten,46 aber auch darum, weil er sehr gut wußte, daß die Sinne ebenfalls die Wirklichkeit verfälschen, wie es auch das Denken tut.47 Das zweite Vorurteil könnte man intellektualistisch nennen. Hier liegt die Schwierigkeit im falschen Glauben, daß der Begriff eine überlegene Macht habe, daß er die Wirklichkeit selbst treffe, daß er das Wesen der Dinge erfasse und ausdrücke und nicht nur deren Wesen bezeichnet. Offenkundig hat Nietzsche in dieser Auffassung, die jeden Unterschied zwischen der wirklichen und der erdichteten Welt verwischt, das zweite Extrem gesehen - die unbegründete Uberschätzung des Anteils der spontan-schöpferischen Elemente im Erkenntnisprozeß selbst. Von der Betrachtung des Satzes vom Widerspruch ist Nietzsche fast unmerklich zur Betrachtung des Satzes der Identität übergegangen. Darin liegt nichts Unnatürliches, da der Satz der Identität tatsächlich bereits im Satz vom Widerspruch enthalten ist. Man kann ruhig sagen, daß der Satz vom Widerspruch die negative Form des Satzes der Identität sei, bzw. daß dieser letztere die positive Verwendung des ersteren darstelle.48 Dies gilt insofern als die Aufstellung und Erhaltung einer Konstante die wesentliche Bedingung der Widerspruchsfreiheit ist: um nicht etwas anderes zu sein, muß jeder Gegenstand schon mit sich selbst identisch sein. (Um der historischen Genauigkeit willen sei erwähnt, daß diese Umkehrung des Verhältnisses zwischen dem Satz vom Widerspruch und dem Satz der Identität nicht Nietzsches Verdienst war, denn auf diese Möglichkeit hatte schon Leibniz hingewiesen.4') Daß das 45 46 47

4>

49

Ebd., S. 54. Ν 1885/87: K G W VIII 1, 1 (91), S.29. Ν 1885/87: K G W V I I I 1 , 7 (54), S. 320. Vgl. Ν 1884: K G W VII 2, 26 (448), S.267: „Das Auge, wenn es sieht, thut genau dasselbe, was der Geist thut um zu begreifen. Es vereinfacht das Phänomen, giebt ihm neue Umrisse, ähnelt es früher Gesehenem an, führt es zurück auf Früher-Gesehenes, bildet es um, bis es faßlich, brauchbar wird. Die Sinne thun dasselbe wie der ,Geist': sie bemächtigen sich der Dinge, ganz so wie die Wissenschaft eine Überwältigung der Natur in Begriffen und Zahlen ist. Es giebt nichts darin, was .objektiv' sein will: sondern eine Art Einverleibung und Anpassung, zum Zweck der Ernährung". Der positive Gebrauch des Satzes vom Widerspruch im Sinne des Identitätssatzes ist schon bei Kant impliziert. Siehe Kritik der reinen Vernunft, Kants Werke III (Akademie-Ausgabe) (Berlin: G. Reimer, 1904), S. 1 4 1 - 1 4 2 (B190). Vgl. zu dieser Stelle Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding (Tübingen: M. Niemeyer, 2 1975), S. 135-137. Martin Heidegger, ebd., S. 136.

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Denken keine Willkür duldet, sondern eine strenge Bestimmtheit seiner Gegenstände verlangt, da es nur sagen kann, etwas sei oder sei nicht, und nicht beides zugleich behaupten kann, zeigt unzweideutig, daß der Satz vom Widerspruch den Satz der Identität voraussetzt. Uber Etwas kann man etwas Bestimmtes nur dann sagen, wenn dies Etwas vorausgehend schon als dasjenige bestimmt ist, was in seiner Nicht-Andersheit beständig erhalten wird. Um sich selbst in seinem Sein überhaupt sicher zu sein, muß das Denken von identischen Fällen ausgehen, es muß voraussetzen, daß es feste, fertige, unabänderliche Dinge gibt. Einen Gegenstand, der nicht identisch mit sich selbst wäre, kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Von ihm kann kein Begriff gebildet werden. Der Begriff ist all das, was als eine in sich fixierte Einheit vorgestellt werden kann, gleichviel ob als Einheit allen anderen gegenüber (individueller Begriff), oder als Einheit in der Vielheit von Verschiedenem (allgemeiner Begriff). Nietzsche betont mehrmals nachdrücklich, daß der Satz der Identität die Grundlage der Logik sei, daß er den wichtigsten, den zentralen Grundsatz der Vernunft ausmache, daß er im Fundament aller Denkgewohnheiten und theoretischen Vorentscheidungen der bisherigen Menschheit stecke. Sehr bezeichnend sind folgende seiner Äußerungen: „Auch die Logik beruht auf Voraussetzungen, denen nichts in der wirklichen Welt entspricht, zum Beispiel auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität desselben Dings in verschiedenen Punkten der Zeit."50 „Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang - denn es giebt an sich nichts Gleiches - hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen." 51 „Daß es gleiche Dinge, gleiche Fälle giebt, ist die Grundfiktion schon beim Urtheil, dann beim Schließen."52 „Der Satz von der Identität hat als Hintergrund den ,Augenschein', daß es gleiche Dinge giebt."53 „Die Logik ist geknüpft an die Bedingung: gesetzt, es giebt identische Fälle. Thatsächlich, damit logisch gedacht und geschlossen werde, muß diese Bedingung als erfüllt fingirt werden."54 „Das Urtheil, das ist der Glaube: ,dies und dies ist so'. Also steckt im Urtheil das Geständniß, einem identischen Fall begegnet zu s e i n . . . Er arbeitet unter der Voraussetzung, daß es überhaupt identische Fälle giebt."55 „Vor der Logik, welche überall mit Gleichungen arbeitet, muß das Gleichmachen, das Assimiliren gewaltet haben, und es waltet noch fort, und das logische Denken ist ein fortwährendes Mittel selber für die Assimilation, für das Sehen-wo//e« 50 51 52 53 54 55

M A 1 1 1 : K G W IV 2, S.27. FW 11: K G W V 2 , S. 149-150. Ν 1884/85: K G W VII 3, 35 (57), S.259. Ebd., 36 (23), S.285. Ebd., 40 (13), S. 365-366. Ebd., 40 (15), S. 366-367.

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identischer Fälle" [ . . . ] „Ebenso in allem Logischen, wo die Identität der Fälle die Voraussetzung ist."56 „Vor der Logik liegt, der Zeit nach, die Herstellung identischer Fälle, Assimilation."" Offenbar sind alle diese Stellen mit etlichen kritischen Andeutungen und Funken geladen. Nietzsche begnügt sich nicht mit der bloßen Feststellung, der Satz der Identität sei das Grundprinzip der Logik, sondern weist gleich auf den fiktiven Charakter dieses Satzes hin, wie auch auf dessen außerlogischen Ursprung. Obwohl er dessen außerordentliche Bedeutung für die Metaphysik einsieht und hervorhebt und sogar die Eigentümlichkeit dieses Satzes als etwas Selbstverständliches nimmt, verwahrt er sich doch gegen dessen Prätentionen, er lehnt dessen Absolutsetzung ab. Nietzsche läßt keinen Platz für den Zweifel, daß er damit die ganze überlieferte Denkweise, die auf diesem Satz aufbaut, in Frage stellt. So erweist sich, daß die Identität die elementarste menschliche Erfahrung nicht widerspiegelt, daß ihr keine Urkraft eignet, daß sie nicht das Ursprüngliche ist, was sich dem Menschen offenbart. Dieser Satz bestimmt einfach nicht, wie sich der Mensch in der Welt einzig und allein orientieren kann. Es geht ihm die Entscheidung voran, daß man die Welt auf eine bestimmte Weise durch den Spiegel der Einheit ansieht. Die Einführung dieses Satzes vermittelt das praktische Bedürfnis, die Dinge möglichst stark zu vereinfachen, sein eigentlicher Träger ist der Wille zum „Gleichsetzen des Nichtgleichen". 58 In der Wirklichkeit gibt es keine festen und beständigen Dinge, es gibt nichts, was bloß eine abstrakt-formale Einheit wäre, was jede Verschiedenheit aus sich ausschließen würde. Und das bedeutet, daß die Logik die Wirklichkeit verfälscht, daß sie die Welt irrtümlich bezeichnet. In der Grundlage alles Logischen befindet sich ein wesentlich unlogischer Akt - die „Nachconstruktion ,des Dings' ", 5 ' so daß uns die Welt nur deshalb als logisch geordnet erscheint, weil wir sie zuvor selbst so gemacht haben. Nietzsche sieht richtig, daß das Bedürfnis nach „identischen Fällen" ursprünglicher ist als der Satz der Identität, daß der Wille zur Herstellung einer Ordnung im Chaos der sinnlichen Eindrücke die Voraussetzung unseres

5< 57 58 59

Ebd., 40 (33), S.377; 40 (37), S.379. Ebd., 42 (7), S. 433. W L 1: KGW III 2, S.374. Ν 1887/88: KGW VIII 2, 9 (97), S.54. Dabei legt Nietzsche wenig Wert auf den Unterschied zwischen „Ding" und „Ding an sich". Er sagt: „Das ,Ding' ist nur eine Fiktion, das ,Ding an sich' sogar eine widerspruchsvolle unerlaubte Fiktion" (N 1884/85: KGW VII 3, 38 (14), S. 342). Vgl. Ν 1885/87: KGW VIII 1, 2 (85), S. 102: „Die Eigenschaften eines Dings sind Wirkungen auf andere ,Dinge': denkt man andere ,Dinge' weg, so hat ein Ding keine Eigenschaften d.h. es giebt kein Ding ohne andere Dinge d.h. es giebt kein ,Ding an sich'". Ähnlich Ν 1887/88: KGW VIII 2, 10 (202), S.246: „Das ,Ding an sich' widersinnig. Wenn ich alle Relationen, alle .Eigenschaften' alle ,Thätigkeiten' eines Dinges wegdenke, so bleibt nicht das Ding übrig: weil Dingheit erst von uns hinzufingirt ist, aus logischen Bedürfnissen [ . . . ] "

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logischen Verhältnisses zur Welt ist. Hätten wir nicht die Neigung, überall das Identische zu sehen, so könnte uns nichts als solches erscheinen. Es gibt keine „Dinge" ohne unsere Bereitwilligkeit, die „unendliche Empirie"60 zu bändigen, die Vielheit unter die Einheit zu subsumieren. Der Mensch hat die Welt schon „logisirt"61, längst bevor er zum Bewußtsein der Logik gekommen ist, längst bevor er logisch zu denken begonnen hat; er hat sich zur Welt als zu etwas gestellt, das vernünftig sein kann und soll, er hat in sie die Postulate der Vernunft hineingetragen. Daher liegt nichts Sonderbares darin, daß die Welt sich ihm nachträglich als die Verkörperung der logischen Grundsätze zeigt. „Bevor ,gedacht' wird, muß schon ,gedichtet' worden sein",62 sagt Nietzsche mit der ihm eigentümlichen Prägnanz. Tatsächlich kann nichts begrifflich bestimmt und gefestigt werden, was nicht zuvor durch ein Vorverständnis erleuchtet worden ist, jedem konkreten Erkenntnisvorgang geht eine Antizipation des möglichen Ergebnisses voran. Es gibt kein logisches Denken ohne den Glauben, daß die Welt überhaupt als eine „Welt der identischen Fälle"" gedacht werden kann. Nur meint Nietzsche, daß dieses „Dichten", d.h. die vorgängige Herstellung der „Dinge", das Denken von seiner eigentlichen Aufgabe ablenke: anstatt sich mit dem, was ist, zu befassen, und das ist das „Chaos", 64 d.h. das kontinuierliche Werden, bleibt das Denken im „Schein"65 befangen, d.h. in der „verdinglichten"66 Welt. An Stelle von „Erkenntnis"67 wird die „Herrschaft"68 seine hauptsächliche Besorgnis. Obwohl er seine Kritik der Logik nirgends systematisch entfaltet, versäumt Nietzsche es nicht zu betonen, daß die Kraft, die uns treibt, überall identische Fälle zu suchen und zu finden, der „Wille zur Macht" 6 ' sei. Dabei 60 61 62 63 64

65 66

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Ν 1 8 8 7 / 8 8 : K G W VIII 2, 9 (97), S. 54. Ebd., 9 (144), S . 8 2 . Ebd., 10 (159), S . 2 1 6 . Ebd., 9 (144), S. 82. F W 109: K G W V 2, S. 146: „Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, F o r m , Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen". Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W VIII 3, 14 (93), S . 6 3 . Den Terminus „Verdinglichung" gebraucht Nietzsche häufig, fast immer, wenn er die Verwandlung von ursprünglichen prozeßhaften Begebenheiten in relativ feste und dauerhafte substantielle Eigenschaften bezeichnen will. Vgl. z . B . J G B 2 1 : K G W VI 2, S . 2 9 ; Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 1 (62), S . 2 2 ; 2 (78), S . 9 6 . Freilich aufgefaßt im Sinne von „Auslegung", nicht „Erklärung". Vgl. Ν 1 8 8 5 / 8 6 : K G W V I I I 1 , 2 (86), S. 102. Ebd., 7 ( 4 1 ) , S. 316. Zu einer ausführlichen Erörterung der vorzüglich erkenntnistheoretischen Bedeutung und Funktion des Nietzscheschen Prinzips vom Willen zur Macht, siehe Ruediger Hermann Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge (Berlin/New Y o r k : W . de Gruyter, 1977). Beachtenswert ist die Abhandlung von Wolfgang Müller-Lauter, „Nietzsches Lehre vom Willen zur M a c h t " , Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1 - 6 0 .

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faßt er natürlich diesen Willen weder als ungebundenen Drang nach Herrschaft, noch als bloßes Begehren von etwas, sondern als schöpferische Tätigkeit, welche die Dinge so macht, wie sie sind.70 In diesem Sinne sind die Worte zu verstehen: „Der Wille zur Gleichheit ist der Wille zur Macht - der Glaube, daß etwas so und so sei (das Wesen des Urtheils), ist die Folge eines Willens, es soll so viel als möglich gleich sein."71 Nietzsches Ansicht zufolge ist die ganze logische Konstruktion der Welt die Projektion einer tiefgehenden Einwirkung, das Produkt eines unwiderstehlichen schöpferischen Impulses. Der Wille zur Macht ist eine selbständige, auf sich selbst gestellte Kraft, welche die Welt aus einer bestimmten Perspektive interpretiert. Diese Kraft ist nicht einheitlich, sie tritt vielmehr als eine Mehrheit von einander entgegengesetzten Willen zur Macht auf. Wenn es diesen Lebensimpuls nicht gäbe, der die Welt mittels der eigenen Selbstinterpretation erschafft, würden wir das Chaos der sinnlichen Eindrücke nie beherrschen können. Wir würden uns in der schwankenden und unbeständigen Realität verlieren, in einer Welt, in der sich alles unaufhörlich bewegt und wandelt. Nietzsche sagt: „Eine ordnende, vereinfachende, fälschende, künstlich-trennende Macht ist in uns. ,Wahrheit' ist Wille, Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen: - die Phänomene aufreihen auf bestimmte Kategorien." 72 Inwiefern Nietzsche diesen Hinweis auf den Willen zur Macht als den eigentlichen und einzigen Urheber des Glaubens an die Identität gebracht hat, um die Logik völlig zu entwerten oder inwieweit er damit nur deren Schranken festlegen wollte, das werden wir noch zu sehen haben. Das Bedürfnis, identische Fälle zu schaffen, ist dermaßen stark, daß es nicht nur das Denken zwingt, obwohl es erst in den Denkformen vollendet und vollkommen ausgedrückt wird. Nietzsche findet, daß dessen Einfluß auch in der Aktivität der Sinne kräftig empfunden wird, insofern diese Aktivität von der Vernunft unterstützt wird.73 Die Funktion der Gleichsetzung des Nichtgleichen, die der Logik vorangeht, muß sogar zuerst das ihr Eigene auf einer tieferen Ebene tun: die Empfindungen müssen irgendwie gleichgesetzt werden, um überhaupt Begriffe bilden zu können. 74 Nietzsche läßt sich zwar nirgends auf eine eingehende Betrachtung dieser zwangsläufigen Aktivität der Sinne ein, obwohl er es nie versäumt, auf deren außerordentliche Wichtigkeit hinzuweisen. So erweist sich, daß unsere Sinne, dank der erwähnten Funktion,

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71 72 73 74

Vgl. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 11 (114), S.296: „Wollen' ist nicht .begehren', streben, verlangen: davon hebt es sich ab durch den Affekt des Commando's". Ν 1885/86: K G W VIII 1, 2 (90), S. 104. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (89), S.46. Ebd., 9 (144), S. 82. Ν 1884/85: K G W VII 3, 40 (15), S.367. Ähnlich Ν 1885/87: K G W VIII 1, 2 (95), S. 105-106.

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derart präzis geworden sind, daß uns die „gleiche Erscheinungswelt"75 unvermeidlich immer wiederkehrt. Im Blick darauf, daß das Bedürfnis, das Nichtidentische auf das Identische zurückzuführen, schon in der Sphäre der Sinne wirksam geworden ist, spricht Nietzsche von der „zwiefachen Fälschung",n er betont, daß für die vereinfachte Entartung der Wirklichkeit die Sinne und der „Geist" gleichermaßen verantwortlich seien. Mag es jedoch noch so richtig sein, daß die Sinne schon dasselbe tun wie die Vernunft, daß die Vereinfachung und Schematisierung schon mit den Empfindungen beginnt, daß schon das „Phänomen"" selbst eine eigenartige Konstruktion der Wahrnehmung ist, dies ist alles doch nur eine Vorbereitung für die Hauptsache. Der Glaube an die Identität verführt viel mehr das Urteilen als das Wahrnehmen. Oder genauer: die „gleichmachende und ordnende Kraft"78 triumphiert erst in den Denkformen. Nietzsche hebt mit Recht hervor, daß die Identität in der Grundlage jedes Urteils steckt, daß das Urteilen eigentlich nichts anderes ist, als die Bestimmung des Subjekts durch das Prädikat, d. h. die Feststellung der Identität nichtidentischer Beziehungsglieder. Charakteristisch ist folgende Aufzeichnung: „Der Mensch ist vor Allem ein urtheilendes Tier; im Urtheile aber liegt unser ältester und beständigster Glaube versteckt [ . . . der] Glaube an den Subjekts- und PrädikatsBegriff .. . " n Und da das Urteil ein ursprünglicher Denkakt ist, daß das Bejahen und Verneinen, bzw. das Für-wahr-halten und Nicht-für-wahrhalten (was das Wesen des Urteils ist)80 die Grundform bildet, in der sich die Funktion des Denkens äußert, so folgt daraus, daß es kein Denken ohne den Glauben an die Identität gibt. Wie könnte man überhaupt sagen, daß etwas so und nicht anders sei, wenn man nicht an das „Ding" glauben würde, wenn man nicht voraussetzen würde, daß jedes Seiende mit sich selbst identisch sei? Ebenso richtig sieht Nietzsche, daß der Satz der Identität alles andere eher als eine harmlose Abstraktion ist. Nicht nur, daß er überhaupt keine Erkenntnis der Wirklichkeit enthält, er ist sogar als Maßstab oder Organ der Erkenntnis unangemessen. Es hilft auch nichts, diesen Satz sorgfältig zu handhaben. Immer besteht die Gefahr, daß man dessen Sinn metaphysisch hypostasiert, daß man einer substantiellen Auslegung und Deutung des Seins verfällt. Leicht entsteht der Eindruck, die Welt wäre ein diskretes und statisches Ganzes, sie wäre aus lauter festen, beständigen, unveränderlichen Dingen zusammengesetzt. Der Satz der Identität ist eine ganz unrealistische Vorstellung: in der 75 76 77 78 79 80

Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 2, 9 (144), S. 82. Ebd., 7 ( 5 4 ) , S. 320. Ν 1884: K G W VII 2, 2 6 (448), S . 2 6 7 . Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 2 (92), S. 104. Ebd., 4 (8), S. 184. Ebd., 2 (84), S. 101.

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Wirklichkeit gibt es nichts, was dieser logischen Forderung entsprechen würde. Die Identität ist dem Seienden als solchem nicht eigen. Daher ist jede Projektion dieser Forderung auf die reale Welt äußerst fragwürdig. Kein realer Gegenstand ist mit sich selbst identisch, weder in seinen simultanen Aspekten, geschweige denn in allen sukzessiven Phasen seines Bestehens. Auch sind zwei reale Gegenstände niemals miteinander identisch, da sie sich wenigstens zeitlich oder örtlich unterscheiden. Darüber, daß kein Ding aus einem Stück besteht, sondern eine komplexe Vielheit bildet, sagt Nietzsche: „Alles was als ,Einheit* ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer kompliziert: wir haben immer nur einen Anschein von Einheit."" Noch deutlicher ist folgende Stelle: „Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, 2 aber nicht Eins ist."' Darüber, daß in der Wirklichkeit nur Stufen von Ähnlichkeit oder Gleichheit bestehen, aber keine Identität, sagt Nietzsche: „Jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, daß es eben nicht für das einmalige, ganz und gar individualisirte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, das heißt streng genommen niemals gleiche, also auf ungleiche Fälle passen muß." 83 Unter den zahlreichen Aufzeichnungen aus dem Nachlaß, in denen diese Frage berührt und wieder aufgenommen wird, gibt es keine, welche diese frühe Formulierung wesentlich ergänzt oder verbessert. 3. Wenn aber die Wirklichkeit immer andersartig ist, da sie sich in unaufhörlicher Bewegung und Umwandlung befindet, was ist es dann, das uns nötigt, überall identische Fälle zu suchen und zu finden? Woher kommt die Vorstellung der Selbigkeit und der Einheit? Wenn die Nötigung nicht in den Dingen liegt,84 wenn es sogar keine Dinge gibt,85 die uns zu irgend etwas nötigen könnten, so kann man sich wohl fragen, ob dies Bedürfnis überhaupt real ist. " Ebd., 1, 5 (56), S.209. 82 Ebd., 2 (87), S. 102. 83 W L 1: K G W III 2, S. 3 7 3 - 3 7 4 . 84 Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (91), S.47. 85 Vgl. Ν 1884: K G W VII 2, 25 (427), S. 121: „Die Synthese ,Ding' stammt von uns: alle Eigenschaften des Dinges von uns. ,Wirkung und Ursache' ist eine Verallgemeinerung unseres Gefühls und Unheils". Der Einwand, daß es im Objekt selbst irgend etwas Festes und Dauerhaftes geben müsse, damit das Subjekt es beherrschen könne (vgl. Theodor W . Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, Stuttgart: W. Kohlhammer, 1956, S. 28), trifft Nietzsche nicht, weil seine Auffassung des Erkenntnisprozesses, wie später noch zu zeigen ist, das traditionelle Schema der Subjekt-Objekt Relation überschreitet.

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Warum unterliegen wir der „logischen Scheinbarkeit", warum bilden wir all diese der Wirklichkeit unangemessenen „Begriffe, Gattungen, Formen, Zwecke, Gesetze?" 86 Wozu dient die Fiktion der „wahren Welt", der Welt des Seins, die wir der Realität der „scheinbaren Welt", der Welt des Werdens entgegensetzen? Im Hinblick darauf, daß die logischen Axiome der Wirklichkeit nicht entsprechen, daß sie sogar deren Erfassen stören und hemmen, ist es offenbar, daß hier keine Rede von irgendeinem Erkenntnisinteresse sein kann, daß es sich um kein abstrakt theoretisches Erfordernis handelt. Mit höchstmöglicher Entschlossenheit betont Nietzsche, daß die subjektive Nötigung zur Logik ausschließlich praktisch motiviert ist: die Vernunft ist ein „Hilfsorgan" des Menschengeschlechts, der Mensch hat seine Vernunft „erfunden", um sich in der Welt „einzurichten" und darin zu „wohnen". 87 Daß die Logik unentbehrlich ist als „Existenz-Bedingung", 88 ist eine von den berühmtesten und verrufensten Thesen der Nietzscheschen Kritik der Vernunft. Oft hört schon mit der Erwähnung dieser These jede weitere Beschäftigung damit auf. Gewöhnlich glaubt man, daß Nietzsche den ganzen Nachdruck auf die nützlichen Folgen der vernünftigen Welt-Orientierung lege, und damit die Logik fast vollkommen dem Leben untergeordnet habe. Deshalb sagt man oft von seiner Erklärung vom Ursprung der Logik (welche allerdings den Anspruch erhebt, eine Erklärung vom Ursprung des gesamten menschlichen Erkenntnisvermögens zu sein), daß sie vornehmlich biologistisch und pragmatistisch orientiert sei.89 Schwerlich könnte man leugnen, daß dies in hohem Grade gerechtfertigt ist (wie schon übrigens an einer früheren Stelle unserer Darlegung bemerkt wurde). Nietzsche hat tatsächlich nicht sehr an die Hellsichtigkeit der Vernunft geglaubt, die sich vom Sein trennt und sich ihm entgegensetzt, so daß er gar nicht daran dachte, ein Streben nach Erkenntnis könnte ihren Aufstieg und die Festigung ihrer Herrschaft in der Metaphysik veranlassen. Sein ganzes, denkerisches Leben hindurch hat Nietzsche nie aufgehört, auf den schweren Irrtum der „reinen" Vernunft über sich selbst hinzuweisen, ihre Selbsteinbildung unbarmherzig zu verhöhnen. Nach Nietzsches Ansicht steht die Logik in keiner Beziehung zur Erkenntnis. Diese Beziehung hat sie nicht erst nachträglich verloren, sie war 86 87 88 89

Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (144), S. 81-82. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (153), S.128. Ν 1884: K G W VII 2, 26 (127), S. 181. So z . B . Hans Barth, Wahrheit und Ideologie (Erlenbach/Zürich: E.Rentsch, 2 1961), S.221. Daß Nietzsche den Kantischen Phänomenalismus als Pragmatismus radikalisiere, indem er statt der transzendentalen Deduktion eine „genealogische Deduktion" vornehme, d. h. eine Untersuchung über die Nützlichkeit der Verstandeskategorien für das Leben, behauptet Jean Granier, Le probleme de la verite dans la philosophic de Nietzsche (Paris: Editions du Seuil, 2 1969), S. 470-471.

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ihr nie zu eigen gewesen. Ursprünglich war die Logik überhaupt nicht als Wahrheit gedacht.' 0 Sie ist entstanden, um die Erhaltung der Menschheit zu ermöglichen, um das Zurechtfinden des Menschen in der Welt zu erleichtern, um nützlich für das Leben zu sein. Und ihr Weiterbestehen hat sie nur dem •Umstand zu verdanken, daß die „Erfahrung" ihre „Nützlichkeit" und nicht ihre „Wahrheit" unwiderlegbar bewiesen hat." „Nicht ,erkennen', sondern schematisieren - dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserem praktischen Bedürfnis genug thut",' 2 das ist vom logischen Standpunkt aus allein wichtig. Nietzsche verwirft jeden Gedanken daran, daß die Logik auf irgendeine Weise zum „Verständnis"" der Welt beiträgt. Die Grundaufgabe der Logik ist, „die Welt handlich und berechenbar zu machen",' 4 und nicht die Wahrheit über sie zu offenbaren. „Der ganze Erkenntniß-Apparat ist ein Abstraktions- und Simplifikations-Apparat - nicht auf Erkenntniß gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge." 95 Insoweit man durch die Logik überhaupt etwas über die Welt erfährt, ist diese „Erkenntnis" ganz dürftig, da sie nur „das Oberflächlichste'""' davon berührt. In so hohem Maße war Nietzsche gegenüber dem Logischen als solchen mißtrauisch, daß er es sogar für unbedingt notwendig hielt, sich von der ,,logische[n] Manie"' 7 unserer philosophischen Vorgänger zu befreien. In diesem Sinne nannte er eine „tiefsinnige Wahnvorstellung" und einen „erhabene[n] metaphysischefn] Wahn" den unerschütterlichen Glauben des Sokrates, „daß das Denken das Sein nicht nur erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei",' 8 und er schwärmte von der Möglichkeit einer ,,neue[n] Denkweise"" jenseits der Logik, jenseits der logischen Kriterien von Wahrheit und Lüge. Die Logik ist fürs Leben unumgänglich, obwohl oder genauer, gerade weil sie die Wirklichkeit verfälscht. Ihre Fiktionen sind das größte Pfand ihres

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Ν 1888'89: K G W VIII 3, 18 (13), S.336. Vgl. Ν 1884/85: K G W VII 3, 35 (67), S.261: „[...] für alle Logik gilt: sie ist eine Art Rückgrat für Wirbelthiere, nichts an-sich-Wahres"; Ν 1884: K G W VII 2, 26 (216), S.204: „Schliesslich könnte das Logische möglich sein in Folge eines Grundirrthums, eines fehlerhaften Setzens (Schaffens, Erdichtens eines Absoluten)". " Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (38), S. 16. Vgl. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (122), S.94: „Die Nützlichkeit der Erhaltung, nicht irgend ein abstrakt theoretisches Bedürfniß, nicht betrogen zu werden, steht als Motiv hinter der Entwicklung der Erkenntnißorgane . . . sie entwickeln sich so, daß ihre Beobachtung genügt, uns zu erhalten". 92 Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (152), S. 125. 93 Ν 1885/87: K G W VIII 1, 5 (16), S.194. 94 Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (153), S. 128. 95 Ν 1884: K G W VII 2, 26 (61), S. 162. 96 Ν 1885/87: K G W VIII 1, 5 (16), S. 194. 97 Ν 1882-1883/84: K G W VII 1, 7 (229), S.321. 98 G T 15: K G W III 1, S. 95. 99 Ν 1884/85: K G W VII 3, 34 (255), S.227.

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Erfolgs, ihr höchster, wenn nicht auch ihr einziger Wert. Indem sie den Schein des Seienden erzeugt, indem sie die Welt als etwas Beharrliches vorstellt, indem sie das Bewegte im Ruhezustand schildert, vermindert die Logik die Furcht vor dem Zufälligen und Unerwarteten, sie beseitigt die Ungewißheit, gibt ein Gefühl der Sicherheit.100 In einer Welt, die sich unaufhörlich bewegt und verändert - und eine solche ist eigentlich die Welt, in der wir leben - ist nichts so nötig wie ein fester Anhaltspunkt. Der Mensch muß „eine Art Beständigkeit" 10 ' erfinden, er muß seine „Erhaltungs-Bedingungen" objektivieren, d.h. „als Prädikate des Seins [projiciren]",102 er muß „die verwirrende Vielheit auf ein zweckmäßiges und handliches Schema reduziren", 103 um überhaupt überleben zu können. „Wenn unser Intellekt nicht einige feste Formen hätte, so wäre nicht zu leben",104 sagt Nietzsche. Und im Blick darauf, daß diesen ,,feste[n] Formen" der Vernunft in der Wirklichkeit nichts entspricht, ist es offenkundig, daß die „Unwahrheit zu den Existenzbedingungen des Menschen gehört",105 daß „alles Leben auf dem Irrthum [beruht]",106 daß man „die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn"107 muß. Schwerlich kann diese Verbindung zwischen Falschem und Nützlichem überhaupt aufgelöst werden. „Ich bin sogar grundsätzlich des Glaubens", sagt Nietzsche, „daß die falschesten Annahmen uns gerade die unentbehrlichsten sind, daß ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktion, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selber-Gleichen der Mensch nicht leben kann, und daß ein Verneinen dieser Fiktion, ein praktisches Verzichtleisten auf sie, so viel wie eine Verneinung des Lebens bedeuten würde."108 Gewiß, hier handelt es sich um eine willentliche und nicht zufällig entstandene Täuschung, so instinktiv sie sonst auch vorbereitet sein mag. In diesem Sinne spricht Nietzsche von der „Absicht" der Vernunft, „sich auf eine nützliche Weise zu täuschen", 109 er betont, daß es die Aufgabe der Logik sei, „auf eine kluge Weise die Realität mißzuverstehen" Und dabei weist er entschieden auf die Gefahr hin, diese nützliche Selbsttäuschung der Vernunft, ihr kluges Mißverstehen als einen tatsächlichen denkerischen Durchbruch zur Welt 100

101 102 103 104 105 106 107 108 109 1,0

Insofern ist die Funktion der Logik im Grunde dieselbe wie die Funktion aller Kultur: „berechnen lernen, causal denken lernen, präveniren lernen, an Nothwendigkeit glauben lernen" ( N 1887/88: K G W VIII 2, 10 (21), S. 132). Ν 1884/85: K G W VII 3, 35 (35), S.248. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (38), S. 17. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (153), S. 128. Ν 1884/85: K G W VII 3, 34 (46), S. 155. Ν 1884: K G W VII 2, 27 (48), S.287. Ebd., 27 (38), S.285. Ν 1884/85: K G W VII 3, 35 (37), S.249. Ebd., S.249. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (153), S. 128. Ebd., S. 129.

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aufzufassen, sie mit der Erkenntnis dessen, was wirklich ist, zu verwechseln. Nietzsches Ansicht zufolge ist diese Verwechslung der größte Irrtum, der bis jetzt begangen wurde, und in diesen Fehler ist die Menschheit immer von neuem verfallen. Das muß aber endlich aufgehalten werden, man muß schon einmal einsehen, daß die Logik ein „Mittel zu leben", und keinesfalls ein „Maßstab des Lebens" ist."1 Insofern die Tendenz zu einer vereinfachten Fälschung der Wirklichkeit dem gesamten menschlichen Erkennen eigentümlich ist, ist eine äußerste Zurückhaltung gegenüber allen seinen bisherigen Resultaten nötig. Das, was dem biologischen Bedürfnis des Menschen, sich am Leben zu erhalten, dient unci was letzten Endes seine „Überwältigung der Natur""2 sichern soll, leistet überhaupt keinen Beitrag zum wirklichen Begreifen der Welt. Alle logischontologischen Bestimmungen sind Fiktion, Irrtum, Schein. Darin gibt es keine Wahrheit und hat sie auch nicht gegeben, obwohl man an sie solange geglaubt hat. Deshalb nennt Nietzsche die bisherige Gebrauchsweise des Wortes „Wahrheit" einen ,,verbrecherische[n] Gebrauch"," 3 er meint, „daß die Menschheit seit Jahrtausenden nur Irrthümer als Wahrheiten geheiligt hat"," 4 er betont, „daß Nichts von dem wahr ist, was ehemals als wahr galt"," 5 „daß es gar keine Wahrheit giebt",'"' daß man „bisher die Lüge Wahrheit [hieß]"." 7 Zwar war der „Glaube an die Wahrheit" kein zufälliger Fehler, der hätte vermieden werden können: „Wahrheit ist die Art von Irrthum", sagt Nietzsche, „ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte"." 8 Das bedeutet, daß die Wahrheit ein notwendiger, unumgänglicher - an einer Stelle wird sogar gesagt, daß sie ein „unwiderlegbarer]""' - Irrtum des Menschen sei.

111 112

Ebd., 14 (158), S. 134. Vgl. F W 123: K G W V 2, S. 1 5 7 - 1 5 8 . Ν 1884: K G W V I I 2 , 2 6 (229), S . 2 0 7 . Ähnlich K G W V I I 2 , 2 6 (170), S. 192. Vgl. K G W VII 2, 26 (227), S. 2 0 7 : „,Wissenschaft' (wie man sie heute übt) ist der Versuch, für alle Erscheinungen eine gemeinsame Zeichensprache zu schaffen, zum Zwecke der leichteren Berechenbarkeit und folglich Beherrschbarkeit der Natur. Diese Zeichensprache, welche alle beobachteten .Gesetze'

zusammenbringt, erklärt aber nichts - es ist nur eine Art kürzester (abgekürztester) Beschreibung des Geschehens". 113 114 115 1,6

Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W VIII 3, 15 (43), S . 2 3 1 . Ebd., 15 (52), S . 2 3 7 . Ebd., 15 (77), S . 2 4 8 . Ebd., 16 (30), S. 287.

" 7 Ebd., 2 5 (6) 1, S. 454. Deswegen betrachtet Nietzsche sein „Experiment mit der Wahrheit" als ein „Wagnis", als eine verwegene Herausforderung der gesamten Tradition ( J G B 1: K G W VI 2, S. 9), für ihn ist dies „lehrreichstes 89: K G W VIII 3, 25 (7), S . 4 5 5 ) . 118

Experiment, eine Vivisektion am Leben selbst" ( N 1 8 8 8 /

Ν 1 8 8 4 / 8 5 : K G W VII 3, 34 (253), S . 2 2 6 . F W 2 6 5 : K G W V 2, S. 196. Daß Nietzsches Satz, die Wahrheit sei ein Irrtum, nicht leicht zu widerlegen ist, wie es sich der „leere Scharfsinn" einbildet, hat Martin Heidegger, Nietzsche I, S. 5 0 1 - 5 0 3 schön gezeigt.

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Diese Entlarvung der Wahrheit als Irrtum steht ganz im Einklang mit der Nietzscheschen Distanzierung von der metaphysischen Auslegung des Seins. Diese beiden Schritte ergänzen sich gegenseitig, sie bedingen einander. Es wäre vielleicht richtiger zu sagen, daß zwischen ihnen kein Unterschied besteht. „Wahrheit" ist nur ein anderes Wort für „Sein": beide drücken dasselbe aus dasjenige, was sich im Denken als dauerhaft, fest, beständig zeigt. Obwohl er die metaphysische These des Parmenides, daß das wahrhafte und eigentliche Sein jenes sei, das durch die Vernunft begriffen werde, entschieden verwirft, bewahrt Nietzsche die Grundvoraussetzung der Parmenideischen Auffassung, daß Denken und Sein notwendig zueinander gehören, daß Denken immer Denken des Seins ist. Er fand aber, daß weder Denken noch Sein unabhängig voneinander genommen irgendeine Substantialität hätten, daß „abstraktes" Denken, zusammen mit dem „absoluten" Sein, das es denkt, jeglicher Wahrheit entbehre.120 Wenn es in der Wirklichkeit nichts Beständiges gibt, da sich alles unaufhörlich bewegt und verändert, dann muß das Denken, das vermeintlich irgendeine Beständigkeit darin entdeckt, fiktiv sein. Wenn die chaotische Realität des Werdens unsere einzige Realität ist, dann muß dasjenige, das vom Denken als etwas immer mit sich selbst Identisches vorgestellt wird, ein bloßer Schein sein. Deshalb hegte Nietzsche ebenso großes Mißtrauen sowohl gegenüber der Wahrheit als auch gegenüber dem Sein. Von dem ersten Begriff wird gesagt, er sei „widersinnig" ,'2' und was den anderen betrifft, so wird seine „Leugnung" gefordert.122 Nietzsche gab zu, daß die Wahrheit in der bisherigen Geschichte höchstmögliches Ansehen genossen hat, was für ihn ein sicheres Zeichen war, daß sie dem Menschen zu praktischen Zwecken gut gedient hat, er meinte jedoch, daß ihre Zeit endgültig vorbei sei.123 Uber Nietzsches Auffassung der Wahrheit ist das letzte Wort noch nicht gesagt. Vielleicht wird es auch nie gesagt werden. Diese Auffassung ist in so hohem Maße befremdend und verwunderlich, daß sie uns sicher noch lange beunruhigen und erschrecken wird. Hier müssen wir uns nur auf einige unumgängliche Bemerkungen beschränken, um das Gleichgewicht der begonnenen Untersuchung zu wahren.124 Zweifellos hat die traditionelle Auffassung 120

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Daß Nietzsche die Parmenideische These nicht bloß umgekehrt habe, sondern ihr vielmehr „in einer wesentlichen Hinsicht" gefolgt sei, darauf deutet hin Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Leben und Denken. Interpretationen zur Philosophie Nietzsches (Frankfurt/M.: V. Klostermann, 1968), S. 109-110. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (122), S.95. Ν 1884: K G W VII 2, 25 (513), S. 143. ' F W 1: K G W V 2, S. 46. Daß alles „seine Zeit" hat, davon zeugt auch Zarathustra mit seinem Untergang. Vgl. Za III, Der Genesende 2: K G W VI 1, S. 273. Die bisher ausführlichste Analyse der verschiedenen Aspekte von Nietzsches Auffassung der Wahrheit, die in einem ausgesprochen kritischen Verhältnis zur Heideggerschen Nietzsche-

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der Wahrheit als Richtigkeit des Urteils, d . h . als Übereinstimmung von Denken und Ding, der Nietzscheschen Auffassung der Wahrheit als Irrtum als Ausgangspunkt gedient. Die Behauptung, daß die bisherige Wahrheit keine Wahrheit beinhalte, d. h. daß die metaphysische Welt falsch sei, ist eigentlich nur unter der Voraussetzung sinnvoll, daß die Nichtübereinstimmung dieser „Wahrheit" mit dem wirklichen Tatbestand, d. h. mit dem realen Geschehen, von ausschlaggebender Bedeutung für die Feststellung, ihrer Wesenlosigkeit ist. Allein dies bedeutet keineswegs, daß Nietzsche in seinen erkenntnistheoretischen Betrachtungen von der traditionellen Auffassung völlig abhängig wäre. N o c h weniger bedeutet dies, daß er die eigene Auffassung schon durch diese stillschweigende Anlehnung gefährdet habe. Tatsächlich hatte sich Nietzsche auch in diesem Problembereich seiner Philosophie von Anfang an auf ein echtes Denkabenteuer eingelassen. Keine andere Wahl war ihm geblieben, da er sich schon „am anderen Ende" der Tradition befand. Wenn es keine identische Welt außer uns gibt, die an sich und für sich bestehen würde - und das war Nietzsches früheste und tiefste Uberzeugung - wie kann man überhaupt diese Welt (richtig oder falsch) erkennen? Deshalb hat Nietzsche die traditionelle Auffassung nicht schlechthin verkehrt, so daß die Wahrheit im bisherigen Sinne zur Lüge würde. Vielmehr lenkte er seinen Schritt in eine wesentlich andersartige Dimension des Wahrheitsverständnisses. Die wichtigste Neuerung, die Nietzsche mit seiner Auffassung gebracht hat, besteht in der Aufhebung der gnoseologischen Subjekt-Objekt-Relation. Zumindest ist die Forderung, diese Relation aufzuheben, klar hervorgehoben, wenn nicht auch in seiner radikalen Kritik der idealistischen Vernunftphilosophie folgerichtig durchgeführt.' 25 Unter Erkenntnis versteht Nietzsche nicht mehr das Begreifen eines von vornherein gegebenen Gegenstands, der unabhängig von uns existierte, der sich unserem Eingriff entgegensetzte, und in einem relativ unveränderten Zustand verharrte. Für ihn ist das Erkennen überhaupt kein Prozeß mehr, der zwischen Subjekt und O b j e k t stattfindet. N o c h weniger ist es ein bloß geistiger Prozeß, der nur in einem bildlichen Vorstellen von Etwas besteht. G r o b gesagt: Nietzsche erweitert den Begriff der Erkenntnis in zwei Richtungen. Einerseits ist die Erkenntnis, als Selbstinterpretation, allem Seienden eigen, sowohl dem Organischen als auch dem

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Interpretation steht, hat Jean Granier in dem schon früher erwähnten Buch geliefert. Vgl. hierzu auch Karl Ulmer, „Nietzsches Idee der Wahrheit und die Wahrheit der Philosophie", Philosophisches Jahrbuch 70 (1962), S. 295-310. Vgl. Ν 1887/88: KGW VIII 2, 9 (91), S. 47-48: „Glauben wir nicht mehr an das wirkende Subjekt, so fällt auch der Glaube an wirkende Dinge, an Wechselwirkung. [ . . . ] Geben wir das wirkende Subjekt auf, so auch das Objekt, auf das gewirkt wird. Die Dauer, die Gleichheit mit sich selbst, das Sein inhärirt weder dem, was Subjekt, noch dem, was Objekt genannt wird: es sind Complexe des Geschehens, in Hinsicht auf andere Complexe scheinbar dauerhaft."

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Unorganischen. Andererseits ist die Erkenntnis das Werk nicht eines einzigen spezialisierten Organs, sondern des gesamten Leibes.126 Weder gibt es ein Subjekt, das vermeintlich erkennt, noch gibt es ein Objekt, das vermeintlich erkannt wird. Es besteht nur eine perspektivische Interpretation als schöpferischer Akt des Willens zur Macht. „Der interpretative Charakter alles Geschehens. Es giebt kein Ereigniß an sich. Was geschieht, ist eine Gruppe von Erscheinungen ausgelesen und zusammengefaßt von einem interpretirenden Wesen."127 Im Rahmen der Nietzscheschen Auffassung ist der Wille zur Macht letzten Endes ein unendlicher Trieb zur Interpretation. Die Interpretation ist eigentlich ein Mittel, durch das der Wille zur Macht die Welt errichtet, denn so strukturiert, d. h. organisiert, ordnet dieser Wille die chaotische Umgebung. Dabei denkt Nietzsche natürlich nicht, daß der Wille zur Macht ein Subjekt sei, zu dem die Interpretation als Prädikat hinzuträte, sondern daß die Interpretation die Seinsweise des Willens zur Macht ist. In ausdrücklichem Gegensatz zur traditionellen Auffassung, welche die Wahrheit als eine Eigenschaft oder ein Strukturmoment des Urteils nimmt, stellt Nietzsche fest, daß die Wahrheit einen vornehmlich existentiellen Sinn hat, daß Wahrheit nur ein anderes Wort für Wille zur Macht ist. Dies ist seine radikale These, von der viele noch immer glauben, daß sie jede Erkenntnis völlig entwerte und sinnlos mache, da sie selbst die Möglichkeit einer rein theoretischen Einstellung zur Welt in Frage stellt. Darüber, daß die Wahrheit am unmittelbarsten mit dem Willen zur Macht verbunden ist, daß sie sogar Form und Weise der Äußerung und Betätigung dieses Willens darstellt, sagt Nietzsche: „Die Wahrheit ist somit nicht etwas, was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre - , sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozeß abgiebt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat [.. .]".128 Noch prägnanter ist die folgende Formulierung: „Das Kriterium der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls."129 Offenkundig wollte Nietzsche überhaupt nichts mehr von einer moralistisch aufgefaßten Wahrheit hören, von einer auf der WahrVon dieser zweifachen Erweiterung des überlieferten Erkenntnis-Begriffs Nietzsches legen einige charakteristische Stellen ein lebendiges Zeugnis ab. Vgl. z.B. Ν 1884/85: KGW VII 3, 41 (11), S. 421-422: .„Denken' im primitiven Zustande (vor-organisch) ist Gestalten-Durchsetzen, wie beim Crystalle". Vgl. auch Ν 1884: KGW VII 2, 27 (19), S.279-280: „Hier ist die Voraussetzung gemacht, daß der ganze Organismus denkt, daß alle organischen Gebilde Theil haben am Denken Fühlen Wollen - folglich daß das Gehirn nur ein enormer CentralisationsApparat ist". 127 Ν 1885/87: KGW VIII 1, 1 (115), S.34. 12» Ν 1887/88: KGW VIII 2, 9 (91), S.49. 129 Das Manuskript dieses Aphorismus (Nr. 534 in der zweiten Auflage des „Willens zur Macht"), das als verloren galt und deshalb nicht in die Kritische Gesamtaufgabe aufgenommen wurde, ist inzwischen von Mazzino Montinari gefunden worden und wird im Apparat zur VIII. Abteilung der KGW veröffentlicht. 126

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haftigkeit, d. h. auf dem Glauben an den Einklang des Denkens mit sich selbst und einem von ihm verschiedenen Gegenstand begründeten Wahrheit. Aus seiner nihilistischen Perspektive hat es überhaupt keinen Sinn mehr zu fragen, ob das Denken mit Recht Anspruch auf Geltung erhebe, d.h. ob seine Resultate überprüfbar und allgemein akzeptabel seien. Die Wahrheit ist ganz einfach dasjenige, worin der Wille zur Macht sein größtes Interesse findet, was seinen Aufschwung am meisten fördert, worin seine Lebenserfahrung sich am stärksten bestätigt. Desto mehr verwundert die Behauptung Nietzsches, daß „die Logik nicht aus dem Willen zur Wahrheit [stammt]".130 Es ist schwer zu verstehen, wie Nietzsche überhaupt auf solch einen Gedanken gekommen ist. Denn das stimmt mit seiner wesentlichen Einsicht, daß „die Erkenntnis als Werkzeug der Macht [arbeitet]",131 bzw. daß „der ,Wille zur Wahrheit' [ . . . ] wesentlich Kunst der Interpretation" sei,132 überhaupt nicht überein. Woher könnte denn die Logik stammen, wenn nicht aus dem Willen zur Wahrheit? Was ist die Logik anderes als ein Interpretationsschema, d.h. eine besondere Form der Äußerung oder Behauptung des Willens zur Macht? Es ist kein Wunder, daß sich der Wille zur Macht des Willens zur Wahrheit bedient, um den wirklichen Tatbestand zu verbergen, um das Bedürfnis des Menschen nach einem festen Anhaltspunkt inmitten des unaufhörlichen Flusses des Geschehens zu befriedigen. Denn der Trieb zum Selbstbetrug ist im Leben tief verwurzelt, er ist eine wesentliche Bedingung des gesamten Lebens. Daher ist die bisherige Wahrheit nicht schlechthin Lüge, die man verwerfen könnte, sobald man ihren Ursprung und ihre Funktion durchschaut, sondern ein perspektivischer Schein, der notwendig zur Realität gehört.133 Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei gesagt, daß auch das technischpraktische Pathos der Logik Nietzsche nicht entsprach, nicht nur deren theoretischer Optimismus. Vielleicht erschien ihm ihre lebensfördernde Funk-

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Ν 1884/85: KGW VII 3, 40 (13), S.366. Zu dieser Stelle vgl. den Kommentar bei Heidegger, Nietzsche II, S. 185. Ν 1888/89: KGW VIII 3, 14 (122), S.94. Ν 1887/88: KGW VIII 2, 9 (60), S.30. Vgl. Ν 1888/89: KGW VIII 3 , 1 4 (93), S. 63: „Die ,Scheinbarkeit' gehört selbst zur Realität: sie ist eine Form ihres Seins d. h. in einer Welt, wo es kein Sein giebt, muß durch den Schein erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle geschaffen werden [ . . . ] " Insofern der perspektivische Schein unabwendbar bleibt, auch wenn man ihn durchschaut, ist die Parallele. zum transzendentalen Schein auffallend. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., S. 236 (B 353): „Der transcendentale Schein dagegen hört gleichwohl nicht auf, ob man ihn schon aufgedeckt und seine Nichtigkeit durch die transcendentale Kritik deutlich eingesehen hat [ . . . ] Die Ursache hiervon ist diese: dass in unserer Vernunft (subjektiv als ein menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet) Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen objectiver Grundsätze haben [ . . . ] Eine Illusion, die gar nicht zu vermeiden ist [ . . . ] "

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tion noch fragwürdiger als ihr vermeintliches Entdecken der Wahrheit. Nietzsche war kein verblendeter Pragmatiker (wie ihn manche gern darstellen möchten),134 da er nicht viel von der „Nützlichkeit" der Logik hielt. Obwohl er ihren ganzen Wert darin erblickte, daß sie dem Leben nütze, bezweifelte Nietzsche, daß der Mensch tatsächlich wisse, was das Leben fördere, was wahrhaft nützlich für das Leben sei. Vielleicht hat niemand, weder vor ihm noch nach ihm, so entschieden den philosophischen Glauben an die Nützlichkeit der Erkenntnis, an die stabilisierende Funktion der Wahrheit, an die Notwendigkeit und Möglichkeit der Wissenschaftspflege zum Wohl des Menschengeschlechts bestritten. Keiner hat so rücksichtslos auf die Kurzsichtigkeit und Vergeblichkeit aller Versuche hingewiesen, die „Aneignung" der Natur oder deren „Überwältigung"" 5 als den letzten oder höchsten „Zweck des Daseins""6 aufzufassen. Lange bevor es irgend jemand gewagt hatte, auch nur ein wenig die Richtigkeit und Rechtfertigung der ganzen technisch-praktischen Einstellung zur Welt zu bezweifeln, hat Nietzsche deutlich gesehen, daß unser angebliches „Erkennen" dessen, was „nützlich", was „im Interesse der Menschen-Herde, der Gattung" ist, eine bloße „Einbildung" sei, daß es „vielleicht gerade jene verhängnisvollste Dummheit" sei, „an der wir einst zu Grunde gehn" werden.137 In diesem Rahmen, oder richtiger, im Hinblick auf diese Grundeinsicht, ist Nietzsches bösartige Behauptung, daß die Wahrheit „häßlich"138 sei und „daß es nicht möglich ist, mit der Wahrheit zu leben",139 zu verstehen. Weit vorausblickend behauptete Nietzsche, daß der „Glaube an die Wahrheit" die Menschheit gefährlich auf Irrwege verführe, denn durch ein auf Logik gegründetes Erkennen würde allein das bloße Leben erhalten, allein die täglichen Bedürfnisse befriedigt, und die „tiefsten Instinkte des Lebens" würden „verketzert und in Frage gestellt";140 dadurch würde sogar die Entwicklung des unerschöpflichen Reichtums des Lebens selbst verhindert.141

Zu dieser Auffassung neigen sogar auch diejenigen, die versuchen, Nietzsche in Verbindung mit Hegel und Marx zu bringen. Vgl. z . B . Alfred Schmidt, „Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie", in: Max Horkheimer (Hrsg.), Zeugnisse. Festschrift für Theodor W. Adorno (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1963), S. 131. Derselbe Autor bestätigt diese Stellungnahme auch in einer späteren Arbeit: „Praxis", Handbuch philosophischer Grundhegriffe 4 (München: Kösel, 1973), S. 1125. Besonnenheit in dieser Hinsicht, im Blick auf die ontologischen Implikationen des Willens zur Macht, fordert Ruediger Hermann Grimm, Nietzsches Theory of Knowledge, S. 148. 135 Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W VIII 3, 14 (142), S. 118. 136 F W 1: K G W V 2 , S . 4 3 . 137 F W 3 5 4 : K G W V 2, S . 2 7 5 . 138 Ν 1 8 8 7 / 8 8 : K G W VIII 2, 11 (108), S . 2 9 3 . 139 Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W VIII 3, 16 (40) 7, S . 2 9 6 . 140 Ebd., 15 (43), S . 2 3 1 . , 4 ' Ν 1 8 8 4 / 8 5 : K G W VII 3, 35 (37), S . 2 4 9 . In diesem Zusammenhang ist auch die Behauptung Nietzsches zu verstehen, daß die Wahrheit der „böse Blick für das Wirkliche" sei ( N 1 8 8 7 / 8 8 : 134

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Nietzsche geht in seiner Kritik der logischen Fiktionen so weit, daß er manchmal dasjenige aus den Augen verliert, was er eigentlich mit dieser Kritik erreichen wollte. Anscheinend vergißt er das spezifische Ziel seines Unterfangens, da er gelegentlich einen Teil mit dem Ganzen verwechselt. Nietzsche behauptet, daß nichts wirklich erkannt werden könne, und nicht nur, daß die Logik allein nicht genüge, sich der Wahrheit zu bemächtigen. Was noch schlimmer ist, er reduziert die gesamte Erkenntnis auf den technisch-praktischen Umgang mit der Welt, er erklärt die Grenzen des logischen Denkens für die Grenzen der Erkenntnis überhaupt. So lesen wir z . B . an einer Stelle: „Gesetzt alles ist Werden, so ist Erkenntniß nur möglich auf Grund des Glaubens an Sein,"1" Ähnlich an einer anderen Stelle: „Erkenntniß an sich ist im Werden unmöglich; wie ist also Erkenntniß möglich? Als Irrtum über sich selbst, als Wille zur Macht, als Wille zur Täuschung."143 Eine dritte Stelle: „Der Charakter der werdenden Welt als unformulirbar, als ,falsch', als ,sichwidersprechend'. Erkenntniß und Werden schließt sich aus. Folglich muß ,Erkenntniß' etwas anderes sein: es muß ein Wille zum Erkennbarmachen vorangehen, eine Art Werden muß die Täuschung des Seienden schaffen."144 Dazu sei noch eine vierte Stelle hinzugefügt, an der Nietzsche über den Unterschied zwischen „Theorie und Praxis" als von einer „verhängnißvollen Unterscheidung" spricht: „Wie als ob es einen eigenen Erkenntnißtrieb gäbe, der, ohne Rücksicht auf Fragen des Nutzens und Schadens, blindlings auf die Wahrheit los gienge: und dann, davon abgetrennt, die ganze Welt der praktischen Interessen [ . . . ] Der sogenannte Erkenntnißtrieb ist zurückzuführen auf einen Aneignungs- und Überwältigungstrieb. "145 So ergibt sich, daß die Vernunft auf keine Weise das Seiende fassen kann, daß eine unmittelbare Berührung zwischen Denken und Sein grundsätzlich unmöglich ist, daß es keine Erkenntnis außerhalb der Formen des Urteilens, ohne Zusammensetzung und Trennung von Begriffen gibt, daß jede Überschreitung des logischen Rahmens notwendig im Weglosen endet. Auf diese Weise verrät Nietzsche sein eigenes Denken, gefährdet dessen Vollzug, stellt seine Mitteilbarkeit in Frage. 4. Es ist jedoch nicht nur das Bedürfnis nach Erhaltung des Menschengeschlechts die Triebfeder, die nach Nietzsches Ansicht unaufhaltsam zur Logik K G W VIII 2, 10 (194), S. 238), weil erst auf Grund der „Wahrheit" die Vernunft sich dem Leben entgegensetze. 142 143 144 145

Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 2 (91), S. 104. Ebd., 7 (54), S. 321. Ν 1 8 8 7 / 8 8 : K G W VIII 2, 9 (89), S . 4 6 . Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W VIII 3, 14 (142), S. 117-118. Vgl. Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 2 (154), S. 139: „Die größte Fabelei ist die von der Erkenntniss".

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treibt. Auch ist die Herrschaft der Logik nicht allein deswegen unantastbar, weil ihre Fiktionen sehr erfolgreich dieses Bedürfnis befriedigen. Neben dieser groben biologischen Nötigung, deren Gewicht nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, besteht noch eine andere, nicht weniger unabwendbare, obwohl viel subtilere Nötigung zur Logik, der Nietzsche keine geringere Bedeutung zuschreibt. Das ist die Nötigung der Sprache, bzw. der grammatischen Sprachformen überhaupt. Wenn jene erste mit Vorbehalt äußere Nötigung genannt werden könnte, da sie aus einer Sphäre kommt, die von der logischen leicht zu unterscheiden ist, so würde zu dieser letzteren wahrscheinlich der Name innere Nötigung am besten passen. Denn es handelt sich hier nicht mehr um materielle Interessen, durch die man die Einführung der logischen Fiktionen erklärt (und rechtfertigt), sondern um eine rein geistige Form, in der das Logische allein erscheint und die Nietzsche als eine Art von transzendentaler Bedingung 146 aller logischen Tatsachen faßt. Allerdings ist der Unterschied zwischen biologischer und sprachlicher Nötigung nicht so groß, daß man vor ihm stehen bleiben müßte, wie vor einem unüberbrückbaren Hindernis, da die Sprache letzten Endes durch die Lebensnotwendigkeit vermittelt ist, so daß sie zusammen mit dem Denken, welches sie verführen und begrenzen sollte, ebenfalls auf dem Willen zur Macht gründet, der das gesamte Leben beherrscht. Man muß zugeben, daß Nietzsche mit seinem Hinweis auf die Sprachgebundenheit des Denkens überhaupt nicht originell war, 147 obwohl er dieses Verhältnis wesentlich anders gedeutet hat, als diejenigen, welche zuerst begeistert die Aufmerksamkeit darauf lenkten, in der Uberzeugung, die positive Rolle der Sprache im Prozeß der Menschwerdung entdeckt zu haben. Es ist fast unglaublich, wie unselbständig Nietzsche in dieser Hinsicht war, wie weit er ohne Überlegung anderen folgte. Sogar viele seiner brisanten und anscheinend sehr eigenwilligen Formulierungen stammen nicht von ihm, vielmehr sind sie schlechthin von anderen übernommen, von mehr oder weniger bekannten und anerkannten Sprachwissenschaftlern seiner Zeit. Aber obwohl Nietzsche viele seiner Quellen verschwiegen, vielleicht sogar auch bewußt verdeckt hat, so daß einige Interpreten noch heute im Zweifel sind, wie

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147

Über den transzendentallogischen Sinn der Nietzscheschen Kritik der Sprache sowie über seine Revision des Begriffes des Transzendentalen im Rahmen der „Perspektivenlehre der Affekte" siehe Jürgen Habermas, „Nachwort" zu Friedrieb Nietzsche. Erkenntnistheoretische Schriften, S. 2 4 8 - 2 5 5 . Vgl. Wolfgang Müller-Lauter, „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht", a. a. O., S. 57 Anm. 192. Die Quellenangaben mit ausführlichen Auskünften über die Sekundärliteratur zu dieser Frage gibt Jörn Albrecht, „Nietzsche und das .Sprachliche Relativitätsprinzp'", Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 2 2 5 - 2 4 4 , insbes. S. 240-243. Daß Nietzsche wenig zur linguistischen Theorie des 20. Jahrhunderts beitrug, „da er die Entdeckungen, auf denen diese beruht, nicht antizipiert hat", hebt hervor J. P. Stern, Nietzsche (Glasgow: Fontana/Collins, 1978), S. 141.

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wertvoll dieser Teil seiner Lehre eigentlich ist, ist es doch nicht schwer zu erschließen, von welcher Seite Nietzsche hier die stärksten Anregungen bekommen hat. Daß die Vernunft keine selbständige Geisteskraft sei, die unabhängig von der Sprache bestehe, sondern daß sie sich erst durch die Sprache konstituiere und wesentlich durch diese vermittelt sei, so daß demzufolge der richtige Ort für die Kritik der Vernunft die Kritik der Sprache sei, all dies hat Nietzsche vor allem von Hamann, Herder und Humboldt gelernt, den drei hervorragenden Vertretern der romantischen Sprachphilosophie, die schon in der zweiten Hälfte des 18. und in der ersten Hälfte des ^ . J a h r h u n derts diese neue Auffassung entwickelt hatten, im Gegensatz zum traditionellen platonisch-aristotelischen Glauben an die Einheit von Vernunft und Sprache (und natürlich Sein). Obwohl er aber grundsätzlich die These der Romantiker über die Sprachgebundenheit des Denkens akzeptierte, die ihn vermutlich am meisten wegen ihres relativistischen Beiklangs angezogen hatte, neigte Nietzsche zu keiner einseitigen Auslegung. Obwohl er oft zu dieser These zurückkehrte, da er darin eine wertvolle Stütze im Kampf gegen die absolutistischen Ansprüche der Logik erblickte, war er weit davon entfernt, deren Bedeutung und Tragweite übertrieben hervorzuheben. Nietzsche dachte nicht, die Sprache sei nur eine lebendige wirksame Kraft, die immer von neuem ihre Schale zerbreche, die immer von neuem die starren Regeln und Konventionen übertreffe, in denen sie vergegenständlicht und versklavt werde. Im Gegenteil, er wußte wohl, daß die Sprache eine Doppelnatur hat, daß sie aus fertigen Schemata nicht weniger als aus freien Figuren besteht, daß sie zugleich auch verfestigt ist, trotz aller Beweglichkeit. Sorgsam berücksichtigte Nietzsche sowohl die statischen als auch die dynamischen148 Bestandteile der Sprache. Er sah die Sprache auch von deren prosaischer, nicht nur künstlerischer Seite, obwohl er diese andere Seite nie als etwas unwiderruflich Vollendetes, ein für allemal Gegebens auffaßte. Nicht nur daß Nietzsche unaufhörlich mit der Sprache experimentierte, in der Bemühung, deren Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern und zu bereichern - so daß man ohne Ubertreibung sagen kann, er habe ein „neues linguistisches Paradigma"149 geschaffen und exemplarisch gezeigt, wie die Sprache in ein außerordentlich schöpferisches Instrument der Gestaltung neuer Denkinhalte verwandelt werden könne - , er hat sogar klar gesagt, daß die wesentliche Umwandlung der Vernunft, d.h. das Fortschreiten in Richtung der Uberwindung der drohend wachsenden Trennung zwischen

148

149

Vgl. hierzu Josef Simon, „Grammatik und Wahrheit. Über das Verhältnis Nietzsches zur spekulativen Satzgrammatik der metaphysischen Tradition", Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 1 - 2 5 . Ruediger Hermann Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge, S.93.

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Vernunft und Sein, allein dank dieser Elastizität und Veränderlichkeit der Sprache ermöglicht werde. Es stimmt also schlechthin nicht, daß Nietzsche in irgendeiner Hinsicht von der logischen Syntax der Sprache verblendet, geschweige denn im Rahmen der überlieferten platonisch-aristotelischen Auffassung geblieben wäre, welche die Sprache mit der Grammatik identifiziert, welche die Sprache auf dasjenige zurückführt, was aus ihr geworden ist. Diese Behauptung muß etwas näher erläutert werden, um mögliche Mißverständnisse zu vermeiden. Es steht fest, daß Nietzsche über die Grammatik nicht viel nachgedacht hat;' 50 vielmehr hat er ihre Bedeutung schlechthin vorausgesetzt. Es fiel ihm gar nicht ein, daß dies so aufgefaßt werden könnte, als hätte er es damit schon gutgeheißen. Nietzsche ging so davon aus, als wäre es etwas Selbstverständliches, daß es ein allgemeines „Schema" des Sprachverhaltens gebe, eine „versteinerte" 151 N o r m , welche die Gebrauchsweise der Sprachausdrücke regele. Dabei bezweifelte er nicht, daß dieser geschichtlich entstandene grammatische Bau den Keim der gesamten Logik und Metaphysik trage, daß darin schon von vornherein entschieden sei, wie überhaupt über die Welt gedacht werden könne. In dieser Hinsicht stimmte Nietzsche gänzlich mit der Humboldtschen Auffassung überein, daß die Sprache der Spiegel der Welt sei, daß alle Formen der Welterkenntnis und -interpretation sprachlich bedingt seien. Weniger klar ist, ob Nietzsche die Grammatik in universalem oder in einem engeren, besonderen Sinn verstanden habe. Er schwankte zwischen der Auffassung, daß es eine einheitliche, allen einzelnen Sprachen gemeinsame Grammatik gebe, als eine „gemeinsame Philosophie der Grammatik", welche „eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme" 152 ermögliche und vorbereite, und der Auffassung, daß es mehrere gesonderte, einzelnen Sprachgruppen oder -typen eigentümliche grammatische Strukturen gebe. Es ist durchaus möglich, daß er dieser letzteren Auffassung viel näher stand, daß er sogar zunächst und zumeist mit ihr rechnete, denn an einer wichtigen Stelle, an der die kritische Schneide seiner Grundintention deutlich zum Ausdruck kommt, hat er die indoeuropäischen Sprachen (bei denen der grammatische Subjektbegriff am besten entwickelt sein sollte) der Gruppe der ural-altaischen Sprachen (bei denen derselbe Begriff am wenigsten entwickelt ist)153 entschieden entgegengestellt. Insofern ist es sehr wahrscheinlich, daß Nietzsche auch an anderen Stellen, wo er die Grammatik ohne irgendeine nähere Bestimmung erwähnte, gerade die Grammatik der indoeuropäischen Sprachen vor Augen hatte. 150

151 152 153

Josef Simon, „Grammatik und Wahrheit", a.a.O., S. 15. Vgl. Rainer Thurnherr, „Sprache und Welt bei Friedrich Nietzsche", Nietzsche-Studien 9 (1980), S.59 A n m . 6 0 . G M I 13: K G W VI 2, S.293. J G B 2 0 : K G W VI 2, S.28. Ebd., S. 29.

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Aber obwohl er die Sprachwirklichkeit dadurch sehr vereinfacht, um nicht zu sagen verfälscht hat, daß er den Schwerpunkt auf die Grammatik legte, daß er die Grammatik als deren mächtigsten Ausgangspunkt nahm, schwor Nietzsche nie auf diese normativ-regulative Sprachstruktur. In seiner Stellung zur Grammatik gibt es keinen Funken von Beachtung, geschweige denn von Begeisterung. Wie könnte es auch anders sein, da er darin nicht mehr und nicht weniger als eine „Volks-Metaphysik" erblickte, da er überzeugt war, daß sie dem gesamten Denken „Schlingen" 154 lege. In der Tat war Nietzsche sehr mißtrauisch gegenüber der Grammatik, so daß er in der Regel ironisch über sie sprach. An einer Stelle sagte er mit bitterem und bissigem Hohn, sie sei der „Glaube der Gouvernanten", weil er überzeugt war, daß nur die Gouvernanten „auch heute noch an die Grammatik als Veritas aeterna [ . . . ] glauben" 155 könnten, während er an einer anderen Stelle wieder spöttelnd seufzte: „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los sein, weil wir noch an die Grammatik glauben." 156 Dieses Verhältnis Nietzsches zur Grammatik war schwerlich eine pure Laune. Aber er war weit davon entfernt, durch irgendeine vermeintlich tiefgehende fatalistische Neigung zur vorbehaltlosen Bejahung des vorgefundenen Zustands motiviert zu sein, so als wäre die Grammatik für ihn ein unabwendbares Verhängnis der Menschheit, eine überlegene Macht, gegen die es keine Auflehnung gäbe! An derselben Stelle, an der er die ironische Frage stellt: „Dürfte sich der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben?", fährt Nietzsche folgendermaßen fort: „Alle Achtung vor den Gouvernanten: aber wäre es nicht an der Zeit, daß die Philosophie dem Gouvernanten-Glauben absagte?" 157 Diese Fortsetzung ist sehr charakteristisch. Es fällt auf, daß Nietzsche sich nicht damit begnügt hat, einen Irrtum zu demaskieren (und ihn durch diese Demaskierung zu verewigen). In vollem Bewußtsein, daß man nicht mehr warten könne, da alle Bedingungen für eine Veränderung herangereift seien, deutete er entschieden darauf hin, daß mit der Grammatik gebrochen werden müsse. Es ändert nichts an der Sache, daß es ihm nicht gelungen ist, diese Forderung gleich mit der Forderung nach der Uberwindung der Logik zu verbinden. Jedenfalls mindert Nietzsches Hinweis auf die Bedeutung und Tragweite des Sprachzwangs keineswegs seine Kritik der Logik, geschweige denn, daß es sie aufhebt. Das Gewicht dieses Hinweises darf nicht übertrieben werden, zumal darf daraus nichts voreilig geschlossen werden. Dies gilt um so mehr, als Nietzsche unaufhörlich mit der Sprache experimentierte, im Laufe seiner ganzen denkerisch-literarischen Karriere, als er verwegen allen grammatischen 154 155 156 157

F W 354: K G W V 2, S . 2 7 5 . Ν 1 8 8 4 / 8 5 : K G W VII 3, 40 (20), S . 3 6 9 . G D Die .Vernunft' in der Philosophie 5 : K G W VI 3, S . 7 2 . J G B 3 4 : K G W VI 2, S . 5 0 .

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Regeln zum Trotz nach Bildern und Metaphern griff, in denen gerade dasjenige leicht erkennbar ist, was seiner umstürzlerischen Grundbemühung um die Logik am meisten eigentümlich ist. Sollte man überhaupt jemanden besonders zu überzeugen versuchen, daß Nietzsches Spracherfahrung zumindest ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger sei als seine Interpretation der Sprache? Übrigens ist der erwähnte Hinweis überhaupt nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, und es ist nicht wahrscheinlich, daß Nietzsche seine ursprüngliche Absicht, die Logik zu überwinden, völlig aufgegeben hat, daß er sich endgültig mit der Erkenntnis abgefunden hat, die Regeln der logischen Syntax seien konstitutiv für das Denken überhaupt, die Vernunft sei mit dem Denken innerhalb der überlieferten (indoeuropäischen) Grammatik identisch und der Mensch für immer verurteilt, unter dem Zwang der Sprache und der syntaktisch-grammatischen Formen zu denken.158 Daraus, daß Nietzsche dem sprachlichen Zwang große Bedeutung beilegte, folgt keineswegs, daß seine Kritik der Logik notwendigerweise in eine Sackgasse geraten mußte. Dieser Schritt ist alles andere eher als die unumgängliche Folge einer Philosophie, die angeblich sich selbst als vergeblich versteht, die es versucht hat, die Tradition zu überwinden, d.h. das Denken von der logischen Beschränktheit zu befreien, die jedoch klar eingesehen hat, daß so etwas unmöglich ist.159 Zur Bestätigung der These, daß Nietzsche keine Möglichkeit gesehen hat, die Verführung des Denkens durch die Sprache zu vermeiden, wird gewöhnlich folgende Aufzeichnung aus dem Nachlaß angeführt: „Grundlösung: wir glauben an die Vernunft; diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe, die Sprache ist auf die aller naivsten Vorurtheile hin gebaut. Nun lesen wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir nur in der sprachlichen Form denken — somit die ,ewige Wahrheit' der ,Vernunft' glauben (ζ. B. Subjekt-Prädikat usw.). Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwang thun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn. Das vernünftige Denken ist ein Interpretiren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können. "16° Beim näheren Zusehen wird aber gleich einleuchten, daß die Berufung auf diese Stelle völlig unbegründet ist. Hier handelt es sich überhaupt nicht darum, daß die Grammatik unumgänglich sei (folglich also auch nicht darum, daß es unmöglich sei, die Logik und Metaphysik zu überwinden). Am wenigsten wird demütig zugestanden, daß das Los der Vernunft besiegelt sei und das Denken grundsätzlich die Grenzen der grammatischen Funktionen nicht überschreiten könne. Richtig ist allein dies, daß Nietzsche hier bewußt mit dem Begriff der

158

So Josef Simon, a. a. O., S. 1 - 2 .

155

Josef Simon, ebd., S . 2 - 3 .

160

Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 5 (22), S. 1 9 7 - 1 9 8 .

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Sprache rechnet, welcher die Richtung und den Charakter des Denkens den grammatischen Regeln unterordnet. Allein man vergißt dabei, daß dieser Begriff, trotz seiner Einseitigkeit, voll von Kritik ist: Nietzsche hat ihn eingeführt, um den bestehenden Zustand zu brandmarken, und nicht um irgendein eigenes linguistisches Ideal vorzuführen. An der angeführten Stelle sagt Nietzsche nicht, daß man überhaupt nicht denken könne, wenn man die Grammatik verwerfe, sondern nur, daß man nicht vernünftig (d.h. logisch oder begrifflich-diskursiv) denken könne. Und in dieser Hinsicht ist ihm allerdings nichts vorzuwerfen. Denn das vernünftige Denken ist schon definitorisch als jenes Denken festgelegt, das der Grammatik folgt. Hier haben wir also gerade ein Beispiel jener oben erwähnten Ironie Nietzsches: das Denken, das unter dem Sprachzwang steht, sieht seine eigene Grenze als Grenze des Denkens an, es identifiziert seine eigene Vernünftigkeit mit der Vernünftigkeit überhaupt. Daß jene Aufzeichnung so verstanden werden soll, da dies allein im Einklang mit Nietzsches erkenntnistheoretischem Standpunkt im ganzen steht, und nicht so, wie sie, getrennt genommen, unabhängig von allem anderen verstanden werden kann, wird auch in einer anderen Aufzeichnung aus derselben Periode bestätigt, die unmittelbar darauf hinweist und eigentlich auch von derselben Sache redet. Aus unbekannten Gründen wird diese zweite Aufzeichnung fast von niemandem berücksichtigt. Sie lautet: „Wir werden am letzten den ältesten Bestand von Metaphysik los werden, gesetzt daß wir ihn los werden können - jenen Bestand, welcher in der Sprache und den grammatischen Kategorien sich einverleibt und dermaßen unentbehrlich gemacht hat, daß es scheinen möchte, wir würden aufhören, denken zu können, wenn wir auf diese Metaphysik Verzicht leisteten. Gerade die Philosophen wissen sich am schwersten vom Glauben frei zu machen, daß die Grundbegriffe und Kategorien der Vernunft ohne Weiteres schon ins Reich der metaphysischen Gewißheiten gehören: von Alters her glauben sie an die Vernunft als an ein Stück metaphysischer Welt selbst, - in ihnen bricht dieser älteste Glaube wie ein übermächtiger Rückschlag immer wieder aus.""1 Diese zweite Stelle gibt Nietzsches Stellung zur Grammatik klar wieder. Es ist deutlich hervorgehoben, daß die Philosophie mit allen überlieferten grammatischen Gewohnheiten und Rücksichten brechen solle, um das Denken für seine künftige Aufgabe zu befreien. Jedoch weist Nietzsche hier mit höchstmöglicher Schärfe auf die Schwierigkeiten hin, denen jeder Versuch, die Grammatik zu verlassen, begegnet. Leicht wird der Eindruck gewonnen, daß das Denken in den Abgrund sinke, wenn ihm dieser Halt entzogen werde, leicht bildet man sich ein, daß es dann mit allem Denken aus sei. Der sprachliche Zwang liegt so tief in uns, er 161

Ebd., 6 (13), S. 2 4 3 - 2 4 4 .

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ist so natürlich, so unumgänglich geworden, daß wir uns ernstlich bemühen müssen, um ihm erfolgreich Widerstand zu leisten. Es wäre allerdings ganz unglaublich, wenn Nietzsche die Grammatik aus der kritischen Grundbestrebung seiner Philosophie ausgeschlossen, wenn er sie wie eine absolute Größe stehen gelassen und ihr den Status der einzigen menschlichen Konstante zuerkannt hätte. Unglaubhaft wäre es nicht nur, weil es bedeuten würde, daß er die ganze Tragweite seiner Auflehnung gegen die Tradition überhaupt nicht begriffen hätte, sondern auch, weil er damit bei weitem leichtfertiger und verstockter gewesen wäre als diejenigen, über die er spottete, dadurch daß er an die Grammatik wie an einen Gott geglaubt hätte, und sei es auch an einen toten." 2 Auf diese Weise würde Nietzsche eigentlich über sich selbst spotten, jede Willkür gestatten. In diesem Fall würde man nichts mehr verstehen, man würde sich in seinem Denken überhaupt nicht mehr zurechtfinden können. Denn Nietzsche hat die Grammatik in unmittelbarste Beziehung zur Logik und Metaphysik gebracht, sie war bei ihm so fest mit diesen beiden verwachsen, daß man nur mit Vorbehalt sagen kann, sie sei etwas davon Unterschiedenes. Nicht zufällig ist Nietzsches Erklärung ausdrücklich kreisförmig: zunächst wird von der Grammatik gesagt, sie zwinge das Denken, in Logik und Metaphysik abzuweichen, und danach entdeckt man, daß die Grammatik nicht mehr und nicht weniger als primitive Logik und Metaphysik ist. Offenkundig hat Nietzsche mit gutem Grund die Grammatik mit der Logik und Metaphysik verbunden, hat mit Recht die Logik und Metaphysik als Fortsetzung oder Vollendung der Grammatik angesehen. Letzten Endes handelt es sich um ein und dieselbe Sache, um ein und dieselbe Geisteseinstellung, ein und dieselbe Struktur des menschlichen Geistes, nur auf verschiedenen Stufen der Entwicklung, in verschiedenen Formen der Reife. Wie konnte Nietzsche dann überhaupt an die Möglichkeit der Uberwindung von Logik und Metaphysik denken und zugleich ernstlich behaupten, der grammatische Rahmen sei im Grunde überhaupt nicht überschreitbar? Selbstverständlich können hier alle diejenigen Stellen, an denen Nietzsche die Schwächen und Mängel der Sprache besprochen, bzw. die Sprache als Gefängnis 163 des menschlichen Denkens bezeichnet hat, nicht einmal erwähnt, geschweige denn angeführt werden. Es sind deren zu viele in seinem Werk verstreut, von jener schon erwähnten Frühschrift an, bis zu den nachgelasse-

Vgl. Josef Simon, a. a. O., S. 24. " J Den Ausdruck „Gefängnis" (genauer „Gefängnissmauern" und „Gefängnisswände") gebraucht Nietzsche nicht nur in bezug auf die Sprache, sondern auch in bezug auf die Sinne überhaupt. E r weiß wohl, daß die „Gewohnheiten unserer Sinne", welche die „Grundlage aller unserer Urtheile und E r k e n n t n i s s e ' " bilden (M 117: K G W V 1, S. 108), nicht weniger gefährlich sind als das „Vergessen jener primitiven Metaphern weit", d. h. die Tatsache, „dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst" ( W L 1: K G W III 2, S. 377). 162

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nen Fragmenten aus der letzten Periode seines Schaffens. Vielleicht hat kein anderer Philosoph, weder vor noch nach Nietzsche, die Sprache so sehr gescheut, sich so bedroht durch sie gefühlt, zumal sich keiner der schrecklichen Schwierigkeiten der sprachlichen Kommunikation unter den Menschen so akut bewußt war. Nietzsche kritisierte an der Sprache alles mögliche. Zum Beispiel: daß sie verdumme und versachliche, da sie jenes Individuelle, das vom Durchschnittlichen abweicht, vernachlässige;164 daß sie unaufhaltsam zum Piatonismus führe, da sie den lebendigen Reichtum der Intuition in den „gespenstigen Schemata" der „Abstraktion"165 auflöse; daß sie den Horizont des Realen unwiederbringlich einengt, da sie nur auf die ,,extreme[n] Zustände" unserer „inneren Vorgänge und Triebe", nicht aber auf deren Zwischenstufen hinweisen könne.166 Alle diese Einwände sind durchaus unabhängig voneinander gedacht, so daß zwischen ihnen bedeutende Unterschiede in der Akzentuierung bestehen. Und doch sind sie in einem gleich: daß die Sprache das größte Hindernis der Erkenntnis sei, daß gerade die Sprache die Hauptschuld aller bisherigen Fehlgriffe der Vernunft trage. Allerdings würden wir leicht den Hauptfaden unserer Untersuchung verlieren, wollten wir alle diese mehr oder minder untereinander verbundenen Aspekte der Nietzscheschen Kritik der Sprache im einzelnen betrachten. Ebensowenig kann hier auch dem aktuellen Sprachgebrauch Nietzsches, seinem Versuch, die Sprache von den erwähnten Einschränkungen zu befreien, ja eine neue Sprache zu schaffen, die erforderliche Achtung geschenkt werden. (Wenn es überhaupt einen Sinn hat, über Nietzsches sprachliche Neuerungen zu handeln, getrennt von seiner kritischen Grundintention in bezug auf die Logik und Metaphysik.) Das würde uns weit aus dem Rahmen unseres Themas hinausführen. Nietzsche war zweifellos ein glänzender Schriftsteller, ein wirklicher Meister der Wortbildung, ein unübertrefflicher Stilist. Er verstand es wohl, die verborgenen Nuancen der Worte zu finden, unerwartete Wendungen zu gebrauchen, sich bildhaft und eindrucksvoll auszudrücken, so daß seine einzelnen Schriften tatsächlich als vorzügliche literarische Kunstwerke anzusehen sind. Viele aufrichtige Verehrer Nietzsches, nicht nur seine verborgenen oder offenen Gegner, bewundern auch heute noch vor allem seine Fähigkeit, sich prägnant auszudrücken, so daß sie ihn eher als Dichter denn als Denker behandeln.167 Dies ist ein fürchterliches Mißverständnis. Nietzsche 164

WL 1: K G W III 2, S. 373-374. Vgl. Ν 1885/87: K G W VIII 1, 2 (156), S. 140; 5 (3), S. 189; 5 (10), S. 191-192.

