Echtzeit - Text - Archiv - Simulation: Die Matrix der Medien und ihre philosophische Herkunft [1. Aufl.] 9783839401514

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Echtzeit - Text - Archiv - Simulation: Die Matrix der Medien und ihre philosophische Herkunft [1. Aufl.]
 9783839401514

Table of contents :
Inhalt
Siglen
Dank
Einleitung
Prolepse
Motivation und Zweck
Aufbau und innerer Zusammenhang
»Subjekt« und »Sinnlichkeit« im methodischen Zusammenhang
Erster Teil. Eröffnung des Zugangs zur Moderne
Hegels Weg des Denkens als Verschließung der Metaphysik
Vorbemerkung
Phänomenologie
Wissenschaft der Logik
Enzyklopädie
Der fragliche »Ursprung«. Ein Ursprung modernen Denkens
Welt (Schopenhauer)
Sinnlichkeit (Feuerbach)
Absurdität (Kierkegaard)
Wie Zwerge auf den Schultern von Riesen? Anmerkungen zur Geschichte und Semantik von »modern« und »Moderne«
Vorbemerkung
Vom »Konzil von Chalkedon« bis Heinrich Heine
Die moderne Moderne
Über die Grenze des Modernen hinaus?
Zweiter Teil. Echtzeit – Text – Archiv – Simulation Paradigmen philosophischer Medientheorie
Echtzeit (Virilio)
Methodische Möglichkeit des Nihilismus – Eine Vorbemerkung
Der Arbeiter
Die Frage an Virilio stellen
Arbeiter und Technik
Nihilismus und Nullpunkt
In die Zone hinein – und wieder hinaus? Zu Heidegger und Jünger
An der »Zeitmauer« – und darüber hinaus? Von Jünger zu Virilio
Pro und Contra Virilio
Logistik der »Ästhetik des Verschwindens«: das Verschwinden der Aisthetik
Transpolitik und Öffentlichkeit
Demut! Demut?
Auf der Stelle – Echtzeit
Text (Derrida)
Übersetzen: In Babel
Text-Zeit: Im Zeichen der différance
Sinnlichkeit des Zeichens
Stimme – autoaffektive Selbstpräsenz?
Schrift-Spuren
Exkurs: Zur Spur des Subjekts
Écran de l’autre
Ereignis der »Échographies«
Whither medias?
Archiv (Foucault)
Erinnern und Überschreiben: Die Zeit des Archivs
Transgression des Archivs
Exkurs: Realia des Archivs
»eine einfache Falte in unserem Wissen«
Sexualität am »Saum der Zeit«
Simulation (Baudrillard)
Ein Sub-Text: Die Matrix
lexikalisch
theorie-topologisch
mathematisch
medial
Tausch I – Code und Fetischismus
Very High Density – Simulation als Simulakrum der Sinnlichkeit
Exkurs: Möglicherweise virtuell
Tausch II – an niemanden: Ein unmöglicher Tausch
Dritter Teil. »Subjekt« und »Sinnlichkeit« in der Philosophie der Moderne
Kapital und »Maschinerie« (Marx)
Entfremdung und moderner Produktionsbegriff
Fetischcharakter (nicht nur) der Ware
Arbeiter und Kapital: Wer ist wessen »sub iectum«?
Sinnlichkeit als (technische) Praxis
Der Augenblick des Menschen als Schaffender (Nietzsche)
Die Technizität der Epoche
Nietzsches »Ursprung«
»Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde«
Der Augenblick des Subjekts
Produktiver Leib
Die Welt als Wirklichkeit des Bewusstseins (Husserl)
In der Welt
Die Welt in ihrer Sinnlichkeit
Das Wie des Bewusstseins und der »Sinn«
Die Zeiterfahrung der Wirklichkeit
Jenseits von Humanismus und Technik (Heidegger)
Von Briefen über Humanismus und »Anthropotechniken«
Im Ereignis des Sinnlichen
Ge-stellte Wirklichkeit
Ins Offene
Vierter Teil. Nachwort
Ins Offene des Öffentlichen
Literatur

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Echtzeit – Text – Archiv – Simulation

2003-08-14 16-13-28 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 29190153802

Timo Skrandies hat Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik studiert. Er ist Juniorprofessor für »Kulturwissenschaft und Medien« an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

2003-08-14 16-13-28 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S.

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) T00_02 vak.p 29190154034

Timo Skrandies Echtzeit – Text – Archiv – Simulation Die Matrix der Medien und ihre philosophische Herkunft

2003-08-14 16-13-29 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S.

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) T00_03 innentitel.p 29190154146

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2003 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Bibliothèque nationale de France Alain Goustard, Fontenay-aux-Roses Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-151-5

2003-08-16 10-37-42 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 010329342809898|(S.

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) T00_04 impressum.p 29342809938

Inhalt Siglen 10 Dank 15 Einleitung 17 Prolepse 17 Motivation und Zweck 18 Aufbau und innerer Zusammenhang 20 »Subjekt« und »Sinnlichkeit« im methodischen Zusammenhang 23

Erster Teil Eröffnung des Zugangs zur Moderne Hegels Weg des Denkens als Verschließung der Metaphysik 31

Vorbemerkung 31 Phänomenologie 33 Wissenschaft der Logik 36 Enzyklopädie 41 Der fragliche »Ursprung«. Ein Ursprung modernen Denkens 53 Welt (Schopenhauer) 53

2003-08-14 16-13-30 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S.

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9) T00_05 inhalt.p 29190154242

Sinnlichkeit (Feuerbach) 54 Absurdität (Kierkegaard) 56 Wie Zwerge auf den Schultern von Riesen? Anmerkungen zur Geschichte und Semantik von »modern« und »Moderne« 59 Vorbemerkung 59 Vom »Konzil von Chalkedon« bis Heinrich Heine 60 Die moderne Moderne 67 Über die Grenze des Modernen hinaus? 72

Zweiter Teil Echtzeit – Text – Archiv – Simulation. Paradigmen philosophischer Medientheorie Echtzeit (Virilio) 81

Methodische Möglichkeit des Nihilismus – Eine Vorbemerkung 81 Der Arbeiter 82 Die Frage an Virilio stellen 85 | Arbeiter und Technik 89 Nihilismus und Nullpunkt 92 In die Zone hinein – und wieder hinaus? Zu Heidegger und Jünger 94 | An der »Zeitmauer« – und darüber hinaus? Von Jünger zu Virilio 99 | Pro und Contra Virilio 105 Logistik der »Ästhetik des Verschwindens«: das Verschwinden der Aisthetik 107 Transpolitik und Öffentlichkeit 116 | Demut! Demut? 121 Auf der Stelle – Echtzeit 126

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9) T00_05 inhalt.p 29190154242

Text (Derrida) 135 Übersetzen: In Babel 135 Text-Zeit: Im Zeichen der différance 141 Sinnlichkeit des Zeichens 142 | Stimme – autoaffektive Selbstpräsenz? 147 | Schrift-Spuren 152 Exkurs: Zur Spur des Subjekts 156 Écran de l’autre 163 Ereignis der »Échographies« 163 | Whither medias? 173 Archiv (Foucault) 177 Erinnern und Überschreiben: Die Zeit des Archivs 179 Transgression des Archivs 182 Exkurs: Realia des Archivs 187 »eine einfache Falte in unserem Wissen« 194 Sexualität am »Saum der Zeit« 200 Simulation (Baudrillard) 207 Ein Sub-Text: Die Matrix 208 lexikalisch 211 | theorie-topologisch 211 | mathematisch 215 | medial 216 Tausch I – Code und Fetischismus 222 Very High Density – Simulation als Simulakrum der Sinnlichkeit 231 Exkurs: Möglicherweise virtuell 239 Tausch II – an niemanden: Ein unmöglicher Tausch 250