165

WL 2: K G W III 2, S. 382-383. Μ 115: K G W V 1, S. 105. Wenn Nietzsche an einer Stelle die Ankunft eines „verwegenen Dichter-Philosophen" ersehnt und verspricht, dann schwebt ihm nicht ein Schwärmer vor Augen, der nur mit Worten spielen kann, sondern ein unbefangener und raffinierter Beobachter des wirklichen Geschehens, „der

166 167

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erhielt dadurch eine ebenso überflüssige als auch unangemessene Anerkennung, eine Anerkennung, die letzten Endes die Bedeutung seiner Philosophie mehr herabsetzt als hervorhebt. Zumindest wurde derart diese Philosophie, schon angesichts ihrer äußeren Form und ihrer Grundausrichtung, in vielem anders aufgefaßt, als es ihr Urheber wünschte und erstrebte. Als hätte Nietzsche überhaupt Schriftsteller sein wollen, als wäre ihm daran gelegen, seinen Lesern zu gefallen, als strebte er bewußt danach, durch schöne Worte seine boshaften Gedanken zu verbergen! O b w o h l Nietzsches Erfahrung der Sprache sein ganzes philosophisches Werk völlig durchdringt, so daß sie ihm eine ganz besondere Prägung gibt, ist es nicht im mindesten leicht, die metalogische Wurzel dieser Erfahrung zu erläutern. Es würde uns zu weit führen, wollten wir so etwas auch nur versuchen. Allein der ausdrückliche Hinweis Nietzsches muß ernstlich berücksichtigt werden, daß die Frage nach der Möglichkeit eines neuen sprachlichen Ausdrucks am unmittelbarsten mit der Frage nach der Möglichkeit einer neuen Denkweise verbunden ist,168 man muß dem Leitgedanken Nietzsches Rechnung tragen, daß es sich in beiden Fällen eigentlich um ein und dieselbe Frage handelt - die Frage nach der Möglichkeit eines neuen philosophischen Anfangs. Darum werden wir jene beiden verlockenden Fragen beiseite lassen, die in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit vieler Forscher auf sich gezogen haben: die Frage nach dem möglichen Einfluß Nietzsches auf die späteren Strömungen in Wissenschaft und Philosophie (mit denen sich besonders die anglo-amerikanischen Forscher beschäftigten) 169 und die Frage nach der möglichen Auslegung des Nietzscheschen Kampfes gegen die sprachlichen Konventionen im Sinne einer bloßen Parodie und eines unverbindlichen Sprachspieles (die vorzugsweise die französischen Forscher interessiert). 170 Für uns hier ist es wenig wichtig (wenn nicht ganz unwichtig), ob Nietzsche wirklich den Boden für die Metalinguistik von Sapir-Whorf vorbereitet habe, oder ob beide unabhängig von ihm aus einigen gemeinsamen Quellen geschöpft haben. Nicht weniger belanglos ist auch, ob die Ähnlich-

Ohren noch hinter seinen Ohren hat" ( N 1885/87: K G W VIII 1, 6 (22), S.246). Vgl. Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, S. 11: „Der Glanz der Nietzscheschen Sprache, ihre extreme Subjektivität verleiten immer wieder, vom Werk auf den Urheber zurückzublicken, der sich in diesem Werk tausendfach spiegelt". Vgl. dazu auch Walter Gebhard, „Zur Gleichnissprache Nietzsches", Nietzsche-Studien 9 (1980), S. 61-90. 168

Vgl. W L 2: K G W III 2, S. 3 8 2 - 3 8 3 ; F W 58: K G W V 2, S . 9 8 ; F W 354: K G W V 2, S.274. Auf einige Parallelen zwischen der Nietzscheschen Auffassung der Sprache und der modernen analytischen Philosophie macht aufmerksam Arthur C. Danto, Nietzsche as Philosopher (New Y o r k : Macmillan, 1965), insbes. S. 121-123.

170

Eine ausführliche Auskunft darüber findet man bei Rudolf E. Künzli, „Nietzsche und die Semiologie. Neue Ansätze in der französischen Nietzsche-Literatur", Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 2 6 3 - 2 8 8 .

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keiten zwischen einigen Äußerungen von Nietzsche und Wittgenstein171 wirklich so groß sind, daß man Nietzsche mit Recht den Vorläufer der zeitgenössischen analytischen Philosophie der Sprache nennen kann, oder ob diese Ähnlichkeiten eher als ganz zufällig und äußerlich anzusehen sind. Ebenso ist es von keiner großen Bedeutung, ob Nietzsche tatsächlich im Stile des rätselhaften Romans von Joyce, Finegans Wake, geschrieben habe,172 und ob er uns tatsächlich überzeugen wollte, daß es unmöglich sei, vermittels der Sprache zu kommunizieren, so daß es am besten wäre, schlechthin zu verstummen.173 Es ist wenig wahrscheinlich, daß man eine angemessene Antwort auf diese letztere Frage überhaupt bekommen kann, wenn man nicht die Kritik Nietzsches an der Logik und Metaphysik in Betracht zieht. Vielleicht liegt der größte Mangel aller laufenden Versuche, die Nietzschesche Kritik der Sprache zu radikalisieren, gerade darin, daß sie diesen breiteren Zusammenhang übersehen.

5.

Gehen wir aber nun schließlich zur Sache selbst über, betrachten wir etwas näher, worauf Nietzsche seine Kritik der Grammatik gründete, wovon er bei dieser Kritik ausging, was den Schwerpunkt dieser Kritik bildete. Dann werden wir uns sogleich ins Offene durchschlagen, wir werden an den Ort gelangen, wo schon die Kritik der Vernunft beginnt, wo schon das Wichtigste stattfindet. Warum also lehnte sich Nietzsche so stark gegen die Grammatik auf? Welche Gründe haben ihn dazu bewogen, die ganze Schuld für die Fehlgriffe und Irrtümer der Metaphysik auf die Grammatik abzuwälzen? Was ist für die Grammatik wesentlich, was ist ihre Grundfunktion, welche ist die grammatische Grundform, in der Nietzsche die größte Gefahr für das Denken erblickte? Es handelt sich natürlich um den grammatischen Begriff des Subjekts, oder, wenn man so will, um die grammatische Struktur Subjekt-Prädikat. Nietzsche meint, daß uns die Grammatik zwinge, in Form des Urteils zu denken, d. h. das Subjekt mit dem Prädikat zu verknüpfen. In jedem Denkakt ist schon die Existenz des Subjekts vorausgesetzt. Nach Nietzsches Worten ist 171

Einige Aspekte dieses Verhältnisses, mit einem kritischen Ausblick auf Dantos Auffassung, notiert Monika Funke, Ideologiekritik und ihre Ideologie bei Nietzsche (Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1974), S. 266-271.

172

Rudolf E.Künzli, „Nietzsche und die Semiologie", a . a . O., S. 2 8 4 - 2 8 5 . Vgl. Μ Α II, Vorrede 1: K G W IV 3, S. 3: „Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf; und nur von dem reden, was man überwunden hat, - alles Andere ist Geschwätz, .Literatur', Mangel an Zucht".

173

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„der Glaube an das Subjekt" „unsere älteste Gewohnheit": wegen der Grammatik glauben wir, „daß alles Geschehen ein Thun sei, daß alles Thun einen Thäter voraussetze".174 Den Ausdruck „Subjekt" setzt Nietzsche meistens in Anführungszeichen, offensichtlich um schon dadurch seine Unzufriedenheit mit diesem Schema hervorzuheben. Dabei macht er keinen scharfen Unterschied zwischen den Subjekt in grammatischem und in logischem Sinne, sondern nimmt sie gewöhnlich zusammen. Nirgends sagt er ausdrücklich, daß das grammatische Subjekt Modell oder Muster der logischen Identität sei, er läßt jedoch keinen Platz zum Zweifel, daß die Grammatik die Verkörperung der Vernunft in der Sprache sei. Es ist eine große Frage, ob Nietzsche die Grenze zwischen Logik und Grammatik überhaupt anerkannt habe, ob es überhaupt möglich sei bei ihm eine klare Abgrenzungslinie zwischen beiden zu ziehen. Anscheinend hegte Nietzsche ein tiefes Mißtrauen gegen die Grammatik aus demselben Grunde, aus dem er auch gegenüber der Logik mißtrauisch war - wegen der Voraussetzung des Subjekts. Beiden machte er nämlich denselben Vorwurf, daß das Subjekt ihre unglückliche Erfindung, ihre gemeinsame verrückte Einbildung sei, nicht weniger als die Grammatik erklärte er die Logik für die Erhaltung und Verbreitung des „Glaubens an das Subjekt" verantwortlich. Als charakteristisches Beispiel der Verführung des Denkens durch die Grammatik, führte Nietzsche das Leuchten des Blitzes an: „Wenn ich sage ,der Blitz leuchtet', so habe ich das Leuchten einmal als Thätigkeit und das andre Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponirt, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr bleibt, ist, und nicht ,wird'."Ui Wahrscheinlich hat Nietzsche dieses Beispiel entliehen, denn viele seiner Vorgänger haben sich dessen zu ähnlichem Zwecke bedient. Nietzsche jedoch hat dieses Beispiel auf eigentümliche Weise verwendet, da er dessen kritische Pointe bis zur letzten Grenze zugespitzt hat: die Trennung des „Wirkenden" vom „Wirken" ist nicht nur willkürlich, sondern auch sinnlos. Nietzsche findet, daß das Denken gemäß dem Schema: „zu jeder Veränderung gehört ein Urheber", 176 bzw. „zu jeder Thätigkeit gehört Einer, der thätig ist",177, schon reine „Mythologie"178 sei. In diesem Fall wird nämlich alles Geschehen nach dem Vorbild des menschlichen Handelns aufgefaßt, jedes Ereignis wird durch irgendeine Absicht erklärt, jede Erscheinung betrachtet man als Folge irgendeiner Ursache, die als selbständiges Seiendes existiere. Daher ist Nietzsches Frage: „Sollte dieser Glaube an den Subjekt- und Prädikat-Begriff nicht eine 174 175 176 177 178

Ν 1 8 8 5 / 8 6 : K G W VIII 1, 2 (83), S. 100. Ebd., S. 1 0 1 - 1 0 2 . Ebd., S. 101. J G B 1 7 : K G W VI 2, S . 2 5 . Ν 1 8 8 5 / 8 6 : K G W VIII 1, 2 (83), S. 101. Vgl. 2 (139), S. 134.

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große D u m m h e i t sein?" 1 7 9 offenkundig etwas mehr als eine bloße rhetorische Figur. N i e t z s c h e wußte natürlich sehr gut, daß die Vernunft nicht zufällig dem grammatischen Z w a n g zur V e r k n ü p f u n g von Subjekt und Prädikat unterliegt, daß dazu vielmehr deren wesentlich logisch-ontologisches Interesse entschieden beiträgt. E s ist nicht von Bedeutung, daß N i e t z s c h e nirgends ausdrücklich erwähnt hat, daß für die Sicherstellung dieses logisch-ontologischen Interesses das größte Verdienst Piaton und Aristoteles gebührt, denn es ist unzweifelhaft, daß ihm der antiker U r s p r u n g der G r a m m a t i k wohl bekannt war. Jeder auch nur einigermaßen aufmerksame Leser hat sicherlich eine frühere Textstelle im Gedächtnis behalten, an der von der Nietzscheschen Kritik der L o g i k gesagt wurde, daß sie hauptsächlich gegen den „ G l a u b e n an D i n g e " gerichtet wäre (und nicht gegen den „ G l a u b e n an das S u b j e k t " , wie sich jetzt herausstellt), daß N i e t z s c h e unseren „ G l a u b e n an die L o g i k " auf d e m „Glauben an Dinge" gegründet hat. 180 . A n jener Stelle wurden z w a r auch die grammatischen Bedingungen des D e n k e n s erwähnt, es w u r d e sogar an die V e r k n ü p f u n g von Subjekt und Prädikat erinnert und nicht nur von der konsequenten Identifizierung des logischen Gegenstands gesprochen, jedoch ist dies alles im Hintergrund geblieben, denn die allgemein geäußerte B e h a u p tung bedeutete unzweifelhaft, daß N i e t z s c h e im „ D i n g " das M o d e l l der ursprünglichen Einheit gesehen, daß er das „ D i n g " als die grundlegende substantielle A u s p r ä g u n g der logischen F u n k t i o n der Identität aufgefaßt habe. Weshalb ist nun der Begriff des Subjekts in den Vordergrund getreten? Wie ist diese Veränderung z u verstehen? Bedeutet dies, daß N i e t z s c h e seinen G e d a n ken verloren oder seine Grundeinstellung zur L o g i k nachträglich verändert hat? E s sei gleich gesagt, daß es keinen G r u n d gibt, sich große Sorgen zu machen. Keine Veränderung der Einstellung k o m m t in Betracht, zumal nicht irgendeine Inkonsequenz. E s handelt sich eher u m die Vollendung des angesetzten Gedankenexperiments als u m einen unbedachten Rücktritt aufs G e r a tewohl. Schwierigkeiten entstehen nur, wenn man den tief geschichtlichen Sinn und Charakter der Nietzscheschen W e n d u n g übersieht, wenn man außer acht läßt, daß schon Nietzsches kritische Stellungnahme z u m „ G l a u b e n an D i n g e " eine kritische Einsicht in die Unhaltbarkeit des „ G l a u b e n s an das Subjekt" enthält, mit einem Wort, wenn man vergißt, daß die Kritik der Substanz und die Kritik des Subjekts eigentlich zwei Seiten ein und desselben kritischen Unterfangens sind. Nietzsche hat nicht zunächst geglaubt, das Modell der Substanz sei die Voraussetzung all unseres Weltverständnisses, und ist nicht erst später, unabhängig von dieser Einsicht oder sogar ihr entgegenge179

Ebd., 2 (83), S. 100. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (97), S.54.

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setzt, zum Schluß gekommen, daß sich all unser Wissen von der Welt nach dem Modell unseres Selbstverständnissses richte. In der Tat hat Nietzsche jenen ersten Schritt erst mit Rücksicht auf diesen zweiten gemacht, wenn er sich nicht schon dazu entschloß, nachdem er sich der Unumgänglichkeit dieses zweiten Schrittes bewußt geworden war. Nietzsche konnte sich nicht schlechthin auf die Kritik der Substanz beschränken, da er sich von der neuzeitlichen philosophischen Perspektive sehr angezogen fühlte. Aber ebenso konnte er auch nicht schlechthin bei der Kritik des Subjekts stehenbleiben, da ihn die antike philosophische Uberlieferung tief beunruhigte. Deshalb hat er die Verbindung zwischen Substanz und Subjekt aufgezeigt, tief überzeugt, daß die Befreiung von der Herrschaft der Metaphysik allein auf diese Weise möglich sei. Man soll im Blick behalten, daß Nietzsche den historischen Vorrang der Substanz vor dem Subjekt sehr wohl kannte (was er mehr als einmal ausdrücklich bestätigt hat), daß er aber vor dieser Tatsache nicht stehengeblieben ist, sondern die historische Reihenfolge zwischen den beiden Begriffen umgedreht hat, um zu zeigen, daß der ältere tatsächlich vom jüngeren abhängt, und nicht umgekehrt. In einer Aufzeichnung aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft, die einen leicht verführen kann, sagt Nietzsche wortwörtlich, daß die Substanz dem Subjekt vorangehe: „Zuerst entsteht der Glaube an das Beharren und die Gleichheit außer uns - und später erst fassen wir uns selber nach der ungeheuren Einübung am Außer-uns als ein Beharrendes und Sich-selber-Gleiches, als Unbedingtes auf."181 Schwerlich könnte der Unterschied, auf den in der zitierten Aufzeichnung hingedeutet wird, anders aufgefaßt werden als im Sinne des Unterschieds zwischen epochalen Prinzipien. N u r ein oberflächlicher und nachlässiger Leser kann übersehen, daß Nietzsche hier weit über den individualpsychologischen hinaus in den geistesgeschichtlichen Bereich getreten ist, daß er nicht zwei abstrakte Stufen möglicher Erfahrung, sondern zwei konkrete Modelle philosophischer Weltinterpretation - die antike und die neuzeitliche - prägnant charakterisiert hat. Nietzsche zeigt deutlich genug, daß das neuzeitliche Prinzip mit dem antiken aufs engste verbunden ist, daß es eine Umgestaltung des antiken darstellt. Er betont sogar ausdrücklich, daß dieses neuzeitliche Prinzip aus den Voraussetzungen des vorangehenden entsteht, daß es sich vornehmlich nach ihm richtet. Daher ergeben sich mögliche Mißverständnisse. Erst in einer Aufzeichnung aus dem Nachlaß, die widersprüchliche Kommentare hervorgerufen hat, kehrt Nietzsche dieses Verhältnis unzweideutig um: „Der Substanz begriff eine Folge des Subjektsbegriiis: nicht umgekehrt!" 182 Es stellt sich heraus, daß das neuzeitliche Prinzip in der Tat das 181 182

Ν 1881/82: K G W V 2, 11 (268), S.442. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 10 (19), S. 131. Daß weder der Substanzbegriff eine Folge des

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antike vertieft, erweitert und begründet, nicht nur, daß es sich nach ihm richtet. Die historische Reihenfolge entscheidet nicht über den wirklichen Vorrang. Der antike Mensch fand seinen Anhaltspunkt in Dingen außer sich. Im Lichte der ontologischen Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidenz setzte er das natürliche Seiende als sein Vorbild, das Außere nahm er als Maß des Inneren. Der neuzeitliche Mensch ist einen Schritt weiter gegangen. Er hatte eingesehen, daß der antike Anhaltspunkt nicht fest genug war, daß er ebenfalls eine Stütze brauche, so daß er in der Vernunft Zuflucht suchte. Er entdeckte in seinem denkenden Ich jene Instanz, von der das Ding selbst abhängt, er erklärte sich selbst für das erste Subjekt. Daß Nietzsche nicht zufällig das Verhältnis zwischen den Begriffen Substanz und Subjekt umgewandelt hat, so daß man ihm keineswegs vorwerfen kann, dabei etwas verwechselt zu haben, daß diese Umwandlung vielmehr eine unumgängliche Schlußfolgerung seiner ganzen radikalen Kritik der idealistischen Vernunftphilosophie war, bestätigt die folgende Aufzeichnung aus dem Nachlaß: „Muß nicht alle Philosophie endlich die Voraussetzungen, auf denen die Bewegung der Vernunft ruht, ans Licht bringen? - unseren Glauben an das Ich als an eine Substanz, als an die einzige Realität, nach welcher wir überhaupt den Dingen Realität zusprechen? Der älteste .Realismus' kommt zuletzt ans Licht: zu gleicher Zeit, wo die ganze religiöse Geschichte der Menschheit sich wiedererkennt als Geschichte vom Seelen-Aberglauben. Hier ist eine Schranke: unser Denken selbst involvirt jenen Glauben (mit seiner Unterscheidung von Substanz-Accidens, Thun, Thäter usw.), ihn fahren lassen heißt nicht-mehr-denken-dürfen."183 Nietzsche ließ offensichtlich die Bedeutung des Grundprinzips der neuzeitlichen Philosophie gelten. Er sah darin das Pfand für die kritische Einschätzung der ganzen vorherigen Denkentwicklung, ungeachtet dessen, daß er sich gleich energisch von jedem Gedanken an dessen Absolutsetzung distanzierte. Nach Nietzsches Ansicht ist erst dank der modernen Unterordnung der Substanz unter das Subjekt die verborgene Voraussetzung des gesamten traditionellen Philosophierens ans Licht getreten, ist erst klar geworden, daß das menschliche Ich die Grundbedingung des Denkens ist, daß darin das Wesen aller Dinge verborgen liegt, daß dieses unser Ich die Wiege des Identitäts-Satzes darstellt, so daß sich darauf

Subjektbegriffes ist, wie Nietzsche meinte, noch der Subjektbegriff eine Folge des Substanzbegriffes, wie man leichtfertig vermuten kann, sondern daß der Subjektbegriff „der neuen Auslegung der Wahrheit des Seienden [entspringt]", wobei es zur „Einschränkung des gewandelten Substanzbegriffes auf den Menschen als den Vorstellenden" kommt, darauf verweist Martin Heidegger, Nietzsche II, S. 182. Vgl. dazu auch Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Leben

und Denken, 1,5

S. 77-78.

Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 7 (63), S . 3 2 5 .

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letzten Endes die zweitausend)ährige Herrschaft der Vernunft, d. h. die Herrschaft der Logik und Metaphysik gründet. Zwar ist fragwürdig, inwieweit Nietzsche die Grundintentionen der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität tatsächlich verstanden hat, und besonders, inwieweit es ihm tatsächlich gelungen ist, auf angemessene Weise dasjenige auszulegen, was durch ihre Vermittlung enthüllt wurde. Gewiß ist jedenfalls, daß viele seiner beiläufigen Bemerkungen und spärlichen Andeutungen nicht immer aufs glücklichste formuliert sind. An einigen Stellen gewinnt man sogar den Eindruck, daß Nietzsche sich allzu leicht über das, was in philosophischer Hinsicht das Wichtigste ist, hinweggesetzt hat, daß er schnell in das flache Wasser des Psychologismus abgeglitten ist. Von dieser Tendenz zum primitiven Psychologisieren zeugt folgende Stelle: „Psychologische Ableitung unseres Glaubens an die Vernunft. — Der Begriff ,Realität', ,Sein' ist von unserem ,Subjekt'-GeiiAAe entnommen. ,Subjekt' von uns aus interpretirt, so daß das Ich als Subjekt gilt, als Ursache alles Thuns, als Thäter. Die logisch-metaphysischen Postulate, der Glaube an Substanz, Accidens, Attribut usw. hat seine Uberzeugungskraft in der Gewohnheit, all unser Thun als Folge unseres Willens zu betrachten: - so daß das Ich, als Substanz, nicht eingeht in die Vielheit der Veränderung. - Aber es giebt keinen Willen. "184 Hier ist schon in der Uberschrift der Aufzeichnung der Nachdruck auf die falsche Seite gelegt, so als wäre es am wichtigsten, daß es uns letztlich gelungen ist, den psychologischen Mechanismus zu begreifen, der dazu geführt hat, der Metaphysik zu verfallen, und daß wir letztlich dazu gekommen sind, zu verstehen, wie der „Glaube an Dinge" in solch einem Maße psychologisch überzeugend werden konnte, daß so lange Zeit niemand nach seinem Ursprung fragte. Aber unabhängig davon, ob Nietzsche tatsächlich der Gefahr des Abgleitens in die Psychologie unterlegen ist (oder hat es nur diesen Anschein, wegen einiger ungeschickter Formulierungen), ist unzweifelhaft, daß dieser schonungslose Kritiker der Metaphysik seine philosophischen Vorgänger, die sich derselben Aufgabe gewidmet hatten, unterschätzt hat. Er hat nicht nur deren kritische Einsichten nicht genügend berücksichtigt, sondern es sogar unterlassen, auf deren Anteil an der Vorbereitung der späteren Umwandlung zu verweisen. So erweckte er den falschen Eindruck (dem er selbst vielleicht auch unkritisch unterlag), daß er nicht nur weiter als die anderen gegangen sei, sondern daß er als erster eine andere Richtung eingeschlagen habe, daß er etwas getan habe, was niemand vor ihm sich auch nur vorstellen konnte. Zumindest sagte Nietzsche nirgends offen, daß schon Kant deutlich gesehen hatte, daß das Subjekt der Substanz vorangehe und nicht nur etwas Unabhän1,4

Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (98), S.55.

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giges und Selbständiges im Hinblick auf sie darstelle. Und er sagte auch nicht, daß Kant den Boden für eine solche Einsicht genügend vorbereitet habe durch seine Auffassung, daß das „ich denke" die ursprüngliche Form der Einheit sei, von der alle anderen Formen oder Arten der Einheit abhingen, daß jedoch dieses „ich denke", obwohl es alle meinen Vorstellungen muß begleiten können, nicht den Charakter eines beharrlichen substantiellen Gedankenträgers hat, sondern nur eine transzendentale Bedingung für deren objektive Gültigkeit ausmache185. Ebenso leichthin verschwieg Nietzsche auch, daß schon Fichte hinreichend deutlich gezeigt hat, daß der Glaube an das IchSubjekt die Voraussetzung der gesamten Logik sei, daß sich der Identitäts-Satz auf den transzendentalen Satz „Ich bin Ich" gründe, bzw. daß die Geltung dieses logischen Grundaxioms nur so weit reicht, wie das Bewußtsein reicht.186 Nicht erwähnt werden soll, in welchem Maße Nietzsche auch gegen viele andere seiner philosophischen Vorgänger ungerecht war, von denen hier nur noch Hume genannt sei, da es nicht glaubhaft ist, daß ihm dessen Kritik der Substanz ganz unbekannt war.187 Natürlich soll damit nicht gesagt werden, daß Nietzsche schlechthin die kritische Aufgabe seiner Vorgänger übernommen, daß er in deren Schatten oder auf ihrer Spur nur den neuzeitlichen Subjektivismus zu Ende entwickelt oder zum Höhepunkt gebracht habe. Gleich muß jeder Zweifel in dieser Hinsicht beseitigt werden. In der Tat war Nietzsche nicht weniger ein schonungsloser Kritiker der neuzeitlichen als der antiken griechischen Philosophie. Seine kritische Aufgabe hat er von Anfang an wesentlich anders aufgefaßt als Kant und seine Vorgänger oder Nachfolger. Das Verhältnis zwischen Substanz und Subjekt hat er nicht umgewandelt deshalb, weil er die überlieferte metaphysische Auffassung des Seins begründen, diese Auffassung auf eine feste Grundlage stellen, ihre unantastbare Geltung sichern wollte, sondern deshalb, weil er die ganze metaphysische Denkweise so radikal wie möglich zerstören, mit allen metaphysischen Hypostasen brechen, die Fiktion des Subjekts als Trägers des Glaubens an das Sein entlarven wollte. Diese Grundintention Nietzsches ist am Beispiel seiner Kritik Descartes' leicht zu sehen. Eine von den zahlreichen Aufzeichnungen, in denen Nietzsche sich bemühte, sein Verhältnis zum Stammvater der neuzeitlichen Philosophie näher zu bestimmen, lautet: „ ,Es wird gedacht, folglich giebt es Denkendes': darauf läuft die argumentatio des Cartesius hinaus. Aber das heißt, unsern Glauben an den Substanzbegriff schon als ,wahr a priori' ansetzen: -

185 186 187

Vgl. hierzu Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Leben und Denken, S. 78-79. Vgl. Karl-Heinz Volkmann-Schluck, ebd., S. 96-97. Uber das Verhältnis Nietzsches zu Hume siehe die Dissertation von Daniel Breazeale, Toward α Nihilist Epistemology: Hume and Nietzsche (New Haven: Yale University, 1971).

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daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, ,das denkt', ist aber einfach eine Formulirung unserer grammatischen Gewöhnung, welche zu einem Thun einen Thäter setzt. Kurz, es wird hier bereits ein logisch-metaphysisches Postulat gemacht - und nicht nur constatirt... Auf dem Wege des Cartesius kommt man nicht zu etwas absolut Gewissem, sondern nur zu einem Faktöm eines sehr starken Glaubens. Reduzirt man den Satz auf ,es wird gedacht, folglich giebt es Gedanken', so hat man eine bloße Tautologie: und gerade das, was in Frage steht, die ,Realität des Gedankens' ist nicht berührt, - nämlich in dieser Form ist die ,Scheinbarkeit' des Gedankens nicht aufzuweisen. Was aber Cartesius wollte, ist, daß der Gedanke nicht nur eine scheinbare Realität hat, sondern an sich."m Hier ist es einleuchtend, daß Nietzsche gerade dasjenige bezweifelt, was Descartes als das Unzweifelhafteste ansah - nämlich daß es so etwas wie Subjekt oder denkendes Ich überhaupt gebe. Nietzsches Ansicht zufolge ist der Satz cogito ergo sum eine willkürliche Behauptung und kein begründeter Schluß, da darin von vornherein dasjenige vorausgesetzt wird, was erst zu beweisen ist. Die scheinbare Selbstverständlichkeit dieses Satzes verwirrt Nietzsche überhaupt nicht und auch nicht der feste Glaube seines Urhebers an dessen Wahrheit. In seiner Polemik gegen Descartes - der er offenkundig eine grundsätzliche Bedeutung beimaß - begnügte sich Nietzsche nicht nur damit, auf die Unhaltbarkeit des Standpunktes Descartes' hinzuweisen. Er hat sich ernstlich angestrengt, seinem großen Vorgänger gerecht zu werden. Wenn irgendwo, so zeigte Nietzsche hier unzweifelhaft, daß er vor allem an einer strengen Begriffszergliederung und -erläuterung interessiert sei. Seine Kritik ist so grundlegend und durchdringend, daß sie noch immer sehr beachtenswert ist.189 Nicht danach strebend alle unausgesprochenen Voraussetzungen, auf denen sich der Satz von Descartes gründet, aufzuzählen und im einzelnen zu überprüfen, jedoch der Unumgänglichkeit einer solchen Aufgabe völlig bewußt, zeigt Nietzsche, daß Descartes stillschweigend mit der Möglichkeit der Trennung des Gedankens vom Denken oder vom Denker rechnete. Die Voraussetzung, daß die Gedanken vom Denken getrennt werden können, bzw. daß man den Denker von seinen Gedanken unterscheiden kann (und zwar nicht nur in rein analytischem, sondern auch in faktisch-empirischem Sinn) ist unumgänglich, um überhaupt beweisen zu können, daß jenes „ich

188 189

Ν 1887/88: KGW VIII 2, 10 (158), S.215. Daß die früheren Herausgeber des Nietzscheschen Nachlasses diese Kritik nicht in ihre Kompilation, betitelt „Der Wille zur Macht", aufgenommen haben, obwohl die wichtigsten Aufzeichnungen Nietzsches, die sich mit Descartes' Satz befassen, gerade aus der Zeit seiner Vorarbeit zu diesem unvollendet gebliebenen Werk stammen, darin sieht Heidegger den hinreichenden Grund dafür, den Wert dieser Sammlung zu bezweifeln. Vgl. Nietzsche II, S. 174.

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denke" existiert. Diese Voraussetzung ist jedoch unbegründet. Gedanken, Denken und Denker bestehen nicht getrennt voneinander, es sind vielmehr nur Aspekte ein und desselben Vorgangs." 0 Dies ist mühelos einzusehen, sobald man den Satz des Descartes „Ich denke, also ich bin" in der Form „Es wird gedacht, also gibt es Gedanken" wiedergibt. Denn diese zweite Form läßt keinen Platz für den Zweifel, daß die Gedanken immer mit dem Denken zusammenfallen, d.h. daß es keine Gedanken ohne Denken gibt. Warum sollte man dann glauben, daß irgendein Substrat des Denkens unabhängig vom Denkprozeß selbst bestehen könne? Es folgt, daß der Satz des Descartes im besten Fall bloße Tautologie sei. Nietzsche findet, und das ist nicht weniger wichtig, daß Descartes den „Thatbestand"" 1 falsch aufgefaßt, daß er das Phänomen, von dem er ausgegangen ist, entstellt habe, daß er ihm etwas hinzufügte, was es darin überhaupt nicht gibt. So schwer es auch sein mag zu sagen, was Denken ist - und Nietzsche gesteht offen, daß er nicht weiß, was das ist, was so bezeichnet wird -,' 9 2 es ist doch unbestreitbar, daß das Denken etwas ganz anderes ist, als Descartes es sich vorstellte. Das Denken ist nämlich keine „subjektive" Tätigkeit. Es gibt keinen Denker, der hinter den Gedanken verborgen stünde, der deren Urheber wäre. Der Gedanke selbst ist nicht die Ursache immer neuer und neuer Gedanken. Wäre es richtig, daß das Subjekt „ich" die Ursache des Prädikats „denke" sei, wie Descartes es glaubte, dann würde dies bedeuten, daß der Mensch alles denken kann, was er will, seine Gedanken stünden völlig in seiner Gewalt. Die faktische Situation ist jedoch eine ganz andersartige. Der Mensch ist eher Sklave seiner Gedanken als deren Herr. „Ein Gedanke kommt, wenn ,er' will, und nicht wenn ,ich' will", sagt Nietzsche. 193 Wir wissen nicht, warum es so eingerichtet ist und nicht anders. Der Ursprung der Gedanken ist verborgen. Er entzieht sich unserem Blick. Das Denken ist das am meisten rätselhafte Ding auf der Welt. Es ist nicht einmal klar, woher der Gedanke kommt, nicht nur, wie er im Bewußtsein auftaucht. Noch weniger ist es klar, wie er die endgültige Form bekommt, wie er sich mit anderen Gedanken verbindet und von den anderen abgrenzt. All dies geschieht sozusagen aus sich selbst, fast unabhängig vom menschlichen Willen. Der

1.1 1.2 1.3

Vgl. Ruediger Hermann Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge, S. 88. Die Stichhaltigkeit des Einwands Descartes habe zu viel gesagt, wenn er „Ich denke" sagte, bestreitet, obwohl nicht auf Nietzsches Argument eingehend, Bernard Williams, Descartes, The Project of Pure Enquiry (London: Pelican, 1978), S. 95-101. JGB 17: KGW VI 2, S.25. JGB 16: KGW VI 2, S.24. JGB 17: KGW VI 2, S. 25. Ähnlich Ν 1880/81: KGW V 1, 6 (297), S. 603-604. Vgl. Ν 1888/89: KGW VIII 3, 14 (152), S.127: „Der Logiker [ . . . ] hat sich an das Vorurtheil gewöhnt, daß Gedanken Gedanken verursachen, - er nennt das - Denken..."

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Mensch ist „mehr Zuschauer dabei als Urheber dieses Vorgangs"." 4 Und er kann auch nichts anderes tun, als darüber mehr oder weniger zuverlässig Zeugnis ablegen. Also ist jenes berühmte „ich denke", worauf Descartes das Gebäude der menschlichen Erkenntnis aufbauen zu können glaubte, keine „unmittelbare Gewißheit",195 sondern die Folge der „falschen Selbstbeobachtung".1'6 In seiner kritischen Uberprüfung des Cartesischen Beweises der Existenz des Subjekts lenkt Nietzsche besonders die Aufmerksamkeit auf die unangemessene Rolle des Substanzbegriffs. In Anbetracht des engeren Themas unserer Untersuchung ist dies jedenfalls der wichtigste Teil seiner Kritik, und dies um so mehr, als hier Nietzsches Unzufriedenheit mit Descartes am stärksten zum Ausdruck gekommen ist. Dieser sollte einen groben Fehler begangen haben, nicht nur, weil er ein Ich erfand, das angeblich seine Gedanken selbständig hervorbringt, sondern noch mehr, weil er dieses Ich verdinglicht, weil er es mit einem toten Ding identifiziert hat. Nietzsche ist in seiner Verurteilung ganz kategorisch. Vorbehaltlos behauptet er, daß Descartes unbedacht nach dem Substanzbegriff gegriffen hätte, daß er leichthin angenommen hätte, dieser Begriff sei a priori wahr, daß er sich unkritisch einem logisch-metaphysischen Postulat fügte. Daraus würde hervorgehen, daß Descartes seiner epochalen Entdeckung untreu geworden sei, daß er das Subjekt einfach substantialisierte, daß er sich das Subjekt nach dem Vorbild der Substanz vorgestellt hätte, daß er auf das Subjekt die Bestimmungen, die ursprünglich Bestimmungen der Substanz waren, übertrüge. Er habe nicht verstanden, daß das Subjekt schon dem Vorverständnis nach etwas anderes, wenn nicht etwas mehr bedeute als die Substanz, insofern es seine Bestimmungen nicht von außen empfange, sondern sie in sich selbst finden müsse. Eigentlich ist es das Subjekt, das jedes Ding bestimmt, folglich auch das Prädikat des Dinges sich selbst zuschreibt, die Realität der Dinge ist etwas rein Subjektives. Alles hängt vom Subjekt ab: so wie sich das Ich zu den eigenen Handlungen verhält, so verhält sich die Substanz zu den eigenen Akzidenzien, und nicht umgekehrt. Obwohl er schon die Notwendigkeit und die Möglichkeit gesehen hatte, „ das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken""7 (wie Hegel bedeutend später das

Ν 1 8 8 4 / 8 5 : K G W VII 3, 38 (1), S . 3 2 3 . " s J G B 17: K G W VI 2, S.25. Vgl. Ν 1 8 8 4 / 8 5 : K G W VII 3, 40 (23), S . 3 7 2 : „Zuletzt müßte man immer schon wissen, was ,sein' ist, um ein sum aus dem cogito herauszuziehn, man müßte ebenso schon wissen, was wissen ist: man geht vom Glauben an die Logik - an das ergo vor Allem! - aus, und nicht nur von der Hinstellung eines factums!" Ν 1 8 8 7 / 8 8 : K G W VIII 2, 11 (113), S . 2 9 6 . 197 G. W . F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Sämtliche Werke 2 (Jubiläumsausgabe) ( H . Glockner) (Stuttgart: F. Frommann, 4 1965), S . 2 1 . 194

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philosophische Programm Fichtes im Gegensatz zu dem Spinozas eindrucksvoll bezeichnete), wußte Descartes sein Vorhaben nicht folgerichtig zu Ende zu führen: bei ihm hat sich das Subjekt gegenüber der Substanz nur verselbständigt, ist sogar ihr ebenbürtiger Partner geworden, aber noch nicht ihr Herr. Nietzsche hat Descartes vorgeworfen, sowohl daß er versuche, das Subjekt durch das Subjekt zu begründen, als auch daß er das Subjekt der Substanz völlig angepaßt habe. Weder ist das erstere möglich, noch das letztere angebracht. Mit diesem zweiten Schritt ist Nietzsche nicht einverstanden, weil damit das neuzeitliche Prinzip selbst getrübt wird, während der erstere ihm völlig illusorisch erscheint. Man kann nur bedauern, daß Nietzsche nirgends gezeigt hat, welche Formulierung er für angebrachter als diejenige, zu der Descartes gegriffen hatte, halten würde. Tief mißtrauisch gegenüber der „Mythologie des Subjekt-Begriffs",198 völlig vom Gedanken besessen, den „Irrthum, daß das Subjekt causa sei", 1 " zu zerschlagen, hat Nietzsche überhaupt nicht bemerkt (oder wenigstens nicht genügend beachtet), daß schon Descartes den aristotelischen Substanzbegriff bedeutend verändert, um nicht zu sagen umgewandelt hat. Obwohl der Stammvater der neuzeitlichen Philosophie auf Grund des Substanzbegriffs die Metaphysik lediglich erneuern und vollenden wollte, handelt es sich bei ihm doch um keine mechanische Übertragung. Aus der bunten Vielheit der aristotelischen Bestimmungen, durch welche der große antike Denker in einer Reihe aufeinanderfolgender Versuche verschiedene Seiten oder Momente der Substantialität der Substanz festgelegt hatte, sonderte Descartes eine Bestimmung aus und gab ihr den Vorrang vor allen anderen. Die Abweichung war unumgänglich, schon deshalb, weil Descartes den Substanzbegriff in einen ganz anderen Bereich übertrug, weil er vom Denken ausging (und nicht von der organischen Natur wie Aristoteles) und aus der Sicht des als Substanz aufgefaßten Denkens danach trachtete, die Natur selbst als Substanz aufzufassen.200 Aber wenn dies auch nicht eine unumgängliche Folge der erwähnten Verschiebung des Ausgangspunkts, sondern eine ganz zufällige Abweichung war, gewiß ist doch, daß Descartes sich hauptsächlich an der aristotelischen Bestimmung der Substanz als hypokeimenon (im logischen und ontologischen Sinn) orientiert hat: die Substanz war für ihn nicht nur das Subjekt des Urteils, d.h. eine feste und verläßliche Grundlage möglicher Prädikate, sondern ebenso, oder vielleicht vor allem, ein Ding, das durch sich selbst bestehen 1.8

Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 2 (78), S . 9 6 .

1.9

Ebd., S . 9 6 . Vgl. Bernard Williams, Descartes, S. 1 2 4 - 1 2 9 . Ü b e r die Cartesische Bestimmung des Subjektes am Leitfaden des aristotelischen hypokeimenon berichtet ausführlich Werner Stegmaier, Substanz. Der Grundbegriff der Metaphysik (Stuttgart/Bad Cannstatt: F r o m m a n - H o l z b o o g , 1977), S. 8 5 - 9 9 , 1 3 3 - 1 4 5 .

200

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kann, das von keiner Ursache außer ihm abhängig ist. Angesichts der Grundaufgabe, vor der Descartes stand, namentlich jenes „ich denke" in den Rang der Substanz zu erheben, die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Denkens der Natur gegenüber zu sichern, ist es selbstverständlich, daß bei ihm nur noch die Bestimmung der Substanz als innere Einheit, als Einheit des Dings in bezug auf es selbst, einen hervorragenden Platz erhalten konnte, während alle anderen Bestimmungen (deren es bei Aristoteles bekanntlich recht viele gab) im Hintergrund bleiben mußten. Da Nietzsche den methodischen Charakter des Cartesischen Versuchs nicht begriffen hat (oder wenigstens dessen Eigenart nicht genügend beachtete), unterschätzte er die tatsächlichen Möglichkeiten des Substanzbegriffs, er verlor die im Laufe der Geschichte der Metaphysik sehr schwankende und veränderliche Bedeutung dieses Begriffes aus den Augen. Hier wird jedoch auf die Analyse des breiteren Zusammenhangs dieser sehr verwickelten Frage verzichtet. Nietzsche ging nicht nur darin fehl, daß er Descartes unkritisch unterschob, Aristoteles in einer wichtigen Frage seiner Philosophie blindlings gefolgt zu sein. Sein viel größerer Fehler lag darin, daß er einfach vermutete, der Substanzbegriff sei schon am Anfang unserer philosophischen Tradition eindeutig und endgültig bestimmt worden, so daß Descartes gar nichts anderes tun konnte als das, was er getan hat - und das ist, diesen Begriff glatt auf das Subjekt anzuwenden. Auf diese Weise hat Nietzsche seine Aufgabe der kritischen Auseinandersetzung mit der Metaphysik sehr eingeengt, wenn schon nicht auch gewaltig vereinfacht. Nicht nur, daß er den falschen Eindruck hervorgerufen hat, die philosophische Tradition sei bedeutend einheitlicher und vollständiger als sie es tatsächlich ist - obwohl schon dies genügend mahnt, gegenüber diesem Versuch Nietzsches äußerst vorsichtig zu sein sondern er gab sogar Anlaß zur voreiligen Schlußfolgerung, daß der Grundbegriff der traditionellen Philosophie mit Ablagerungen der spekulativen Konstruktion des Absoluten hoffnungslos belastet sei, insofern er immer nur dazu diente, das Bedingte aus dem Unbedingten abzuleiten.201 Dadurch, daß er den Substanzbegriff auf eine ganz einfache Formel zurückführte, daß er dessen Bedeutung mit der abstrakten Identität gleichsetzte, hat Nietzsche den Weg zum produktiven Gespräch mit der Metaphysik eher versperrt, als die Vergeblichkeit all ihrer Bestrebungen tatsächlich bewiesen. Seine Kritik des Cartesischen Beweises für die Existenz des Subjekts beschloß Nietzsche damit, daß er diesen Begriff selbst verwarf: „Was mich am 201

Ν 1884: K G W VII 2, 26 (215), S . 2 0 4 . Vgl. J G B 2 1 : K G W VI 2, S . 2 9 : „Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine A r t logischer Nothzucht und Unnatur: aber der ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken".

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gründlichsten von den Metaphysikern abtrennt, das ist: ich gebe ihnen nicht zu, daß das ,Ich' es ist, was denkt: vielmehr nehme ich das Ich selber als eine Construktion des Denkens, von gleichem Range, wie ,Stoff' ,Ding' ,Substanz' ,Individuum' ,Zweck' ,Zahl': also nur als regulative Fiktion, mit deren Hilfe eine Art Beständigkeit, folglich ,Erkennbarkeit' in eine Welt des Werdens hineingelegt, hineingedichtet wird. Der Glaube an die Grammatik, an das sprachliche Subjekt, Objekt, an die Thätigkeits-Worte hat bisher die Metaphysiker unterjocht: diesen Glauben lehre ich abschwören. Das Denken setzt erst das Ich: aber bisher glaubte man, wie das ,Volk', im ,ich denke' liege irgend etwas von Unmittelbar-Gewissem und dieses ,Ich' sei die gegebene Ursache des Denkens, nach deren Analogie wir alle sonstigen ursächlichen Verhältnisse ,verstünden'. Wie sehr gewohnt und unentbehrlich jetzt jene Fiktion auch sein mag, das beweist nichts gegen ihre Erdichtetheit: es kann etwas Lebensbedingung und trotzdem falsch sein."202 Daß das Subjekt eine bloße Erfindung und nicht etwas Reales, etwas wirklich Vorhandenes sei, etwas, was ein Sein hat, ist schon daraus zu ersehen, wie dieser Begriff entstanden ist: „Subjekt: das ist die Terminologie unseres Glaubens an eine Einheit unter all den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls: wir verstehen diesen Glauben als Wirkung Einer Ursache, - wir glauben an unseren Glauben so weit, daß wir um seinetwillen die ,Wahrheit', ,Wirklichkeit', ,Substanzialität' überhaupt imaginiren. ,Subjekt' ist die Fiktion, als ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung Eines Substrats wären: aber wir haben erst die ,Gleichheit' dieser Zustände geschaffen; das Gleichsetzen und Zurechtmachen derselben ist der Thatbestand, nicht die Gleichheit ( - diese ist vielmehr zu leugnen -)." 203 So zeigt sich, daß das Subjekt lediglich eine Bezeichnung für das elementarste menschliche Bedürfnis nach Identität und daß der Glaube an die substantielle Einheit des denkenden Ich nur die rudimentärste Form des Willens zum „Gleichsetzen des Nichtgleichen" ist. Freilich wußte Nietzsche sehr wohl, daß mit Descartes schwer auszukommen ist, und deswegen glaubte er nicht, daß durch bloße Umwandlung des Verhältnisses zwischen dem Subjekt „Ich" und dem Prädikat „denke" sehr viel erreicht werden könne. Es schien ihm sogar, daß dies nur zu einem neuen Irrtum, nicht minder schwer als es der vorherige war, führen könne: „Abgesehen von den Gouvernanten, welche auch heute noch an die Grammatik als Veritas aeterna und folglich als Subjekt Prädikat und Objekt glauben, ist Niemand heute mehr so unschuldig, noch in der Art des Descartes das Subjekt ,ich' als Bedingung von ,denke' zu setzen; vielmehr ist durch die skeptische Bewegung der neueren Philosophie die Umkehrung, nämlich das Denken als 202 205

Ν 1884/85: K G W VII 3, 35 (35), S.248. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 10 (19), S. 131.

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Ursache und Bedingung, sowohl von ,Subjekt' wie von ,Objekt', wie von ,Substanz' wie von .Materie' anzunehmen - uns glaubwürdiger geworden: was vielleicht nur die umgekehrte Art des Irrthums ist."204 In bezug auf diese zweite Möglichkeit befaßte sich Nietzsche besonders mit Kant. Ihm zufolge habe schon dieser Begründer der klassischen deutschen idealistischen Philosophie deutlich gesehen, daß das Ich nicht getrennt vom Denken existiere, sondern als ein Produkt von dessen synthetischer Funktion aufzufassen sei. Dabei machte Nietzsche darauf aufmerksam, daß Kant irgendwie den alten indischen Gedanken erneuert habe, demgemäß das Ich etwas ganz Unwirkliches sei, ja nur einen bloßen Schein darstelle: „Die neuere Philosophie, als eine erkenntnistheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen, antichristlich: obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs antireligiös. Ehemals nämlich glaubte man an ,die Seele', wie man an die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte: man sagte ,Ich' ist Bedingung, ,denke' ist Prädikat und bedingt - Denken ist eine Thätigkeit, zu der ein Subjekt als Ursache gedacht werden muß. Nun versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit und List, ob man nicht aus diesem Netze heraus könne, - ob nicht vielleicht das Umgekehrte wahr sei: ,denke' Bedingung, ,Ich' bedingt; ,Ich' also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird. Kant wollte im Grunde beweisen, daß vom Subjekt aus das Subjekt nicht bewiesen werden könne, - das Objekt auch nicht: die Möglichkeit einer Scheinexistenz des Subjekts, also ,der Seele' mag ihm nicht immer fremd gewesen sein, jener Gedanke, welcher als Vedanta-Philosophie schon einmal und in ungeheurer Macht auf Erden dagewesen ist."205 Mit diesem Hinweis auf einen frappanten Berührungspunkt zwischen der Kantischen Philosophie und einer alten indischen Ansicht beabsichtigte Nietzsche nicht lediglich an die Möglichkeit, beide auf denselben Nenner zu bringen, zu erinnern (etwa im Hinblick auf die Wiederkunftslehre). Er wollte eigentlich vor der Gefahr warnen, die von jeder unzulänglichen Lösung droht, vor jedem Versuch, den Subjektbegriff unbedingt beizubehalten, seine Setzung irgendwie zu rechtfertigen.

6. Obwohl Nietzsche jedoch konstatiert hat, das Grundprinzip der neuzeitlichen Philosophie sei nichtig, das Subjekt sei ein leeres Wort, ein bloßer Name ohne irgendeinen realen Inhalt, begnügte er sich nicht mit der puren Negation.

204 205

Ν 1 8 8 4 / 8 5 : K G W VII 3, 40 (20), S . 3 6 9 . J G B 5 4 : K G W VI 2, S. 71. Ähnlich Ν 1 8 8 4 / 8 5 : K G W VII 3, 40 (16), S. 3 6 7 - 3 6 8 . Vgl. Ν 1 8 8 7 / 88: K G W VIII 2, 9 (60), S . 2 8 .

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Unermüdlich wiederholte er, die Fiktion des Subjekts sei förderlich und behilflich in existentiellem Sinn, und zwar nicht nur für den Menschen, sondern auch für alle anderen Lebewesen: „,Subjekt' ist die Lebensbedingung des organischen Daseins [.. .]"206 Auf diese Weise hat Nietzsche seine früher schon erwähnte Auffassung vom Ursprung der Logik in der Sphäre des organischen Lebens mutig ergänzt, wenn nicht auch bedeutend erweitert: „Der Glaube an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein ursprünglicher, ebenso alter Irrthum alles Organischen. 207 Daraus würde hervorgehen, daß für alle Lebewesen, nicht nur für den Menschen, die Regel gilt: damit man überhaupt etwas Dauerhaftes und Beständiges in der äußeren Welt erfahren kann, muß man zunächst ein Verhältnis zu sich selbst haben, man muß zunächst die eigene Identität feststellen, man muß zunächst die innere Einheit sichern. Kein Lebewesen kann standhalten ohne den Glauben an sich als Substanz, da dieser Glaube die Voraussetzung des Glaubens an Dinge ist. Allerdings bereitet diese unerwartete Erweiterung des Subjektbegriffs auf den ganzen organischen Bereich viele Schwierigkeiten (obwohl man diesen erweiterten Gebrauch gewissermaßen leicht in Beziehung zur Lehre vom Willen zur Macht bringen kann). Es ist fraglich, ob Nietzsche dazu tatsächlich mit Recht gegriffen hatte. Denn diese Erweiterung steht überhaupt nicht im Einklang mit der Grundausrichtung der neuzeitlichen Philosophie, der Nietzsche grundsätzlich huldigte - nämlich daß das Subjekt vornehmlich eine anthropologische Bestimmung sei, daß es schlechthin das menschliche Ich bezeichne. Besonders ist hervorzuheben, daß die Nietzschesche Kritik der erkenntnistheoretischen Konstruktion des Subjekts nicht allein mit dem Hinweis auf ihre Nützlichkeit endet. Weder ist dieser Hinweis das Hauptmotiv dieser Kritik, noch dient er lediglich dazu, deren scheinbar bestimmt negatives Ergebnis zu verbergen. In der Tat ist Nietzsche einen Schritt weiter in einer anderen Richtung gegangen. Ganz deutlich gab er zu verstehen, daß seine Intention keineswegs nur destruktiv und daß er durch keinen irrationalen H a ß gegen die Tradition verblendet sei. Trotz seines brutalen Angriffs auf die Metaphysik, gegen die er bis dahin nie gehörte schwere Anschuldigungen erhoben hat, hat er sie doch nicht als überflüssig verworfen. In deren Irrtum von Subjekt und Substanz erblickte er nicht so sehr ein Hindernis, vor dem man stehenbleiben müßte, sondern eine Aufgabe, die zu lösen wäre. Er enthüllte die Schwächen und Mängel alles bisherigen Philosophierens, nicht um jede Denkanstrengung sinnlos zu machen, sondern um einer neuen Denkweise den Weg zu öffnen. In vollem Bewußtsein, daß er etwas versucht,

204 207

Ν 1881/82: K G W V 2, 11 (270), S.443. Μ Α I 18: K G W IV 2, S.36. Vgl. Ν 1881/82: K G W V 2, 11 (270), S.442-443.

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was niemand vor ihm versucht hat,208 jedoch tief überzeugt, daß es an der Zeit ist, gerade das zu tun, was er tut,209 daß er etwas versucht, was nicht allein das einzig Nötige, sondern auch das einzig Mögliche der gegenwärtigen geschichtlichen Stunde ist,210 hat Nietzsche sich mit Recht zu den „eigentlichen Philosophen", zu den „Befehlende[nj" und „Gesetzgeberin]" der Zukunft, zu denjenigen, die „mit schöpferischer Hand" „über die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter [verfügen]"211 gerechnet. Seine Kritik der Metaphysik schließt wahrhaftig nicht nur eine große Epoche der Philosophie ab, vielmehr deutet sie auch auf die Möglichkeit eines neuen philosophischen Anfangs hin. Nietzsche hat zwar nicht allzuviel darüber gesagt, wie es möglich sei, die Richtung alles bisherigen Philosophierens umzukehren. Sein positives Programm ist mehr als bescheiden, sowohl hinsichtlich dessen, was er ideal verspricht, als auch hinsichtlich dessen, was er tatsächlich bietet, vorausgesetzt, daß dieses Programm überhaupt Elemente enthält, von denen man, wenn auch nur mit Vorbehalt, sagen darf, daß sie einen neuen philosophischen Standpunkt begründen. Nietzsche war so auffallend persönlich, so ungeheuerlich mit den eigenen Erlebnissen und Introspektionen beschäftigt, daß es eine große Frage ist, ob seinen Gedanken irgendeine objektive Bedeutung beigelegt, geschweige denn, ob darauf überhaupt weiter aufgebaut werden könne. Dies gilt um so mehr, als der schonungslose Kritiker aller Illusionen auch seine eigene Philosophie folgerichtig als eine perspektivische Illusion212 gebrandmarkt hat und nicht nur die ganze bisherige.213 Jedenfalls sind die Andeutungen Nietzsches alles andere eher als leicht zu verstehen, so daß sie keine baldige Verabschiedung von der Tradition versprechen. Es ist nicht klar, wie weit man überhaupt auf deren Spur gelangen kann. Es kann sein, daß Nietzsche einen ungangbaren Weg beschritten, und nicht nur, daß er sich in der Ausarbeitung 208

lm 210

211 212

213

Ν 1884/85: KGW VII 3, 40 (20), S.369: „Das Denken ist uns kein Mittel zu .erkennen', sondern das Geschehen zu bezeichnen, zu ordnen, für unsern Gebrauch handlich zu machen: so denken wir heute über das Denken: morgen vielleicht anders". Vgl. KGW VII 3, 40 (25), S. 373: „Der Glaube an die unmittelbare Gewißheit des Denkens ist ein Glaube mehr, und keine Gewißheit! Wir Neueren sind Alle Gegner des Descartes und wehren uns gegen seine dogmatische Leichtfertigkeit im Zweifel. ,Es muß besser gezweifelt werden als Descartes!'" E H Warum ich ein Schicksal bin 1: KGW VI 3, S. 363-364. Ebd., S. 364: Vgl. Ν 1887/88: KGW VIII 2, 11 (120), S.299: „Daß zwischen Subjekt und Objekt eine Art adäquater Relation stattfinde; daß das Objekt etwas ist, das von Innen gesehn Subjekt wäre, ist eine gutmüthige Erfindung, die, wie ich denke, ihre Zeit gehabt hat". JGB 211: KGB VI 2, S. 148-149. Vgl. JGB 22: KGW VI 2, S. 31: „Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist - und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? - nun, um so besser". Von dieser Stelle ausgehend versucht neuerdings Wolfgang Müller-Lauter in seiner schon erwähnten Abhandlung, den Perspektivismus Nietzsches eingehend zu analysieren (a. a. O., S. 41-60). Vgl. hierzu Ruediger Hermann Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge, S. 164. Vgl. Ν 1887/88: KGW VIII 2, 11 (415), S.435: „Daß die Lüge nöthig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins..."

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seines Ansatzes schwer getäuscht hat. Eines ist jedoch klar - daß Nietzsche sich der Schwere und der Gefahr der Aufgabe, die er sich vorgenommen hatte, tief bewußt war: „Meine Philosophie - den Menschen aus dem Schein herauszuziehen auf jede Gefahr hin! Auch keine Furcht vor dem Zugrundegehen des Lebens!"214 An einer anderen Stelle verweist Nietzsche wiederum auf die Gefahr, der er sich selbst auf dem Weg, den er eingeschlagen hatte, aussetzt: „[...] denn für einen, der solche Dinge denkt, wie ich sie denken muß, ist die Gefahr immer ganz in der Nähe, daß er sich selber zerstört."215 Diese Worte klingen fast wie eine dramatische Vorwegnahme des späteren tatsächlichen Zusammenbruchs ihres Urhebers. Die Kritik des Subjektbegriffs war für Nietzsche außerordentlich wichtig, vor allem deshalb, weil ihm der Gedanke vorschwebte, dies sei der einzige Begriff, der mit seinem vorausgesetzten Sein identisch ist, dieser Begriff sei das Grundmodell der Identität, durch ihn werde zunächst die Einheit konstituiert, die sich als Grundlage aller logischen Funktionen findet. Wichtig war sie ihm auch nicht weniger deshalb, weil er fest daran glaubte, daß an diesem Beispiel die ganze theoretische Fragwürdigkeit des diskursiven Begriffs vor allem und am besten gezeigt werden könne. In diesem Sinn sagt Nietzsche: „Wenn unser ,Ich' uns das einzige Sein ist, nach dem wir Alles sein machen oder verstehen: sehr gut! dann ist der Zweifel sehr am Platze ob hier nicht eine perspektivische Illusion vorliegt - die scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt."2" In der Wirklichkeit entspricht nichts demjenigen, was unter Subjekt verstanden wird, und zwar unserem Glauben zum Trotz, daß wir uns in unserem inneren Kern gegen die reißende Zeit durchhalten, unabhängig von allen äußeren Veränderungen, die an uns dabei stattfinden. Es besteht keinerlei Aussicht, die Logik zu überwinden, bevor der Irrtum, daß unser Ich wirklich existiere, überwunden wird. Die Auflösung der vermeintlichen Einheit in der Vielheit ist eine unumgängliche Bedingung für jeden weiteren Fortschritt: „Aber wir haben ein Bewußtsein, als ob wir Alles sein wollten und sollten, eine Phantasterei von ,Ich' und allem ,Nicht-Ich'. Aufhören, sich als solches phantastisches ego zu fühlen! Schrittweise lernen das vermeintliche Individuum abzuwerfen! Die Irrthümer des ego entdecken! Den Egoismus als Irrtum einsehen! Als Gegensatz ja nicht Altruismus zu verstehen! Das wäre die Liebe zu den anderen vermeintlichen Individuen! Nein! Uber ,mich' und ,dich' hinaus! Kosmisch empfinden!""7 Denselben Gedanken hat Nietzsche auch folgendermaßen ausgedrückt: „Wir haben Einheiten nöthig,

2,4 215 216 217

Ν 1 8 8 1 / 8 2 : K G W V 2, 13 (12), S. 518. Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 1 (1), S.5. Ebd., 2 ( 9 1 ) , S. 104. Ν 1 8 8 1 / 8 2 : K G W V 2, 11 (7), S . 3 4 1 .

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um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten giebt. Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von unserem ,Ich'begriff, unserem ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff ,Ding' gebildet. Jetzt, ziemlich spät, sind wir reichlich davon überzeugt, daß unsere Conception des Ich-Begriffs nichts für eine reale Einheit verbürgt."218 An dieser zweiten Stelle ist der epochale Rahmen der Nietzscheschen Kritik nur viel deutlicher angegeben, nämlich daß der fiktive Charakter des Subjekts erst aus der Perspektive des Endes der Metaphysik sichtbar geworden ist. In ausdrücklichem Gegensatz zur gesamten philosophischen Tradition behauptet Nietzsche, daß man die Wirklichkeit vollkommen verkenne, wenn man glaube, daß es in ihr irgend etwas gebe, das durchaus massiv, sozusagen aus einem Stück gebildet wäre. Das Subjekt ist keine einfache Einheit wie die Substanz, sondern eine komplizierte Vielheit, deren Grenzen ganz ungewiß sind: „Die Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht nothwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zu Grunde liegt? Eine Art Aristokratie von ,Zellen', in denen die Herrschaft ruht? Gewiß von pares, welche mit einander, an's Regieren gewöhnt sind und zu befehlen verstehen?"219 Die Einheit ist unbeständig, die Verschiedenheit ist allem Seienden eigentümlich: „Keine Subjekt-,Atome*. Die Sphäre eines Subjekts beständig wachsend, oder sich vermindernd - der Mittelpunkt des Systems sich beständig verschiebend - ; im Falle es die angeeignete Masse nicht organisiren kann, zerfällt es in 2. Andererseits kann es sich ein schwächeres Subjekt, ohne es zu vernichten, zu einem Funktionär umbilden und bis zu einem gewissen Grad mit ihm zusammen eine neue Einheit bilden. Keine ,Substanz', vielmehr Etwas, das an sich nach Verstärkung strebt, und das sich nur indirekt ,erhalten' will (es will sich überbieten -)". 2 2 0 Auch das Kleinste ist nicht das Letzte, denn darin herrscht auch Spannung: „Die Annahme von Atomen ist nur eine Consequenz vom Subjekts- und Substanz-Begriff: irgendwo muß es ,ein Ding' geben, von wo die Thätigkeit ausgeht. Das Atom ist der letzte Abkömmling des Seelenbegriffs."221 „Es giebt keine dauerhaften letzten Einheiten, keine Atome, keine Monaden; auch hier ist ,das Seiende' erst von uns hineingelegt (aus praktischen, perspektivischen Gründen)."222 Die Einheit hat einen Zwangscharakter, sie dauert nur, solange die Kraft, die sie herstellt, stark genug ist, um sie zu 218 215 220 221 222

Ν Ν Ν Ν Ν

1888/89: 1884/85: 1887/88: 1885/87: 1887/88:

KGW KGW KGW KGW KGW

VIII 3, 14 (79), S.50. VII 3, 40 (42), S.382. VIII 2, 9 (98), S. 55-56. VIII 1, 1 (32), S. 14. VIII 2, 11 (73), S.278.

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erhalten: „Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie; somit ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht Eins ist. "2" Es sei hier bemerkt, daß Nietzsche nicht nur vom Menschen als einer Vielheit spricht (obwohl er sehr oft gerade den Menschen und seine Schöpfungen als Beispiel nimmt), vielmehr behauptet er, daß alles Seiende aus vielen Teilen bestehe, daß sich alles teile, trenne, zerfalle. Wegen dieser Neigung zur Verallgemeinerung ist es zu vielen falschen Deutungen seiner Grundabsicht gekommen. Nietzsche sagt: „Der Mensch als Vielheit: die Physiologie giebt nur die Andeutung eines wunderbaren Verkehrs zwischen dieser Vielheit und Unter- und Einordnung der Theile zu einem Ganzen. Aber es wäre falsch, aus einem Staate nothwendig auf einen absoluten Monarchen zu schließen (die Einheit des Subjekts)."224 „Die Zelle ist zunächst mehr Glied als Individuum; das Individuum wird im Verlauf der Entwicklung immer complicirter, immer mehr Gliedergruppe, Gesellschaft. Der freie Mensch ist ein Staat und eine Gesellschaft von Individuen."225 „Das Schwächere drängt sich zum Stärkeren, aus Nahrungsnoth; es will unterschlüpfen, mit ihm womöglich Eins werden. Der Stärkere wehrt umgekehrt ab von sich, er will nicht in dieser Weise zu Grunde gehen; vielmehr, im Wachsen, spaltet er sich zu Zweien und Mehreren. Je größer der Drang ist zur Einheit, um so mehr darf man auf Schwäche schließen; je mehr der Drang nach Varietät, Differenz, innerlichem Zerfall, um so mehr Kraft ist da."226 „Alles, was einfach ist, ist bloß imaginär, ist nicht ,wahr'. Was aber wirklich, was wahr ist, ist weder Eins, noch auch nur reduzirbar auf Eins."227 Im Sinne dieser wesentlichen Einsicht Nietzsches muß man sagen, daß nichts einheitlich und beständig nach der Art von Substanz ist, daß sogar das Protoplasma228 ein kompliziertes Gefüge von verschiedensten Verhältnissen und Tätigkeiten ausmacht, nicht nur, daß hinter dem Bewußtsein und dem Willen jedes konkreten einzelnen Menschen eine Vielheit von Bewußtsein und Willen besteht. Nietzsche hat freilich nicht zufällig die Einheit in der Vielheit aufgelöst. Er beschränkte sich nicht darauf, das Verhältnis zwischen den beiden rein formallogisch zu erörtern. Dieser Gedankenschritt ist am unmittelbarsten mit seiner Lehre vom Willen zur Macht verbunden, wenn er nicht auch den wichtigsten Bestandteil dieser Lehre bildet. Denn diese Lehre hat Nietzsche als eine 223 224 225 226 227 228

Ν 1885/87: KGW VIII 1, 2 (87), S. 102. Ν 1884: KGW VII 2, 27 (8), S. 276-277. Ν 1881/82: KGW V 2, 11 (130), S.386. Ν 1884/85: KGW VII 3, 36 (21), S.284. Ν 1888/89: KGW VIII 3, 15 (118), S. 272-273. Vgl. Ν 1884/85: KGW VII 3, 35 (58), 35 (59), S.259.

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mögliche Perspektive aufgestellt, aus der sich die Welt als Spiel und Gegenspiel von Kräften zeigt, d. h. als Kampf von dynamischen Quanten und nicht als irgendein metaphysisches Prinzip, nach dem alles geschieht und auf Grund dessen alles erklärt wird. Nach Nietzsches Ansicht ist der Wille zur Macht zugleich Einheit und Vielheit, und das bedeutet, daß er jeder substantiellen Eigenschaft entbehrt. Alles Geschehen ist nur ein jeweiliger Ausdruck oder eine Ausprägung der wirklichen Verhältnisse zwischen den Kräften, welche um die Ubermacht kämpfen. Obwohl der Wille zur Macht überall uneingeschränkt waltet, sowohl in der organischen als auch in der anorganischen Welt, so daß seine Formen und Manifestationen sehr verschiedenartig sind, spricht Nietzsche am häufigsten von Trieben und Impulsen als dessen Trägern: „Der Mensch hat, im Gegensatz zum Thier, eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich groß gezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde. - Moralen sind der Ausdruck lokal beschränkter Rangordnungen in dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren Widersprüchen der Mensch nicht zu Grunde geht. Also ein Trieb als Herr, sein Gegentrieb geschwächt, verfeinert, als Impuls, der den Reiz für die Thätigkeit des Haupttriebes abgiebt."229 Ahnlich an einer anderen Stelle: „Der Mensch ist eine Vielheit von , Willen zur Macht' jeder mit einer Vielheit von Ausdrucksmitteln und Formen. Die einzelnen angeblichen .Leidenschaften' (ζ. B. der Mensch ist grausam) sind nur fiktive Einheiten, insofern das, was von den verschiedenen Grundtrieben her als gleichartig ins Bewußtsein tritt, synthetisch zu einem ,Wesen' oder ,Vermögen', zu einer Leidenschaft zusammengedichtet wird. Ebenso also, wie die ,Seele' selber ein Ausdruck für alle Phänomene des Bewußtseins ist: den wir aber als Ursache aller dieser Phänomene auslegen (das ,Selbstbewußtsein' ist fiktiv!)." 2 ' 0 Aber der Mensch ist nicht nur ein bestimmtes Quantum von Macht, welches in sich eine unzählige Vielheit von Willen zur Macht organisiert. Er gehört zusammen mit anderen Menschen zugleich auch anderen, höheren Gebilden an, ζ. B. Völkern, Staaten und Gesellschaften Nietzsche nennt sie „die letzten Organismen, deren Bildung wir sehen"231 - , welche ebenso nur Beispiele des Willens zur Macht sind. Nietzsche betont, daß sich die Vielheit viel besser am Leib als an der Vernunft aufweisen lasse. Zweifellos tut er es, weil der Leib komplizierter ist, als alles, was die Vernunft selbständig ersinnen kann, jedoch nicht weniger auch, weil der Leib unmittelbar zum Ganzen der werdenden Wirklichkeit gehört, so daß er nicht erst nachträglich irgendwelche „objektiven" Vorstellungen über dessen einzelne Teile bilden muß. Der Leib ist kein materielles

229 230 231

Ν 1884: K G W VII 2, 2 7 (59), S . 2 8 9 . Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 1 (58), S . 2 1 . Ν 1 8 8 1 / 8 2 : K G W V 2, 11 (316), S . 4 6 1 .

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dem Geist entgegengesetztes Substrat, keine starre Substanz, welche dem bewußten Ich als Akzidenz gegenübersteht, sondern er ist ein kompliziertes organisches System, in dem die verschiedensten Lebensimpulse verflochten sind. „Unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen", sagt Nietzsche.232 Als Ebenbild der bewegten Vielheit, als unmittelbare anschauliche Vergegenwärtigung der Nicht-Identität, sichert der Leib einen angemesseneren Zugang zur Wirklichkeit: „Wir halten es für eine Voreiligkeit, daß gerade das menschliche Bewußtsein so lange als die höchste Stufe der organischen Entwicklung und als das Erstaunlichste aller irdischen Dinge, ja gleichsam als deren Blüte und Ziel angesehen wurde. Das Erstaunlichere ist vielmehr der Leib: man kann es nicht zu Ende bewundern, wie der menschliche Leib möglich geworden ist: wie eine solche ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen, jedes abhängig und unterthänig und doch in gewissem Sinne wiederum befehlend und aus eignem Willen handelnd, als Ganzes leben, wachsen, und eine Zeit lang bestehen kann - : und dies geschieht ersichtlich nicht durch das Bewußtsein! Zu diesem .Wunder der Wunder' ist das Bewußtsein eben nur ein .Werkzeug' und nicht mehr - im gleichen Verstände, in dem der Magen ein Werkzeug dazu ist. Die prachtvolle Zusammenbindung des vielfachsten Lebens, die Anordnung und Einordnung der höheren und niederen Thätigkeiten, der tausendfältige Gehorsam welcher kein blinder, noch weniger ein mechanischer, sondern ein wählender, kluger, rücksichtsvoller, selbst widerstrebender Gehorsam ist - dieses ganze Phänomen ,Leib' ist nach intellectuellem Maße gemessen unserem Bewußtsein, unserem ,Geist', unserem bewußten Denken, Fühlen, Wollen so überlegen, wie Algebra dem Einmaleins. [ . . . ] Und auch jene kleinsten lebendigen Wesen, welche unseren Leib constituiren (richtiger: von deren Zusammenwirken das was wir ,Leib* nennen, das beste Gleichniß ist - ) , gelten uns nicht als Seelen-Atome, vielmehr als etwas Wachsendes, Kämpfendes, Sich-Vermehrendes und Wieder-Absterbendes: so daß ihre Zahl unbeständig wechselt, und unser Leben wie jegliches Leben zugleich und fortwährendes Sterben ist."233 „Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils mit einander kämpfend, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkürlich auch das Ganze bejahen. Unter diesen lebenden Wesen giebt es solche, welche in höherem Maaße Herrschende als Gehorchende sind, und unter diesen giebt es wieder Kampf und Sieg. Die Gesamtheit des Menschen hat alle jene Eigenschaften des Organischen, die uns zum Theil unbewußt bleiben (zum Theil) in der Gestalt von Trieben bewußt

232 233

J G B 19: KGW VI 2, S.27. Ν 1884/85: KGW VII 3, 37 (4), S. 302-303.

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werden."234 „Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure Vielfachheit: es ist methodisch erlaubt, das besser studirbare reichere Phänomen zum Leitfaden für das Verständniß des ärmeren zu benutzen."235 So erweist sich, daß die Vielheit dem Leib eher verständlich ist als der Vernunft, weil der Leib umfassender, reicher, mannigfaltiger ist als die Vernunft. Nietzsche zieht methodisch den Leib der Vernunft vor. Das traditionelle Schema ihres wechselseitigen Verhältnisses wird von Grund auf geändert. Daraus folgt, daß allein der Leib als Leitfaden der Erkenntnis gebraucht werden kann, daß von ihm ausgegangen werden soll, daß man sich von ihm leiten lassen muß. Dabei verwirft Nietzsche nicht die Vernunft, sondern unterstellt sie dem Leib, er verbindet sie fest mit ihm. Für ihn ist der Leib die „große Vernunft", da er in sich alle nähere und fernere Vergangenheit der gesamten bisherigen Entwicklung trägt, so daß er in jeder Hinsicht die überlieferte „kleine Vernunft" übertrifft.236 Nietzsche sagt: „Wesentlich, vom Leibe ausgehen und ihn als Leitfaden zu benutzen. Er ist das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt. Der Glaube an den Leib ist besser festgestellt als der Glaube an den Geist."237 „Am Leitfaden des Leibes. - Gesetzt, daß ,die Seele' ein anziehender und geheimnißvoller Gedanke war, von dem sich die Philosophen mit Recht nur widerstrebend getrennt haben vielleicht ist das, was sie nunmehr dagegen einzutauschen lernen, noch anziehender, noch geheimnisvoller. Der menschliche Leib, an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch, über den hinweg und hinaus ein ungeheurer unhörbarer Strom zu fließen scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte ,Seele'. [ . . . ] Es ist zu allen Zeiten besser an den Leib als an unser gewissestes Sein, kurz als ego geglaubt worden als an den Geist (oder die ,Seele' oder das Subjekt, wie die Schulsprache jetzt statt Seele sagt). Niemand kam je auf den Einfall, seinen Magen als einen fremden, etwa göttlichen Magen zu verstehen: aber seine Gedanken als ,eingegeben', seine Werthschätzungen als ,νοη einem Gott eingeblasen', seine Instinkte als Thätigkeit im Dämmern zu fassen: für diesen Hang und Geschmack des Menschen giebt es aus allen Altern der Menschheit Zeugnisse."238 Obwohl er auf die Vernunft des Leibes in zweifellos programmatischem Sinne verweist, und nicht nur weil ihn diese paradoxe Wendung bloß literarisch anzieht, läßt sich Nietzsche in keine Einzelheiten ein. Wir können nur mutmaßen, was unter dieser Vernunft tatsächlich zu verstehen ist, wenn es überhaupt etwas mehr ist, 234 235 236 237 238

Ν 1884: KGW VII 2, 27 (27), S.282. Ν 1885/87: KGW VIII 1, 2 (91), S. 104. Za I, Von den Verächtern des Leibes: KGW VI 1, S.35. Ν 1884/85: KGW VII 3, 40 (15), S. 367. Ähnlich Ν 1885/87: KGW VIII1, 5 (56), S.209-210. Ν 1884/85: KGW VII 3, 36 (35), 36 (36), S.289.

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als ein Schlagwort, mit dem Nietzsche das überlieferte idealistische Schema des Weltverständnisses brandmarken wollte.239 Gleich sei gesagt, daß dieses Sich-auf-den-Leib-Berufen dem Nietzscheschen erkenntnistheoretischen Ansatz eine ganz eigenartige Prägung gibt. Diese Wendung ist keine rein persönliche, rein private Sache, so daß jedes Gespräch darüber schon von vornherein zum Mißerfolg verurteilt wäre. Es liegt weder Leichtsinniges noch Unverbindliches in diesem Schritt Nietzsches und am wenigsten etwas Mißliches und Unziemendes (was jeder vermeintlich meiden müßte, dem wirklich an der Philosophie gelegen ist). Nichts ist bedenklicher, als die Bedeutung dieses programmatischen Hinweises zu unterschätzen, leichthin darüber hinwegzugehen. Denn Nietzsche hat den Leib in den Vordergrund gerückt, nicht um die Zweifel an der Möglichkeit der Erkenntnis zu bestärken oder um über diejenigen, die noch glauben, daß irgendwie etwas erkannt werden könne, zu spotten, sondern deshalb, weil er fest überzeugt war, dies sei der einzige Weg zur wirklichen Erkenntnis. Seine Formel „am Leitfaden des Leibes" bricht radikal mit der überlieferten Auffassung des menschlichen Erkenntnisvermögens. Es handelt sich nicht um die Zerstörung der Vernunft und besonders nicht darum, ihre Unfähigkeit, Wahrheit zu erkennen, zu beklagen, sondern um den Versuch ihrer wesentlich andersartigen Bestimmung. Da Nietzsche das künstlerische Schaffen als Vorbild und Maßstab des philosophischen Denkens genommen hat, könnte diese neue, verwandelte Vernunft, die keine Zwangsinstanz der Affekte und Leidenschaften mehr darstellt, sondern dem Leib immanent ist, am allerersten die ästhetische Vernunft genannt werden.240 Indem er auf den bisher verachteten menschlichen Leib hindeutete, beabsichtigte Nietzsche nicht, die Spaltung zwischen dem Leib und dem bewußten Ich zu verewigen. Eher könnte man sagen, daß er bemüht war, diese Spaltung zu überbrücken. Dies gilt insofern, als Nietzsche die Sinne und die Vernunft der gleichen Instanz unterordnete (wobei er deren Funktionen abänderte), daß er sie zusammen als „Augen" und „Ohren" des Leibes auffaßte.241 Vielleicht gilt es noch mehr deshalb, weil Nietzsche den Leib als unser eigentliches „Selbst"242 auffaßte, als dasjenige,

239

Daß Nietzsche die Vernunft „wirklich als Vernunft, also dialektisch, denkt", bezweifelt Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein I. Einleitung. Spannweite des Problems (Frankfurt/M.: Akademische Verlagsgesellschaft, 1964), S.26.

240

Daß die ganze Nietzschesche Kritik der überlieferten idealistischen Auffassung der Vernunft als bewußtes Ich in erster Linie einen Versuch darstellt, die Vernunft in neuer ästhetischer Gestalt zu rehabilitieren, macht geltend Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie (Köln/Wien: Böhlau, 1980), insbes. S. 2 8 9 - 2 9 5 . Daß Nietzsche der ästhetischen Denkweise den Vorrang vor der rationalen einräumte, erklärt Ruediger Hermann Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge, S. 137-139.

24

' Za I, Von den Verächtern des Leibes: K G W VI 1, S.35. Ebd., S. 3 5 - 3 6 .

242

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was gleichsam unser Sein ausmacht. Jedenfalls ist es unzweifelhaft, daß Nietzsche vornehmlich erkenntnistheoretischen Interessen folgte, als er den Leib demjenigen vorzog, was gewöhnlich unter Seele verstanden wird. Deutlich gab er zu verstehen, daß er sich deswegen auf den Leib beruft, weil ihm wirklich an der Erkenntnis gelegen ist, weil er das Denken zu neuen Anstrengungen bewegen, die Philosophie in eine neue Richtung leiten will. Diese Wendung Nietzsches auf erkenntnistheoretischer Ebene hängt offenkundig mit seiner tiefsten ontologischen Uberzeugung, mit seiner heraklitischen243 Vision der Welt als eines kontinuierlichen Prozesses, als eines unaufhörlichen Werdens unmittelbar zusammen, so als könnte er lediglich derart seine neue Erfahrung des Seins rechtfertigen, wenn schon nicht auch begründen. Näheres darüber jedoch etwas später. Hier kann nur betont werden, daß dieser Hinweis auf den Leib als Leitfaden der Erkenntnis ganz im Einklang damit steht, wie Nietzsche die überlieferte „kleine Vernunft" (oder „Geist"), d. h. die „reine" Vernunft, die Vernunft getrennt vom Sein, sah. Ihm schien es unzweifelhaft, daß diese Vernunft nichts zum Erkennen des Seienden beitrage, daß sie für immer auf der Oberfläche der Dinge bleibe, da sie an die Wirklichkeit nicht unmittelbar herantrete, sondern erst mittels der sinnlichen Eindrücke, Hypothesen und Schlußfolgerungen. Nach Nietzsches Ansicht ist diese Vernunft hoffnungslos zum Irrtum verurteilt, da ihr keine andere Wahl bleibt, als Fiktionen zu produzieren. 2 " Das Zugeständnis Nietzsches bei dieser Gelegenheit, diese Vernunft sei praktisch-technisch vollkommen ausgerüstet und könne gerade deswegen den Interessen der Erhaltung des bloßen Lebens, d. h. der Errichtung menschlicher Herrschaft über die Natur sehr gut dienen, vermag nichts daran zu ändern. Denn all diese nützliche Bearbeitung des chaotischen Sinnenmaterials hat nichts mit der Erkenntnis zu tun, der diskursive Begriff reicht nicht bis zum „wirklich Vorhandenen",245 er führt nicht in das „Wesen der Dinge". 246 Braucht man noch besonders hervorzuheben, daß Nietzsche mit Recht Zuflucht auf einer anderen Seite suchte, daß er sich mit gutem Grund auf ein anderes, umfassenderes Prinzip berief, nachdem er schon festgestellt hatte, die überlieferte Vernunft, deren kategoriale Bestimmungen

243

Ü b e r Nietzsches Verhältnis zu Heraklit vgl. insbes. G D Die ,Vernunft' in der Philosophie 2 : K G W VI 3, S . 6 9 ; E H Die Geburt der Tragödie 3 : K G W VI 3, S . 3 1 0 - 3 1 1 . Vgl. Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W VIII 3, 14 (116), S . 8 5 : „Unsere heutige Denkweise ist in einem hohen Grade heraklitisch, demokritisch und p r o t a g o r e i s c h . . . es genügte zu sagen, dass sie protagoreisch (sei), weil Protagoras die beiden Stücke Heraklit und Demokrit in sich zusammennahm".

244

F W 3 3 3 : K G W V 2, S. 2 3 9 : „Das bewusste Denken, und namentlich das des Philosophen, ist die unkräftigste und desshalb auch die vehältnissmässig mildeste und ruhigste A r t des Denkens: und so kann gerade der Philosoph am leichtesten über die N a t u r des Erkennens irre geführt werden". Ν 1 8 8 4 / 8 5 : K G W VII 3, 40 (8), S . 3 6 3 . Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 6 (23), S . 2 4 7 . Vgl. Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W VIII 3, 14 (122), S . 9 5 .

245 246

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keine Erkenntniswert hätten, sei ein bloßes Werkzeug des menschlichen Bedürfnisses nach Stabilisierung? Schon dadurch, daß er den überlieferten Begriff der Seele zugunsten des Leibes ablehnte, daß er dem Leib eine entscheidende Rolle im Erkenntnisprozeß zuschrieb, mußte Nietzsche auch den traditionellen Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Vernunft preisgeben. Energisch verwahrte er sich nicht nur gegen jede Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Vernunft, sondern auch gegen jeden Versuch, die beiden nachträglich zu verbinden. Er hat gezeigt, daß der erbitterte Streit zwischen Empirismus und Rationalismus in der traditionellen Erkenntnistheorie nur deswegen möglich war, weil man irrtümlicherweise vermutete, die Sinne und die Vernunft seien gesonderte, selbständige Erkenntnisorgane. Indes gibt nichts den Vertretern der Sinne wie auch den Vertretern der Vernunft das Recht zu behaupten, daß ihre Quelle der Erkenntnis die richtige sei. „Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen", sagt Nietzsche.247 Der Sinn dieses Satzes kann nur darin liegen, daß es keinen spezialisierten Erkenntnisapparat gibt, der dem Menschen zur Verfügung steht wie eine künstliche Fortsetzung seines Selbst, und nicht, daß der Mensch grundsätzlich nichts erkennen kann. Nietzsche will eigentlich sagen, daß man an die Wirklichkeit nicht mit irgendwelchen unzulänglichen Mitteln herantreten könne, daß die Erkenntnis weder ein rein intellektueller noch ein rein sinnlicher Prozeß sei und auch keine mechanische Mischung von beiden. Der Mensch erkennt nicht mittels eines gesonderten Organs, was er auch über seine Fähigkeit dazu sich einbilden mag, sondern aufgrund seines ganzen Wesens. Der Erkenntnisprozeß ist nur deswegen in vollem Sinn des Wortes ein schöpferischer Akt,248 weil in ihm das menschliche Selbst ungeteilt zum Ausdruck kommt. So erhält Nietzsches Berufung auf den Leib als Leitfaden der Erkenntnis einen ganz bestimmten Sinn.24' Im Blick darauf, daß er die Erkenntnis als allumfassende Selbstbehauptung des Willens zur Macht aufgefaßt hat und nicht als eine spezifische Tätigkeit des bewußten Ich, ist es eine große Frage, ob Nietzsche überhaupt bei der Formulierung seines positiven Programms nach solchen Ausdrücken wie „Vernunft" und „Denken" greifen durfte. Diese Bezeichnungen sind dem höchsten Erkenntnis-Vermögen im Sinne seines Ansatzes, bzw. der Vollzugsweise dieses Vermögens nicht angemessen. Denn diese traditionellen Ausdrücke haben eine ganz bestimmte Bedeutung, sie weisen gerade auf dasjenige hin, was Nietzsche mit seiner Berufung auf den Leib als Leitfaden überwinden

247 248 249

F W 3 5 4 : K G W V 2, S . 2 7 5 . Vgl. Ν 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 5 (1) 213, S . 2 1 5 ; 5 (1) 215, S . 2 1 5 - 2 1 6 ; 5 (1) 223, S . 2 1 6 . Natürlich als Ausdruck und Bestätigung seines Perspektivismus. Vgl. Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W V I I I 1 , 7 (60), S. 323.

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wollte. Sie unterscheiden sich in so hohem Maße von seiner übrigen Terminologie, daß sie buchstäblich in die Augen stechen! Nietzsche war sich dieser Schwierigkeit völlig bewußt, fand jedoch keinen befriedigenden Ausweg. Ausdrücklich stellte er fest: „Es giebt weder ,Geist', noch Vernunft, noch Denken, noch Bewußtsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit", er fügte sogar hinzu, dies seien „alles Fiktionen, die unbrauchbar sind",250 nahm aber diese alten Bezeichnungen in sein Vokabular auf und bediente sich ihrer auch frei weiter, wohl weil es anders kaum möglich war, weil er, hätte er völlig darauf verzichtet, wahrscheinlich hätte schweigen müssen. Nietzsche hat doch deutlich genug angegeben, daß Vernunft und Denken bei ihm etwas ganz anderes bedeuten als in der Tradition, daß diese alten Ausdrücke bei ihm als „Zeichenfigurieren und nicht mehr als Begriffe in strengem Sinn des Wortes. Auf diese Weise ist er wenigstens einigermaßen der Gefahr entkommen, in seiner Grundintention mißverstanden zu werden. Dabei muß man beachten, daß über die Klarheit und Deutlichkeit in bezug auf Nietzsches Verwendung der überlieferten Begriffe nur mit Vorbehalt gesprochen werden kann. Alle diese Begriffe verwandeln sich bei ihm in eigenartige „Gegen-Begriffe", 252 die grundsätzlich jeder eindeutigen Bestimmung Trotz bieten. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, den „Blick des Erkennenden"253 zu schärfen, genauer „jenen Abgrund von Leichtfertigkeit und Lüge",254 in dem die Menschheit bisher gelebt hat, zu beleuchten und zu entlarven, und nicht darin, gänzlich an die Stelle der alten Begriffe zu treten oder gar sie durch eine neue Starrheit zu ersetzen. Da sie „schwere" Gedanken tragen, die sich von den „leichten"255 dadurch unterscheiden, daß sie keine Antwort auf jenes „was" des Seienden in Form eines logischen Urteils bringen, so daß man sie nicht in einfache Teile zerlegen und allgemein verständlich machen kann, sind diese Begriffe eher Bilder und Metaphern, und das bedeutet, daß sie keineswegs klar und deutlich in jenem Sinn sein können, in dem die alten Begriffe klar und deutlich waren. Insofern mußte das, was Nietzsche „große Vernunft", bzw. „nihilistische Denkungsweise"256 nennt, bei ihm notwendig im Provisorischen bleiben. In so hohem Grade war sich Nietzsche der Widersprüchlichkeit seiner Lage bewußt, so sicher war dieser Verfechter der Experimental-Philosophie,257 250 251

252 253 254 255 256 257

Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (122), S. 93-94. Und zwar als Zeichen „von einem Spiel und Kampf der Affekte", denn „sie hängen immer mit ihren verborgenen Wurzeln zusammen". Vgl. Ν 1885/87: KGW VIII 1, 1 (75), S.25. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 23 (3) 3, S.413. J G B 71: K G W VI 2, S.86. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 23 (3) 3, S.413. Ebd., 18 (13), S. 335. Ebd., 22 (3), S. 393. Vgl. K G W VIII 3, 16 (32), S.288.

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daß er sich in etwas Unbekanntes eingelassen habe, daß er an der Grenze des Unsagbaren angekommen sei, daß er sich folglich nicht viel Mühe mit seiner neuen Bestimmung des Leibes als Leitfadens der Erkenntnis gab, sogar auch dort nicht, wo dies möglich gewesen wäre. Noch ärger ist, daß Nietzsche auch in seinen äußerst seltenen und spärlichen Äußerungen darüber nicht folgerichtig war. An einer Stelle scheint es sogar, daß er seinen Grundgedanken hinsichtlich des Leibes völlig vergessen habe, daß er gerade das Wichtigste, was er damit erzielen wollte, außer acht ließ. Völlig unerwartet fand er es nötig, folgendes zu unterstreichen: „Der Instinkt der Nützlichkeit, so zu schließen wie wir schließen, steckt uns im Leibe, wir sind beinahe dieser Instinkt." 258 Hier hat Nietzsche offenkundig den Leib auf eine ganz eingeengte biologisch-pragmatistische Funktion reduziert, ihn als bloße Natur aufgefaßt und in Beziehung mit der „kleinen Vernunft" gebracht, welche die Wirklichkeit verfälscht, um dem Menschengeschlecht zu helfen, sich am Leben zu erhalten. Es ist nicht leicht zu verstehen, wie es zu solch einem Versehen überhaupt gekommen ist. Es wäre jedoch trotz dieses Schwankens unstatthaft zu folgern, Nietzsche habe dadurch sein grundlegendes erkenntnistheoretisches Prinzip in Frage gestellt.

7. Was hat Nietzsche durch seinen Kampf gegen den logischen Zwang wirklich erreicht? Was für eine Perspektive öffnet seine Kritik der metaphysischen Verschränkung von Subjekt und Substanz? Worin besteht seine „furchtbare"1" Wahrheit, die Wahrheit des Leibes, diese, wie es ihm selbst schien, in jeder Hinsicht wahrhaftigere Wahrheit als diejenige, die bis dahin herrschte? Hat es überhaupt einen Sinn, über irgendwelche dauernden Errungenschaften seines Gedankenexperiments zu sprechen? Zuerst ist der mögliche Einwand zurückzuweisen, Nietzsches Bemühung sei vergeblich, da sie jenes, was sie zunächst grundsätzlich verwerfe, nachträglich heimlich wieder einführe. Für jeden auch nur einigermaßen philosophisch gebildeten Leser ist dieser Einwand naheliegend, er drängt sich ihm von selbst auf, scheint sogar unumgänglich. Man gewinnt nämlich den Eindruck, daß Nietzsche nur scheinbar die Logik der Identität aufgegeben habe, als er das Subjekt in eine Vielheit von Subjekten auflöste. Denn jede Vielheit besteht aus neuen Subjekten, von denen jedes für sich eine Einheit niederen Ranges ausmacht. Anstatt den überlieferten Subjektbegriff (im Sinne von Substanz) 258 259

Ebd., 14 (152), S. 126. Ebd., 25 (6) 1, S. 454.

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völlig abzulehnen, unterlag Nietzsche doch letztlich seinen Ansprüchen: er entdeckte die Einheit auf dem Grund jeder Vielheit, er faßte die zerbrochenen Teile des Subjektes als neue selbständige Ganzheiten. Das würde bedeuten, daß Nietzsche sich von der metaphysischen Denkweise nicht gelöst habe, daß bei ihm noch immer die starre Identität walte, nur in verkleideter Form, da seine Philosophie einen Fortschritt in bezug auf die traditionelle nur insofern bezeichne, als die überlieferte Vorstellung des Subjekts darin auf eine subtilere, verfeinertere Weise gebraucht werde. Mit der Sache steht es jedoch ganz anders als es auf den ersten Blick scheinen mag.260 Der angeführte vermeintliche Einwand trifft nur die Formulierung Nietzsches, nicht aber das wirkliche Ergebnis seiner Bemühung. Es trifft einfach nicht zu, daß Nietzsche der Vielheit das zuschrieb, was er der Einheit verweigerte, geschweige denn, daß er stillschweigend das eigentlich Wirkliche nur als substantielles Sein begriff. In der Tat kannte Nietzsche sehr gut die ungeheuren Schwierigkeiten, auf die er stieß, ihm war gut bekannt, daß die neue ontologische Erfahrung nicht anders ausgedrückt werden kann als durch die gleichen, mit metaphysischer Prägung so hoffnungslos belasteten Worte. Obwohl die Sprache ein vollkommen unangemessenes Ausdrucksmittel ist, ist doch jeder darauf angewiesen, der überhaupt versuchen will, diese neue Erfahrung auch nur einigermaßen verständlich zu machen. Deshalb darf man Nietzsche nicht buchstäblich beim Wort nehmen, von dem er auch selbst so sehr zurückscheute, gegenüber dem er auch selbst so sehr mißtrauisch war. Wenn Nietzsche sagt, daß das „Subjekt" sich in eine „Vielheit von Subjekten" auflöse, so setzt er den Satz der Identität in Klammern, er denkt nicht mehr an das „Subjekt" im traditionellen Sinn. Obwohl er die alte Bezeichnung verwendet, da ihm keine anderen Worte zur Verfügung stehen, hat er etwas ganz anderes im Sinn, etwas, was wesentlich vom Gebräuchlichen abweicht, was radikal den bisherigen Verstehenshorizont überschreitet. Nach Nietzsches Ansicht gibt es keinen endlichen, letzten, nullten Punkt, an dem der Auflösungsprozeß des Seienden aufgehalten werden kann. So weit man auch in der Auflösung gehen mag, bis zu Ende kann man nie kommen. Auch das Kleinste ist nicht das Letzte im Sinne von Festigkeit, Massivität und Beständigkeit. Es gibt kein „Sein", keine „Einheit", kein „Ding an sich". Was man „Ding" nennt, ist keine Tatsache, sondern eine Interpretation des Seienden. Nietzsche sagt: „Wenn ich alle Relationen, alle .Eigenschaften' alle ,Thätigkeiten' eines Dinges wegdenke, so bleibt nicht das Ding übrig: weil Dingheit erst von uns hinzufingirt ist, aus logischen Bedürfnissen, also zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung [.. .]"261 Was wirklich existiert, ist 260 261

Ebenso auch Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche, S. 20-22, 61, 101-102. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 10 (202), S.246.

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nur ein unendliches und zweckloses „Spiel von Kräften und Kraftwellen",2'2 sind nur komplizierte und schwankende Unter- und Uberordnungsverhältnisse zwischen einander entgegengesetzten Willen zur Macht, ist nur ein kontinuierlicher Prozeß von Schaffung und Zerstörung verschiedenster „Herrschafts-Gebilde", verschiedenster „Macht-Gebilde", die „eins" bedeuten, aber „nicht eins" sind.263 Insofern kann man mit Recht sagen, daß Nietzsche schließlich der Funktion den Vorrang vor der Substanz einräumte, als er das Subjekt in eine Vielheit von Subjekten auflöste. Der Funktionsbegriff ist dabei in streng existentiell-ontologischem Sinn zu nehmen, im Sinn von unaufhörlichem Tun, von fortwährender Tätigkeit, also als Ersatz für den Substanzbegriff und nicht als dessen Abart.2'4 Zweifellos interessierte sich Nietzsche vorwiegend für das Einzelne, für das Konkrete, Individuelle, für das, was sich unmittelbar in der Erfahrung zeigt. Schon in diesem Interesse ist die Neigung zu einer radikalen Trennung von der Tradition deutlich zu spüren. Nietzsche war dem Zufälligen, Verschiedenen, Nichtgleichen stark verhaftet, dem was der Begriff nicht faßt, was er verdrängt, verachtet und verwirft. Er glaubte, daß sich in diesem Nichtidentischen nicht nur dasjenige verbirgt, was allein wert ist, erkannt zu werden, sondern auch dasjenige, was einzig wahrhaft wirklich ist.2'5 Daß die VernunftEinheit im Grunde gewalttätig ist, da sie letzten Endes im „Gleichsetzen des Nichtgleichen" besteht, bildet einen der Hauptpunkte der Nietzscheschen Kritik der Logik. Vielleicht ist diese Demaskierung der gewalttätigen Natur der Vernunft gerade dasjenige, was seine Philosophie vor allem als eine Philosophie der Befreiung2" auszeichnet. Die Vernunft ist wirklich immer in Gefahr, über das Individuelle hinwegzugehen, dessen Bedeutung zu vernachlässigen. Die Vernunft denkt sogar überhaupt nicht das Individuelle, das Individuum ist für sie immer nur ein irrationaler Überrest. Um überhaupt Ordnung, Einklang und Folgerichtigkeit herstellen zu können, muß die Vernunft zur Vereinfachung greifen, sie muß die Unterschiede überspringen. Anders kann sie mit der unendlichen Erfahrung nicht fertig werden. Der 262 263 264 265

266

Ν 1884/85: K G W VII 3, 38 (12), S.338. Ν 1885/87: K G W VIII 1, 2 (87), S. 102. Anscheinend deutet etwas ähnliches an Werner Stegmaier, Substanz, S. 22. Die traditionelle Orientierung der Philosophie an der logischen Identität des Begriffs kritisiert in fast demselben Sinn, und zwar nicht minder mutig und rücksichtslos, obwohl freilich ungeachtet der Bemühungen Nietzsches, Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 5 1975), S. 17, 19-20, 24-27, 62-63, 156-157, 179-180. Auf die „befreiende Atmosphäre" des Nietzscheschen Denkens verweist Herbert Marcuse, One-Dimensional Mart: Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society (Boston: Beacon, 1964) (deutsche Übersetzung Neuwied: Luchterhand, 1970), S.228. In einem anderen Buch hebt Marcuse lobend hervor, daß Nietzsche ein „neues Realitätsprinzip" entwickelt habe, das die Logik der Herrschaft zerschlage und die Befreiung vom archaischen Erbe antizipiere. Vgl. Eros and Civilisation. A Philosophical Inquiry into Freud (London: Abacus, 5 1973), S. 94.

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diskursive Begriff unterjocht alles Nichtidentische, er abstrahiert von allem, was die Identität, die durch ihn festgestellt wird, gefährden könnte. Seine Herrschaft duldet keinen Widerstand. Aus seiner Perspektive ist das Individuelle nur insofern sichtbar, als es unter das Allgemeine subsumiert werden kann. Allerdings muß man gut verstehen, was Nietzsche tatsächlich dachte, als er den Blick von den abstrakten Wesenheiten auf einzelne Fälle lenkte, als er in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit das Nichtidentische rückte. Es handelt sich nicht nur um eine ausdrücklich nominalistische Einstellung, die bei ihm einen überzeugenden Vorrang vor dem angeblich tief verwurzelten universalistischen Vorurteil seiner zahlreichen Vorläufer und Zeitgenossen bekommen hat, wie man zunächst denken könnte. Nietzsche war weit davon entfernt, dem Einzelnen den Vorzug vor dem Allgemeinen deswegen einzuräumen, weil er im Einzelnen etwas Festes, Massives, Beständiges erblickte, oder wenigstens etwas bedeutend Festeres, Massiveres, Beständigeres, als das Allgemeine überhaupt sein kann. Wir würden den Sinn dieser Nietzscheschen Bemühung ernstlich verzerren, würden wir so etwas vermuten. Weder meinte Nietzsche, daß es irgendwelche allgemeinen Gesetze gebe, welche die Welt beherrschen (im Sinne der naturwissenschaftlichen Notwendigkeit), noch stellte er sich die Welt als eine Anhäufung von fertigen einzelnen Dingen vor, die bloß nebeneinander bestehen. Keine „atomistische" oder „monadologische" Vision 267 der Wirklichkeitsstruktur hat den Blick dieses ausdrücklich nüchternen Denkers getrübt. Wäre dies letztere der Fall, dann würde es bedeuten, daß Nietzsche sich schon beim ersten Schritt verstrickt habe, daß ihm sogar die Grundvoraussetzungen seines Denkens unklar geblieben seien. Und das kommt keineswegs in Betracht. Das Individuelle hat bei ihm keinen metaphysischen Status, es ist kein Ding im Sinne von Substanz, kein letzter, unteilbarer Teil des Subjekts, sondern es bezeichnet lediglich ein Moment des kontinuierlichen dynamischen Quanten-Feldes, d . h . es stellt den augenblicklichen Ausdruck der tatsächlichen Kraftverhältnisse zwischen verschiedenen, einander entgegengesetzten Willen zur Macht dar.268 Vielleicht noch mehr als in der synthetischen Funktion des Begriffs hat Nietzsche die Beschränktheit und Unzulänglichkeit der überlieferten Logik

267

268

Ν 1887/88: KGW VIII 2, 11 (73), S.278. Die Relevanz des monadologischen Modells für Nietzsches Denken (hauptsächlich im Blick auf seine dynamische Weltinterpretation gegenüber der mechanistischen), unterstreicht Friedrich Kaulbach, „Nietzsche und der monadologische Gedanke", Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 127-156. Vgl. Ν 1888/89: KGW VIII 3 , 1 4 (93), S. 63: „Die Welt [ . . . ] existirt nicht als Welt ,an sich', sie ist essentiell Relations-Welt: sie hat, unter Umständen, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr Sein ist essentiell an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt - und diese Summirungen sind in jedem Falle gänzlich incongruent".

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der Identität in der synthetischen Struktur des Urteils gesehen. Unaufhörlich wiederholte er, daß die Form des Urteils der Wirklichkeit nicht entspreche, daß man mittels des Urteils nicht in das Wesen der Dinge dringen, daß man unter Berufung auf die Möglichkeit der Zusammensetzung und Trennung der Begriffe keineswegs nachweisen könne, daß die Wirklichkeit selbst auf Grund der Zusammensetzung und Trennung des Seienden wese. Er war sogar überzeugt, daß für die eigentliche Erkenntnis das Urteil kein geringeres Hindernis sei als der Begriff. So wie der Begriff den Schein erwecke, das Individuelle sei unwichtig, d. h. das Nichtgleiche und Verschiedene könne außer acht gelassen werden, ebenso erwecke das Urteil den Schein, daß die einzelne Wahrheit möglich sei, d.h. daß etwas getrennt vom Ganzen erkannt werden könne. Darüber, daß das Wesen der Welt nicht in einem Urteil ausgedrückt werden kann, sagt Nietzsche: „Es giebt keine einzelnen Urtheile! Ein einzelnes Urtheil ist niemals ,wahr', niemals Erkenntniß; erst im Zusammenhange, in der Beziehung von vielen Urtheilen ergiebt sich eine Bürgschaft."269 Es wäre jedenfalls irrig und unangemessen, hieraus den Schluß zu ziehen, daß Nietzsche sich in diesem Punkt bewußt oder unbewußt nach Hegel richtete, oder sogar zusammen mit ihm die Ansicht verfocht, daß die Wahrheit prozessualen Charakter habe, daß man zu ihr nur dank der Bewegung der Begriffe gelange und nicht mittels irgendeiner in ihnen versteinerten Einheit. Nicht weniger irrig und unstatthaft wäre es zu übersehen, daß Nietzsche hier schon beträchtlich den traditionellen Kanon der formalen Logik überschritten hat, so daß er sich auf einer Ebene mit dem Schöpfer der dialektischen Logik befand,270 insofern er entdeckt hatte, daß die Wahrheit des Urteils bestenfalls nur ein Durchgangsstadium innerhalb des Wahrheitsgeschehens, aber keineswegs volle Offenbarung der Wahrheit selbst sein kann. Unabhängig davon, in welchem Maße Nietzsche tatsächlich die Philosophie Hegels kannte, um überhaupt von ihr beeinflußt werden zu können,271 steht fest, daß nichts von einer solchen Abhängigkeit zeugt. Mit seiner Kritik der Härte und Starrheit der logischen Formen wollte Nietzsche alles andere ' Ν 1885/87: K G W VIII 1, 7 (4), S.273. Freilich ist dieses „Befinden" sehr fragwürdig schon angesichts der ironischen Bemerkung Nietzsches, daß „Hegel auf das Ausland [vielleicht] am meisten durch seine Kunst [wirkte], in der Weise eines Betrunkenen von den aller nüchternsten und kältesten Dingen zu reden". Vgl. Ν 1884/85: K G W VII 3, 34 (83), S. 166. Vgl. hierzu Alfred Schmidt, „Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie", a.a. O., S. 125-126. Im Rahmen einer ausgesprochen kritischen Würdigung der Nietzscheschen Auffassung der Dialektik, wird das Verhältnis Nietzsches zu Hegel ausführlich erörtert bei Heinz Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Außlärung (Berlin/New York: W. de Gruyter, 1972), insbes. S. 249-253, 256-260. 271 Oder um ihre „Themen" als Zielscheibe seiner Kritik (für einen „zu schlagenden Feind") nehmen zu können, wie es behauptet Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, S. 177. Anderer Meinung ist Daniel Breazeale, „The Hegel-Nietzsche Problem", Nietzsche-Studien 4 (1975), S. 146-164, insbes. S. 158-159. 26

270

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eher, als die Hegeische Einsicht bekräftigen, daß die Erkenntnis nur als Prozeß einer unaufhörlichen Transzendierung des einmal schon Erreichten möglich sei. Übrigens hat Hegel seine Kritik der Logik auf eine ganz eigene Weise entworfen, so daß sein Unterfangen kaum in Beziehung zu dem Nietzsches gebracht werden kann, wenn es überhaupt etwas Gemeinsames damit hat. G r o b gesagt, Hegel fand, daß das Urteil ungeeignet sei, die wirkliche Identität zwischen Begriff und Ding auszudrücken, da seine Elemente nur äußerlich miteinander verknüpft seien, nur eine Erscheinungseinheit des Begriffs bildeten. U m die Beschränktheit des abstrakten Verstandes zu überwinden und der Vernunft Raum zu schaffen, hob Hegel durch den spekulativen Satz die Beziehung von Subjekt und Prädikat auf, die im Urteil gesetzt wird, im Interesse ihrer konkreten Einheit im logischen Schluß. So richtig es auch sein mag, daß Hegel damit gleichsam die logische Ebene des Urteils verlassen habe, wenn nicht auch mit dem Vorurteil endgültig gebrochen, daß ein formal korrektes Urteil der einzige verläßliche Anhaltspunkt der Wahrheit sei, sicher ist doch, daß sein Versuch im Rahmen der Logik geblieben ist.272 Dies ist nicht nur deshalb so, weil Hegel sich die Aufgabe gestellt hatte, durch Gedankenbestimmungen den „Gang der Sache selbst" darzulegen, die Wahrheit des Absoluten in begrifflicher Form auszudrücken, sondern ebenso deshalb, weil seine dialektische Methode eine strenge Kontrolle über die Bewegung der Begriffe erfordert. Braucht man noch hinzuzufügen, daß schon die Hegeische Idee der Philosophie als eines geschlossenen und vollendeten Systems, in dem alles Wirkliche vernünftig und alles Vernünftige notwendig ist, deutlich zeigt, daß es dem großen Dialektiker nicht gelungen ist, sich über die Logik zu erheben, daß er vielmehr selbst unter die „eiserne Notwendigkeit" des Satzes der Identität gefallen ist? Im Unterschied zu Hegel hat Nietzsche jede Anwendung der logischen Identität auf das Weltgeschehen, jede „Verdinglichung" des unaufhörlichen Flusses der Ereignisse, jede Bestimmung des Lebensvollzugs in Anbetracht von Subjekt und Substanz ganz radikal beseitigt, so daß er schließlich nicht umhin konnte, die Realität des Werdens selbst (von der er glaubte, sie habe sich ihm von innen her als Wille zur Macht offenbart) als „Schein" zu erklären. Oder genauer: gerade deswegen, weil er fand, daß das Werden die „unfaßbare flüssige Proteus-Natur" habe, daß seine Bestandlosigkeit „für die logischen Prozeduren und Distinktionen" unzulänglich sei, daß sich diese werdende 272

Vgl. Theodor W.Adorno, Minima Moralia (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1951), S. 199: „Dialektisches Denken ist der Versuch, den Zwangscharakter der Logik mit deren eigenen Mitteln zu durchbrechen. Aber indem es dieser Mittel sich bedienen muß, steht es in jedem Augenblick in Gefahr, dem Zwangscharakter selber zu verfallen: die List der Vernunft möchte noch gegen die Dialektik sich durchsetzen". Uber den logischen Sinn der dialektischen Logik vgl. Rüdiger Bubner, Zur Sache der Dialektik (Stuttgart: Reclam, 1980), S. 111-116.

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Wirklichkeit „der Verwandlung in eine imaginative ,Wahrheits-Welt' widersetzt", konnte Nietzsche nicht den Schluß vermeiden, daß der Schein die „wirkliche und einzige Realität der Dinge" sei -273 wenn es überhaupt einen Sinn hat zu sagen, daß dieser Schritt für ihn unvermeidlich war. Jedenfalls hat Nietzsche auf diese Weise einem wichtigen Titel seines eigenen philosophischen Vokabulars einen ganz anderen Sinn gegeben: er hat nämlich das Wort „Schein" im Sinne einer positiven philosophischen Bezeichnung und nicht im Sinne einer negativen kritischen Bewertung gebraucht. Demgemäß ist die eigentliche Realität scheinbar, weil sie im Grunde widersprüchlich ist, weil ihr „alle vorhandenen Prädikate", „also auch entgegengesetzte Prädikate" zugeschrieben werden können.274 Es ist jedoch fraglich, inwiefern Nietzsche überhaupt berechtigt war, die Erkennbarkeit des Weltgeschehens derart in Zweifel zu ziehen. Denn die Erkenntnis des Werdens unterliegt, nach seiner eigenen Ansicht, nicht demselben Kriterium der Wahrheit wie die Erkenntnis des Seins. Man könnte lediglich sagen, daß diese Erkenntnis äußerst schwierig (im Vergleich zu jener anderen), aber keineswegs unmöglich sei. Soviel zu sehen ist, hat Nietzsche richtig erkannt, daß der Identitätssatz dem Leben nicht angemessen ist, daß er allein seine vergangenen notwendigen und nicht seine künftigen freien Formen betrifft, so daß er sich berechtigt gegen seine absolute Herrschaft auflehnte. Es ist vollkommen belanglos, daß Nietzsche sich dabei sehr vorsichtig ausdrückte: daß das „Organische", im Unterschied zum „Anorganischen" „niemals sich selber gleich ist, in seinem Prozesse".275 Denn der Satz der Identität ist wahrhaftig kein oberstes Prinzip alles Seienden. Zumindest gilt es nicht für alle Formen oder Weisen der Seiendheit des Seienden (im Sinne der bekannten traditionellen Bestimmungen). Der Satz der Identität gilt nämlich nur für das rein Seiende, für das Sein als solches, aufgefaßt in seiner faktischen Notwendigkeit, Einfachheit und Zusammengehörigkeit, aber er gilt weder für das möglich Seiende, für das bewegte Seiende, das offen gegenüber der Zukunft ist, noch für das wirklich Seiende, d.h. für den erfüllten Zweck der Vernunft selbst. Hier waltet Widersprüchlichkeit. Dasjenige, was geschehen kann oder soll, entzieht sich grundsätzlich dem logischen Denken, es kann keineswegs unter die Regeln dieses Denkens gestellt werden. Leider hat Nietzsche nicht deutlich genug gesehen, daß der Identitätssatz nicht einfach verworfen werden kann (als könnte das Denken durch einen solchen Sprung ins Leere vom Abweichen in die Metaphysik gerettet werden), sondern daß dieser Satz umgewandelt werden muß im Sinne der neuen wesentlichen Einsicht, daß jedes Seiende nicht

275 274 275

Ν 1884/85: K G W VII 3, 40 (53), S.386. Ebd., S.386. Ν 1882/83-84: K G W VII 1, 12 (31), S.424.

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bloß mit sich selbst identisch ist, d.h. nicht nur das ist, was in einem Augenblick notwendig ist, sondern beträchtlich mehr als das: jedes Seiende ist neben dem, was es ist, zugleich auch das, was es nicht ist, weil es auch etwas anderes werden kann, als es schon geworden ist, weil es sowohl zu seinem Gegensatz (eingeschlossen nicht nur das Verderben, sondern auch den Untergang) als auch zu seiner Vollkommenheit (oder wenigstens zu seiner höheren, entwickelteren Form) fähig ist. Anstatt von neuem das Verhältnis zwischen Identität und Differenz im Horizont der Frage nach dem Verhältnis zwischen Einheit und Vielheit, bzw. der Frage nach dem Sinn und der Funktion des Negativen zu durchdenken und derart einen diskursiv legitimierten Ausweg aus der Schwierigkeit zu finden, in die nach seiner Auffassung das ganze bisherige Denken verfallen war, verlegte Nietzsche schlechthin den Schwerpunkt von der Identität auf die Differenz. 276 Nicht minder begeistert für das Nichtgleiche, Andersartige, Verschiedene, als mißtrauisch gegenüber dem Gleichen, Selbigen, Einheitlichen, bestritt er radikal jede Möglichkeit einer dialektischen Vermittlung zwischen beiden. Da er die Identität als leeres Einerlei (nach dem Vorbild des leblosen, starren, versteinerten Seienden) auffaßte, sah Nietzsche keine Möglichkeit für deren produktiven Gebrauch durch ihre Beziehung auf die Differenz. Seiner Ansicht nach kann das Denken einen neuen Weg nur einschlagen, indem es sich völlig vom Zwang der Identität befreit. In diesem Sinne ließ Nietzsche die Gegensätze außerhalb der Einheit wachsen und vergehen, in der Uberzeugung, daß alles Individuelle von sich selbst aus, nach selbstgesetzten Kriterien erkannt werden könne, so daß es keines Bezugs zur Identität bedürfe. Insofern Nietzsche dabei bestrebt war, den Begriff zu überwinden, d. h. sich über die Logik zu erheben, und zwar nicht so sehr durch den Begriff 277 als durch Bild und Metapher, ist es wirklich äußerst schwierig, seinem Gedankengang zu folgen. Dadurch aber, daß er nach außerlogischen Mitteln gegriffen hat, daß er bemüht war, sich jenem Nichtbegrifflichen anzunähern, hat Nietzsche nicht den Boden der Vernunft zugunsten der Unvernunft verlassen, wie viele von jeher behaupten und ihn deshalb verdächtigen und beschuldigen. Vielleicht hat Nietzsche weiter und tiefer gesehen als alle seine Vorgänger, als er für einen radikalen Bruch mit dem Identitätsdenken eintrat, als er jeden Gedanken an eine dialektische Vermittlung zwischen Identität und Differenz verwarf. Denn obwohl schon Piaton, tief unzufrieden mit der parmenideischen starren Position, die glückliche Entdeckung gemacht hat, daß die reine

276

177

Mit dieser Überschreitung des überlieferten kategorialen Rahmens hat Nietzsche, wie Jürgen Habermas, a.a. O., S. 251 ausführt, „eine Art negativer Dialektik" angedeutet. Wie es neuerdings, trotz seines Antihegelianismus doch im Gefolge Hegels, Theodor W . Adorno, Negative Dialektik, S. 27 gefordert hat.

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Identität durch die Differenz vermittelt werden kann und soll, daß das N i c h t sein im Sinne von Andersheit oder Differenz ein wesentlicher Bestandteil des Seins selbst ist, und damit die gesamte spätere Philosophie vor die Aufgabe gestellt hat, die Welt als eine mannigfaltige Vielheit in der Einheit zu denken, 278 hat diese weittragende Entdeckung später doch viel mehr zur Rechtfertigung der Notwendigkeit gedient, als daß sie den W e g zur Freiheit geöffnet hat. Dies war schon deshalb unvermeidlich, weil es Piaton selbst nicht gelungen ist, die Natur dieses Andersartigen, Verschiedenen, Negativen angemessen zu bestimmen, geschweige denn alle seine Konsequenzen zu Ende zu denken. A b e r während bei Piaton die Differenz zunächst als Selbst-Beschränkung des Seienden durch die eigene Identität erscheint, als Aspekt eines bestimmten Seienden aus der Perspektive eines anderen Seienden, haben viele Nachfolger und Fortsetzer Piatons die Differenz völlig in die Identität hineingetragen, sie als ein M o m e n t der Identität im Prozeß der Selbstvermittlung des Ganzen aufgefaßt. A u f diese Weise hat das Negative schon von Anbeginn an jede Selbständigkeit verloren, sozusagen bevor es sie überhaupt bekommen hatte. In der philosophischen Tradition von Piaton bis Hegel - insofern ihre Vertreter die negative Wirklichkeit überhaupt berücksichtigten, insofern sie dem nichtwahren, nicht-guten, nicht-schönen, nicht-einen Sein überhaupt A u f m e r k samkeit schenkten - wurde diese Wirklichkeit gewöhnlich nur als Mangel, als Beraubung, als Vorenthalt des Seins begrifflich bestimmt. Unabhängig von der Frage jedoch, inwiefern diese Grenze prinzipiell unüberbrückbar ist (wegen der Schwierigkeit, über das Nichts logische Urteile zu fällen), ist es durchaus möglich, daß Nietzsche es aufgegeben hat, das Verhältnis zwischen Identität und Differenz von neuem zu durchdenken, weil er die Schwächen und Mängel der Metaphysik übertrieben, weil er die Metaphysik dort angegriffen hat, w o sie am schwächsten ist, weil er nur eine verdorbene F o r m dieses uralten philosophischen

Ansatzes vor Augen hatte, d . h . jene F o r m , in der die

Differenz keine irgendwie selbständige Rolle im Rahmen der Identität erhalten hat.279 Nietzsche hat aber nicht bloß kapriziös darauf verzichtet, sich in ein bedeutendes, fruchtbares und herausforderndes T h e m a der traditionellen Philosophie weiter zu vertiefen. Mag dieser Schritt sonst auch noch so gewalttätig sein, der verschworene Gegner aller Metaphysik war überzeugt, daß dieser Verzicht im besten Interesse der Philosophie selbst sei, daß nur durch eine

278

Über Identität und Differenz als Elemente der platonischen Dialektik vgl. insbesondere Werner Beierwaltes, Identität und Differenz (Frankfurt/M.: V. Klostermann, 1980), S . 9 - 2 3 .

279

Auf die Schwierigkeiten der Heideggerschen These von der „Seinsvergessenheit" der Metaphysik angesichts der „Grundabsicht" der neuplatonischen Philosophie überhaupt, die „absolute Differenz und deren mannigfaltige endliche Vermittlung zu denken", verweist Werner Beierwaltes, a. a. O., S. 1 3 1 - 1 4 3 , insbes. S. 139.

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solche Absage an alle bisherigen Errungenschaften des Denkens der Weg zu einer wirklich neuen Philosophie gebahnt werden könne. Das war natürlich ein großer Irrtum, vielleicht sein größter. Damit hat er sich selbst eine unverständliche Beschränkung auferlegt, nicht nur, daß er sich eine wertvolle Hilfe entzog. Im Einklang mit diesem falschen Glauben sagt Nietzsche an einer Stelle: „Die Erkenntniß wird, bei höherer Art von Wesen, auch neue Formen haben, welche jetzt noch nicht nöthig sind."280 Obwohl nicht ganz klar ist, welcher Art diese „neuefn] Formen" der Erkenntnis sein könnten, die vermutlich dem Philosophen der Zukunft (d. h. dem „Ubermenschen") 281 zur Verfügung stehen werden, ist doch gewiß, daß eine von ihnen, und zwar die wichtigste, diejenige sein müßte, die nicht auf der Logik gründet, sondern weiter und tiefer reicht als diese überhaupt reichen kann, diejenige also, die in unmittelbarer intuitiver Schau alles Seienden besteht. Anders kann es nicht sein, wenn Nietzsches Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition überhaupt einen Sinn haben und besonders, wenn diese Auseinandersetzung auch weiterhin das Pfand eines neuen philosophischen Anfangs sein soll. In der Tat wollte Nietzsche die durch die Spaltung von Denken und Sein (bzw. „Leben", wie er sich lieber ausdrückt) entstandene Situation überwinden, eine Situation, in der sich die Vernunft in bezug auf das Sein verselbständigt, in der sie sich von dessen Druck befreit und die Herrschaft über es ergriffen hat. In dieser Spaltung sah Nietzsche die tiefste Wurzel aller Not und allen Unheils der modernen Kultur. Für ihn war es unzweideutig, daß die „reine" Vernunft das größte Ungeheuer dieser Welt sei. Anstatt ein unmittelbarer Ausdruck von Sein (Leben) und dessen unmittelbare Bestätigung und Bewährung zu sein, wird diese Vernunft zum Richter des Seins (Lebens) und setzt ihm seine eigene Wahrheit als Maßstab entgegen. Auf diese Weise untergräbt die Vernunft den Grund alles Seienden, ersetzt die Realität durch Hirngespinste. Nietzsche hat diese falsche Freiheit der Vernunft, diese platte Selbstverherrlichung, diese groteske Selbstgenügsamkeit brutal demaskiert. Er setzte sich jedoch dabei nicht für die Unterwerfung der Vernunft unter irgendeine unvernünftige Autorität ein, um das Leben vor einer völligen Vernichtung zu retten. Nietzsche glaubte nicht, daß die Spaltung zwischen Denken und Sein dadurch überwunden werden könnte, daß die Vernunft schlechthin zum Mythos zurückkehrte, zu ihrer ursprünglichen, anfänglichen, noch unfreien ehemaligen Form, derjenigen, die ihrer Selbstbesinnung in der Metaphysik voranging, sondern nur auf Grund der freien Selbstentdeckung

280 281

Ν 1884: K G W VII 2, 26 (236), S. 208. Daß Nietzsches „Übermensch" weder eine biologische noch eine soziologische oder psychologische Kategorie ist, sondern vornehmlich als ein philosophisches Symbol aufzufassen ist, legt dar Jean GTanier, Le probleme de la vente dans la philosophie de Nietzsche, S. 591, 596.

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der Vernunft in ihrer geistigen Zugehörigkeit zum Sein selbst. Er konnte hinzufügen, daß allein die Vernunft, die das Sein in unmittelbarer Berührung mit ihm erfährt (die sich also jenseits der Subjekt-Objekt-Relation befindet) die Chance hat, die philosophische Erkenntnis zu fördern, daß allein diese Vernunft den absoluten Nihilismus der Wahrheit überwinden kann.

Anhang Α.

Hegel und Nietzsche

Hegel und Nietzsche sind nicht nur die letzten großen Gestalten der metaphysischen Tradition, in denen diese schlechthin erschöpft und zu Ende geführt wurde. 1 Beide sind zugleich auch die ersten Verkünder der revolutionären Wende in der Philosophie, wenn nicht auch mit ihnen deren neue Epoche beginnt. Jedenfalls gehört keiner von diesen beiden großen Denkern nur zur Geschichte der Metaphysik als deren Schlußkapitel. Auch Hegel war nicht schlechtin der „letzte Metaphysiker", geschweige denn Nietzsche. Gerade deshalb, weil sie die Metaphysik vollenden (natürlich jeder auf seine Art), wird sie von beiden notwendig überschritten (natürlich wieder verschiedenartig). Als „Vollender der Metaphysik" bezeichnen Hegel und Nietzsche den schicksalhaften Wendepunkt der europäisch-abendländischen Geschichte. Ihr Einfluß beschränkt sich nicht nur auf die Philosophie, er durchdringt vielmehr das ganze geistige und politische Leben der heutigen Welt. Es ist kein Zufall, daß beide sich gleichermaßen bewußt waren, die Geschichte in zwei Hälften zu teilen, obwohl lediglich Nietzsche es für nötig hielt, dies ausdrücklich zu sagen, 2 während Hegel sich mit kargen Andeutungen in dieser Richtung begnügte. 3 In Anbetracht dessen, daß Hegel und Nietzsche eine besondere Stelle unter den Philosophen des 19. Jahrhunderts einnehmen, unter anderem auch deshalb, weil der Weg, der von dem einen zum anderen führt, eigentlich als der Weg der Selbstbesinnung des heutigen Menschen bezeichnet werden muß, ist es leicht zu verstehen, daß die Frage nach der wechselseitigen Beziehung zwischen beiden sehr früh gestellt wurde, und zwar sowohl im Blick auf die Möglichkeit einer unmittelbaren Abhängigkeit des Jüngeren vom Alteren (obwohl dieser sich „mit dem Hammer" 4 gegen die „Spekulation" erhoben

1

Vgl. Martin Heidegger, „Hegel und die Griechen", Wegmarken (Frankfurt/M.: V . K l o s t e r mann, 1967), S. 2 5 5 ; Martin Heidegger, Nietzsche I (Pfullingen: G . N e s k e , 1961), S. 4 7 3 - 4 8 1 .

2

E H W a r u m ich ein Schicksal bin 1: K G W VI 3, S . 3 6 3 . Vgl. ζ. B. jene berühmte Stelle aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, in der Hegel es sich als Verdienst zuschreibt, daß er die Philosophie von der Stufe der „Liebe zum Wissen" auf die Stufe des „wirklichen Wissens" erhoben habe: Phänomenologie des Geistes, SW 2, S. 14. (Alle Hegel-Zitate nach der Ausgabe: G . W . F . H e g e l , Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, hrsg. von H e r m a n n Glockner, Stuttgart: F. Frommann, 4 1965 ff.). G D V o r w o r t : K G W VI 3, S.51.

3

4

Anhang Α. Hegel und Nietzsche

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hatte), als auch hinsichtlich der Möglichkeit einer unabhängigen Übereinstimmung zwischen ihnen. Aber trotz zahlreicher Versuche, die im Laufe der letzten Jahrzehnte gemacht wurden, das Verhältnis zwischen Hegel und Nietzsche darzustellen und aufzuklären, ist es doch schwer zu sagen, daß man es in dieser Hinsicht weit gebracht habe, geschweige denn, daß schon alles erreicht worden sei, was erreicht werden konnte. 5 Noch heute ist weder klar genug, worin Hegel und Nietzsche einander nahestehen, noch worin sie sich wahrhaftig unterscheiden. Im folgenden werden nicht alle Aspekte des Verhältnisses zwischen Hegel und Nietzsche behandelt. Es wäre eine zu große Aufgabe für diese Gelegenheit, auch wenn wir nur die Hauptpunkte aufzählen würden, in denen sich Hegels und Nietzsches Gedanken berühren und verschränken. Sehr vieles könnte man in diesem Fall keineswegs umgehen, gleichviel ob man dabei den Schwerpunkt auf die Feststellung von Ähnlichkeiten oder auf die Hervorhebung der Unterschiede zwischen diesen beiden Denkern legen würde. Schon die Frage nach dem Verhältnis von Hegel und Nietzsche zu Heraklit - den beide sehr hoch geschätzt, und von dem beide entscheidende Anregungen erhalten haben - ist in so hohem Maße umfassend und verwickelt, daß sie das Thema einer besonderen Untersuchung werden könnte. 6 Entsprechend würde auch die Frage nach den Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen der Hegeischen philosophischen Konstruktion der Geschichte und der Nietzscheschen „genealogischen" Methode in der Philosophie 7 besondere Beachtung verdienen, oder die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung des berühmten Spruches „Gott ist tot", den Hegel bedeutend früher als Nietzsche gebraucht hatte. 8 Besteht der Unterschied lediglich darin, daß für Hegel dieser T o d ein dialektisches Moment der Offenbarung der Wahrheit moralischer und religiöser Tradition war, während Nietzsche darin etwas Endgültiges erblickte, in dem Sinne, daß vom toten Gott nur ein „Schatten" 9 übrigbleibt? Es ist offenkundig, daß die Gefahr von Umständlichkeit allein vermieden werden kann, wenn die Untersuchung über das Verhältnis zwischen Hegel und Nietzsche von vornherein streng orientiert und umgrenzt wird. Hier wird freilich auch davon nicht die Rede sein, wie Nietzsche selbst sein Verhältnis zu Hegel aufgefaßt hat, und zwar nicht deshalb, weil dies etwa Eine ausführliche kritische Besprechung der wichtigsten neueren Versuche findet man im Aufsatz von Daniel Breazeale, "The Hegel-Nietzsche Problem", Nietzsche-Studien 4 (1975), S. 146-164. 6 Die wichtigsten Stellen werden bei Walter Kaufmann angeführt, Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist (Princeton: Princeton University Press, 4 1974), S.241 Anm. 15. 7 Darauf verweist B. F. Beerling, „Hegel und Nietzsche", Hegel-Studien 1 (1961), S.234. ' Näheres darüber bei Jean Granier, Le probleme de la verite dans la philosophic de Nietzsche (Paris: Editions du Seuil, 2 1969), S. 261-267. ' FW 108: KGW V 2, S. 145. 5

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Anhang Α. Hegel und Nietzsche

unwichtig und unbedeutend wäre, sondern deshalb, weil Nietzsches Selbstverständnis in dieser Hinsicht schwerlich auf eine simple Formel zurückzuführen wäre. Es besteht kein Zweifel, daß Nietzsches Einstellung zu Hegel ausgesprochen kritisch war, daß er seine Philosophie auf Schritt und Tritt verspottete und bekämpfte, daß er den Ausdruck „Hegelianismus" fast ausnahmslos abschätzend im Sinne von Verschmähung gebrauchte. Dies ist jedoch nur die eine Seite seines Verhältnisses zum großen Vorläufer, diejenige, die zunächst auffällt, die am meisten hervorgehoben ist. Eigentlich war Nietzsches Verhältnis zu Hegel bedeutend schwankender, komplizierter, mehrschichtiger, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Obwohl er an manchen Stellen unzweideutig seine äußerst abwehrende Stellung Hegel gegenüber ausgedrückt hat, indem er seine Philosophie als letzten Zufluchtsort des Piatonismus und des Christentums vor dem unvermeidlichen Sieg des Atheismus 10 brandmarkte, wies Nietzsche doch hier und dort nachdrücklich auf die ausgesprochen „deutsche" Prägung der Hegeischen philosophischen Leistung hin, z . B . auf seine Einführung des Begriffs „Entwicklung" oder „Werden" in die Wissenschaft11 oder auf seine Hervorhebung der Macht des Negativen. 12 Und das bedeutet, daß es keine Äußerung Nietzsches über Hegel gibt, die maßgebender als eine andere wäre, sondern daß all diese verschiedenartigen Äußerungen zusammengenommen und gründlich interpretiert werden müssen, wenn man überhaupt verstehen will, wie sich Nietzsche tatsächlich zu diesem ihm auf den ersten Blick so unähnlichen Philosophen verhalten hat. Die einzige Frage, bei der wir uns hier aufhalten werden (ohne zu beabsichtigen, deren Inhalt völlig zu erschöpfen oder sie endgültig zu beantworten), betrifft den möglichen dialektischen Sinn und Charakter der Nietzscheschen „Erkenntnistheorie" (wie auch seiner „Ontologie"). Die Frage lautet: Stand Nietzsche wirklich Hegel so nahe, wenigstens hinsichtlich des Denkansatzes, wenn schon nicht auch im Blick auf das Endziel seiner Philosophie, daß man ihn mit Recht unter die großen Dialektiker einordnen kann? Zeugt Nietzsches Einsicht, daß der Satz vom Widerspruch dem Sein unangemessen ist, bzw. daß sich die Unruhe des Lebens grundsätzlich den logischen Bestimmungen entzieht, von seiner dialektischen Inspiration, oder scheint es nur äußerlich so, da Nietzsche keine höhere Instanz der Vernunft über dem Verstand anerkannt hat? Hat Nietzsche wahrhaftig dialektisch gedacht," sei es auch nur halbwegs, und in vielem hinter Hegel in der methodischen Strenge 10 11 12 13

FW 357: KGW V 2, S.281. Vgl. Ν 1885/87: KGW VIII 1, 2 (195), 7 (4), S. 160-161, 267. FW 357: KGW V 2, S. 280, 281. Μ Vorrede 3: KGW V 1, S. 7. Wie Alfred Schmidt behauptet. „Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie", in: Max Horkheimer (Hrsg.), Zeugnisse. Festschrift für Theodor W. Adorno (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1963), S. 116.

Anhang Α. Hegel und Nietzsche

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zurückbleibend, oder war seine „neue und verwegene" Denkweise vielleicht entschieden antidialektisch, so daß sie ein radikales Gegengewicht zur Hegelschen bildet? Man kann vorbehaltlos sagen, daß diese Frage in den Kern des Verhältnisses zwischen Hegel und Nietzsche dringt, und darüber hinaus, daß sie auch in systematischer Hinsicht am anziehendsten und weitreichendsten ist. Schwerlich könnte dieses Verhältnis überhaupt angemessen betrachtet werden, wenn dieser philosophische Angelpunkt außer acht gelassen würde. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß die Hervorhebung und Zuspitzung des Unterschieds zwischen der dialektischen Bejahung aufgrund der zwei Verneinungen, die Hegels absolute Methode allein kennt und anerkennt, und der dionysischen Selbstbehauptung des Lebens in der ewigen Wiederkehr, worin Nietzsche die höchste Qualität des Willens zur M a c h t " erblickte, die allein richtige oder sogar die einzig mögliche forschungsstrategische Perspektive wäre, in der die Antwort auf diese Frage zu suchen sei. Angesichts jener wenigen, mehr oder minder beiläufigen kritischen Äußerungen Nietzsches über Hegel, die über sein ganzes Werk verstreut sind, ist es wenig wahrscheinlich, daß der „Herold und Vorläufer" der „Philosophen der Zukunft" (wie Nietzsche gern sich selbst nannte) 15 seinen großen philosophischen Vorgänger hinreichend gekannt hat. Besonders ist es wenig wahrscheinlich, daß Nietzsches Kenntnis der Hegeischen Philosophie auf einer unmittelbaren Einsicht gründete, daß dies eine Bekanntschaft aus erster Hand war. Deshalb muß jede Vermutung, Nietzsche sei von Hegel unmittelbar beeinflußt, von vornherein als willkürlich abgewiesen werden. Dies schließt jedoch nicht die Möglichkeit aus, daß Hegel und Nietzsche doch etwas Gemeinsames haben, oder wenigstens, daß sie nachträglich in Zusammenhang gebracht werden können. Schon eine flüchtige Lektüre der entsprechenden Texte läßt erraten, daß nicht nur Nietzsches Kritik der formalen Logik der Hegeischen Kritik des abstrakten Verstandes 16 anscheinend sehr nahekommt, sondern daß sogar auch Nietzsches positiver Versuch einer neuen Bestimmung der Ver-

14

Auf diesem Unterschied beharrt insbesondere Gilles Deleuze in seinem Buch Nietzsche et la philosophie (Paris: Presses Universitaires de France, 1962). Deutsche Ausgabe Nietzsche und die Philosophie (München: Rogner und Bernhard, 1976). Es ist zwar fraglich, ob man dem Verfasser recht geben kann, wenn er behauptet, das dialektische Denken sei wesentlich nihilistisch ausgerichtet, so daß es lediglich den „Schein der Bejahung" kenne und anerkenne (S. 194), bzw. Nietzsche habe die autonome Macht der Negation aufgehoben, so daß das dionysische „Ja" bei ihm nur „die zu ihrer höchsten Macht aufgestiegene Differenz" bedeute (S. 204). Auf die Schwierigkeiten und Mängel der Deleuzeschen Auffassung macht aufmerksam Daniel Breazeale, a.a.O., S. 153-162. Das Verhältnis zwischen der Hegeischen und der Nietzscheschen Dialektik untersucht unter einem etwas anderen Gesichtspunkt Heinz Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Außlärung (Berlin: W. de Gruyter, 1972), S. 237-238, 249-253.

15

JGB 44: KGW VI 2, S.56. So Alfred Schmidt, a.a. O., S. 116, 125.

16

92

Anhang Α. Hegel und Nietzsche

nunft irgendwie sehr stark an die Hegeische Idee der dialektischen Logik erinnert. 17 Daher ist es weder zufällig noch verwunderlich, daß Nietzsches Name in der letzten Zeit immer öfter neben Hegels gestellt und nicht (wie früher) ihm nur entgegengesetzt wird. U m jedoch besser zu verstehen, was diese auffällige Ähnlichkeit zwischen Nietzsches und Hegels philosophischer Bemühung tatsächlich bedeutet, woher sie kommt und wie weit sie reicht, ist es unumgänglich, die erwähnten Texte etwas sorgfältiger zu analysieren. Es sei gleich gesagt, daß es fast unmöglich ist, eine scharfe Grenze zwischen Nietzsches Kritik der überlieferten Denkweise und seiner Darlegung des neuen erkenntnistheoretischen Modells zu ziehen. Das sind eigentlich zwei Seiten eines Denkzusammenhangs. Nietzsche zerstört das Alte, um den Durchbruch des Neuen zu ermöglichen, er leugnet das Gewordene, um das erst Werdende zu bestätigen. Nietzsches Kritik der Logik ist kein nebensächlicher oder nur beiläufiger Bestandteil seiner Kritik der Metaphysik, sondern deren Grundstein. Nietzsche kritisiert die traditionelle Metaphysik in erster Linie und vor allem deshalb, weil er glaubt, daß die logischen Formen, in denen die idealistische Vernunft gefangen ist, für die Erkenntnis vollkommen unangebracht sind. Diese Kritik ist aber zugleich auch das Pfand des Nietzscheschen positiven Programms. Nietzsche brandmarkt die Logik als Hindernis der Erkenntnis, um das Denken in eine neue Richtung zu lenken, um dem Denken den Weg „am Leitfaden des Leibes" 18 zu öffnen. Der Haupteinwand, den Nietzsche gegen die Logik verbringt, besteht darin, daß sie unfähig sei, die chaotische, widersprüchliche Natur der Wirklichkeit aufzufassen und auszudrücken. Ihr sei überhaupt nicht daran gelegen, diese Wirklichkeit zu erkennen, nicht nur, daß ihr dies nicht gelinge. Diese Wirklichkeit ist wesentlich unbeständig, sie ist unaufhörlich in Bewegung und wandelt sich ständig, innerlich enthüllt sie sich als unendliches und zweckloses „Spiel von Kräften und Kraftwellen". 19 Nietzsche glaubt, daß die Logik das Denken von seiner eigentlichen Aufgabe ablenke, daß das Denken durch die Logik gehemmt, verkrüppelt werde und erstarre, insofern diese es nötige, statt des „Werdens" überall nur das „Sein" oder das „Seiende" wahrzunehmen. Die logischen Grundaxiome sind bloße „Fiktionen", 2 0 sie stellen eine bewußte „Fälschung"n der Wirklichkeit dar. Daraus geht hervor, daß die Welt ein diskretes und statisches Ganzes, daß sie aus lauter festen, beständigen, unver-

Vgl. Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie (Köln/Wien: Böhlau, 1980), S. 86, 88, 214, 289, 293. " Ν 1884: K G W VII 2, 27 (27), S. 282; Ν 1884/85: KGW VII 3, 36 (35), S.289; 37 (4), S. 304; Ν 1885/87: KGW VIII 1, 2 (91), S. 104. 19 Ν 1884/85: K G W VII 3, 38 (12), S.338. 20 Vgl. K G W VII 3, 36 (23), S.285. 21 Ν 1885/87: K G W VIII 1, 7 (54), S.320. 17

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änderlichen Dingen zusammengesetzt ist. Nietzsches Worten zufolge ist die Logik das „Prokrustesbett",22 in dem es nur für die „Gleichsetzung des Nichtgleichen"23 Platz gebe, die Logik „necessitirt zum Irrthum", 24 da sie sich auf die Einbildung gründe, der diskursive Begriff sei imstande, den unendlichen Reichtum der Erfahrung einzudämmen,25 bzw.'das einzelne Urteil könne wahr sein,26 die Erkenntnis sei getrennt vom Ganzen des Geschehens möglich. Aber obwohl Nietzsche der Logik jeden Erkenntniswert bestritt, ihre instrumentale Funktion hat er nicht übersehen. Er hielt es sogar für nötig, besonders darauf aufmerksam zu machen, daß die Logik eine lebenswichtige menschliche Erfindung sei, daß sie eine wesentliche Bedingung alles Organischen darstelle. Die logischen Fiktionen sind für das Leben nützlich, gerade weil sie dem Leben widersprechen, weil sie das ins Leben projizieren, was es darin überhaupt nicht gibt. Nietzsche meint, daß das Bedürfnis nach einem festen Anhaltspunkt das dringendste menschliche Bedürfnis sei und daß der Mensch seine Vernunft „erdacht"27 habe, um dieses Bedürfnis zu befriedigen. Dadurch, daß sie den Schein des Seienden im Gegensatz zur chaotischen Wirklichkeit des Werdens erzeugt, dadurch, daß sie den Fluß der Ereignisse als eine Reihenfolge fester und getrennter Zustände auslegt, vermindert die Logik die Angst vor dem Zufälligen und Unerwarteten, sie beseitigt die Ungewißheit, verleiht das Gefühl der Sicherheit. Es gibt keinen objektiven Zwang zur Logik, nichts zwingt uns von außen, logisch zu denken. Daß wir dem Chaos Ordnung und Regelmäßigkeit beimessen, das ist ein rein subjektiver Zwang. Ihr Beweggrund hat eine praktische, keine theoretische Bedeutung. Es besteht kein Zweifel, daß zwischen Nietzsches Kritik der formalen Logik und Hegels Hinweis auf die Schwierigkeiten und Grenzen der „isolierten Reflexion"28 etliche Berührungspunkte bestehen, viel mehr, als man überhaupt erwarten könnte, mit Rücksicht auf die großen Unterschiede zwischen diesen beiden Philosophen in jeder anderen Hinsicht. Hier wird es genügen, nur an die allgemeine Ausrichtung von Hegels Denkansatz zu erinnern, um den Boden für den tatsächlichen Vergleich seiner Philosophie mit der Nietzsches in der Dimension ihres gemeinsamen Bemühens um die „Uberwindung" der Logik vorzubereiten.

22 23 24 25 26 27

28

Ν 1884/85: KGW VII 3, 41 (11), S.422. W L 1: K G W III 2, S.374. GD Die .Vernunft' in der Philosophie 5: KGW VI 3, S. 71. Vgl. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (97), S.54. Vgl. Ν 1885/87: K G W VIII 1, 7 (4), S.273. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (153), S. 128.

Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems, SW 1, S.50.

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Unmittelbar durch Kants Kritik angeregt, in gewissem Sinne noch weit radikaler, obwohl vielleicht nicht so rigoros wie Kant, unterzog Hegel die logische Grundlage alles menschlichen Denkens und Erkennens einer eingehenden kritischen Prüfung. Seine Konzeption der Logik ist in solch einem Maße schwierig und kompliziert und dabei auch so unmittelbar mit der Darlegung eines vornehmlich metaphysischen Seinsentwurfs verflochten, daß alle Teile und Aspekte dieser Konzeption noch heute nicht genügend geklärt sind. Vielleicht hat deshalb die hegelsche Dialektik die herkömmlichen Denkgewohnheiten, deren Beschränktheit und Unangemessenheit sie bloßgelegt hat, tatsächlich nicht einmal erschüttert, geschweige denn verdrängt. Dies gilt trotz der Tatsache, daß die Spuren ihres Einflusses in den verschiedensten Strömungen und Bestrebungen der Philosophie und der Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts deutlich sind. Obgleich Hegel durch seine kritische Untersuchung nur die überlieferten logischen Formen philosophisch erklären und nicht diese durch irgendwelche anderen, besseren, höheren Formen 29 ersetzen wollte, war die Revolution der Denkart 30 eine unumgängliche Konsequenz seiner Einsicht, daß die feste Sicherheit des urteilenden Verstandes bloße Einbildung sei und daß vermittels der überlieferten Ausdrucksmittel der Logik die Wahrheit überhaupt nicht erreicht werden könne. Hegel kritisiert scharf den abstrakten Schematismus des Verstandes, die Starrheit seiner Einteilungen und Unterscheidungen, sein Bedürfnis nach genau bestimmten und begrenzten Begriffen. Das höchste Postulat des Verstandes besagt, jedes Ding sei das, was es ist, und nicht etwas anderes, bzw. die Identität sei eine wesentliche innere Bestimmung alles Seienden. Deshalb duldet der Verstand keine Begriffsverwirrung, daher ist seine größte Sorge, die Bewegung der Begriffe aufzuhalten. U m jede Zweideutigkeit, jede Ungewißheit hinsichtlich seines Gegenstandes abzuwenden, beschneidet der Verstand die Randstreifen unserer Ideen und beseitigt dabei all jene subtilen Bedeutungen, durch welche die einen Vorstellungen die anderen berühren oder nur implizieren, ohne sie explizit einzuschließen. Derart bändigt oder bekämpft der Verstand die natürliche Neigung unserer Gedanken, sich zu verschieben und sich in andere Gedanken umzuwandeln, wenn sie auf ungewöhnliche Fälle oder Fragen treffen. Hegel findet, daß diese analytische Arbeit des Verstandes in unmittelbarer Beziehung zu dessen synthetischen Funktionen stehe, daß sogar die Synthesis des Verstandes nur mittels dieser vorhergehenden Trennung möglich sei: erst nachdem der Verstand seine Begriffe genau bestimmt 29 30

Vgl. Rüdiger Bubner, Zur Sache der Dialektik (Stuttgart: Reclam, 1980), S. 112-113. Daß uns nur die bewußte Beachtung dieser „Revolution innerhalb der Logik" vor den unangenehmen Folgen der industriellen Revolution, „in der wir stehen", retten kann, darauf verweist Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein 6/1: Der menschliche Begriff (Frankfurt/ Μ.: P. Lang, 1974), S.233.

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habe, könne er über die Dinge urteilen, d . h . er kann das Subjekt mit dem Prädikat im Urteil verknüpfen, was eine logische Bedingung der Wahrheit ist. Dabei müssen natürlich die Begriffe verschieden und getrennt voneinander bleiben, damit sie in der Synthesis einen identischen Inhalt ausdrücken können. Hegel hat den Verstand hauptsächlich als Vermögen des Scheidens aufgefaßt, als Kunst, die abstrakten Aspekte der Dinge zu trennen, als Tätigkeit, die Gedanken in Bestandteile zu zerlegen. Trotz aller Einwände, die er gegen die „Verstandesphilosophie" 51 erhob, schätzte er doch diese menschliche Fähigkeit sehr hoch, wenn auch nicht so sehr wegen ihrer biologischen Nützlichkeit, so doch wegen ihrer kulturellen Bedeutung. Er erblickte darin die „verwundersamste und größte, oder vielmehr die absolute Macht", 32 fest davon überzeugt, daß dies die menschlichste von allen menschlichen Fähigkeiten sei, daß es ohne sie keine echte menschliche Kultur gäbe. So sagt Hegel, der Unterschied zwischen einem gebildeten und einem ungebildeten Menschen bestehe darin, daß der erstere die Dinge in ihrer Bestimmtheit erfasse, da er sich nicht mit Nebulosem und Unbestimmten begnüge, während dieser andere in jeder Hinsicht schwankend und unbeständig sei, so daß es oft sehr schwer sei, sich mit ihm über eine bestimmte Sache zu verständigen. 33 Deshalb schwärmt Hegel von keiner mystischen, irrationalistischen Umgestaltung der Philosophie. Ihm schien es hinreichend deutlich, daß die Philosophie nicht dem Verstand schlechthin den Rücken kehren könne. Vielmehr behauptete er, daß die Philosophie mit dem Verstand anfangen müsse, daß sie in ihm einen Anhaltspunkt haben müsse, daß sie sich seiner Arbeit bedienen müsse, obwohl sie freilich nicht zulassen dürfe, daß der Verstand volle Herrschaft über sie gewinne. In dieser Hinsicht war Hegel offenkundig ganz anderer Meinung als seine romantisch orientierten Zeitgenossen (insbesondere Schelling), die offen der intuitiven Anschauung den Vorrang vor dem Verstand einräumten. Im Unterschied jedoch zu Kant, der gleich seinen dogmatischen Vorläufern in der Philosophie keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als sich doch letzten Endes für den Verstand zu entscheiden, ging Hegel einen Schritt weiter: er verklärte den Verstand durch die Vernunft, er unterstellte den Verstand dem spekulativen Denken als höchster Erkenntnisinstanz. In der festen Überzeugung, daß in der Welt Widerspruch walte, daß sich alles bewege und verändere und sogar in das Entgegengesetzte übergehe, weckte Hegel die Begriffe aus ihrer Starrheit und Entzweiung, er ließ sie ineinander übergehen,

31 32 33

Vgl. System der Phänomenologie Vgl. System der Re-Examination

Philosophie I, SW 8, §§28, 31, 74, S. 101-103, 104-105, 179-180. des Geistes, SW 2, S. 33. Philosophie I, SW 8, §80 Zusatz, S. 187. Dazu siehe J . N . Findlay, Hegel. A (London: G.Allen and Unwin, Ί970), insbesondere S.60-63.

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er zeigte, daß sie sich wahrhaftig gegenseitig suchen und ergänzen. Es ist nicht nur nicht gerechtfertigt, vielmehr ist es überhaupt nicht möglich, das Denken aufzuhalten. Die Begriffe haben ihre innere Dynamik, sie sind wesentlich unbeständig und zweideutig, sie entwickeln sich in verschiedenen Richtungen, und alles hängt ausschließlich von ihrem Inhalt ab. Natürlich ist diese Bewegung der Begriffe nicht willkürlich, sie drückt vielmehr den „Gang der Sache selbst"" aus. Es handelt sich um eine reflexive Bewegung des Seins oder um dessen denkende Selbstinterpretation. Die Aufgabe der Philosophie besteht nicht darin, die Begriffe von ihren widersprüchlichen Tendenzen zu säubern, sie genau zu bestimmen und abzugrenzen und derart ihren eindeutigen Gebrauch im Rahmen eines streng deduktiven Systems festzulegen, sondern deutlich zu zeigen, daß alle endlichen Verstandesbestimmungen notwendig sich selbst negieren, daß sie notwendig über sich selbst hinausweisen, daß jede endliche Verstandesbestimmung nur ein vorübergehendes Stadium der Wahrheit und nicht die Wahrheit selbst ist. N u r wenn sie diese Aufgabe übernimmt, kann die Philosophie den Zwang der Logik durchbrechen und so die Sache des Denkens fördern. Denn die Ubereinstimmung zwischen Begriff und Ding, welche der Verstand im Urteil herstellt, bleibt notwendig an der Oberfläche. Im Urteil sind Subjekt und Prädikat nur äußerlich verknüpft, und das bedeutet, daß hier die eigentliche, wahrhafte Vermittlung fehlt. U m weiter zu gelangen, muß man die ganze Struktur des Urteils in Bewegung setzen, d. h. man muß durch den spekulativen Satz den Unterschied zwischen Subjekt und Prädikat im Interesse ihrer konkreten Einheit aufheben. Erst auf diese Weise kann das rein Verständige auf das Niveau des wahrhaft Vernünftigen erhoben werden. Hätte Hegel nur danach gestrebt, die fortwährende Unruhe und die unversiegbare Kraft des dialektischen Denkens bis zu den letzten Grenzen des Möglichen zu entfalten und darzustellen, und zwar jeder dogmatischen Gebundenheit und Erstarrung zuwider, und hätte er nur gewünscht, das „verknöcherte Material" der überlieferten Begriffe „in Flüssigkeit zu bringen", und „den lebendigen Begriff in solchem toten Stoffe wieder zu entzünden" (wie er selbst einmal die Aufgabe, die er sich stellte, beschrieben hat),35 so könnte sein philosophisches Unterfangen mit Recht als vornehmlich revolutionär bezeichnet werden. Mit Rücksicht jedoch darauf, daß Hegel zumindest ebensosehr, wenn nicht vor allem die Auflösung und Versöhnung aller Widersprüche im absoluten Wissen erstrebte und daß er gar keinen Raum zum Zweifel ließ, er habe in seinem Werk die klassische Metaphysik übernommen

54 55

Wissenschaft der Logik I, SW 4, S. 52. Wissenschaft der Logik II, SW 5, S. 3.

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und erst tatsächlich vollendet, könnte man eher sagen, daß dieser revolutionäre Sinn der Dialektik bei ihm nur Andeutung geblieben sei. Im Vergleich zu Hegel erweckt Nietzsche schon auf den ersten Blick den Eindruck eines Philosophen, der unvergleichbar radikaler denkt. Zumindest verspricht sein Versuch einer neuen Bestimmung der Vernunft (wenn man über diesen Versuch überhaupt im Sinne eines positiven Programms sprechen darf) viel mehr, als Hegel überhaupt durch seine Rekonstruktion der Logik meinte bieten zu können. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als um eine wahre Revolutionierung des Denkens - die Bildung der Vernunft in einer neuen, nicht mehr theoretischen, sondern ausgesprochen ästhetischen Gestalt. 36 Es ist eine große Frage, inwiefern sich dieser Versuch Nietzsches überhaupt mit dem Hegels berührt, inwiefern es überhaupt angebracht ist, ihn mit diesem anderen zu vergleichen. Nietzsche ging so weit in seiner Abrechnung mit der Logik, daß wir uns verwundert fragen, ob er nicht vielleicht zu weit gegangen ist. Seine Wendung ist so radikal, daß sie radikaler nicht sein kann. Nietzsche hat nicht nur etwas mehr als Hegel versucht, er hat sich vielmehr für etwas ganz anderes als Hegel eingesetzt. E r wollte nicht nur die Logik „dynamisieren", den „logischen Atomismus" 3 7 durch eine neue Theorie der Logik übertreffen, er wollte nicht nur zeigen, wie man im logischen Rahmen besser und angemessener die Sache des Denkens selbst denken kann, er lehnte sich vielmehr mit unerhörter Kühnheit gegen den Verstand als solchen auf, in der Uberzeugung, daß das eigentliche Denken erst jenseits der logischen Kriterien von Wahrheit und Lüge anfange. Insofern darf es nicht verwundern, daß die Schriften Nietzsches, schon äußerlich gesehen, als Zeugnis eines betont umstürzlerischen Geistes wirken. Nietzsche spürte eigentlich kein Bedürfnis, die überlieferten logischen Formen zu behalten, da er an die Möglichkeit ihrer philosophischen Verbesserung oder Umwandlung nicht glaubte. Hegels Festhalten an der logischen Tradition, seine hartnäckige Bemühung, die „mehrtausendjährige Arbeit der Vernunft und ihres Verstandes" 38 irgendwie zu bewahren, mußte ihm lächerlich und naiv und nicht nur tragisch vergeblich erscheinen. Nietzsche hat schlechthin den Boden des Verstandes verlassen und die künstlerische Intuition als Modell der philosophischen Erkenntnis genommen. Diese neue Instanz des Denkens, das sich nach der Erfahrung des Leibes richtet (als organischer Einheit, in der Sinne und Vernunft unzertrennlich vereint sind als 36

Daß das „Ästhetische" bei Nietzsche mit dem „Ästhetizismus" nichts zu tun hat, sondern immer das „Schöpferische" im Sinne des Willens zur Macht bedeutet, darüber siehe Ruediger Hermann Grimm, Nietzsche's Theory of Knowledge (Berlin: W . de Gruyter, 1977), S. 1 3 7 , 1 4 8 , 193.

37

Vgl. Μ Α II WS 11: K G W IV 3, S. 184. Grundlinien der Philosophie des Rechts, SW 7, S. 27.

38

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deren „Augen" und „Ohren") und nicht mehr nach den Forderungen des Geistes (als „reiner" Vernunft, getrennt vom Leibe), nannte Nietzsche die „große Vernunft" und setzte sie der überlieferten „kleinen Vernunft" entgegen. 3 ' Durch diese neue Bestimmung des menschlichen Erkenntnisvermögens, durch diese Wendung zur dionysischen Extase des Lebens als einer neuen Perspektive des philosophischen Denkens verabschiedete sich Nietzsche tatsächlich von der Tradition. Oder genauer: er verabschiedete sich von der Tradition der idealistischen Philosophie der Vernunft. Dieser Schritt wurde sogleich mit höchstmöglichem Zweifel aufgenommen. Vielen scheint es auch heute noch so, daß Nietzsche auf diese Weise das Denken verraten, daß er auf jede weitere philosophische Arbeit verzichtet habe. So scheint es jedoch nur aus der Perspektive der idealistischen Vernunft, die Nietzsche gerade in Frage gestellt hat. Diese bildet sich ein, ihre Grenzen deckten sich mit den Grenzen der Vernünftigkeit überhaupt. Es leuchtet nicht ein, warum diese Vernunft überhaupt für die Bewertung einer wesentlich andersartigen Form der vernünftigen Einstellung zur Welt maßgebend sein solle, einer Form, die sich nicht als Alternative zur Vernunft ausgibt, sondern sogar den Anspruch erhebt, deren vollkommenste Verkörperung zu sein. Tatsächlich wollte Nietzsche das Denken anregen, entwickeln und fördern und nicht unterdrücken und zum Schweigen bringen. Seine Forderung nach Ablösung des diskursiven Begriffs hat nichts mit Agnostizismus und Irrationalismus zu tun. Nietzsche fand lediglich, daß die Logik als Mittel der Erkenntnis unbrauchbar sei. Die Wirklichkeit ist so veränderlich, alles in ihr ist so zerbrechlich und unbeständig, daß das Denken buchstäblich nirgends einen Anhaltspunkt finden kann: jeder Versuch einer Verfestigung der vernünftigen Inhalte im Begriff „entfremdet" unumgänglich diese Wirklichkeit dem Erkennenden, der Begriff zeigt sie ihm in einem falschen Spiegel. Nach Nietzsches Ansicht ist die Logik ein perspektivischer Schein, sie ist als „Erleichterung" gedacht, sie bezeichnet den Sieg der „leichteren" Denkweise über die „schwierigere". 40 Mag sie zum Leben nützlich sein, ohne sie denken kann man sehr wohl. Aus Nietzsches Perspektive geht hervor, daß die Logik nicht hilft, mag sie auch eine dialektische sein. Der Begriff kann nicht durch den Begriff übertroffen werden, auch dann nicht, wenn dies nicht mehr derselbe, sondern ein anderer, veränderter Begriff wäre. Sagen wir es so: dasjenige, was die „Erbsünde" der Erkenntnis ausmacht, kann keineswegs auch ein Mittel für deren Erlösung sein. Denn der Begriff bleibt notwendig an die Identität gebunden, insofern er letzten Endes Identität herstellt, mag diese Identität auch durch die Differenz vermittelt sein (wie es bei Hegel der Fall war). 39 40

Za I, Von den Verächtern des Leibes: K G W VI 1, S.35. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 18 (13), S.335-336.

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Deswegen hat Nietzsche entschieden Bild und Metapher in den Vordergrund gerückt. Leidenschaftlich experimentierte er mit der Sprache, unermüdlich sehnte er sich nach neuen plastisch-anschaulichen und symbolischen Figuren, mittels derer nach seiner Ansicht die „schweren Gedanken" allein ausgedrückt werden können, mittels derer der wilde, chaotische Strom der individuellen Lebensformen allein zum Sprechen kommen kann, wozu aber die analytische arithmetisch-geometrische Sprache ganz ungeeignet ist.41 Die bedeutenden Erfolge jedoch, die Nietzsche dabei erzielte, dürfen uns keineswegs zu dem falschen Schluß führen, die Konsolidierung der neuen philosophischen Terminologie sei eine wesentliche Bedingung für den Fortschritt der neuen Art des Philosophierens. Mag es auch noch so richtig sein, daß die Ähnlichkeit zwischen Hegels Kritik der „Verstandesphilosophie" und Nietzsches Kritik der Logik so offenkundig und unzweifelhaft ist, daß es sogar den Anschein hat, Nietzsche habe hier lediglich vereinfacht das wiederholt, was Hegel vor ihm prägnant formuliert hat, so ist doch gewiß, daß die dialektische Spekulation und die dionysische Denkweise 42 zwei so wesentlich verschiedene Positionen sind, daß nicht einmal von einer formalen, geschweige denn wirklichen Ähnlichkeit zwischen Hegel und Nietzsche im Blick auf Richtung und Charakter ihrer Bemühungen, die Logik zu „überwinden", die Rede sein kann. Dazu ist nur hinzuzufügen - und dabei bleibt die Frage der Entscheidung zwischen den gebotenen Alternativen völlig offen - daß der Weg, den Hegel eingeschlagen hat, unvergleichlich weniger riskant, wenn auch bei weitem nicht leichter gangbar ist als derjenige, auf den Nietzsche hingewiesen hat, trotz aller Schwankungen und Folgewidrigkeiten der vorangehenden Versuche Hegels, die Möglichkeiten eines neuen philosophischen Anfangs auf diesem Wege zu erproben.

41

42

Daß Nietzsche überhaupt nicht beabsichtigte, eine neue Sprache zu schaffen, da er sich der Widersprüchlichkeit eines solchen Unterfangens bewußt war, betont Arthur C. Danto, Nietzsche as Philosopher (New Y o r k : Macmillan, 1965), S.97. Der Wahrheit halber muß man sagen, daß Nietzsche nirgends die Bezeichnung „dionysisch" für seine neue Denkweise gebraucht hat, obwohl er vom Gott Dionysos sagte, er sei ein Philosoph, und sich seinen Schüler und Nachfolger nannte. Vgl. J G B 295: K G W VI 2, S . 2 4 8 ; G D Streifzüge eines Unzeitgemässen 49: K G W VI 3, S. 146; E H Die Geburt der Tragödie 2 : K G W VI 3, S. 310. Daß der späte Nietzsche seine frühe Auffassung des Dionysischen aus der Geburt der Tragödie wesentlich geändert hat, insofern er den Gegensatz zwischen dem philosophischen Denken und dem künstlerischen Schaffen nachträglich durch das Prinzip des Willens zur Macht überwunden hat, darüber s. Walter Kaufmann, a. a. O., S. 2 8 1 - 2 8 2 . Über dieselbe Frage s. auch Friedrich Kaulbach, a. a. O., S. 2 9 6 - 2 9 8 . Daß Hegel an einer berühmten Stelle der Phänomenologie des Geistes die Wahrheit bildhaft als „bacchantischen Taumel" (SW 2, S. 45) beschrieben hat, bedeutet keineswegs, daß seiner Philosophie eine „dionysie cachee" eignet, wie es sich Bernard Pautrat vorstellt, Versions du soleil. Figures et systeme de Nietzsche (Paris: Editions du Seuil, 1971), S. 130. Darauf, daß eine solche Annäherung Nietzsches an Hegel unbegründet ist, macht aufmerksam Gianni Vattimo, „Nietzsche heute?", Philosophische Rundschau 24 (1977), S. 74-75.

Anhang Β. Nietzsche und Aristoteles Die Schwierigkeiten der Philosophie Nietzsches liegen nicht nur darin, daß sie mit allen überlieferten Denkgewohnheiten so radikal bricht, daß sie die metaphysische Denkweise so schonungslos verspottet, daß sie alle bisherigen denkerischen Errungenschaften der traditionellen Philosophie entschieden ablehnt, obwohl schon dieser Sachverhalt selbst genügend verwundert und verwirrt, um nicht zu sagen fast erschreckt. Hinzu kommt noch, daß Nietzsche von den bewährten Wegen des traditionellen Philosophierens eigensinnig abweicht, daß er das philosophische Denken wagemutig in eine andere Richtung lenkt, daß er beharrlich versucht, anders zu denken, als man bis dahin gedacht hat. Dieser letztere Umstand ruft nicht nur ein Unbehagen hervor, er wirkt sogar entmutigend. Es stellt sich heraus, daß Nietzsches Philosophie im Ganzen „abgründig" 1 ist, d.h. die Grenze desjenigen erreicht, das sich überhaupt begreifen und ausdrücken läßt, und das betrifft nicht nur den Gedanken der ewigen Wiederkunft, an dem seinen glücklichen Erben vermutlich am meisten gelegen war. Man sollte gut verstehen, in welchem Sinne hier von Schwierigkeiten gesprochen wird, in die jede Auslegung und Deutung Nietzsches gerät. Dabei sind nicht nur die bekannten Schwierigkeiten der philosophischen Hermeneutik gemeint, zumal nicht allein die gewöhnlichen, die jeden Versuch einer Interpretation philosophischer Texte ohne Ausnahme begleiten. Es handelt sich eigentlich darum, daß Nietzsche den Anspruch erhob, anders als alle seine philosophischen Vorläufern zu denken und nicht nur etwas anderes. Dies „anders" hatte für ihn vor allem den Sinn vollständiger Befreiung vom Zwang der logischen Identität. Nietzsche erblickte sich selbst am Ende eines langen philosophischen Weges, auf dem sich eine früher ungeahnte Möglichkeit radikaler Umwandlung der überlieferten Denkart erschloß. Er verstand seinen philosophischen Standpunkt nicht mehr als einen philosophischen im traditionellen Sinn, nicht nur deshalb, weil dieser Standpunkt kein metaphysisches Vorzeichen mehr hat, weil er keinen neuen metaphysischen Entwurf bietet, sondern ebenso, oder sogar vor allem deswegen, weil dieser Standpunkt überhaupt nicht mehr logisch entwickelt und begründet ist. Hier wird also auf

1

Za III, Der Genesende 1: KGW VI 1, S.266.