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Dritter Teil »Subjekt« und »Sinnlichkeit« in der Philosophie der Moderne Kapital und »Maschinerie« (Marx) 261

Entfremdung und moderner Produktionsbegriff 261 Fetischcharakter (nicht nur) der Ware 266 Arbeiter und Kapital: Wer ist wessen »sub iectum«? 269 Sinnlichkeit als (technische) Praxis 275 Der Augenblick des Menschen als Schaffender (Nietzsche) 285 Die Technizität der Epoche 286 Nietzsches »Ursprung« 288 »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde« 290 Der Augenblick des Subjekts 298 Produktiver Leib 303 Die Welt als Wirklichkeit des Bewusstseins (Husserl) 309 In der Welt 312 Die Welt in ihrer Sinnlichkeit 316 Das Wie des Bewusstseins und der »Sinn« 321 Die Zeiterfahrung der Wirklichkeit 330 Jenseits von Humanismus und Technik (Heidegger) 337 Von Briefen über Humanismus und »Anthropotechniken« 337 Im Ereignis des Sinnlichen 346 Ge-stellte Wirklichkeit 355

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9) T00_05 inhalt.p 29190154242

Ins Offene 361

Vierter Teil Nachwort Ins Offene des Öffentlichen 377

Literatur 385

2003-08-14 16-13-31 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S.

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9) T00_05 inhalt.p 29190154242

Siglen Jean Baudrillard Bau PV Bau UT Bau STT Bau FI Bau IE Bau SS Bau PS Bau T Bau TdM Bau TB

Das perfekte Verbrechen Der unmögliche Tausch Der symbolische Tausch und der Tod Fetischismus und Ideologie: die semiologische Reduktion Die Illusion des Endes Simulacres et Simulation Die Präzession der Simulakra Transparenz Der Tod der Moderne. Eine Diskussion Die Transparenz des Bösen

Walter Benjamin B Band

Gesammelte Schriften

Jacques Derrida D Ba Dd DE D GW D FSS D Gr DA DP D SEK D MG D SP

Babylonische Türme Die différance Échographies de la télévision Glaube und Wissen Freud und der Schauplatz der Schrift Grammatologie Dem Archiv verschrieben Positions Signatur Ereignis Kontext Marx’ Gespenster Die Stimme und das Phänomen

Ludwig Feuerbach Fb G

Grundsätze der Philosophie der Zukunft

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10- 12) T00_06 siglen.p 29192262602

Michel Foucault F AW F Spr F OD F BÜ F WW

Archäologie des Wissens Das unendliche Sprechen Die Ordnung der Dinge Zum Begriff der Übertretung Der Wille zum Wissen

Georg Wilhelm Friedrich Hegel H Band

Werke in zwanzig Bänden

Martin Heidegger Hei BrH Hei EdPh Hei FT Hei HdK Hei SdI Hei NI Hei NII Hei SuZ Hei ÜDL Hei WhD Hei WuB Hei ZW

Brief über den »Humanismus« Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens Die Frage nach der Technik Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens »Der Satz der Identität« Nietzsche I Nietzsche II Sein und Zeit »Über ›Die Linie‹« Was heisst Denken? Wissenschaft und Besinnung Die Zeit des Weltbildes

Edmund Husserl Hu Band Hu 8/1 Hu 8/2

Gesammelte Schriften Cartesianische Meditationen Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie

Ernst Jünger Jü DA Jü ÜdL Jü ZM

Der Arbeiter »Über die Linie« An der Zeitmauer

Immanuel Kant KpV

Kritik der praktischen Vernunft

Søren Kierkegaard K PhB

Philosophische Brocken

2003-08-14 16-48-35 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529192262594|(S.

10- 12) T00_06 siglen.p 29192262602

Jean François Lyotard L PW

Das postmoderne Wissen

Karl Marx MEW Band M Gr

Marx-Engels-Werke Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie

Maurice Merleau-Ponty MP SU

Das Sichtbare und das Unsichtbare

Friedrich Nietzsche N Band N III

Kritische Studienausgabe Werke in drei Bänden, Bd. III

Ferdinand de Saussure S AS

Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft

Arthur Schopenhauer Sch Band

Die Welt als Wille und Vorstellung

Peter Sloterdijk Slo RM

»Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismusbrief«

Paul Virilio V EK V DrK V KF V ÄV V NH V RSt VS V öB VF

Die Eroberung des Körpers Der reine Krieg Krieg und Fernsehen Ästhetik des Verschwindens Der negative Horizont Rasender Stillstand Die Sehmaschine »Gespräch zwischen Paul Virilio und Hans-Ulrich Obrist«, in: Der öffentliche Blick Fluchtgeschwindigkeit

2003-08-14 16-48-35 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529192262594|(S.

10- 12) T00_06 siglen.p 29192262602

wie alle einfachen beziehungen die zeile für zeile mehr klarheit versprechen und dann bei tag besehen eine bekannte form wiederholen und den effekt verwehen lassen. Hendrik Rost

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) T00_07 motto.p 29190154418

2003-08-14 16-13-31 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S.

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) vakat 014.p 29190154458

ECHTZEIT – TEXT – ARCHIV – SIMULATION

Dank Akzeptieren, dass das Verfolgen eines anderen gedanklichen Weges sich abzeichnet, als der eigene verlaufen wäre, und gleichzeitige Obacht darauf, dass der andere, der diesen Weg versucht, sich nicht in eine Sackgasse verrennt. Das ist wohl der schmale Grat des akademischen Lehrers. So danke ich Herrn Professor Dr. Rudolf Heinz, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, und Herrn Professor Dr. Burkhardt Lindner, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main, dass sie mir ihre intellektuellen Räume zur Verfügung gestellt und den Weg auf die genannte Weise begleitet haben. Die fachliche und institutionelle Gastfreundschaft und Förderung, die Frau Professorin Dr. Vittoria Borsò mir in der Romanistik eingeräumt hat, bot von Beginn an die unschätzbar wichtige Möglichkeit, mich mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen und Fragestellungen zu konfrontieren, die dem vorliegenden Text eine ganz eigene Differenzierung verleihen. Die zahlreichen Gespräche und Kolloquien wurden zudem von einer Kollegialität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort getragen, die man jedem akademisch sich Ausbildenden nur wünschen kann. Hervorgehoben sei die gute Freundin, Susanne Stemmler. Wer länger über einer akademischen Arbeit gebrütet hat, weiß, dass es gefährlich sein kann, keinen fachwissenschaftlichen Austausch zu haben. Das Graduiertenkolleg »Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung« der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/ Main gab mir die Chance, dieser Isolation zu entgehen. Diese Chance habe ich gerne genutzt und möchte den DoktorandInnen und PostdoktorandInnen ganz besonders für die anregenden und kontroversen Diskussionen danken. Dem »Stuhlkreis« der vielen vielen Dienstagabende, namentlich Jürgen Buchholz, Susanne Daniels, Britta Lange, Guido Reuter, Petra Rosencke, Gerhard Thomas, danke ich für das stets konzentrierte Interesse und die Mühen, sich mehrfach auf fachfremdes Terrain gewagt und mir so bei der Erprobung der eigenen Thesen und Fragestellungen geholfen zu haben. Susanne Daniels hat einen weiten Weg der Dissertation und deren lange Vorgeschichte mit Leben gefüllt. Auch deshalb bleibe ich ihr innig und mit Dank verbunden. 15