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den Unterschied in einer Dimension hingewiesen, die weitaus tiefgehender ist als diejenige, innerhalb welcher man gewöhnlich über die Unterschiede zwischen den einzelnen Vertretern der philosophischen Tradition spricht. Es ist zwar eine große Frage, ob Nietzsche wirklich so originell war, wie es ihm selber schien, ob sein Ansatz einer neuen Art des Philosophierens in der Tat so radikal neu war, daß er mit Recht „Wendepunkt der Geschichte"2 genannt werden kann, wie er ihn selbst genannt hat. Daß Nietzsche so viel Nachdruck auf die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugangs zur Wirklichkeit legte, daß er so großen Wert auf seinen Bruch mit der Logik legte, daß er so viel von der Auflösung des diskursiven Begriffs in Bild und Metapher erwartete, bedeutet keineswegs, daß man seiner programmatischen Verkündung aufs Wort glauben soll. Es ist durchaus möglich, daß Nietzsches unaufhörliche Hervorhebung der Eigentümlichkeiten seines eigenen Denkweges mehr von seiner maßlosen Eigenliebe und Exzentrizität zeugt, als daß sie den wahrhaft revolutionären Charakter der Ergebnisse seines Denkens bestätigt. Die scheinbar unerhörte Neuheit seiner Wende in der Philosophie (die letzten Endes auf die „ästhetische" Bestimmung der Vernunft zurückzuführen ist) kann wenigstens teilweise gemildert, wenn auch nicht gänzlich beseitigt werden durch die bloße Erinnerung an eine seinerzeit weit bekannte und anerkannte, jedoch in der Zwischenzeit fast völlig vergessene Einsicht des Aristoteles. Um kein MißVerständnis hervorzurufen, sei bemerkt: diese Erinnerung zielt auf keine historische Rekonstruktion und stellt also kein methodisches Wiedererkennen des philosophischen Leitgedankens Nietzsches in seiner vermeintlich ursprünglichen, rudimentären Form dar. Diese Erinnerung hat ein spezifisches Ziel. Sie soll nur zu einem besseren Verständnis von Sinn und Tragweite der Bemühung Nietzsches um die „Uberwindung" der Logik beitragen. Nichts anderes und nicht mehr als das ist beabsichtigt. Es liegt fern, daß man auf diese Weise auf eine tatsächliche Ubereinstimmung zwischen Nietzsche und Aristoteles in „erkenntnistheoretischer" Hinsicht hinweisen, geschweige denn eine historische Abhängigkeit zwischen ihren Lehren feststellen möchte. So etwas wäre, historisch betrachtet, völlig verfehlt und könnte übrigens auch systematisch nicht gerechtfertigt werden, da Aristoteles und Nietzsche ganz verschiedene Anschauungen über Ursprung und Wesen der menschlichen Erkenntnis hatten, so daß sie verschiedene Sachverhalte vor Augen halten, auch wenn sie dieselben Worte gebrauchten. Durch diese Erinnerung an eine wichtige Einsicht des Aristoteles (zu der der Stagirite offenkundig im Blick auf Piaton gekommen ist und in Anlehnung an dasjenige, was schon von Anfang an in der griechischen Philosophie entdeckt worden ist) möchten wir keineswegs Nietzsche nachträglich in den 2

Ν 1 8 8 2 / 1 8 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 16 (49), S.541.

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traditionellen Rahmen einbeziehen und seiner Philosophie stillschweigend metaphysische Bedeutung unterschieben. Hierdurch sollen lediglich alle M i ß verständnisse über den vermeintlichen Irrationalismus Nietzsches beseitigt werden, so daß eine Widerlegung dieser Anschuldigung entbehrlich wird. Allerdings ließ sich Nietzsche nicht von der Aristotelischen Einsicht leiten, er hielt es sogar nicht für nötig, sich kritisch mit ihr zu beschäftigen. Daß hier an keine metaphysische Auslegung Nietzsches gedacht wird, scheint deshalb wichtig zu betonen, weil diese Möglichkeit immer verlockt. Nach ihr hat nämlich Heidegger in seiner breit angelegten Interpretation der Nietzscheschen Lehre vom Willen zur Macht gegriffen. 3 Er hat sogar ausdrücklich festgestellt, daß zwischen Nietzsche und Aristoteles eine tiefe „innere Beziehung" bestehe, ungeachtet dessen, daß Nietzsche dies nicht wußte, daß sie ihm verborgen geblieben war. Heideggers Worten zufolge umfaßt der Begriff der Macht bei Nietzsche drei Momente: zunächst das Vermögend-sein im Sinne von dynamis, dann den Macht-Vollzug im Sinne von energeia und schließlich das Zu-sich-selbst-kommen der Macht im Sinne von entelecheia. Jedenfalls dachte Heidegger dabei, daß Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht (als Lehre vom Sein) sich nicht „unmittelbar mit Hilfe der Aristotelischen Lehre auslegen [ließe]", daß vielmehr beide Lehren „in einen ursprünglichen Fragezusammenhang" zurückzunehmen seien, 4 d. h. aus der historischen Perspektive betrachtet werden müßten, da Heidegger von vornherein davon ausging, daß Aristoteles und Nietzsche gleichmäßig in die Geschichte der Metaphysik gehörten, als deren Anfang und Ende. Auf diese Weise beging Heidegger einen schweren Verstoß gegen Nietzsche: er hat die Richtung seiner Bemühungen verfälscht, sowie auch deren Sinn verzerrt. Insofern kann die Heideggersche Verkettung von Nietzsche und Aristoteles für uns hier kein Vorbild, geschweige denn ein zuverlässiger Wegweiser sein. Es kann nicht bezweifelt werden, daß Nietzsche Aristoteles gut kannte, vielleicht sogar viel besser, als man im ersten Augenblick vermuten würde, besonders da der N a m e Aristoteles sehr selten in seinen Schriften vorkommt. Nicht nur, daß Nietzsche den großen griechischen Philosophen gut kannte, er schätzte ihn auch sehr hoch und nicht weniger als seine beliebten Vorsokratiker, obwohl er sich auch heftig von seinen ästhetischen Anschauungen distanzierte. „Aristoteles in Ehren und höchsten Ehren!" sagt Nietzsche, „aber er traf sicherlich nicht den Nagel, geschweige den Kopf des Nagels, als er vom

3

4

Martin Heidegger, Nietzsche I (Pfullingen: Neske, 1961), S. 77-78. Auf die Schwierigkeiten dieser Heideggerschen Interpretation wies zuerst hin Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie (Berlin: W . de Gruyter, 1971), S. 30-33. Martin Heidegger, a. a. O., S. 78.

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letzten Zweck der griechischen Tragödie sprach!"5 Wahrscheinlich hat Nietzsche Aristoteles vorzugsweise wegen seiner ethischen Auffassung hochgeschätzt. Man kann mit gutem Grund annehmen, daß Nietzsche die Nikomachische Ethik nicht nur hinreichend gekannt, sondern auch, daß er daraus manches gelernt hat.' Zumindest ist es sicher, daß die Aristotelische Beschreibung des großgesinnten Menschen (megalopsychos) den jungen Nietzsche nachhaltig beeindruckt und in hohem Maße zu seinem radikalen Bruch mit der christlichen Moral geführt hat. Was hat Aristoteles so Wichtiges gesehen, daß die Erinnerung an diese Einsicht zu einem besseren Verständnis des Grundanliegens Nietzsches beitragen kann? Was für ein Licht kann ein Denker auf Nietzsches radikalen Versuch einer Verlagerung des philosophischen Denkens aus seinem bisherigen metaphysischen Gefüge werfen, der gerade am meisten zum Bau und zur Befestigung dieses Gefüges beigetragen haben soll? Wieso kann man Aristoteles überhaupt mit Nietzsche in Verbindung bringen, sei es auch bloß zur einstweiligen Erläuterung, wenn dieser schon stillschweigend über diese wichtige Entdeckung seines großen Vorläufers hinweggegangen ist? Gleich muß gesagt werden: es handelt sich um die Aristotelische Einsicht, daß die Logik weder die einzige noch die höchste Instanz der menschlichen Erkenntnis ist, daß die Wahrheit des Urteils, die sich auf die Zusammensetzung und Trennung der Begriffe gründet, eine andere, ursprünglichere Wahrheit voraussetzt, die Wahrheit im Sinne der „Unverborgenheit" des Seienden, daß es neben dem wissenschaftlich-diskursiven Denken mittels Schlüssen und Beweisen, deren Träger der Verstand (logos, logismos, dianoia) ist, noch eine andere, vornehmlich philosophische oder metaphysische Denkform gibt, die in unmittelbarer geistigen Schau oder intuitiver Erfassung der Wirklichkeit besteht und deren Träger die Vernunft (nous) ist.7 Woran uns hier gelegen ist, ist also keine zufällige, gelegentliche, beiläufige Bemerkung des Aristoteles, sie muß als wesentliche Komponente seines Nachdenkens über Ursprung und Wesen des menschlichen Erkenntnisvermögens angesehen werden. In seinem Versuch, die Eigenart der Metaphysik als erster Philosophie (oder höchster theoretischen Wissenschaft) näher zu bestimmen - was ihm offenkundig so viele Sorgen und Schwierigkeiten bereitete, daß es ihm nicht gelungen ist, diese 5 6

7

F W 80: K G W V 2, S. 112. Vgl. G D Was ich den Alten verdanke 5: K G W VI 3, S. 154. Näheres darüber bei: Walter Kaufmann. Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist (Princeton: Princeton University Press, 4 1974), S. 3 8 2 - 3 8 4 . Dazu und weiter vgl. besonders Paul Wilpert, „Zum aristotelischen Wahrheitsbegriff in: Fritz-Peter Hager (Hrsg.), Logik und Erkenntnislehre des Aristoteles (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1972), S. 106-121. Über dieses Aristotelische Schwanken zwischen der Wahrheit des Urteils und der Wahrheit des Dinges, handelt gründlich Marijan Cipra, Metamorfoze metafizike (Cakovec: Zrinski, 1978), besonders S. 191-192, 2 0 3 - 2 0 7 , 2 1 3 - 2 1 4 , 233-234.

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mühselige Anstrengung zu Ende zu führen - fand Aristoteles, daß die Logik als Fundament der Metaphysik nicht tragfähig genug sei. Zumindest drängte sich ihm solch eine Folgerung auf als letzte Konsequenz der Erkenntnis, daß sich die Metaphysik mit Seiendem als solchem und dem ihm an sich Zukommenden beschäftigt und nicht mit besonderen Arten oder Gattungen des Seienden. Die Metaphysik unterscheidet sich nämlich wesentlich von den anderen Wissenschaften, insofern sie vom Seienden ganz allgemein und abstrakt handelt und die ersten Prinzipien und Ursachen alles Wissens und Seins untersucht; ihr Gegenstand ist derart eigenartig und ausnehmend, daß sich seine Bearbeitung der logischen Disziplin entzieht, d. h. die Anwendung strenger Formen induktiven und syllogistischen Schließens und Beweisens nicht zuläßt. Obwohl Aristoteles die Logik erst geschaffen hat, um die Möglichkeit wahrer Erkenntnis alles Seienden am besten sicherzustellen, neigte er doch nicht einer Absolutierung ihrer Funktion zu. Daß die Metaphysik nicht auf der Logik gegründet werden kann, d.h. daß die Metaphysik weder eine strenge Wissenschaft ist, noch eine solche jemals werden wird, da ihr die Logik nicht als Organon dienen kann, hat Aristoteles in seiner vielfach unvollendeten, ja nicht bis zum Ende durchdachten Untersuchung über Stellung und Funktion der Metaphysik im System der menschlichen Erkenntnis vielleicht nicht ganz deutlich und entschieden hervorgehoben, jedoch sind auch seine vorsichtigen Andeutungen in dieser Richtung durchaus vielsagend und überzeugend. Es fällt auf, daß die Vernunft (nous) eine Sonderstellung in der Aritotelischen Philosophie einnimmt. Sie tritt sowohl in deren niederen - wenn auch nicht in den niedrigsten - als auch in ihren höchsten Schichten auf. An einer oft zitierten Stelle aus dem 12. Buch der Metaphysik wird von der göttlichen Vernunft gesagt, ihr sei die höchste Fähigkeit der Selbstreflexion (noesis noeseosf eigen, und deren Tätigkeit wird mit dem Leben selbst identifiziert.9 Und in jener bekannten Ubersicht der wichtigsten Formen oder Weisen des Erkennens der Wahrheit (aletheuein), im 6. Buch der Nikomachischen Ethik, die zugleich ein vollständiges Verzeichnis der besten Haltungen (hexeis) des vernünftigen Teils der menschlichen Seele enthält, steht die Vernunft an der höchsten Stelle vor dem technischen Können (techne), der Wissenschaft (episteme), der praktischen Einsicht (phronesis) und der Weisheit (sophia).w So

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9 10

Met. X I I 7 , 1 0 7 2 b 1 8 - 2 2 . Vgl. Met. X I I 9 , 1 0 7 4 b 34. Daß Aristoteles darunter keine neuzeitlich gedachte „Reflexion" verstand, im Sinne der Rückwendung des Gedankens (cogitatum) zum Subjekt des Denkens (ego cogito), sondern die rein objektive Vermittlung der göttlichen Vernunft durch den göttlichen Gegenstand selbst, hebt hervor Werner Marx, Einführung in Aristoteles' Theorie vom Seienden (Freiburg: Rombach, 1972), S . 6 7 . Met. X I I 7, 1072 b 27. Eth. Nie. VI 3, 1 1 3 9 b 1 5 - 1 7 .

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zeigt sich, daß die Vernunft nicht nur eine unumgängliche Bedingung der ethischen Vortrefflichkeit ist, sondern auch eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit aller „dianoetischen" (oder geistigen) Tugenden. Hier ist nicht weiter zu erforschen, ob Aristoteles mit dieser Hervorhebung der Vernunft gewissen tieferen Anregungen des eigenen Denkens nachging oder ob dies nur die letzte Spur oder ein Rest seiner Gebundenheit an die Grundvoraussetzungen der Platonischen Philosophie ist. Es ist durchaus möglich, daß dabei eher an eine Anlehnung des Aristoteles an Piaton zu denken ist, als an einen völlig originellen Aristotelischen Beitrag zur Philosophie. Als wichtigstes Merkmal der Vernunft, aufgefaßt im Sinne des menschlichen Erkenntnisvermögens, betont Aristoteles die Unmittelbarkeit seines Bezuges zum Seienden, die Ursprünglichkeit seiner Erfahrung der Wirklichkeit. Die Vernunft geht von keinen Voraussetzungen aus, sie stützt sich auf keine Sinnesempfindungen, sie hat nichts mit Urteilen und Schließen zu tun. Ihre einzige Aufgabe ist, das Seiende unmittelbar zu berühren (thigein)", sich unmittelbar mit den Dingen zu identifizieren und einfach deren Wahrheit zu verkünden. Zu dieser Verkündigung ist natürlich keine Alternative vorgesehen, da es hier keine diskursive Vermittlung gibt. Im Unterschied zum Verstand, dem stets die Gefahr droht, einen Fehler zu begehen, da die Wahrheit oder Falschheit seines Urteils davon abhängt, ob die verwendeten Begriffe so zusammengesetzt oder getrennt sind wie die Dinge, auf die sie sich beziehen, irrt die Vernunft niemals, sie ist immer wahr. Denn die Vernunft kann das Seiende lediglich berühren, und dann ist es das Wissen, oder es nicht berühren, und dann ist es das Nichtwissen. Hier ist also grundsätzlich jede Möglichkeit des Irrtums ausgeschlossen. Die Vernunft sagt nichts über die Dinge, d. h. sie bringt kein logisches Urteil über sie vor, weder ein bejahendes (kataphasis) noch ein verneinendes (apophasis), wie dies allein der Verstand tun kann, sondern sie läßt die Dinge selbst zu Wort kommen, d. h. sie sagt einfach (phasis) die metaphysische Wahrheit des Seins.12 Aristoteles erläutert die Funktion der Vernunft aufgrund der Analogie zur Wahrnehmung (aisthesis)." Er stellt fest, daß die Vernunft das geistige „Wahrnehmungsorgan" (aistbetikon) ist, d.h. daß das intuitive Denken (noein) eine Art Wahrnehmung (aisthanesthai) darstellt, insofern es ebenfalls nur in unmittelbarer Berührung mit dem Gegenstand geschieht, so daß es nie falsch sein kann. Der Unterschied zwischen beiden liegt nicht darin, daß die Wahrnehmung angeblich nur auf das Sinnliche und Einzelne verwiesen wird und das " Met. I X 10, 1 0 5 1 b 24. 12 Met I X 10 1054 b 2 4 - 2 5 : OH gar tauto kataphasis kaiphasis. Vgl. De int. 16 a 9 - 1 8 , 3 , 1 6 b 2 6 - 3 0 . 13 D e an. III 4, 429 a 1 5 - 4 2 9 b 22. Näheres über diese Aristotelische Erläuterung bei Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Die Metaphysik des Aristoteles (Frankfurt/M.: V. Klostermann, 1979), S. 2 0 9 - 2 1 5 .

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Denken auf das Vernünftige und Allgemeine. Denn die Wahrnehmung des Menschen ist immer irgendwie durchgeistigt (im Unterschied zur Wahrnehmung des Tieres), in ihr ist das Denken immer schon gleichsam am Werk, so daß der Mensch das Sinnliche und Einzelne immer mittels des Vernünftigen und Allgemeinen wahrnimmt. In der Tat unterscheidet sich das intuitive Denken von der Wahrnehmung vor allem durch das freie Verhältnis zu seinem Gegenstand. Aristoteles bemerkt ausdrücklich, daß diesem Denken, im Unterschied zur Wahrnehmung, mehr das Wirken (poiein) als das Leiden (pascheinj14 eigentümlich ist. Die Wahrnehmung ist äußerlich durch ihren Gegenstand bedingt, da dieser sich außer ihr befindet: derart und soweit sich der Wahrnehmungsgegenstand der Wahrnehmung zeigt, derart und soweit entspricht diese ihm. Das intuitive Denken ist immer schon latent bei seinem Gegenstand, da sein Gegenstand das Vernünftige (noeton) ist, also dasjenige, was nur von der Vernunft berührt werden kann. Dieses Denken braucht nicht auf das Vorkommen seiner Gegenstände zu warten, es kann sie vielmehr immer aus eigener Kraft in die Welt rufen. Es ist jedoch nicht nötig, hier länger bei allen Einzelheiten des Aristotelischen Vergleichs zwischen dem intuitiven Denken und der Wahrnehmung zu verweilen. Es ist viel wichtiger, auf seine Erläuterung der Differenz zwischen dem intuitiven und dem diskursiven Denken überzugehen, denn dies ist hier von entscheidender Bedeutung. Diese Differenz hat Aristoteles terminologisch als Differenz zwischen noein und dianoeisthaixi festgelegt. (Oder man kann wenigstens annehmen, daß in bezug auf diese Differenz seine Verwendung dieser Termini am angemessensten war.) Vom Verstand (dianoia) als Träger der dianoeisthai-Titigkeit glaubte nun Aristoteles, daß er fest an den Leib gebunden sei (wie übrigens auch die Sinne, welche die Wahrnehmung ermöglichen), wodurch die Funktion des Verstandes in völlige Abhängigkeit vom Zustand des betreffenden Organs, d. h. des Gehirns, gebracht wurde. Und was die Vernunft (nous) als Träger der «oezw-Tätigkeit betrifft, fand Aristoteles, daß sie eine unvergängliche Wesenheit (ousia) sei, d.h. etwas völlig vom Leib Unabhängiges (wie auch von der Seele, die nur eine Form (eidos), oder Endzweck (entelecheia) des Leibes ist, womit der Vernunft ein göttlicher Rang gesichert wurde. Belanglos ist dabei, inwiefern Aristoteles durch diese Reinigung der Vernunft von allem Körperlichen, d. h. durch ihre Erhebung hoch über alle anderen Fähigkeiten der Seele, tatsächlich jene Differenz begründet 14

15

De an. III 5, 430 a 18-19. Daß Aristoteles im gleichen Zusammenhang (a 24-25) nicht nur den Unterschied zwischen der sogenannten wirksamen Vernunft (nous poietikos) und der leidenden Vernunft (nous pathetikos) eingeführt, sondern sogar die erstere an die letztere gebunden hat, ändert nichts wesentlich an der Sache. De an. 14, 408 b 18-29. Vgl. An. post. II 19, 100 a 2 4 - 1 0 0 b 12; Met. VI 4, 1027 b 27-28; Eth. Nie. VI 2, 1139a 33; VI 12, 1143a 35-37.

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und inwiefern er die Wissenschaftlichkeit seiner Psychologie den systematischen Bedürfnissen seiner Physik und Theologie geopfert hat.16 Das intuitive Denken geht jeder verstandesmäßigen Zergliederung des Seienden voran, jeder besonderen Bestimmung der Dinge durch Begriff und Definition, jeder ausdrücklichen Verknüpfung von Subjekt und Prädikat im logischen Urteil. Es handelt sich um die unmittelbare Einsicht der Einheit und Gleichartigkeit des Gedachten mit dem Denken selbst. Das intuitive Denken entdeckt sich selbst in seinem Gegenstand nur dank dem Umstand, daß sein Gegenstand das ursprüngliche Eine ist, d.h. das Einfache (haploun),17 Ungeteilte (adihairetonf*, Unzusammengesetzte (asyntheton)." Allerdings ist dieses „Eine" nicht an und für sich gegeben, sondern immer an etwas anderes gebunden, in einem Seienden verkörpert,20 mag dieses niedrigsten oder höchsten Ranges sein. Gäbe es diese allgegenwärtige Einheit nicht, dann könnte sich nichts dem Denken unmittelbar offenbaren, geschweige denn sein Begehren nach weiterer Forschung erwecken. Solch ein Gegenstand ist vor allem das Seiende als Seiendes (on hei on), d. h. das Sein selbst als tiefste und elementarste Einheit alles Seienden, also das Erste, das alles Seiende durchdringt, ermöglicht und begründet, das, was schlechthin ist in allem, was ist, wenn auch nicht auf die Art des Seienden. Gleich neben dem Sein selbst kommt das eidos, d. h. die ideale Gestalt oder die Wesensform des Seienden, das, was sein Wesen ausmacht. Als Beispiel für diese Art eines vernünftigen Gegenstandes kann das eidos „Mensch" genommen werden: das ist jenes Allgemeine, das allen Menschen ohne Unterschied zukommt, das den gemeinsamen Kern der Menschengattung bildet, was allen Menschen eine einheitliche Prägung gibt, bevor der einzelne als dieser oder jener näher bestimmt wird. Diese idealen Gestalten oder Wesensformen (eide) nennt Aristoteles „unzusammengesetzte Wesenheiten" (me synthetai ousiai),21 weil er glaubt, daß sich in jeder von ihnen eine ursprüngliche substantielle Einheit des Seienden offenbare. Unter die Gegenstände des intuitiven Denkens rechnet Aristoteles auch die Prinzipien oder ersten Gründe (archai)22 der Einzelwissenschaften neben dem Sein selbst und den erwähnten intelligiblen Wesenheiten. Vielleicht rückt er sogar diese Prinzipien in den Vordergrund. Für ihn sind dies zunächst die logischen Axiome (vor allem der Satz vom Vgl. Walter Bröcker, Aristoteles (Frankfurt/M.: V. Klostermann, >1964), S.284, 287. Met. VI 4, 1027 b 27; X I I 7, 1072 a 32. 18 Met. XIII 3, 1078 a 23. " Met. IX 10, 1051b 17. 20 Met. IV 2 , 1 0 0 3 b 31: ouden heteron to hen para to on. Vgl. Met. X 3 , 1 0 5 3 b 2 0 - 2 1 : to gar on kai to hen katholou kategoreitai malista panton. Zu diesen beiden Stellen vgl. Gottfried Martin, Einleitung in die allgemeine Metaphysik (Stuttgart: Ph. Reclam, 1974), S. 122-127. 21 Met. I X 10, 1051 b 27. 22 An. post. I 10, 11; Met. IV 3, 4, 7. 16

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Widerspruch, aber auch der Identitäts-Satz und der Satz vom ausgeschlossenen dritten), die allen Wissenschaften gemeinsam sind und für alles Seiende gelten (koinoi archai), dann auch die theoretischen Grundvorausetzungen, auf die sich die Einzelwissenschaften gründen, insofern sie nur besondere Arten oder Gattungen des Seienden betreffen (archai idiai). Und schließlich gehören hierher auch die konstitutiven Grundbegriffe der einzelnen Wissenschaften, die den Bereich jeder von ihnen bestimmen und gegen alle anderen Bereiche abgrenzen. Diese Begriffe können aus keinen höheren Begriffen abgeleitet, sondern nur intuitiv aufgefaßt und aufgenommen werden. Das diskursive Denken vermittelt die Dinge aufgrund der logischen Beweisführung, dank ihm wird das Seiende als dieses oder jenes näher begrifflich bestimmt. Sein Gebrauch ist in der Wissenschaft weit verbreitet, ja auf ihm beruht eigentlich das ganze Gebäude der wissenschaftlichen Erkenntnis. Als seine wesentliche Eigenschaft gilt, daß es seine Ergebnisse methodisch sichert, daß es Beweise angibt für das, was es behauptet, daß es sich dessen vollbewußt ist, was es weiß. Dieses Denken tritt an die Dinge auf Umwegen heran, mit Hilfe von Wahrnehmung oder Hypothese, wobei diese von einem bestimmten Standpunkt aus betrachtet werden, im Blick auf ihren besonderen Aspekt. Es geschieht im Urteil, und zwar derart, daß es behauptet, etwas sei oder sei nicht (logos apophantikos),2i es besteht aus Zusammensetzung (synthesis) und Trennung (dihairesis) der Gedanken.24 Der Gegenstand dieses Denkens ist nicht mehr ein einfacher und einheitlicher Wesensgehalt, der sich dem vernünftigen Blick unmittelbar offenbart, sondern ein komplexer Tatbestand, d.h. ein konkretes, aus Teilen zusammengesetztes Ganzes (synholon),2i dessen innere Verfassung nur durch eine Begriffszergliederung verstanden werden kann. Insofern der Begriff kein Ding ist, sondern dessen Name, deckt sich das Urteil nicht .unumgänglich mit der wirklichen Bewandtnis. Die Wahrheit oder Falschheit des Urteils hängt davon ab, ob die Beziehung zwischen den Begriffen der tatsächlichen Beziehung, die es bezeichnet, entspricht. „Denn du bist nicht weiß, weil unser Denken, daß du weiß bist, wahr ist, sondern weil du tatsächlich weiß bist, sprechen wir die Wahrheit wenn wir es behaupten."26 Diese Stelle bei Aristoteles ist vielleicht die prägnanteste Formulierung der logischen Auffassung der Wahrheit, die in der Übereinstimmung von Gedanke und Ding (adaequatio rei et intellectus) deren einziges und höchstes Kriterium sieht. Offenkundig hat Aristoteles nicht nur die Kompetenzen von Vernunft und Verstand gut erkannt und klar abgegrenzt, sondern auch deren Tätigkeiten mit ' De int. 5, 17 a 8. De int. 1, 16 a 12. 25 Met. VII 15, 1039 b 20. 26 Met. I X 10, 1051 b 6 - 9 . 2

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Recht in enge gegenseitige Beziehung gebracht. Unzweideutig wußte der Stagirite, daß die vernünftige Einsicht die unumgängliche Voraussetzung der verstandesmäßigen Zergliederung ist, wenn er sich schon nicht auch ganz im klaren darüber war, daß dies nur Seiten oder Aspekte einer einheitlichen Erkenntnisfunktion sind. Doch schwerlich könnte man von dieser Auffassung des Verhältnisses zwischen intuitivem und diskursivem Denken sagen, sie biete eine einwandfreie Lösung, besonders angesichts der Zweideutigkeit des Wahrheitsbegriffs, die im Rahmen seiner Untersuchung unentschieden geblieben ist.27 In der Tat schwankte Aristoteles offenkundig zwischen dem logischen und dem metaphysischen Wahrheitsbegriff, wenigstens insofern, als er einerseits behauptete, die Wahrheit sei vor allem und in erster Linie eine Eigenschaft des Urteils, während er andererseits die Meinung verfocht, das Seiende müsse sich der Vernunft schon unmittelbar offenbart haben (Wahrheit im Sinne von „Unverborgenheit"), um über es überhaupt urteilen zu können. Aristoteles war sich sogar des Bedürfnisses nicht genügend bewußt, einen gemeinsamen Nenner für beide Wahrheitsbegriffe zu finden. In dieser Zweiheit sah er keine Schwierigkeit für seinen Versuch, die Metaphysik zu begründen, geschweige denn eine Gefahr für die Zukunft der Metaphysik selbst. Es fiel ihm gar nicht ein, daß die ungelöste Spannung zwischen Wahrheit des Urteils und der Wahrheit als „Unverborgenheit" einmal zur völligen Unterjochung der Metaphysik durch die Logik führen und sogar das Weiterbestehen der Metaphysik als erster Philosophie gefährden könnte. Dadurch, daß er die Metaphysik grundsätzlich der Kompetenz der Logik entzog, daß er jeden Gedanken an deren streng wissenschaftliche Begründung entschieden verwarf, daß er es bewußt aufgab, die Metaphysik nach dem Modell der apodiktischen oder demonstrativen Wissenschaft (episteme apodeiktike) aufzufassen, wollte Aristoteles natürlich nicht den Wert ihrer Ergebnisse in Frage stellen. Eher könnte man sagen, daß er erst dadurch den wirklichen Vorrang der metaphysischen vor der wissenschaftlichen Erkenntnis zu sichern glaubte. Denn wo es keine logische Vermittlung gibt, da gibt es auch keine Möglichkeit der Verirrung. Wer die metaphysischen Wahrheiten nicht eingesehen hat, befindet sich nicht im Irrtum: der besitzt nur kein Wissen, hat aber nicht falsch erkannt. Immerhin können die metaphysischen Wahrheiten nicht bewiesen werden, weder durch Sinne noch durch Verstand, denn sie bedürfen überhaupt keines Beweises. Ihre Wahrhaftigkeit ist so offenkundig, daß die Vernunft, die es „berührt" hat, die Notwendigkeit ihrer Geltung überhaupt nicht bezweifeln kann. Es kann jedoch keine Rede davon sein, daß Aristoteles mit dieser grundsätzlichen Ausschließung der Metaphy27

So auch Karl-Heinz Volkmann-Schluck, a.a.O., S. 159-160. Vgl. auch Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik (Tübingen: M. Niemeyer, 3 1966), S. 142.

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sik aus der Kompetenz der Logik, die Metaphysik der Logik entgegenstellen, oder sogar jede Verbindung zwischen ihnen lösen wollte. Es erscheint nicht zufällig die Bezeichnung „Wissenschaft" (episteme) in fast allen seinen wichtigsten Bestimmungen der Metaphysik als philosophischer Grunddisziplin. Für ihn ist sie nicht nur „Weisheit" (sophia),28 sondern auch die „höchste Wissenschaft" (malista epistemedie „göttliche unter den Wissenschaften" (theia ton i0 epistemon), die „am meisten auf das Allgemeine bezogene Wissenschaft" (malista ten katholou epistemenf\ die „einzig freie Wissenschaft" (mone eleuthera ton epistemonJ.32 Obwohl er in ihr nicht eine Wissenschaft erblickte, die schon allgemeine und ungeteilte Anerkennung genießt, sondern eine Wissenschaft, die erst geschaffen werden soll („gesuchte Wissenschaft", episteme zetoumene)," zweifelte Aristoteles nicht daran, daß die Logik der Metaphysik unentbehrlich sei (wie auch jeder anderen Wissenschaft), daß die Metaphysik ihre Einsichten tatsächlich allein durch die Logik (sei es auch in sehr beschränkter Form) entwickeln könne. Daß die Metaphysik unvermeidlich auf die Logik angewiesen ist, trotz all ihrer Eigentümlichkeit, erklärte Aristoteles durch die Unzulänglichkeit (oder vielleicht sogar Unangemessenheit) des sprachlichen Ausdrucks, über den das intuitive Denken allein verfügt. Die unmittelbare Berührung des Seienden kann dieses Denken, was sein Vorzug ist, nur im wahren Wort einfach sagen (phasis), nicht aber in Form einer begründeten Behauptung über ein konkretes Ding aussagen (kataphasis).14 Um nicht in sich selbst zu bleiben, um sich nicht im Chaos miteinander unverbundener Wahrheiten zu verlieren, muß das intuitive Denken eine nähere Bestimmung seiner Einsichten versuchen, es muß zum Urteilen übergehen. Auf diese Weise verliert es aber schon seine Selbständigkeit, da es dem Gesetz des diskursiven Denkens unterliegt. Dieser natürlichen Tendenz der Vernunft, sich auf den Verstand zu stützen, wenn nicht auch die ontologische Wahrheit auf die logische zu reduzieren, um ihre ursprüngliche Einsicht möglichst gut zu begründen, ist Aristoteles bereits entgegengetreten. Schon den programmatischen Entwurf der Metaphysik als Wissenschaft vom Seienden als solchen, formulierte er im Sinne der logischen Forderung nach einer höchstmöglichen Bestimmtheit des Gegenstandes jeder Wissenschaft. Seinen Worten zufolge tritt die Metaphysik an das Seiende von einem bestimmten Standpunkt aus heraus, sieht es aus einer bestimmten

28 29 30 31 32 33 34

Met. Met. Met. Met. Met. Met. Met.

I 1, 9 8 1 b 28. I 2, 982 a 32. 1 2, 983 a 6. I 2, 982 a 22. I 2, 982 b 27. I 2, 982 a 4. I X 10, 1051 b 25.

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Perspektive, im Hinblick auf jenen allem Seienden gemeinsamen Bestand, den man mit dem Wort „ist" bezeichnet. 35 Derart zeigte der große Stagirite klar, daß die Metaphysik zwar keine Logik sei, jedoch auf dem besten Wege, Logik zu werden. Dabei hatte er überhaupt nicht bemerkt, daß als äußerste Konsequenz dieser Entwicklung die ursprüngliche Einheit von Vernunft und Sein vergessen werden kann. Vielleicht noch mehr als dieses programmatische Angewiesensein der Metaphysik auf die Logik hat zur späteren Entwicklung der immer größeren Ablösung der Vernunft vom Sein das Aristotelische zumindest einseitige Vorverständnis der metaphysischen Erfahrung selbst beigetragen. Dieses Vorverständnis läßt nur scheinbar die Eigenart der Metaphysik als erster Philosophie gelten. Aber ganz unzweideutig verstößt es gegen das metaphysische Pathos der vorplatonischen und zumal der platonischen philosophischen Tradition. In der Tat hat Aristoteles schon von Anfang an die Natur der metaphysischen Erfahrung verfälscht, dasjenige, worauf die Metaphysik am meisten besteht, vernachlässigt, die Idee der Metaphysik verraten. Dadurch, daß er das innerst Metaphysische als reine Identität erklärte, daß er allem, was überhaupt in den Gesichtskreis der Metaphysik kommen kann, gewissermaßen schon von vornherein den Charakter der substantiellen Einheit zuschrieb, 36 hat Aristoteles die Logik ins Herz der Metaphysik hineingezogen, die Logik zum Vorbild der Metaphysik gemacht. Auf diese Weise hat er die ganze spätere Entwicklung vorbereitet und ermöglicht. Die Umwandlung der Metaphysik in die Logik war unvermeidlich, da schon die intuitive Schau des Seienden von vornherein als ein wesentlich logisches Unterfangen interpretiert wurde. Wenn nicht erst das Urteil jenen O r t belegt, an dem Identität am W e r k ist, d. h. die Einheit in der Verschiedenheit hergestellt wird, sondern vielmehr Identität der Logik vorangeht, da gerade die Identität das wesentlich Metaphysische ist, dann wird eigentlich die Unterscheidung zwischen Metaphysik und Logik zu einer bloßen Phrase. Nietzsche hat es merkwürdigerweise versäumt, sich eingehender über Aristoteles zu äußern. Nirgends hat er ihn offen der metaphysischen Verwicklung beschuldigt (wie er auf Schritt und Tritt Sokrates und Piaton beschuldigt hat), aber auch nirgends irgendeine ernstere Auseinandersetzung mit ihm gesucht. N u r an einer früher schon zitierten Stelle, bevor er sein äußerst ungünstiges Urteil über Aristoteles Auffassung der Tragödie vorgebracht hat, hat Nietzsche gestanden, daß er ihn sehr hoch schätzt, 37 wobei er jedoch seine 35 36

37

Met. IV 1, 1003 a 21-22. Vgl. Met. VI 1, 1025 b 16-18; VI 1, 1028 b 2 - 4 . Zum weittragenden Einfluß des Aristotelischen erkenntnistheoretischen Seins-Apriorismus, der im Hegeischen Panlogismus seinen Höhepunkt erreicht hat, vgl. Nicolai Hartmann, „Aristoteles und Hegel", Kleinere Schriften II (Berlin: W. de Gruyter, 1957), S. 232-233. FW 80: K G W V 2, S. 112.

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Gründe dazu verschwieg. Man wird keineswegs fehlgehen, wenn man sagt, daß der große Stagirite für ihn vor allem und in erster Linie der Erfinder des Satzes vom Widerspruch, also der Schöpfer der Logik war,38 und dies genügte, um gegen ihn, obwohl er ihn sehr schätzte, eine grundsätzlich ablehnende Stellung einzunehmen, d. h. ihn in die Reihe der Gegner oder Widersacher des Denkens einzuordnen. Anscheinend hat Nietzsche überhaupt nicht gewußt, wie mannigfaltig und in seiner Haltung schwankend sich Aristoteles um die Metaphysik bemühte, er war taub und blind für jene charakteristische Spannung und Wankelmütigkeit des Aristotelischen Versuchs, die Metaphysik zu begründen, an die wir gerade in kürzesten Zügen erinnert haben. Nicht nur, daß Nietzsche leichtfertig über die Tatsache hinwegging, daß Aristoteles die Möglichkeit, die Metaphysik auf die Logik zu gründen, bezweifelt hat, er ging sogar so weit, daß er dessen Metaphysik als eine schon vollkommen verwirklichte Logik verstand. O b w o h l Nietzsches auffallend vermieden hat, Aristoteles in irgendeine Beziehung zu Piaton zu bringen (sogar auch dort, wo er es ruhig hätte tun können), ist es doch wenig wahrscheinlich, daß er dies deshalb getan hat, weil er ihn aus der metaphysischen Tradition ausschließen wollte. Ein Hinweis darauf ist seine ausdrückliche Erwähnung der Aristotelischen Auffassung der Philosophie als der „Kunst, die Wahrheit zu entdecken". 39 Was für einen Sinn hätte es, zu betonen, daß Aristoteles auf eine charakteristisch metaphysische Weise (d.h. ganz im traditionellen sokratisch-platonischen Sinn) Wesen und Aufgabe der Philosophie bestimmt habe, wenn schon von vornherein klar sein sollte, daß die Aristotelische Philosophie grundsätzlich verschieden von der Platonischen ist? In der Tat hat Nietzsche die griechische Metaphysik im ganzen pauschal verurteilt. Weder legte er großen Wert auf den Unterschied zwischen Piaton und Aristoteles, noch gab er sich Mühe, sorgsam Aristoteles vom Aristotelismus zu trennen. So wie ihm Aristoteles höchstens als ein eher nüchterner oder disziplinierter Piaton erscheinen mußte, so mußte es ihm selbstverständlich sein, daß schon Aristoteles alles das lehrte, was seine zahlreichen Nachfolger und Fortsetzer erst sehr viel später gelehrt haben. Als unversöhnlicher Gegner der Tradition war Nietzsche fest überzeugt, daß die Metaphysik schon seit Parmenides einen falschen Weg eingeschlagen habe, den Weg der logischen Identität (Heraklit versuchte erfolglos sie davon abzulenken, 58

39

Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (97), S.53. Vgl. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 5: Ν 1870/73: K G W III 2, S. 317. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (57), S.27. Im Gegensatz zur traditionellen Auffassung, die in der Erforschung der Wahrheit den höchsten Zweck der Philosophie erblickte, hebt Nietzsche besonders hervor, daß die „Philosophen der Zukunft" oder die „neuen Philosophen" (worunter er natürlich vor allem sich selbst einordnete) nicht mehr „Freunde der Wahrheit", sondern „neue Freunde der .Wahrheit'" seien. So in: JGB 42-44: KGW VI 2, S. 55-59. Vgl. auch Μ 544: K G W V 1, S. 318-319.

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unter Berufung auf die Intuition des Feuers als göttlichen Spieles), 40 um bei Sokrates, Piaton und Aristoteles bereits endgültig unter den Zwang der Logik zu fallen. Belanglos ist dabei, daß Nietzsche die Aristotelische Logik und Erkenntnistheorie (und allem Anschein nach auch deren platonischen Hintergrund) nicht genügend kannte. Daraus folgt keineswegs, daß jeder, der Nietzsche verstehen will, bei Aristoteles nichts zu suchen habe, oder sogar, daß jeder Versuch, durch die Erinnerung an Aristoteles Nietzsches Wendung in der Philosophie besser zu begreifen, schon von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Trotz aller Bedingtheiten und Beschränktheiten eines solchen Vergleichs und unabhängig davon, daß Nietzsche überhaupt nicht ahnte, daß so etwas in Betracht käme, muß gesagt werden, daß das Beispiel des Aristoteles gerade für das Verständnis der Nietzscheschen Kritik der Metaphysik sehr lehrreich ist, zumindest als deren stillschweigende Voraussetzung, wenn schon nicht als ihre verborgene Möglichkeit. Denn in einem wichtigen Punkt stand Nietzsche Aristoteles wirklich sehr nahe, so als ob er in dieser Hinsicht fast von Anfang an seiner Anregung gefolgt wäre und nicht nur sich erst nachträglich seiner Forderung angepaßt hätte, obwohl er dabei bemüht war, etwas Aristoteles gerade Entgegengesetzes zu erreichen. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen Intuition und diskursivem Denken, bzw. zwischen der unmittelbaren vernünftigen Einsicht und der vermittelten wissenschaftlichen Erkenntnis, welcher beide höchstmögliche Bedeutung zuteilten, jeder freilich auf seine Art und aus seinem besonderen Blickfeld. Während Aristoteles glaubte (oder es ihm zu Anfang nur so dünkte), daß er aufgrund dieser Unterscheidung die absolutistischen Ansprüche der Logik im Bereich der Metaphysik bekämpfe und so letzten Endes die Aufgabe der Metaphysik als erster Philosophie festige, bildete sich Nietzsche ein, daß die Philosophie erst auf der Spur dieser Unterscheidung den logischen Zwang sprengen und so dereinst mit jeder Metaphysik völlig brechen könne. Wenn man der Aristotelischen Einsicht folgt, daß die Metaphysik die Logik nicht voraussetze, sondern vielmehr die Logik ihre Grundlage in der Metaphysik habe, insofern dem Urteilen stets das Begreifen vorangehe, 41 wird die Beschuldigung Nietzsches wegen seines angeblichen Irrationalismus hinfällig. Denn Aristoteles kann man schwerlich vorwerfen, daß er die Ohnmacht der Vernunft gepredigt habe, als er sich der absoluten Übermacht des Verstandes im metaphysischen Bereich entgegensetzte. Wer es ablehnt, die Logik als höchste Instanz des Denkens anzunehmen, bestreitet nicht schon dadurch 40

41

Vgl. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 10, 11, 6: Ν 1870/73: K G W III 2, S. 336, 339, 322. Etwas Ähnliches deutet an D . J . A l l a n , The Philosophy of Aristotle (Oxford University Press, 3 1978), S. 8 0 - 8 2 , 9 7 - 9 9 , 111-113, 118-119.

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allein jede Möglichkeit der Erkenntnis. So bekommt Nietzsches Bemühung um die Uberwindung der Logik einen ganz anderen Sinn als den, der ihm gewöhnlich zugeschrieben wird. Es ergibt sich, daß darin weder etwas Seltsames noch Befremdendes, geschweige denn Verdächtiges und Gefährliches liegt. Es handelt sich um alles andere eher als um die Äußerung eines wilden, dunklen, barbarischen Mißtrauens gegen alle bisherigen Errungenschaften des Denkens. Durch diese Bemühung wollte Nietzsche einer neuen, höheren F o r m der Erkenntnis den Weg bahnen und nicht das Fundament jeder Wissenschaft und Philosophie untergraben. Ahnlich wie Aristoteles, dem es einleuchtete, daß das Seiende als Seiendes allein der überempirischen und überrationalen Intuition zugänglich sei, daß es sich lediglich der Vernunft, die sich unmittelbar mit ihm identifiziert, offenbare, so war sich auch Nietzsche im klaren darüber, daß Sinne und Verstand keinen angemessenen Zugang zur Wirklichkeit gewähren, daß diese sich vielmehr allein der „großen Vernunft" 4 2 in unmittelbarer Berührung erschließt. Es ist nicht zu befürchten, daß man hier in der Annäherung des Aristoteles an Nietzsche zu weit gegangen ist. Auch die kühnste Übertreibung der Analogie zwischen diesen beiden Philosophen würde nicht ausreichen, um die Kluft zwischen ihren Anschauungen zu überbrücken. Die Unterschiede sind wirklich so groß, daß wir uns kaum größere denken können, und zwar nicht nur im Blick auf die Art und Weise des Stellens und Beantwortens allgemeiner philosophischer Fragen (zumal jener, welche die Weltanschauung betreffen), sondern gerade hinsichtlich dessen, was wir hier als ihren gemeinsamen Ausgangspunkt nehmen, und das ist die Bevorzugung des intuitiven Denkens vor dem diskursiven. Es kann keine Rede davon sein, daß Nietzsche sich in irgendeiner Hinsicht nach der Aristotelischen Auffassung der Vernunft gerichtet, geschweige denn, daß er seine Grundbestimmung einfach übernommen und wiederholt habe. Es handelt sich um den Versuch einer wesentlich andersartigen, nicht mehr theoretischen, sondern ästhetischen Bestimmung des höchsten menschlichen Erkenntnisvermögens. Obwohl auch Nietzsche meinte, daß das intuitive Denken seinen Gegenstand immer genau „trifft", da es sich jenseits der Alternative „wahr"-„falsch" befindet, 43 ist es unzweifelhaft, daß er unter diesem Denken etwas ganz anderes als Aristoteles verstand. Für ihn war der Vollstrecker dieser Funktion der menschliche Leib insgesamt, kein leibloser Geist. Gerade „am Leitfaden des Leibes", 44 wie er sich selbst ausgedrückt hat, hat Nietzsche nirgends irgendeine Einheit wahrgenommen, nicht 42 43

44

Za I, Von den Verächtern des Leibes: K G W VI 1, S. 35. Vgl. Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W VIII 3, 14 (122), S . 9 5 : „Der Begriff .Wahrheit' ist widersinnig . . . das ganze Reich von ,wahr' ,falsch' bezieht sich nur auf Relationen zwischen Wesen, nicht auf das ,An s i c h ' . . . " Vgl. z . B . Ν 1884: K G W VII 2, 27 (27), S . 2 8 2 .

Anhang Β. Nietzsche und Aristoteles

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im Größten und auch nicht im Kleinsten, sondern überall nur eine unendliche Vielheit. Es schien ihm unzweideutig, daß die Widersprüchlichkeit die Welt beherrsche, daß die unmittelbare Erfahrung des Seienden nichts mit der logischen Identität zu tun habe, so daß die Metaphysik die Wirklichkeit in einem verzerrten Spiegel darstelle, insofern sie sich die Welt als eine Anhäufung fertiger Dinge denkt. Deshalb hat Nietzsche zusammen mit dem Begriff der Metaphysik entschieden auch ihren Namen verworfen. Dazu verhalf auch das von Nietzsche wesentlich andersartig verstandene Verhältnis zwischen dem intuitiven und dem diskursiven Denken. Im Unterschied zu Aristoteles, der eine klare Grenzlinie zwischen Vernunft und Verstand gezogen hatte, deren Funktionen jedoch nicht trennte, sondern vielmehr methodisch fest verband, in der Uberzeugung, daß die Vernunft im Verstand bewußt und nüchtern werden müsse, wenn sie überhaupt auf der Höhe ihrer Aufgabe bleiben wolle, griff Nietzsche zu einem äußerst radikalen Mittel: er löste jede Verbindung zwischen Vernunft und Verstand. Er glaubte schlechthin nicht, daß der Verstand in irgendeiner Hinsicht der Vernunft behilflich sein könne. Bei ihm hat der Verstand keine Erkenntnisfunktion mehr, er ist kein Hilfsorgan der Vernunft. Vom diskursiven Denken glaubte Nietzsche, es sei ein wesentlich entfremdeter, nicht nur verselbständigter Aspekt des menschlichen Erkenntnisvermögens. Sein Wert sei ein rein instrumentaler. Alles, was dieses Denken bieten kann, ist, das Leben zu erleichtern, seine Entwicklung zu fördern, zu seinem Erhalt beizutragen und nichts weiter. Daher bildet die Nietzschesche Intuition keinen festen und zuverlässigen Grund, auf dem das diskursive Denken seine Urteile und Schlüsse weiter bauen kann und soll. Nicht nur, daß von ihr kein Weg zur Logik führt, es kann ihr überhaupt kein logischer Weg aufgezwungen werden. Ihr vornehmlich künstlerischer Inhalt kann nur mittels Bild und Metapher ausgedrückt werden, keineswegs durch den diskursiven Begriff. Trotz all dieser unzweifelhaften und weittragenden Meinungsverschiedenheiten jedoch, die so offenkundig sind, daß wir uns nicht länger damit aufzuhalten brauchen, verliert der Vergleich zwischen Aristoteles und Nietzsche nichts von seiner Bedeutung. Zumindest bleibt unbestreitbar, daß aus der Perspektive des Aristotelischen Versuchs, die Metaphysik zu begründen, der Sinn der Nietzscheschen Auflehnung gegen die Logik viel besser gesehen und verstanden wird.

II. Kritik des metaphysischen Praxisbegriffes In Nietzsches berühmter, heute gewissermaßen schon unantastbarer Bestimmung des Nihilismus - welche die früheren Herausgeber mit gutem Grund ihrer Kompilation vorangestellt haben, weil in ihr in höchstmöglicher Gedrängtheit das epochale Geschick des Abendlandes zusammengefaßt ist liegt das Gewicht auf den „obersten Werthen". Von diesen Werten wird ausdrücklich behauptet, daß sie „entwerthet" seien, d.h. daß sie ihre verpflichtende Kraft verloren hätten. An gleicher Stelle steht auch, daß das wesentliche Merkmal der nihilistischen Katastrophe darin liegt, daß „die Antwort auf das ,Warum' [fehlt]" 1 , daß es kein höchstes Ziel, bzw. keinen letzten Zweck mehr gebe, daß nichts mehr im allumfassenden Gesamtsinn begründet sei. Wie es mit den anderen Werten (den niedrigeren Zielen und Zwecken) steht, die sich ihrer Geltung und Tragweite nach unter den ersteren befinden, die jedoch, im Sinne der traditionellen Auffassung, unumgängliche Vermittler bei der Ausübung aller konkreten menschlichen Tätigkeiten sind, darüber sagt Nietzsche hier nichts Bestimmtes. Man kann nur vermuten, warum er darüber mit Stillschweigen hinweggegangen ist, und insofern die Möglichkeit gelassen hat, daß sie nicht das gleiche Schicksal erfahren haben wie die obersten Werte, mindestens nicht auf dieselbe Weise und in demselben Maß. Im nihilistischen Ausklang der modernen europäischen Geschichte sieht Nietzsche zunächst und vorzugsweise den Zusammenbruch des absoluten Wertmaßstabs, die Aufhebung des unbedingten Prinzips, den Verlust der höchsten sittlich-ontologischen Idee, die allen Lebenserscheinungen Sinn und Einheit verleiht. Freilich ist der Raum, den Nietzsche in seiner Bestimmung offengelassen hat, indem er die niederen Werte nicht erwähnte, indem er sie von der nihilistischen Bewegung scheinbar ausschloß, nicht so weit, wie es auf den ersten Blick scheinen möchte (wenn es überhaupt einen Sinn hat, hier über einen solchen Raum für Bedenken zu sprechen). Wenn man die Nietzschesche Auffassung des Nihilismus etwas näher und gründlicher betrachtet, kommt man zur Einsicht, daß nur eine Lösung möglich und gerechtfertigt ist - daß die niederen Ziele und Zwecke ohne die höheren nicht bestehen können, daß die

1

Ν 1887/88: KGW VIII 2, 9 (35), S. 14.

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„Entwertung der obersten Werte" alle anderen unaufhaltsam ins Wanken bringt, wenn nicht auch mit sich ins Verderben zieht, so daß sich unter den Bedingungen der grundsätzlichen Ausweglosigkeit letzten Endes alles dem allgemeinen Gang der Dinge fügen muß. Ein solcher Schluß ist zumal unumgänglich im Hinblick auf das Grundmotiv und die Grundausrichtung der gesamten Denkanstrengung Nietzsches. Als unerbittlicher Kritiker der griechisch-christlichen Überlieferung, auf deren Grundlage die moderne europäische Kultur aufgebaut wurde, war ihm nicht nur daran gelegen, den höchsten Sinn des Lebens zu verneinen, dem Leben die letzte Rechtfertigung abzusprechen, ihm die transzendente Sanktion zu entziehen. Er strebte nach einer vollständigen, radikalen Veränderung dieses Lebens selbst, leidenschaftlich ersehnte er eine allgemeine Umwandlung der Kultur, er schwärmte von der Möglichkeit eines neuen historischen Anfangs. 2 Daher konnte auch die traditionelle philosophische Theorie der menschlichen Praxis als einer zweckhaften Bewegung, als eines bewußten und willentlichen Eintretens für die Verwirklichung bestimmter Ziele und Zwecke der Schärfe seiner Kritik nicht entgehen. Wie könnten übrigens die einzelnen Bestandteile eines hierarchischen Systems (wie es ein jedes Wertsystem ist) unberührt bleiben, wenn seine tragenden Pfeiler verfallen? N u r beim flüchtigen Lesen der Schriften Nietzsches kann man den Eindruck gewinnen, daß sich dieser „erste vollkommene Nihilist Europas", wie er sich einmal selbst nannte, 3 viel mehr für die obersten Werte interessierte, in denen das Gesamtgeschehen unter den Menschen gegründet und gerechtfertigt sein sollte, als für die niederen Werte, an denen sich die Menschen im täglichen Leben unmittelbar orientieren, so daß er insofern nicht viel zu einem besseren Verständnis der Eigenart des praktischen Bereichs als solchem beigetragen hätte. Man könnte sogar voreilig schließen, daß Nietzsche die Ebene des praktischen Diskurses völlig verfehlt habe, daß er sogar nicht bis zu jener Dimension gelangt sei, in welcher solch ein Diskurs erst möglich wird, so daß es unpassend und unangemessen wäre, über irgendein praktisches Prinzip zu reden, das sich scheinbar in der Grundlage seiner Philosophie fände. Dies gilt um so mehr, als viele seiner Äußerungen die Möglichkeit der praktischen Einstellung im Sinne einer bewußten und freien Wahl in Frage stellen. Eine nähere Betrachtung wird indes aufzeigen, daß Nietzsche das praktische Interesse der Vernunft nicht nur nicht unterschätzt, sondern daß er sehr viel für die Sache der praktischen Selbstbesinnung in der neuentstandenen weltgeschichtlichen Situation getan hat, und das bedeutet, daß der erste Eindruck auch hier 2

3

Daß der Wille zu einer neuen und höheren Form der Kultur die innere Triebfeder der gesamten Denkanstrengung Nietzsches sei, hebt besonders Karl Ulmer, Nietzsche. Einheit und Sinn seines Werkes (Bern/München: A.Francke, 1962), S. 12-18 hervor. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 11 (411), S.432.

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ein sehr trügerischer ist, wie auch in vielen anderen Problembereichen seiner Philosophie. Seine Kritik des traditionellen philosophischen Praxisverständnisses hat Nietzsche nicht zufällig in irgendeiner nebensächlichen, beiläufigen Anmerkung dargelegt, sondern mitten in seinem Hauptgedankengang, im Rahmen seiner Kritik der abendländischen metaphysischen Tradition. Das ist auch ganz verständlich, da die traditionelle Auffassung der praktischen menschlichen Tätigkeit tief in der Metaphysik verwurzelt ist, und sogar deren untrennbaren Bestandteil bildet, so daß ohne eine Kritik dieser Auffassung auch die Kritik der Metaphysik selbst unvollkommen und nicht zu Ende gedacht bliebe. Es muß besonders betont werden, daß Nietzsche seine Kritik nicht auf die Moral als einen rein subjektiven Willen begrenzt hat, als ein vorzüglich inneres Verhalten des Menschen zu sich selbst, sondern daß er mit seiner Kritik die menschliche Praxis überhaupt als ein tätiges moralisches Bewußtsein, als eine zweckmäßige produktive Tätigkeit, als ein bewußtes und gewolltes Eintreten für die Verwirklichung bestimmter Ziele und Zwecke umfaßt hat. Es ändert nichts an der Sache, daß Nietzsche auffällig betont seine eigene Auffassung als „immoralistisch" 4 bezeichnet hat, als Standpunkt derjenigen, die sich als die „Gottlosen" und „Heimatlosen" 5 verstehen. Denn die Moral war für ihn immer etwas viel Höheres als eine rein innere Sache des Menschen, so daß er den Willen, der es nicht versucht, die Bewährung seiner inneren Bestimmungen in den äußeren Handlungen zu finden, sogar nicht als moralischen betrachtet. 6 Insofern muß man sagen, daß Nietzsche das Phänomen der praktischen Intentionalität als Ganzes in Betracht gezogen hat, nicht nur einen engeren Teil desselben, daß die traditionelle Auffassung des menschlichen Tuns als solchen seiner Kritik unterzogen wurde. Eine andere Wahl blieb demjenigen nicht, dem es zuteil wurde, als erster die nihilistische Verwüstung des menschlichen Lebens zu verkünden, und der seine nächste Aufgabe darin sah, mit der Metaphysik kompromißlos zu brechen, um die epochale Umwandlung vorzubereiten und zu fördern. Im Rahmen dieser umfassenden kritischen Aufgabe - die er sich schon im Buch Menschliches, Allzumenschliches vorgenommen hatte, und mit der er bis zum letzten Atemzug nicht aufhörte, sich zu beschäftigen, wovon nicht nur alle später veröffentlichten Schriften zeugen, sondern auch zahlreiche frag-

4

Vgl. ζ. Β. Μ Vorrede 4: K G W V 1, S. 8, und Ν 1888/89: K G W VIII 3, 23 (12), S. 422-423. Vgl. z.B. FW 344, 377: K G W V 2, S.259, 310. ' Auf einen solchen Schluß verweist nicht nur Nietzsches prinzipielle Auffassung vom Willen zur Macht, als eines „Instinkts der Freiheit", der sich seiner Kraft gemäß äußern muß (GM II 18: K G W VI 2, S. 341-342), sondern auch seine kritische Wertschätzung der menschlichen Handlungen in der „vormoralischen" und der „moralischen" Periode der Menschheitsgeschichte (JGB 32: K G W VI 2, S. 46-47). 5

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mentarische Aufzeichnungen in seinem riesigen Nachlaß aus der letzten Periode seines Schaffens - wich Nietzsche bewußt von allen bekannten und anerkannten Vorbildern auf dem Gebiet der praktischen Philosophie ab. Entschieden widersetzte er sich jeder teleologischen Deutung der praktischen menschlichen Tätigkeit, er lehnte sich offen auf gegen jedes Bestreben, das Ziel oder den Zweck als Motiv oder Ursache des Handelns aufzufassen, energisch bestritt er das überkommene kategoriale Schema Zweck-Mittel. Er tat dies mit beispiellosem Mut, wenn auch nicht immer mit entsprechend entwickelter Argumentation. Nichts entging Nietzsches scharfem Blick, nichts blieb von seinen schmähenden Einwendungen und seinem argwöhnischen Bestreiten verschont. Sagen wir es so: Nietzsche hat die traditionelle metaphysische Theorie des menschlichen Handelns von Grund auf erschüttert, er hat die Unangemessenheit und Unhaltbarkeit ihrer dogmatischen Prätentionen gezeigt, Schwächen und Schwierigkeiten schon in ihren Voraussetzungen aufgewiesen. Dadurch hat er die Frage nach der Möglichkeit des menschlichen Weiterbestehens auf die bisherige Weise, im überkommenen Rahmen, nach den bisher gebräuchlichen Maßstäben auf die Spitze getrieben. Er hat sogar einem grundsätzlich andersartigen Modell des philosophischen Denkens den Weg geebnet, die Möglichkeit eines neuen philosophischen Anfangs eröffnet, den Ubergang des philosophischen Geistes aus der traditionellen metaphysischen Verschlingung in eine neue, nicht mehr metaphysische Form angedeutet. 7 Zwar hat Nietzsche diese kritische Wendung auf dem Gebiet der praktischen Philosophie nicht mit einem Schlag, in einem Atemzug, ohne Schwanken und Bedenken vollzogen, sondern er tat es allmählich und stufenweise, in einer Reihe einander folgender Versuche, auf mehrfache Weise. Nie ist es ihm gelungen, seine umstürzlerische Absicht schöpferisch zu gestalten; er vermochte nicht, die zerstreuten Teile seiner Ideen und Einsichten zu einer festen, einheitlichen und abgerundeten Theorie zu verbinden. (Wenn es überhaupt angebracht ist vorauszusetzen, daß sein äußerst lebendiges und ungebändigtes Denken in irgendeiner Theorie hätte zum Stillstand gebracht werden können.) Es versteht sich von selbst, daß Nietzsche unvergleichlich stärker und beharrlicher in der Widerlegung der traditionellen, als in der Begründung seiner eigenen Auffassung war. Daher haben alle seine positiven Ergebnisse, so bedeutend und fördernd sie sonst in philosophischer Hinsicht sein mögen, einen ausgesprochen vorläufigen Charakter. 7

Zu Nietzsches im Grunde ambivalentem Verhältnis zur Metaphysik vgl. Eugen Fink, Nietzsches Philosophie (Stuttgart: W. Kohlhammer, 1973), S. 179-189. Aufschlußreich zu dieser Frage ist der Aufsatz von Wilhelm Weischedel, „Der Wille und die Willen. Zur Auseinandersetzung Wolfgang Müller-Lauters mit Martin Heidegger", Zeitschrift für philosophische Forschung, 27/1 (1973), S. 7 1 - 7 6 .

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Soviel man sehen kann, greift Nietzsches Gedankenexperiment mit dem menschlichen Handeln in drei verschiedene Sphären ein, es bewegt sich in drei verschiedenen Richtungen, es durchläuft drei verschiedene Ebenen. Diese dreifache methodische Ausrichtung könnte man als reduktionistische, phänomenologische und spekulative Betrachtungsweise bezeichnen. Jeder von diesen methodisch unterschiedenen Zugängen bildet eine selbständige Einheit, stellt den Schwerpunkt eines besonderen Gedankengangs dar. Oder genauer gesagt: jeder kann leicht in einer gesonderten methodischen Richtung ausgeschieden, also unabhängig von den beiden anderen rekonstruiert werden. Insofern sie ein und derselben philosophischen Aufgabe dienen, dokumentieren erst alle drei Zugänge zusammen das ganze Ausmaß und den ganzen Ernst der Nietzscheschen theoretischen Konfrontation mit dem Phänomen der praktischen Intentionalität. Schwerlich könnte man sagen, daß zwischen diesen verschiedenen Zugängen eine streng festgesetzte Reihenfolge bestehe (obwohl der Entstehung nach der erste zweifelsohne älter als die beiden anderen ist), geschweige denn eine enge gegenseitige Abhängigkeit. Es handelt sich eher um komplementäre als um alternative Betrachtungsweisen, in denen der erste Kritiker des traditionellen metaphysischen Praxisverständnisses seinen Grundgedanken entwickelt hat. Es scheint jedoch vollkommen natürlich und logisch, die Untersuchung der brisanten Anmerkungen und Andeutungen Nietzsches nach der eben erwähnten Reihenfolge vorzunehmen. In seinem ersten Versuch, den Bereich des menschlichen Handelns kritisch zu beleuchten - der sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht viel fester mit der zweiten als mit der dritten Betrachtungsweise verflochten ist wählt Nietzsche ein streng reduktionistisches Verfahren. Vom mechanistischen Determinismus des 19. Jahrhunderts gelenkt, der sich unter der Wirkung der neuzeitlichen Naturwissenschaft entfaltete, und dazu unter starkem Einfluß der Schopenhauerschen philosophischen Lehre von der vollkommenen Determiniertheit des gesamten menschlichen Handelns in den Lebenssphären der räumlich-zeitlichen Wirklichkeit, 8 löst der Verkünder des europäischen Nihilismus das Phänomen der praktischen Intentionalität in physiologisch-chemische Prozesse auf. Er scheut vor den radikalsten Schlüssen nicht zurück, er widerspricht den scheinbar augenfälligen Wahrheiten. Mit aller Entschiedenheit brandmarkt er den metaphysischen Ursprung der Grundbegriffe der praktischen Philosophie. Er behauptet, daß es kein praktisches ' Auf diese beiden Vorbilder Nietzsches verweist Heinz Heimsoeth, Metaphysische Voraussetzungen und Antriebe in Nietzsches „Immoralismus" (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz) (Wiesbaden: Verlag der Akademie, 1955), S. 7. Uber ein weniger bekanntes Vorbild Nietzsches vgl. Wolfgang Müller-Lauter, „Der Organismus als innerer Kampf. D e r Einfluß von Wilhelm R o u x auf Friedrich Nietzsche", Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 1 8 9 - 2 2 3 .

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Objekt gebe, das es überhaupt wert wäre, sich den Kopf zu zerbrechen: weder sind „Ziele" oder „Zwecke" etwas Reales, etwas, was den Willen zum Handeln bewegen könnte, noch ist der „Wille", der sie angeblich verwirklicht, eine wahrhaftig autonome Kraft. Letzten Endes verwirft Nietzsche hier die Idee der praktischen Wirklichkeit selbst, er leugnet deren Existenz, er geht so weit, die Selbständigkeit des praktischen Bereichs aufzuheben, für einen gewöhnlichen Trug alles zu erklären, wovon man bisher glaubte, daß es die wirkliche Eigenart dieses Bereichs bilde. Es liegt etwas Ubermäßiges, Verblüffendes, fast Einschüchterndes in dieser heftigen Kritik. So richtig es auch sein mag, daß Nietzsche seinen Vorgängern und Zeitgenossen sehr viel zu verdanken hat, daß er überhaupt auf den Gedanken kam, das praktische Tun durch triebhafte Reaktionen zu erklären (und zu entlarven), gewiß bleibt doch, daß sein Reduktionismus alles andere eher ist als eine bloße Kopie fremder Auffassungen. Zumindest kann hier von keiner faktischen Anleihe die Rede sein. Niemand hat vor Nietzsche auf eine so radikale Weise den Glauben an die Spontaneität des menschlichen Handelns zerstört, niemand hat so grundsätzlich mit dem Vorurteil, daß der Mensch als ein Vernunftwesen handele, gebrochen. Anstatt nur auf die unumgängliche kausale Determiniertheit aller menschlichen Handlungen, mit Rücksicht auf ihren natürlichen und gesellschaftlichen Hindergrund, hinzuweisen - was von jeher, und besonders zu seiner Zeit, die Lieblingsthese der Vertreter der naturalistischen Weltanschauung geworden war - ging Nietzsche einen Schritt weiter: er verneinte die ,Realität' der menschlichen Handlungen, da er ihren letzten Grund in der Triebstruktur gefunden hatte. Nach Nietzsches Worten ist das menschliche Handeln nichts anderes als der „Streit der Elemente": der Mensch schwankt nur scheinbar zwischen „verschiedenen Motiven", bevor er sich für das „mächtigste" entschließt; in der Tat dauert sein „Seelenkampf" nur solange, bis das „mächtigste Motiv" selbst über dessen Ergebnis entscheidet.' Es steht nicht in des Menschen Macht, die Richtung der Einwirkung eines Triebes zu ändern, seine Heftigkeit zu beschwichtigen, seine Befriedigung zu verhindern. Es nützt nicht einmal etwas, sich darüber zu beklagen, daß man ein blindes Werkzeug dieses oder jenes Triebes ist. Denn diese Klage ist auch kein eigenes unabhängiges Tun. Wenn der Mensch glaubt, sich „über die Heftigkeit eines Triebes zu beklagen," dann klagt in ihm eigentlich ein Trieb „über einen anderen".10 Es ist offensichtlich, daß auf diese Weise nicht nur der praktische Bereich vernichtet, sondern auch dem praktischen Diskurs jeder Sinn entzogen ist. Nietzsche hat dies, und zwar nicht nur hinsichtlich der Möglichkeit einer mechanistisch-naturalistischen Reduktion, später durch 9 10

ΜΑ I 107: KGW IV 2, S. 102. Μ 109: KGW V 1, S. 96, 97.

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seine berühmten Worte bestätigt: „Es giebt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen..." 1 1 wobei er natürlich meinte, daß jede moralische Ausdeutung in Wahrheit eine falsche Deutung sei. Es versteht sich von selbst, daß Nietzsche den Glauben an die Willensfreiheit verwerfen mußte, als er zum Schluß gekommen war, daß „der WillensA k t " nur der „Abschluß des ,Kampfs der Motive' " 12 sei, bzw. daß erst „wenn der widerstrebende Reiz schwächer ist", „der Wille, der zur That führt", auftritt. 13 Wahrscheinlich hat ihn gerade der Zweifel an der Möglichkeit der Selbstbestimmung des Willens zu diesem radikalen Schluß geführt. Dies ist wenigstens in einer seiner späten Aufzeichnungen angedeutet.14 Jedenfalls ist es eine Tatsache, daß Nietzsche im Zusammenhang seines ersten Versuchs den Glauben an die Willensfreiheit sehr scharf angegriffen hat. Er brachte ihn in unmittelbarste Verbindung mit der metaphysischen Konstruktion der „unbedingten Substanz", er nannte ihn sogar einen ,,ursprüngliche[n] Irrthum" des Menschengeschlechts. 15 Er war der Meinung, daß dieser Glaube von der blinden Eitelkeit des Menschen aufrechterhalten und gefördert werde, der sich einbildet, etwas ganz Besonderes zu sein, der den Anspruch darauf erhebt, einen ganz besonderen Platz in der „Welt der Unfreiheit" 16 einzunehmen. Zwar sind „Stolz- und Machtgefühl" 17 nicht die einzigen, geschweige denn die mächtigsten Stützen des Glaubens an die Willensfreiheit. Nietzsche läßt dem Zweifel keinen Raum, daß zur Verbreitung des Irrtums von der „absoluten Spontaneität des Menschen im Guten und im Bösen" 1 8 am meisten die Philosophen beigetragen haben, indem sie ihm den Anschein einer tiefsinnigen Theorie verliehen. 19 In der Tat gibt es keine spontanen menschlichen Handlungen, das Bewußtsein von der Willensfreiheit ist eine bloße Einbildung. Nach Nietz-

J G B 108: K G W VI 2, S.92. Es bestehen noch drei gewissermaßen verschiedene Fassungen desselben Satzes: G D Die ,Verbesserer' der Menschheit 1: K G W VI 3, S . 9 2 ; Ν 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 3 ( 1 ) 3 7 4 , S . 9 8 ; Ν 1885/87: K G W VIII 1, 2(165), S. 147. 12 Ν 1884: K G W VII 2, 26 (128), S. 182. 13 Ν 1881/82: K G W V 2, 11 (131), S.387. Ähnlich Ν 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 7 (239), S.324. 14 Ν 1884: K G W VII 2, 27 (1), S . 2 7 5 : „Das Nachdenken über .Freiheit und Unfreiheit des Willens' hat mich zu einer Lösung dieses Problems geführt, die man sich grundsätzlicher und abschließender gar nicht denken kann - nämlich zur Beseitigung des Problems, vermöge der erlangten Einsicht: es giebt gar keinen Willen, weder einen freien noch einen unfreien." 15 Μ Α I 18: K G W IV 2, S.36. 16 Μ Α II WS 12: K G W IV 3, S.186. Vgl. auch J G B 2 1 : K G W VI 2, S . 2 9 ; Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (126), S. 100. 17 Μ 128: K G W V 1, S. 116. 18 G M II 7: K G W VI 2, S.321. " In diesem Sinne sagt Nietzsche, daß die Lehre von der Freiheit des Willens eine „so verwegene, so verhängnisvolle Philosophenerfindung" sei (GM II 7: K G W VI 2, S.321). 11

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sches Worten ist der Mensch eine „ganz und gar nothwendige Folge [ . . . ] und aus den Elementen und Einflüssen vergangener und gegenwärtiger Dinge concrescirt". 20 Jede menschliche Handlung ist eindeutig durch die Vergangenheit kausal bedingt, so wie auch jede andere Naturgegebenheit bedingt ist, obwohl „für jeden einzelnen Fall das Gesetz ihrer Mechanik unnachweisbar ist". 21 Im Einklang mit dem berühmten Gedanken von Laplace, und sogar ganz in seinem Zeichen, betont Nietzsche, daß nur ein „allwissender und rechnender Verstand" 22 mit mathematischer Genauigkeit jeden künftigen Zustand der Welt voraussehen könne. Ohne Rücksicht auf die Beschränktheit des menschlichen Wissens ist es schon klar genug, daß über alles, was der Willensfreiheit zugesprochen wird, in Wirklichkeit die natürlichen Triebe entscheiden. Ein großer Irrtum ist es zu meinen, daß es einen inneren Mittelpunkt gebe, der bewußt alle unsere Handlungen lenke, daß es ein Subjekt 23 gebe, das die Kraft hätte, gewissen Zwecken entsprechend eine neue Wirklichkeit spontan zu erzeugen. Jedoch muß man, um überhaupt handeln zu können, an diese Irrtümer glauben. So behauptet Nietzsche, daß der Mensch diesen Irrtümern gemäß handeln werde, sogar auch dann, wenn er sie als Irrtümer erkannt habe. 24 Gegen die Lehre von der Willensfreiheit hat Nietzsche eine ganze Reihe von verschiedensten, sogar entgegengesetzten Einwänden vorgebracht. E r berief sich auf alles, was ihm zur Widerlegung dieser Lehre behilflich sein konnte, am meisten natürlich auf die wissenschaftliche Methode, die er, wenigstens in dieser Phase seines Denkweges, frei mit dem kritischen Untersu-

20

21 22 23

24

ΜΑ I 39: KGW IV 2, S.61. Über den wissenschaftlichen Charakter des Determinismus im Hinblick auf die modernen psychologischen, psychoanalytischen und biologischen Lehren, wie auch auf die Möglichkeit einer pragmatisch-praktischen Einstellung unter der Voraussetzung der allgemeinen kausalen Determiniertheit des Lebens, vgl. Walter Schulz, Philosophie in der veränderten Welt (Pfullingen: Neske, 2 1974), S. 707-708. FW 335: KGW V 2, S.243. M A I 106: KGW IV 2, S. 101. Μ 116: KGW V 1, S. 106-107. In vollem Bewußtsein, daß er sich auf diese Weise so radikal von seinen Vorgängern trenne, sagt Nietzsche: „Ich gebe ihnen nicht zu, dass das ,Ich' es ist, was denkt; vielmehr nehme ich das Ich seiher als eine Konstruktion des Denkens" (N 1884/85: KGW VII 3, 35 (35), S. 248). An einer anderen Stelle stellt Nietzsche fest, daß das „Subjekt" eine reine „Fiktion", daß es „die Terminologie unseres Glaubens an eine Einheit unter all den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls" sei (N 1887/88: KGW VIII 2, 10 (19), S. 131. Zu Näherem über Nietzsches Destruktion des Subjekts vgl. Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Leben und Denken. Interpretationen zur Philosophie Nietzsches (Frankfurt/M.: V. Klostermann, 1968), bes. S. 72-73, 81-84, 98-101, 104-105. Vgl. auch Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie (Berlin: W. de Gruyter, 1971), bes. S. 17-21. Ν 1881/82: KGW V 2,11 (102), S. 376. Insofern kann man mit Recht sagen, daß es sich hier um eine tief verwurzelte Denkgewohnheit handele, um etwas, was dem „transzendentalen Schein" im Sinne Kants ähnlich sei.

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chen im Sinne des naturwissenschaftlichen Determinismus gleichsetzte.25 Die größte Beachtung verdient Nietzsches Argument, daß die philosophische Lehre von der Willensfreiheit auf einer falschen ontologischen Voraussetzung begründet sei, daß sie der Natur der Wirklichkeit selbst widerspreche, wie auch der Natur all unseres Erkennens und Handelns. Dieses Argument verdient die größte Beachtung: nicht weil es von größerem Gewicht als die anderen wäre oder weil ihm Nietzsche selbst eine besondere Bedeutung beilegte, sondern einfach darum, weil es ausdrücklich antimechanistisch gedacht ist, so daß es sich in gewissem Sinne an der Grenze der reduktionistischen Betrachtungsweise befindet. (Wie wir später sehen werden, war Nietzsche in der Tat bemüht, im Rahmen des spekulativen Zugangs zur Praxis gerade in Einklang mit diesem Argument zu denken.) Man braucht nicht weit zu gehen, um einzusehen, warum Nietzsche meinte, die philosophische Lehre von der Willensfreiheit sei ontologisch falsch begründet. In einem früh verfaßten Aphorismus mit dem Titel „Die Freiheit des Willens und die Isolation der Facta"1'' - der sozusagen schon unmittelbar in seine später eingehend entwikkelte Kritik der mechanistischen Weltdeutung einführt - hat er alles gesagt, was in dieser Hinsicht nötig war. Nietzsche war nämlich der Meinung, daß die Lehre von der Willensfreiheit eine diskontinuierliche Struktur der Wirklichkeit voraussetze, daß sie aus unteilbaren Tatsachen und einem leeren Zwischenraum bestehe. Insofern ist diese Lehre eine eigentümliche „Atomistik im Bereiche des Wollens und Erkennens"27. Wäre diese Voraussetzung richtig, daß „jede einzelne Handlung isolirt und untheilbar ist",28 dann könnte diese Lehre schwerlich widerlegt werden; sie ist jedoch völlig falsch. Die eigentliche Wirklichkeit ist homogen, sie stellt ein dynamisches Kontinuum dar. Sie ist nicht eine Menge von fertigen Dingen, die an und für sich bestehen, sondern ein ununterbrochenes, fortwährendes, unabschließbares Geschehen.29 Und in einer Welt, in der alles miteinander durchströmt, indem alles einander durchdringt, gibt es keinen Platz für einen spontanen Anfang irgendwelcher Art. So können wir nun zum zweiten, unter einer Menge verschiedenster Aufzeichnungen verschütteten Entwurf des Nietzscheschen Gedankenexperiments mit dem Handeln übergehen. Durch seine methodische Grundgesinnung unterscheidet sich dieser zweite Entwurf auffällig von demjenigen, von dem bisher die Rede war. Obwohl er sich mit dem Vorherigen vielfach berührt

25 26 27 28 29

So auch Eugen Fink, a. a. O., S. 45. ΜΑ II WS 11: K G W IV 3, S. 184-185. Ebd., S. 184. Ebd., S. 184. Ebd., S. 185. Vgl. auch Ν 1881/82: KGW V 2, 11 (293), S.452. Ebenso Ν 1885/87: KGW VIII 1, 2 (139), S. 134.