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15- 16) T00_08 dank.p 29190154490

DANK

Stefan Winter (TU Braunschweig) gilt ein ganz spezifischer Dank: In seiner Düsseldorfer Zeit führten wir so manches Gespräch über die »logotektonischen« Ansätze der Philosophen Heribert Boeder und Claus-Artur Scheier und vor allem über die Philosophie Jacques Derridas. Diese Diskussionen haben wesentlich zur jetzigen Struktur des Textes beigetragen. Thomas Bedorf hat mich philosophischen (phänomenologischen?) und freundschaftlichen Auges durch die Unbillen moderner Philosophie begleitet – eine Stereoskopie von besonderem Wert. Saskia Reither hat mich gelehrt, dass auch die konzertierte Schlussphase einer solchen Arbeit mit Genuss verbunden sein kann – es waren unvergessliche Tage in der Deutschen Bibliothek. Es ist vermutlich eine der schwersten Prüfungen für eine Mutter, den Sohn einen Weg einschlagen zu lassen, der ihr unbekannt ist. Meiner Mutter Christel Westermann (†) danke ich für dieses Vertrauen und für den mir mitgegebenen »Mut« (wie sie sagte), auszuprobieren und anzugehen, was mir zu tun notwendig scheint. Was kann aus jemandem werden, der als kleiner Junge einen Asterix-Comic mit dem Titel »Tour de France« geschenkt bekommt? Ein Radrennfahrer? Sicher. Vielleicht auch ein frankophiler Philosoph. Die stille, aber bestimmte Förderung und Zuneigung, die ich durch Ursel und Günter Birk erfahre, und die vielleicht mit jenem Heftchen begann, hat eine Kultur von persönlicher Nähe und Respekt, wie ich sie sonst nicht kennen gelernt habe. Marion Schotsch hat das Fortschreiten des Sinns von Zeichen zu Zeichen, von Wort zu Wort, von Satz zu Satz kontrolliert. Für die Mühen des Korrekturlesens sei der Freundin und Kollegin auf das Herzlichste gedankt. Schließlich bedanke ich mich bei Rose Bischof für die sorgsame Betreuung während meines Stipendiatendaseins bei der Friedrich-EbertStiftung – und falls es möglich ist, sich bei Institutionen zu bedanken, geht der Dank auch an die Friedrich-Ebert-Stiftung für die großzügige Gewährung eines Stipendiums der Graduiertenförderung. Die Arbeit wurde 2002 mit dem Preis für die beste Dissertation ausgezeichnet. Hierfür sei der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gedankt.

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15- 16) T00_08 dank.p 29190154490

EINLEITUNG

Einleitung Jeder Redner hatte vier Minuten Zeit, um seine Thesen darzulegen. Das war ohnehin viel, wenn man bedenkt, daß 198 Referate aus 64 Staaten angemeldet waren. Um das Beratungstempo zu steigern, mußte jeder die Referate selbständig vor der Sitzung durchstudieren; der Vortragende aber sprach ausschließlich in Ziffern, die auf Kernstücke seiner Arbeit verwiesen. Um derlei reiche Sinngehalte leichter aufzunehmen, schalteten wir samt und sonders die mitgeführten Tonbandgeräte und Kleincomputer ein, welch letztere nachher die grundsätzliche Diskussion bestreiten sollten. Stanley Hazelton aus der Abordnung der USA schockierte sofort das Auditorium, denn er wiederholte nachdrücklich: 4, 6, 11 und somit 22; 5, 9, ergo 22; 3, 7, 2, 11 und demzufolge wiederum 22!!! Jemand erhob sich und rief, es gebe immerhin 5, allenfalls auch 6, 18 und 4; diesen Einwand wehrte Hazelton blitzartig ab: so oder so ergebe sich 22! Ich suchte im Text seines Referats den Codeschlüssel und entnahm ihm, daß die Zahl 22 die endgültige Katastrophe bezeichnete. Stanislaw Lem, Futurologischer Kongreß

Prolepse Immanuel Kants »Zum ewigen Frieden« beginnt mit einer Allegorie aufs eigene Thema: Es war einmal ein Gasthof, der hieß »Zum Ewigen Frieden« und der zeigte auf seinem Schild das Bild eines »Kirchhof[s]«. Wem aber diese Anzeige gelte, den Menschen insgesamt, Staatsoberhäuptern, »die des Krieges nie satt werden können«, oder Philosophen, die den »süßen« Traum vom ewigen Frieden träumen, ließ Kant »dahin gestellt sein«.1 Was könnte eine angemessene – auf »Medien« abgestellte – Allegorie heute sein? Es ist die Bibliothèque Nationale de France in Paris mit ihren vier Türmen. Diese ragen nahe den Ecken des Sockelbaus

1. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Werkausgabe, Bd. XI, hg. v. Wilhem Weischedel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, 191251, hier: 195. 17

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17- 27) T00_09 einleitung.p 29190154530

ECHTZEIT – TEXT – ARCHIV – SIMULATION

knapp achtzig Meter in die Höhe. Die in ihnen verborgene, eingelagert-ausgefaltete Geschichte ist damit weithin sichtbar. Die Beschriftungen der Türme – ihre Namen – lauten: Tour des Temps, Tour des Lettres, Tour des Lois, Tour des Nombres. Der erste Turm bezeichnet die Zeiten – ihr Nonplusultra scheint heute die Echtzeit zu sein. Der zweite Turm bezeichnet die Buchstaben – sie ergeben in ihrer Gesamtheit den Text der Welt. Der dritte Turm bezeichnet die Gesetze – sie geben, was zu sagen ist, aus dem Archiv frei. Der vierte Turm bezeichnet die Zahlen – sie realisieren als Code heute, was »virtuell« genannt wird: die Simulation. Es scheint sich in dieser Architektur einer Allegorie etwas anzudeuten, was Benjamin in einem Briefwechsel mit Adorno betreffs seiner Baudelaire-Texte zu bedenken gab – und was auch für den Bau der vorliegenden Arbeit zu berücksichtigen ist. Adorno forderte, die theoretischen Grundlagen der benjaminschen Ausführungen seien deutlicher zu extrapolieren und von inhaltlichen Ausführungen zu scheiden. Benjamins Antwort auf diese Forderung besagte, dass die Theorie vielmehr in die Konstruktion eingesenkt sei – und dass eine »philologische« Analyse von Historischem nur so mit der Erfahrung des Gegenwärtigen zu sättigen sei. Er schrieb: »Der Schein der geschlossnen Faktizität, der an der philologischen Untersuchung haftet und den Forscher in den Bann schlägt, schwindet in dem Grade, in dem der Gegenstand in der historischen Perspektive konstruiert wird. Die Fluchtlinien dieser Konstruktion laufen in unserer eignen historischen Erfahrung zusammen.«2

Motivation und Zweck Echtzeit, Text, Archiv, Simulation. Das sind die vier medientheoretischen Paradigmen3, die hier den Gegenstand des zweiten Teils bilden

2. Benjamin an Adorno, 9.12.1938, in: Theodor W. Adorno. Walter Benjamin. Briefwechsel 1928-1940, hg. v. Henri Lonitz, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, 380. 3. Eine Bemerkung zum »Paradigma«: Das Wort hat seit der Antike eine lange Geschichte mit mannigfaltigen Modifizierungen hinter sich. Es hat in der vorliegenden Arbeit den Status eines Arbeitsbegriffes und muss daher nicht eigens definiert werden. Gleichwohl sind einige wenige, abgrenzende Bemerkungen angebracht: Mit den oben diskutierten »Paradigmen« sind weder unveränderliche Urbilder im Sinne der platonischen Ideenlehre noch, wie es die aristotelische Verwendung nahe legt, Mittel der Rhetorik (Schlussverfahren) gemeint. Auch sind sie nicht, wie in der Linguistik, Elemente eines Kontextes, die gegeneinander austauschbar sind (›paradigmatische Beziehung‹). Da es im Folgenden nicht um Wissenschaftstheorie und -geschichte geht, erhält der Paradigmen-Begriff hier auch nicht diejenige Schärfe, die er bei Kuhn als Konstitutivum 18