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und verflicht und in einem wichtigen Punkt, der Verwerfung jeder Teleologie, sich sogar mit ihm verbindet, kann man seine Eigentümlichkeit doch überhaupt nicht bezweifeln. Man kann sagen, daß dieser zweite Versuch Nietzsches, sich dem Bereich des menschlichen Handelns zu nähern, diesem viel angemessener ist, daß er unvergleichlich stärker dessen konstitutive Merkmale beachtet, daß er bedeutend realistischer als der erste ist. Anstatt nach den Ursachen des praktischen menschlichen Tuns in der vor- oder außerpraktischen Sphäre zu forschen und die Erklärung des menschlichen Handelns in etwas grundsätzlich Andersartigem zu suchen, das es vermeintlich erst ermöglicht, bedingt und bestimmt, hält sich Nietzsche hier völlig an den phänomenalen Tatbestand. Er geht vom Handeln in seiner faktischen und empirischen Gegebenheit aus, er läßt seine Erscheinungsrealität gelten. Insofern er sich hier auf einer vorwiegend praktischen Ebene des Diskurses bewegt, kann die Bedeutung seines zweiten Versuchs nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist kaum nötig zu erwähnen, daß Nietzsche dabei seine theoretische Grundanschauung nicht aufgegeben, geschweige denn auf eine engere Aufgabe beschränkt hat. Es ist auch nicht richtig, daß die phänomenologische Betrachtungsweise hinter der reduktionistischen hinsichtlich der Breite der angestrebten Einsichten zurückbliebe. Trotz grundsätzlicher Unterschiede in mannigfacher Hinsicht, wird doch von diesen beiden Zugängen Gleiches erwartet. Seine Grundaufgabe erblickt Nietzsche auch hier nicht in der bloßen Beschreibung des Handelns, in der bloßen Anführung der äußeren Merkmale des praktischen menschlichen Tuns, sondern vor allem in dessen Deutung. N u r ist die Deutung, die er jetzt erreichen möchte, wesentlich anderer Art. Ihm ist daran gelegen, das Gesetz der Bildung und Äußerung der praktischen Intention zu entdecken, in ihr inneres Wesen einzudringen, und zwar nicht aus einem anderen, ihr fremden Bereich, aus einer niederen Schicht der Wirklichkeit, über die sie sich nur scheinbar als etwas Selbständiges erhebt, sondern aus der praktischen Sphäre selbst, also mit Rücksicht darauf, wie sich das menschliche Handeln faktisch und empirisch vollzieht. Mit größtmöglicher Entschiedenheit, manchmal sogar mit offenem Zynismus, unternimmt es Nietzsche zu zeigen, daß das metaphysische Schema Zweck-Mittel gänzlich ungeeignet ist, das Verständnis der phänomenalen Struktur des menschlichen Handelns zu fördern. Er ist mit der überlieferten Auffassung ganz unzufrieden. Davon zeugt eindrucksvoll eine wichtige A u f zeichnung aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft. „Wir kennen a) die Motive der Handlung nicht; b) wir kennen die Handlung, die wir thun, nicht; c) wir wissen nicht, was daraus wird. Aber wir denken von allen dreien das Gegentheil: das vermeintliche Motiv, die vermeintliche Handlung und die vermeintlichen Folgen gehören in die uns bekannte Geschichte des Menschen, sie wirken aber auch auf seine unbekannte Geschichte ein, als die jedesmalige

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Summe von drei Irrthümern." 3 0 Es ist fast unglaublich, daß auf eine so einfache' Weise, sozusagen mit zwei-drei Federzügen, ein so tief beunruhigender Gedanke ausgesprochen werden konnte - und namentlich der Gedanke, daß das menschliche Handeln im Grunde undurchsichtig und unbegreiflich sei, und daß die menschliche Selbsttäuschung in bezug auf dieses Handeln kein Ende habe. Im Unterschied zu seinen metaphysisch argumentierenden Vorgängern auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, denen daran gelegen war, jede Ungewißheit aus dem praktischen Bereich auszuschließen, ihn vollends zu erklären, mit blendendem Licht zu beleuchten, war Nietzsche viel bescheidener und vorsichtiger. Er erhob keinen Anspruch darauf, aus einem höheren oder tieferen Wissen zu sprechen, er berief sich nur auf die alltägliche Erfahrung. Er betonte besonders, daß die menschliche Praxis von einem undurchsichtigen Geheimnis umschlungen ist, die Kluft zwischen Wissen und Tun unüberbrückbar und jede Handlung eine „undurchdringliche Sache" 31 sei und bleibe. So wichtig war ihm diese grundlegende Stellungnahme, daß er sie mehrmals wiederholt hat, und zwar mit fast denselben Worten. Er behauptete, daß im praktischen Bereich unzweifelhaft nur gilt, daß nichts wirklich erkannt werden könne, daß sich alles der Erkenntnis entziehe. Das Handeln ist schon von Anfang an, nicht erst am Ende, ungewiß. Nie sind wir Herr über unsere Taten und Handlungen: Weder wissen wir eigentlich, was wir tun, wenn wir etwas tun, sei es auch bewußt und gewollt, noch tun wir überhaupt wirklich das, was wir wissen, mögen wir auch noch so stark danach streben. 32 Die Ungewißheit im praktischen Bereich hat Nietzsche in unmittelbare Verbindung mit der äußersten Unzuverläßlichkeit des menschlichen Wissens über sich selbst gebracht. In diesem Sinne sollte man seine Worte auffassen, daß

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Ν 1 8 8 1 / 8 2 : K G W V 2, 11 (37), S. 3 5 2 - 3 5 3 . Obwohl er die Aporien des Handelns klar erkennt, führt sie Nietzsche keineswegs auf die „Bedingtheit menschlicher Existenz durch Pluralität" zurück, wie es Hannah Arendt tut, Vita activa oder vom tätigen Leben (Stuttgart: W . Kohlhammer, 1960), S . 2 1 5 . F W 3 3 5 : K G W V 2, S . 2 4 3 . Vgl. auch folgende Stellen: Ν 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 24 (16), S. 6 9 6 ; Ν 1884: K G W V I I 2 , 2 6 (62), S. 162; 26 (145), S. 186; Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W V I I I 3 , 1 4 (185), S. 164. Ν 1 8 8 0 / 8 1 : K G W V 1, 6 (254), S . 5 9 4 : „In Wahrheit wissen wir nie völlig was wir t h u n . . . " . Vgl. auch Ν 1884: K G W V I I 2 , 25 (127), S. 4 3 : „Bei jedem noch so zweckbewußten Thun ist die Summe des Zufälligen Nicht-Zweckmäßigen Zweck-Unbewußten daran ganz überwiegend, gleich der unnütz ausgestrahlten Sonnen-Gluth: das was Sinn hätte ist verschwindend klein." Z u dieser prinzipiellen Einsicht Nietzsches vgl. Bernhard Waidenfels, „Ethische und pragmatische Dimension der Praxis", in: Manfred Riedel (Hrsg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie I (Freiburg i . B r . : Rombach, 1972), S . 3 8 0 : „Sofern wir uns als Handelnde immer auch schon in einer Welt vorfinden und unsere Praxis keine reine, sondern leibliche, soziale Aktion ist, wissen und wollen wir nie völlig, was wir tun, und tun wir nie völlig, was wir wissen und wollen."

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„die Handlungen niemals Das [sind], als was sie uns erscheinen"," daß das „was man von einer That überhaupt wissen kann, niemals ausreicht, sie zu thun", 34 daß der handelnde Mensch „nothwendig Etwas erreicht: aber schon ein Wissen darum ist unmöglich, also auch ein Vorherwissen",35 Dies wird auch in der Behauptung angedeutet, daß wir „weder [anders] können als wir müssen, noch im einzelnen controliren [können], ob etwas geschehen ist, was wir sollten".36 Etwas Ahnliches mußte Nietzsche vor Augen gehabt haben, als er sagte, daß „unsere Meinungen von ,gut', ,edel·, ,groß' durch unsere Handlungen nie bewiesen werden können". 37 Denn als wichtigsten Grund für diese Unzulänglichkeit unserer Handlungen hat er nur unsere Unfähigkeit angeführt, in jedem konkreten Fall zu erklären, was wir eigentlich wollen und können. Im Rahmen seines zweiten Versuchs stellt Nietzsche sowohl die Frage nach dem Ursprung der menschlichen Handlungen als auch die Frage nach deren Ergebnis mit gleicher Aufmerksamkeit. Wir sagen „stellt", und nicht erörtert, da seine Methode in beiden Fällen mehr eine aporetische als eine systematische ist, d. h. mehr Bedenken trägt, als fertige Lösungen bietet. Uber das Handeln selbst äußert er sich sehr karg, eher mittelbar als unmittelbar. Und auch seine kargen Andeutungen gehören streng genommen nicht in diesen Gedankengang, da in ihnen schon die Bemühung, die phänomenale Grenze auf spekulative Weise zu überschreiten, zum Ausdruck kommt. Im Gegensatz zur traditionellen Auffassung, die er kategorisch als moralistische brandmarkt, stellt Nietzsche zunächst fest, daß das Ziel oder der Zweck keine Triebkraft des Handelns sei, daß dem Handeln keine Vorstellung als wirksame Ursache vorangehe. Ziele und Zwecke bieten keine Möglichkeit, überhaupt anzufangen zu handeln, und entsprechend besteht das Handeln nicht in der Verwirklichung von Möglichkeiten. Nach Nietzsches Worten liegt der Grundirrtum der „bisherigen Moralisten" in der Annahme, daß die Ziele die Menschen zum Handeln bewegen, daß die Menschen bewußt nach gewissen Zwecken handeln,38 oder, was nur eine andere Art darstellt, denselben Irrtum zu zeigen, daß die Menschen immer motiviert sind, auf eine bestimmte Weise zu handeln, daß sich in ihrem Bewußtsein immer ein bestimmtes Motiv vor jeder Handlung findet.39 In der Tat hängt weder das Handeln von Zwecken ab,

33

Μ 116: KGW V 1, S. 107. Vgl. auch Ν 1882/83-84: KGW VII 1, 12(34), S.424: J e d e Handlung, die wir,wollen', ist ja durchaus nur als Schein der Erscheinung, von uns vorgestellt." 34 Μ 116: KGW V 1, S. 107. 35 Ν 1882/83-84: KGW VII 1, 7 (21), S.253. 36 Ν 1880/81: KGW V 1, 6 (120), S.555. 37 FW 335: KGW V 2, S.243. 38 Ν 1882/83-84: KGW VII 1, 7 (201), S. 313-314. 3 ' Ebd., 24 (15), S. 693-694.

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so als könnte es ohne sie überhaupt nicht anfangen, noch entscheiden über seinen Wert Motive oder Absichten der Handelnden. Nietzsche wiederholt unaufhörlich, daß „der Zweck nicht Ursache der Handlung"40 ist, daß „eine Handlung niemals verursacht wird durch einen Zweck",41 daß „die Handlungen eines Menschen [ . . . ] schlechterdings nicht aus seinen Motiven zu erklären sind".42 So fest war Nietzsche überzeugt, daß „das Wesentliche an allem Handeln [...] zwecklos oder indifferent gegen eine Vielheit von Zwecken"43 sei, daß er als das dringlichste Bedürfnis des Tages die Forderung erhob, auf dem Gebiet der praktischen Philosophie ein für allemal mit jeder Teleologie zu brechen. Es besteht kein Zweifel, daß diese scheinbar ganz seltsame und verdrehte Forderung sowohl einen antimetaphysischen als auch einen antimoralistischen Sinn hat, daß sie nicht nur die Ethik, sondern auch die Metaphysik in Frage stellt, daß sie den Haupthebel sowohl der Nietzscheschen Kritik des traditionellen Praxisbegriffs als auch seiner Kritik der Metaphysik überhaupt darstellt. Unabhängig davon, bis zu welchem Maße sich Nietzsche aller ihrer Implikationen bewußt war, und bis zu welchem Maße er sich folgerichtig ihrer zu bedienen wußte, ist es doch unzweifelhaft, daß diese Forderung allen überlieferten Modellen und Formeln widerspricht, daß sie sich allen unseren bisherigen Denkgewohnheiten widersetzt (vor allem jenen, welche die praktische Grunderfahrung betreffen, aber nicht nur ihnen), so daß diese Forderung eine echte Revolution auf dem Gebiet des philosophischen Denkens bedeutet.44 Anders könnte es auch nicht sein, da die Forderung nach einem radikalen Bruch mit aller Teleologie nur als äußerste Konsequenz jener auf den ersten Blick seltsamen und verkehrten Einsicht Nietzsches bedeutet, daß „die Herrschaft des Zweckbegriffs"45 notwendig zur nihilistischen Katastrophe geführt, daß sie die ganze bisherige Moral vernichtet und den gesamten praktischen Bereich in seinem Wesen gefährdet habe. Dies darf man keinesfalls aus den Augen verlieren, wenn man über die Angemessenheit und Rechtschaffenheit dieser Forderung urteilen will.

40 41 42 43 44

45

Ν 1884: KGW VII 2, 27 (34), S.284. Ν 1885/87: KGW VIII 1, 7 (1), S.255. Ν 1882/83-84: KGW VII 1, 9 (43), S.371. Ebd., 7 (212), S.316. Charakteristisch ist folgende Stelle: Ν 1880/81: KGW V 1, 6 (250), S.593: „Es ist der größte Wendepunkt der Philosophie, daß man die Handlung nach Zwecken nicht mehr begreiflich fand; damit sind alle früheren Tendezen entwerthet." Daß das metaphysische Denken im Grunde teleologisch ist, und daß die Kritik der Teleologie den Brennpunkt der Kritik der Metaphysik darstellt, darauf verweist nachdrücklich Nicolai Hartmann, Teleologisches Denken (Berlin: W. de Gruyter, 1966). Ν 1882/83-84: KGW VII 1, 7 (209), S.315.

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Hier ist es nicht unsere Aufgabe, nach den philosophischen Vorgängern Nietzsches zu suchen, nachzufragen, wer, wie und in welchem Maße ihn beeinflußt hat, diesen Weg auf dem Gebiet der praktischen Philosophie einzuschlagen. Der Philosoph, der vielleicht mit Abstand der wichtigste in dieser Hinsicht ist, ist kein anderer als Kant. Dieser hat die Metaphysik gerade als ein vorzüglich moralisches Unterfangen verstanden, so daß man nur mit höchstmöglicher Vorsicht von irgendeiner Verbindung des großen Idealisten mit diesem verrufenen Denunzianten aller Moral und aller Metaphysik 46 sprechen kann. Hier ist es unerläßlich, eines festzustellen: Niemand vor Nietzsche hat so klar eingesehen, daß die menschliche Praxis sich dem metaphysisch vorausgesetzten Verhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit entzieht, daß das praktische Tun keine Idee (Begriff, Prinzip oder Regel) als Bedingung seiner Möglichkeit voraussetzt, daß das menschliche Handeln alles eher als eine geschlossene Bewegung ist wie die dialektische Bewegung des absoluten Begriffs, bei dem am Ende das am Anfang gesetzte Ziel erreicht wird. In dieser grundsätzlichen Verwahrung gegen die überlieferte metaphysische Theorie der Praxis, in diesem entschiedenen Hinweis auf ihre Unzulänglichkeit für ein angemessenes Verständnis des Phänomens der praktischen Intentionalität, liegt zweifelsohne Nietzsches epochales philosophisches Verdienst. Wenn nichts anderes, so ist nach ihm wenigstens das klar, daß das Wissen darüber, was man tun soll, nicht notwendig ist, um überhaupt etwas tun zu können, daß die menschliche Praxis nicht mit der Festsetzung von Zielen und Zwecken anfängt, daß ihr Grund nicht im Bewußtsein und in der Vorstellung liegt. Oder, genauer gesagt: das praktische Tun ist keine theoretisch vermittelte Form der Tätigkeit (und kann es auch nicht sein), denn sonst wäre es der gesellschaftlichen Technik gleichgesetzt, und die menschliche Praxis dient keinen „höheren" Interessen der Vernunft (und darf es auch nicht), da ihr Sinn, ihr Grund und ihre Quelle in ihr selbst liegen und nicht irgendwo anders. 47 46

Es ist allem Anschein nach kein bloßer Zufall, daß der berühmte Satz aus dem Vorwort zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, der dem Ruf Kants als „Alleszerm almer" ein Ende machen sollte: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu b e k o m m e n . . . " , bei Nietzsche in folgender Version erscheint: „Ich musste die Moral aufheben, um meinen moralischen Willen durchzusetzen" ( N 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 9 (43), S. 371). Vgl. ebd. 1 (32), S. 13: „Wir müssen uns von der Moral befreien, um moralisch leben zu können." Auf diese beiden Stellen, wie auch auf einige andere, für das Verständnis von Nietzsches „Immoralismus" nicht weniger wichtige, deutet Heinz Heimsoeth hin, a. a. O . , S. 5. Daß Nietzsches Theorie der Interpretation durch die „Umwandlung der kantischen kritischen Philosophie" entstanden sei, behauptet ausdrücklich Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens (Berlin: W . de Gruyter, 5 1950), S . 2 9 0 .

47

Unabhängig von Nietzsches Einsichten hat Ernst Vollrath unlängst in seinem Buch Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft (Stuttgart: E . K l e t t , 1977), die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit eines alternativen, d . h . nichtmetaphysischen Zugangs zum menschlichen Handeln gelenkt.

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Dadurch, daß er grundsätzlich festgestellt hat, daß zwischen dem Zweck und dem menschlichen Tun kein Verhältnis von Ursache und Wirkung besteht, hat Nietzsche nicht jeden Zusammenhang zwischen ihnen verneint. Es ist, als hätte er sich davor bewahrt, zu weit zu gehen, als scheute er sich, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nicht nur, daß er sich die Mühe gegeben hat, eingehend zu erklären, wie es zu ihrer Vereinigung in der traditionellen Theorie gekommen ist, er hat vielmehr sehr eindrücklich gezeigt, in welchem Sinne es auch heute möglich und gerechtfertigt ist, von ihrer gegenseitigen Zugehörigkeit zu sprechen. Obwohl der Zweck etwas „Nebensächliches",48 sogar etwas „ganz Unbedeutendes"49 für das Handeln ist, da „die Zweckvorstellung entsteht, nachdem schon die Handlung im Werden ist"50, ist seine Rolle doch nicht auf nichts zurückzuführen. Er ist nicht nur ein „beschönigender Vorwand", 51 den sich der Verstand erst nachträglich ausdenkt, um das schon Getane zu identifizieren. In der Tat ist Ziel oder Zweck eine „Begleiterscheinung"52 des praktischen Tuns, dessen obligatorisches Anhängsel, dessen regelmäßiger Bestandteil, und sei es auch nur ein ganz kleiner und unvollständiger Teil. Es ist ein „Bewußtseinsbild", das zugleich auch das „Ende des Handelns" bedeutet (eigentlich nur ein „Teilchen von dem wirklichen Erfolg der Handlung"), und ein „Weg dahin" (wenn auch nicht „unzählige Stücke des Wegs, die schließlich gemacht werden"). 53 Insofern diese „Vorwegnahme"54 des möglichen künftigen Zustands die angehäufte Lebenskraft löst und sie in eine bestimmte Richtung drängt, ist ihre Vermittlerrolle für das menschliche Tun nicht zu bezweifeln. Nur muß dabei sorgsam beachtet werden, daß der Zweck nicht die eigentliche Ursache des Handelns ist, sondern im besten Fall dessen Anlaß, dessen „Streichholz". 55 Nietzsche behauptet dies ausdrücklich: „Das was man ,Ziel', ,Zweck' nennt, ist in Wahrheit das Mittel für diesen unwillkürlichen Explosions· Vorgang". 56 Und das bedeutet, daß die „Zweckvorstellung", trotz ihrer „begleitenden" Rolle, „etwas unendlich Verschiedenes" vom wirklichen Geschehen bleibt. Diese Vorstellung ist nicht nur ein „bleicher Schatten" und ein „nachkommendes Abbild" von unserem „Können und Thun", sondern

48 49 50 51 52 55 51 55 56

Ν 1882/83-84: K G W VII 1, 7 (149), S.299. F W 360: K G W V 2, S.289. Ν 1880/81: K G W V 1, 6 (254), S.594. F W 360: K G W V 2, S.289. Ν 1885/87: K G W VIII 1, 7 (1), S.256. Vgl. Ν 1882/83-84: KGW VII 1, 7 (149), S.299. Ν 1880/81: K G W V 1, 7 (263), S. 593-594. Ν 1882/83-84: K G W VII 1, 7 (77), S.277. F W 360: K G W V 2, S.289. Ν 1882/83-84: K G W VII 1, 7 (77), S.277.

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mitunter etwas „sehr falsches, wo wir nicht zu können scheinen, was wir wollen".57 In bezug darauf, daß in der neuzeitlichen Fassung der metaphysischen Theorie der Praxis der inneren Motivation des Handelns besondere Beachtung geschenkt wird - eigentlich den Motiven, die den Menschen bewegen, etwas zu tun, wobei man davon ausgeht, daß die Motive, genau wie die Ziele und Zwecke, dem Handeln vorangehen58 - hält Nietzsche es für nötig, alles, was er über Ziele und Zwecke gesagt hat, in bezug auf die Motive zu wiederholen. So lesen wir in seinen nachgelassenen Aufzeichnungen, daß die Motive nur dazu dienen, um „vor und nach der That" (je nachdem, was man braucht) unsere Handlungen zu „interpretiren",59 daß „jenes was wir ihre ,Motive' nennen [d. h. Motive der Handlung] bewegt Nichts", 60 daß die „falschen unterschobenen Motive" unausweichlich zum „Mißverständnis der Handlung"61 führen. An einigen Stellen gebraucht Nietzsche den Ausdruck „Absicht" als Synonym für Motiv: „Nach Absichten einen Menschen abschätzen! Das wäre als wenn man einen Künstler nicht nach seinem Bilde, sondern nach seiner Vision taxirte."62 Mehr an der Sache selbst interessiert als von der Sorge um terminologische Kleinigkeiten belastet betont Nietzsche, daß derjenige irregehe, der „den Werth einer Handlung nach der Absicht mißt", da er „dabei die bewußte Absicht [meint]", obwohl es „bei allem Handeln" auch „unbewußte Absichtlichkeit giebt".63 Nietzsche legt dem Umstand größte Bedeutung bei, daß sich der Mensch über seine Motive nie völlig im klaren ist, daß auch ihm selbst, nicht nur den anderen, nur ein ganz kleiner Teil dessen, was wirklich seinem Tun vorangeht, bekannt ist. „Naive Leute glauben es noch, daß wir wissen, warum wir wollen. Wir haben auch vor einer Handlung eigentlich nur Möglichkeiten vorzustellen, welche unsere Handlung erklären können, je nach dem Grade unserer Kenntniß von uns: aber was uns bewegt, das wissen wir auch durch die That selber noch nicht, ja nie."64 In einer anderen Aufzeichnung ist derselbe Gedanke wie folgt ausgedrückt: „Die Motive unserer Handlungen liegen im Dunkel, und was wir als Motive glauben, würde nicht ausreichen, einen Finger zu bewegen."65

57 58

59 60 61 62 63 64 65

Ν 1880/81: K G W V 1, 6 (254), S. 593-594. Daß der Unterschied zwischen der teleologischen und der die Motivation berücksichtigenden Auslegung des menschlichen Handelns nicht so groß ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, bemerkt mit Recht Ernst Vollrath, a. a. O., S. 55. Ν 1880/81: K G W V 1, 6 (361), S.619. Ν 1884: K G W VII 2, 26 (62), S. 162. Ebd., 25 (364), S. 104. Ebd., 25 (119), S. 41. Ν 1885/87: KGW VIII 1, 1 (76), S.25. Ν 1880/81: K G W V 1, 6 (361), S.619. Ebd., 5 (44), S. 521.

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Aber es handelt sich nicht nur darum, daß unser Wissen über das, was wir wollen und können, so begrenzt ist, daß in unser Bewußtsein nur ein kleiner Teil dessen, was beim Handeln wirklich geschieht, eindringt, daß bei allen unseren Handlungen „das Wesentliche uns unbewußt [verläuft]".66 Ein viel größeres Übel ist, daß auch das Wissen, über das wir verfügen, nicht viel wert ist, daß auch das begrenzte Bild, das wir uns in unserem Bewußtsein machen, der Wirklichkeit nicht entspricht. In dieser Hinsicht war Nietzsche völlig eindeutig. Er bezweifelte die Durchdringungsfähigkeit und die Weitsichtigkeit des Bewußtseins, er behauptete, daß „alles Bewußte auf der Oberfläche bleibt", daß alles „wesentlich Erfindung und Einbildung ist, worin wir bewußt leben".67 Diese radikal skeptische Stellung zu den „Thatsachen des Bewußtseins",68 sogar zum ganzen „Erkenntnis-Apparat" 6 ' als solchem verleiht der Kritik Nietzsches an der traditionellen Auffassung der Praxis eine besondere Prägung. Läge das ganze Problem nur im Wissen, eigentlich nur in unserer begrenzten und unvollständigen Kenntnis der eigenen Absichten und Möglichkeiten, wovon uns von jeher die „Idealistfen] der Praxis"70 verschiedenster Arten und Farben zu überzeugen suchten, dann wäre die Situation des Handelns überhaupt nicht so ernst, wie sie es in der Tat ist. In diesem Fälle wäre es nämlich angemessen vorauszusetzen, daß der heutige Zustand nur eine momentane, vorläufige, vorübergehende Schwierigkeit sei, und wir hätten sogar guten Grund zu erwarten, daß die Situation einmal eine Wendung zum Besseren nehmen werde. Nietzsche jedoch verwirft grundsätzlich die Idee einer rationalen Erklärung der menschlichen Praxis. Nach seinen Worten ist das Handeln kein „Akt des Bewußtseins", 71 es hat keine Vernunftgrundlage, es ist nicht Produkt irgendeines Wissens. Zwischen Wissen und Handeln besteht eine unüberbrückbare Kluft.72 Mit Rücksicht darauf, daß die Ursache gewöhnlich erst „imaginirt" 73 wird, nachdem die Wirkung schon eingetreten ist, sieht Nietzsche keine Möglichkeit, die Ungewißheit im praktischen Bereich durch Erweiterung und Vertiefung des Wissens zu überwinden. Er ist sich im klaren darüber, daß jener, der behauptet, „die ganze Herkunft einer Handlung" zu kennen, auch den Anspruch erheben müßte, die „absolute Erkenntnis" 74 zu besitzen, und sich so dem größten Spott aussetzen würde, da der Anspruch auf eine solche Erkenntnis historisch überholt ist. Damit kein Mißverständnis entsteht, muß man gleich hinzufügen, daß dieser Skeptizismus Nietzsches gegenüber Zwecken und Motiven des mensch-

66 67 6! 69 70

Ν 1882/83-84: K G W VII 1, 1 (31), S.13. Ebd., 24 (16), S. 696-697. Ν 1885/87: K G W VIII 1, 7 (1), S.257. Ν 1884: K G W VII 2, 26 (61), S. 162. Ν 1880/81: K G W V 1, 4 (70), S.446.

71 72 73 74

Ν 1885/87: K G W VIII 1, 1 (172), S.45. Vgl. ebd., 7 ( 1 ) , S.257. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 15 (90), S.253. Ν 1885/87: K G W VIII 1, 1 (79), S.26.

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liehen Handelns nichts mit seiner vermeintlichen Überschätzung der Biologie auf Kosten der Psychologie zu tun hat, daß dies nicht jener bereits erwähnte Reduktionismus in neuem Gewand ist. Nietzsche unterschätzt nicht die Rolle der bewußten Faktoren im menschlichen Leben, weil er weiß, daß hinter oder unter der Schwelle des Bewußtseins, in der Triebstsruktur, andere, verborgene, mächtigere Faktoren wirken. Seine tief realistische Einsicht, daß der Mensch nicht etwas tut, weil er es beabsichtigt, weil er es bewußt als Ziel oder Zweck gesetzt hat, ist von jedem reduktionistischen Versuch weit entfernt oder kann zumindest kaum mit einem solchen Versuch gleichgesetzt werden. Obwohl es einige Formulierungen gibt, die gewisse Zweifel hervorrufen können, ist die Grundausrichtung der Gedanken Nietzsches doch völlig klar: wie die Vernunftzwecke, sind auch die vitalen Triebe nicht die letzten, entscheidenden Faktoren, mit denen man im praktischen Bereich rechnen muß. In diesem Sinne behauptet Nietzsche ausdrücklich, daß „Lust und Schmerz" nicht die tiefsten Triebkräfte alles menschlichen Handelns sind, wie man „geradezu Jahrtausende lang"75 glaubte, daß „Lust und Schmerz" nur „späte und abgeleitete Intellekt-Phänomene"76 sind, daß „Lust und Schmerz", insofern sie überhaupt selbständig als Motive auftreten, ebenso wie alle anderen Motive nur „Begleiterscheinungen"77 sind. Seine Kritik der teleologischen Auffassung der menschlichen Taten und Handlungen hat Nietzsche durch keine positive Lösung ergänzt. Die alten Brücken zum Verständnis hat er zerstört, aber nicht genügend Sorge dafür getragen, neue zu bauen. Bei ihm gibt es nicht einmal klare Andeutungen darüber, in welcher Richtung sich die praktische Reflexion nach dem Zusammenbruch der Metaphysik bewegen könnte. Anstatt einer entwickelten und begründeten Darlegung, die wenigstens einigermaßen die entstandene Lücke ausfüllen würde, bietet er nur einige äußerst zugespitzte Behauptungen. Mit seiner kritischen Stellungnahme zu den überlieferten Denkmodellen und -methoden geht Nietzsche so weit zu erklären, daß „durch die Zwecke [ . . . ] das Leben ganz unsinnig und unwahr" werde.78 Es ist nicht klar, wie diese paradoxe Erklärung (zumal ihr Schluß) zu verstehen ist, da in der Fortsetzung derselben Aufzeichnung steht, daß der Zweck die Tätigkeiten, die ein Ende haben (d. h. die auf gewisse Zwecke gerichtet sind), zu einer unendlichen Kette von Wiederholungen verbindet, und so ergibt sich, daß der Mensch etwas tut, nicht nur um der Tat selbst willen (ζ. B. ißt, um zu essen), sondern auch um eines anderen willen (er ißt, um zu leben), was wiederum jenes erstere ermöglicht (wieder zu essen), und so weiter bis ins Unendliche. An einer anderen Stelle, die vielleicht noch drastischer als die erste ist, da sie die Form 75 76

Ν 1888/82: K G W VIII 3, 14 (152), S. 127. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 11 (113), S.295.

77 78

Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (152), S. 127. Ν 1878/79: K G W IV 3, 41 (5), S.442.

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einer intimen Mahnung hat, sagt Nietzsche, daß der Mensch seine Handlungen „erniedrigt", wenn sie „nur um eines Zwecks Wi/Zew"7' getan werden. Schärfer konnte wahrlich die Forderung, alle metaphysischen Rücksichten auf dem praktischen Bereich aufzugeben, nicht ausgedrückt und der nihilistische Zusammenbruch der höchsten moralisch-ontologischen Werte als eine neue historische Chance der Menschheit angenommen werden. Die Frage ist nur, in welchem Maße Nietzsche Recht hatte, als er das persönliche Erlebnis' als den einzigen ausschlaggebenden Maßstab für den wirklichen Wert der menschlichen Praxis erklärte. Könnte es richtig sein, daß „der Werth einer Handlung davon abhängt, wer sie thut und ob sie aus seinem Grunde oder aus seiner Oberfläche stammt: d . h . wie tief sie individuell ist"? 80 Können Nietzsches Worte: „Nicht Grund und Zweck deines Handelns machte dein Handeln gut: sondern daß dabei deine Seele zittert und glänzt und überwallt", 81 der einzige Wegweiser in der neuentstandenen weltgeschichtlichen Situation bleiben? Was die Frage nach den Folgen des menschlichen Handelns betrifft, mit denen sich Nietzsche, wie schon erwähnt, ebenso sorgsam beschäftigte wie auch mit der Frage nach dessen Herkunft, so können wir uns kurz fassen. Hier erwartet uns keine Überraschung mehr, so daß wir uns für den nächsten Schritt nicht vorbereiten müssen. Schon längst vor Nietzsche, noch im frühen Griechentum, sogar bevor die metaphysische Philosophie endgültig den tragischen Mythos zurückgedrängt hatte, sind viele vernünftige Beobachter und Kenner der menschlichen Dinge innegeworden, daß niemand wirklich Herr seiner Handlungen ist, daß weniges so ausfällt, wie es die Menschen wünschen, daß ein fürchterlicher Abgrund zwischen dem Beabsichtigten und dem Verwirklichten klafft. Wir brauchen überhaupt nicht zu erwähnen, daß sich viele Vorgänger Nietzsches aus der näheren und ferneren Vergangenheit der unübersehbaren Verwicklungen der Folgen menschlicher Handlungen bewußt waren, ja sogar die Gefahr der Entfremdung der Tat von den menschlichen Absichten erkannt haben! 82 Zwar war die frühere philosophische Auslegung

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80 81 82

Ν 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 15 (27), S. 510. Vgl. ebd., 15 (40), S . 5 1 4 : „Mit ,um zu' hat man einen Zwang geschaffen und die Freiheit vernichtet. Ein Beitrag zur Erlösung von den Zwecken." Ν 1884: K G W VII 2, 2 7 (32), S.283. Ν 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 13 (1), S . 4 3 8 . Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Sämtliche Werke VII Jubiläumsausgabe) ( H . Glockner), (Stuttgart/Bad Cannstatt: F. Frommann, 4 1965), § 1 1 9 Zusatz: „Ein altes Sprichwort sagt mit Recht: Der Stein, der aus der Hand geworfen wird, ist des Teufels. Indem ich handele, setze ich mich selbst dem Unglück aus: dieses hat also ein Recht an mich und ist ein Dasein meines eigenen Wollens". Jedenfalls irrt Hannah Arendt, wenn sie sagt, daß Jesus von Nazareth als erster das Bewußtsein von der Nichtvoraussehbarkeit der Folgen des menschlichen Handelns geweckt habe (in: Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, F r a n k f u r t / M . : Europäische Verlagsanstalt, 1957, S. 73). Im Unterschied zu Hannah Arendt, die den berühmten Jesus-Worten: „Verzeihe ihnen, Gott, denn sie wissen nicht, was sie

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dieser Tragik der menschlichen Situation ausdrücklich moralistisch, da sie sich nach der Ethik der persönlichen Verantwortlichkeit richtete. Trotz aller Unterschiede zwischen dem antiken und dem modernen Ethos (namentlich mit Rücksicht auf das Verhältnis zu den unerwünschten und unbeabsichtigten Folgen), war eins noch allen Moralisten gemeinsam: alle stimmten darin überein, daß der Mensch verantwortlich ist für das, was er tut, daß er sogar für das Mißlingen seiner Handlungen verantwortlich ist, daß er für jedes durch sein Tun verursachte Unglück die Schuld trägt. Die Tatsache, daß Nietzsche grundsätzlich anders als seine philosophischen Vorgänger an die Frage nach den Folgen des menschlichen Handelns herangetreten ist, vermindert jedoch keineswegs die Relevanz ihrer Einsichten für das Verständnis seines nihilistischen Versuchs. Im Einklang mit seinem Grundgedanken, daß der praktische Bereich im Grunde undurchsichtig und unbegreiflich sei, weist Nietzsche auf die Unvorhersehbarkeit der Folgen menschlicher Handlungen hin. Er ist überzeugt, daß wir „[uns selber] tief unbekannt und fremd sind",83 und daß wir so, wie wir nicht wissen, was wirklich unserem Handeln vorangeht, auch nicht wissen, was daraus wirklich folgt. Obwohl hauptsächlich mit der Ausarbeitung der eigenen Konzeption beschäftigt, begnügt sich Nietzsche nicht mit bloßen Behauptungen (wie z.B.: „Bei jeder Handlung wird viel erreicht, woran wir nicht denken",84 „wir wollen Etwas und erreichen immer etwas Anderes",85 oder: „alles Erreichte ist absolut incongruent dem Gewollten"*6), sondern polemisiert scharf gegen die utilitaristische Auffassung. Er verwirft jeden Gedanken daran, daß der Wert einer Handlung an der Nützlichkeit ihrer Folge gemessen werden kann, „daß in den Folgen der Handlungen schon Lohn und Strafe liegen". Der Gedanke einer „immanenten Gerechtigkeit" ist ihm verhaßt, trotz seines von ihm herausgestellten antireligiösen Zuges, er findet ihn „grundfalsch".87 Gegen die utilitaristische Auffassung stellt sich Nietzsche unter anderem auch deshalb, weil die Utilitaristen anscheinend allzu selbstbewußt sind und allzuleicht über Dinge urteilen, die sich der Erkenntnis entziehen. Er will natürlich nicht sagen, daß man über die Folgen der menschlichen Handlungen überhaupt nichts wissen könne; irgendein mangelhaftes Wissen ist auch hier möglich, etwas kann man auch hier vermuten,

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tun" höchste Bedeutung beilegt (a.a.O., S.73; vgl. auch Vita activa, S.234-235), bezeichnet Nietzsche diese Worte als „oberflächliche Worte" (N 1885/87: KGW VIII 1, 1 (172), S.45), offensichtlich deswegen, weil er, wenn das Wissen Ursache guter Handlungen ist, bzw. schlechte Handlungen Folge des Irrtums sind, darin einen metaphysischen Sinn erblickt. Ν 1884/85: KGW VII 3, 36 (8), S.276. Ν 1882/83-84: KGW VII 1, 11 (14), S.397. Ebd., 7 (117), S. 290. Ebd., 7 (21), S. 253. Ν 1884: KGW VII 2, 26 (279), S.221.

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zumindest „fünf Schritt weit vielleicht".88 Um es genau zu sagen: unvorhersehbar sind nur die entfernten Folgen der Handlungen und nicht diejenigen, denen wir unmittelbar begegnen. In diesem Sinne betont Nietzsche, daß „,nützlich' nur ein Gesichtspunkt für die Nähe" ist,89 daß man nur von einer näheren Folge mit Gewißheit sagen kann, sie sei nützlich, jedoch nicht von allen anderen, so daß deshalb „jede Handlung gleich nützlich und gleich schädlich taxirt werden" kann.90 Auch gegenüber diesem Maßstab verhält sich Nietzsche äußerst skeptisch. Entgegen den Utilitaristen, die unkritisch den Maßstab der Nützlichkeit gebrauchen, als handele es sich um etwas, das sich von selbst versteht, hegte er Zweifel daran, daß man überhaupt gewiß wissen könne, was nützlich sei." Aber ungeachtet dessen, daß man nicht viel über das wissen kann, was sich alles aus einer menschlichen Handlung ergeben wird, da das Geschehen im praktischen Bereich sich keinen im voraus festgesetzten Regeln fügt, besteht kein Zweifel, daß die Folgen aller Handlungen unumgänglich den Täter selbst treffen. Dies ist eine sehr wichtige These Nietzsches, mag sie auch nur flüchtig in den nachgelassenen Fragmenten angegeben sein. Daß „die Folgen unserer Handlungen [ . . . ] uns am Schöpfe [fassen], sehr gleichgültig dagegen, daß wir uns inzwischen .gebessert' haben",92 d.h. daß wir erst durch das, was wir tun, das werden, was wir sind, trotz all unseres Distanzierens vom Getanen, darüber sagt Nietzsche folgendes: „Jede Handlung schafft uns selber weiter, sie webt unser buntes Gewand."93 Und noch klarer an einer anderen Stelle: „Unsere Handlungen formen uns neu: in jeder Handlung werden gewisse Kräfte geübt, andere nicht geübt, zeitweilig also vernachlässigt: ein Affekt bejaht sich immer auf Unkosten der anderen Affekte, denen er Kraft wegnimmt. Die Handlungen, die wir am meisten thun, sind schließlich wie ein festes Gehäuse um uns: sie nehmen ohne Weiteres die Kraft in Anspruch, es würde anderen Absichten schwer werden, sich durchzusetzen. - Eben so formt ein regelmäßiges Unterlassen den Menschen um: man wird es endlich Jedem ansehn, ob er sich jedes Tags ein paarmal überwunden hat, oder immer hat gehn lassen. - Dies ist die erste Folge jeder Handlung, sie baut an uns fort natürlich auch leiblich,"94 In der Fortsetzung derselben Aufzeichnung erklärt Nietzsche, die Veränderungen am Körper seien durch das Bewußtsein vermittelt, denn „zu jeder Handlung gehört nun auch eine Meinung bei uns über uns

»« Ν 1888/89: KGW VIII 3, 14 (185), S.164. " Ν 1884: KGW VII 2, 25 (128), S.43. 90 Ebd., S. 44. 91 Vgl. Ν 1888/89: KGW VIII 3, 14 (185), S. 164. 92 Ν 1882/83-84: KGW VII 1, 3 ( 1 ) 8 6 , S.63. » Ebd., 5 (1) 208, S.215. 94 Ebd., 7 (120), S. 290-291.

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in Bezug auf diese Handlungen"' 5 . Es stellt sich heraus, daß Affekte wie Unaufrichtigkeit und Mißtrauen gegen sich selbst, Angst vor sich selbst und Verachtung seiner selbst - insofern sie in entsprechenden Handlungen zum Ausdruck kommen - allmählich die körperliche Konstitution des Menschen ändern, mag dieser auch auf einer öden Insel leben. Ohne die Nietzschesche Kritik der Teleologie zu unterschätzen, deren Radikalismus noch immer eher verwirrend und abstoßend als anziehend und ermutigend wirkt, muß man sagen, daß die These von der Rückwirkung der Folgen auf den Täter der bei weitem eigentümlichste Punkt des gesamten nihilistischen Denkversuchs in bezug auf die Praxis ist. Darauf muß man besonders aufmerksam machen, da leicht zu übersehen ist, daß es überhaupt zu dieser Einsicht innerhalb der zweiten Stufe dieses Versuches gekommen ist: so wenige Spuren hat Nietzsche darüber in seinen Aufzeichnungen hinterlassen. Obwohl der phänomenale Sinn dieser Einsicht unzweifelhaft ist, ist sie hoch spekulativ geladen, da sich in ihr mannigfaltige und oft sich widersprechende Motive des Philosophierens Nietzsches kreuzen und durchdringen. Diese Einsicht wird nur scheinbar von dem metaphysischen Lehrsatz, daß sich das tätige Subjekt in seinen Handlungen zeige, übernommen und bejaht, während sie ihn tatsächlich umkehrt und widerlegt. Der falsche Eindruck, daß Nietzsche sich hier im Horizont der Metaphysik bewege, entsteht nur, wenn diese Einsicht aus dem Zusammenhang der Kritik des traditionellen Praxisverständnisses herausgerissen wird. Wird sie jedoch in diesen Zusammenhang zurückgebracht, wird ihr entschieden antimetaphysischer Sinn offenbar. Als Nietzsche im Rahmen seines schon erwähnten radikalen Bruchs mit der Lehre von der Willensfreiheit feststellte, „daß der Mensch für Nichts verantwortlich zu machen ist", 96 da es kein „Subjekt", keinen inneren Mittelpunkt gibt, der bewußt alle menschlichen Handlungen lenkt, hatte er schon einen entscheidenden, um nicht zu sagen schicksalhaften Schritt in der Entfaltung seines Ansatzes gemacht. (Es ist kaum nötig, besonders zu betonen, daß dieser Schritt von grundlegender Bedeutung ist und daß seine Wichtigkeit sich nicht nur auf jenen Teil der Kritik der traditionellen Auffassung beschränkt, der in den Gewässern des Reduktionismus schwimmt.) Auf diese Weise hat Nietzsche zur Kenntnis gebracht, daß er die Grundvoraussetzung verwirft, auf der die traditionelle Auffassung der Praxis beruht: Es ist die ontologische Voraussetzung, daß im Fundament jeder Bewegung, oder genauer, im Fundament jedes konkreten einzelnen Seienden, da dieses wesentlich bewegt ist, ein tätiges Wesen (Substrat oder Substanz) waltet, das trotz aller Veränderungen, die im Laufe der Bewegung am Seienden selbst entstehen, unverändert bleibt. Ebd., S.291. * ΜΑ I 39: K G W IV 2, S.61. 55

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Ein großes Verdienst Nietzsches ist es, daß er als erster entschieden darauf hingewiesen hat, daß diese allgemeine ontologische Voraussetzung, die schon Aristoteles eingeführt hatte und die zu den größten denkerischen Taten der abendländischen Philosophie gehört,97 der phänomenalen Struktur des menschlichen Handelns nicht entspricht, daß sie für das Verständnis des Phänomens der praktischen Intentionalität unzulänglich und ungeeignet ist. Das menschliche Handeln ist nämlich eine ganz eigene Art der Bewegung, es unterscheidet sich von allen anderen Formen der Bewegung vor allem dadurch, daß es wesentlich schöpferisch ausgerichtet ist, daß es etwas „absolut Neues"98 erzeugt, etwas, was es bis dahin nirgends gegeben, das man auch in der Idee nicht als möglich vorausgesetzt hat, und nicht dadurch, daß sein Träger eine tätige Substanz wäre, die bewußt und willentlich über ihre akzidentellen Bestimmungen verfügte. Belanglos ist, daß der Hinweis auf diese Beschränktheit der traditionellen Auffassung nicht bis zu Ende ausgeführt worden ist, daß Nietzsche bei einigen mehr oder weniger beiläufigen Andeutungen stehengeblieben ist. Nietzsche hat, und sei es auch nur in ganz bescheidener Form, doch einen anderen Weg eingeschlagen. Er war der erste, der es gewagt hat, öffentlich zu sagen, daß auf dem Gebiet der praktischen Philosophie eine radikale Wendung unumgänglich ist. Seine grundsätzliche Einstellung, daß sich hinter den einzelnen menschlichen Handlungen kein „Subjekt" verberge, so daß demnach, „wenn alles Thun vom yThäter' abgerechnet würde'"", nicht mehr übrig bliebe - öffnet die Möglichkeit für einen wesentlich andersartigen Zugang zum praktischen Bereich, wenn Nietzsche auch nicht eine völlig befriedigende Erklärung von allem bietet, was in diesem Bereich geschieht. In jedem Fall und unabhängig davon, wie man Nietzsches These vom rückwirkenden Einfluß der Folgen auf den Täter deuten kann, steht außer Zweifel, daß ihr tiefster Gedanke nichts mit der Metaphysik zu tun hat. Die Tatsache, daß uns unsere Handlungen „umformen" oder „weiter schaffen", wie es Nietzsche an den angeführten Stellen ausgedrückt hat, bedeutet keines97

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Werner Marx, Einführung in Aristoteles' Theorie vom Seienden (Freiburg: Rombach, 1972), S. 84. Eine gründliche Erörterung der aristotelischen Kategorien findet man bei Ernst Tugendhat, 77 ΚΑΤΑ ΤΙΝΟΣ. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung Aristotelischer Grundbegriffe (Freiburg: K. Alber, 1968). Ν 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : KGW VII 1, 7 (64), S.272. Vgl. FW 335: KGW V 2, S.242-243: „...dass es weder gleiche Handlungen giebt noch geben kann, - dass jede Handlung, die gethan worden ist, auf eine ganz einzige und unwiederbringliche Art gethan wurde, und dass es ebenso mit jeder zukünftigen Handlung stehen wird." Freilich gilt diese These, daß es im praktischen Bereich nichts Gleiches gibt, nur für die Handlungen im Rahmen einer Reihe. Sonst wiederholt sich, nach Nietzsches Meinung, die allgemeine Konstellation des menschlichen Handelns unzählige Male (wie auch aller anderen Dinge in der Welt). GM I 13: K G W VI 2, S. 293-295. Vgl. auch Ν 1885/87: KGW VIII 1, 7 (1), S.258; 2 (84), S. 101-102.

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wegs, daß diese Handlungen nach seiner Meinung rein subjektive Erzeugnisse in dem Sinne seien, daß man an ihnen gleichsam unser inneres Wesen erkennen könne. Wenn es kein Subjekt gibt, das Urheber und Träger aller dieser Handlungen ist, dann kann auch eine Reihe solcher Handlungen offensichtlich nichts über seinen vermeintlichen Zustand bezeugen, mögen diese auch noch so wertvoll oder wertlos sein. Also sind unsere Handlungen der einzige faktische und empirische Ausdruck unseres Lebens, diese Handlungen sind jene schöpferische Kraft, die unserem Dasein erst eine bestimmte Prägung gibt, die erst unser Gesicht gestaltet. Außerhalb dieser Handlungen gibt es keine andere menschliche Welt. „Unsere Thaten sind unser Sein", sagt Nietzsche.100 Da er nicht ein für allemal bestimmt ist, besitzt der Mensch auch nichts ein für allemal. Er gewinnt und verliert nur unaufhörlich freien Raum für das eigene Handeln. Aus diesem Gewinnen und Verlieren, wobei das Handeln oft auf das Aufsetzen und Abwerfen einer „Maske"101 zurückgeführt wird, besteht sein ganzes Leben, dieses Gewinnen und Verlieren ist eigentlich sein Leben.102 Es bleibt noch übrig, uns kurz mit dem dritten Entwurf des Nietzscheschen Gedankenexperiments mit dem menschlichen Handeln zu befassen. Kürze ist hier geboten, nicht so sehr deshalb, weil das relevante zur Verfügung stehende Material zu kärglich wäre (obwohl dies auch nicht unrichtig ist), sondern vor allem, um das hier aufgestellte Thema nicht zu verfehlen. Der spekulative Zugang ist nämlich in so hohem Maße vieldeutig, daß er zu verschiedensten Assoziationen verleitet. Daher ist es unumgänglich, sich auf das Wichtigste zu beschränken. Sonst droht die Gefahr, uns in der Betrachtung aller möglichen Aspekte der Nietzscheschen Philosophie zu verlieren. Im Rahmen seines dritten Versuchs - wenn es überhaupt einen Sinn hat, diesen Ausdruck zu gebrauchen, denn hier handelt es sich, wie übrigens auch in den beiden ersteren Fällen, nur um einen Aspekt einer einheitlichen denkerischen Anstrengung - stellt Nietzsche die Dinge auf den Kopf, er wendet sich der reinen Spekulation zu. Nicht mehr das menschliche Handeln in seiner faktischen und empirischen Gegebenheit hat er vor Augen, sondern dessen ursprüngliche Möglichkeit. Es interessiert ihn nicht mehr, was unter den Menschen wirklich geschieht, sondern allein die historische Chance der künftigen Menschheit. Diese in jeder Hinsicht andersartige praktische Einstellung, an deren Bestätigung ihm offensichtlich sehr viel lag, nennt Nietzsche den „schöpferischen Akt",103 ohne den neu eingeführten Begriff terminolo100 101 102 103

Ν 1880/81: K G W V 1, 6 (324), S.610. Ν 1882/83-84: K G W VII 1, 1 (20), S.9. Vgl. auch Ν 1880/81: K G W V 1, 6 (407), S.632. Vgl. Ν 1882/83-84: K G W VII 1, 12(1)135, S.413. Ν 1884/85: K G W VII 3, 43 (2), S. 439. Neben dem Ausdruck „schöpferischer Akt" gebraucht Nietzsche auch „produktiver" bzw. „schöpferischer" Mensch (N 1880/81: K G W V 1, 7 (213), S.691; Ν 1882/83-84: K G W VII 1, 3 ( 1 ) 1 1 9 , S.67).

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gisch zu fixieren. Es ist gar nicht leicht, sich in Nietzsches kargen Äußerungen über diese paradoxe Wendung zurechtzufinden, um so weniger, als der neue Begriff der Praxis dem „Begriff" im Sinne der traditionellen Logik kaum ähnelt. Dennoch kann man nicht sagen, daß Nietzsche hier alle seine früheren Einsichten aufgibt (obwohl er tatsächlich von einigen Abstand nimmt, während er bei anderen den Akzent verschiebt), sondern eher, daß er seinen praktischen Ansatz philosophisch vertieft, seine Züge verschärft, ihm viel Neues beilegt. Allem Anschein nach muß dieser kühne Gedankenschritt Nietzsches in Beziehung zur Veränderung seines Verhältnisses zur Wissenschaft gebracht werden, besonders zur Veränderung seines Verhältnisses zum mechanistischen Determinismus der modernen Naturwissenschaft, der zuerst den Horizont seines Praxisverständnisses getrübt hatte.104 Schwerlich kann man die tieferen Motive der Nietzscheschen Wendung in die spekulative Richtung überhaupt verstehen, wenn man diese wichtige Veränderung außer acht läßt. Nachdem er sich eine Zeitlang mit fast aufklärerischer Naivität an der Wissenschaft begeistert hatte - in der er vor allem ein Mittel zur Kritik der Religion, der Metaphysik und der Moral sah - wandte sich Nietzsche schließlich auch gegen die Wissenschaft selbst und bekam so Gelegenheit, seine ihm eigene philosophische Sprache zu sprechen. Die ersten Zeichen von Mißtrauen gegen die mechanistische Weltdeutung kamen bei Nietzsche sehr früh zum Vorschein, schon in der Periode seiner größten Begeisterung für die Wissenschaft. Jedoch ist dieses Mißtrauen erst in der letzten Periode seines Schaffens zu vollem Ausdruck gekommen. An vielen Stellen in seinem Nachlaß betont Nietzsche entschieden, daß die mechanistische Weltdeutung im Grunde naiv und beschränkt sei - an einer Stelle sagt er sogar ausdrücklich, daß diese Deutung nur eine „unvollkommene" und „vorläufige Hypothese" sei105 - und läßt nicht einmal die Möglichkeit zu, daß sie „allein im Rechte" sei,106 wie er es früher angedeutet hatte. Aber obwohl er später die mechanistische Grundlage des naturwissenschaftlichen Determinismus scharf angegriffen und sogar das Prinzip der Kausalität, auf dem die wissenschaftliche Methode beruht, in Frage gestellt hat, hat Nietzsche den deterministischen Standpunkt im allgemeinen nicht verlassen. Nicht einen Augenblick fühlte er sich versucht, der mechanistischen Notwendigkeit - von der er fand, daß „wir erst sie in das Geschehn hineinin-

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Zum folgenden vgl. Heinz Heimsoeth, a.a. O., S. 29-31. Ν 1888/89: KGW VIII 3, 14 (188), S. 168. Vgl. auch Ν 1884: KGW VII 2, 25 (314), S. 89; 26 (227), S. 207; 27 (36), S.284; Ν 1884/85: KGW VII3, 34 (56), S. 158; Ν 1885/87: KGW VIII1, 2 (89), S. 103. F W 373: K G W V 2, S.307.

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terpretirt [haben]"107 - die philosophische „intelligible Freiheit"108 vorauszusetzen. Im Gegenteil, er war fest überzeugt, daß die Notwendigkeit die Welt beherrsche, daß alle Dinge notwendig miteinander verknotet seien. Er war nur bemüht, diese Notwendigkeit anders zu denken, ihr eine andere Bedeutung zu geben, oder zumindest hatte er eine solche Möglichkeit vor Augen. An die Stelle der mechanischen „Anziehungs- und Abstoßungskraft" 109 setzte er die „dynamischen Quanten", 110 an die Stelle der „verdinglichten" Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung, im Sinne der damaligen mechanistischen Vorurteile, traten die existentiellen Machtverhältnissen zwischen verschiedenen Willen.111 Das ist ohne Zweifel eine wichtige und bedeutende Neuerung. Zwar hatte Nietzsche gewaltige Schwierigkeiten mit seiner „dynamischen Welt-Auslegung", die er grundsätzlich der mechanistischen Denkweise entgegenstellte.112 Er war sich sogar darüber nicht im klaren, ob der Begriff des Willens zur Macht den physikalischen Begriff der Kraft ersetzen oder nur ergänzen solle. Seine große Unsicherheit und Unschlüssigkeit in philosophischer Hinsicht veranlaßten ihn, immer von neuem eine Stütze in den Naturwissenschaften zu suchen, sich immer wieder sowohl auf große und bedeutende Naturwissenschaftler der Vergangenheit (unter diesen vor allem auf den Ragusaner Boscovich), als auch auf weniger bekannte und weniger einflußreiche wissenschaftliche Forscher seiner Zeit zu berufen. Sei dem, wie ihm wolle, Nietzsche wies jedenfalls fortwährend auf die perspektivische Beschränktheit der mechanistischen Weltauslegung hin. Seine Kritik an ihr hat er mit der einschneidenden Behauptung begonnen und beendet, daß die „Gesetzmässigkeit der Natur" eine bloße Metapher sei,113 daß den „Causal-Verbänden" nichts Reales entspreche,114 daß die „mechanistische N o t w e n d i g k e i t " bloß eine Art von „Interpretation" der Wirklichkeit sei und kein „Text", kein objektiver „Thatbestand". 115 Es kann keine Rede davon sein, daß er auf diese Weise den notwendigen Gang der Dinge verneint, geschweige 107

Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (91), S.47. Sie war für ihn immer Gegenstand der Verachtung und des Spottes und ist es auch geblieben. Was er darüber in Menschliches, Allzumenschliches (KGW IV 2, S. 60-62) gesagt hat, hat er nie widerrufen. "» Ν 1885/87: K G W VIII 1, 2 (88), S. 103. 110 Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (79), S.51. 111 Vgl. JGB 21: K G W VI 2, S. 29-30. 112 Ν 1884/85: K G W VII3,36 (34), S.289. Auf die Konfrontation Nietzsches mit diesen Schwierigkeiten verweist W. Müller-Lauter in seinem früher schon erwähnten Nietzsche-Buch, a. a. O., S. 21-25, 30-33. Eine nähere Erörterung dieser Frage gibt derselbe Verfasser in seiner beachtenswerten Abhandlung „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht", Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1-60. 113 JGB 22: K G W VI 2, S.31. Vgl. auch Ν 1885/87: K G W VIII 1, 2 (142), S. 135; 7 (14), S.307. 114 JGB 21: K G W VI 2, S.30. 115 Ebd., S.31. 108

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denn, den Launenhaftigkeiten jeder Art die Tür weit geöffnet hätte. Aber er machte deutlich, daß er seine eigene Interpretation für wahrer als die mechanistische hielt, nicht im absoluten Sinne, sondern im Sinne des Kriteriums der Wahrheit, das er mit dieser Interpretation aufgestellt hat.116 In der Tat wußte Nietzsche sehr wohl, daß es kein anderes als nur notwendiges Geschehen gibt, daß „Geschehen" immer nur „Nothwendig-Geschehen" ist.117 Nur meinte er, daß die in den naturwissenschaftlichen Gesetzen ausgedrückte Notwendigkeit nicht eine wahre, sondern eine falsche sei. Die Beständigkeit im Wechsel der Ereignisse hat nichts damit zu tun, daß die Welt vermeintlich von „Gesetzen" beherrscht wird, die uns nötigen, immer gleich zu handeln; als könnten wir, gäbe es diese Gesetze nicht, auch anders handeln. Im Gegenteil, die Beständigkeit ist nur dank der Tatsache möglich, daß es in der Welt keine Gesetze gibt, so daß der Kampf zwischen verschiedenen Kräften notwendig gemäß dem Machtquantum, über das diese Kräfte verfügen, verläuft. Wenn nämlich eine bestimmte Kraft nichts anderes sein kann als eben diese bestimmte Kraft, was sich von selbst versteht, dann kann sich diese Kraft, wenn sie einem bestimmten Quantum von Widerstandskraft begegnet, offensichtlich nicht anders äußern als entsprechend der eigenen Stärke, sonst wäre ihr Effekt nicht zu erklären. Tief unzufrieden mit dem naturwissenschaftlichen Determinismus, gleich mißtrauisch gegen Mechanismus wie auch gegen Teleologie, deren theoretisches Bündnis er brutal entlarvt hat, fand Nietzsche den Ausweg im Fatalismus. Nicht blinde Notwendigkeit im Sinne der naturwissenschaftlichen Kausalität, sondern Fatum im Sinne der schicksalhaften Bedingtheit, das ist sein letztes Wort in bezug auf das menschliche Handeln, und sogar noch viel weitgehender: in bezug auf das Weltgeschehen überhaupt. In so hohem Maße ist das Erlebnis der Fatalität der eigenen Existenz (ego fatum) in seiner späten Philosophie wichtig geworden!118 Es war kein Zufall, daß Nietzsche zuletzt zum Fatalismus griff. Wie hätte es auch anders sein können, da der junge Gymnasiast sehr früh, noch bevor er überhaupt mit der Philosophie in Berührung gekommen war, den tragischen Mythos tief erlebt, d. h. die Macht und die Anziehungskraft der antiken poetisch-philosophischen Vorstellungen Moira, Heimarmene und Fatum lebhaft erfahren hatte? Letztlich hatte er auch keine andere Wahl, oder ihm mußte zumindest die fatalistische Lösung zunächst unausweichlich erscheinen, weil er schon die mechanistische Kausali1.6 1.7 1.8

So auch Wolfgang Müller-Lauter, „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht", a. a. O., S. 47. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 10 (138), S.202. Allerdings hat Nietzsche den Unterschied zwischen der kausalen Notwendigkeit und dem Fatum weder streng noch konsequent aufrechtzuerhalten vermocht. Entgegen jeder Erwartung hat er sie oft verwechselt und sogar als miteinander identisch gesetzt. Darauf verweist besonders Heinz Heimsoeth, a. a. O., S. 40.

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tat durch die „Causalität des Willens" 1 " ersetzt hatte. Denn, wenn alles Geschehen den willentlichen Charakter trägt, wenn die Welt „von innen gesehen" wesentlich der „,Wille zur Macht' und nichts ausserdem" ist,120 wenn in dieser Welt unaufhörlich und schonungslos verschiedene einzelne Willen in Widerstreit geraten, dann ist wahrhaftig nichts natürlicher, als im Willen selbst den höchsten Grundsatz zur Erprobung seiner Kraft zu suchen. Nichts ist selbstverständlicher, als den Willen als eine individuell-überindividuelle Instanz, als die „Schickung" der Seele, als die „Wende aller Noth", als die tiefste „Nothwendigkeit" aufzufassen.121 Es muß hervorgehoben werden, daß Nietzsche seinen Fatalismus nicht auf eine scharfe Gegenüberstellung von Notwendigkeit und Freiheit gegründet hat. Eher wies er auf die gegenseitige Entsprechung und Ergänzung dieser beiden Kategorien hin als auf ihren Gegensatz. In dieser Hinsicht war seine Auffassung der antiken Variante des Fatalismus viel näher als der orientalischen. Zumal steht sie der stoischen Auffassung nahe, die ihr vielleicht auch als unmittelbares philosophisches Vorbild diente. Diesen Schluß ziehen wir aus der Tatsache, daß wir schon bei den Stoikern den klar ausgesprochenen Gedanken finden, daß der menschliche Wille, obwohl in die unumgängliche Kette von Ursachen verflochten, eine unabhängige und selbständige Ursächlichkeitspotenz122 darstellt, und dieser Gedanke ist, trotz aller Schwankungen, für die Auffassung Nietzsches außerordentlich charakteristisch. In jedem Fall - und hier unabhängig von einem möglichen Vorbild - hielt es Nietzsche für nötig, mit besonderem Nachdruck hervorzuheben, daß die Macht des Fatums der menschlichen Freiheit nicht feindlich sei, daß das Fatum das schöpferische menschliche Tun nicht im geringsten gefährde.123 In diesem Sinne sagte er, daß der Fatalismus „identisch mit dem Zufall und dem Schöpferischen" sei,124 daß er „zur Gewinnung der höchsten Kraft" diene.125 Die Macht des Fatums entkräftet den menschlichen Willen nicht etwa, vielmehr stärkt sie ihn und regt ihn an. Wenn auch der Mensch eine Reihe von Bedingungen in sich und außer ' JGB 36: KGW VI 2, S.51. Ebd., S.51. Vgl. auch Ν 1884/85: KGW VII 3, 38 (12), S.339. 121 Za III, Von alten und neuen Tafeln 30: KGW VI 1, S.264. Vgl. auch Ν 1882/83-84: KGW VIII, 20 (11), S. 628. 122 Chrysippi placita (Cicero de fato 39—44) = SVF II, 974 Arnim. Zu Näherem über Nietzsches Verhältnis zur Stoa vgl. meinen Aufsatz „Die antiken Quellen der Wiederkunftslehre", Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 1-16, bes. S. 8-12. 123 Trotz seines tiefen Mißtrauens gegen die philosophische Theorie der Freiheit war Nietzsche in seinem reifen und späten Lebensalter von der Möglichkeit eines neuen historischen Anfangs so stark hingerissen, daß man mit Heinz Heimsoeth (a. a. O., S. 15) mit vollem Recht sagen kann, daß er ein Philosoph der Freiheit sei, ein Philosoph, der durch die Tat seines Willens die Menschenwelt forme und bestimme. 124 Ν 1884: KGW VII 2, 27 (71), S.292. 125 Ebd., S.291. ü

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sich vorfindet, denen er sich nicht entziehen kann, an deren Schaffung er jedoch nicht teilgenommen hat, wenn er auch von den Gegebenheiten der eigenen Natur und der Situation, in der er sich befindet, abhängig ist, besteht doch in all dem kein blinder Zwang, zumindest dann nicht, wenn es sich um den „schöpferischen Menschen" 126 handelt, um den Menschen, der sich selbst zu überwinden weiß, der seiner menschlichen Aufgabe gewachsen ist. D e m Notwendigen gegenüber verhält sich der schöpferische Mensch nicht demütig, sondern heroisch, er fügt sich nicht schlechthin in dasjenige, was ihm schicksalhaft erteilt wurde, sondern er nimmt mutig an der Schaffung des eigenen Schicksals teil. So gelangen wir zum philosophischen Grundgedanken Nietzsches, zu seinem „abgründlichen Gedanken" 127 von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Dieser Gedanke ist der höchste Ausdruck „der Fatalität alles dessen, was war und sein wird", 128 und insofern der Angelpunkt des spekulativen Zugangs zur menschlichen Praxis. 129 Mit diesem Gedanken werden wir uns hier nur mit Rücksicht auf seine praktische Bedeutung befassen, mit Rücksicht auf jenen Zug, nach dem wir ihn als praktischen Grundsatz verstehen können, wobei wir seinen tief kosmologischen Sinn gänzlich beiseite lassen werden. 130 Methodisch ist diese Beschränkung völlig gerechtfertigt, mag sie auch auf den ersten Blick viele Bedenken hervorrufen. Trotz der Tatsache, daß der Widerkunftsgedanke ganz deutlich existentiell-ontologisch ausgerichtet ist, da er den „unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge" lehrt,131 und zwar aller Dinge ohne Ausnahme, von den größten bis zu den kleinsten, darf seine praktische Bedeutung doch nicht unterschätzt werden. Nietzsche selbst hat übrigens gerade der menschlichen Seite der kosmologischen Gleichung größte Beachtung geschenkt; er interessierte sich vor allem für das menschliche Schicksal unter den Bedingungen des allgemeinen Kreislaufs. Schon bei der ersten Erwähnung des Wiederkunftsgedankens hat er ausdrücklich betont, daß dieser Gedanke im praktischen Sinne relevant sei, daß er dem menschlichen Handeln das „größte Schwergewicht" verleihe.132 Ν 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 3 (1) 119, S . 6 7 . Za III, D e r Genesende 1: K G W VI 1, S . 2 6 6 . 128 G D Die vier grossen Irrthümer 8: K G W VI 3, S . 9 0 . 129 U b e r die spekulative Bedeutung des Wiederkunftsgedankens vgl. Karl Ulmer, a . a . O . , S. 5 2 - 5 6 . 130 Auf den doppelten Sinn der Wiederkunftslehre verweist Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (Stuttgart: W . Kohlhammer, 2 1956), S. 92. Zur neueren Literatur über diese Frage vgl. Marvin Sterling, „Recent Discussions of Eternal Recurrence: Some Critical C o m m e n t s " , Nietzsche-Studien 6 (1977), S. 2 6 1 - 2 9 1 . 131 E H Die Geburt der Tragödie 3: K G W VI 3, S. 311. 132 p w 3 4 1 . K G W V 2, S. 250. Uber den Charakter und die Tragweite der praktischen Einstellung Nietzsches vgl. Martin Heidegger, Nietzsche I (Pfullingen: Neske, 1961), S. 273. Den Versuch, die ewige Wiederkehr als eine Art praktischen Grundsatz, der dem Kantischen kategorischen 126 127

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Obgleich er sehr wohl wußte, daß „das Loos der Menschheit längst entschieden ist",133 glaubte Nietzsche nicht, daß deshalb alles menschliche Anteilnehmen und Handeln unsinnig wäre. Am wenigsten war er geneigt, daraus zu schließen, daß der Mensch nur blindes Werkzeug der höheren Mächte sei, so daß er überhaupt nicht über sein Tun verfügen könne. Im Gegenteil, er war fest überzeugt, daß der Fatalismus eine fürchterliche Herausforderung der menschlichen Praxis darstelle, daß er Hand in Hand mit dem höchstmöglichen Aktivismus gehe, daß die ewige Wiederkunft die menschliche Praxis auf das Äußerste ansporne. Dies gilt insofern, als erst aus der Perspektive der ewigen Wiederkunft deutlich wird, daß im menschlichen Leben alles absolut wichtig, weil immer ganz neu ist, mag es auch noch so oft wiederholt werden, und daß der Mensch in jedem Augenblick über seine Zukunft entscheidet, da es keinen Automatismus in der Wiederholung der vergangenen Ereignisse gibt. In diesem Sinne sagt Nietzsche, daß „jede Handlung eines Menschen einen unbegrenzt großen Einfluß hat auf alles Kommende".134 Oder an einer anderen Stelle: „Ich bin für alles Kommende ein fatum!"xii Es ist belanglos, daß die Entscheidung, vor der der Mensch steht, streng festgesetzt ist, daß der Mensch nichts anderes erreichen kann, als das, was auch sonst ohne seine Mitwirkung geschehen würde.136 Denn wenn die Vergangenheit den Charakter der Zukunft hat, und nicht nur die Zukunft den Charakter der Vergangenheit, wenn das, was war, nicht unwiederbringlich vergangen ist, sondern immer von neuem wiederkommt, dann ist nichts mehr nur geschaffen, sondern alles ist noch im Schaffen begriffen. Und das bedeutet, daß der Mensch, der die ewige Wiederkunft erkannt hat und bejaht, ein ebenbürtiger Partner im Spiel des Zufalls und der Notwendigkeit wird; ihm öffnet sich ein freier Raum zum Handeln, sein Lebenslauf wird von seiner schöpferischen Persönlichkeit geprägt. Nur dank der Einsicht in den Kreislauf der Welt, bietet sich dem Menschen die Chance, nachträglich das zu wollen,

Imperativ wesentlich ähnelt, aufzufassen - im Hinblick auf den Hinweis Nietzsches: „Die Frage bei allem, was du thun willst: ,ist es so, dass ich es unzählige Male thun will?' ist das größte Schwergewicht" ( N 1 8 8 1 / 8 2 : K G W V 2 , 1 1 (143), S. 394) - lehnt Walter Kaufmann sehr entschieden ab. Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist (Princeton, N . J . : Princeton University Press, 4 1974), S. 3 2 2 - 3 2 5 . 133

Ν 1884: K G W VII 2, 2 6 ( 8 2 ) , S. 168. Hierzu und zum Folgenden vgl. auch Eugen Fink, a . a . O . , S.89, 105-106.

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Ν 1884: K G W VII 2, 2 5 ( 1 5 8 ) , S . 5 1 . Dabei weiß Nietzsche sehr wohl, daß das Tun und das Unterlassen gleich wichtig sind. Vgl. F W 2 3 3 : K G W V 2, S. 190.

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Ν 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 16 (64), S.548. Ebd., 17 (38), S. 5 7 8 - 5 7 9 : „Dies ist die Wahl, vor die ich mich gestellt habe: was ich nicht vorher gewollt habe, das muß ich nachher wollen [ . . . ] " Auf die Ähnlichkeiten und U n t e r schiede zwischen dieser Auffassung Nietzsches und dem berühmten Schlußmythos am Ende der platonischen Politeia, in dem der wackere Pamphylier darüber spricht, daß jede Seele vor der Geburt ihr Leben und ihr Los wählt, macht Heinz Heimsoeth, a. a. O . , S. 36 aufmerksam.

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was er im voraus nicht gewollt hat: sich bewußt und willentlich für die bestimmte ausgeprägte Form aller künftigen Wiederholungen einzusetzen. Durch diesen kühnen spekulativen Aufschwung hat sich Nietzsche endgültig von der traditionellen metaphysischen Auffassung der Praxis verabschiedet. Nicht nur, daß er so hoch über den praktischen Bereich hinausgriff, er hat sogar dessen Grundmerkmal verkehrt. Er war überzeugt, daß er auf diese Weise einem neuen Zeitalter der Menschheit den Weg vorbereitet und nicht nur die Möglichkeit eines wesentlich andersartigen Begreifens der bisherigen Form des menschlichen Daseins aufgewiesen habe. Wenn Nietzsche vielleicht auch die Schwere und die Tragweite dieses Gedankenschrittes überschätzte, gegen seine Originalität kann man offensichtlich nichts einwenden. Niemand vor ihm hat die historische Uberholtheit der metaphysischen Theorie der Praxis so zutreffend vorausgeahnt wie er. Und niemand hat so tief eingesehen, daß es möglich und notwendig ist, die praktische Reflexion in eine ganz andere Richtung zu lenken. Mit seiner Versicherung, daß der jetzige Augenblick von entscheidender Bedeutung für die ganze Ewigkeit sei, so daß es dem Menschen gebühre, nur noch das Notwendige zu lieben (amor fati),"7 hat Nietzsche eine wahrhaft neue praktische Perspektive angedeutet. Mit Absicht sagen wir „angedeutet" und nicht erschlossen, weil es auch heute noch nicht ganz klar ist, in welchem Maße diese Perspektive als eine reale geschichtliche Chance der künftigen Menschheit betrachtet werden kann. Jedenfalls hat Nietzsche auf diese Weise die natürliche Spannung in diesem Bereich gelöst, er hat gezeigt, daß der Wille nicht immer im voraus ausgerichtet sein muß, daß er sich nicht nur im Rahmen der künftigen Alternativen bewegen muß, daß er nicht nur das wollen muß, was noch nie und nirgends geschehen ist. Der Wahrsager der epochalen Wendung hat sogar die praktische Intention überwunden, er meinte, daß der Wille nicht vor demjenigen, was geschehen ist, wie vor einer unüberschreitbaren Grenze stehen bleiben darf, sondern vielmehr lernen muß, auch das zu wollen, was schon dagewesen ist, daß das „Zurückwollen"" 8 seine höchste Möglichkeit ist. Aber obwohl Nietzsche sehr viel für die Sache der praktischen Selbstbesinnung unter Bedingungen der Ubermacht des nihilistischen Geistes getan hat, so daß von seiner Philosophie mit Recht gesagt werden kann, daß deren Sinn und Richtung ausgesprochen praktisch seien, kann man doch nicht davon reden, daß die hybride Konstruktion des „schöpferischen Aktes", die der 157

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Ν 1 8 8 1 / 8 2 : K G W V 2, 16 (22), S . 5 6 2 . Ähnlich E H Warum ich so klug bin 10: K G W VI 3, S. 295. Vgl. auch Ν 1884: K G W VII 2, 26 (82), S . 1 6 8 : „Unsere eifrigste Anstrengung und Vorsicht gehört mit hinein in das fatum aller Dinge; und ebenso jede Dummheit. Wer sich vor diesem Gedanken verkriecht, der ist eben damit auch fatum. Gegen den Gedanken der N o t w e n d i g k e i t giebt es keine Zuflucht." Za II, Von der Erlösung: K G W VI 1, S. 177.

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Verkünder der ewigen Wiederkunft als ein radikales Gegengewicht gegenüber dem bisherigen Praxisverständnis hervorgehoben hat, als ein sicherer Wegweiser in der weiteren Suche nach einer neuen Grundlegung der praktischen Philosophie dienen könnte. Uberhaupt ist die praktische Lösung Nietzsches nicht in jeder Hinsicht so ganz neu, wie es ihm selbst schien. Es handelt sich nicht nur darum, daß Nietzsche es unterlassen hat, das Verhältnis zwischen Spekulation und Erfahrung näher zu erwägen, so daß die Möglichkeit des Ubergangs aus der spekulativen Dimension zur Analyse des praktischen menschlichen Tuns in seiner faktischen und empirischen Bestimmtheit bei ihm ganz unklar geblieben ist. Eine viel größere Schwierigkeit liegt darin, daß Nietzsches Bruch mit der metaphysischen Tradition nicht radikal genug war, daß es Nietzsche nicht gelungen ist, sich völlig vom Zauber der metaphysischen Kategorien zu befreien, vielmehr hat er in seinem dritten Denkversuch in bezug auf die Praxis, und zwar möglichst stark betont, von fast allen früher verworfenen Begriffen Gebrauch gemacht.13' Obwohl er von der Transzendenz überhaupt nichts wissen will, sondern ausschließlich von den Interessen des irdischen Lebens erfüllt ist, ist der „schöpferische Mensch" Nietzsches die Verkörperung der moralischen Autonomie, tief vom Gefühl von Pflicht und Verantwortung durchdrungen, er ist die „reifste Frucht" 140 der gesamten bisherigen moralischen Entwicklung des Menschengeschlechts. Dieser Mensch hat die Last aller überlieferten moralischen Bindungen und Rücksichten von sich abgeschüttelt, nicht weil er unter, sondern weil er über der Moral steht, er lehnt sich gegen alle absoluten Wertmaßstäbe auf, nicht um irgendeines bloß persönlichen Nutzens willen, sondern um der höchsten geschichtlichen Aufgabe Genüge zu tun - um der Menschheit einen anderen Weg zur Vollkommenheit zu zeigen. Auf eine Art, die sehr stark an die Kantische Auffassung vom „moralischen Gesetz in mir" erinnert, vielleicht sogar unter dem unmittelbaren Einfluß gewisser Formulierungen Kants, hat Nietzsche so seiner streng immoralistischen Forderung nachträglich eine auffallend moralistische Prägung gegeben.

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Dies hat Heinz Heimsoeth, a. a. O., S. 25 gut beobachtet. Charakteristisch sind folgende zwei Stellen, auf die der Verfasser hinweist. In einer wichtigen Aufzeichnung aus dem Jahre 1884, in der eine Reihe von Grundprinzipien dargelegt ist, sagt Nietzsche: „Anstatt des Glaubens, der uns nicht mehr möglich ist, stellen wir einen starken Willen über u n s . . . " (N 1884: KGW, VII 2, 25 (307), S. 85). Und in einem oft zitierten Aphorismus aus der Schrift Götzen-Dämmerung, der den Titel „Mein Begriff der Freiheit" trägt, beantwortet Nietzsche die Frage, die er sich selbst gestellt hat, wie folgt: „Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat" (Streifzüge eines Unzeitgemässen 38: KGW VI 3, S. 133). GM II 2: KGW VI 2, S.309.

III. Die Umwandlung der gesamten menschlichen Tätigkeit in Spiel Seine Kritik des traditionellen metaphysischen Praxisverständnisses hat Nietzsche nicht mit einem wohl überlegten und allgemein annehmbaren Gegen-Vorschlag abgeschlossen, zumindest hat er sie nicht derart vollendet, wie wir es zunächst erwarten würden. Diese Kritik hat Nietzsche durch keinen alternativen theoretischen Entwurf erweitert, keine wirklich positive Lösung hat er vorgebracht, keine überzeugende und abgerundete Antwort geboten, die als Ersatz für das so schonungslos Entblößte und Verworfene dienen konnte. Seine Kritik bringt uns in eine fürchterliche Verlegenheit hinsichtlich der praktischen menschlichen Einstellung zur Welt und zum Leben, nach ihr wissen wir erst recht nicht, was eigentlich das menschliche Handeln bedeutet, welches sein wichtigstes Merkmal ist, worin sein Wesen besteht. Es gibt bei Nietzsche keine fertigen, reifen Gedanken, die unzweideutig eine neue praktische Perspektive eröffnen, die verläßlich in eine andere Richtung weiterführen, alles ist unbestimmt und ungeklärt geblieben. Das ist nicht verwunderlich, da Nietzsche gemeinhin viel stärker als Zerstörer der überlieferten Denkgewohnheiten und Schemata, denn als Schöpfer einer neuen Denkweise auftrat. Obwohl er danach freimütig strebte, obwohl ihm daran am meisten gelegen war, gelang es Nietzsche doch nicht, sein negatives Urteil über die Metaphysik in ein positives Programm angemessen umzuwandeln, geschweige denn, dieses Programm vollkommen zu entwickeln. Deshalb hat seine Kritik der praktischen Philosophie, welche entschieden mit allen überlieferten moralischen Vorurteilen bricht, die größtmögliche Aufmerksamkeit durch das darin ausdrücklich Gesagte auf sich gezogen, und eine ganz geringe durch das darin nur von weitem Angedeutete. Man braucht nicht allzuviel Scharfsinn, um zu entdecken, worin die wirklichen Mängel und Unzulänglichkeiten der Nietzscheschen mit großem Pathos angekündigten radikalen Wendung auf dem praktischen Gebiet liegen. Diese Mängel und Unzulänglichkeiten sind so groß, daß sie gleichsam schon auf den ersten Blick in die Augen fallen. Es handelt sich nämlich um die äußerste Unbestimmtheit und Unfaßbarkeit des Begriffs „schöpferischer Akt", 1 den Nietzsche energisch dem metaphysischen Praxisbegriff als Gegen1

Ν 1884/85: K G W VII, 3, 43 (2), S.439.

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stück entgegenstellte und mit dessen Hilfe er offenkundig glaubte, alle angehäuften Schwierigkeiten auf dem Gebiet der praktischen Philosophie überwinden zu können. Denn Nietzsche hat nirgends näher gezeigt, was dieser anscheinend sehr verlockende „Gegen-Begriff" wirklich umfaßt, wie diese rätselhafte spekulative Konstruktion zu verstehen ist. Falls ihm überhaupt der Gedanke nahe lag, eine nachträgliche Erläuterung dieser Konstruktion wäre immerhin noch möglich. Klar ist nur, daß Nietzsche unter dem Begriff „schöpferischer A k t " die ursprüngliche Möglichkeit des menschlichen Handelns verstand, unabhängig von allen seinen bisherigen geschichtlichen Gestaltungen, und daß ihm dabei das menschliche Handeln in seiner reinen, unverfälschten Form vorschwebte, frei von jeder teleologischen Determinierung und Fixierung. 2 Er meinte damit eigentlich die Tätigkeit, die gänzlich zu sich selbst gekehrt ist, die in sich ihre Rechtfertigung trägt, ohne Rücksicht auf alle möglichen Zwecke und Ziele. Es besteht kein Zweifel, daß schon die Vergegenwärtigung einer solchen Möglichkeit eine wichtige Denkneuigkeit darstellt, daß Nietzsche derart wirklich dem traditionellen metaphysischen Verständnis des praktischen Bereichs den Rücken gekehrt hat. Und doch ist all dies nur ein unsicherer Hinweis, eine mehr negative als positive Andeutung. Dadurch ist der Charakter der postulierten schöpferischen menschlichen Tätigkeit noch immer nicht hinreichend geklärt, nichts Näheres ist darüber gesagt, welcher Art dieses Handeln ist, das um des Handelns und nicht um irgend etwas Außer-ihm-Liegenden willen unternommen wird, was einem solchen Handeln ein vornehmlich schöpferisches Gepräge gibt. Was vielleicht noch peinlicher ist, Nietzsche bemühte sich nicht einmal darum, die wichtigste und offenkundig unumgängliche empirische Voraussetzung seiner spekulativen Konstruktion auch nur nebenbei zu nennen. E r unterließ es, das zu tun, was auf der Hand lag, was sich ihm sozusagen von selbst aufdrängte. (Falls er es nicht absichtlich verhehlte.) Obwohl er äußerst kritisch zur überlieferten philosophischen Sprache stand, obwohl er einem Sich-Verstecken hinter großen Worten wie auch einem Sich-Berufen auf erhabene rätselhafte Sachverhalte mißtraute, hielt es Nietzsche nicht für nötig und versuchte es auch nicht, rein phänomenologisch die schöpferische menschliche Tätigkeit zu beschreiben, diese Tätigkeit als das Phänomen des 2

An einer Stelle, auf die wir uns in dieser Hinsicht zuallererst berufen können, stellt Nietzsche fest, der „schöpferische Akt" sei eine solche Tätigkeit, die „aus dem Eigensten, Innersten, Untersten heraus" unternommen wird (EH Also sprach Zarathustra 5: KGW VI 3, S. 340). Ein bedeutsamer Versuch, Nietzsches Idee des „produktiven Handelns" (d. h. des „schöpferischen Aktes") als „Selbstdarstellung" oder „Sichauswirkung" des tätigen Individuums zu interpretieren (zwar mit äußerst fragwürdigem Hinweis auf die „Verwandtschaft" dieser Nietzscheschen Idee mit der Aristotelischen Auffassung der Praxis), ist im Aufsatz von Friedrich Kaulbach, „Aspekte einer Philosophie des Handelns bei Nietzsche", Theoria, 3/4 (1982), S. 29—42, bes. 36-41 (in Serbokratisch) zu finden.

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menschlichen Spiels zu identifizieren. Nirgends erklärte er offen, das Spiel gehöre zum Prototyp des menschlichen schöpferischen Tuns, im Spiel sei zuallererst die ursprüngliche Möglichkeit des menschlichen Handelns entdeckt und am vollkommensten aufbewahrt, das menschliche Spiel sei restlos an jene schöpferische Potenz gebunden, die der wirklich freien menschlichen Tätigkeit eigentümlich sein soll. Etwas Derartiges hat Nietzsche nicht einmal zwischen den Zeilen angedeutet, 3 als scheute er sich gar nicht vor dem Gedanken, daß ohne eine solche Erklärung sein Hinweis auf die besondere geschichtliche Chance der künftigen Menschheit eine leere Abstraktion bleiben könnte. Die Bezugnahme des schöpferischen Aktes auf das menschliche Spiel wäre vermutlich der einzige und sogar der sicherste Weg, den eigentlichen Sinn und die Tragweite der Nietzscheschen Wende im Bereich der praktischen Philosophie näher zu beleuchten, wenn schon nicht völlig zu verdeutlichen. Freilich ist dieser auf den ersten Blick natürlichste mögliche interpretative Schritt (den Nietzsche merkwürdigerweise vermieden, um nicht zu sagen vernachlässigt hat) kein universeller Schlüssel, der sofort alle Türen öffnet, der unmittelbar zum Ziel führt. Zumindest ist höchst unglaubhaft, daß auf diese Weise, ohne jede ernste Anstrengung, der Nietzschesche Versuch einer Neubegründung der praktischen Philosophie rekonstruiert werden könne. (Wenn es überhaupt sinnvoll ist, über irgendeinen Versuch solcher Art zu sprechen.) Es ist auch nicht so, daß schon ein bloßer Hinweis auf das Spiel als Wiege oder Geburtsstätte der schöpferischen menschlichen Tätigkeit plötzlich alle Bedenken hinsichtlich der Nietzscheschen Auffassung des menschlichen Handelns zerstreue, daß damit auf einmal alle Schwierigkeiten verschwänden, daß alle Fragen gelöst wären. Der Grund ist ganz einfach. Auch über das Spiel hat sich Nietzsche nicht viel deutlicher, bestimmter und ausführlicher als über den schöpferischen Akt geäußert. D a gibt es ebensoviele Lücken und Unstimmigkeiten, so daß alles nur Andeutung geblieben ist. Von vornherein ist weder klar, was Nietzsche dem Spiel zuordnete, noch wie er sich das Verhältnis zwischen Spiel und anderen menschlichen Tätigkeiten (vor allem das Verhältnis zur Arbeit) vorstellte; unklar ist auch, worin Nietzsche die wirklich schöpferische, die wirklich befreiende Bedeutung des Spiels erblickte, und ob er überhaupt glaubte, daß die Umwandlung der gesamten menschlichen Tätigkeit in Spiel als epochales Geschehnis möglich sei. Bei Nietzsche sind verschiedene Zugänge zum Phänomen des Spiels zu finden, wie auch verschiedene Versuche zu dessen begrifflicher Bestimmung. Es ist nicht leicht, allen 3

Eine entfernte Vorahnung, daß der schöpferische Akt vornehmlich spielerischen Charakter trage, ist vielleicht in einem Fragment aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft zu finden, in dem Nietzsche im Gegensatz zur gesamten teleologischen Deutung des menschlichen Handelns energisch hervorhebt, „unsere Handlungen" seien nur „spielende Äußerungen des Dranges nach Thätigkeit" ( N 1 8 8 1 / 8 2 : K G W V 2, 11 (16), S.345).

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diesen auf die Spur zu kommen und die verschiedenen Fäden aufzurollen. Daher kann die erwähnte Verbindung des schöpferischen Aktes mit dem Spiel keineswegs nur als eine routinemäßige Akzentverschiebung von einem Gebiet der Nietzscheschen Philosophie auf das andere aufgefaßt werden, geschweige denn als eine machinale Übertragung gewisser definitiver Lösungen Nietzsches von einem O r t auf einen anderen. Eines ist jedoch unbestreitbar: daß die Berufung auf das Spiel als Vorbild der schöpferischen menschlichen Tätigkeit durchaus im Einklang mit der allgemeinen Ausrichtung der Nietzscheschen Philosophie im ganzen steht, daß sie vollkommen ihrem tiefsten Anliegen entspricht. 4 Weder ist Nietzsche zufällig auf das Motiv des Spiels gestoßen, noch ist dieses Motiv hier willkürlich in den Vordergrund geschoben. Gerade deshalb, weil die Betrachtung über das Spiel der Nietzscheschen Philosophie ursprünglich angehört, weil Nietzsche im Spiel das konkrete Beispiel einer möglichen menschlichen Tätigkeit erblickte, die sich nicht durch vernünftige Zwecke und Ziele leiten läßt, sondern im Grunde zwecklos und ziellos ist, 5 konnte es uns einfallen, diesem Motiv eine revolutionäre Bedeutung in praktischer Hinsicht beizulegen, dieses Motiv mit Nietzsches Versuch einer radikalen Umwandlung des praktischen Bereichs als solchen zu verknüpfen. Man kann vorbehaltlos sagen, daß die Hinwendung zum Spiel Nietzsches Grundabsicht hinsichtlich der praktischen menschlichen Einstellung zur Welt und zum Leben sehr genau trifft und vielleicht auch auf möglichst angemessene Weise darstellt. Es handelt sich nämlich um Nietzsches Bereitschaft, die Kritik der praktischen Philosophie bis zu ihrem Ende zu führen: die Moral in die Ästhetik aufzulösen, das ganze menschliche Leben künstlerisch zu verklären und zu gestalten und im Namen der individuellen Freiheit alle abstrakten, universellen Muster als größtes Hindernis der Steigerung von Lebenskraft und -macht zu entlarven und abzulehnen. 6 Nicht nur, daß der Spiel-Gedanke vorzüglich zu Nietzsches Philosophie paßt, insofern er ihr ursprüngliches Interesse für die einzige bis jetzt bekannte, 4

5 6

Nietzsche sagt nicht umsonst in seiner autobiographischen Schrift Ecce homo „Ich kenne keine andre Art, mit grossen Aufgaben zu verkehren als das Spiel: dies ist, als Anzeichen der Grösse, eine wesentliche Voraussetzung" ( E H Warum ich so klug bin 10: K G W VI 3, S.295), da er dabei offensichtlich besonders an seine eigene Beschäftigung mit der Philosophie denkt. Diesen wichtigen Umstand hat Karl Ulmer außer acht gelassen in seinem sonst wertvollen und anregenden Aufsatz „Nietzsches Philosophie in ihrer Bedeutung für die Gestaltung der Weltgesellschaft", Nietzsche-Studien 12 (1983), S. 5 1 - 7 9 . Vgl. Ν 1885/86: K G W VIII 1, 2 (130), S. 127. „Sobald wir die absolute Wahrheit leugnen, müssen wir alles absolute Fordern aufgeben und uns auf aesthetische Urteile zurückziehen. Dies ist die Aufgabe - eine Fülle aesthetischer gleichberechtigter Wertschätzungen zu creiren: jede für ein Individuum die letzte Thatsache und das Maaß der Dinge. - Reduktion der Moral auf Aesthetikü!" ( N 1881/82: K G W V 2, 11 (79), S. 369). Vgl. auch Ν 1880/81: K G W V 1, 4 (79), S . 4 4 9 ; Ν 1884: K G W VII 2, 27 (32), S.283.

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obwohl nicht hinreichend erkannte Form der spontanen menschlichen Tätigkeit bestätigt, dieser Gedanke nimmt darin einen hervorragenden Platz ein. Er ist in allen Entwicklungsphasen der Nietzscheschen Philosophie zu finden, sozusagen vom Anfang bis zum Ende. Vielleicht ist er einer ihrer grundlegenden, ja einer ihrer zentralen Gedanken. Sagen wir es so: der Gedanke vom Spiel gibt der gesamten Nietzscheschen Bemühung um den praktischen Bereich einen ausdrücklich umstürzlerischen Aufschwung, da er entgegen allen vorgefundenen Arten und Formen der machinalen, routinemäßigen Tätigkeit (bei denen Zwecke und Ziele als angeblicher Bewegungsgrund gelten 7 ), eine solche Art der Tätigkeit lobt und verherrlicht, die eine freie Ausübung der menschlichen schöpferischen Kraft und Macht bedeutet. 8 Dieser Gedanke ist also vom Geist einer neuen praktischen Orientierung durchdrungen, er bezeichnet den Durchbruch einer neuen, nicht mehr ethischen, sondern vornehmlich ästhetischen Konzeption des Menschen und der Welt. Auf der Spur dieses Gedankens hat Nietzsche vielleicht wirklich zuallererst die Grenzen der Metaphysik überschritten. Jedenfalls ist er hier am weitesten in der Ausmalung, wenn schon nicht in der Erörterung einer wesentlichen Möglichkeit des freien menschlichen Daseins gegangen. Insofern kann die Bedeutung seines Spiel-Gedankens nicht hoch genug geschätzt werden. Dieser Gedanke ist nicht nur der Angelpunkt des Nietzscheschen Bruchs mit der Metaphysik, sondern auch die Brücke, welche seine Kritik der praktischen Philosophie mit seinen „ästhetischen" Anschauungen verbindet. Merkwürdig ist jedoch, daß Eugen Fink, der entschiedener als irgendein anderer vor und nach ihm die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Nietzscheschen Gedankens vom Spiel gelenkt hat,' mit keinem Wort die praktischen Implikationen dieses Gedankens erwähnt. Fink hat nicht einmal angekündigt, daß die Metapher des Spiels Nietzsches größte Herausforderung des metaphysischen Praxis-Begriffes sein könnte, geschweige denn, daß er diese Metapher im Zusammenhang mit dem Nietzscheschen Begriff des schöpferischen Aktes, auf der Spur der heftigen Auseinandersetzung Nietzsches mit der Teleologie, zu deuten versucht hätte. Für Fink ist der Nietzschesche Spiel-Gedanke vor 7 8 9

Vgl. F W 3 6 0 : K G W V 2, S . 2 8 9 . Vgl. Ν 1 8 8 0 / 8 1 : K G W V 1, 1 (126), S . 3 6 2 - 3 6 3 ; Ν 1884: K G W VII 2, 27 (24), S.291. Eugen Fink, Nietzsches Philosophie (Stuttgart: W . Kohlhammer, 3 1973), S . 3 1 , 71, 1 8 7 - 1 8 9 . Diese Interpretation Finks hat Danko Grlic begeistert aufgenommen, jedoch unbegründet deren Charakter und Tragweite in Zweifel gezogen (in seinem Buch Ko je Nice, Beograd: Vuk Karadzic, 1969, S. 112. Vgl. auch die zweite Ausgabe desselben Buches unter dem Titel Friedrich Nietzsche, Zagreb: Liber, 1981, S. 146). Eine beachtenswerte Deutung der Nietzscheschen Auffassung v o m Spiel als dionysischem Würfeln, d. h. als einem Geflecht von Wechselbeziehungen zwischen Vielheit und Einheit, Werden und Sein, Zufall und Notwendigkeit findet sich bei Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie (Paris: Presses Universitaires de France, 1962). Deutsche Ubersetzung: Nietzsche und die Philosophie (München: Rogner und Bernhard, 1976), S. 3 1 - 3 3 .

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allem und in erster Linie „kosmologisch-philosophisch" bedeutsam, in ihm erblickte er hauptsächlich ein Kennzeichen der Bemühung Nietzsches, „die ontologische Problem-Ebene der Metaphysik" zu überschreiten und einem anfänglicheren, nicht mehr metaphysisch belasteten „Weltdenken" den Weg zu öffnen. 10 Insoweit es Fink überhaupt für nötig fand, in Anbetracht der Nietzscheschen Philosophie auch das menschliche Spiel neben dem Weltspiel zu erwähnen, tat er dies äußerst unvorsichtig. Anstatt das Spiel des Kindes und des Künstlers als empirischen Bezugsrahmen des Nietzscheschen Gedankens über „das große Spiel von Geburt und Tod aller Dinge" zu nehmen," hat Fink dieses Verhältnis umgekehrt. Als hätte Nietzsche je das Weltspiel als ein objektiv vorhandenes Geschehen, vollkommen unabhängig vom menschlichen Spiel aufgefaßt! Vermutlich ließ sich Fink dabei mehr vom eigenen Gedanken leiten, als daß er sich an die verfügbaren Texte Nietzsches hielt. Seiner Meinung nach hat Nietzsche die Welt zunächst als Spiel aufgefaßt, als unschuldige Verkoppelung von Zufall und Notwendigkeit, und erst danach diese Einsicht auf den Menschen übertragen, in der Uberzeugung, der Mensch spiele nur, insofern er für die Welt „ekstatisch offensteht". 12 Daraus würde hervorgehen, daß der spielende Mensch nicht schlechthin Produzent der imaginären Spielwelt, sondern „ein Mitspieler im Spiel der Welt" wäre,13 so daß seine „spielerische Produktivität" 14 - die selbstverständlich auch Zerstörung neben Schöpfung umfaßt - nur als Kehrseite oder Widerschein des ursprünglichen kosmischen Spiels faßbar und erkennbar wäre. Diese betont einseitige Interpretation Finks kann schwerlich einer gründlichen kritischen Uberprüfung standhalten, abgesehen davon, daß sie mit vielen Bemerkungen desselben Autors über dieselbe Sache, die er in seinen anderen Schriften gemacht hat, nicht ganz im Einklang steht.15 Mag es noch so richtig sein, daß Nietzsche unter Spiel auch das Spiel der Welt verstand und nicht nur das menschliche Spiel, daß er sogar einige wesentliche Merkmale des Spiels aufgrund dieser anderen erahnte, falls er sie nicht schon darin entdeckte, bei ihm handelt es sich doch keineswegs um irgendeine einseitige Übertragung in einer Richtung. Zumal stimmt es nicht, daß der kosmologische Horizont den praktischen völlig überflügelt und zurückgedrängt habe.

10 11 12 13 14 15

A . a . O . , S. 187. Ebd., S. 188. Ebd., S. 189. Ebd., S. 189. Ebd., S. 188. Vgl. Eugen Fink, Oase des Glücks. Gedanken zu einer Ontotogie des Spiels (Freiburg/München: K. Alber, 1957), S. 17, 49-50. Ähnlich Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol (Stuttgart: W. Kohlhammer, I960), S. 68-69, 240-242. Ebenso Eugen Fink, Grundphänomene des menschlichen Daseins (Freiburg/München: K. Alber, 1979), S. 375-378, 406-407.

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Auf den Gedanken vom Spiel ist Nietzsche über Heraklit gekommen. 16 Und zwar nicht so sehr durch einfache Übernahme, als aufgrund freier Auslegung eines seiner einprägsamen Gleichnisse. Dabei ist es nicht wichtig, wieweit Nietzsche Heraklit wirklich richtig verstanden hat, wieweit seine Auslegung einen wirklichen Anhaltspunkt im überlieferten Text hat. Wenn sich sogar irgendwie zeigen würde, daß Nietzsches Auslegung das Ergebnis eines völligen Mißverständnisses war, schwerlich könnte man jede Beziehung zwischen ihnen leugnen. Unzweifelhaft dachte Nietzsche über das Spiel auf der Spur von Heraklit. Zumindest hat er von seinem großen Vorgänger eine starke Ermutigung bekommen, wenn nicht gerade den entscheidenden Anstoß. Und was besonders wichtig ist: Nietzsche verhehlte nicht, daß Heraklit als erster ihm die Augen für das Phänomen des Spiels aufgeschlossen hat, daß er ihn als erster gelehrt hat, wie dessen Wesen verstanden werden soll. Offen hat Nietzsche sogar gestanden, daß er ein Nachfolger Heraklits in der Deutung des Spiels sei, er sei sein Schuldner in dieser Hinsicht wie auch in vielen anderen. Als seinen „Vorgänger" in der Betrachtung der Welt als „göttliches Spiel" hat Nietzsche zwar an einer Stelle auch die VedantaPhilosophie 17 genannt, dies ändert jedoch nichts an dem Sachverhalt, denn diese nachträgliche Erweiterung konnte keineswegs den Einfluß von Heraklit beeinträchtigen. Dies gilt um so mehr als Nietzsche weder diese zweite Quelle direkt zitiert, noch irgendwie indirekt auf sie hingewiesen hat, während er sich an vielen Stellen offenkundig auf ein rätselhaftes Fragment von Heraklit 18 bezogen hat (oder es stillschweigend berücksichtigt), so daß der Grad seiner Abhängigkeit von Heraklit leicht nachprüfbar ist. Schon deswegen, weil Nietzsche von Heraklit ausging, ist es ausgeschlossen, daß sein Gedanke vom Spiel einen einseitigen kosmologischen Sinn haben könnte. Denn bei Heraklit gibt es keine Spur des Versuchs, das menschliche Spiel als Nachahmung des Spiels der kosmischen Kräfte aufzufassen, geschweige denn, es in diesem letzteren zu begründen. Selbst wenn man zugibt, daß Heraklit die Bewegung der Welt als Spiel begriffen hat (was freilich äußerst fragwürdig ist), gewiß ist, daß dies nicht sein Ausgangspunkt war. Es konnte nur umgekehrt sein: daß Heraklit das Phänomen des Spiels zunächst an menschlichem Spiel erkannte und daß er nach dem kosmologischen Vergleich nur deshalb griff, weil er das menschliche Spiel als Vorbild der befreiten

" Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, S. 31. Vgl. ebenso Rose Pfeffer, Nietzsche: Disciple of Dionysos (Lewisburg: Bucknell University Press, 1972), S. 172-173. 17 Ν 1884: KGW VII 2, 26 (193), S. 199. " aion pais paizon, pesseuon, paidos he hasileie (B 52 DK). Die früher geäußerte Ansicht von Olof Gigon, dieses Fragment sei eines von jenen Fragmenten des Heraklit, „vor denen wir kapitulieren müssen", akzeptierte unlängst auch W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy I (Cambridge: Cambridge University Press, 1962), S.478 Anm.2.

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schöpferischen Bewegung aufgefaßt hat. Dies hat schon der junge Nietzsche richtig gesehen, als er seine Auffassung der griechischen Tragödie mit dem Heraklitschen Bild des spielenden Kindes (pais paizon) verband: „Jenes Streben in's Unendliche, der Flügelschlag der Sehnsucht, bei der höchsten Lust an •der deutlich percipirten Wirklichkeit, erinnern daran, daß wir in beiden Zuständen ein dionysisches Phänomen zu erkennen haben, das uns immer von Neuem wieder das spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust offenbart, in einer ähnlichen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft."" Daraus würde hervorgehen, daß Heraklits Weltspiel, Nietzsches Meinung zufolge, eine bloße Metapher sei, d. h. daß Heraklit die wesentlichen Merkmale eines innerweltlichen Geschehens, wie das menschliche Spiel eines ist, auf die Welt selbst übertragen und nach der Analogie einer bestimmten menschlichen Lebensmanifestation das Weltgeschehen im ganzen interpretiert habe. (Diese Auslegung Nietzsches ist freilich nicht akzeptabel, da sie auf der falschen Annahme gründet, daß aion bei Heraklit „Zeit" im absoluten Sinn bedeute, und nicht einfach die Zeit des menschlichen Lebens.)20 Nietzsche ist offenkundig viel weiter als Heraklit in der metaphorischen, ja sogar symbolischen Erweiterung des Spiel-Gedankens und dessen Übertragung vom menschlichen Bereich auf das außermenschliche Seiende gegangen. Auch war ihm der Gedanke nicht fremd, das Weltspiel sei eigentlich das Spiel im ursprünglichen Sinn und das menschliche Spiel nur dessen abgeleitete Form, obwohl er sich wahrscheinlich nie diese Möglichkeit ganz deutlich vergegenwärtigt hat. Jedenfalls glaubte Nietzsche nicht, weiter und besser als Heraklit zu sehen, so daß er keinen Anspruch auf Originalität erhob. Eher könnte man sagen, daß er ein unwiderstehliches Bedürfnis empfand, bei seinem großen Vorgänger Anhaltspunkt und Rechtfertigung für diesen Denkschritt zu suchen. Er bildete sich ein, der Heraklitschen Auffassung des Spiels sei eine kosmische Tendenz schon deshalb eigentümlich, weil pais paizon nicht ein gewöhnliches Kind bezeichnet, sondern das Weltkind, also nicht mehr und nicht weniger als den allmächtigen Zeus.21 Dieser Einbildung folgend, unterschob Nietzsche Heraklit, die Welt als „Spiel des Feuers mit sich selbst" " G T 2 4 : K G W III 1, S. 149. 20

Dies hat G. S. Kirk entschieden festgestellt in: Heraclitus. The Cosmic Fragments (Cambridge, At the University Press, 1954)., S. X I I I . Vgl. Jackson P. Hershbell/Stephen A . N i m i s , „Nietzsche and Heraclitus", Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 32. Eine andere Deutungsmöglichkeit zieht in Betracht Martin Heidegger, Der Satz vom Grund (Pfullingen: Neske, 4 1971), S. 188. Auf der Spur dieses Heideggerschen Hinweises versucht Kostas Axelos das Fragment des Heraklit frei auszulegen in: Heraclite et la Philosophie (Paris: Les Editions de Minuit, 1962), S. 5 4 - 5 5 .

21

Fünf Vorreden. Ueber das Pathos der Wahrheit: K G W VIII 2, S . 2 5 2 ; Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 8: K G W III 2, S . 3 2 8 ; G M II 16: K G W VI 2, S . 3 3 9 .

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aufgefaßt zu haben, fest davon überzeugt, daß diese Formel der Formulierung „die Welt ist das Spiel des Zeus" 22 haargenau entspreche, die er zunächst vorlegte und an der er keinen Mangel fand. Daß Heraklits Text indes kein Anrecht darauf gibt, all dies herauszulesen, ist heute kaum noch nötig besonders zu betonen. Übrigens verhielt sich Nietzsche in noch einer anderen Hinsicht gegenüber Heraklit frei, wenn er schon nicht auf andere Weise gegen ihn verstoßen hat. Nietzsche begnügte sich nicht damit, Heraklits Bild des spielenden Kindes in eine kosmische Metapher umzuwandeln, er unterschob diesem Bild auch noch einen vornehmlich ästhetischen Sinn. In seine Auslegung des Heraklitschen Textes hat Nietzsche nämlich fast unmerklich auch den Künstler hineingezogen und so den falschen Schluß hervorgerufen, Heraklit habe beträchtlich früher gerade dasjenige angekündigt, was er selbst später entschieden vertreten hat, und das ist: daß Kind, Künstler und Natur auf dieselbe Weise produzieren, daß sie alle gleichermaßen unschuldig spielen, wenn sie tätig sind, daß ihnen das „Wie" ihrer Tätigkeit gemeinsam ist. In diesem Sinn sagt Nietzsche: „Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut und zerstört, in Unschuld - und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich." 23 Mag es noch so richtig sein, daß Heraklit das Spiel des Kindes ohne teleologische Vorurteile gebrauchte und daß er allen Versuchen eines platten moralistischen Nachdenkens über Mensch und Welt entschieden widerstand, Nietzsches Anliegen, Heraklit eine „ästhetische Grundconception vom Spiel der Welt" 2 4 beizulegen, kann nur als anziehendes und anregendes, jedoch ganz gewalttätiges interpretatives Vorgehen beurteilt werden. Allerdings hat Nietzsche den spekulativen Spiel-Begriff (demgemäß die Welt als Spiel gedeutet wird) ganz unabhängig von Heraklit gebraucht, obwohl er sich nachdrücklich auf ihn berief. Dieser Begriff entstammt eher der ursprünglichen Denkerfahrung Nietzsches, als seiner geschickten Lektüre der fremden Texte. Zumindest hat Nietzsche diesen Begriff nicht von seinem großen Vorgänger entliehen, da er ihn bei diesem überhaupt nicht finden konnte. Insofern wäre es ganz unzureffend, in dieser Hinsicht von irgendeiner schülerhaften Abhängigkeit des jüngeren Denkers vom älteren zu reden. Der Gedanke vom weltlichen Charakter des Spiels berührt am unmittelbarsten Nietzsches allgemeine Weltkonzeption (seine „Ontologie"), um nicht zu

22

Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 6 : K G W III 2, S . 3 2 2 .

23

Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 7: K G W III 2, S. 324. Ebd., S. 327.

24

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sagen, daß er am tiefsten in dieser Konzeption verwurzelt ist. Er ist also keineswegs eine beiläufige Bemerkung Nietzsches, sondern ein untrennbarer Bestandteil seiner wesentlichen Einsicht. Obwohl Nietzsche diesem Gedanken nie einen Ehrenplatz gab, sondern sich seiner gewöhnlich sporadisch bediente, war er sich seiner Bedeutung durchaus bewußt. Dies ergibt sich nicht nur daraus, daß dieser Gedanke kontinuierlich in seinen veröffentlichten Schriften und nachgelassenen Fragmenten vorkommt, von den frühesten bis zu den spätesten Tagen, sondern vielleicht noch mehr daraus, daß Nietzsche es letzten Endes für nötig hielt, diesen Gedanken in das Herz seiner Spätphilosophie hineinzuziehen, ihn in engste Beziehung sowohl mit dem Gedanken vom Willen zur Macht als auch mit dem Wiederkunftsgedanken zu bringen. Die früheste Spur des Nietzscheschen Versuchs, die Welt als Spiel aufzufassen, findet man in der Geburt der Tragödie, im Rahmen seines eigentümlichen hermeneutischen Herantretens an die tragische oder dionysische Kunst, und zwar nicht nur an jener Stelle, an der ausdrücklich auf Heraklit hingewiesen wird,25 sondern auch etwas früher, außerhalb dieses Hinweises. An dieser zweiten Stelle ist der Gedanke zwar nur von weitem angedeutet, sein ästhetischer Charakter und Bedeutung jedoch sehr deutlich und entschieden hervorgehoben. Der junge Nietzsche meint nämlich, daß der tragische Mythos die größte ästhetische Lust gerade dadurch erwirke, daß er den tragischen Helden scheitern und leiden lasse, um gleich danach festzustellen, daß „das Hässliche und Disharmonische", das die Tragödie darstellt, eigentlich „ein künstlerisches Spiel" sei, „welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt".26 Obwohl der Spiel-Gedanke hier offenkundig in die Sprache Schopenhauers verhüllt ist, besteht kein Zweifel, daß es derselbe Gedanke ist, den Nietzsche etwas später in derselben Schrift, unter ausdrücklicher Berufung auf Heraklit, zitiert hat. So ergibt sich, daß der Gedanke vom Spiel als einer zwecklosen, ziellosen Bewegung eine wichtige Ergänzung, wenn nicht auch eine unumgängliche Korrektur der frühen programmatischen Bemühung Nietzsches um die „ästhetische Rechtfertigung"27 der Welt und des Lebens ist. Erst dank diesem Gedanken leuchtet ein, wie diese Bemühung Nietzsches zu verstehen ist: unser Philosoph will eigentlich sagen, daß ästhetisch gerechtfertigt nur dasjenige sei, das sich selbst durch sein unmittelbares Dasein rechtfertigt, das gänzlich jedes Außenbezuges entbehrt, das keiner Rechtfertigung durch irgendwelche äußeren Zwecke und Ziele bedarf. In einer andersartigen, gewissermaßen sogar bedeutend veränderten und verarmten Form, findet sich der spekulative Spiel-Begriff in einer Aufzeich-

25 26 27

G T 24: K G W III 1, S. 149. Ebd., S. 148. G T 5: K G W III 1 . S . 4 3 .

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nung Nietzsches aus dem frühen Nachlaß, die kaum später entstanden ist als die Tragödienschrift. Diese Aufzeichnung bezieht sich zwar auf das Spiel der Natur und nicht auf das Spiel der Welt, dies ist jedoch belanglos. Es besteht kein Grund, hier an irgendeine verborgene Absicht Nietzsches zu denken. Viel wichtiger freilich ist, daß hier völlig vernachlässigt, ja verschwiegen wird, daß für das Spiel der Selbstbezug wesentlich ist, gleichviel ob es sich um das menschliche Spiel oder das Spiel der "Welt handelt, daß das Spiel vor allem und in erster Linie durch das charakterisiert ist, was im Spiel selbst geschieht, und nicht durch etwas anderes, etwas außerhalb seiner, so daß gerade dasjenige, dem Nietzsche eine außerordentliche Bedeutung in seiner Jugend zuschrieb und das er durch seine spätere Auffassung entschieden bestätigt hat, ganz und gar verfehlt worden ist. Im Vordergrund ist nur die produktive, schöpferische Dimension des Spiels geblieben, während der Mensch aus deren Wirkungskreis ausdrücklich ausgeschlossen und auf die Stufe eines bloßen Zuschauers gestellt ist. Das Spiel ist hier für den Menschen bloß ein Geschehen zum Zuschauen, wenngleich auch sein existentieller Grund. In diesem Sinn sagt Nietzsche: „Von der Natur. Sie spielt ein Schauspiel: ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht, und doch spielt sie's für uns, die wir in der Ecke stehen. - Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben."28 Offenkundig ist dies etwas ganz anderes, und ja auch unvergleichlich Geringeres als das, was die Metapher des Weltspiels in sich birgt. Vielleicht wird der wahre Sinn dieser Abweichung Nietzsches noch deutlicher, wenn man auch zwei charakteristische Stellen aus seiner reifen Schaffensperiode in Betracht zieht, eine aus der Morgenröthe und die andere aus der Fröhlichen Wissenschaft. An diesen Stellen hat die Abwertung der ursprünglichen Einsicht ihren höchsten Punkt erreicht. Nietzsche konnte nämlich nicht dabei stehenbleiben, den Menschen nur in einen passiven Zuschauer des Spiels der Natur umzuwandeln, vielmehr mußte er ihn endlich auch dessen Forderungen ausliefern, er mußte ihn zu dessen Opfer machen. Da Nietzsche schon einmal auf den Gedanken gekommen war, daß die Natur für uns spielt (weil wir allein imstande sind, dies wahrzunehmen) und nicht mit sich selbst (weil sie daran Lust hat), mußte er noch eine andere Denkmöglichkeit erproben: daß die Natur den Menschen in ihr Spiel einbezieht, daß sie ihm die eigenen Spielschritte unterstellt, daß sie mit ihm wie mit ihrem Spielzeug scherzt. In diesem Sinne ist in der Morgenröthe zu lesen: daß „jene eisernen Hände der 28

Ν 1 8 7 2 / 7 4 : K G W III 4, 2 4 (3), S. 160. Daß das Spiel ursprünglich keinen Unterschied zwischen Spielern und Zuschauern kennt, da es hauptsächlich ein Geschehen ist, an dem man teilnimmt, und nicht ein Schauspiel zum Anschauen, darauf deutet hin Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen, J. C. B . M o h r / P . Siebeck, 4 1975), S. 1 0 4 - 1 0 5 .

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Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln [ . . . ] ihr Spiel unendliche Zeit [spielen]", daß „unsere Willensakte, unsere Zwecke [vielleicht] nichts Anderes, als eben solche Würfe [sind]", daß „wir selber in unseren absichtlichen Handlungen Nichts mehr thun, als das Spiel der Nothwendigkeit spielen" ;29 und wiederum in der Fröhlichen Wissenschaft, daß „der liebe Zufall" all unsere „praktische und theoretische Geschicklichkeit" leitet, daß „da einer mit uns [spielt]", daß „er uns gelegentlich die Hand [führt]", und daß „die allerweiseste Providenz [ . . . ] keine schönere Musik erdenken [könnte], als dann dieser unserer thörichten Hand gelingt".30 Diese Formulierungen sind keineswegs glücklich. Nicht nur daß sie uns in Verlegenheit bringen, sie führen sogar auf einen falschen Weg. Hier ist nicht einmal erwähnt, geschweige denn ausgeführt, daß das menschliche Spiel das Spiel der Natur nachahmt, d.h. daß der Mensch wie die Natur spielt, daß seinem Spielen die Meisterschaft der Natur zu eigen ist. Statt einer gemeinsamen Wurzel ist eine einseitige Abhängigkeit hervorgehoben. So bezweifelte Nietzsche für einen Augenblick, daß der Mensch ein ebenbürtiger Partner im Spiel der Welt sein könnte, er unterschätzte die Selbständigkeit des menschlichen Spiels, er leugnete nicht nur dessen Ursprünglichkeit, sondern verfälschte dessen Gestalt. Als wären Zufall und Notwendigkeit irgendwelche objektiven Zustände, etwas an sich Bestehendes, als wären dies irgendwelche Kräfte außer uns, die uns nötigen, und nicht etwas in uns, etwas, was uns am tiefsten durchdringt, ja sogar das uns Eigentümlichste! Erst in seiner Spätphilosophie hat Nietzsche alle Zweifel hinsichtlich des spekulativen Spiel-Begriffs zerstreut, erst hier hat er näher gezeigt, worin dessen philosophische Bedeutung und Fruchtbarkeit liegt. Es gelang ihm, den drohenden Irrweg zu vermeiden, wenn es ihm auch nicht geglückt ist, den Begriff ganz zu erhellen. Nietzsche bestätigte seine ursprüngliche Einsicht, indem er wieder von dem ausging, was sich ihm schon einmal offenbart hatte. Es handelt sich nicht um eine bloße Rückkehr zur jugendlichen Konzeption, sondern eher um deren schöpferische Weiterentwicklung. Der Gedanke vom Spiel der Welt ist nicht mehr eine gelegentliche Bemerkung, die als Erinnerung an Heraklit auftaucht und die sich einer spezifischen Aufgabe unterordnet, welche in der Deutung der griechischen Tragödie besteht, sondern er bildet gleichsam das zentrale Motiv des Philosophierens, ja sogar den Grundgedanken, der das gesamte philosophische Streben zusammenfaßt. In einem berühmten, oft zitierten Fragment aus dem späten Nachlaß, in dem Nietzsche sehr prägnant seine neue Weltkonzeption dargelegt hat, ist das Motiv des Spiels dermaßen mit dem Motiv des Willens zur Macht verflochten, 29 J0

Μ 130: K G W V 1, S. 120. F W 277: K G W V 2, S.202.

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daß es fast unmöglich ist, es von diesem letzteren zu trennen. Von der „Welt", die er in seinem „Spiegel" zeigt, sagt Nietzsche, sie sei nichts anderes als ein „Spiel von Kräften und Kraftwellen", sie verschaffe einen unaufhörlichen Ubergang „aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs".31 Auch in einem anderen Fragment aus der letzten Schaffensperiode, in dem er „die Scheinbarkeit" als eine „spezifische Aktion-Reaktion-Thätigkeit"32 auslegte, hat Nietzsche das Motiv des Spiels entschieden betont. An dieser zweiten Stelle sagt er: „Nun giebt es keine andere Art Aktion: und die ,Welt* ist nur ein Wort für das Gesamtspiel dieser Aktionen." 33 Zur Erläuterung dieses Gedankens fügt Nietzsche in der Fortsetzung hinzu, daß die „Realität" gerade „in dieser Partikular-Aktion und Reaktion" von jedem „Kraftzentrum" auf andere solche Zentren besteht.34 Schließlich verband der späte Nietzsche ausdrücklich den spekulativen Spiel-Begriff mit dem Wiederkunftsgedanken. In einem längeren Aphorismus unter dem Titel „Die neue Welt-Conception" aus dem Nachlaß derselben Periode heißt es: „Die Welt als Kreislauf, der sich unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel in infinitum spielt."35 Es ist kaum nötig zu betonen, daß diese Gleichsetzung der ewigen Wiederkehr mit dem unendlichen Spiel der Welt dem vorher gemachten Denkschritt Nietzsches nicht entgegensteht, sondern gerade im Einklang mit ihm ist und daß Nietzsche nicht danach strebte, den früheren Hinweis auf den Willen zur Macht zu widerrufen oder in Frage zu stellen, sondern daß er vielmehr diesen Hinweis erst so wirklich zu bestätigen und zu rechtfertigen glaubte. Was ist es, das Nietzsche das Spiel der Welt als besonders wichtig erscheinen ließ? Weshalb hat er überhaupt diesen Wettstreit der Machtwillen um die Ubermacht, deren Spannung und Lockerung, deren Vereinigung und Zerstreuung Spiel genannt? Welche wesentlichen Merkmale des Spiels hat Nietzsche am Leitfaden des Weltgeschehens entdeckt, indem er die Welt stillschweigend als ursprünglichen Bereich von dessen Aufkeimen und Erscheinen nahm? Antworten auf diese Fragen braucht man nicht lange zu suchen. Wenn es auch vielleicht übertrieben und unbegründet wäre zu sagen, daß Nietzsche erst am Beispiel des Weltspiels wirklich auf die Spur der ursprünglichen Bedeutung des Spiels gekommen sei, wenn nicht auch dessen menschliche Gestalt ergründet habe (wie es vermutlich Fink dachte), wäre es jedenfalls unangemessen und ungerechtfertigt zu bestreiten, daß die Übertragung des Wortes „Spiel" vom 31 32 33 34 35

Ν 1884/85: K G W VII 3, 38 (12), S. 338-339. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (184), S. 162. Ebd., S. 163. Ebd., S. 163. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (188), S. 168.

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menschlichen auf den außermenschlichen Bereich Nietzsche in seinem Wissen vom Spiel, das er schon früher erworben hatte, in vielem erst bestätigt hat, daß es ihm erst dank dieser Übertragung wirklich klar geworden ist, worin dessen Wesen besteht. Hier kommt zunächst der Hinweis auf die Ziel- und Nutzlosigkeit des Spiels in Betracht, d. h. die Zurückweisung aller Teleologie. 36 Diese Einsicht ist so wichtig und weittragend, daß es als unwahrscheinlich erschiene, wenn Nietzsche dazu nicht zunächst auf diesen umfassenderen Bereich gekommen wäre, ja wenn er nicht davon ausgehend den Weg zu deren Anwendung auf dem engeren gebahnt hätte. Tief beeindruckt vom wundersamen Anblick des schonungslosen Kampfes zwischen einander entgegengesetzten niederen und höheren Machtzentren, der vor seinem geistigen Auge als „Spiel von Kräften und Kraftwellen" 37 aufblitzte, begriff Nietzsche, daß das Spiel keinen Zweck hat, daß es zu nichts dient: weder ist es auf ein Ziel ausgerichtet, noch befriedigt es irgendein Bedürfnis. Als eigentümliche faktische Organisation von zahllosen Machtquanten hat der Wille zur Macht keinen endgültigen Erfolg vor Augen, er läßt sich von nichts Äußerem leiten, er befolgt keinen einheitlichen Plan. Daher ist das Spiel, in das dieser Wille verwickelt ist, ein bloßes Hin-und-her-Wandeln, ohne Sinn und Absicht, jenseits von Gut und Böse, 38 es besteht aus einer Reihe von Bewegungen, die gleichsam von selbst entstehen, die spontan herankommen. U n d dieses Spiel endet nicht im einmaligen Vollzug, es erneuert sich vielmehr durch unaufhörliche Wiederholung. 39 In engster Verknüpfung damit steht noch etwas anderes, das Nietzsche ebenso am Beispiel des Weltspiels wahrgenommen hat. Es handelt sich um den Hinweis auf den wesentlich schöpferischen Charakter des Spiels, dessen Gleichsetzung mit dem schöpferischen Können der Natur, 40 der Natur freilich im Sinne des offenen Betätigungsfeldes des Willens zur Macht und nicht gefaßt im Sinne aristotelischer substantieller Metaphysik oder moderner mechanistischer Naturwissenschaft. Nietzsche sieht nämlich deutlich, daß das Spiel eine konstitutive Bedeutung für die Realität hat, daß es die Welt, in der wir leben, erzeugt, trotz all ihrer Scheinhaftigkeit, ja daß es keine andere Welt gibt, außerhalb des Scheins, den es schafft. Alles, was geschieht, geschieht auf die Weise des Spiels, kann als unaufhaltsame Selbstdarstellung des Willens zur Im dichterischen Anhang zur Fröhlichen Wissenschaft, in einem Goethe gewidmeten Gedicht, schreibt Nietzsche: „Welt-Rad, das rollende / streift Ziel auf Ziel / N o t h nennt's der Grollende / der N a r r nennt's - S p i e l . . . / Welt-Spiel, das herrische / mischt Sein und Schein: - / das Ewig Närrische / mischt uns - h i n e i n ! . . ( L i e d e r des Prinzen Vogelfrei: An Goethe: K G W V 2, S. 323). 37 Ν 1884/85: K G W VII 3, 38 (12), S.338. J8 Ν 1884: K G W VII 2, 26 (193), S. 199. " Ν 1880/81: K G W V I , 7 (178), S.684. 40 Ν 1872/74: K G W III 4, 24 (3), S. 160. 36

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Macht aufgefaßt werden. Das Spiel entstammt nicht dem Mangel, sondern der Fülle der Kraft, 41 es ist nicht ruhige, sondern impulsive Bewegung, durch es werden nicht nebensächliche Möglichkeiten erprobt, sondern der Grundtrieb des Lebens ausgedrückt oder bestätigt. Nietzsche weiß wohl, daß der Wille zur Macht vielfältig wirksam ist, daß sich dieser Wille der verschiedensten Deutungsmittel bedient und daß der künstlerische Schein sein mächtigstes Werkzeug ist. Daher kommt seine Uberzeugung, daß das Spiel, indem es die Produktion der einprägsamsten Form von Schein bewirkt, das Leben auf die höchstmögliche Stufe erhebt.42 Hätte man dadurch nichts anderes erkannt, als daß das Spiel eine wesenhaft schöpferische Manifestation alles Seienden, daß es im Grunde eine freie, d.h. grundlose, aufgelöste, entfesselte Tätigkeit ist, insofern sie durch keine Zwecke und Ziele gebunden und beschränkt wird, so könnte Nietzsche schon mit seiner spekulativen Überschreitung der phänomenalen Grenze zufrieden sein, wie wir auch schon berechtigt wären, die Schlußfolgerung zu ziehen, daß dieser Vergleich seine ganze Konzeption bedeutend gefördert und vertieft hat. Aber ungeachtet der Frage, inwiefern das Beispiel des Weltspiels für Nietzsche wirklich lehrreich war, inwiefern es ihm wirklich gelungen ist, an diesem Beispiel den ursprünglichen Sinn von Spiel besser und tiefer zu begreifen (was freilich bestritten werden kann), besteht kein Zweifel, daß das Phänomen des menschlichen Spiels die philosophische Phantasie Nietzsches viel stärker angeregt hat als die kosmische Metapher und daß das menschliche Spiel eine wirkliche Herausforderung für sein Denken bedeutete. Belanglos ist dabei, daß dieser Umstand ihm selbst in hohem Maße verborgen geblieben ist. Nicht nur, daß Nietzsche in Gedanken unaufhörlich zum menschlichen Spiel zurückkehrte, daß er diesem Spiel eine unvergleichlich größere Aufmerksamkeit schenkte, daß seine Äußerungen darüber viel häufiger sind als die Äußerungen über das Weltspiel, er interessierte sich auch viel unmittelbarer für das menschliche Spiel, da sein Zugang zu diesem Spiel sowohl praktisch wie auch theoretisch motiviert war. Zumindest können die Betrachtungen Nietzsches über das menschliche Spiel viel leichter mit seinen praktischen Neigungen und Bestrebungen in Beziehung gebracht werden, diese Betrachtungen bieten viel günstigere Aussichten, die mögliche Richtung seiner Wendung auf dem Gebiet der praktischen Philosophie aufzudecken. 43 Deshalb müssen wir uns hier etwas eingehender mit diesem anderen Gang der Betrachtungen Nietzsches befassen. 41 42

43

Ν 1880/81: K G W V 1, 3 (48), S.390. Vgl. Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 2 (130), S. 127. Ν 1872/74: K G W III 4, 24 (3), S. 160. Vgl. Ν 1 8 8 4 : K G W VII 2, 25 (362), S. 103; 25 (374), S. 105-107; 27 (24), S.281. Was freilich nicht bedeutet, daß man hier irgendwie den Anteil der übrigen denkerischen Durchbrüche und Errungenschaften Nietzsches in der Vorbereitung dieser Wendung unterschätzen oder sogar entwerten will.

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Erst dann wird klarer werden, was Nietzsche wirklich vom Spiel erwartete, und nicht nur, worin er dessen Sinn erblickte, es wird sich plastischer und bestimmter zeigen, in welchem Maße Nietzsche an die Möglichkeit einer wirklichen Umwandlung der menschlichen Praxis nach dem Muster des Spiels glaubte, und nicht nur, wie er dessen Wesen verstanden hat. Es fällt auf, daß Nietzsche selten über das menschliche Spiel generell gesprochen hat. Bei ihm sind kaum solche Stellen zu finden. Am häufigsten wird vom Spiel des Kindes gesprochen, dem an den Schlüsselpunkten nur noch das Spiel des Künstlers hinzukommt. Ob dies dem Einfluß Heraklits zugeschrieben werden soll, dessen Bild vom Kinde, das mit Steinen spielt, Nietzsche von früher Jugend an bewundert hat, oder ob es die außerordentliche Anziehungskraft dieses Spiels selbst war, das von jeher so viele Denker und Forscher in Bann hält, das ist schwer festzustellen. Unbestreitbar ist jedoch, daß das Spiel des Kindes Nietzsches Aufmerksamkeit am meisten fesselte, daß Nietzsche seine Betrachtungen vorwiegend auf dieses Spiel konzentrierte. Das hat er im Laufe seines ganzen denkerischen Lebens und nicht nur in der frühen Schaffensperiode getan. Allerdings bedeutet dies keineswegs, daß dies auf einem Vorurteil beruhte. Zumal darf nicht gefolgert werden, daß er dieses Spiel als eine spezifische Erscheinung im Rahmen des menschlichen Spieles verstand, daß er in ihm eine besondere Form oder Art des menschlichen Spieles erblickte. In der Tat interessierte sich Nietzsche ständig für das Spiel des Kindes einzig und allein darum, weil er glaubte, daß in ihm sich höchst rein und vollkommen das Phänomen des menschlichen Spiels als solches zeigt. Daß Nietzsche an den universellen menschlichen Sinn des Spiels des Kindes fest glaubte, zeigt eine bedeutende Äußerung, die im ganzen angeführt werden soll: „Das ewige Kind. - Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten! Wir nennen's und empfinden's freilich anders, aber gerade dies spricht dafür, dass es dasselbe ist - denn auch das Kind empfindet das Spiel als seine Arbeit und das Märchen als seine Wahrheit. Die Kürze des Lebens sollte uns vor dem pedantischen Scheiden der Lebensalter bewahren - als ob jedes etwas Neues brächte - und ein Dichter einmal den Menschen von zweihundert Jahren, den der wirklich ohne Märchen und Spiel lebt, vorführen."44 Hier wird offenkundig damit gerechnet, daß

44

Μ Α II V M 2 7 0 : K G W IV 3, S. 129. Es sei bemerkt, daß Nietzsche nirgends das Spiel der Tiere erwähnt hat, welches eine frappante Ähnlichkeit mit dem Spiel des Kindes zeigt, worauf manche Denker und Forscher vor und nach ihm aufmerksam gemacht haben. Als Beispiele aus dem Bereich des außermenschlich Seienden (neben dem allgemeinen Hinweis auf das „Spiel der Kräfte und Kraftwellen") nennt Nietzsche nur das „Glockenspiel" ( Μ Α I 6 2 8 : K G W IV 2, S. 366), das „Farbenspiel" ( Μ Α II W S 2 6 9 : K G W IV 3, S. 306), das „Spiel der Saiten" ( N 1884: K G W VII 2, 25 (374), S. 106), sogar das „Spiel der Affekte" ( N 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 1 (75),

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das Spiel des Kindes den Menschen verlockt und inspiriert, solange er Lebensenergie besitzt, daß das spielende Kind dem erwachsenen Menschen fortwährend als Vorbild gilt, daß der Mensch sein ganzes Leben lang wie ein Kind spielt. Daß Nietzsche dabei noch das Märchen als unumgänglichen Bestandteil der menschlichen Situation erwähnt, neben und unabhängig vom Spiel, vermindert keineswegs das Gewicht und die Tragweite dieser Einsicht. Aus dem zitierten Text geht deutlich hervor, daß Nietzsches Meinung zufolge alles menschliche Spiel das Merkmal des Spiels des Kindes trägt, ja daß es kein anderes Spiel gibt als dieses. Oder, was auf dasselbe herauskommt: daß das Spiel zum tiefsten menschlichen Bedürfnis gehört und nicht nur beiläufige Erscheinung einer kurzen Periode des Menschenlebens ist.45 Im Mittelpunkt der Betrachtungen Nietzsches über das Spiel des Kindes steht der Hinweis auf dessen Zweck- und Nutzlosigkeit. So etwas konnte man auch erwarten, da gerade dieses Moment, wie wir schon gesehen haben, im Mittelpunkt auch der Betrachtungen Nietzsches über das Spiel der Welt stand. In diesem zweiten Fall ist freilich dieser Hinweis etwas verändert, insofern Nietzsche auch das Verhältnis des Kindes zu seiner zweck- und nutzlosen Tätigkeit in Betracht zog. Aber diese Erweiterung bedeutet keine Abweichung von seiner früheren Einsicht. Durch sie ist eigentlich nur die antiteleologische Ausrichtung der ganzen Konzeption noch stärker unterstrichen. Auf zwei grundlegende Sachverhalte hat Nietzsche in bezug auf das Spiel des Kindes besondere Aufmerksamkeit gelenkt - die eine ist „Unschuld" 46 und die andere „Ernst". 47 Darauf hat er auch anläßlich des Spiels des Künstlers entschieden hingewiesen. Fast hat er in dieser Hinsicht gar keinen Unterschied gemacht: so wie das Kind spielt, spielt auch der schaffende Künstler.48 Zweifellos sind Unschuld und Ernst zwei Merkmale, von denen Nietzsche glaubte, daß sie dem menschlichen Spiel als solchem eigentümlich seien und daß sich durch sie das menschliche Spiel zunächst von allen anderen Formen der menschlichen Tätigkeit unterscheide. Nichts anderes hat Nietzsche mit einem solchen Nachdruck hervorgehoben, nichts anderes schätzte er so hoch wie dies beides - die Unschuld des Spiels und den Ernst, mit dem sich die Spieler am Spiel beteiligen. Er meinte, die Harmlosigkeit des Spiels des Kindes sei etwas

45

46

47

48

S. 25; vgl. Ν 1869/72: K G W III 3, 5 (25), S. 102), versucht jedoch dabei nirgends irgendeine Ähnlichkeit mit dem Spiel des Kindes festzustellen. Zu einem solchen Schluß führt auch ein später Aphorismus. „Reife des Mannes: das heisst den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte, beim Spiel" (JGB 94: K G W VI 2, S. 90). Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 7: K G W III 2, S. 324-325. Vgl. Za I, Von den drei Verwandlungen: KGW VI 1, S.27. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 7: KGW III 2, S.325. Vgl. Ν 1875/76: K G W IV 1, 9 (1), S. 224. Vgl. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 7: K G W III 2, S.324; Ν 1875/76: K G W IV 1 , 4 (4), S. 116.

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Einzigartiges auf der Welt: nicht nur, daß das Kind keine Schuld empfindet, es trägt vielmehr gar keine Verantwortung für das, was es tut, sein Spielen unterliegt keiner moralischen Bewertung, es stellt vielmehr ein bloß natürliches Geschehnis dar.49 Auch was den Ernst, mit dem das Kind spielt, betrifft, war Nietzsche kategorisch: im Ernst fand er den besten Beweis für die Unschuld des Spiels selbst. Seiner Meinung nach gibt es im Spielen des Kindes keinen Funken von Leichtsinn und Willkür. Das spielende Kind ist nur dem Anschein nach kapriziös, nur scheinbar läßt es sich von seiner Laune leiten. Denn das Kind kann wirklich anfangen zu spielen, wenn es dies wünscht, wie auch aufhören, wenn es ihm beliebt. Aber wenn und solange es spielt, hat das Kind keinen Eigenwillen, sondern folgt sozusagen unbewußt den inneren Forderungen des Spiels, es gehorcht dessen inneren Regelmäßigkeiten. 50 Das Kind dient also mehr dem Spiel, als daß es darüber verfügt. Selbstverständlich hat diese innige Hingabe des Spielers an das Spiel worin Nietzsche die Besonderheit des menschlichen Spiels überhaupt und nicht nur des Spiels des Kindes erblickte - nichts mit dem erhabenen Ernst zu tun, mit dem sich der moralische Mensch für die Verwirklichung der metaphysischen Zwecke und Ziele einsetzt, und zwar in erster Linie deshalb, weil hier jede Möglichkeit eines gegenständlichen Verhältnisses des Spielers zum Spiel ausgeschlossen ist. Eigentlich ist die erwähnte Hingabe nie vollkommen, sie impliziert nicht die Identifizierung des Spielers mit dem Spiel, seine Auflösung in ihm. Der Spieler bewahrt immer eine Distanz zu dem, was er tut, da er doch immer irgendwie „weiß", daß all dies nur Schein ist, daß alle seine Spielschritte der Spielwelt als einer imaginären Realität angehören. Daher ist der Ernst, den Nietzsche den Teilnehmern am Spiel zuschreibt, weit entfernt von jeder Verblendung und Voreingenommenheit. Es handelt sich weder um die Ubermacht einer objektiven Ordnung, noch um ein Selbstvergessensein des Subjekts. Schwerlich könnte man mit Hilfe des Subjekt-Objekt-Schemas überhaupt begreifen, worin der Ernst, von dem Nietzsche spricht, besteht. Gewiß ist nur, daß dieser Ernst mehr ästhetische als ethische Kennzeichen hat. Nietzsche läßt nämlich keinen Platz für den Zweifel, daß das Spiel ein Geschehen ohne Subjekt sei, daß die Teilnehmer am Spiel nicht über dessen Verlauf verfügen.51 Es gibt weder äußere Aufgaben, die durch das Spiel 49

51

Insofern steht Nietzsches Auffassung des Spiels nur dem Anschein nach der Hegeischen nahe (wenn dies überhaupt Hegels und nicht Schellings Auffassung war), dergemäß die „Indifferenz des Spiels" darin besteht, daß dessen „grösster Leichtsinn" zugleich auch sein ,,erhabenste[r] und [ . . . ] einzig wahre[r] Ernst" sei. Vgl. G. W. F. Hegel, Aufsätze aus dem kritischen Journal der Philosophie, Sämtliche Werke 1 (Jubiläumsausgabe), (Hermann Glockner), (Stuttgart-Bad Cannstatt: F. Frommann, 4 1965), S. 186. Vgl. Ν 1872/74: KGW III 4, 34 (32), S.420; FW 382: KGW V 1, S.319. Vgl. Ν 1880/81: KGW V 1, 1 (126), S. 362-363. Daß beim Spielen sehr Weniges von den Spielern abhängt, zeigt überzeugend eine Stelle aus Zarathustra: „Scheu, beschämt, unge-

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verwirklicht werden sollten und von denen es irgendeine tiefere Bedeutung erhalten könnte, noch besitzen die Spieler einen von vornherein schon aufgeklärten, beseelten Willen, durch den sie dem eigenen Benehmen einen höheren Sinn geben könnten. Der Ernst besagt hier einfach, daß sie sich dem Spieltrieb, der Lust am rhythmischen Vollzug des Spiels selbst hingeben. Daß dies keine willkürliche Konstruktion ist, sondern eine höchst berechtigte Schlußfolgerung, ist übrigens schon daraus zu ersehen, wie Nietzsche den Unterschied zwischen Arbeit und Spiel aufgefaßt hat. Obwohl er der Erläuterung dieses Unterschieds kaum ein paar Zeilen widmete, und zwar lediglich in den Schriften aus der reifen Schaffensperiode, verlor er das schon einmal Wahrgenommene nie aus den Augen. 52 Vielleicht hat Nietzsche erst durch den Vergleich der Arbeit mit dem Spiel begriffen, daß das Spiel den Menschen durchaus nicht belastet, geschweige denn versklavt, bzw. daß der Ernst mit dem sich die Spieler dem Spiel hingeben, keinen Funken von Gezwungensein, geschweige denn von Steifheit und Starrheit enthält. Leider hat Nietzsche es unterlassen, diese Erläuterung direkt mit seinen übrigen Beobachtungen zu verknüpfen und sie so gegen mögliche Verfälschungen zu schützen. Der Grundunterschied, den Nietzsche zwischen Spiel und Arbeit wahrgenommen hat, betrifft gleichermaßen sowohl deren innere Verfassung als auch die Art und Weise ihres Vollzugs. Absichtlich sagen wir gleichermaßen, weil die Situation wahrhaftig ganz symmetrisch ist. Belanglos ist, daß Nietzsche sich nirgends unzweideutig darüber geäußert hat. Hinsichtlich der inneren Verfassung haben Spiel und Arbeit nichts Gemeinsames: während die Arbeit sich unter ständigem Druck von Zwecken und Zielen befindet, ist das Spiel frei von Zwecken und Zielen; während die Arbeit die täglichen Bedürfnisse befriedigt, ist das Spiel vollkommen nutzlos. 53 Aber auch hinsichtlich ihrer

52

53

schickt, einem Tiger gleich, dem der Sprung missrieht: also ihr höheren Menschen, sah ich euch oft bei Seite schleichen. Ein Wurf missrieth euch. / Aber ihr Würfelspieler, was liegt daran! Ihr lerntet nicht spielen und spotten, wie man spielen und spotten muss! Sitzen wir nicht immer an einem grossen Spott- und Spieltische? / U n d wenn euch Grosses missrieht, seid ihr selber darum missrathen? U n d missriethet ihr selber, missrieht darum - der Mensch? Missrieht aber der Mensch: wohlan! wohlauf!" (Za IV, V o m höheren Menschen 14: K G W VI 1, S. 359). In einem etwas andersartigen Sinn kommentiert diese Stelle Gilles Deleuze, a. a. O . , S. 3 2 - 3 3 . Daß Nietzsche dabei weitgehend Kant folgte, wenn nicht sogar frei einige seiner Ansichten verwertete, ist evident. Vgl. Kritik der Urteilskraft, Kants Werke V (Akademie-Ausgabe) (Berlin: G . R e i m e r , 1908), § 4 3 , S . 3 0 4 . Davon, daß Kants Einfluß auf Nietzsche größtenteils auch durch seine Wagnerstudien vermittelt war, zeugt Dieter Jähnig, „ ,Die Kunst in der Zeit der Arbeit'. Nietzsches .Bayreuth-Gedanke'", Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verständnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung (Köln: M. D u M o n t Schauberg, 1975), S. 1 7 4 - 1 7 5 . Weniger klar ist (und deshalb werden wir uns damit im Folgenden etwas eingehender beschäftigen müssen), daß im Hintergrund des Nietzscheschen Vergleichs von Spiel und Arbeit die Aristotelische Auffassung des Spiels als Erholung von der Arbeit steht (Arist. Pol. VIII 3, 1 3 3 7 b 3 9 ; Arist. Eth. Nie. X 6, 1 1 7 6 b 33). Vgl. Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 2 (130), S. 127.

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Vollzugsweise haben Spiel und Arbeit nichts Gemeinsames: während die Arbeit mit Mühe und Anstrengung verrichtet wird, ereignet sich das Spiel mit Leichtigkeit, ohne jede Mühe; während die Arbeit auf Widerstand und Hindernisse stößt, kommt das Spiel gleichsam von selbst voran.54 Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Nietzsche den Unterschied zwischen Spiel und Arbeit in dieser zweiten Hinsicht als unumgängliche Folge des Unterschieds zwischen ihnen in jener ersten Hinsicht verstanden hat. Sehr wahrscheinlich ist aber, daß er auch an die gegenseitige Verknüpfung dieser Momente dachte, daß ihm Ziellosigkeit und Leichtigkeit als Momente, die sich gegenseitig bedingen, gegolten haben. Jedenfalls war sich Nietzsche im klaren darüber, daß Spiel und Arbeit zwei wesentlich verschiedene menschliche Tätigkeiten sind: was der einen eignet, ist der anderen fremd. Das Spiel beginnt dort, wo die Arbeit aufhört, und dort, wo gearbeitet wird, ist das Spiel nicht am Platz. Es sei bemerkt, daß Nietzsche durch diesen Vergleich des Spiels mit der Arbeit nur die Eigenart des Spiels gegenüber der Arbeit möglichst klar hervorheben und nicht die Arbeit auf Kosten des Spiels abwerten wollte. Dies war wenigstens seine ursprüngliche Intention, wenn schon nicht auch die letzte Konsequenz dieses Vergleichs. Obwohl er die moderne Ideologie der Arbeit schonungslos brandmarkte (die gerade zu seiner Zeit von verschiedensten Seiten stark angeregt wurde), bildete sich Nietzsche doch nicht ein, alles gesagt zu haben, als er den Glauben seiner Zeitgenossen an die heilbringende Funktion der produktiven menschlichen Tätigkeit („Würde der Arbeit",55 „Segen der Arbeit" 56 ) verspottete. Er wußte wohl, daß die Arbeit nicht nur eine wesentliche Bedingung des menschlichen Daseins ausmacht, sondern auch ein tägliches menschliches Bedürfnis befriedigt. Es leuchtete ihm ein, daß der Mensch arbeiten muß, nicht nur, um sich im Leben zu erhalten, sondern auch, um sich nicht zu langweilen. Im Hinblick darauf behauptete er ausdrücklich, daß sich der Mensch dem Spiel zuwende, weil ihm auch die übermäßige Arbeit nicht helfe, daß der Mensch das Spiel als künstlerische Erfrischung und Erquickung brauche, daß er zum Spiel Zuflucht nehme, weil er im Spiel mit größerem Erfolg die Langeweile vertreibe als bei der Arbeit. In einem Aphorismus betitelt „Langweile und Spiel", der sich im ersten Buch von Menschliches, Allzumenschliches befindet, heißt es: „Um der Langweile zu entgehen, arbeitet der Mensch entweder über das Mass seiner sonstigen Bedürfnisse hinaus oder er erfindet das Spiel, das heisst die Arbeit, welche kein anderes Bedürfnis stillen soll, als das nach Arbeit überhaupt. Wer des Spieles überdrüssig geworden ist und durch neue Bedürfnisse keinen Grund zur Arbeit hat, 54

55 56

Ν 1876/77: K G W IV 2, 23 (81), S.528; ΜΑ I 154, 213: KGW IV2, S.148, 176. Vgl. Ν 1 8 8 4 : KGW VII 2, 27 (24), S.281. GT 18: KGW III 1, S. 113; Fünf Vorreden. Der griechische Staat: KGW III 2, S.258. Ν 1869/72: KGW III 2, 10 (1), S.352; Ν 1872/74: KGW III 4, 34 (27), S.418.

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den überfällt mitunter das Verlangen nach einem dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhält, wie Schweben zum Tanzen, wie Tanzen zum Gehen, nach einer seligen, ruhigen Bewegtheit: es ist die Vision der Künstler und Philosophen von dem Glück." 57 Hier hat Nietzsche scheinbar den Unterschied zwischen Arbeit und Spiel gänzlich vernachlässigt, dem er selbst zunächst größtmögliche Bedeutung beilegte, so daß das Spiel sogar als eine Art Arbeit erscheint! Und über das Spiel wird eine besondere geistige Haltung gestellt, die angeblich erst eine wirkliche Befriedigung bietet! Vermutlich lehnte Nietzsche nicht jede Arbeit ab, sondern nur Sklavenarbeit, die Arbeit, die einen großen Kraftaufwand verlangt, jedoch kein Vergnügen bietet. Dies ist einer Stelle aus der Fröhlichen Wissenschaft zu entnehmen, an der der Begriff Arbeit so erweitert ist, daß darunter die gesamte menschliche Tätigkeit subsumiert wird, einschließlich des künstlerischen Schaffens, und nicht nur die Arbeit im Sinne der materiellen Produktion. Nachdem Nietzsche zunächst festgestellt hat, daß „fast alle Menschen" hauptsächlich „um des Lohnes willen" arbeiten, und deshalb nicht allzuoft wählen können, was sie arbeiten, fügt er hinzu: „Nun giebt es seltenere Menschen, welche lieber zu Grunde gehen wollen, als ohne Lust an der Arbeit arbeiten... Zu dieser seltenen Gattung von Menschen gehören die Künstler und Contemplativen aller Art, aber auch schon jene Müssiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf Reisen oder in Liebeshändeln und Abenteuern zubringen. Alle diese wollen Arbeit und Noth, sofern sie mit Lust verbunden ist, und die schwerste, härteste Arbeit, wenn es sein muss. [ . . . ] Sie fürchten die Langeweile nicht so sehr, als die Arbeit ohne Lust: ja, sie haben viel Langeweile nöthig, wenn ihnen ihre Arbeit gelingen soll. [ . . . ] Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten ohne Lust gemein ist."58 Etwas Ahnliches bestätigt auch ein nachgelassenes Fragment aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft, in dem Nietzsche die Arbeit, die dem Menschen durch äußere Not aufgedrängt wird, von der Arbeit, der sich der Mensch frei fügt, ausdrücklich abgrenzt: „Sklaven-Arbeit! Freien-Arbeit! Erstere Arbeit ist alle Arbeit, die nicht um unserer selber willen gethan wird und die keine Befriedigung in sich hat. Es ist viel Geist noch zu finden, damit ein Jeder seine Arbeiten sich befriedigend gestalte."59 Daraus folgt, daß nur diejenige Arbeit unwürdig ist, die als pures Mittel zum Leben dient, daß eine solche Arbeit untauglich und unerwünscht ist, daß sie schlimmer ist als die Langeweile. Aber darum ist die Arbeit nach freiem persönlichen Ermessen, d.h. die Arbeit, welche Freude und Lust bereitet, um so willkommener, mag sie noch so " ΜΑ I 611: KGW IV 2, S.358. FW 42: KGW V 2, S. 82-83. Zu diesem Aphorismus vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 304. 59 Ν 1880/81: KGW V 2, 11 (176), S.406. 58

a. a. Ο.,

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schwer und mühevoll sein. Insofern ist es gar nicht wunderlich, wenn Nietzsche einmal unumwunden sagt, daß die Arbeit im Leben des erwachsenen Menschen denselben Rang einnehme, wie das Spiel im Leben des Kindes. Seinen Worten zufolge ist das Spiel „die eigentliche Arbeit des Kindes" und die Arbeit die „schaffende Thätigkeit" im „reifen Alter". 60 Deutlicher konnte wahrhaftig nicht gezeigt werden, daß die produktive menschliche Tätigkeit, trotz aller ihr auferlegten Einschränkungen, den Keim der eigenen Umwandlung in sich trägt, daß diese Tätigkeit, wenigstens dank einer ihrer Komponenten, überhaupt nicht so unwürdig ist, wie es auf den ersten Blick scheint, daß diese Tätigkeit sogar den natürlichen Ersatz für das Spiel des Kindes darstellt, wenn schon nicht auch die rudimentäre Form des menschlichen Spiels überhaupt. N u n bleibt die Frage offen, ob dieser beiläufige Hinweis Nietzsches auf die innere Spaltung innerhalb der Arbeitswelt als eine mehr oder minder schüchterne Andeutung der möglichen Umwandlung der Arbeit in Spiel aufzufassen oder ob all dem keine besondere Bedeutung beizulegen ist. Ist es überhaupt sinnvoll anzunehmen, daß Nietzsche sich hier für die Uberwindung des überlieferten Kulturmodells eingesetzt hat, demzufolge die rationale Bändigung der Triebe eine wesentliche Bedingung des menschlichen Fortschritts ist, oder daß er wenigstens die Möglichkeit einer solchen Uberwindung vor Augen hatte? Ist sein Hinweis nicht allzu knapp und beiläufig, um ihm eine so weittragende Konsequenz unterstellen zu können? Zumindest ist hier jede leichtsinnige Simplifizierung unstatthaft. Möglicherweise hat Nietzsche ernstlich daran gedacht, daß einmal eine radikale Änderung auf dem Gebiet der materiellen Produktion stattfinden werde, daß einmal der Unterschied zwischen Arbeit und Spiel gänzlich verwischt sein werde. Sonst würde er an einer anderen Stelle nicht sagen können: „Wie der Knabe spielt, so wird der Mann a r b e i t e n . . A b e r seine Erklärung geht nicht auf Einzelheiten ein, so daß sie nichts Bestimmtes verspricht. Weder ist das, was Nietzsche hier ausdrücklich sagt, eindeutig, noch ist es das, was es nur impliziert. Anstatt wenigstens in allgemeinen Zügen zu zeigen, was die Entfesselung der materiellen Produktion, d. h. die Befreiung der Arbeit von Zwecken und Zielen, bedeutet und worin sie besteht, begnügt er sich bloß damit, den Anspruch hervorzuheben, daß jeder (der es kann) an seiner Arbeit Lust haben solle, unabhängig davon, welcher Art und wie groß die Mühe ist, die er bei deren Verrichtung hat. Und nur eine eingehendere Erklärung in jener ersten Richtung könnte der Erkenntnis den Weg bahnen, daß das Spiel die tiefste verborgene Möglichkeit der gesamten, also auch der produktiven menschlichen Tätigkeit sei. Übrigens ist 60 61

Ν 1875/76: KGW IV 1, 9 (1), S.224. Ν 1876/77: KGW IV 2, 23 (91), S.532.

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es unklar, ob Nietzsche überhaupt berechtigt war, gewisse Formen des mehr oder minder künstlerisch inspirierten Handelns und Sich-Einsetzens, die sich an der Grenze zur Arbeit befinden, als Maßstab dieser ganzen Welt zu nehmen, und es ist auch nicht leicht einzusehen, worauf seine Voraussetzung überhaupt gründet, die Arbeit könnte noch immer eine produktive Wirkung haben, wenn sie ins Spiel übergeht. Im Hinblick darauf, daß es Nietzsche beim Vergleich des Spiels mit der Arbeit in erster Linie darum ging, die Eigenart des Spiels hervortreten zu lassen, und nicht die Arbeit herabzusetzen und zu entwerten, kann die Radikalität seines erwähnten Hinweises mit Recht bezweifelt werden. Aus seinen Worten ist schwer ein verborgener revolutionärer Sinn herauszulesen. Nicht nur, daß Nietzsche nirgends behauptet hat, die Arbeit solle in Spiel verwandelt werden, vielmehr hat er auch nirgends hinlänglich überzeugend eine solche Wendung vorbereitet, da er weder die teleologische Struktur des materiellen Produktionsprozesses kritisch zergliedert, noch die ganze bisherige Art und Weise der gesellschaftlichen Organisation dieses Prozesses scharf verurteilt hat. Nietzsches rein methodisches Bestreben ist durch keine problematischen kulturhistorischen Hoffnungen und Erwartungen getrübt und dient auch keinen ephemeren ideologisch-politischen Interessen. 62 Leider hat Nietzsche nicht klar genug gesehen, daß sein Vergleich unverzüglich auf die Verwandlung der produktiven menschlichen Tätigkeit hinzielt, daß gerade das Bestehen auf der Befreiung der Arbeit am stärksten seiner Ausgangskonzeption entsprechen würde, daß dies durchaus im Einklang mit seinem Grundvorhaben wäre. Denn wenn das Spiel die höchste, wertvollste Form des menschlichen Weltverhältnisses ausmacht, wenn darin das Modell einer wahrhaft freien, menschlichen Tätigkeit zu erblicken ist, dann gibt es wirklich keinen Grund, daß das kritische Denken vor der Arbeit als einer unveränderlichen G r ö ß e stehenbleibt. Insofern stimmt es jedenfalls nicht, daß Nietzsche die Möglichkeit einer solchen Befreiung schlechthin übersehen habe, bzw. daß die Verewigung des Gegensatzes von Arbeit und Spiel das letzte Wort seines Vergleichs wäre. 62

Im Hinblick darauf ist zu sagen, daß eine Kluft Nietzsche von Schiller und Fourier trennt, seine beiden berühmten Vorgänger, deren Aufmerksamkeit das Motiv des Spiels bedeutend früher angezogen hat. Z u m Unterschied von diesen beiden Schriftstellern, die auffallend aufklärerischpädagogisch veranlagt waren, insofern sie den Menschen durch das Spiel befreien wollten, insofern sie die Kunst in den Dienst der Politik stellten, insofern sie glaubten, die brennenden Fragen der Zeit könnten zuallererst mittels der Ästhetik gelöst werden (vgl. Herbert Marcuse, Eros and Civilisation. A Philosophical Inquiry into Freud (London: Abacus, 1973), S. 1 3 6 - 1 3 8 , 1 5 3 - 1 5 4 ) , dachte Nietzsche streng existenzial-ontologisch. Seine Wendung zum Spiel ist kein idealistischer oder utopistischer Protest gegen die Entfremdung, gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen der Mensch unter dem Zwang der Arbeit lebt, sie enthält vielmehr einen nüchternen, wenn auch ganz groben philosophischen Entwurf eines möglichen epochalen Ereignisses.

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Unabhängig davon jedoch, inwiefern die Frage nach der Befreiung der Arbeit in dem oben angegebenen ästhetischen Sinn überhaupt in Nietzsches Absicht lag, ist es doch unzweifelhaft, daß Nietzsche dank dem Vergleich des Spiels mit der Arbeit seine Auffassung des Spiels bedeutend gefördert, um nicht zu sagen endgültig festgelegt hat. Wenn nichts anderes, so hat ihm dieser Vergleich geholfen einzusehen, daß das Spiel eine spontane, selbständige, befreite schöpferische Bewegung ist, welche nichts erstrebt und nichts verwirklicht, sondern sich selbst genügt. Es gibt keine Nötigung zum Spiel, Zweckmäßigkeitsgründe bestimmen nicht seinen Anfang, die Einmischung solcher Gründe verdirbt vielmehr sein Wesen, so wie auch das Spielen selbst nicht notgedrungen geschieht, sondern in äußerster Gelassenheit, also mit Leichtigkeit, ohne Anstrengung. Nicht nur, daß das Spiel keineswegs an die Sphäre der Notwendigkeit gebunden ist, vielmehr öffnet und erweitert erst der Vollzug des Spiels den Raum der Freiheit. Die Unverbindlichkeit seines Ausgangs ist der beste Damm gegen jede Versklavung, ebenso wie seine Autonomie, d. h. die Unabhängigkeit seiner Herkunft von äußeren Umständen. Das Spiel entsteht nicht aus der Unzufriedenheit mit dem bestehenden Zustand, sondern aus der Fülle des Lebens. Dessen wesentlicher Grund ist das gesteigerte Machtgefühl, es vollzieht sich nur als Durchbruch von Kraftüberschuß. 63 Auf das Spiel bezieht sich wahrscheinlich folgendes Fragment: „Wo wir fühlen, daß wir etwas mit einem Uberschuß von Kraft thun, da fühlen wir uns frei; wo das Thun selber ergötzt und nicht nur um des ergötzlichen Zweckes willen gethan wird, da entsteht das Gefühl der Freiheit des Wollens: wir wollen hier zwar einen Zweck, aber der Zweck beherrscht uns nicht ganz, er giebt nur eine Gelegenheit, damit unsere Kraft mit sich spiele, wir wissen, es giebt noch viele andere Gelegenheiten dazu; weil wir den Zweck etwas beliebig und gering schätzen, so fühlen wir uns nicht als seine Sklaven; das heißt, wir fühlen uns als wollend in bezug auf diesen Zweck, aber auch als frei von ihm." 64 Vielleicht hat Nietzsche nirgends mit solcher Klarheit angekündigt, daß das Spiel keine sinnhafte Rechtfertigung außer sich brauche, daß über dessen Wert allein der unmittelbare Vollzug entscheide, und daß die ihm eigentümliche Leichtigkeit gerade daher komme, daß die Teilnehmer am Spiel keinen Zwecken und Zielen sklavisch Untertan sind. Vielleicht hat er nirgends mit solcher Entschiedenheit betont, daß wir nur dann frei sind, wenn wir spielen, und nur, solange wir spielen.65 Denn nur beim Spielen tun wir das, was

63 64 65

Vgl. Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 2 (130), S. 127. Ν 1 8 8 0 / 8 1 : K G W V 1, 3 (48), S . 3 9 0 . In einem Fragment aus der frühesten Schaffensperiode zitiert Nietzsche den Schillerschen Satz „Der Mensch [ist] erst Mensch, wenn er spielt" (das richtige Zitat wäre „der Mensch ist nur da ganz Mensch, w o er spielt", vgl. Friedrich Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart: Ph. Reclam, 1973, S. 63), jedoch beschränkt er sogleich die Geltung dieses

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wir tun, um des Tuns selber willen, und nicht wegen etwas außer ihm, nicht, um etwas anderes zu erreichen. Merkwürdigerweise hielt Nietzsche es nicht für nötig, das Spiel mit dem menschlichen Handeln zu vergleichen, es in Verbindung mit dem moralischpraktischen menschlichen Tun zu bringen. Bei ihm ist kein Wink in dieser Richtung zu finden, ja auch keine entfernte Andeutung, geschweige denn eine in einer auch nur einigermaßen entwickelteren Form. Insoweit Nietzsche überhaupt versucht hat, das Wesen des menschlichen Spiels mit Rücksicht auf etwas anderes, was nicht Spiel ist, zu erläutern, berief er sich nur auf die Tätigkeit, die das Verhältnis des Menschen zu den Dingen betrifft, und nicht auch auf die Tätigkeit, die den sinnvollen Verkehr zwischen den Menschen kennzeichnet. Nietzsche wollte vor allem den Unterschied zur produktiven menschlichen Tätigkeit unterstreichen, er begnügte sich damit festzustellen, daß sich das Spiel wesentlich vom technisch-instrumentalen Umgang mit der Natur unterscheidet, daß das Spiel hoch über alle jene Handlungen und Tätigkeiten emporragt, durch welche der Mensch nur seine natürlichen Bedürfnisse befriedigt, durch welche er nur die Natur in ihrer Gegenständlichkeit erzeugt. Man kann nur vermuten, warum es Nietzsche dabei unterlassen hat, den Blick auch auf die praktische menschliche Tätigkeit in engerem Sinn zu wenden, d. h. auf die Tätigkeit, welche die Teilnahme an der Erhaltung und Förderung des menschlichen Zusammenlebens bedeutet. Wahrscheinlich unterließ er es nicht deswegen, weil er das Wesen dieser anderen Tätigkeit nicht gut genug verstanden hat, weil er nicht wußte, was mit einem solchen Vergleich anzufangen sei, weil ihm die Struktur dieser Tätigkeit ganz undurchsichtig war und er nicht wahrgenommen hat, welchen Nutzen dies alles haben könnte. In der Tat ist die gesamte Betrachtung Nietzsches über das Spiel durch sein beständiges Interesse an der menschlichen Praxis, an der moralisch-praktischen Tätigkeit des Menschen angeregt, sie legt Zeugnis von seiner fortgesetzten kritischen Konfrontierung mit dieser Praxis ab, sie enthält seine mehr oder minder mittelbare, wenn schon nicht auch stillschweigende Antwort auf das überlieferte metaphysische Verständnis von dessen Wesen. Sagen wir es so: Nietzsche dachte über das Spiel in erster Linie aus der praktischen Perspektive,

Satzes auf die „olympische Götterwelt", bzw. auf das „Griechentum" ( N 1 8 6 9 / 7 2 : K G W III 3, 3 (49), S. 74). In einem späten Fragment aus derselben Periode betont Nietzsche (wenn auch ohne nähere Erläuterung), die „Fortsetzung der Aufgabe Schillers und Goethes" komme nicht mehr in Betracht, sie sei nicht mehr aktuell, sie gelte „nichts für uns" (ebd., 81 (90), S . 2 6 6 ) . U b e r Nietzsches Verhältnis zu Schiller referiert flüchtig und unvollständig Helmut Rehder im Aufsatz „The Reluctant Disciple: Nietzsche and Schiller", im Buch: James C . O'Flaherty et al. (Hrsg.), Studies in Nietzsche and the Classical Tradition (Chapel Hill: University of N o r t h Carolina Press, 1976), S. 1 5 7 - 1 6 4 .