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17- 27) T00_09 einleitung.p 29190154530

EINLEITUNG

werden. Wie festzustellen sein wird, sind sie in der Darstellung eng verbunden mit der Auseinandersetzung einzelner Theoretiker – allesamt Franzosen zumal, während den dritten Teil zur Philosophie der Moderne Namen deutscher Philosophen schmücken. Sollte uns das in Hinblick auf das Problem der Relevanz von hinlänglichen Antwortsystemen zeitgenössischer Problemlagen zu denken geben? Welche theorie- und akademiegeschichtlichen Schlussfolgerungen lässt das zu? Spannende Fragen, die – leider – nicht Thema der folgenden Seiten sein werden.4 Wie dem auch sei, auffällig ist, wie gesagt, dass die vier Züge, die den medientheoretischen Rahmen bilden, scheinbar an auktoriales Material gebunden sind. Dies liegt nahe, soll, kann und braucht auch gar nicht geleugnet werden, denn noch immer ist es so, dass Texte in der Regel von Menschen geschrieben werden.5 Allerdings liegt die Motivation der Auswahl6 der vier Paradigmen nicht in den Personen. Anders gesagt: Es geht hier nicht um vier, gar isolierte, monografische Miniaturen. Das wird sich unten im Zusammenhang der Besprechung des Aufbaus der Arbeit genauer erläutern lassen. Soviel schon mal: Hier – d.h. in Teil Zwei – wird gerade nicht nach den Spezifika der Theorie eines Philosophen oder seines Werkes, sondern andersherum

und Exklusionskriterium wissenschaftlich zulässiger Fragen und Lösungen hat. Eine Qualität der kuhnschen Paradigmenfunktion ist allerdings auch hier von Interesse: Das Phänomen, dass je ein Paradigma eine Grundauffassung hinsichtlich des Gegenstandsbereiches und der Methode angibt. Das führt für hier sinnvoll in die Nähe Wittgensteins, der unter »Paradigma« Muster oder Standards versteht, die Orientierung ermöglichen. Zur Geschichte des Paradigma-Begriffs, siehe kurz: »Paradigma«, in: Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden, Sechzehnter Band, Wiesbaden: Brockhaus 1998, 554. 4. Erste Anregungen zu diesen Fragen wird man finden unter: Vincent Descombes, Le même et l’autre. Quarant-cinq ans de philosophie française (1933-1978), Paris: Galilée 1979. Martina Plümacher, Philosophie nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996. Georg Christoph Tholen, WunschDenken oder Vom Bewußtsein des Selben zum Unbewußten des Anderen, Gesamthochschule Kassel: Kassel 1986, bes.: 1-20. Schizo-Schleichwege. Beiträge zum Anti-Ödipus, hg. v. Rudolf Heinz und Georg Christoph Tholen, Bremen: Impuls 1983. 5. Auf die Ausnahmen dieser Regel braucht nicht eigens eingegangen zu werden. Sie liegen vor allem im Bereich mathematisch-physikalischer Anwendungen und der Computerpoesie. Bei Letzterer reduziert sich das ›menschliche Schreiben‹ bei Zeiten auf das Programmieren des Quellcodes. Siehe hierzu etwa: Saskia Reither, Computerpoesie. Studien zur Modifikation poetischer Texte durch den Computer, Bielefeld: transcript 2003. 6. Kann man Paradigmen auswählen? Das ist eine erkenntnistheoretische Frage, die von der Transzendentalphilosophie bis zur Theorie der Auto-Dekonstruktion unbeantwortet geblieben ist. Man mag sie als metaphysischen Satz verschreien, sie bleibt gleichwohl mehr als ein Hindernis jeder Methodenreflexion. 19

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ECHTZEIT – TEXT – ARCHIV – SIMULATION

gefragt: Was muss philosophisch bedacht sein, soll über die Wirklichkeit der Welt als einer medialisierten heutzutage philosophisch ausgesagt werden können? Das ›heutzutage‹ ist hier wichtig, um sogleich die Vermutung zu verneinen, der vorliegende Text würde implizit eine These verfolgen, die da z.B. lauten könnte: Es gab mal einen natürlichen Zustand der Welt, der nicht medialisiert war. Wir sprechen von der anthropomorphen Welt! Und die ist »immer und je schon« (Heidegger) medialisiert, oder – mit Lacan und Merleau-Ponty ausgedrückt – begegnet uns als ein chiastisches, leib-sinnliches Gefüge von Realem, Symbolischem und Imaginärem. Eine andere Welt steht nicht zur Verfügung. Das ›heutzutage‹ aber behauptet gleichwohl die Notwendigkeit der Spezifizierung dieser Welt. Damit ist der Zweck angegeben: Erstens den epochalen Rahmen sinnvoll abzustecken, in dem (noch) heute medientheoretisch gehandelt wird, zweitens in einer historischen Rückvergewisserung zur Klärung beizutragen, wie diese (moderne) Wirklichkeit topologisch aufgeschlüsselt wird und drittens welche Paradigmen demgemäß unabdingbar (heute) zur medientheoretischen Matrix gehören. Die vier Paradigmen, die in diesem Zusammenhang identifiziert wurden, werden in Teil Zwei reliefartig aus dem jeweiligen theoretischen Kontext abgehoben und lassen dann auch ihre spezifische Fundierung bzw. theoriegeschichtliche Verstrebung sehen. Letztere wiederum galt es im Wechselspiel zu berücksichtigen, um überhaupt fragen zu können, welche Theoreme der Moderne im Gegenwärtigen zugrunde liegen, dass so über den bedenklichen Zusammenhang (Zusammenhang?) von Mensch – Welt – medialer Wirklichkeit ausgesagt werden kann, wie es gegenwärtig der Fall ist.

Aufbau und innerer Zusammenhang Von diesen Fragestellungen her bieten sich nun verschiedene Darstellungsweisen des Gegenstandes an. Die im Folgenden skizzierten lassen sich alle im Text finden. Ein kurzer Blick ins Inhaltsverzeichnis allerdings wird verraten, welches gedankliche Modell hier auch als äußeres Format gewählt wurde und damit plädiert wird, wie zu lesen sei. I. Parallele Motivschichtung. Die Bezüge gegenwärtiger Medientheorien (zweiter Teil) zur modernen Philosophie (dritter Teil) sind im Sinne einer »historischen Rückvergewisserung« (Lindner) zu verstehen. Modernes Denken gilt als Präfiguration der Möglichkeit, dass heute so über Medialität ausgesagt werden kann, wie es der Fall ist. Mit den modernen Konzepten der Topoi »Subjekt« und »Sinnlichkeit« und deren jeweiliger Verhältnisgewichtung in den einzelnen Theorien (Marx, Nietzsche, Husserl, Heidegger), geht für die Autoren des zwei20

2003-08-14 16-13-32 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S.

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EINLEITUNG

ten Teils (Virilio, Derrida, Foucault, Baudrillard) ein je spezifisches Paradigma einher (Echtzeit, Text, Archiv, Simulation). Dieses wird anlässlich der Medienproblematik verdichtet und in diesem jeweiligen Paradigma gehen Modus und Ort von »Subjekt« und »Sinnlichkeit« begrifflich auf. Die virtuelle Vergangenheit der erörterten Sachverhalte ist die Vollendung der Metaphysik im System Hegels, ihre Zukunft das Modell der Matrix. II. Historische Chronologie. Der Zugang zur Moderne erfolgt erstens über die systemische Darstellung des historischen Schnitts, mit der sich neuzeitliche Metaphysik von der Moderne im System Hegels scheidet, und zweitens über die historische Rückvergewisserung der Semantik des Moderne-Begriffs. Darauf folgen diejenigen Philosophien der Moderne, die – fokussiert auf die Erörterung von »Subjekt« und »Sinnlichkeit« – präfigurierend für die zeitgenössische Medientheorie sind: Marx, Nietzsche, Husserl, Heidegger. Im Ausgang der Moderne und als der Versuch ihres Endes verdichten sich im Laufe der vergangenen vierzig Jahre vier medientheoretische Paradigmen (Echtzeit, Text, Archiv, Simulation), die für das heutige Denken in Sachen Medien leitend und basal sind und anhand individueller Denker fokussiert werden können (Virilio, Derrida, Foucault, Baudrillard). Ein tastender Vorblick (Vierter Teil) kann schließlich andeuten – nicht mehr! –, was unterhalb der Vierung (Krypta) der Paradigmen verborgen, d.h. ungenannt bleibt: ein neuerlicher Strukturwandel der Öffentlichkeit (Oder mehr als das?), der, wie das Vorige, einer historischen Rückvergewisserung und aktuellen Überprüfung bedarf. III. Grammatologische Rücksicht auf Darstellbarkeit. Die Texturen des Phänomenologischen, des Logischen und des Reellen im hegelschen System bilden die drei Stasen der Aufhebung neuzeitlicher Metaphysik. Und die Geschichte der Semantik des Moderne-Begriffs führt in der Gegenwart zur Reflexion gerade seines Endes bzw. der Unmöglichkeit seines Endes in einer Post- oder Ana-Moderne (Lyotard). Das Moderne-Kapitel führt also in einer tour de force vom Mittelalter – über Hegel hinaus – bis in die Gegenwart der Postmoderne. Mit dem Endigen der Begriffs-Beugung in unserer Gegenwart ist der Einstieg in den zweiten Teil der Arbeit epistemologisch vorbereitet: die Darstellung und Konturierung von vier medientheoretischen Paradigmen, ohne die sich heutzutage keine Medientheorie mehr hinreichend bauen lässt. Dem vierten Paradigma der Simulation sind anlässlich der TauschProblematik und des »unmöglichen Tausches« (Baudrillard) zahlreiche Verwebungen mit der marxschen Theorie inhärent. So führt die Linearität des Textes dann gedanklich in einer Schleife zum Ausgangspunkt der Moderne (nach Hegel) zurück: der marxschen Philosophie. Von hier ausgehend, pointieren sich die differenten Konnexe der »Subjekt«- und »Sinnlichkeits«-Terme: Bei Marx in Hinblick aufs Kapital und die Praxis der Arbeit, bei Nietzsche am »Willen zur Macht« und 21

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der »großen« Leib-Vernunft, bei Husserl in der Zeitlichkeit des Bewusstseins und des Hyletischen, bei Heidegger schließlich mit der Einlagerung in Sprache und dem Denken des »Offenen«. Mit dem Disput um einen gewissen »Anti-Humanismus« Peter Sloterdijks und Heideggers Problematisierung der Kybernetik führt dieses Kapitel als Ende des dritten Teils in einer zweiten gedanklichen Schleife zum Ausgangspunkt von Teil Zwei zurück: der Debatte um das Verhältnis von Moderne, Technik und Nihilismus zwischen Jünger und Heidegger. Diese gilt als Movens des ersten Paradigmas »Echtzeit« (Virilio), das den zweiten Teil dann weiterführt über »Text« (Derrida) und »Archiv« (Foucault) hin zu »Simulation« (Baudrillard). Dann gilt für den Textverlauf, was oben anlässlich der Simulation gesagt ist: die Rückbindung an den Beginn der Moderne bei Marx. Wollte man dieses Möbius-Band-Modell zur sinnlichen Illustration mit einem Kompositionsschema aus der Musik vergleichen, so böte sich wohl am ehesten der so genannte »Krebsgang« an. In Kanon- und Fugenkompositionen ist er die Bezeichnung für den spiegelbildlich rückläufigen Ablauf »einer Stimme, eines Themas oder eines Satzgefüges«, in der seriellen Musik eine Form der Reihenpermutation.7 In der vorliegenden ›Komposition‹ liegt die – wenn man so will – Spiegeloberfläche genau am Übergang vom zweiten in den dritten Teil. Baudrillard und Marx sind sich hier am nächsten, es folgen (textlinear rückläufig eben) Foucault und Nietzsche, dann Derrida und Husserl, schließlich Virilio und Heidegger(/Jünger). Die sachliche innere Verschränkung von Echtzeit, Text, Archiv und Simulation im zweiten Teil und deren – jetzt historisch gedacht – äußere Margen werden in der Durchführung zeigen, dass sie alle – wie in einem Staffellauf – aufeinander angewiesen sind. Die JüngerHeidegger-Debatte um den Nihilismus der technischen Moderne stößt den Gedanken der nihilistischen Technik- und Kulturkritik Virilios an und führt in extremis zum ersten der vier paradigmatischen Theoreme. Virilios Beschleunigungs- bzw. Echtzeit-Theorem lässt sich allerdings erst angemessen (kritisch) mit Derridas Auslassungen zur Zeitlichkeit und Medialität des Textes verstehen. Die Brisanz der derridaschen Gedanken zum Archiv wiederum entfaltet sich, wenn diese in die anders ausgerichtete Perspektive Foucaults zur kulturgeschichtlichen Funktion der Aussage und deren Machtverhältnis zum Diskurs eingebunden werden. Mit Baudrillards Gerüst der Ordnungen der Simulakra lassen sich die foucaultschen Machtfragen medien- und zeichengeschichtlich differenzieren und aktualisieren. Die Problematisierungen der Möglichkeit einer perfekten Simulation durch Baudrillard lassen sich zu-

7. »Krebsgang«, in: Das neue Lexikon der Musik, Bd. 2, red. bearb. v. Ralf Noltensmeier u. Gabriela Rothmund-Gaul, Stuttgart u. Weimar: Metzler 1996, 778. 22

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EINLEITUNG

dem – ein historisch kontingenter Umstand – filmwissenschaftlich ›spiegeln‹ und stehen wiederum im Spannungsfeld von Produktion, Tausch, Fetischismus und sozio-politischer Ökonomie-Analyse, wie sie in der Moderne von Marx markiert wurden. Die Schwerpunktsetzungen auktorialer Rückbezüge in die Moderne innerhalb des zweiten Teils handeln nicht von Rezeptionsphänomenen. Der Bau des Krebsgangs erhärtete sich vielmehr durch konfrontative, dialogische, topologische oder auch motivliche Kontakte der Philosopheme. Bei Virilio wird man also demnach weniger zu Husserl und Merleau-Ponty finden, obgleich das wegen der Wahrnehmungstheorie nahe liegt, sondern die Filiation von der Technik- und Nihilismus-Debatte um Heidegger und Ernst Jünger. Bei Derrida wird man wegen der prägenden Bedeutung der Zeitlichkeitsstruktur der différance eher Bezüge auf Husserl genannt finden und weniger auf Heidegger oder auch Freud. Man mag aufgrund Foucaults Nähe zur Geschichte der französischen Epistemologie (wie z.B. Bachelard), zu Bataille und auch Heidegger eine Auseinandersetzung gerade mit diesen Ansätzen vermissen. Der Fluchtpunkt des foucaultschen Gedankens, die Verwebung der Macht-Analyse mit der Frage nach den Möglichkeiten einer Ästhetik der Existenz, schreibt sich allerdings von Nietzsche her – was der Grund dafür ist, dass dieser im Kapitel zum »Archiv« eher im Vordergrund steht als die Erstgenannten. Schließlich die baudrillardschen Modelle des Tausches: So maussianisch er sie auch angegangen haben mag, sie konturieren und modifizieren sich über die Jahre hinweg vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit dem marxschen Gedanken der Kritik der politischen Ökonomie.