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sein Spiel-Gedanke ist in seiner praktischen Philosophie tief verwurzelt, ja er gehört zum untrennbaren Bestandteil seiner praktischen Überlegungen. Daher hatte es Nietzsche nicht nötig, das Spiel ausdrücklich mit dem Handeln zu vergleichen, das Spiel methodisch vom Handeln abzugrenzen, so wie er es von der Arbeit abgegrenzt hat, vorausgesetzt, daß so etwas überhaupt möglich ist! Schon im Rahmen seiner Kritik des metaphysischen Praxisbegriffs hat Nietzsche kühn das Handeln von jeder teleologischen Gebundenheit und Abhängigkeit befreit und sogar unzweideutig auf die vornehmlich spielerischen Elemente in dessen Wesen hingewiesen.66 Fast hat er schon deutlich gesagt, daß es keinen Unterschied zwischen Spiel und Handeln gebe, daß dasjenige, was allein verdient, Handeln genannt zu werden, im Grunde mit dem Spiel identisch sei. Man darf sich nicht vortäuschen, daß Nietzsche mit dem Phänomen des menschlichen Spiels fertig geworden sei, auch nicht, daß er wenigstens einigermaßen seine prinzipielle Gleichsetzung des Spiels mit der ursprünglichen Möglichkeit des menschlichen Handelns begründet habe. Seine Betrachtung ist erst als Ansatz der erwünschten Erläuterung anzusehen. Vieles hat Nietzsche nicht einmal berührt, geschweige denn analysiert. Einige Dinge sind bei ihm sehr verwickelt. Deshalb war er wohl auch so vorsichtig in seinen Äußerungen. In seinem Versuch, das Phänomen des menschlichen Spiels zu erklären, ist Nietzsche an die Grenze selbst der metaphysischen Denkweise gelangt. Er ahnte nicht nur, daß er vom Gebräuchlichen abweicht, vielmehr wußte er es auch. Es leuchtete ihm ein, daß das Spiel weder praxis noch poiesis sei. Keine von diesen beiden überlieferten Grundbestimmungen trifft dessen Wesen, beide sind ihm gleichermaßen unangemessen. Das Spiel entzieht sich der kategorialen Behandlung, ihm eignet nicht das Merkmal der Tätigkeit, deren Ziel identisch mit dieser Tätigkeit selbst ist (praxis), aber auch nicht das Merkmal der Tätigkeit, deren Ziel sich von dieser Tätigkeit selbst unterscheidet (poiesis): das Spiel besteht weder in der Erfüllung eines Zwecks, bzw. in der Verwirklichung eines besonderen Ziels, noch in der Erzeugung eines bestimmten Gegenstands, bzw. in der Herstellung eines einzelnen Produkts.67

64

67

Neben jener schon früher erwähnten Stelle ( N 1 8 8 1 / 8 2 : K G W V 2, 11 (16), S . 3 4 5 ) , vgl. ebenso F W 356, 361: K G W V 2, S. 2 7 7 - 2 7 9 , 2 9 0 - 2 9 1 , und Ν 1884: K G W VII 2, 25 (374), S. 1 0 5 - 1 0 6 . An diesen anderen Stellen (besonders jenen aus der Fröhlichen Wissenschaft) hebt Nietzsche ausdrücklich hervor, daß der moderne Mensch schon vollends auf dem Wege sei, „Schauspieler" bzw. „Künstler" zu werden (so wie es einst schon die Griechen zur Zeit des Perikles gewesen waren), da er nicht mehr streng an einen bestimmten Beruf gebunden ist, d. h. nicht mehr verurteilt ist, nur „ein Stein in einem grossen Baue" zu sein, sondern zu sein vermag, was er will, d. h. die Charaktermasken frei zu vertauschen, verschiedenste gesellschaftliche Rollen zu spielen vermag. Arist. Eth. Nie. VI 5, 1 1 4 0 a 5 - 6 ; 1 1 4 0 b 3^1, 6 - 7 . Vgl. Arist. Met. I X 6, 1 0 4 8 b 1 8 - 3 5 . Zur näheren Erläuterung dieser Aristotelischen Unterscheidung, vgl. Theodor Ebert, „Praxis und

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Das Spiel liegt schlechthin außerhalb des Bereichs der metaphysischen Einsicht, es hat keine teleologische Struktur, setzt keine Zwecke, strebt nach keinen Zielen. Es ist sogar sich selbst nicht Ziel, nicht Selbstzweck. Sowohl das moralisch-praktische Pathos als auch die technisch-produktive Bezogenheit sind ihm gleichermaßen fremd. Das Spiel geschieht nicht um irgend etwas willen (was durch es oder mit seiner Hilfe angeblich erst erreicht werden sollte), ja sogar nicht um des Spiels selbst willen. Es hat keinen Sinn hier von irgendeiner Zweckmäßigkeit zu reden,68 unzutreffend ist hier jedes SichBerufen auf irgendeine Leistung. Das Spiel ist etwas ganz anderes als alle anderen menschlichen Tätigkeiten, es befindet sich jenseits aller Teleologie. Nietzsche verhehlte nicht die Gründe seiner tiefen Unzufriedenheit mit der traditionellen Auffassung der gesamten menschlichen Tätigkeit (in deren Mittelpunkt die Unterscheidung von Praxis und Produktion im Hinblick auf die Eigentümlichkeit ihrer teleologischen Struktur stand). Unermüdlich wiederholte er, daß Zwecke und Ziele jede menschliche Tätigkeit entwerten und verderben, 69 weil sie diese von den verselbständigten, entfremdeten Schöpfungen der menschlichen Vernunft abhängig machen, 70 von einem imaginären Tatbestand, der erst mittels der betreffenden Tätigkeit verwirklicht werden soll. 71 E r behauptete, daß der Wille nicht hoffnungslos verdammt sei, sich nach den Vorstellungen zu richten, von denen ihm die Vernunft sagt, sie wären wert, befolgt zu werden, 72 und daß es keine unantastbaren Zwecke und Ziele gebe, die ihn dauernd fesseln oder behindern könnten. 73 Nietzsche hat das Spiel hoch über alle anderen menschlichen Tätigkeiten emporgehoben, gerade deshalb, weil er glaubte, es allein erstrebe nichts außer sich selbst, es allein sei indifferent gegen jede Bestimmung von außen, es allein brauche keine nachträgliche Sinngebung. 74 Das Spiel war für ihn gleichsam ein ideales Vorbild der befreiten menschlichen Tätigkeit, der Tätigkeit, die jedes moralisch-praktischen oder technisch-produktiven Auftrags entbehrt, der Tätigkeit, der nur an ihrem Vollzug gelegen ist, die ihre Rechtfertigung allein in ihrer unmittelbaren Wirkung findet. Nietzsche wußte es wohl, daß das Spiel die Erinnerung an die

Poiesis. Zu einer handlungstheoretischen Unterscheidung des Aristoteles", Zeitschrift für philosophische Forschung 30/1 (1976), S. 12-30. 68 Mag dies auch „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" sein, die Kant als Grundlage für die Einschätzung des Schönen genommen hat (vgl. Kritik der Urteilskraft, a. a. O., § 15, S. 226). 6 ' Vgl. Ν 1878/79: KGW IV 3, 41 (5), S.442; Ν 1882/83-84: KGW VII 1, 15 (27), S.510. 70 Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (185), S.163. 71 Ν 1885/87: K G W VIII 1, 7 (1), S. 255-256. 72 Ν 1882/83-84: K G W VII 1, 24 (16), S. 696-697. 73 Ν 1885/87: K G W VIII 1, 2 (98), S. 107. 7" Ν 1876/77: K G W IV 2, 23 (81), S. 528.

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ursprüngliche Möglichkeit des menschlichen Handelns bewahrt.75 Das Spiel galt ihm als lebendiges Beispiel der menschlichen Tätigkeit, die sich selbst anregt, die den Willen bei sich bleiben läßt, die dem Willen freistellt, seine Macht zu genießen, sich an dem, was er faktisch ist, zu berauschen. Nietzsche war sich in so hohem Maße bewußt, daß das Spiel gar nichts mit Zwecken und Zielen zu tun habe, daß es in jeder Hinsicht eine zweck- und ziellose menschliche Tätigkeit sei, daß er sich sogar mit der harmlosesten teleologischen Erklärung von dessen Wesen nicht versöhnen konnte. Von vornherein leuchtete ihm ein, es sei jeder Versuch verfehlt, das Spiel unter die Kategorien der traditionellen praktischen Philosophie zu subsumieren. Er versäumte keine Gelegenheit, dies besonders zu betonen. Welches Ziel man auch immer setzt, jedes ist etwas Außeres in bezug auf das Spiel, jeder Zweck wird nur von außen dem Spiel aufgedrängt, da ihm keiner ursprünglich angehört. Aufgrund dieses mutigen Tilgens des breiteren Sinnzusammenhangs des Spiels, hat sich Nietzsche tatsächlich jeder Unterschätzung des Spiels scharf entgegengesetzt, hat er jeden Versuch, es als etwas Minderwertiges, als etwas Leichtfertiges, Unwürdiges aufzufassen, energisch abgelehnt. Er bemühte sich zu zeigen, daß das Spiel keine vermittelnde Rolle zwischen anderen, anscheinend ernsteren menschlichen Tätigkeiten habe, daß es auch keine Tätigkeit sei, die zur Aufmunterung diene, die nur dazu da sei, diese anderen Tätigkeiten zu ermöglichen. Als entschiedener Gegner des teleologischen Zugangs zum gesamten Bereich des menschlichen Handelns und SichEinsetzens, konnte Nietzsche überhaupt nicht mit Aristoteles darin übereinstimmen, daß das Spiel „um der Erholung willen" (cbarin anapauseos)7t geschieht, ihm gefiel überhaupt nicht der Spruch des Anacharsis (den Aristoteles mit Anerkennung zitierte), demgemäß „man spielt, damit man arbeiten kann" (paizein d'hopos spoudazei).77 Nietzsche ließ uns sogar nicht im unklaren darüber, daß diese Erklärung des Aristoteles komisch und nicht nur unangebracht sei.78 Unzweideutig legte er fest, das Spiel sei alles andere eher als ein Mittel der Erholung, d. h. eine Art Atempause zwischen ernsten Lebensaufgaben,79 denn welcher Ernst ist ihm eigen, ja der höchstmögliche Ernst!80 75

76 11 78

79 80

Vgl. folgende Stelle: „Man ist thätig, weil alles was lebt, sich bewegen muß - nicht um der Freude willen, also ohne Zweck: obschon Freude dabei ist. Diese Bewegung ist nicht Nachahmung der zweckmäßigen Bewegungen, es ist anders" (N 1880/81: KGW V 1, 1 (45), S.346). Arist. Pol. VIII 2, 1337b 39. Arist. Eth. Nie. X 6, 1176b 33. Übrigens wie auch die gesamte Aristotelische Auffassung der Kunst: „Der Wunsch, irgend etwas Sicheres in der Aesthetik zu haben, verführte zur Anbetung des Aristoteles; ich glaube, es lässt sich allmählich beweisen, dass er nichts von der Kunst versteht, und dass nur die klugen Gespräche der Athener es sind, deren Widerhall wir so bei ihm bewundern" ( N 1875/76: K G W IV 1, 5 (13), S. 119). Vgl. ΜΑ I 611: K G W IV 2, S.358. Vgl. Ν 1882/83-84: K G W VII 1, 17 (46), S.580.

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Indem Aristoteles das Spiel den anderen menschlichen Tätigkeiten anpaßte (von der Annahme ausgehend, auch es geschehe um eines anderen willen), hat er ihm nur scheinbar die größte Ehre erwiesen. Durch die Erfindung einer nützlichen Funktion des Spiels hat Aristoteles dessen Eigenart vollkommen unterschätzt. Er verfehlte das Wichtigste, als er fand, das Spiel sei zwar unumgängliches, jedoch aber unwesentliches Anhängsel des menschlichen Lebens. An diesem Ort ist es schicklich, mit aller möglichen Vorsicht das facit der gesamten Nietzscheschen Betrachtung über das Spiel zu ziehen, oder wenigstens grob (und auch nur vorläufig) den begonnenen Versuch ihrer Rekonstruktion zu Ende zu führen. Es erweist sich, daß die Auffassung Nietzsches im Grunde gegen Aristoteles gerichtet ist, daß sie in hohem Grade eine rückhaltlose Auseinandersetzung mit ihm darstellt. Nietzsche hat nicht nur das Spiel wesentlich anders als Aristoteles aufgefaßt, vielmehr hat er ihm eine ganz andere Stellung im ganzen der menschlichen Lebensverhältnisse zugeteilt. Schon dadurch, daß er das Spiel von jedem Außenbezug befreit hat und es als eine zweck- und ziellose Tätigkeit erklärt, mußte er auch die Aristotelische Einschätzung von dessen Bedeutung für das menschliche Leben aufgeben. Nichts empörte Nietzsche so sehr wie die Aristotelische Bemühung, das Spiel irgendwelchen angeblich höheren Lebensinteressen unterzuordnen, nichts hat ihn so stark abgestoßen, wie die Versicherung des Aristoteles, das Glück bestehe nicht im Spiel,8' das Spiel sei und könne nicht das letzte Ziel des menschlichen Lebens sein.82 Mit dieser Aristotelischen Ansicht konnte sich Nietzsche durchaus nicht abfinden. Zumindest mußte ihm diese Ansicht als eine unnatürliche Verdrehung, als eine grobe Verfälschung des Tatbestands erscheinen. Ohne Ubertreibung kann man sagen, daß viele Äußerungen Nietzsches fast wie eine direkte Widerlegung der Aristotelischen Worte klingen. Dies gilt besonders für die programmatische Erklärung Nietzsches: „Dies die höchste menschliche Möglichkeit - alles in Spiel aufzulösen, hinter dem der Ernst steht",83 die noch aus der frühesten Zeit seines Schaffens stammt. Im Gegensatz zu Aristoteles ist das Spiel hier von der Peripherie ins Zentrum des Lebens gerückt, hier ist das ganze menschliche Leben auf das Spiel wie auf seine höchste Möglichkeit hin ausgerichtet, hier ist das Spiel zur Quintessenz des umgewandelten, auf eine höhere Stufe gehobenen Lebens erklärt. Im gesamten philosophischen Werk Nietzsches findet man nur wenige Stellen, die an Einfachheit, Prägnanz und Bedeutung mit dieser verglichen werden könnten.

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Arist. Eth. Nie. X 6, 1 1 7 7 a 2 - 3 . Arist. Eth. Nie. X 6, 1 1 7 6 b 2 7 - 2 9 . Vgl. Arist. Pol. VIII 2, 1337 b 3 5 - 3 7 . Ν 1 8 7 2 / 7 4 : K G W III 4, 34 (31), S . 4 1 9 - 4 2 0 .

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Nietzsche hatte wahrscheinlich primär den praktischen Bereich vor Augen, als er diese radikale Forderung stellte. So scheint es wenigstens aufgrund der allgemeinen Orientierung und Durchführung seiner Kritik der praktischen Philosophie, obwohl der Text-Zusammenhang, in dem diese Forderung vorkommt, dies nicht bestätigt. 84 Tief unzufrieden wegen der Ubermacht des moralistischen Räsonnierens im Bereich der praktischen menschlichen Einstellung zur Welt und zum Leben, griff Nietzsche mutig nach einer völlig ungewöhnlichen Lösung - er interpretierte diesen ganzen Bereich in der Art des Spiels. Er kam zum Schluß, die menschliche Praxis könne eine wahrhaft menschliche Sache nur dann werden, wenn sie die metaphysischen Fesseln, in die sie geschlagen ist, zerbricht, wenn sie das Bedürfnis nach Zwecken und Zielen überwindet, wenn sie die Spannung zwischen dem Faktischen und dem Normativen, die ihr Wesen zerreißt, lockert oder aufhebt. Wenn Nietzsche folgerichtig gewesen wäre, hätte er diesen Schluß einfach als Forderung ausdrücken können, das praktische Tun des Menschen solle die Form des Spiels annehmen. Statt dessen hat er nur an einer Stelle notiert: „Der Zweck ist es, der jedes Ding und Thun entheiligt: denn was ist Heiligkeit, wenn sie nicht im Herzen und Gewissen des Dings und Thun sitzt! Ich will, daß du kein Ding thust mit ,um' und ,weil' und ,damit' - sondern jedes Ding um des Dings Willen und ihm zu Liebe." 8 5 Obwohl diese Formulierung nicht einwandfrei ist, da sie sich noch immer im kategorialen Rahmen bewegt, gegen den er sich auflehnt, ist deren radikaler Denkinhalt doch unzweideutig. Es handelt sich fürwahr um die Forderung, das menschliche Handeln zu befreien, ihm einen neuen, ungeheuren Schwung zu geben, das überlieferte moralisch-praktische Schema durch ein neues, vorwiegend ästhetisches abzulösen, von der bisherigen, durch die Idee des Guten verklärten Lebensweise zu einer ekstatischen Daseinsform überzugehen. Es besteht jedoch kein Grund, die Bedeutung der Forderung Nietzsches, alles in Spiel zu verwandeln, nur auf den praktischen Bereich im engeren Sinn zu beschränken. Weder hat Nietzsche so etwas jemals ausdrücklich erwähnt, noch wäre das im Einklang mit seiner allgemeinen Blickweise auf die menschliche Situation im ganzen. Richtiger wäre es zu sagen, daß Nietzsche an die Umwandlung der gesamten menschlichen Wirklichkeit dachte, daß diese Forderung bei ihm den Charakter eines universellen praktisch-poietischen Anspruchs hatte. D a Nietzsche keine strenge Trennung zwischen Praxis und 84

D e m eben zitierten Text gehen folgende Worte voran: „Neues Ideal des theoretischen Menschen. E r betheiligt sich an dem Staat usw. nur noch zum Spiele" (ebd., S . 4 1 9 ) . Hier ist der Begriff v o m Spiel in so weitem Sinn genommen, daß der Unterschied zwischen dem theoretischen und dem praktischen Bereich eigentlich aufgehoben ist.

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Ν 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 22 (1), S . 6 4 9 .

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Produktion (in aristotelischem Sinne) machte, mußte sich seine Forderung offenkundig auf die gesamte menschliche Tätigkeit beziehen, sie mußte also auch die Arbeit, d.h. die produktive menschliche Tätigkeit umfassen. Eine solche Folgerung ist übrigens unumgänglich, schon mit Rücksicht auf die tiefe Spaltung innerhalb der Arbeitswelt selbst, der Nietzsche, wie wir gesehen haben, große Bedeutung beilegte. Warum sollte der Kritiker des metaphysischen Praxisbegriffs vor etwas zurückscheuen, von dem er klar eingesehen hat, es trage schon in sich den Keim der eigenen Umwandlung? Nietzsche wollte also nicht mehr und nicht weniger als das vollständige menschliche Weltverhältnis von Grund auf verändern, den menschlichen schöpferischen Willen im ganzen entfesseln, dem gesamten menschlichen Handeln und Sich-Einsetzen den Stempel des Spiels aufdrücken. Es ist. freilich fraglich, wie diese ungeheure Herausforderung Nietzsches, besonders angesichts ihrer möglichen praktischen Folgen aufzufassen ist. Wovon ist bei der Ergründung ihres Sinnes auszugehen, wie ist ihre weittragende Bedeutung auszulegen? Das Wort „Spiel" ist so wenig eine Zauberformel, die gleich alle Zweifel und Bedenken zerstreut, wie das früher schon erwähnte Wort „schöpferischer A k t " . Es ist gar nicht leicht zu sagen, was der Mensch wirklich tut, der frei handelt, der spielt, indem er handelt, dessen Handeln im Spielen besteht. 86 Ist es überhaupt möglich anzunehmen, daß es sich hier um das Handeln in irgendeinem Sinn der traditionellen Auffassung der menschlichen Praxis handelt? Kann ein Tun, das auf nichts ausgerichtet ist, das nichts Bestimmtes erreichen will, überhaupt noch Handeln genannt werden? Und was sollte man erst vom gesellschaftsontologischen Aspekt des Handelns sagen, das in Spiel verwandelt ist? Es fehlt irgendein auch nur einigermaßen verläßlicher Maßstab oder Prüfstein, um den Charakter der zwischenmenschlichen Verhältnisse abzuschätzen, die mittels eines solchen Handelns entstehen. Ungewiß ist, ob ein in Spiel verwandeltes Handeln überhaupt noch zum menschlichen Geschehen gehört, wie auch unklar ist, inwiefern ein solches Handeln als gesellschaftliches Handeln wahrhaftig befreiend ist, d . h . wieviel Freiheit jeder seiner Teilnehmer dem Anderen, seinem Spielpartner, wirklich schenkt. 87 Mit einem Wort, das Wesen des befreiten Handelns bleibt größtenteils undurchsichtig. 86

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Was Nietzsche indirekt darüber sagt, ist mehr Beschreibung als Erklärung: „Die freieste Handlung ist die, w o unsre eigenste stärkste feinstens eingeübte Natur hervorspringt und so, daß zugleich unser Intellekt seine dirigirende Hand zeigt. - Also die willkürlichste und doch vernünftigste Handlung!" ( N 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 7 (52), S.266). In welchem Maße sich Nietzsche im klaren darüber war, daß das menschliche Spiel vorzüglich ein gemeinsames Tun, d. h. ein Zuammenwirken einer Mehrzahl von Individuen ist und nicht nur ein Einzelgeschehnis, d.h. bloße individuelle Bewegung und Einsetzung, ist schwer zu entscheiden. Möglicherweise ist ihm der gesellschaftliche Charakter des Spiels vollkommen entgangen. Denn er spricht am häufigsten vom Spiel des Kindes in der Einzahl und nur

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Mit Sicherheit kann allein gesagt werden, daß Nietzsche die Umwandlung der menschlichen Praxis in Spiel als ein primär künstlerisches Ereignis anvisierte, daß er diese Umwandlung als eine vornehmlich künstlerische Gestaltung der gesamten menschlichen Tätigkeit, ja als höchstmögliche Annäherung, wenn schon nicht auch Identifizierung von Leben und Kunst aufgefaßt hat. Es ist, als schwebte ihm das Bild einer neuen Kultur vor Augen, die nur von Kunst etwas wissen will, die ganz zur Kunst gewendet ist, die mehr von der Kunst als von irgend etwas anderem bestimmt ist; als wäre er sich der Möglichkeit eines neuen Weltalters akut bewußt, in dem die Kunst zum größten Lebensbedürfnis wird, in dem das Leben selbst als höchstes Kunstwerk gilt, in dem der Mensch nicht mehr ein ethisches, sondern vor allem ein ästhetisches Dasein führt. 88 Es ist durchaus begreiflich, daß Nietzsche die Beziehung zwischen Spiel und Kunst wahrgenommen, daß er im Spiel den Anfang, wenn schon nicht auch das Wesen der Kunst gesehen hat. Denn Spiel und Kunst gehören wirklich zusammen, sie stehen zueinander in engster Verbindung, nicht nur, insofern das Spiel vermutlich die eigentliche und tiefste Wurzel aller Kunst ist. 8 ' Es handelt sich um die seltsame Nähe ihrer schöpferischen Betätigung, um ihre gemeinsame Erfahrung der Freiheit. Spiel und Kunst befreien nämlich gleichermaßen die schöpferische Potenz des Lebens, durch sie kommt das gestärkte Gefühl von Lebenskraft und -macht gleichermaßen zum Ausdruck. Obwohl nicht jedes Spiel unumgänglich künstlerisches Gepräge trägt, da das Spiel auch aus ganz groben, primitiven Bewegungen zusammengesetzt sein kann, ist die Kunst doch im großen und ganzen wesentlich vom spielerischen Geist erfüllt, stellt sogar die originellste Form des Spiels dar. Insofern scheint der Ausdruck „Spiel der Kunst" der neuerdings immer öfter als nähere Bestimmung der Kunst überhaupt gebraucht wird,' 0 vollkommen zutreffend. Freilich ist eine bloße Anspielung auf die künstlerische Dimension der Forderung Nietzsches nach der Umwandlung der menschlichen Praxis in Spiel kaum befriedigend. Es müßte etwas gründlicher erklärt werden, was dies

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ausnahmsweise in der Mehrzahl. Und auch in diesem letzteren Fall ist es bei weitem nicht klar, was mit dieser Mehrzahl eigentlich gemeint ist. Vgl. z.B. Ν 1882/83-84: KGW VII 1, 4 (168), S. 163. Die Möglichkeit einer „künstlerischen Kultur" hat Nietzsche schon in seiner frühen Jugend mit aller Klarheit vergegenwärtigt (N 1872/74: KGW III 4, 19 (73), S. 31), um in der Spätzeit nur mit größerer Entschiedenheit, wenn auch nicht entwickelterer Argumentation ihre Notwendigkeit zu bestätigen. Vgl. Ν 1888/89: KGW VIII 3, 17 (3), S. 319-320. Näheres darüber bei: Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (Reinbek: Rowohlt, 1956), bes. S. 47-48, 120, 191. Ähnlich Eugen Fink, Grundphänomene des menschlichen Daseins, S. 416-419. Vgl. z.B. Hans-Georg Gadamer, „Das Spiel der Kunst", Kleine Schriften IV (Tübingen: J . C . B . Mohr/P.Siebeck, 1977), S.234-240.

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„künstlerisch" hier wirklich bedeutet. Darüber aber kann man nur Vermutungen anstellen. Wenn man versucht, den Gedanken Nietzsches weiter zu verfolgen - und sich dabei an seine wenigen Äußerungen darüber hält - kann es leicht geschehen, daß man ins Leere gleitet. Die Schwierigkeit liegt nicht nur darin, daß Nietzsche nirgends konkret jene Bedingungen angegeben hat, die den Durchbruch des künstlerischen in das praktische Gebiet ermöglichen sollten. Sogar nicht in erster Linie darin, denn eine viel größere Schwierigkeit liegt darin, daß man nicht gewahr wird, wie Nietzsche die Möglichkeit dieser neuen künstlerischen Lebensweise überhaupt aufgefaßt hat, wie er sich dieses Leben im fortlaufenden Spiel vorstellte, wie er diese neue Form der Ekstase des menschlichen Daseins verstand. Nicht genügend klar sind auch die Grundzüge dieser kritischen Anspielung Nietzsches, unfaßbar ist selbst die Idee dieser rätselhaften Wendung. Hat Nietzsche auf diese Weise den unverzüglichen Abschied von der gesamten bisherigen Geschichte wirklich vorbereitet? Hat er den Weg, der über allen Nihilismus hinausführt, tatsächlich geöffnet? Wird es wahrhaftig so sein, daß er unter dieser Umwandlung die endgültige Bändigung des idealistischen Sehnens nach dem Unendlichen verstand, daß er an eine vollkommene Brechung des Willens dachte, der von gewissen, angeblich objektiven Werten ausgeht und sich durch irgendwelche, angeblich objektive Leistungen bewähren will? Eine entfernte Vorahnung dieser Art findet sich vielleicht in der berühmten Rede Zarathustras von der dreifachen Verwandlung des Geistes." Wir sagen Vorahnung und nicht Hinweis, denn hier drückt sich Nietzsche nur bildhaft und metaphorisch aus, erklärt jedoch nichts. Anscheinend enthüllt diese kühne Parabel (die gewissermaßen als intendiertes Gegenstück zum Platonischen Höhlengleichnis aufgefaßt werden kann) die tiefsten Motive des Nietzscheschen Spiel-Gedankens und enthält sogar den Grundentwurf seiner gesamten (nicht nur „praktischen") Philosophie. Es sei zunächst an das Wichtigste erinnert. Nietzsche rückt in den Vordergrund die Unbeständigkeit, die Veränderlichkeit der menschlichen Situation. Der Geist erscheint in drei Gestalten - als „Kameel", „Löwe" und „Kind". Dies sind drei wesentliche Möglichkeiten des menschlichen Daseins. Das Kamel symbolisiert den Menschen, der sich den großen Dingen zuwendet, der Moral und der Metaphysik, den Menschen, der unter dem Druck der Tradition lebt, der die transzendente Welt als Trost und Anhaltspunkt des Lebens nimmt. Der Löwe bezeichnet den Menschen in der Revolte, den Menschen, der sich gegen alle bisher geltenden höchsten Werte auflehnt, der keine Vormundschaft mehr zu dulden vermag,

" Za I, Von den drei Verwandlungen: KGW VI 1, S. 25-27. Vgl. zum Folgenden Karl Löwith, Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1967), S. 162-165.

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sondern frei leben will, der gegen das verhaßte „Du sollst", das ihm sein Vorgänger hinterlassen hat, siegreich das „Ich will" hervorhebt. Und schließlich repräsentiert das Bild des Kindes den wirklich freien Menschen, den Menschen, der gegen nichts kämpft, der sich nicht einbildet, er sei berufen, die alten Werte durch neue zu ersetzen, sondern sein eigenes Dasein genießt, der nichts anderes wünscht, als das zu sein, was er ist, der schlechthin sagt „Ich bin". 92 Die genannten Verwandlungen des Geistes haben offenkundig epochale Bedeutung. Es sind keineswegs Stufen der biologischen Entwicklung, am wenigsten Privatzustände des individuellen Bewußtseins, sondern geschichtlich bewährte und erkennbare Weltalter. Die beiden ersten sind schon verwirklicht, das dritte ist erst im Entstehen begriffen. Die letzte Gestalt des Geistes ist auffallend gegenüber den beiden, die ihr vorangehen, bevorzugt. Der Übergang zu dieser dritten Gestalt sollte einen Wendepunkt der gesamten bisherigen Geschichte bezeichnen. Ohne viele Umschweife, ja sogar merkbar ironisch, behauptet Nietzsche, daß der Aufstand des modernen Menschen gegen das Christentum ebenso unfruchtbar wie erfolglos sei. Die Glaubenslosigkeit kann nicht durch Vergöttlichung des Menschen versteckt, die Herrschaft von Zwecken und Zielen nicht durch leere Negation ersetzt, die Moral des passiven Duldens durch keinen hochmütigen und rastlosen Aktivismus überwunden werden. Die Befreiung des Menschen ist nur im Zeichen des Kindes möglich, der Mensch kann seine Selbständigkeit nur behaupten, wenn er sich die Welt, der er sich entfremdet hat, wieder aneignet, er kann nur zu sich selbst zurückkommen, wenn er die Unschuld des Kindes wieder gewinnt. In diesem Sinne heißt es im Zarathustra: „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene."93 Hier ist der Gedanke vom Spiel des Kindes in den weltgeschichtlichen Zusammenhang einbezogen. Es besteht kein Zweifel, daß erst das spielende Kind wirklich frei ist, daß erst es wirklich schafft. Ihm gehört das neue Weltalter, da sein Spiel der Ausdruck der höchsten Lebensbejahung ist. Das Kind schafft dadurch, daß es spielt, es lebt frei, insofern es nichts will. Durch sein Spiel bricht der schöpferische Wille,94 der von keinen teleologischen Irrtümern und Vorurteilen belastete Wille, sein Dasein ist von innen bewegt, 92

95 94

Diese Bezeichnung fehlt im Zarathustra als Folie zu jenen beiden anderen. Man findet sie in einer Aufzeichnung aus derselben Periode, die folgendermaßen lautet: „Höher als ,du sollst' steht ,ich will' (die Heroen); höher als ,ich will' steht ,ich bin' (die Götter der Griechen)" ( N 1884: K G W VII 2, 25 (351), S. 101). Za I, Von den drei Verwandlungen: K G W VI 1, S . 2 7 . Vgl. Za II, Auf den glückseligen Inseln: K G W VI 1, S. 111.

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erfüllt von Freude, welche die Gefangenen des moralischen Willens nicht kennen, mögen sie auch ihren Blick auf die bestehenden, überlieferten Formen des moralischen Lebens richten (der Fall des Kamels) oder sich auf moralische Ideen berufen, die angeblich universell gelten, ohne Rücksicht darauf, ob sie irgend jemand irgendwo wirklich beachtet (der Fall des Löwen). Das Kind ist in jedem Augenblick fest an die Gegenwart gebunden, immer ungeteilt anwesend: weder plagt es sich und bereut etwas aus der Vergangenheit, noch hofft es auf etwas in der Zukunft.'5 In dieser Hingabe an den künstlerischen Trieb, die fast zum Selbstvergessen neigt, ist das Geheimnis der menschlichen Freiheit verborgen. Gerade deshalb ist das Kind das Symbol des künftigen Weltalters. In unverhohlener Unzufriedenheit mit dem Idealismus jeder Art und Färbung, von dem er fand, daß er nur scheinbar befreie, da er unumgänglich an die überlieferten Werte, deren Transzendenz er bestreitet, gebunden bleibe, verweist Nietzsche energisch darauf, daß der Mensch nur sein eigener Herr werden kann, wenn er sich ganz dem Spiel hingibt, daß seine Freiheit einen vollen Sinn erst als das „Spiel des Schaffens"96 bekommt. Dieser Hinweis Nietzsches auf die weltgeschichtliche Bedeutug der Figur des spielenden Kindes ist auch in einer anderen Hinsicht sehr charakteristisch. Sie führt uns fast unaufhaltsam dazu, noch eine andere Deutungsmöglichkeit in den Blick zu nehmen. Das Spiel befreit nämlich auch auf eine ganz unmittelbare Weise, aufgrund seiner Selbstgenügsamkeit. Es ist nicht nur etwas Leichtes, was keine Mühe erfordert, sondern auch etwas Nahes, Bekanntes, gleichsam Handgreifliches. Das Spiel hat einen genau bestimmten, jedenfalls wohlabgewogenen Wirkungskreis. Die Teilnehmer am Spiel schwärmen nicht von großen Projekten, die ihren jeweiligen Zustand verbessern sollen, der Schwerpunkt ihrer Aktionen liegt auf kleinen, nicht auf großen Dingen, ihr Blick schweift nicht über entfernte Räume, sondern konzentriert sich auf das Nächste. Und das bedeutet, daß das Spiel ein mächtiger Damm gegen die furchtbare Verwegenheit des Menschen ist, der als Subjekt auftritt: dank ihm wird sich der Mensch seiner Endlichkeit wirklich bewußt. Insoweit der Mensch dem Spiel hingegeben ist, leidet er unter keiner Selbstüberhebung, denkt an keine Wichtigtuerei, das Pathos der Größe ist ihm völlig fremd. Nietzsche sagt zwar nirgends ausdrücklich so etwas, es sind auch keine ähnlichen Formulierungen in seinem Text zu finden, aber anscheinend ist dies die Richtung, in der sich sein Denken bewegt. Übrigens können Nietzsches Worte aus dem zweiten Buch von Menschliches, Allzumenschliches: „Wir ,s

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In seiner zweiten „unzeitgemäßen Betrachtung" betont Nietzsche, daß das Kind „zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft" spielt, d. h. unbelastet durch vergangene Erfahrung und zukünftige Erwartung, und daher „in überseliger Blindheit" ( U B II H L 1: K G W III 1, S . 2 4 5 ) . Vgl. Ν 1 8 7 5 / 7 6 : K G W IV 1, 9 (1), S . 2 2 4 . Za I, Von den drei Verwandlungen: K G W VI 1, S.27.

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müssen wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden"?7 mit Recht gerade als ein entferntes Echo (oder vielleicht als vorherige Ankündigung) seiner radikalen Forderung, die gesamte menschliche Tätigkeit in Spiel umzuwandeln, aufgefaßt werden. Auch wenn dies vielleicht eine ungelegene Ubertreibung ist, auch wenn auf diese Weise vielleicht allzu weit in einer Richtung gegangen wird, ist dies doch noch immer nicht alles, was zu Nietzsches Betrachtung über das Spiel gesagt werden soll. Es bleibt noch ein wichtiges Glied, das wir keinesfalls übergehen dürfen, das wir wenigstens in kürzesten Zügen nachträglich bezeichnen müssen. Einen verläßlichen Stützpunkt für diesen letzten Schritt bietet eine einprägsame und unzweideutige Äußerung Nietzsches. Mag es auch noch so richtig sein, daß er das Spiel vornehmlich aus der praktischen Perspektive betrachtete, im Hinblick auf dessen Brauchbarkeit zu praktischen Zwecken, mit Rücksicht auf die mögliche Umwandlung der menschlichen Praxis nach dessen Vorbild, so liegt es doch fern, daß der Gedanke vom Spiel bei ihm nur praktische Bedeutung hätte. Es wäre wirklich verfrüht und unzutreffend, einen solchen Schluß zu ziehen. In der Tat war dies nur eine, zweifelsohne wichtige und bedeutende, vielleicht sogar die wichtigste und bedeutendste, aber doch nur eine einzige Richtung oder Richtschnur seiner Betrachtung. Es gibt noch eine andere, weniger entwickelte und weniger betonte, aber offensichtlich klar profilierte Richtung, die mit der menschlichen Tätigkeit weder im moralisch-praktischen noch im technisch-produktiven Sinn zu tun hat. Diese Richtung wurde unberechtigt auf Kosten jener ersten vernachlässigt und bezieht sich auf menschliches Denken, oder genauer auf das, was zunächst (und ganz im Einklang mit Nietzsche) Denkstil genannt werden kann.98 Es stellt sich heraus, daß Nietzsche nicht nur am praktischen Bereich festhielt, daß er vielmehr den Sinn und Charakter seiner radikalen Forderung bedeutend erweitert hat; daß er sogar den Spiel-Gedanken vom praktischen auf den theoretischen Bereich übertragen und das Spiel nicht nur als praktisches Vorbild, sondern ebenso auch als theoretisches Ideal, als Ideal des Geistes, aufgefaßt hat. Es sei gleich gesagt, daß Nietzsche nicht nur einmal, an einer einzigen Stelle, die Grenzen des praktischen Bereichs überschritten hat. Es gibt bei ihm einige charakteristische Wendungen, welche die Neigung des Philosophen

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Μ Α II W S 16: K G W IV 3, S. 189. In einem Fragment aus derselben Periode ist der Akzent etwas verändert: „Werden wir, was wir noch nicht sind: gute Nachbarn der nächsten Dinge" ( N 1 8 7 8 / 7 9 : K G W IV 3, 41 (31), S.446). Eine Ausnahme bildet Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie (Köln/Wien: Böhlau, 1980), S. 171. Es sei aber gleich gesagt, daß das Moment der „tänzerischen Leichtigkeit" des Denkens in diesem Buch nur beiläufig berührt wird (obwohl er es glücklich als „das Scherzo des Dionysischen" bezeichnet).

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aufweisen, das Spiel mit dem Denken und nicht nur mit dem Handeln in Verbindung zu bringen, ja sogar dem Denkvermögen selbst ein wesentlich spielerisches Merkmal beizulegen, wenn auch ohne jede nähere Erläuterung. So heißt es ζ. B. an einer Stelle: „Unser Denken ist wirklich nichts als ein sehr verfeinertes zusammengeflochtenes Spiel des Sehens, Hörens, Fühlens [...]"." Es ist nicht zu ersehen, warum hier überhaupt der Ausdruck Spiel und nicht ein anderer, z.B. Tätigkeit, verwendet ist, da dieser äußerst verallgemeinerte und abstrakte Begriff viel zutreffender wäre. Nicht weniger unbestimmt ist der Gebrauch des Ausdrucks Spiel auch in folgenden Texten: „Der Gelehrte aus Spieltrieb. - Seine Ergötzlichkeit ist, Knötchen zu suchen und sie zu lösen: wobei er sich nicht zu sehr anstrengen mag, damit er das Gefühl des Spiels nicht verliert."100 „Warum sollte man nicht metaphysisch spielen dürfen? und ganz enorme Kraft des Schaffens darauf verwenden?"101 „Warum lässt man Metaphysik und Religion nicht als Spiel der Erwachsenen gelten?"102 Es fällt auf, daß an diesen Stellen der Ausdruck Spiel eine beinahe spöttische Bedeutung bekommen hat. Als hätte Nietzsche sowohl die Wissenschaftler dem Hohn aussetzen wollen, die Lust daran finden, die Zeit mit verschiedenartigen lächerlichen Kleinigkeiten zu verschwenden, ohne viel Mühe damit zu haben, als auch die Philosophen, die sich einbilden, ernstlich etwas zu denken, wenn sie sich mit großen Dingen befassen, wenn sie die sogenannten letzten Fragen aufwerfen! Als wäre es Nietzsche einzig daran gelegen, den einen wie den anderen klar zur Kenntnis zu geben, daß ihre Bemühungen und Errungenschaften gleichermaßen unverbindlich seien! Obwohl schon die obigen Zitate beredt zeigen, daß Nietzsche das Wort Spiel noch in einem ganz besonderen, nicht-praktischen Sinn gebraucht hatte, nämlich als Kennzeichen für eine intellektuelle Einstellung, ist dies doch noch nicht das Wichtigste. Dies sind höchstens nur erste Zeichen, nur dürftige Ankündigungen seiner späteren reifen Einsicht. Für das Verständnis der Nietzscheschen Bemühung um den Spiel-Begriff in diesem zweiten, erweiterten Sinn, ist eine Aufzeichnung aus dem frühen Nachlaß,103 die unmittelbar an die früher schon teilweise zitierte anknüpft, in der die radikale Forderung, „alles"104 in Spiel umzuwandeln, gestellt ist, von größter Bedeutung. In dieser Aufzeichnung beruft sich Nietzsche schlicht auf Schopenhauer. Ihm gilt seine Anerkennung, daß er uns an etwas „erinnert" habe, was wir „fast vergessen hatten", bzw. was wir „jedenfalls vergessen wollten", und das ist: daß der 99 100 101 102 103 104

Ν 1880/81: K G W V 1, 6 (433), S.639. Ν 1872/74: K G W III 4, 29 (12), S.239. Ν 1878/79: K G W IV 3, 29 (45), S.377. Ebd., 29 (49), S.378. Ν 1872/74: KGW III 4, 34 (32), S.420. Ebd., 34 (31), S.420.

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Mensch nicht „nur historisch" existiere, daß „das Leben des Einzelnen" nicht darin „seine Bedeutung" haben könne, in irgendeiner Gattung „zu verschwinden", gleichviel ob dies Nation, Staat, Gesellschaft oder Gemeinde, bzw. Familie heiße, daß der Mensch in ,,alle[n] diese[n] Allgemeinheiten" sich selbst „entfremdet" sei und derart seine grundlegende „Aufgabe" verfehle, die darin bestehe, daß jeder allein für sich selbst „das Räthsel des Daseins" lösen müsse. Danach fügt Nietzsche hinzu, daß der Mensch, welcher „das Lügnerische aller dieser Allgemeinheiten" durchschaut habe, nicht mehr bereit sein werde, von diesen Allgemeinheiten etwas zu erwarten, aber jedoch hoffen könne, daß „alle Menschen" einmal richtig „die Lection des Lebens" verstehen würden: „Er wird sich betheiligen müssen am Staat usw., aber ohne leidenschaftliche Ungeduld: von aussen kann ihm ja nichts kommen. Es wird ihm immer mehr zum Spiel. E r ahnt als die seligste Periode, wenn die Völker nur noch zum Spiel Völker und Staaten sind, nur zum Spiel Kaufleute und wissenschaftliche Menschen - mit Überlegenheit über dies alles." 105 Offenkundig war Nietzsche an dieser Stelle schon auf dem guten Wege, den Spiel-Begriff aus dem praktischen in den theoretischen Bereich zu übertragen, ja sogar das Spiel primär als „Ideal des theoretischen Menschen" 1 0 6 aufzufassen. Er verzichtete nicht auf die vorherige Bestimmung des Spiels als einer zweck- und ziellosen Bewegung, sondern gebrauchte sie nur anders, legte ihr einen weiteren Sinn bei. Unverkennbar hat Nietzsche eingesehen, daß das Spiel zunächst und in erster Linie eine geistige Haltung sei, ein Seelenzustand, ein intellektueller Standpunkt. Mit unverhohlener Genügsamkeit fand er, das Spiel charakterisiere wesentlich das befreite Denken, das Denken losgelöst von jeder dogmatischen Abhängigkeit und Gebundenheit, das Denken, das mit Leichtigkeit und Ungezwungenheit mit allem und jedem umgeht. Hier hat Nietzsche fast schon die Gestalt des „freien Geistes" skizziert, der eine gewisse Distanz zu allem behält, ja jede Verabsolutierung ablehnt und alles in Frage stellt, wenn nicht auch die Gestalt des „neuen Philosophen", oder „Philosophen der Zukunft" angedeutet, der auf keine Wahrheit Anspruch erhebt, sondern ganz einfach, also ohne jede Voreingenommenheit und Intoleranz mit verschiedenen Weltperspektiven „experimentirt". 107 Dabei ist allerdings belanglos, ob Nietzsche selbständig zu dieser Einsicht gekommen ist (wie wir zunächst geneigt wären zu denken) oder unter dem Einfluß von Schopenhauer (wie es ihm selbst schien).

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Ebd., 34 (32), S . 4 2 0 . Ebd., 34 (31), S . 4 1 9 . In einem späten Fragment (in dem er offen gestanden hat, daß er „Lust am Neinsagen und Zergliedern" habe) betont Nietzsche ausdrücklich, seine Methode des Experimentierens sei nicht nur bedeutend „weiter" als die gewohnte, sondern auch „gefährlicher" ( N 1 8 8 4 / 8 5 : K G W VII 3, 35 (43), S . 2 5 2 ) . Zu dieser Stelle vgl. Friedrich Kaulbach, a . a . O . , S. 1 7 2 - 1 7 3 .

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Die Umwandlung der gesamten menschlichen Tätigkeit in Spiel

Noch wichtiger ist jedoch eine Stelle aus der Fröhlichen Wissenschaft, deren Ähnlichkeit mit der eben zitierten frühen Aufzeichnung kaum übersehen werden kann. Erst hier hat der Gedanke vom Spiel als geistiger, ja ironisch-skeptischer Haltung einen unzweideutigen Ausdruck bekommen. Diese Stelle befindet sich im vorletzten Abschnitt des fünften Buches, gleichsam am Abschluß des Werkes, und ist evident programmatisch intoniert. In diesem längeren und sorgsam vorbereiteten Abschnitt, und zwar als Bekenntnis von „Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen", als Bekenntnis von „Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft" 108 (in welcher Rolle Nietzsche hier sich selbst gern sieht), ist Folgendes geschrieben: „Ein andres Ideal läuft vor uns her, ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir Niemanden überreden möchten, weil wir Niemandem so leicht das Recht darauf zugestehn: das Ideal eines Geistes der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess; für den das Höchste woran das Volk billigerweise sein Wertmaass hat, bereits so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, wenigstens, wie Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten würde; das Ideal eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben dem ganzen bisherigen Erden-Ernst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren lebhafteste unfreiwillige Parodie hinstellt - und mit dem, trotzalledem, vielleicht der grosse Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger nickt, die Tragödie beginnt... "I09 Hier hat Nietzsche schon vorbehaltlos erklärt, das Spiel gehöre ebenso zum theoretischen wie auch zum praktischen Bereich (oder sogar mehr noch zum ersteren als zum letzteren), das Spiel sei der wesentliche Zug des Geistes, der weit über alles bisher Erprobte und Gesuchte reicht, der nicht nur allem Überlieferten mißtraut, sondern vielmehr über die größten und wertvollsten Errungenschaften der Kultur offen spottet. Ebenso hat Nietzsche auf die Fragwürdigkeit dieses neuen Ideals sorgfältig aufmerksam gemacht und sogar ausdrücklich betont, daß von diesem Ideal die größte Gefahr drohe, daß selbst die Setzung dieses Ideals das Dasein des Menschen im Grunde gefährde. Bedauerlicherweise ist diese zweite Richtung oder Richtschnur des Nietzscheschen Nachdenkens über das Spiel vollkommen im Schatten der ersteren geblieben. Sogar die naheliegendsten Möglichkeiten einer festeren Verbindung mit der ersteren sind nicht hinreichend genutzt worden. In der zweiten Richtung hat das Moment des Ernstes, das allerdings schon bei der Bestim108 109

FW 382: K G W V 2 , S.317. Ebd., S. 318-319.

Die Umwandlung der gesamten menschlichen Tätigkeit in Spiel

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mung des Spiels als praktischen menschlichen Tuns auffallend betont wurde, ein gewaltiges Ubergewicht über das Moment der Leichtigkeit bekommen. Der späte Nietzsche zeigte nicht mehr viel Interesse für das, was er in dieser Hinsicht in der reifen Schaffensperiode vermutet und angedeutet hat. Er bemühte sich nicht, auch nur zu erwähnen, wie er sich jetzt zu diesen Vermutungen und Andeutungen verhalte, geschweige denn, er entwickelte etwas anderes. Gewiß hat er nicht einmal versucht, seine „neue und verwegene Denkweise" 110 unter den Begriff des Spiels zu bringen; es ist ihm gar nicht eingefallen, daß gerade das „Spielerische" die Urquelle oder die Urheimat seiner „Experimentalphilosophie" sein könnte. So hat er die Gelegenheit versäumt, seine nachträglichen Einsichten noch hochmütiger und herausfordernder darzulegen, als er es wirklich getan hat. Möglicherweise würde der späte Nietzsche, hätte er irgendwie den dünnen Faden seiner frühen Betrachtungen über das Spiel als theoretisches Ideal übernommen, wenigstens einigermaßen die dramatische Schärfe und Härte gemildert haben, mit der er auf die Gefahr hindeutete, die von der Setzung eines solchen Ideals droht. Aber schwerlich hätte er die Kluft ganz und gar überbrückt, die zwischen der zweifachen Blickweise auf das Spiel besteht, jener heiteren und wohlgeneigten aus der praktischen Perspektive und dieser düsteren und bekümmerten aus der theoretischen. Es gibt keine Anzeichen, daß er sich dem verweigern würde, was er noch zur Zeit der Arbeit am Zarathustra notiert hat: „Das große Spiel zu spielen - die Existenz der Menschheit dransetzen, um vielleicht Etwas Höheres zu erreichen als die Erhaltung der Gattung." 111 Und lediglich eine solche Verweigerung würde seinem Grundansatz wirklich entsprechen, allein eine äußerste Gelassenheit bei jeder Erwähnung des Spiels wäre im Einklang mit seiner tiefsten Erwartung. Der Schwerpunkt liegt nicht darin, daß der Mensch, der spielt, schrecklich bedroht ist, da er auch das eigene Leben verspielen kann, sondern darin, daß die Umwandlung der gesamten menschlichen Tätigkeit in Spiel die wahrhaft mögliche epochale Alternative bezeichnet, daß dies die geschichtliche Chance der künftigen Menschheit bildet.

110 1,1

Ν 1888/89: KGW VIII 3, 16 (63), S.303. Ν 1882/83-84: KGW VII 1, 10 (26), S.386.

IV. Die Kunst als Organon der Philosophie 1.

So schwer es ist, von irgendeiner „Erkenntnistheorie" oder „Ontologie" Nietzsches zu reden, und namentlich von irgendeiner seiner „praktischen Philosophie", so schwer, wenn nicht unmöglich ist es auch, von irgendeiner „Ästhetik" Nietzsches zu reden. Auch die Anführungszeichen genügen hier nicht, um vor möglichen Mißverständnissen zu schützen. Keine der erwähnten Schuleinteilungen der traditionellen Philosophie paßt zu Nietzsches Werk, auch nicht als ganz vorläufige Bestimmung. Es gibt keine „Ästhetik" Nietzsches, so wie es auch keine „Erkenntnistheorie", „Ontologie" oder „praktische Philosophie" bei ihm gibt. Nietzsche war einfach kein Philosoph im traditionellen Sinn und kann auch nicht Spezialist in diesem Sinn genannt werden. Sein umstürzlerisches Denken kann in keine geprägte Form hineingerpeßt werden, aus ihm können keine traditionellen philosophischen Disziplinen „herauspräpariert" werden. Nicht nur, daß dieses Denken nicht nach einzelnen Fächern gegliedert ist, es entzieht sich sogar prinzipiell jeder solchen Gliederung. Kein Denkschritt Nietzsches ist eine bloße Transmission der alten Aufgaben, auch dann nicht, wenn sein Vollzug direkt daran erinnert. Dies gilt besonders für den Versuch einer „ästhetischen Rechtfertigung" 1 der Welt und des Lebens, innerhalb dessen die Bemühung Nietzsches, sein „positives" philosophisches Programm zu formulieren, vielleicht am stärksten zum Ausdruck gekommen ist. Auch die vorgerücktesten und entferntesten Sektoren der Philosophie Nietzsches haben keinen eigenständigen Wert (geschweige denn, daß sie ein fachphilosophisches Wissen vermittelten), denn erst zusam-

1

Ν 1885/87: KGW VIII 1, 2 (106), S. 111. Vgl. GT Versuch einer Selbstkritik 5: KGW III 1, S. 11, 12. Die berühmte Formulierung Nietzsches „nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt" erscheint erstmals in der Tragödienschrift (GT 5: KGW III 1, S.43; vgl. auch GT 24, S. 148). In etwas veränderter Form wiederholte Nietzsche denselben Gedanken in der Fröhlichen Wissenschaft: „Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich, und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können" (FW 107: KGW V 2, S. 140), was nur die Kontinuität seiner philosophischen Grundausrichtung bestätigt.

Die Kunst als Organon der Philosophie

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mengenommen bestätigen sie die ursprünglich revolutionäre Ausrichtung dieser Philosophie im Ganzen. Insofern hat es keinen Sinn, sich an die alten Einteilungen und Unterscheidungen zu halten, hinsichtlich eines weittragenden Denkversuchs, der so offenkundig allen überlieferten philosophischen Maßstäben und Rücksichten Trotz bietet, der so offensichtlich die Richtung alles bisherigen Philosophierens verläßt. Dadurch würde unwillkürlich der Eindruck erweckt, Nietzsche gehöre letzten Endes doch zur philosophischen Tradition, gegen die er sich so mutig auflehnte, er verbleibe im metaphysischen Rahmen, dessen Beschränktheit und Hinfälligkeit er so brutal brandmarkte, er befasse sich mit denselben Fragen, mit denen sich alle seine philosophischen Vorgänger befaßt haben (obwohl vielleicht auf eine ungewöhnliche Weise, insofern es ihm nicht gelingt, seine scharfen Einsichten und Durchblicke systematisch zu ordnen und zu entwickeln). Um der Gefahr einer solchen Fehldeutung vorzubeugen, aber auch um tatsächliche Mißbräuche zu verhindern, scheint es am besten, darauf zu verzichten, die einzelnen Problembereiche der Philosophie Nietzsches auch nur ganz unverbindlich und provisorisch nach den gewohnten Schulnamen zu benennen. Denn Nietzsche hat selbst die traditionelle Art der philosophischen Fragestellung beiseite gelassen und nicht nur die ganze traditionelle Weise ihrer Beantwortung verworfen. Den eigenen philosophischen Ansatz hat freilich der „Herold und Vorläufer" der „Philosophen der Zukunft"2 weder sorgsam noch vorsichtig genug dargelegt. Seine Neigung zur unkritischen Gleichsetzung einzelner Problembereiche der Philosophie mit den philosophischen Disziplinen als besonderen Wissenschaften, die ihren genau festgelegten Untersuchungsgegenstand haben, verdüstert bedeutend den Sinn seines Unterfangens. Gegen jede Erwartung beharrte Nietzsche an einigen Stellen bei der traditionellen Einteilung der Philosophie in verschiedene Disziplinen, als ob er in dieser Einteilung etwas Selbstverständliches und nicht etwas historisch Gewordenes gesehen hätte. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition (der er in seinem umfangreichen Werk bei weitem die höchste Aufmerksamkeit und den größten Raum widmete) hat er keine Disziplin unbeachtet gelassen, er „beschäftigte" sich vielmehr mit jeder von ihnen. Insbesondere scheute er die „Ästhetik" nicht. Nicht nur, daß viele seiner Aphorismen und Aufzeichnungen den Titel „Aesthetica" 3 tragen (an einer Stelle in deutscher Wendung: „Aus meiner Ästhetik"*), vielmehr lenkte Nietzsche sogar nachdrücklich die Auf-

2 3 4

JGB 44: K G W VI 2, S.56. Z . B . Ν 1887/88: KGW VIII 2, 10 (167), S.220; 10 (168), S.221. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 19 (4), S.345. Vgl. Ν 1887/88: KGW VIII 2, 9 (6), S.5.

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Die Kunst als Organon der Philosophie

merksamkeit auf seinen „Beitrag" 5 zu diesem Zweig der Philosophie. Natürlich dürfen diese sporadischen Äußerungen nicht wörtlich genommen werden. Besonders dürfen sie nicht getrennt vom breiteren Zusammenhang seiner wirklichen Denkdurchbrüche und Errungenschaften gedeutet werden. Sonst würde daraus hervorgehen, daß Nietzsche sich leidenschaftlich für die Bewahrung der philosophischen Tradition eingesetzt habe, die er eigentlich entschieden in Frage gestellt hat. Obwohl er die überlieferte Schuleinteilung der Philosophie berücksichtigte und irgendwie deren Bestand gelten ließ, bildete sich Nietzsche nicht ein, daß fachwissenschaftliche Arbeit in der Philosophie möglich sei. Er strebte nicht danach, irgendeine traditionelle philosophische Disziplin abermals zu begründen und weiter zu entwickeln. 6 Ihm war lediglich daran gelegen, den Sinn der philosophischen Fragen, die sich vermutlich in deren Grundlagen befinden, kritisch zu erläutern und derart einen anderen philosophischen Anfang vorzubereiten, d. h. einer neuen, wesentlich andersartigen Form oder Weise des philosophischen Weltverständnisses den Weg zu öffnen. Aber obwohl kein Teil oder Zweig der Philosophie Nietzsches ein „ästhetisches" Vorzeichen hat - und es kann ihm nachträglich auch nicht beigelegt werden, da der Verfechter der neuen Denkweise überhaupt nicht danach trachtete, eine neue philosophische Disziplin der „Ästhetik" zu schaffen bedeutet dies keineswegs, daß es keine Äußerungen von ihm gibt, die für die „Ästhetik" relevant wären. Jeder, der sich dafür interessiert, kann bei ihm eine Fülle von wertvollen und bedeutenden Anregungen zur Verbesserung und Förderung des vorhandenen Zustands in diesem Zweig der Philosophie finden. Gewissermaßen ist die Philosophie Nietzsches eine unumgängliche Ergänzung und Berichtigung der überlieferten „ästhetischen Theorien" 7 und nicht nur eine fürchterliche Herausforderung ihrer verdünnten metaphysischen Begründungen. Allein damit ist ihre Bedeutung keineswegs erschöpft. Solch eine nachträgliche Verbindung mit der philosophischen Tradition (was eigentlich eine Zustimmung zu den Schulbedürfnissen und -zielen bedeutet), ist auch nicht genügend gerechtfertigt, geschweige denn, daß dies die einzig mögliche Art wäre, die eigenwilligen Betrachtungen Nietzsches über das Wesen der Kunst unter den Bedingungen des künstlerischen Schaffens in der heutigen hermeneutischen Situation auszuwerten. 5 6

7

So ζ. B. GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 10: KGW VI 3, S. 111. Nicht zufällig heißt es an einer Stelle: „Zunächst thut die absolute Scepsis gegen alle überlieferten Begriffe noth (wie sie vielleicht schon einmal ein Philosoph besessen hat - Plato: natürlich (hat er) das Gegentheil gelehrt" (N 1884/85: KGW VII 3, 34 (195), S.207. Obwohl sie noch immer nicht auf entsprechende Weise in den modernen Handbüchern behandelt wurde. So ist sie z.B. ganz knapp und oberflächlich dargestellt in: Katharine C.Gilbert and Helmut Kuhn, A History of Esthetics (Bloomington: Indiana University Press, 2 1954), S. 469-476.

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Schwerlich können in dieser Hinsicht irgendwelche Bedenken entstehen, unabhängig davon, wie sonst der „Beitrag" Nietzsches zur Ästhetik als besonderer philosophischer Disziplin erfaßt und beurteilt wird. Man muß es endlich einmal offen sagen: die Philosophie Nietzsches ist in höchst möglichem Maße „ästhetisch" ausgerichtet und inspiriert (insofern sie alle ihre Hoffnungen und alle ihre Erwartungen mit der Kunst verbindet), sie ist vor allem und in erster Linie Philosophie der Kunst, und zwar nicht durch etwas ihr Nebensächliches oder zufällig Beigefügtes, sondern in ihrem tiefsten Kern. 8 Sie ist dies, insofern sie etwas mehr bedeutet als bloße Kritik der Metaphysik, insofern sie wirklich danach trachtet, die Metaphysik zu überwinden. Schon die Art und Weise, wie sich Nietzsche dem Phänomen der Kunst zuwendet, enthüllt unzweideutig diese Grundausrichtung seiner Philosophie. Keine eng fachwissenschaftliche Beschränktheit kennzeichnet diese Wendung. Anstatt das Kunstwerk als selbständige ästhetische Totalität, unabhängig von seinem Lebensbezug, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, legte Nietzsche den größten Nachdruck gerade auf diesen Bezug: er sah die Kunst „unter der Optik des Lebens"? er fand, daß die Kunst „wie eine Naturgewalt im Menschen auftritt", 10 er faßte das Leben selbst als das „künstlerische Grundphänomen"11 auf. Man kann vorbehaltlos sagen, daß Nietzsche die Kunst in den Rang eines kosmischen Prinzips hob, daß er in ihr nicht mehr und nicht weniger als das Grundgeschehen alles Seienden erblickte, daß er auf ihrer Spur und unter ihrem Schirm zuallererst den Sinn des Seins selbst erahnte.12 Deshalb ist bei ihm die Philosophie auf die Kunst verwiesen. Die Kunst ist nicht nur ein Gegenstand, an dem die Philosophie ihre Stärke erprobt, sondern auch ein Medium in dem die Philosophie zur Besinnung auf ihre eigene Aufgabe kommt.13 Die Philosophie beschäftigt sich mit der Kunst vorzugsweise mit Rücksicht auf sich selbst, d. h. zum eigenen Selbstverständnis. Es handelt sich eigentlich nicht darum, daß die Philosophie der Kunst sagt, worin ihr Wesen

' Vgl. Walter Schulz, „Funktion und Ort der Kunst in Nietzsches Philosophie", NietzscheStudien 12 (1983), S. 1 - 3 1 . Daß die „Besinnung auf die Kunst" von entscheidender Bedeutung für die Philosophie Nietzsches ist, besonders für deren späte F o r m , in der der „Wille zur Macht" als „das Prinzip einer neuen Wertsetzung" vorkommt, daß diese Besinnung aber keine ursprüngliche Kraft hat, daß sie sich vielmehr „in der überlieferten Bahn" bewegt, d . h . im Rahmen der Ästhetik und somit auch der Metaphysik bleibt, betont ausdrücklich Martin Heidegger in seinem Buch Nietzsche I (Pfullingen: Neske, 1961), S. 91. Eine Rekonstruktion der Nietzscheschen Philosophie als vorzüglich ästhetischer Theorie versucht J . P. Stern, A Study of Nietzsche (Cambridge: Cambridge University Press, 1979). 9 G T Versuch einer Selbstkritik 2 : K G W III 1, S . 8 . 10 Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W VIII 3, 14 (36), S.27. 11 Ν 1884: K G W VII 2, 25 (438), S. 125. 12 Vgl. Eugen Fink, Nietzsches Philosophie (Stuttgart: W . Kohlhammer, 3 1973), S. 1 6 - 1 7 . 13 So auch Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie (Köln/Wien; Bählau, 1980), S . 2 8 5 .

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besteht (obwohl dies unumgänglich ist), sondern vielmehr darum, daß die Kunst der Philosophie zeigt, was ihre Aufgabe ausmacht (wenn so etwas überhaupt möglich ist).14 Denn die Kunst ist der Ort der höchsten Betätigung der menschlichen schöpferischen Kraft, und das ist von paradigmatischer Bedeutung für die Philosophie. Nietzsche war so von der Ubermacht der Kunst über die Philosophie überzeugt, wie auch von der Notwendigkeit, die Philosophie nach dem Vorbild der Kunst umzuwandeln, daß er es überhaupt nicht für nötig hielt, irgendetwas besonders zu beweisen. Es schien ihm, daß dies letztere unumgänglich aus dem ersteren folge und daß jenes erstere selbstverständlich sei.15 Die Kunst ist mehr wert als die Philosophie, weil sie im Leben tief verwurzelt ist, weil sie weder Beschmutzung noch Verleumdung irgendeiner seiner diesseitigen Form gestattet, weil sie jede Möglichkeit der Entgegensetzung der weltlichen Interessen und Rücksichten ausschließt. „Die Künstler sind die geborenen Lobredner der Dinge", sagt Nietzsche. 16 Es gibt keine Kunst, und es kann keine geben, welche das Seiende verdächtigt und verschmäht. Die Kunst kann nicht anders, als die Welt und das Leben zu bejahen, dies ist ein untrennbarer Bestandteil ihres Wesens. „Die Kunst ist wesentlich Bejahung, Segnung, Vergöttlichung des Daseins", betont Nietzsche. 17 In dieser Hinsicht besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen ihr und der Philosophie. Diese ist, als Metaphysik, immer geneigt, die Welt und das Leben zu verneinen und

Auf der Spur dieser Bemühung Nietzsches und sogar ausdrücklich an sie erinnernd, hat neuerdings Theodor W.Adorno nach einer ganz radikalen Lösung gegriffen: er nahm nämlich die künstlerische Erfahrung als Vorbild der philosophischen Reflexion und erklärte die „ästhetische Theorie" als höchste Form des heute noch einzig möglichen Philosophierens. Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften 7 (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1970) bes. S.507. Vgl. auch S. 104, 423. 15 Auf die Notwendigkeit und Möglichkeit der Selbstbesinnung der Philosophie mittels der Kunst hat Nietzsche schon in der Geburt der Tragödie hingewiesen, z.B. an jener Stelle, wo er das Sokratische Dilemma hinsichtlich der Musik erwähnte: „Jenes Wort der Sokratischen Traumerscheinung ist das einzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur: vielleicht - so musste er sich fragen - ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch sofort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiger Correlativum und Supplement der Wissenschaft?" (GT 14: KGW III 2, S. 92). Ähnliches hat Nietzsche am Anfang der Schrift Menschliches, Allzumenschliches angedeutet: „Von der Kunst aus kann man dann leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft übergehen" (ΜΑ I 27: KGW IV 2, S. 44). Aber erst der späte Nietzsche hat die ganze Schwierigkeit, vor der er sich fand, deutlich gesehen. „Uber das Verhältniß der Kunst zur Wahrheit bin ich am frühesten ernst geworden: und noch jetzt stehe ich mit einem heiligen Entsetzen vor diesem Zwiespalt. Mein erstes Buch (war) ihm geweiht; v ^die Geburt der Tragödie glaubt an die Kunst auf dem Hintergrund eines anderen Glaubens: daß es nicht möglich ist mit der Wahrheit zu leben; daß der ,Wille zur Wahrheit' bereits ein ' Symptom der Entartung ist" (N 1888/89: KGW VIII 3, 16 (40), S.296). 16 Ν 1876/77: KGW IV 2, 23 (101), S.536. 17 Ν 1888/89: KGW VIII 3, 14 (47), S.33. 14

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abzulehnen, da sie äußerst mißtrauisch gegen alles Sinnliche und Individuelle ist.18 Ihr höchster Gedanke ist eine andere (jenseitige) Welt und ein anderes (geistiges, d.h. entsinnlichtes, unkörperliches) Leben. Nietzsche sagt: „Die eigenthümlich weltverneinende, lebensfeindliche, sinnenungläubige, entsinnlichte Abseits-Haltung der Philosophen, welche bis auf die neueste Zeit festgehalten worden ist und damit beinahe als Philosophen-Attitüde an sich Geltung gewonnen hat, - sie ist vor allem eine Folge des Nothstandes von Bedingungen, unter denen Philosophie überhaupt entstand und bestand: insofern nämlich die längste Zeit Philosophie auf Erden gar nicht möglich gewesen wäre, ohne eine asketische Hülle und Einkleidung, ohne ein asketisches Selbst-Mißverständniss."" Die Philosophie ist also im Grunde dekadent, pessimistisch, nihilistisch. So war wenigstens alle bisherige Philosophie. Offenkundig hat Nietzsche die Philosophie mit gutem Grund auf die Kunst verwiesen. Er tat dies im vollen Bewußtsein der epochalen Bedeutung dieses Schrittes. Dies war keine rein persönliche Neigung, der er zufällig unterlegen ist. So etwas zeigt sich noch heute als offene geschichtliche Möglichkeit. Es genügt, lediglich an Heidegger zu erinnern, der in dieser Hinsicht Nietzsche gleichsam auf Schritt und Tritt gefolgt, wenn nicht sogar noch weiter als Nietzsche gegangen ist.20 Allein die Kunst kann die Philosophie vor der nihilistischen Verführung retten, sie vom falschen Weg abhalten, von dem unausweichlichen Fall ins Nichts aufhalten, weil die Kunst so unzweideutig dem Leben zugewendet ist. Trotz seines großen Mißtrauens gegen die romantische Kunst seiner Zeitgenossen, war Nietzsche fest überzeugt, die Kunst sei der einzig wirkliche Damm gegen den Nihilismus, es könne nur vermittels der Kunst die nihilistische Katastrophe überwunden werden. „Die Kunst als Gegenbewegung" (d.h. Bewegung gegen den Nihilismus) vermerkte Nietzsche mehrmals in seinen letzten Arbeitsheften,21 um an einer Stelle hinzuzufügen: „Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Vgl. Ν 1884/85: KGW VII 3, 37 (12), S. 313: „In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr Recht als allen Philosophen bisher: sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht, sie liebten die Dinge ,dieser Welt', - sie liebten ihre Sinne." " GM III 10: KGW VI 2, S. 378. 20 Daß Heidegger nirgends offen eingestanden hat, was er in dieser Hinsicht Nietzsche verdanke, sondern sogar danach strebte, sich von seinem großen Vorgänger scharf abzugrenzen, in der Überzeugung, daß das Nietzschesche Programm der Umwandlung der Philosophie nach dem Vorbild der Kunst hoffnungslos in die Metaphysik verstrickt sei (vgl. besonders Nietzsche I, S. 144), bestätigt nur noch stärker die Abhängigkeit Heideggers, trotz aller Eigentümlichkeit, um nicht zu sagen Eigenwilligkeit seiner Bemühung um die Uberwindung der überlieferten philosophischen Sprache mittels der hermeneutischen Praxis der Kunst, d. h. durch Berufung auf den dichterischen Charakter alles Denkens. Näheres über den Heideggerschen Versuch bei: Henri Birault, „Thinking and Poetizing in Heidegger" in: Joseph J. Kockelmans (Hrsg.), On Heidegger and Language (Evanston: Northwestern University Press, 1972), S. 147-168. 21 Ν 1888/89: KGW VIII 3, 11 (14), S. 16; 14 (35), S.27; 14 (47), S.33; 14(117) S.85; 14 (119), S. 88; 14 (170), S. 148. 18

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Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence."22 Es ist vollkommen unwichtig, daß Nietzsche schon in seiner frühesten Jugend von der Kunst hingerissen war, bevor er überhaupt eingesehen hatte, daß der nihilistische Untergang der höchsten bisherigen Werte eine ausgemachte Sache sei. Denn die spätere reife Einsicht hat diese frühe Begeisterung nicht nur bekräftigt, sondern auch völlig gerechtfertigt. Schon dadurch allein, daß er die Kunst hoch über die Philosophie stellte, setzte sich Nietzsche offen der philosophischen Tradition entgegen. Man kann sagen, daß er gewaltig mit deren Vorurteilen gegen die Kunst gebrochen und seinen eigenen Weg eingeschlagen habe. Denn in der Tradition spielte die Kunst immer eine untergeordnete Rolle gegenüber der Philosophie. Nicht nur, daß sie nicht selbständig war, sie hing vielmehr völlig von der Philosophie ab. Diese blickte auf sie vorzugsweise mit Rücksicht auf die Wahrheit, also in bezug auf die eigene Sache. Es wurde angenommen, daß zwischen Kunst und Philosophie eine ursprüngliche Verwandtschaft bestehe, daß sich beide auf gemeinsamem Boden befänden und bewegten, daß beide bestrebt seien, das Wesentliche zu erkennen und darzustellen.23 Auf diese Weise hat die Kunst das Recht aufs Leben bekommen, sogar eine hervorragende Stellung neben der Philosophie erhalten, aber auf Kosten der Verfälschung ihres Wesens infolge ihrer Verkleidung in etwas anderes. Indem sie die Kunst in ihre unmittelbare Nähe brachte, indem sie diese sogar zu ihrem vertraulichsten Mithelfer machte, hat die Philosophie die Eigentümlichkeit des künstlerischen Schaffens völlig vernachlässigt, wenn nicht auch völlig unterschätzt. Mag die Philosophie auch auf maßgebende Weise die Wahrheit verkünden, insofern sie dem gesamten menschlichen Denken und Handeln einen festen Rahmen setzt, die Wahrheit ist doch nicht in ihrer ausschließlichen Kompetenz. Die Kunst ist keineswegs nur ein unverbindliches Spiel der Gestalten, sondern ebenso ein Medium des Wahrheitsgeschehens. Zwar bleibt die Wahrheit der Kunst bedeutend hinter der Wahrheit der Philosophie zurück, da der Allgemeinbegriff, den die Philosophie gebraucht, der Wahrheit angemessener ist als die Sinnbilder und Symbole, die allein der Kunst zur Verfügung stehen. Aber obwohl die Kunst mit ihrer sinnlichen Sprache niemals die ganze Wahrheit

22 23

Ν 1888/89: K G W VIII 3, 17 (3), S.319. Vgl. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 11 (415), S.436. Diese Ansicht, daß sich die Kunst auf der gleichen Ebene wie die Philosophie befinde, insofern sie ebenfalls nach Erkenntnis strebe, insofern sie eine Form der Erkenntnis darstelle, nannte Nicolai Hartmann einen „verhängnisvollen Fehler" der gesamten älteren Ästhetik. Vgl. seine Ästhetik (Berlin: W. de Gruyter, 21966), S. 4. Zu weiteren Ausführungen im Text vgl. Dieter Jähnig, „Philosophie und Kunst", in: Kulturwissenschaften. Festgabe für Wilhelm Perpeet (Bonn: Bouvier/Grundmann, 1980), S. 229-244.

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sagen kann, leuchtet diese doch durch sie unaufhaltsam hindurch. 24 Als höchster Zweck und reinste Ausprägung der künstlerischen Inspiration vermittelt die Schönheit immer die Wahrheit, sei es auch eine unvollständige und unvollkommene. Insofern ist die Kunst in gewissem Sinne immer eine Vorgestalt oder eine Vorstufe der Philosophie. Durch seine Erhebung der Kunst über die Philosophie hat aber Nietzsche nicht nur diese überkommene unterschätzende Haltung, diese tief eingewurzelte Voreingenommenheit der ganzen philosophischen Tradition dem künstlerischen Schaffen gegenüber in Frage gestellt. Schon der Anspruch der Philosophie gegenüber der Kunst, deren Anliegen, den eigenen Maßstab auf die Kunst anzuwenden, die Stellung und Aufgabe der Kunst in der Gesamtheit der menschlichen Lebensverhältnisse zu bestimmen, beunruhigte ihn freilich sehr. Viel schärfer und entschiedener aber als dieser mittelbaren und stillschweigenden Entwertung des Künstlerischen als solchen, dieser Reduzierung der Kunst auf die Rolle eines bloßen Anhängsels der Philosophie, setzte sich Nietzsche der unmittelbaren und ausdrücklichen Verurteilung der Kunst entgegen, die Piaton im Namen der Philosophie vollzogen hat. Er ließ keinen Platz zum Zweifel, daß ihm vorzugsweise gerade die Verurteilung Piatons vor Augen schwebte, von der er meinte, sie sei die schärfste und radikalste Verurteilung der Kunst, die bis jetzt überhaupt ausgesprochen wurde. 25 Kein Wunder, daß Nietzsche Piaton als seinen Hauptgegner wählte! Denn dieser hat wirklich der Kunst ein weit größeres Unrecht angetan als alle anderen Philosophen zusammen, ungeachtet dessen (oder vielleicht gerade deswegen), daß er als erster und einziger ihr Wesen richtig erkannt hat. Im Unterschied zu allen anderen Vertretern der philosophischen Tradition (ausgenommen vielleicht nur Kant), die bemüht waren, die Unterschiede zwischen Kunst und Philosophie zu verkleinern oder zu verbergen, hat Piaton diese drastisch ans Licht gebracht. Er hat die Philosophie grundsätzlich von der Kunst getrennt und nicht nur den künstlerischen Ausdruck der philosophischen Aufgabe untergeordnet, er hat gezeigt, daß die Kunst nichts Gemeinsames mit der 24

25

Sehr einprägsam ist die Hegeische Bestimmung des Schönen als „sinnlichen Scheinens der Idee". Vgl. G . W . F . H e g e l , Vorlesungen über die Ästhetik I, Sämtliche Werke 12 (Jubiläumsausgabe) (Hermann Glockner) (Stuttgart-Bad Cannstatt: G.Fromann, 4 1964) S. 160. Auf die Notwendigkeit der „Korrektur" dieser Hegeischen Bestimmung verweist N. Hartmann, ebd., S. 77-79. Vgl. „Die Kunst in der gerade die Lüge sich heiligt, der Wille zur Täuschung das gute Gewissen zur Seite hat ist dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft: so empfand es der Instinkt Plato's, dieses grössten Kunstfeindes, den Europa bisher hervorgebracht hat" (GM III 25: KGW VI 2, S.420). Zu dieser Stelle vgl. ebenfalls: „Plato hat im Grunde den Schein, als Artist, der er war, dem Sein vorgezogen: also die Lüge und Erdichtung der Wahrheit, das Unwirkliche dem Vorhandenen, - er war aber so sehr vom Werthe des Scheins überzeugt, daß er ihm die Attribute ,Sein' .Ursächlichkeit' und ,Gutheit', Wahrheit, kurz Alles Übrige beilegte, dem man Werth beilegt" ( N 1885/87: KGW VIII1, 7 (2), S.261).

1%

Die Kunst als O r g a n o n der Philosophie

Wahrheit hat, daß die Kunst überhaupt nicht danach strebt, sich des Seins zu bemächtigen, daß ihr eigentliches Element der Schein ist und nicht die Wahrheit. 26 Wenn gesagt wurde, daß Nietzsche sich vor allem und in erster Linie Piaton und seiner Auffassung der Kunst widersetzte (und nicht etwa Aristoteles oder Hegel und deren ästhetischen Anschauungen), dann ist dies nicht so zu verstehen, als konzediere man hier schon von vornherein, daß zwischen Piatons Auffassung und der Auffassung anderer großen Philosophen der Vergangenheit eine unüberbrückbare Kluft bestehe. Derlei kommt nicht in Betracht, schon aus dem einfachen Grund, weil Piaton sich keineswegs mit der Verzerrung der philosophischen Wahrheit in der Kunst zufriedengeben konnte, weil er es schlechthin nicht vermochte, den Anspruch des künstlerischen Scheins auf absolute Selbständigkeit gelten zu lassen.27 Trotz all ihrer Eigentümlichkeit war die platonische Auffassung doch nicht so unabhängig, in aller und jeder Hinsicht von den anderen abzuweichen. In der Tat ist deren gegenseitige Verbindung und Verflechtung mehr als offenkundig. Zweifellos ist ihnen wenigstens der Ausgangspunkt gemeinsam, wenn nicht auch vieles andere. Und das ist die Grundüberzeugung, daß die Kunst sich dem Maßstab der Wahrheit unterordnen müsse, daß der Maßstab der Wahrheit auch für die Kunst verbindlich sei.28 Das Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie, das Piaton am Anfang der philosophischen Tradition bestimmt hat - indem er als selbstverständlich annahm, die Philosophie sei berufen, über die Kunst aus der Perspektive ihrer Bedürfnisse und Aufgaben zu urteilen - , ist im Grunde unverändert geblieben bis zum Zusammenbruch des deutschen Idealismus und dem Untergang der philosophischen Ästhetik in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. In der gesamten Tradition blickte die Philosophie von oben herab auf die Kunst, da sie sich das Recht anmaßte, dieser autoritär vorzuschreiben, was sie sein solle und könne. 26

Vgl. Plat. Rep. 377b—398 b; 5 9 5 a - 6 0 8 b . Für eine nähere Kenntnis der Platonischen Kunstauffassung ist aufschlußreich das Buch: Ernesto Grassi, Die Theorie des Schönen in der Antike (Köln: D u M o n t Schauberg, 1962). Daß die Platonische Kritik vor allem die Kunst des tragischen Mythos trifft, d . h . die Kunst, welche die Welt als einen ewigen Kampf von entgegengesetzten Elementen darstellt, und nur teilweise auch die verwandelte Kunst, welche Piaton in seinem idealen Staat zuläßt, d. h. die Kunst, welche die Welt als den Sieg des Lichtes über die Finsternis darstellen soll, dazu vgl. Eugen Fink, Metaphysik der Erziehung im Weltverständnis von Plato und Aristoteles (Frankfurt/M: V. Klostermann, 1970), S. 9 2 - 9 3 ,

27

Vgl. Günter Rohrmoser, Herrschaft und Versöhnung. Ästhetik und die Kulturrevolution des Westens (Freiburg: Rombach, 1972), S . 5 1 : „Zwar ist der Streit zwischen Philosophie und Dichtung alt, wie Piaton im zehnten Buch der ,Politeia' versichert, aber tödlich wird er erst bei Piaton und dank Piaton." Insofern kann man mit Recht über den „heteronomen" Charakter aller bisherigen „Ästhetiken" sprechen. Vgl. Rüdiger Bubner, „Uber einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik", Neue Hefte für Philosophie 5 (1973), S. 3 8 - 7 3 , hier S . 6 0 , 63.

100-101.

28

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Das Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie, das so lange fast unantastbar gegolten hatte, hat Nietzsche von Grund aus umgekehrt. Dies tat er sowohl wegen der Kunst, als auch wegen der Philosophie. Nicht nur, daß er die Kunst von ihrer Abhängigkeit von der Philosophie befreite (wobei er freilich ihre spätere Entwicklung, d. h. die Ankunft der Moderne vorhersagte, wenn nicht auch schon vorbereitete), er hat sogar das Schicksal der Philosophie selbst mit der Kunst verbunden. Während vor ihm die Philosophie leichtfertig angenommen hatte zu wissen, was Kunst sei, und dabei die Augen vor all jenem verschlossen hielt, was diese so geheimnisvoll und wundersam macht, ist die Philosophie seit Nietzsche auch sich selbst gegenüber mißtrauisch geworden und hat erst langsam von der Kunst zu lernen begonnen, daß sie selbst einmal etwas anderes werden könne, als sie bisher war. „Die Kunst [ist] mehr werth als die Wahrheit'", schrieb Nietzsche am Ende eines seiner späten Kommentare über Die Geburt der Tragödie," nachdem er vorher festgestellt hatte, daß „der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln tiefer, ,metaphysischer' als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein" ist.30 Und an einer anderen Stelle im Nachlaß aus derselben Periode, offenkundig im Zusammenhang mit der vorherigen Anmerkung, daß die Künstler „den Schein höher schätzten als die Realität",31 erklärte Nietzsche unumwunden: „Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn."32 Aus etwas früherer Zeit ist seine folgende Erklärung: „Wir haben Lüge nötig, um über diese Realität, diese ,Wahrheit' zum Sieg zu kommen, daß heißt, um zu leben. "33 Nietzsche hat auf diese Weise offensichtlich auch den Maßstab der Wahrheit selbst bestritten und nicht nur die Berechtigung seiner Anwendung auf die Kunst. Deutlich gab er zur Kenntnis, daß es keinen Sinn mehr habe, die Grundunterscheidung zwischen Wahrheit und Schein aufrechtzuerhalten, durch sie könne das Wesen der Kunst keineswegs angemessen bestimmt werden, es sei zu Ende, nicht nur mit dem traditionellen Verständnis der Kunst, sondern auch mit dem traditionellen Seinsverständnis. Denn der Schein der Kunst ist kein eingebildeter, sondern ein wirklicher Schein. Sein Bestand kann nicht durch den puren Hinweis auf die Wahrheit als seine legitime Instanz umgangen und noch weniger durch nachträgliche Berufung auf das Sein, das sich angeblich dahinter verberge, beseitigt werden. Gegen den Maßstab der Wahrheit, auf dem alle traditionelle Ästhetik gründete, stellte Nietzsche den Maßstab des „Lebens". Diesen alternativen 29 30 51 32 33

Ν 1888/89: KGW VIII 3, 14 (21), S. 19. Ebd., 14 (18), S. 18. Vgl. 14 (24), S.21. Ebd., 14 (168), S. 147. Ebd., 16 (40), S. 296. Ν 1887/88: KGW VIII 2, 11 (415), S.435.