»Subjekt« und »Sinnlichkeit« im methodischen Zusammenhang Nicht soll hier die mit dem Strukturalismus ff. identifizierte These verfolgt, widerlegt oder bestätigt werden, dass das Subjekt dezentriert, abgeschafft oder gar getötet worden sei. Das Subjekt gilt hier für das, was es seit Aristoteles war: das Zugrundeliegende.8 Aber es gilt ebenso: Dieses »Subjekt« ist nicht mehr selbstverständlich der Mensch. Anders gesagt: Was Lacan als »Entdeckung« Freuds notiert, wird hier dem Blick der Moderne insgesamt attestiert: dass der Mensch extern seiner selbst sich begehrt.9 Die ›Subjektivität des Menschen‹ wird nicht

8. Aristoteles, Metaphysik, übers. v. Herrmann Bonitz, neu hg. v. Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, 1029a/b. 9. Bspw.: Jacques Lacan, Unbewußtes und Wiederholung, übers. v. Norbert 23

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mehr im Sinne des genitivus subiectivus verstanden, dass nämlich der »Mensch« identitär »Subjekt«, Zugrundeliegendes sei, sondern als genitivus obiectivus. Die Subjektivität ist exzentrisch zum Menschen – ihm ist stets etwas zugrunde gelegt, ohne dass er aber dadurch sogleich zum bloßen Objekt verkäme. Der theoriepolitische Vorgang der Moderne besteht ja gerade darin, diese Dichotomie von Subjekt und Objekt nicht mehr hinreichend begründen zu können.10 Vielmehr also: Gerade weil die epistemologische Genealogie des »Subjekts« der Moderne den Menschen »vom Zentrum ins X« rollt (Nietzsche), festigt sich die Poniertheit des Menschen im für ihn ursprünglichen Spiel der sinnlichen Vermittlung und Darstellung (Medialisierung) von Subjekt und Objekt als fragliche und bedenkliche Wirklichkeit dieser Welt. Damit ist hier für den gesamten Gang der Arbeit zu berücksichtigen, was Petra Gehring für den Kontext Foucault – Derrida – Lyotard klar pointiert hat: »Der Verzicht auf die Erklärungsgröße des ›Subjekts‹ ist – unabhängig von den Fragen, die sich daran entzünden – keinesfalls gleichzusetzen mit einer Ausblendung derjenigen Fragen, die traditionell mit Hilfe dieser einen transzendentalen Instanz beantwortet worden sind. Wie den positivistischen Metaphysikverzicht gilt es auch einen zeitweilig vieldiskutierten ›Antihumanismus‹ mit Aufmerksamkeit auf die philosophisch möglicherweise präzise situierbare Taktik zu lesen, die in den fraglichen Überlegungen am Werk ist. Man verkennt sonst, daß, auch wo vom Ende des Menschen die Rede ist, nicht einfach etwas negiert wird, sondern daß sich darin eine sehr modifizierte Position verrät.«11 Aber wohin gerät das Subjekt in den so genannten neuen Medien? Das ist eine Frage, deren Antwort zugleich eine weitere Frage beantworten kann und muss: Wie firmiert unter zeitgenössischen Medienbedingungen das Verhältnis von »Subjekt« und »Sinnlichkeit«? Was heute in den Medien statt hat, ist – um ein Wort Zˇizˇeks? über Schelling zu adaptieren – die »ursprüngliche Kontraktion«12 des Subjekts in das Dispositiv der Sinnlichkeit der Medien. Ein Dispositiv der Sinnlichkeit der Medien? Die Ablösung des »Subjekts« als dem Zugrundelie-

Haas, in: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim und Berlin: Quadriga 1996, 23-70. 10. Im Übrigen finden ja alle von der Geistesgeschichte hervorgebrachten, bedeutsamen Dichotomien ihre Aporetika: Leben und Tod (Biotechnologien), Gut und Böse (Posthistoire), Leib und Seele (Psychoanalyse), Körper und Geist (EDV, Hirnphysiologie), Wahr und Falsch (Pragmatismus), etc. 11. Petra Gehring, Innen des Außen – Außen des Innen. Foucault – Derrida – Lyotard, München: Fink 1994, 18. 12. Slavoj Zˇizˇek, Interview, in: Neue Zürcher Zeitung, 07. April 2001. 24

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genden vom »Menschen«, wie sie die Moderne durchführt, bedeutet (in der Theorie) für ›die‹ »Sinnlichkeit«, dass sie nicht mehr im und am Schädel eines Individuums statt hat, sondern zu einem Beschreibungsmodus dafür wird, wie die Wirklichkeit der Welt sich ereignet. Für den Gedankengang des Textes ist es methodisch geradezu unabdingbar, bei der Befassung mit der Moderne selektiv bei »Subjekt« und »Sinnlichkeit« anzusetzen und – dem Stil nach gewissermaßen ›überschlagartig‹ – zahlreiche andere Spezifika der erörterten Philosophien ungenannt zu lassen. Denn diese Konzentration allererst lässt den modernen Gedanken als in der Sache präfigurativ für die historisch folgenden medientheoretischen Engführungen sehen. Tatsächlich also sind die Kapitel des Teils Drei strategisch geschrieben. Welcher Text mit Erkenntnisinteresse wäre das nicht? Die Strategie des vorliegenden Textes, nochmals, richtet sich nach Maßgabe der Frage der Wirksamkeit moderner Philosophien als Ermöglichungsbedingung der Engführungen des philosophisch-medientheoretischen Diskurses der rezenten Gegenwart. Und hier erst wird dann die obige These zur »Kontraktion« sinnvoll nachvollziehbar: Die Medientheorien nämlich arbeiten nicht an einer Ausdifferenzierung, Stärkung, Schwächung oder Ähnlichem des Subjekt- und Sinnlichkeits-Begriffs selbst. Das Argument ihres Gedankens lagert vielmehr deren Verhältnis in ein basales medientheoretisches Paradigma ein. ›Basal‹ sind diese Paradigmen »Echtzeit«, »Text«, »Archiv« und »Simulation«, weil – das wird ihre Charakterisierung in Teil Zwei zeigen – ohne sie keine medientheoretische Reflexion wird sinnvoll arbeiten können. Einer der methodischen Leitfäden dieser Arbeit ist auch von daher der folgende: Der vorliegende Text schmiegt sich einerseits eng an die Gedankengänge der dargestellten Theorien an und verrät sie andererseits, indem er jenseits ihrer aufgestellten Thesen ansetzt und fragt: Welche Bestimmungen von »Subjekt« und »Sinnlichkeit« lagern diesen Theorien ein, die sie selber nicht bestimmen und die aber gleichwohl zweifach wirksam werden. Einmal für die Tektonik der Theorie der Moderne selbst und sodann in ihrer präfigurierenden Wirkung auf nachfolgende, medientheoretisch enggeführte Theoreme. Diese Vorgehensweise ist also eng mit den inhaltlichen Gegenständen verwoben. Dies um aufzuweisen, dass es – vom Beginn des modernen Denkens an bis hin zu ausdifferenzierten medientheoretischen Reflexionen der heutigen Zeit – eine Dialogizität der Gedanken gibt, die sich einer Einfluss- oder Rezeptionsforschung entzieht, da sie sich allererst in der Offenheit ihrer logischen Syntax entfaltet und transformiert. Das weist auf eine weitere Eigenart der für hier gewählten Methodik hin: Die oben unter III. geschilderte Schleifenbildung des Gedankengangs, jenseits der Linearität des Textverlaufs, bringt ja zahlreiche Autoren in die Diskussion ein und mithin die Verflechtungen ihres 25

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Denkens. Gleichwohl sei bei der Lektüre des Vorliegenden darauf geachtet, dass es sich hierbei nicht um das Aufweisen von Rezeptionsverhältnissen oder deren Ausbleiben handelt. Zugespitzt und ignorant ausgedrückt: Für die Absicht der Arbeit ist es ohne Interesse, bspw. zu rekonstruieren, wie Foucault Nietzsche rezipiert, nachdem er 1953 am Strand von Civitavecchia die Unzeitgemäßen Betrachtungen gelesen hatte.13 Obwohl das per se – und insbesondere für die Nietzsche- und Foucault-Forschung – gewiss eine spannende Frage ist. Wenn es aber hier um Rezeptionslagen ginge, dann würden an manch entscheidender Stelle der noch folgenden Seiten veritable Idiotien entstehen. Dafür sei beispielhaft die Scheidung der Moderne von der Metaphysik Hegels genannt, wie sie im ersten Teil erörtert wird. In der Logik oder Syntax des Denkens gibt es hier tatsächlich einen Schnitt – und nur um den ist es hier zu tun, wenn es darum geht, den historischen Ort der vorliegenden Arbeit zu bestimmen.14 Aber wer wollte ernsthaft behaupten, dass Rezeptionsverhältnisse ihrerseits nicht darüber hinweggingen. Das müssen sie per definitionem, denn wie sollten sich sonst die angedeuteten Alteritäten des Denkens markieren und extrapolieren, wenn nicht eben in der rezeptiven Darstellung eines Denkens im Kontext eines anderen. Sicher also bleibt das hegelsche Denken bis heute Antrieb und Problemstellung philosophischen Arbeitens zugleich (man denke nur an das derridasche »Glas«), natürlich liest Schopenhauer Kant, verdreht Marx Hegel den Kopf, entwickelt Nietzsche seine Nihilismus-Kritik auch in Auseinandersetzung mit Platon, widmet sich Husserl in seinen Pariser Vorlesungen dem französischen Kollegen Descartes, legt Heidegger eine Habilitation zu Duns Scotus vor und wird in den späten Jahren immer wieder auf die Vorsokratiker zurückgreifen etc. Nochmals: Diese Bezüge sind unbezweifelt, wissenschaftlich interessant und notwendig zu erforschen, liegen aber nicht im hiesigen Interesse. Zur Fokussierung, wie die auktorialen Nennungen und deren systemische und historische Erörterung zu lesen seien, lässt sich hier ein Gedanke von Foucault adaptieren – ohne deshalb selbst gleich zum Poststrukturalisten, Macht-Archäologen oder Diskurs-Analytiker werden zu müssen –, der bezüglich der Motivation und Perspektive seiner Forschungen in einem Interview Folgendes sagte: Geschwindigkeit und Tragweite von Veränderungen der Ordnungen des Wissens sind Zeichen von etwas anderem: »einer Modifizierung der Regeln, nach denen

13. Maurice Pinguet, »Die Lehrjahre«, in: Denken und Existenz bei Michel Foucault, hg. v. Wilhelm Schmid, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, 41-50, hier: 49. 14. Diese hier etwas grob klingende Hypothese, wird, das sei zur Beruhigung vorweggenommen, im ersten Teil entfaltet und – wie es sich gehört – mit Sekundärliteratur gefüttert. 26

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EINLEITUNG

Aussagen entstehen, die als wissenschaftlich wahr anerkannt werden. Es handelt sich also nicht um eine inhaltliche Veränderung (Widerlegung alter Irrtümer, Entdeckung neuer Wahrheiten), nicht einmal um eine Veränderung der theoretischen Form (Erneuerung des Paradigmas, Modifizierung der methodischen Ensembles); was zur Debatte steht, ist die Frage, was die Aussagen bestimmt und die Art, in der sie sich zueinander verhalten und einen Komplex wissenschaftlich gültiger und infolgedessen mittels wissenschaftlicher Verfahren verifizierbarer oder falsifizierbarer Sätze bilden. Es ist letzten Endes ein Problem der Ordnung, der ›Politik‹ der wissenschaftlichen Aussage. Auf dieser Ebene geht es darum herauszufinden, nicht welche Macht von außen her auf der Wissenschaft lastet, sondern welche Machtwirkungen unter den wissenschaftlichen Aussagen zirkulieren; wie ihr inneres Machtsystem beschaffen ist und wie und warum dieses sich in bestimmten Augenblicken global verändert.«15 Die theoretische Analyse der Medien, ihrer Geschichte und technischen Bedingungen, ihrer kulturellen Prägekraft und begrifflichen Grundlagen ist seit den vergangenen Jahrzehnten unlösbar mit gesellschaftlichen Entwicklungen sozialer und ökonomischer Veränderungen verbunden, die in der Regel unter – ihrerseits akademischen – Schlagworten wie Globalisierung und Computerisierung firmieren. Wie immer man diese Vorgänge beschreibt und bewertet, sie haben unsere Welt irreversibel verändert, verändern sie noch – und damit auch das Nachdenken über sie. Auch insofern ist die akademische Entfaltung und Ausdifferenzierung einer auch als historische Rückvergewisserung sich verstehenden Kulturtheorie der Medien alles andere als ein modisches Event. Sicher wird es auch weiterhin die fachdisziplinäre ›klassische‹ Forschung und deren Vermittlung geben müssen. Allerdings – und das ist durch die transkulturelle Medienentwicklung mitbedingt – wird es immer schwieriger werden, die Sachlagen ohne transdisziplinäres Arbeiten hinreichend analysieren, darstellen und in ihrer gesellschaftlichen Relevanz vermitteln zu können. Auch diesem Umstand versucht dieser Text Rechnung zu tragen. Die Dinge werden komplexer und komplizierter in Zeiten der Matrix.