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Maßstäb verwendete er schon in seiner Jugendschrift Die Geburt der Tragödie, in der er zunächst auf das Phänomen des Künstlerischen stieß,34 um bedeutend später, im Vorwort zur zweiten Ausgabe derselben Schrift, unter dem Titel „Versuch einer Selbstkritik" dessen Gültigkeit ausdrücklich zu bestätigen.35 So erweist sich, daß die „Steigerung des Lebens" 36 die einzige und höchste Instanz der Kunst sei, daß die Bedeutung und der Wert der Kunst allein „unter der Optik des Lebens"" erfaßt und beurteilt werden könne. Mit Recht kann man sagen, daß die Formel „unter der Optik des Lebens" (die erst im erwähnten Vorwort vorkommt) das Grundmotiv des gesamten Nietzscheschen Denkens bezeichnet, so daß sie nicht nur einen Schlüssel zum Verständnis seiner Kunstansicht darstellt. Allein man muß sich dabei von jeder Vereinfachung hüten. Nietzsches Begriff des Lebens ist hoch spekulativ und kann nicht auf eine platte biologische Bedeutung reduziert werden,38 obwohl Nietzsche selbst häufig dessen intendierten Sinn unnötig verdeckte, namentlich in seinen polemischen Auseinandersetzungen. Dieser Begriff ersetzt eigentlich den traditionellen Begriff des Seins, insofern durch ihn eine neue ontologische Erfahrung angedeutet und bezeichnet wird. In seinem Rahmen wird die ganze Welt als ein allumfassendes Lebewesen, als ein unaufhörliches, unvollendetes Geschehen, als ein dionysisches Spiel des ewigen Schaffens und Zerstörens konzipiert. Diesen alternativen Maßstab nannte Nietzsche später „Wille zur Macht", 39 jedoch erschwerte dieser zweite Titel bekanntlich noch mehr das Verständnis seines eigentlichen Sinnes. Obwohl Nietzsche scharf gegen Piaton polemisierte und auch die schwersten Anklagen nicht scheute, behielt er doch ernstlich die platonische Einsicht in das Wesen der Kunst im Sinne, viel mehr als es auf den ersten Blick scheint und als er es überhaupt durfte und konnte. Die Auffassung Nietzsches ist in gewissem Sinn gerade eine radikale Konsequenz dieser Einsicht. Sie ist so radikal, daß sie sogar den metaphysischen Entwurf selbst überschreitet, der G T 3, 16, 2 5 : K G W III 1, S.32, 104, 151. Vgl. Ν 1869/72: K G W III 3, 7 (152), S.206: „Das Leben nur möglich durch künstlerische Wahnbilder." 35 G T Versuch einer Selbstkritik 2: K G W III 1, S. 8. 36 Der junge Nietzsche sagt öfter „Verklärung" oder „Verherrlichung" des Lebens (vgl. G T 2 4 : K G W III 1, S. 147). Die Formulierung „Steigerung des Lebens" oder „Erhöhung des Lebensgefühls" in Verbindung mit der Kunst ist späteren Datums. Vgl. ζ. Β. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 9 (102), S. 58. 37 G T Versuch einer Selbstkritik 2: K G W III 1, S. 8. Vgl. J G B 11: K G W VI 2, S.20. 38 Daß die Bezeichnung „Biologismus" zur Nietzscheschen Lebensauffassung nicht passe, weil diese angeblich wesentlich metaphysisch ausgerichtet und gefärbt sei, erklärt ausführlich Martin Heidegger, a. a. Ο., I, S. 517-527. " Der Ausdruck „Wille zur Macht" erscheint zum ersten Mal in der Schrift Also sprach Zarathustra. Vgl. Za I, Von tausend und Einem Ziele: K G W VI 1, S. 70, ebenso Za II, Von der Selbst-Uberwindung, S. 142. Über Nietzsches „Entdeckung des Willens zur Macht" vgl. den gleichnamigen Abschnitt in: Walter Kaufmann, Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist (Princeton, N . J . : Princeton University Press, 4 1974), S. 178-207, bes. S . 2 0 0 - 2 0 1 . 34

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diese Einsicht ermöglicht. Auch Nietzsche ging nämlich davon aus, daß die Kunst auf die Produktion des Scheins aus ist, daß der Schein ihr eigentliches Element und die Beschäftigung mit ihm dem künstlerischen Schaffen eigentümlich ist. Zarathustras Geständnis: „die Dichter lügen zuviel",40 klingt fast wie eine buchstäbliche Anführung des platonischen Textes.41 Allein Nietzsche begab sich, im Unterschied zu Piaton, in eine ganz andere Richtung, auf ganz unterschiedliche Weise gebrauchte er diese Vorwegnahme, ganz anders deutete er diesen charakteristischen Zug der Kunst. Er hörte auf, den Schein als Gegensatz zur Wahrheit zu betrachten, er zerriß jede Verbindung zwischen Schein und Wahrheit, er ließ dessen Anspruch auf vollkommene Selbständigkeit gelten. Nietzsche verheimlichte nicht, daß er hier auf eine fast unüberbrückbare Schwierigkeit gestoßen sei. Er wußte sehr wohl, daß er sich auf der Grenze dessen befand, was man überhaupt denken und worüber man sinnvoll reden kann. Nicht zufällig sagt er an einer Stelle: „Es giebt verhängnißvolle Worte, welche eine Erkenntniß auszudrücken scheinen und in Wahrheit eine Erkenntniß verhindern; zu ihnen gehört das Wort ,Erscheinungen'."42 Und doch meinte Nietzsche keineswegs, daß man vor dem Schein schlechthin haltmachen und schweigen müsse. Wenn sein Wesen nicht genau begrifflich bestimmt werden kann, so kann wenigstens annähernd die Richtung bezeichnet werden, in der etwas Ähnliches versucht werden soll. Der Schein ist gewiß keine Einbildung, ist nichts Unwirkliches. Trotz all seiner Unbestimmtheit und Unfaßbarkeit ist es doch unzweifelhaft, daß der Schein wirklich existiert, und zwar nicht als ein nebensächliches Seiendes, als eine niedere, uneigentliche Form der Wirklichkeit, sondern als das höchstmöglich reale Sein. Nietzsche betont: „Schein, wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge."43 Es ist schwer den radikal kritischen Sinn dieser Worte zu überhören,

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42 43

Za II, Von den Dichtern: K G W VI 1, S. 159. Vgl. F W 84: K G W V 2, S. 118. Plat. Rep. 3 7 7 d - e . E s handelt sich eigentlich um eine frühe griechische Einsicht (vgl. Hes. Theog. 2 7 ; Solon 2 1 D ; Xenophanes Β 1, 2 2 ; Pind. Ol. 1, 28), die sprichwörtlich geworden ist. In dieser F o r m wird sie sogar von Aristoteles am Anfang der Metaphysik angeführt: alia kai kata ten paroimian polla pseudontai aoidoi (Met. I 2, 983 a 3 - 4 ) . Näheres über den ursprünglichen Sinn, wie auch über die spätere Erweiterung der Bedeutung und Tragweite dieser Einsicht, bei Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens hei den Griechen (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 4 1975), S. 9 5 - 1 1 0 . Ν 1 8 8 4 / 8 5 : K G W VII 3, 40 (52), S . 3 8 6 . Ebd., 40 (53), S . 3 8 6 . Vgl. Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 5 (19), S. 1 9 5 - 1 9 6 : „Die Welt, die uns etwas angeht, ist nur scheinbar, ist unwirklich. - Aber den Begriff .wirklich, wahrhaft vorhanden' haben wir erst gezogen aus dem ,uns angehn'; je mehr wir in unserem Interesse berührt werden, um so mehr glauben wir an die .Realität' eines Dinges oder Wesens. ,Es existirt' heißt: ich fühle mich an ihm als existent." Statt der Unterscheidung zwischen der „wahren" und der „scheinbaren" Welt, d. h. zwischen „Wesen" und „Erscheinung", um die die gesamte bisherige Philosophie so stark bemüht war, läßt Nietzsche allein den Unterschied der

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mag auch deren paradoxer Beiklang noch so sehr stören. Aus ihnen könnte man schon schließen, daß Nietzsche den platonischen metaphysischen Weltentwurf im großen und ganzen verlassen und nicht nur dessen Werttafel umgekehrt hat. Denn Nietzsche hat tatsächlich mit höchstmöglicher Entschiedenheit den Gegensatz zwischen Wahrheit und Schein aufgehoben.44 E r hat weder die Wahrheit als Schein bezeichnet noch den Schein in Wahrheit umgewandelt, sondern schlechthin die Verkettung zwischen ihnen zerrissen. Der Schein waltet unabhängig vom Sein, gründet nicht auf ihm als seinem Fundament. Er ist keine Erscheinung des Seins, keine Manifestation eines verborgenen Wesens, sondern bloß Schein. Aber obwohl der Schein nicht im Sein gründet, ist er doch kein Trug. Sein ontologischer Rang kann kaum bestritten werden. Es gibt sogar nichts anderes und nichts von ihm Verschiedenes. Nicht nur, daß der Schein jeder Wesenhaftigkeit entbehrt, er bedarf ihrer auch nicht, es gibt nichts hinter ihm, das ihn erst ermöglichen würde. Insofern er vollkommen selbständig ist gegenüber dem Sein, genießt der Schein absolute Freiheit, er ist in seinem Bestand unantastbar, von der Wahrheit droht ihm keine Gefahr. In diesem Sinne sagt Nietzsche: „Ich setze also nicht ,Schein' in Gegensatz zur ,Realität' sondern nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginative ,Wahrheits-Welt' widersetzt." 45 Dies bedeutet, daß der Schein nichts Zufälliges ist, nichts, was möglicherweise auch nicht sein könnte, sondern etwas, was gleichsam dem Wesen der Realität selbst angehört.

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„Stufen der Scheinbarkeit" gelten. Vgl. J G B 34: KGW VI 2, S.49. Vgl. Ν 1884/85: KGW VII 3, 40 (20), S. 369. Beziehungsweise zwischen Wesen und Erscheinung, da Nietzsche den Unterschied zwischen „Schein" und „Erscheinung" nicht macht, den Kant eingeführt hat, um die unbehagliche Konsequenz der Kritik am Wesensbegriff zu vermeiden. Bezeichnend ist folgende Stelle: „Um eine solche Unterscheidung machen zu können [d. h. die Unterscheidung von einem ,Wesen der Dinge' und einer Erscheinungs-Welt], müßte man sich unsern Intellekt mit einem widerspruchsvollen Charakter behaftet denken: einmal, eingerichtet auf das perspektivische Sehen, wie dies noth thut, damit gerade Wesen unsrer Art sich im Dasein erhalten können, andrerseits zugleich mit einem Vermögen, eben dieses perspektivische Sehen als perspektivisches, die Erscheinung als Erscheinung zu begreifen. Das will sagen: ausgestattet mit einem Glauben an die .Realität', wie als ob sie die einzige wäre, und wiederum auch mit der Einsicht über diesen Glauben, daß er nämlich nur eine perspektivische Beschränktheit sei in Hinsicht auf eine wahre Realität. Ein Glaube aber, mit dieser Einsicht angeschaut, ist nicht mehr Glaube, ist als Glaube aufgelöst. Kurz, wir dürfen uns unsern Intellekt nicht dergestalt widerspruchsvoll denken, daß er ein Glaube ist und zugleich ein Wissen um diesen Glauben als Glauben. Schaffen wir das ,Ding an sich' ab und mit ihm einen der unklarsten Begriffe, den der .Erscheinung'!" (N 1885/ 87: KGW VIII 1, 6 (23), S.247). Ν 1884/85: KGW VII 3, 40 (53), S.386. Schon der junge Nietzsche war so sicher, daß der Schein eigentlich die einzige Realität ist, daß er an einer Stelle sogar folgendes schrieb: „Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr" (N 1872/74: KGW III 4, 29(17), S.240). Und etwas weiter: „Die Wahrheit ist unerkennbar. Alles Erkennbare Schein. Bedeutung der Kunst als des wahrhaftigen Scheines" (ebd. 29(20), S.241).

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Nietzsche hat sich damit zweifellos in ein äußerst gefährliches Abenteuer eingelassen. Auch heute ist noch unklar, ob ihn nicht gerade dies, daß er die Grundunterscheidung zwischen Wahrheit und Schein aufgehoben hat, in den Wahnsinn getrieben hat. Wir können uns nur fragen, inwiefern dieser Schritt wirklich für das Denken verbindlich ist, inwiefern er ernsthaft neue Perspektiven der Philosophie eröffnet. Verliert das Denken nicht jeden Anhaltspunkt, wenn es unter die absolute Herrschaft des Scheins fällt? Was für einen Sinn hat es, noch vom Schein zu sprechen, wenn es keine Wahrheit mehr gibt, der sich der Schein widersetzt, zu der er sich als ihre Negation verhält? Ist es wahrhaftig so, daß dieser Schritt Nietzsches nur verfrüht war, daß er uns lediglich unvorbereitet vorgefunden hat, daß allein die Zeit noch nicht gekommen ist, seine eigentliche Botschaft zu verstehen? Es sei hier hervorgehoben, daß Nietzsche an den Schein nicht nur im Zusammenhang mit der Kunst dachte, obwohl er ihm vielleicht am Beispiel der Kunst auf die Spur gekommen ist. Er meinte nicht, daß nur die Kunst im Schein befangen sei, daß allein sie an seiner Produktion teilnehme. Er erweiterte sogar den Gebrauch des Wortes „Schein" bedeutend über den künstlerischen Bereich hinaus. Auch in den höchsten Erzeugnissen von Philosophie, Wissenschaft, Moral und Religion erblickte er nichts anderes als nur verschiedene Gestalten des Scheins. 46 Ausdrücklich stellte er fest, dies alles seien nur Folgen eines furchtbaren MißVerständnisses, der Mensch sei in all diesen Fällen ein Opfer des Triebes zur Selbsttäuschung. 47 Jedoch begnügte sich Nietzsche nicht allein mit der Erweiterung in dieser Richtung. Es leuchtete ihm ein, daß der Schein nicht nur der gesamten menschlichen Tätigkeit eigentümlich sei. Ohne Bedenken überließ er seiner Herrschaft die ganze organische Welt.48 Nietzsches Worten zufolge erhalten sich alle Lebewesen („alles Organische") durch Irrtum, ja „alles Leben beruht auf dem Irrthum". 49 N u r in der anorganischen Welt gibt es keinen Irrtum, „da herrscht W a h r heit' ", insofern alles „absolut genau" wahrgenommen wird. 50 Der Schein wird erst in der organischen Welt unumgänglich, denn erst da beginnt die „Unsicherheit" und „Unbestimmtheit". 5 1 All dies zeigt deutlich, daß Nietzsche nicht an den Schein in eng fachwissenschaftlichem Sinne dachte, daß ihm nicht allein der Schein im Bereich der Kunst vorschwebte, daß er den Schein nicht nur als eine ästhetische Kategorie erfaßte.

46 47 48 49 50 51

Vgl. Ν 1887/88: KGW VIII 2, 11 (415), S.435. Vgl. Ν 1884: K G W VII 2, 27 (48), S.287. Ähnlich Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (18), S. 18. Vgl. ΜΑ I 18: K G W IV 2, S. 36. Ν 1884: K G W VII 2, 27 (38), S.285. Vgl. G T Versuch einer Selbstkritik 5: K G W III 1, S. 12. Ν 1884/85: K G W VII 3, 35 (53), S.258. Ebd., 35 (59), S.259.

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Um möglichst klar den Unterschied zwischen seiner Ansicht, welche den Schein als Schein nimmt, und der verworfenen metaphysischen Ansicht, nach welcher der Schein immer zusammen mit dem Sein zu sehen ist, hervorzuheben, greift Nietzsche gern nach den Ausdrücken „die Perspektive" und „das Perspektivische". 52 Oft sagt er auch „perspektivischer Schein"," offenkundig nicht nur, um sich vom „transzendentalen Schein" zu distanzieren. In der Tat gab Nietzsche auf die Art unzweideutig zu verstehen, daß der Schein keinen substantiellen Hintergrund habe, daß er vielmehr nur mit einer bestimmten Betrachtungsweise im Zusammenhang stehe, daß er sich lediglich von einem bestimmten Standpunkt aus zeige und daß er äußerst unbeständig und schwankend sei, trotz all seiner Wichtigkeit und Unabwendbarkeit. Der Ausdruck „das Perspektivische" ist bei Nietzsche auch in einigen anderen Zusammensetzungen zu finden. So sagt Nietzsche z.B., daß der „perspektivische Durchblick" 54 teilweise die Dinge verfälsche, daß die organische Welt über eine „perspektivische Sphäre"55 verfüge und daß wir die „perspektivischen Interpretationen" 56 nach eigenem Belieben ändern können. Nicht selten gebraucht Nietzsche den Ausdruck „Perspektivismus" als allgemeinen Titel für seine experimentelle Methode des Philosophierens.57 Er meint, daß dieser Ausdruck am besten zu einer Philosophie passe, die davon ausgeht, daß die Welt nicht „erkennbar", sondern nur „anders deutbar" sei, daß die Welt „keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne" habe.58 Dies hat viele dazu veranlaßt, seinen Perspektivismus als eine besondere philosophische Richtung zu erklären, sogar in ihm auch einen reinen erkenntnistheoretischen Illusionisimus zu sehen. 5 ' Dies stimmt jedoch keineswegs mit dieser Ansicht überein, wie auch nicht mit dem gesamten denkerischen Unterfangen Nietzsches. Insofern sich Nietzsche dem ganzen überlieferten metaphysischen Schema des Weltverständnisses entschieden widersetzt - was auch ein prinzipielles Verwerfen der überlieferten Einteilung der Philosophie in einzelne Zweige impliziert - kann sein Perspektivismus offenkundig keine philosophische Theorie im traditionel-

52 53 54 55 56 57 58 59

Ν 1882/83-84: K G W VII 1, 5 (1) 244, S.220. Ν 1885/87: K G W VIII 1, 2 (91), S. 104; Ν 1887/88: KGW VIII 2, 9 (41), S. 18. F W 299: KGW V 2, S.218. Ν 1884/85: K G W VII 3, 43 (2), S.439. Ν 1885/87: K G W VIII 1, 2 (108), S. 112. Ν 1888/89: K G W VIII 3, 14 (186), S. 165. Ν 1885/87: K G W VIII 1, 7 (60), S.323. Als Vertreter der fiktionalistischen Erkenntnistheorie wurde Nietzsche erstmals von Hans Vaihinger bezeichnet in seinem Buch Die Philosophie des Als-Ob (Leipzig: F. Meiner, " 1 0 1927), S. 771-790 (der Abschnitt trägt den Titel „Nietzsches Lehre vom bewußt gewollten Schein"). Daß Nietzsche zu seinem Perspektivismus überhaupt nicht gekommen wäre, hätte er nicht von vornherein die Erkenntnistheorie abgelehnt, betont Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2 1973), S. 361-362.

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len Sinn sein, geschweige denn lediglich eine besondere Richtung innerhalb einer philosophischen Disziplin. Und doch, trotz all dieser Erweiterungen außerhalb des künstlerischen Bereichs - dank welchen er eigentlich seinen perspektivischen Ansatz erst zu Ende entwickelt und befestigt hat - legte Nietzsche gerade dem Schein, den die Kunst erzeugt, außerordentliche Bedeutung bei. Fast ist es so, als hätte er den ästhetischen Schein als Prototyp jedes möglichen Scheins begriffen. Auf einen solchen Schluß weist eine wichtige späte Aufzeichnung hin: „Die Metaphysik, die Moral, die Religion, die Wissenschaft - sie werden in diesem Buche nur als verschiedene Formen der Lüge in Betracht gezogen: mit ihrer Hülfe wird ans Leben geglaubt. ,Das Leben soll Vertrauen einflößen': die Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch von Natur schon ein Lügner sein, er muß mehr als alles Andere noch Künstler sein... Und er ist es auch: Metaphysik, Moral, Religion, Wissenschaft - Alles nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der ,Wahrheit', zur Verneinung der ,Wahrheit'. Dies Vermögen selbst, dank dem er die Realität durch die Lüge vergewaltigt, dieses Künstler-Vermögen par excellence des Menschen er hat es noch mit Allem, was ist, gemein: er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, Natur - er selbst ist auch ein Stück Genie der Lüge.. .".60 So erweist sich, daß die Kunst allen anderen menschlichen Tätigkeiten musterhaft zeigt, wie man das, was not tut, tun soll - und das ist: Erhaltung und Förderung des Lebens. Nietzsche findet, daß die Kunst als der wichtigste Bereich des kulturellen Schaffens, und nicht nur als einer unter anderen, anzusehen sei, weil das Leben nur durch den Schein erhalten und gefördert werden kann. Gerade die Kunst ist völlig dem Schein hingegeben, die Produktion des Scheins ist eine wesentlich künstlerische Fähigkeit des Menschen. Dabei fügt Nietzsche hinzu, die Kunst verdiene Geburtsort des Scheins überhaupt genannt zu werden, da in ihr das Bestreben, den Schein als einzige Realität darzustellen, zunächst zum Ausdruck kommt. Es sind keine anderen Formen der „Vergewaltigung" der Wirklichkeit möglich ohne vorangehenden künstlerischen Eingriff in dieser Richtung. Es stellt sich sogar heraus, daß die Kunst allem Seienden das Gepräge gibt, daß das künstlerische Schaffen dem ursprünglichen Schaffen der Natur sehr nahe kommt, daß die Kunst vorzugsweise ein kosmisches und nicht nur ein menschliches Phänomen ist," oder

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Ν 1 8 8 7 / 8 8 : K G W VIII 2, 11 (415), S . 4 3 5 . Diese Auffassung hat Nietzsche zunächst in der Tragödienschrift dargelegt, und zwar mit deutlichem metaphysischen Pathos (vgl. G T 5 : K G W III 1, S . 4 3 - 4 4 ) , um sie später in völlig nüchterner F o r m zu bestätigen: „Alles Organische, das ,urtheilt', handelt wie der Künstler: es schafft aus einzelnen Anregungen und Reizen ein Ganzes, es läßt Vieles Einzelne bei Seite und schafft eine simplificatio, es setzt gleich und bejaht sein Geschöpf als seiend" ( N 1884: K G W VII 2, 25 (333), S.93).

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wenigstens, daß die Einheit von Mensch und Natur zunächst und am vollkommensten durch die Kunst ausgedrückt wird. Aber Nietzsche zieht die Kunst allen anderen menschlichen Tätigkeiten nicht nur deshalb vor, weil er meint, die Produktion des Scheins sei ein wesentlich künstlerisches Vermögen des Menschen. Insofern ist es völlig gleichgültig, daß er weder näher darüber spricht, wie sich dieses Vermögen umwandelt und vervielfältigt, noch eingehender Sinn und Natur der Abhängigkeit, die auf diese Weise hergestellt wird erklärt. Diese Voraussetzung wird durch einige andere Gründe bekräftigt. Nietzsches Werk ist in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich. Seiner Meinung nach ist das Verhältnis der Kunst zum Leben unvergleichbar tiefer, unmittelbarer, ursprünglicher, als das Verhältnis irgendeiner anderen menschlichen Tätigkeit. Er betont sogar nachdrücklich, der ästhetische Schein sei die tatkräftigste und nicht nur die prächtigste Form des Scheins. 62 Denn die Kunst erzeugt den Schein nicht nur, um das nackte Leben zu ermöglichen, um zu seiner Erhaltung beizutragen - wie es bei allem anderen der Fall ist - , sondern um das Leben auf eine höhere Stufe zu erheben, um ihm einen höheren Sinn einzugeben, um es vorbehaltlos zu verklären und zu verherrlichen. In diesem Sinne versäumt es Nietzsche nicht hervorzuheben, daß sich der ästhetische Schein (der sonst in der Tradition am häufigsten dem Schönen gleichgesetzt wird) vom logischen (dessen Angelpunkt das Identische ist) wesentlich unterscheidet. Er ist nicht nur andersartig, sondern sogar auch wirklicher als dieser letztere. In ihm wird das Leben gerühmt, d. h. in einem glänzenden Licht dargestellt, und nicht nur in begriffliche Fixierungen gefaßt, die in das umgebende Chaos hineinprojiziert sind. Obwohl der Wille zur Macht in beiden Fällen nach Schematisierung, also nach Vereinfachung und Simplifizierung greift (was überhaupt für die Art und Weise seiner Wirksamkeit charakteristisch ist, von den niedrigsten und einfachsten Formen bis zu den höchsten und verwickeltsten 63 ), bewegt er sich doch dabei in verschiedene Richtungen. Nicht nur, daß seine einzelnen Leistungen kein gleiches Gewicht haben, vielmehr ist auch seine Grundeinstellung wesentlich verschiedenartig. Während das Identische nur eine notwendige Perspektive des Willens zur Macht bildet, ist das Schöne sein höchster Aufschwung zur Vollkommenheit. 64 Weil der ästhetische Schein in einem verstärkten und der logische in einem geschwächten, verkümmerten künstlerischen Trieb gründet, erhebt die Kunst

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Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W VIII 3, 17 (3), S. 3 1 8 - 3 1 9 . Vgl. Arthur C. Danto, Nietzsche as Philosopher ( N e w Y o r k : Macmillan, 1963), S. 3 7 - 3 8 . Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 2 (148), S. 1 3 7 - 1 3 8 . Näheres darüber in: Wolfgang Müller-Lauter, „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht", Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1 - 6 0 , bes. S. 38—41, 43-48. Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W VIII 3, 16 (40), S . 2 9 5 . Vgl. ebd. 16 (66), S.303.

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offenkundig das Gefühl der Macht unvergleichlich mehr als jede andere menschliche Tätigkeit. Nietzsche wiederholt unermüdlich, daß die Kunst ein mächtiges Werkzeug des Lebens sei," daß sie das Gefühl der Macht beträchtlich steigere,66 daß sie die höchste Form des Willens zur Macht darstelle.67 An einer Stelle lesen wir: „Alle Kunst wirkt tonisch, mehrt die Kraft, entzündet die Lust (d.h. das Gefühl der Kraft), regt alle die feineren Erinnerungen des Rausches an."68 An einer anderen: „Das Gefühl der Macht, der Wille zur Macht - das wächst mit dem Schönen, das fällt mit dem Häßlichen."69 Und endlich: „Und wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der Gleiche in seiner Freude, er freut sich als Künstler, er genießt sich als Macht, er genießt die Lüge als seine Macht.70 Die Lüge ist die Macht.. .".71 Daß Nietzsche besonders unterstreicht, daß die Kunst eine Form des Willens zur Macht sei und nicht nur Kundgebung und Bejahung der Lebensfreude, darf uns nicht verwirren und überraschen. Der Sinn dieses Hinweises liegt nur darin, daß die Kunst sehr tief im Leben verwurzelt, ja daß sie untrennbar mit dem Leben verbunden ist. Der Wille zur Macht hat nichts mit Versklavung und Unterjochung zu tun. Dies ist keine wilde, rasende, brutale Gewalt, die alles zerstört und vernichtet. Unter Wille zur Macht versteht Nietzsche den schöpferischen Impuls des Lebens, d. h. das Wesen des Lebens selbst.72 Er meint, daß der „Wille zur Accumulation von Kraft" dem Leben eigentümlich sei, daß das „Stärker-werden-wollen" 73 eine wesentliche Manifestation des Lebens ausmache, daß das Leben „als die uns bekannteste Form des Seins" in jedem einzelnen Fall „nach einem MaximaiGefühl von Macht"7* strebe. Zum Unterschied von den anderen menschlichen Tätigkeiten, in denen der Wille zur Macht gleichfalls am Werk ist, ist die

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Ν 1887/88: KGW VIII 2, 10 (194), S. 238-239. Ebd., 10 (167), S.220. Ebd., 11 (415), S.435. Daß der Wille zur Mach: seinen Höhepunkt im künstlerischen Schaffen erreiche, d. h. daß die Kunst die höchste Gestalt des Willens zur Macht sei und nicht nur eine Gestalt unter anderen, betont besonders Martin Heidegger, a. a. Ο. I, S. 86. Ν 1888/89: KGW VIII 3, 14 (119), S.88. Ebd., 16 (40), S. 295. Ebd., 1 7 ( 3 ) , S. 319. Ν 1887/88: K G W VIII 2, 11 (415), S.436. So schon Walter Kaufmann, a . a . O . , S.250. Anders Martin Heidegger, a . a . O . I, S.46-53, 70-79; II, S. 235-240. Zu einer eingehenden kritischen Betrachtung der Heideggerschen Interpretation des Willens zur Macht als eines metaphysischen Prinzips, als eines neuen unbedingten Grundes, der alles Seiende beherrscht, vgl. Wolfgang Müller-Lauter, „Das Willenswesen und der Ubermensch. Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen", Nietzsche-Studien 10/11 (1981/1982), S. 132-177, bes. S. 141-154. Aufschlußreich ist der Aufsatz von Volker Gerhardt, „Macht und Metaphysik. Nietzsches Machtbegriff im Wandel der Interpretation", in dieser Nummer derselben Zeitschrift, S. 193-209. Ν 1888/89: KGW VIII 3, 14 (81), S.53. Ebd., 14 (82), S. 54.

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Die Kunst als Organon der Philosophie

Kunst eine ursprünglichere und allerdings auch reichere, prächtigere und eindrucksvollere Betätigung dieses Willens. Nicht zufällig zitiert der späte Nietzsche mit sichtbarer Zustimmung die Grundthese seines „Artisten-Evangeliums" aus der Geburt der Tragödie: daß die Kunst die „eigentliche Aufgabe des Lebens" sei, sogar dessen „metaphysische Tätigkeit" .7i Und nicht vergebens fügt er in demselben Zusammenhang, d. h. in einem seiner späten Kommentare dieser Jugendschrift zweimal hinzu, daß der Wille zum Schein „tiefer und ursprünglicher ,metaphysischer'" sei, als der Wille zur Wahrheit.76 Es ist als hätte er so die Einheit seiner „Ästhetik" ausdrücklich hergestellt, als hätte er sagen wollen, es bestehe kein wesentlicher Unterschied zwischen seinen frühen und reifen Anschauungen über die Kunst und die spätere Verbindung der Kunst mit dem Willen zur Macht stelle nur eine nähere Bestimmung dar und nicht eine Änderung der ursprünglichen Einsicht. Allerdings ist es eine große Frage, inwiefern der späte Nietzsche überhaupt noch den Ausdruck „metaphysisch" im Bezug auf die Kunst in positivem Sinn gebrauchen durfte, da er gerade in der Kunst jene Kraft erblickte, die einzig und allein imstande ist, die Herrschaft der Metaphysik zu Ende zu bringen, die zuerst und am meisten zur endgültigen Abrechnung mit ihr beitragen kann. Das Unbehagen, welches dieser Schritt hervorruft, bleibt bestehen, ungeachtet dessen, daß Nietzsche nachträglich das Wort „metaphysisch" in Anführungszeichen setzte. Denn dieser Ausdruck entsprach von Anfang an nicht seinem Kunstverständnis, er wurde auch für die Sache unglücklich gewählt, die Nietzsche noch als Jüngling vor Augen hatte. Sonst hat der späte Nietzsche anscheinend mit Recht seine frühe Konzeption der Welt und des Lebens der späteren Auffassung des Willens zu Macht angenähert, ja sie sogar so damit verbunden, daß er die Kunst wirklich dauernd unter demselben Gesichtspunkt betrachtet hat. Seine frühe Begeisterung für den unerschöpflichen Reichtum und die unübersichtliche Fülle der Lebensformen hat später nur einen etwas eigenartigeren, wenn nicht auch bedeutend einprägsameren Ausdruck bekommen. Nietzsche hat nämlich nachträglich erkannt, daß ein und dieselbe Grundkraft alle unaufhörlichen Schwankungen des Lebens bedingt, daß die wesentlich innere Triebfeder des Lebens der Wille zur Macht ist, der sich nie mit dem Erreichten begnügt, sondern immer über sich hinauszugehen trachtet. „Das Leben selbst ist kein Mittel zu Etwas; es ist bloß Wachsthums-Form der Macht", lautet eine späte Aufzeichnung.77 Dazu kommt, daß Nietzsche nachträglich den Willen zur

75

76 77

Ebd., 14 (21), S.20. Vgl. GT Versuch einer Selbstkritik 5: KGW III 1, S. 11; Ν 1885/87: KGW VIII 1, 2 (110), S. 113. Ν 1888/89: KGW VIII 3, 14 (24), S.21. Ebd. 16 (12), S. 282. Vgl. Ν 1884/85: KGW VII 3, 38 (8), S. 334-335.

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Macht als vorzüglich schöpferische Selbsteröffnung des Lebens verstanden und sogar mit dem Willen zum Schaffen identifiziert hat.78 Klar hat er eingesehen, daß das Leben ein unendlicher Prozeß sei, der durch jede faktische Errungenschaft das Feld des künftigen Schaffens erweitert. Die Selbstüberwindung ist insofern der Grundimperativ des Willens zur Macht. Dieser ist nicht so sehr bestrebt, seiner ins Werk gesetzten Freiheit Geltung zu verschaffen, entgegen allen anderen, die sich dem widersetzen, sondern vielmehr auf die Herausforderung seines eigenen vormaligen schöpferischen Durchbruchs angemessen zu antworten. Bevor wir zu einer ausführlicheren Betrachtung der Nietzscheschen Auffassung der Kunst wie auch ihrer Konsequenzen für die zukünftige Gestaltung der Philosophie übergehen, verweilen wir noch einen Augenblick bei der allgemeinen Beurteilung ihres Wertes und ihrer Bedeutung. Auf die Art wird das Folgende eine klare Richtung und einen bestimmten Rahmen bekommen. Nietzsche hat sich offenkundig sehr ernsthaft mit der Kunst beschäftigt, ja viel ernsthafter als irgendein anderer Philosoph vor ihm. Schon dadurch, daß er deren Eigentümlichkeit und Selbständigkeit gegenüber der Philosophie gelten ließ, deutete Nietzsche entschieden genug darauf hin, daß ihm die traditionelle unterschätzende Haltung ihr gegenüber vollkommen fremd und daß ihm wirklich an ihrem ursprünglichen Bestreben gelegen sei. Besonders betonte er dies dadurch, daß er die Kunst hoch über die Philosophie erhob, daß er einen Zugang zur Philosophie aus der Perspektive der Kunst gesucht hat, daß er das Schicksal der Philosophie selbst an die Kunst band! Schwerlich kann man sich eine radikalere Umwandlung überhaupt vorstellen als diese, welche unser Philosoph vollzogen hat. Niemand hat so entschlossen wie Nietzsche mit der überlieferten Manier der Kunstbetrachtung gebrochen und sich so unverkennbar an ihre Seite gestellt, niemand ist so weit in der Verneinung der Wahrheitsfunktion der Kunst gegangen, in der Befreiung der Kunst von der Vormundschaft der Philosophie, niemand dachte daran, daß die Kunst ohne Philosophie bestehen könne, daß eine autonome Entwicklung der Kunst überhaupt möglich sei, geschweige denn, daß irgend jemand eine revolutionäre Umwandlung der Philosophie nach dem Muster einer so befreiten Kunst für möglich gehalten hätte! Man kann nur Vermutungen darüber anstellen, wie Nietzsche überhaupt auf den Gedanken gekommen ist, das Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie, welches Piaton am Anfang unserer philosophischen Tradition begründet hatte, umzukehren, vorausgesetzt, daß es überhaupt sinnvoll ist, den Ursprung dieser Wendung irgendwo außerhalb der Nietzscheschen Konfrontierung mit der Tradition zu suchen. Weder ein tieferer Einblick in die 78

Vgl. Friedrich Kaulbach, a . a . O . , S.248-256.

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gesellschaftsgeschichtliche Situation in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch eine detaillierte Nachfrage bei den philosophischen Zeitgenossen Nietzsches kann eine befriedigende Antwort auf diese Frage bieten. Dazu ist auch eine vollkommene Kenntnis der verschiedensten Tendenzen und Strömungen in der damaligen Welt der Kunst unzulänglich. Diese Wendung hat tatsächlich in Nietzsches Denken stattgefunden und eine sichtbare Spur in seiner Philosophie hinterlassen. Die spätere Entwicklung der Kunst hat deren epochale Bedeutung hinreichend bestätigt. Es handelt sich gerade darum, und man darf es nicht vergessen, daß Nietzsche als erster begonnen hat, etwas zu denken, von dem niemand vor ihm ahnte, daß es überhaupt denkbar sei. Daher kann diese Wendung allein durch unmittelbare Vertiefung in Nietzsches Ansatz einer „ästhetischen Rechtfertigung" von Welt und Leben verstanden werden, wie auch durch ein wirkliches Durchdenken ihrer philosophischer Konsequenzen. Man braucht nicht zu weit gehen, um zu zeigen, daß Nietzsches Auffassung der Kunst in höchstmöglichem Maße eigenartig ist und daß man sie nicht anders verstehen kann als vermittels ihrer selbst. Es genügt an Schelling zu erinnern, diesen großen Vollender des deutschen Idealismus, der ebenso, wenigstens kurzfristig, recht viel von der Kunst erwartete und dessen Bestimmung der Kunst als „Organon der Philosophie" 79 in der Uberschrift dieses Kapitels gebraucht ist. Von einer wirklichen Ähnlichkeit zwischen ihren Auffassungen kann freilich keine Rede sein, trotz gewisser äußerer Berührungen. O b w o h l schon Schelling die Platonische Verurteilung der Kunst entschieden ablehnte und sogar die Philosophie in ein neues Verhältnis zur Kunst brachte, bleibt all dies doch weit hinter der radikalen Lösung Nietzsches zurück. Schelling war nämlich bestrebt, das Monopol der Metaphysik auf absolute Wahrheit einzuschränken, und nicht, diese Wahrheit selbst zu untergraben. Die Möglichkeit, nach der er gegriffen hatte, ist völlig anders als diejenige, die Nietzsches Aufmerksamkeit auf sich zog. Tief in der Tradition stehend, stellte Schelling die absolute Identität des Subjektiven und des Objektiven als höchstes philosophisches Prinzip auf. Er war der Meinung, daß aus diesem Prinzip alle philosophischen Erkenntnisse abgeleitet werden können, daß es jedoch für die Geschlossenheit des philosophischen Systems unentbehrlich sei, dieses Prinzip nochmals in sinnlich-anschaulicher Form darzustellen. Erst dann kann die Philosophie ans Ziel gelangen, d.h. sicher

79

Diese Bestimmung lautet im ganzen: „Die Kunst [ist] das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Document der Philosophie" (F. W.J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, Sämtliche Werke III (K.F.A.Schelling) (Stuttgart/Augsburg: J . B . Cotta, 1856), S. 627). Die Funktion der Kunst im transzendentalen Idealismus Schellmgs behandelt grundsätzlich Dieter Jähnig, Schelling. Die Kunst in der Philosophie (Pfullingen: Neske, 1966), 2 Bände.

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sein, daß ihr Gegenstand etwas Reales ist und keine bloße Einbildung. Freilich ist die sinnliche Darstellung des Absoluten nicht Sache der Philosophie, dazu ist allein die Kunst fähig. Dies ist sogar die ursprüngliche Aufgabe der Kunst. Also blieb Schelling keine andere Wahl, als der Kunst die höchste Bedeutung für die Philosophie beizulegen, wenn er schon fand, daß die Wahrheit zuerst und am reinsten im Kunstwerk erscheine und daß das Kunstwerk eine harmonische Einheit von Subjektivem und Objektivem darstelle. Falls es also überhaupt zutreffend und angemessen ist zu sagen, daß Nietzsche die Kunst als Organon der Philosophie aufgefaßt habe, so ist es offenkundig, daß darunter etwas ganz anderes, wenn schon nicht diametral Entgegengesetztes verstanden werden soll, als das, woran Schelling dachte, als er diese Formel prägte.

2.

Obwohl Nietzsche der Kunst viel größere Bedeutung beilegte als irgendeiner anderen Kulturtätigkeit, insofern er ihre Aufgabe als schöpferische „Daseins- Vollendung""0 erfaßte, schloß er doch die Augen nicht vor den Schwierigkeiten, denen das künstlerische Schaffen seit jeher begegnet. Unser Philosoph war alles andere eher als ein verblendeter Bewunderer aller bisherigen künstlerischen Errungenschaften. Er wußte wohl, daß nicht jede Kunst ihrer großen Aufgabe gewachsen ist, mag sie auch noch so großen Anspruch auf Erfolg in dieser Hinsicht erheben. Nietzsche war sogar fast allem gegenüber äußerst mißtrauisch, was sich im Laufe vieler Jahrhunderte der Kulturgeschichte der Menschheit als Kunst ausgab, nicht nur der romantischen Kunst seiner Zeit gegenüber. Er war viel mißtrauischer, als wir im ersten Augenblick überhaupt vermuten können. Seine Schriften sind voll von kritischen Einwänden gegen die ganze bisherige Kunst, und zwar sowohl Einwänden prinzipieller als auch spezifischer Art und Tragweite. Nietzsche hegt Verdacht und Bedenken fast auf Schritt und Tritt, man hat den Eindruck, daß seinen Anforderungen gar nichts von allem bisher im Namen der Kunst Geschaffenen entspricht. Im Rahmen der „ästhetischen" Überlegungen Nietzsches liegt der Nachdruck mehr auf demjenigen, was die Kunst einst in Zukunft werden kann, als auf demjenigen, was sie bisher am häufigsten in der Vergangenheit war. Das ist leicht einzusehen, schon bei einer flüchtigen Besichtigung der verfügbaren ,0

Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W V I I I 3 , 1 4 (47), S. 33. Ähnlich an einer frühen Stelle:. „Derselbe Trieb, der die Kunst in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt entstehn, in der sich der hellenische ,Wille' einen verklärenden Spiegel vorhielt" ( G T 3: K G W III 1, S . 3 2 ) .

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Texte. Den konkreten historischen Leistungen, und zwar fast allen nacheinander, stellt Nietzsche die ursprüngliche Möglichkeit der Kunst entgegen. Er sucht einen Anhaltspunkt in demjenigen, was noch nie und nirgends war, was vielleicht sogar überhaupt nicht zu verwirklichen ist. Richtiger wäre es zu sagen, daß Nietzsche den geschichtlichen Wurzeln der Kunst nachforscht. Er entwirft große Pläne, ihm ist an einer wirklichen Veränderung des vorgefundenen Zustands gelegen. Seine Kunstauffassung ist größtenteils von einem altertümlichen Vorbild inspiriert, wenn sie sich nicht auch schon unmittelbar danach richtet. Es ist kein Geheimnis, daß Nietzsche die Kunst vor allem aus der Perspektive der künstlerischen Erfahrung der antiken Welt betrachtete, daß er die Kunst hauptsächlich mit Rücksicht auf die alte griechische Tragödie sah, in der Uberzeugung, diese stelle ein unantastbares Muster der wahrhaft großen Kunst dar, in ihr sei zunächst und am meisten gerade das wesentlich Künstlerische zum Ausdruck gekommen. Freilich betrachtete Nietzsche die Kunst nicht nur mit Rücksicht auf die reiche antike Kunsterfahrung. Er schwärmte auch von der Möglichkeit einer Wiedergeburt der modernen Kunst nach diesem klassischen Muster, er hoffte, die Kunst werde in der Zukunft wieder das werden, was sie schon einmal in der fernen Vergangenheit wirklich war, vor mehr als zweitausend Jahren.81 Er hörte nicht auf, von dieser Möglichkeit zu träumen, sogar auch dann nicht, als er endlich einsah, daß er sich in seiner jugendlichen Einschätzung, das Wagnersche Musikdrama bezeichne den Anfang dieser Wiedergeburt, völlig geirrt habe. Den größten Mangel aller bisherigen Kunst erblickte Nietzsche in ihrer Unselbständigkeit, in ihrer Unfähigkeit, die eigene Eigentümlichkeit zu entfalten und zu erhalten, in ihrer Abhängigkeit von den anderen Kulturtätigkeiten. Er ließ keinen Platz zum Zweifel, daß er sie deshalb auch nicht als Kunst im vollen Sinn des Wortes ansehen könne. Diesen Mangel erblickte Nietzsche nicht nur bei den nebensächlichen und unbedeutenden, sondern auch bei den größten und bedeutendsten Errungenschaften der alten Kunst, wie z.B. der Göttlichen Komödie Dantes, den Bildern Raffaels, den Fresken des Michelangelo und den gotischen Kathedralen.82 Anstatt sich ausschließlich auf sich selbst zu verlassen, anstatt ihre künstlerische Aufgabe mutig zu übernehmen, fügte sich die alte Kunst, nach seiner Meinung, recht sklavisch der Religion, der Philosophie und der Moral. Nicht nur, daß sie sich gegen ihre Ubermacht nicht wehrte, sie kam sogar ihren Anforderungen bereitwillig entgegen. Dies geschah nicht sporadisch, sondern regelmäßig. Die alte Kunst war grundsätz-

81

82

Das griechische Musikdrama: K G W III 2, S. 2 1 - 2 2 . Vgl. E H Die Geburt der Tragödie 4: K G W VI 3, S. 311. Dazu und weiter vgl. den Abschnitt „Das Jenseits in der Kunst", in Μ Α I 2 2 0 : K G W IV 2, S. 182.

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lieh dem „Jenseits" zugewandt, sie diente der „Wahrheit", sie setzte sich für die Verwirklichung von verschiedensten „Zwecken" und „Zielen" ein. Ihre größte Sorge war die Verherrlichung der „religiösen und philosophischen Irrthümer der Menschheit", ihre Schöpfer erwiesen großes Vertrauen (gaben eine „himmlische Verklärung", steht bei Nietzsche) „gerade jene[n] Vorstellungen [ . . . ] welche wir jetzt als falsch erkennen". Nietzsche zürnte heftig darüber, daß die alte Kunst sich in einer untergeordneten Stellung zu den anderen Kulturtätigkeiten befand. Er fühlte „tiefen Schmerz" wegen der Erkenntnis, daß zu dieser Entwicklung die „Künstler aller Zeiten" beigetragen haben. Aber es war ihm klar, daß die Kunst, welche den „Glauben an die absolute Wahrheit" unterstützt, bzw. eine „metaphysische Bedeutung der Kunstobjekte" bevorzugt, unwiederbringlich der Vergangenheit angehört, daß eine solche „Gattung von Kunst" keine Zukunft hat, daß sie „nie wieder aufblühen" wird. Er zweifelte nicht daran, daß man einmal nur mit Spott („es wird eine rührende Sage daraus werden", sagt er) darüber sprechen wird, daß „eine solche Kunst", ein solcher „Künstlerglaube" existiert hat. Nietzsche wies besonders auf die Gefahr der „moralisirendefnj Tendenz" 83 in der Kunst hin, auf die Gefahr der Unterordnung der Kunst unter die Moral. Es war gar nicht nach seinem Geschmack, daß diese Tendenz in solchem Maße in verschiedenen Richtungen und Strömungen der bisherigen Kunst verbreitet war. Er konnte einfach die „Vermoralisirung der Künste"84 nicht ertragen, deren Umwandlung in Dienerinnen der Moral. Er empörte sich fast mehr über die Kunst, welche „Moralpredigen" bietet und sich mit „Menschen-Verbessern" 85 befaßt, als über irgendetwas anderes. Seiner Auffassung zufolge ist es dort mit der Kunst aus, wo die moralischen Rücksichten auf dem ersten Platz stehen, wo das „Ethische" das Ubergewicht über das „Aesthetische" 86 bekommen hat. „Zwecke" und „Ziele" verfälschen das Wesen der Kunst 87 ebenso, wie sie das menschliche Handeln verderben.88 Nietzsche meint, daß die Kunst mit der moralischen Gesinnung unvereinbar sei, daß die moralische Einschätzung des Lebens ihrem Wesen widerspreche. Die Kunst, welche ein Lebensideal

13 84 85 86

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88

G D Streifzüge eines Unzeitgemässen 2 4 : K G W VI 3, S. 121. Ν 1 8 8 7 / 8 8 : K G W VIII 2, 10 (24), S. 135. G D Streifzüge eines Unzeitgemässen 24, S. 121. In einer wichtigen Aufzeichnung aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft verlangt Nietzsche die „Reduktion der Moral auf Aesthetik". E r sagt, daß das ästhetische Urteil in ein moralisches „umschlägt", „sobald es die absolute Wahrheit in Anspruch nimmt", so daß die Rückkehr zu den ästhetischen Urteilen unumgänglich ist, „sobald wir die absolute Wahrheit leugnen" (N 1 8 8 1 / 8 2 : K G W V 2, 1 1 ( 7 9 ) , S . 3 6 9 ) . Daß die ästhetischen Wertschätzungen „fundamentaler" als die moralischen sind, betont Nietzsche auch später ( Ν 1 8 8 4 / 8 5 : K G W VII 3, 35 (3), S. 231). G D Streifzüge eines Unzeitgemässen 2 4 : K G W VI 3, S. 121. Vgl. Ν 1 8 8 7 / 8 8 : K G W VIII 2, 9 (119), S. 6 8 - 6 9 . Ν 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 15 (27), S. 510; 22 (1), S . 6 4 9 .

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über das Leben selbst stellt, vergißt ihre Grundaufgabe, sie verrät sich selbst. In den Aufzeichnungen aus der späten Schaffensperiode wiederholt Nietzsche unermüdlich, die Zeit sei gekommen, daß die Kunst mit dieser unangemessenen Praxis aufhöre.89 Ausdrücklich setzt er sich für die Befreiung der Kunst von der „moralischen Verengung und Winkel-Optik" ein, für ihre vollständige Verselbständigung in bezug auf die Moral. Tief unzufrieden mit dem bestehenden Zustand behauptet er, es sei unumgänglich, „die Falschheit der Kunst ihre Immoralität ans Licht [zu] ziehn".90 Dies sollte der erste entscheidende Schritt im Kampfe für die Herstellung ihrer Autonomie sein. Nietzsche ging es freilich nicht darum, die Kunst von der Moral zu trennen, weil er glaubte, die Kunst sei Selbstzweck. Es gibt bei ihm keine Spur von Glauben an ihre Selbstgenügsamkeit. Nietzsche war kein Anhänger des l'art-pour-l'art-Standpunkts. Er widersetzte sich sogar ausdrücklich dieser zu seiner Zeit modischen Strömung. „Wenn man den Zweck des Moralpredigens und Menschen-verbesserns von der Kunst ausgeschlossen hat", sagt Nietzsche, „so folgt daraus noch lange nicht, dass die Kunst überhaupt zwecklos, ziellos, sinnlos, kurz l'art pour l'art - ein Wurm, der sich in den Schwanz beisst - ist."91 Jeder Gedanke dieser Art ist unbegründet. Die Kunst zur einzigen und höchsten Instanz der Kunst erklären bedeutet, das Wesentliche gänzlich außer acht lassen - und das ist das Verhältnis der Kunst zum Leben. Als ob der Kunst nichts anderes übrig bleiben würde, als sich mit sich selbst zu befassen, wenn sie schon nicht mehr den moralischen Zwecken und Zielen dienen kann. In der Tat ist die Kunst am tiefsten im Leben verwurzelt, sie ist ein Mittel zum Leben, dessen mächtigster Hebel. Eine Kunst, die in den Wolken schwebt, ist keine Kunst. Sie ist eher ihre Karikatur. In diesem Sinne brandmarkt Nietzsche offen das Prinzip „die Kunst um der Kunst willen" als ein „gefährliches Prinzip".92 Er findet, daß auf diese Weise nicht nur Verwirrung hinsichtlich des genuinen Charakters der Kunst hervorgerufen, sondern sogar die Realität „verleumdet",93 ja verachtet wird. Dadurch, daß er sich dem l'art-pour-l'art-Standpunkt, die Kunst auf bloßes Kunstbetreiben zu reduzieren, entschieden entgegenstellte, hat Nietzsche alle Zweifel hinsichtlich der eigenen Auffassung der Kunst zerstreut. Man könnte sogar sagen, daß er erst auf diese Weise ihren Ausgangspunkt wirklich " Vgl. FW Vorrede zur zweiten Ausgabe 4: KGW V 2, S. 19. Bezeichnend ist folgende programmatische Forderung: „Nein, wenn wir Genesenden eine Kunst noch brauchen, so ist es eine andre Kunst - eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine reine Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert! Vor Allem: eine Kunst für Künstler, nur für Künstler!" (NW Epilog 2: K G W VI 3, S.436). 90 Ν 1887/88: K G W VIII 2, 10 (24), S. 135. 91 GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 24: K G W VI 3, S. 121. 92 Ν 1887/88: K G W VIII 2, 10 (194), S.238. 93 Ebd., S.238.

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sichergestellt hat. Deutlich gab er zur Kenntnis, daß die Kunst untrennbar mit dem Leben verbunden sei, daß sie vornehmlich lebensanregend wirke, daß ihr Wesen im Interesse der Lebensförderung, der Steigerung des Lebens auf eine höchstmögliche Stufe bestehe. Die ästhetische Einstellung ist keine bloß akademische Sache, die Kunst gedeiht nicht im luftleeren Raum. Es gibt keine „reine" Kunst, wie es auch keine „reine" Erkenntnis, kein „reines" Handeln gibt. Die Kunst ist nicht getrennt vom Leben und kann es nicht sein. Am wenigsten kann sie gleichgültig dem Leben gegenüberstehen. Wenn im Zusammenhang mit Erkenntnis und Handeln vielleicht noch Bedenken in dieser Hinsicht bestehen können (als könnten Erkenntnis und Handeln sich noch irgendwie im Verhältnis zum Leben verselbständigen und sogar mit ihm in Konflikt geraten), ist die Situation hinsichtlich der Kunst vollkommen klar: sie „kann nichts anderes sein als Welt-Bejahung"Das künstlerische Schaffen impliziert das höchstmögliche Interesse für das Leben selbst, insofern es sein Wachsen fördert, insofern es das Leben verklärt und bereichert. Nietzsche begnügte sich nicht damit, die Lebensorientierung als das wesentliche Merkmal der ästhetischen Einstellung zu bezeichnen. Kühn ist er auf die Betrachtung und Erläuterung von Natur und Ursprung dieser Orientierung eingegangen. Er tat dies so, als hätte vor ihm niemand an etwas Ahnliches überhaupt gedacht. Zwar vermochte Nietzsche nicht, seinen Gedanken zu Ende zu entfalten, er fand sich vielmehr in allerlei Schwierigkeiten verwickelt. Es ist ihm weder gelungen, deutlich zu zeigen, was eine spezifisch ästhetische Prägung dem gesteigerten Machtgefühl, aus welchem die Kunst entsteht und welches sie hervorruft, gibt, noch, warum der ästhetische Schein das höchste Bedürfnis des Menschenlebens und nicht nur dessen Erhaltungsbedingung ist. Aber darum hielt es Nietzsche für nötig, sich ausdrücklich von seinem großen Vorgänger auf dem Gebiet der Ästhetik zu distanzieren: „Seit Kant ist alles Reden von Kunst, Schönheit, Erkenntniß, Weisheit vermanscht und beschmutzt durch den Begriff ,ohne Interesse'."95 Oder an einer anderen Stelle: „Eine Albernheit, die dem alten Kant zur Last zu legen ist: ,es gefällt ohne Interesse' [ . . . ] Dagegen habe ich den Zustand beschrieben, den das Schöne hervorbringt: das Wesentlichste ist aber vom Künstler auszugehn."96 Ähnlich auch in der Genealogie der Moral: „,Schön ist' hat Kant gesagt, ,was ohne Interesse gefällt'. Ohne Interesse! Man vergleiche mit dieser Definition jene andere, die ein wirklicher,Zuschauer' und Artist gemacht hat - Stendhal, der das Schöne einmal une promesse de bonheur nennt. Hier ist jedenfalls gerade Das abgelehnt und ausgestrichen, was Kant allein am ästhetischen Zustande hervorhebt: le desinteressement. Wer hat * Ν 1884/85: KGW VII 3, 40 (60), S.393. 95 Ν 1882/83-84: KGW VII 1, 7 (18), S.251. * Ν 1884: KGW VII 2, 25 (101), S.31.

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Recht, Kant oder Stendhal?" 97 Deutlicher konnte wahrhaftig eine vollkommene Unstimmigkeit mit Kant nicht ausgedrückt werden. Daraus haben viele Interpreten und Kommentatoren geschlossen, daß sich Nietzsches Kunstauffassung wesentlich von der Kantischen unterscheidet, ja daß sie ihr sogar offen widerspreche." Wenn man es sich jedoch ein bißchen näher ansieht, so wird man gleich einsehen, daß dieser Schluß verfrüht und unbegründet ist. Nicht nur, daß Nietzsche und Kant keine Antipoden auf dem Gebiet der Ästhetik waren, vielmehr ist auch der Unterschied zwischen ihnen überhaupt nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheint, und nicht so groß, daß er nicht durch angemessene Interpretation überwunden weren könnte. Allein vorher muß wohl Kant verstanden werden, seine Auffassung muß von den überlieferten Mißverständnissen und Fälschungen befreit werden." Erst dann wird klar, daß hier keine Gegensätze bestehen, daß die Ähnlichkeiten sogar viel größer als die Unterschiede sind. Die Kantische Formel „interesseloses Wohlgefallen" hat einen ganz anderen Sinn als jenen, den ihr Nietzsche beigelegt hat, wobei er sich nach Schopenhauer richtete. Bei Kant wird die Erfahrung des Schönen nicht auf eine bloße Betrachtung oder Widerspiegelung des Gegenstands reduziert, ohne irgendeine tiefere Beziehung zu ihm, geschweige denn, daß das Wesen dieser Erfahrung als reiner Stillstand, als völlige Entspannung des Willens, als Verzicht auf jede Tätigkeit gedeutet wird. Daß die Kantische Auffassung viel tiefer und umfassender war, als Nietzsche dachte, ist überhaupt schon daraus zu ersehen, daß Kant Einbildungskraft und Verstand fest verbunden, ja daß er „die Lust am Schönen" mit der „Lust der Reflexion" 100 identifiziert hat. Irrtümlicherweise glaubte Nietzsche, daß Kant in seiner Bemühung um die nähere Bestimmung des Schönen fehlgegangenen sei, daß er das ästhetische Gebiet irgendwie „vermanscht" oder sogar „beschmutzt" habe. Schwerlich könnte mit dieser Einschätzung jemand einverstanden sein, der die Geschichte GM III 6: KGW VI 2, S.365. " So z.B. Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie (Paris: Presses Universitaires de France, 1962). Deutsche Übersetzung: Nietzsche und die Philosophie (München: Rogner und Bernhard, 1976), S. 111-112. " Einen entscheidenden Schritt zum tieferen Verständnis der Kantischen Lehre vom Schönen, jedoch in ausdrücklichem Gegensatz zu Nietzsche, den er für einen Mitschuldigen (zusammen mit Schopenhauer) für die entstandene Situation hält, macht Martin Heidegger, a.a.O. I, S. 126-135. Auf der Spur dieser Heideggerschen Einsicht, hat Dieter Jähnig die Kantische Lehre subtil interpretiert in seinem Beitrag „Das Interesse des interesselosen Wohlgefallens" im Buch: Mihailo Djuric / Ivan Urbancic (Hrsg.), Das Denken am Ende der Philosophie. In memoriam Dusan Pirjevec (Beograd, Nezavisna izdanja S.Masica, 1982), S. 96-102 (Deutsch, mit kurzen Zusammenfassungen in slovenischer und serbokroatischer Sprache). 100 Kritik der Urteilskraft, Kants Werke V (Akademie-Ausgabe) (Berlin: G.Reimer, 1908), §§9, 44, 57, S. 218, 306, 345-346. 97

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der Ästhetik besser kennt. In der Tat strebte Kant danach, die Autonomie dieses Bereichs aufzuzeigen, die ästhetische Einstellung von allen anderen möglichen Weltverhältnissen abzugrenzen. U n d dies ist ihm gelungen wie kaum jemand anderem vor ihm. Hätte Nietzsche seine Lösung besser verstanden, so wäre ihm wahrscheinlich die Formulierung der eigenen nicht so schwer gefallen. Es gibt nichts Verdächtiges und Verzerrtes in der Kantischen Bestimmung des Schönen als „freie Gunst", 101 als das, was man „ohne alles Interesse" 102 genießt. Diese Bestimmung bringt eigentlich auf die bestmögliche Weise die Eigenart des ästhetischen Phänomens selbst zum Ausdruck. Dadurch, daß er jedes Interesse an der „Existenz des Gegenstandes" 103 ausschaltet und nur dessen ästhetischen Aspekt in Betracht zieht, läßt uns Kant nicht gleichgültig vor der Erscheinung des Schönen, er verneint nicht die Notwendigkeit unseres Eintretens für seine Erhaltung. In seiner Formel bedeutet „Interesselosigkeit" überhaupt nicht, daß man nicht bereit sei, dem Schönen auf dessen eigenem Boden zu begegnen, sondern gerade das Gegenteil: die Bereitschaft zur größten Anstrengung zu diesem Zweck. Denn unter „Interesse an der Existenz des Gegenstandes", von dem die ästhetische Einstellung völlig frei sein sollte, versteht Kant vor allem das pragmatische Interesse. 104 Das ist gar kein Interesse an der Erhaltung des Gegenstandes, sondern ein Interesse an dessen Gebrauch und Verbrauch: der Gegenstand wird nicht im Blick auf das, was ihm eigentümlich ist, was ihn zu dem macht, was er ist, betrachtet, sondern im Blick auf etwas anderes, was durch ihn erreicht werden könnte. Wer an der „Existenz des Gegenstands" interessiert ist, ist eigentlich an seiner Aneignung interessiert, d.h. daran, unumschränkt über ihn zu verfügen, und das bedeutet die Aufhebung dieses Gegenstands selbst. Kant erkennt richtig, daß die Ausschaltung jedes derartigen Interesses eine wesentliche Vorbedingung der ästhetischen Erfahrung sei. Es gibt kein Schönes, solange der Wille zur Aneignung, zum Gebrauch und zur unumschränkten Verfügung nicht gebrochen wird. Dabei betont Kant besonders, daß man dem Schönen nicht zu nahe treten darf. U m einen Gegenstand überhaupt als schön erfahren zu können, um ihn als solchen überhaupt genießen zu können, muß man auf alle anderen Absichten ihm gegenüber verzichten, man muß seine einzigartige Eigenschaft - daß er schön ist - ernstlich beachten. U m jedoch dem Schönen zum Vorschein zu verhelfen, um es in seinem ganzen Glanz und seiner Größe frei erscheinen zu lassen, muß man sich zunächst selbst für diese Aufgabe frei machen, man muß zunächst

101 102 105 104

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

§ 5 , S. 210. § 2 , S. 204. S.204. S . 2 0 5 . Vgl. Dieter Jähnig, a . a . O . , S.100.

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selbst (wenigstens für einen Augenblick) frei sein. Es ist also eine äußerste Anstrengung des eigenen Wesens notwendig, um ästhetisch genießen zu können, „freie Gunst" ist alles andere eher als passive Kontemplation. Wenn also der Sinn der Kantischen Auffassung darin liegt, daß die ästhetische Einstellung den Verzicht auf jede Absicht, über die Dinge zu verfügen und zu herrschen, impliziert, wenn sein Grundgedanke darin besteht, die Dinge sein zu lassen, was sie sind, sie so anzunehmen, wie sie sich uns zeigen, in ihrer ganzen Eigenart und Fülle, 105 dann ist der Zusammenhang der Nietzscheschen Auffassung mit der Kantischen offenkundig - so offenkundig, daß man ihn kaum übersehen kann. Wir können nur bedauern, daß dieser Zusammenhang Nietzsche selbst verborgen geblieben ist. Freilich erfordert die Erinnerung an diesen Zusammenhang höchstmögliche Behutsamkeit, damit wir nicht, entgegen der vorherrschenden Meinung, in das andere Extrem geraten. Es wäre jedenfalls übertrieben und unbegründet zu sagen, daß Nietzsche ein Nachfolger Kants auf dem Gebiet der Ästhetik war, daß er über die Kunst in seinem Sinn dachte, daß er sich im Horizont seines Denkens bewegte, daß er sogar dasselbe behauptete wie er. Wir meinen dies nicht nur deswegen, weil Nietzsche sich ausdrücklich gegen Kant (eigentlich gegen die eigene falsche Vorstellung von ihm) verwahrte, sondern auch angesichts einiger anderer wichtiger Unterschiede zwischen ihnen. Daß aber Nietzsche der Kantischen Kunstauffassung sehr nahe kam, daß sich seine Auffassung in hohem Grade mit der Kantischen berührt und verschränkt, ja daß sie diese sogar in einem wichtigen Punkte bestätigt und bekräftigt, daran gibt es keine Zweifel. Zu einem solchen Schluß kommen wir nicht nur aufgrund einiger kurzer Äußerungen Nietzsches über das Schöne (hervorgehoben in Entgegensetzung zu Kant), die es direkt bestätigen. Es scheint, daß dies aus allem, was Nietzsche im Zusammenhang mit der Kunst gesagt hat, indirekt hervorgeht. Wenn nichts anderes, eines ist doch gewiß: daß Nietzsche sich vom gleichen Grundgedanken leiten ließ, der auch Kant beschäftigte, daß er um dieselbe Sache bemüht war, nach welcher auch dieser strebte - und das ist: die Autonomie der Kunst zu erklären und zu sichern, die Eigenart der ästhetischen Einstellung hervorzuheben, entgegen allen anderen Formen oder Arten des menschlichen Weltverhältnisses. Dabei ist völlig unwichtig, daß Nietzsche einen ganz anderen Weg als sein großer Vorgänger eingeschlagen hat, daß er ganz andere Mängel und Schwierigkeiten ins Auge faßte als jene, an welche Kant dachte, daß er sich einbildete, 105

D a Kant unter Schönem nicht nur die „Kunstschönheit" sondern ebenso, vielleicht auch besonders die „Naturschönheit" ( a . a . O . , § 4 2 , S . 2 9 8 ) begriff, ist offenkundig, daß seine ästhetischen Betrachtungen nicht durch bloßen Subjektivismus belastet sind, daß sie vielmehr aus seiner Bemühung um die allgemeine Teleologie hervorgegangen sind. Vgl. Rüdiger Bubner, a. a . O . , S. 64.

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eine ganz andere Art von Abhängigkeit sei für die Kunst gefährlicher und verderblicher als jene, auf welche dieser letztere hingewiesen hat. U n d es ist belanglos, daß Nietzsche sich nicht als Ziel setzte, nur theoretisch zu erläutern, was Kunst sei, wie es Kant getan hat, er war vielmehr bemüht, ihre wirkliche Wiedergeburt im Sinne dieser Erläuterung herbeizuführen. In beiden Fällen war dieselbe Grundeinsicht entscheidend: daß die Kunst die menschlichste von allen menschlichen Kulturtätigkeiten ist, denn erst in der Kunst und durch die Kunst wird der Mensch wirklich frei, weil er nur als Künstler allem Seienden Freiheit schenkt, d . h . die Welt und das Leben im Ganzen bejaht. 1 0 6 So tief ist diese Grundeinsicht in alle Kantischen

und

Nietzscheschen Betrachtungen über die Kunst verwoben, daß wir sie kaum aus ihren Texten herauslösen können, wenn sie auch beide nach ganz verschiedenen W o r t e n und Wendungen gegriffen haben. Es besteht kein Zweifel, daß beide diese Grundeinsicht aus ein und derselben gemeinsamen Quelle übernommen haben, aus der alten griechischen Kunst (obwohl nur Nietzsche es für nötig hielt, seine Schuld gegen die Griechen besonders hervorzuheben, während Kant diesem Umstand keinen Wert beilegte). Jedenfalls ist die Ähnlichkeit auffallend und unzweifelhaft. Gemeinsam mit Kant hat Nietzsche wohl erkannt, daß die ästhetische Erfahrung nur unter der Bedingung möglich ist, daß alle anderen Rücksichten und Interessen zurückgedrängt werden, die eine unmittelbare Begegnung mit den Dingen gefährden (gleichviel, ob diese R ü c k sichten und Interessen einen idealen oder einen vorzüglich utilitaristischen Charakter

haben),

daß

die

ästhetische

Einstellung

die

höchstmögliche

Anstrengung unseres Wesens erfordert, denn von uns selbst hängt es vor allem und am meisten ab, ob das Schöne als es selbst erscheinen wird, in seiner reinen und ungetrübten Eigenart. Genau so wie der Wille zum Herrschen und Gebieten die Kunst vernichtet, so wird sie auch von religiösen, philosophischen und moralischen Irrtümern und Vorurteilen bedroht und unmöglich gemacht. Wie nahe die Nietzschesche Auffassung von Kunst der Kantischen steht und zwar in einem wesentlichen Punkt, der sie davon am meisten trennen sollte, in der Bestimmung des Schönen - zeigen auch einige ausdrückliche Äußerungen Nietzsches. Es seien zunächst drei miteinander verbundene Stellen angeführt: „Das Feste, Mächtige, Solide, das Leben, das breit und gewaltig ruht und seine Kraft birgt - das ,gefällt':

106

d. h. das correspondirt mit dem, was

In einer Aufzeichnung aus der Zeit des Zarathustra, in der er das „Los-sein-von-Interesse und ego" „Unsinn und ungenaue Beobachtung" nennt, behauptet Nietzsche ausdrücklich, daß den Künstler „das Entzücken, jetzt in unserer Welt zu sein" zum Schaffen drängt ( N 1884: K G W VII 2, 25 (94), S. 29). Diese Stelle zitiert Heidegger in seinem Buch (I, S. 132) und kommentiert sie folgendermaßen: „Doch was Nietzsche als das Entzücken, in unserer Welt zu sein, bezeichnet, ist jenes, was Kant mit der ,Lust der Reflexion' meint."

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man von sich hält."107 „Es ist die Frage der Kraft (eines Einzelnen oder eines Volkes), ob und wo das Urtheil ,schön' angesetzt wird [ . . . ] das Machtgeiühl spricht das Urtheil ,schön' noch über Dinge und Zustände aus, welche der Instinkt der Ohnmacht nur als hassenswertb, als ,häßlich' abschätzen kann. Die Witterung dafür, womit wir ungefähr fertig werden würden, wenn es leibhaft entgegenträte, als Gefahr, Problem, Versuchung, - diese Witterung bestimmt auch noch unser ästhetisches Ja: (,das ist schön' ist eine Bejahung)."106 „Das Gefühl der Macht, der Wille zur Macht - das wächst mit dem Schönen, das fällt mit dem Häßlichen."109 Offenkundig rechnet Nietzsche hier damit, daß das Schöne etwas Wertvolles, etwas Ehrwürdiges sei. Schön ist das, was gefällt, was man begehrt, was man billigt. Das Schöne existiert nicht an sich, es ist vielmehr nur für denjenigen da, der es entdeckt, dem es sich zeigt.110 Die Dinge sind nicht für jeden ohne Unterschied gleich schön. Das Urteil darüber, was schön ist, hängt von dem ab, der es ausspricht, und von dem, was er von sich fordert. Jeder nennt dasjenige schön, was mit seiner Vorstellung über sich selbst übereinstimmt, dasjenige, in dem er sich selbst erkennt, das, worin er sich selbst überwindet. Trotz aller Akzentverschiebung (besonders hinsichtlich der Stellungahme zum Anspruch auf Allgemeingültigkeit des äthetischen Urteils), kommt Nietzsche hier fast haargenau auf das, was Kant im Sinne hatte, als er die Erfahrung des Schönen in unmittelbarste Beziehung mit unserer Bereitwilligkeit und Fähigkeit, ihm entgegenzukommen, brachte. Auf die Verwandtschaft der Nietzscheschen Kunstauffassung mit der Kantischen weist vielleicht noch deutlicher die Fortsetzung jener oben schon zitierten Aufzeichnung hin, in der sich Nietzsche ausdrücklich von der Kantischen Bestimmung distanziert: „Mir gilt als schön (historisch betrachtet): was an den verehrtesten Menschen einer Zeit sichtbar wird, als Audruck des Verehrungs- Würdigsten." "1 Hier ist sehr knapp und einprägsam der eigentliche Sinn der Kantischen Auffassung (mit einer charakteristischen Erweiterung

Ν 1 8 8 5 / 8 7 : K G W VIII 1, 7 (7), S . 2 9 8 . Ν 1 8 8 7 / 8 8 : K G W VIII 2, 10 (168), S . 2 2 1 - 2 2 2 . " " Ν 1 8 8 8 / 8 9 : K G W VIII 3, 16 (40), S . 2 9 5 . 110 Vgl. G D Streifzüge eines Unzeitgemässen 19: K G W VI 3, S. 117: „Das ,Schöne an sich' ist bloss ein W o r t , nicht einmal ein Begriff. Im Schönen setzt sich der Mensch als Maass der Vollkommenheit: in ausgesuchten Fällen betet er sich darin an. Eine Gattung kann gar nicht anders als dergestalt sich allein Ja sagen. [ . . . ] Im Grunde spiegelt sich der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft: das Urtheil ,schön' ist eine Gattungs-Eitelkeit..." Insofern ist es unwahrscheinlich, daß Nietzsche „in der N ä h e " der Platonischen Auffassung vom Schönen geblieben sei (nach der die Vollkommenheit des Anblickes das Streben erweckt, endgültig die Wahrheit zu erkennen), daß bei ihm die Schönheit und der Wille zur Macht in irgendeinem „Widerstreit" stünden, wie es Bernhard Taureck behauptet, „Nietzsches Einfluß auf die Lyrik. Ein Beitrag zur philosophischen Ästhetik", Nietzsche-Studien 10/11 (1981/1982), S. 5 6 5 - 5 9 6 , insbesondere S. 5 6 9 - 5 7 5 , 594. 107 108

111

Ν 1 8 8 2 / 8 3 - 8 4 : K G W VII 1, 7 (18), S . 2 5 1 .

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auf alles historisch Wichtige und Große) ausgedrückt, so daß es wirklich verwundert, wie es überhaupt dazu gekommen ist, daß Nietzsche, von der irrtümlichen Voraussetzung ausgehend sein großer Vorgänger spreche über etwas ganz anderes, fast in demselben Atemzug gerade seinen Grundgedanken wiederholt. Denn unter dem Schönen verstand Kant eigentlich das Verehrungs-Würdige, das, was in sich den Grund seiner Würde trägt, was sich die Verehrung schon durch seine Erscheinung selbst verschafft.112 Allerdings, eine seltsame Koinzidenz! Und was kann nun über die Unterschiede zwischen der Nietzscheschen und der Kantischen Auffassung der Kunst gesagt werden? Kann man darüber stillschweigend hinweggehen? Daß es genug Unterschiede gibt, die groß und bedeutend sind, ist schon am Anfang dieses Vergleichs hervorgehoben worden. Anscheinend müssen einige davon nun genannt werden, denn nur so kann die Bedeutung und die Tragweite der vermuteten Verwandtschaft richtig verstanden und geschätzt werden. Zumindest gibt es drei Punkte, in denen Nietzsche und Kant nicht übereinstimmten, hinsichtlich derer ihre Ansichten über die Kunst in vielem auseinandergingen. Dies sind folgende Punkte: 1. Die Täuschungs-Funktion der Kunst, 2. das Verhältnis zwischen dem Schönen und dem Häßlichen und 3. die allgemeine Konzeption der Ästhetik. Es handelt sich um Unterschiede, deren sich Nietzsche nicht bewußt war und auf denen er nicht beharrte. Beiläufig erwähnte er nur einen dieser Punkte, denjenigen, welcher den allgemeinen Zugang zur Ästhetik betrifft, wobei er scharf und kritisch gegen Kant Stellung nahm, indem er diesen unter die Vertreter der traditionellen Ästhetik einreihte. Dies erleichtert bedeutend unsere Aufgabe. Hier sind all diese Unterschiede der Reihe nach kurz zu betrachten. Nietzsche verbarg nicht seine Unzufriedenheit mit der traditionellen philosophischen Interpretation der Kunst. Er widersprach ihr sogar oft in ganz zugespitzter Form. Es leuchtete ihm ein, daß die Kunst den Schein produziere, daß die Lüge ihr eigentliches Element und Täuschung ihre hauptsächliche Aufgabe sei. In dieser Hinsicht war Nietzsche standhaft. Es gibt unzählige Formulierungen, besonders aus der letzten Schaffensperiode, in denen dieser Gedanke immer von neuem bestätigt wird. Dabei machte Nietzsche keinen strengen Unterschied zwischen den Termini „Schein", „Lüge" und „Täuschung", vielmehr gebrauchte er sie abwechselnd im gleichen Sinn. Er meinte, daß der „Wille zur Täuschung" in der Kunst „das gute Gewissen zur Seite hat",113 daß der „Wille zur Lüge" das „Künstler-Vermögen par excellence des 112

1,3

Auf diese Ähnlichkeit deutet auch Heidegger hin, jedoch mit der Einschränkung, daß dasjenige, was Nietzsche v o m Schönen sagt, erst dadurch verständlich wird, daß Kant das Wesen der ästshetischen Erfahrung tiefer durchdacht hat ( a . a . O . I, S. 131, 133). G M III 2 5 : K G W VI 2, S . 4 2 0 .

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Menschen" 114 sei, ja daß der Künstler „den Schein höher schätzt als die Realität", daß aber der „Schein" für ihn kein bloßes Hirngespinst sei, sondern „die Realität noch einmal, nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur". 115 Anders Kant. Bei ihm ist alles viel ruhiger und ausgeglichener als bei Nietzsche. Obwohl er kein bloßer Nachfolger der traditionellen Kunstbetrachtung war, wie Nietzsche es sich vorstellte, kann man doch nicht sagen, daß er schon tatsächlich damit gebrochen habe. Jedenfalls vermied Kant bedenkliche Ausdrücke, nirgends behauptete er, das Schöne sei nur ein „Schein". Erst indirekt kann der Schluß gezogen werden, daß ihm dieser Gedanke nicht fremd war (insofern auch für ihn das Schöne nicht als an sich Existierendes galt, sondern als etwas, das „erscheint") und daß wir gegen seine Bemühung nicht verstoßen würden, wenn wir eine solche Möglichkeit zuließen.116 N u r kann man von Kant keineswegs behaupten, daß er das Schöne auf eine rein subjektive (also willkürliche) Bestimmung reduziert habe. All seine Bemühungen gingen gerade in entgegengesetzter Richtung, er wollte zeigen, daß das äthetische Urteil mit Recht Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Nietzsche teilte nicht die Ansicht Kants, daß das Schöne den ganzen Bereich des Ästhetischen erschöpfe. Er war der Meinung, daß die ausschließliche Hervorhebung des Schönen zum schwersten Irrtum der traditionellen Ästhetik gehöre, mit dem endlich einmal endgültig gebrochen werden müsse. Im Unterschied zu Kant, der den ganzen ästhetischen Bereich mit dem Titel „schön" umfaßte, meinte Nietzsche, daß das Schöne bloß eine Seite, und zwar die Vorderseite des Ästhetischen sei. Seinen Worten zufolge ist das ästhetische Urteil „kurzsichtig", die hohe Einschätzung des Schönen stammt aus der „Vordergrunds-Optik", gründet sich auf einer bloß instinktiven Reaktion, „welche nur die nächsten Folgen in Betracht zieht". 117 Dagegen betont Nietzsche, daß der „tragische Künstler" einen tieferen ästhetischen Instinkt habe, aufgrund dessen er auch „die ferneren Folgen übersieht", und „nicht kurzfristig beim Nächsten stehen bleibt", daß ein solcher Künstler „die Ökonomie im großen bejaht, welche das Furchtbare, Böse, Fragwürdige rechtfertigt, und nicht nur . . . rechtfertigt". 118 Daraus würde hervorgehen, daß der Bereich des Ästhetischen viel weiter reicht, als es Kant vorstellte, denn die Kunst beschränkt sich nicht nur auf die Darstellung des Schönen, sie stellt vielmehr auch „das viele Häßliche, Harte, Schreckliche" 1 " dar. Man könnte sogar

Ν 1887/88: K G W VIII 2 , 1 1 (415), S. 435. Ebenso Ν 1888/89: K G W VIII 3 , 1 7 (3), S. 318. Vgl. Ν 1885/87: K G W VIII 1, 8 (7), S . 3 4 7 : „Die Lust an der Lüge als die Mutter der Kunst". 115 G D Die ,Vernunft' in der Philosophie 6: K G W VI 3, S.73. 1,6 Vgl. Dieter Jähnig, a. a. O . S. 96. 117 Ν 1887/88: K G W VIII 2, 10 (167), S. 220-221. "» Ebd., 10 (168), S.223. 1,9 Ebd., 9 (119), S. 69. Vgl. G D Streifzüge eines Unzeitgemässen 24: K G W VI 3, S. 121. 114

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schließen, daß dieses letztere viel wichtiger als jenes erstere sei, zumindest für die Kunst im Sinne der Forderung Nietzsches. Zwar war Nietzsche in dieser Hinsicht weder ganz entschieden noch ganz folgerichtig. Man hat den Eindruck, daß er zu keiner radikalen Wendung neigte. Zumindest muß man sagen, daß er nicht danach trachtete, das Häßliche gegenüber dem Schönen zu rehabilitieren. Das Häßliche war für ihn „der Widerspruch zur Kunst, das, was ausgeschlossen wird von der Kunst, ihr Nein". 120 Der Grund ist sehr einfach. Nietzsche wußte sehr wohl, daß das Häßliche das Kraft- und Machtgefühl nicht steigert, sondern es im Gegenteil zurückdrängt und erstickt. In diesem Sinne sagt er: „Das Häßliche wirkt depressiv, es ist der Ausdruck einer Depression. Es nimmt Kraft, es verarmt, es drückt.. . " m An einer anderen Stelle heißt es: „Alles Häßliche schwächt und betrübt den Menschen: es erinnert ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht." 122 Und dies bedeutet letzten Endes, daß auch für Nietzsche, trotz aller Hervorhebung des Häßlichen, das Schöne die ästhetische Grundkategorie bleibt. Nicht zufällig sagt er an einer Stelle: „,Schönheit' ist deshalb für den Künstler etwas außer aller Rangordnung, weil in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind, das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung: - daß keine Gewalt mehr noth thut, daß alles so leicht folgt, gehorcht, und zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht - das ergötzt den Machtwillen des Künstlers."123 Insofern ist der Unterschied zwischen Kant und Nietzsche im Hinblick auf diesen zweiten Punkt offenkundig bedeutend geringer als im Hinblick auf den ersteren. Was die allgemeine Konzeption der Ästhetik betrifft, so war Nietzsche überzeugt, daß er sich grundsätzlich nicht nur von Kant unterscheidet, sondern auch von allen seinen Vorgängern auf diesem Gebiet. Er bildete sich ein, daß er als erster das ästhetische Problem vom Standpunkt des Künstlers, d. h. desjenigen, der gibt, der die Kunst schafft, gesehen habe und nicht vom Standpunkt des Laien, d. h. desjenigen, der die Kunst empfängt. Er behauptete (mit der ihm eigenen Neigung zur Ubertreibung), daß in der ganzen Philosophie bis heute der Künstler fehlte, daß die ganze bisherige Ästhetik eine „Weibs-Ästhetik" wäre, insofern es sich darin allein um die ästhetischen Erlebnisse und Erregungen der „Empfänglichen für Kunst"124 handelte. Nach Nietzsches Worten ging es Kant wie allen anderen Philosophen vor ihm. Anstatt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit die „Erfahrungen des Künstlers (des Schaffenden)" zu stellen, hat er „allein vom ,Zuschauer' aus über die 120 121 122 123 ,2