15. Michel Foucault, »Wahrheit und Macht« (Interview), übers. v. Elke Wehr, in: Dispositive der Macht, Berlin: Merve 1978, 21-54, hier: 26. 27

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Erster Teil Eröffnung des Zugangs zur Moderne

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HEGELS WEG DES DENKENS ALS VERSCHLIESSUNG DER METAPHYSIK

Hegels Weg des Denkens als Verschließung der Metaphysik Grundsätzlich werde ich versuchen zu erkennen, ob die subjektiv geäußerten Meinungen subjektiv sind oder objektiv sind. Wenn sie subjektiv sind, werde ich an meinen objektiven festhalten. Wenn sie objektiv sind, werde ich überlegen und vielleicht die objektiven subjektiv geäußerten Meinungen der Spieler mit in meine objektiven einfließen lassen. Erich Ribbeck

Vorbemerkung Warum über Hegel schreiben? Zumal in einem Text, dessen historischer Schwerpunkt der Analyse in der Gegenwart liegt und der diese Gegenwart an das philosophische Denken der Moderne anbinden will. Hiermit ist die Antwort schon gegeben. Von der Moderne zu sprechen setzt die Annahme voraus, ihre Grenzen bestimmen zu können. Eine solche Grenzbestimmung vorzunehmen, wird sich an Kalendarischem nur als dem Sichtbarsten der Verhältnisse orientieren, aber hieraus nicht ihre Begründung erhalten können. Vielmehr stehen hier die jeweiligen Verhältnisse des Denkens in Frage: Wie sich dieses als Theorie anordnet, von anderen abgrenzt, welche Fragen wie aufwirft und wie es versucht, diese zu lösen. Dass dies nicht in allen Epochen auf gleiche Weise geschehen ist, mag, trotz des gern gesehenen Diktums eines Kontinuums des »Logos« (sei es als »Seinsvergessenheit«, sei es als »Logozentrismus«) einleuchten. Wenn das nur genügte. Vorerst also wird hier behauptet – und in der Folge ausgeführt –, dass die philosophische ratio in ihrer Geschichte Schnitte gezeitigt hat, die sich retrospektiv als durch eine Vollendungsfigur einer jeweiligen Epoche bedingt darstellen.1 Diese Bedingtheit gilt auch

1. Hierzu in aller Ausführlichkeit und Gründlichkeit: Heribert Boeder, Topologie der Metaphysik, Freiburg/München: Alber 1980; ders., Das Vernunft-Gefüge der Moder31

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ERÖFFNUNG DES ZUGANGS ZUR MODERNE

für die heutige Vernunft und es ist hier wesentliches Anliegen, deren Bedingt-Sein durch die Moderne zu erhellen. Das Andere zur modernen Philosophie wiederum ist die Metaphysik, historisch näher diejenige Neuere Philosophie, die sich als metaphysische Vernunft der Bestimmung des menschlichen Denkens angenommen hat. Sie schreitet von Kant (und Rousseau) über Jacobi, Fichte, Schelling weiter bis zu Hegels Projekt eines »Systems der Wissenschaft«. Hier weiß sich am Ende mit der »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« der »Geist« und die »Natur« in der Mitte der »sich wissende(n) Vernunft« vermittelt – die »Idee der Philosophie« (H 10/394).2 Deshalb soll das hegelsche System im Folgenden, als Auseinanderlegung des bislang nur Behaupteten, in seiner Grundbewegung nachvollzogen werden. Der Weg führt von der »Phänomenologie des Geistes« über die »Wissenschaft der Logik« bis zur »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften«. Seine Vollendung bildet das System der Schlüsse am Ende der »Enzyklopädie«. Die Vernunft, die sich hier als »Gewißheit seiner selbst als unendliche Allgemeinheit« – kurz: als »Wahrheit« – ausspricht (H 10/229), musste der beginnenden, intentionalen3 Vernunft der Philosophie der Moderne als abstoßend und abzustoßen erscheinen. So generiert sich die moderne Vernunft in ihrem Anfang mit Schopenhauer und Feuerbach denn auch als anti-hegelianisch – bis sie mit Marx zu einem ersten eigenen Systemansatz gelangt4. Das Auftauchen der Begriffe »Subjekt« (»Subjektivität«) und »Sinnlichkeit« beim Gang durch Hegels Werk wird, neben der oben angesprochenen allgemeinen Frage der Epochenordnung, obendrein verdeutlichen, dass, zur Erhellung der gegenwärtigen medientheoretischen Debatte der Philosophie, diese nicht in ihrer historischen Entwicklung seit ihrem Auftauchen in der antiken Philosophie bis heute verfolgt werden müssen. Zu sehen, wie sie in das die neuzeitliche Metaphysik verschließende Begriff-System Hegels eingelassen sind, genügt um zu verstehen, dass »Subjekt« und »Sinnlichkeit« in der Moderne je neu gefasst werden und von dort sich bis auf die Gegenwart hin entwickeln – und hier in die Theorien eingebaut sind und ihre Wirkung entfalten. Also gibt es auch angesichts der Topoi kein Kontinuum.

ne, Freiburg/München: Alber 1988; Claus-Artur Scheier, Die Selbstentfaltung der methodischen Reflexion als Prinzip der Neueren Philosophie, Freiburg/München: Alber 1973. 2. Zum topologischen Aufbau der Neueren Philosophie als »metaphysisches Wissen«, siehe: Boeder, a.a.O., 1980, 442-681. 3. Hierzu: Claus-Artur Scheier, »Die Grenze der Metaphysik und die Herkunft des gegenwärtigen Denkens«, in: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, Bd. XLVI, Göttingen 1995, 189-196. 4. Hierzu: Dritter Teil, das Kapitel zu Marx. 32

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HEGELS WEG DES DENKENS ALS VERSCHLIESSUNG DER METAPHYSIK

Wie auch, da die sie denkende Vernunft schon keines kennt bzw. nicht in einem solchen steht. Alles das ist bis jetzt nur abstrakt genannt, wird sich aber in den jeweiligen Kapiteln der Teile Zwei und Drei in concreto und spezifisch darstellen und nachweisen lassen. Damit das dann auch möglich sein wird, jetzt also erst einmal zu dem ihnen Vorgängigen: dem Bau des hegelschen Systems.

Phänomenologie Dass die Philosophie der »Gedanke ihrer Zeit« (H 18/73) sei, erfahren wir in Hegels »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie«. Und das war wohl kaum als Forderung oder frommer Wunsch gedacht. Als Anforderung kannte die Philosophie diesen Sachverhalt noch als »méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la vérité dans les sciences«5. Der Text handelt vom richtigen Vernunftgebrauch und der wissenschaftlichen Forschung. Aber eben: als »méthode«. Insofern die Philosophie – als deren Erste: Metaphysik – das ist, bleibt die Unterscheidung von Weisheit und der Wissenschaft von ihr vorbehaltlich. Erst mit Kant wird sich die Perspektive vom Objekt des Begreifens, dem deutlich und distinkt Begriffenen, weg- und auf das Begreifen selbst hinwenden. Die Bindung von theoretischer und praktischer Vernunft wird hierdurch möglich. Wie das? »Die reine Vernunft ist in der Tat mit nichts als sich beschäftigt, und kann auch kein anderes Geschäft haben, weil ihr nicht die Gegenstände zur Einheit des Erfahrungsbegriffs, sondern die Verstandeserkenntnisse zur Einheit des Vernunftbegriffs, d.i. des Zusammenhangs in einem Prinzip gegeben werden.«6 Was hier gibt, erhellt aus der Vorrede zur »Kritik der praktischen Vernunft«: Die Idee der Freiheit, die durch ein »apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist« (KpV/4). Dieses apodiktische Gesetz ist das »moralische Gesetz«, »welches wir wissen« (KpV/ 5). Freiheit und moralisches Gesetz bedingen sich gegenseitig so, dass Erstere der Seinsgrund des Zweiten ist, dieses aber Erkenntnisgrund jener (KpV/5, Anm.). Aber wie kommen »wir« dazu, es zu »wissen« und damit auf den Begriff der Freiheit geführt zu werden? Über den Weg

5. Réne Descartes, Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la verité dans les sciences, Hamburg: Meiner 1990. 6. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Meiner 1993, B 708. Ausführlicher zu Kant und zum Thema des »Zusammenhangs in einem Prinzip« im deutschen Idealismus: Claus-Artur Scheier, »Die Bedeutung der Naturphilosophie im deutschen Idealismus«, in: Philosophia Naturalis, 23, 1986, 389-398. 33

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ERÖFFNUNG DES ZUGANGS ZUR MODERNE

des Bewusst-Werdens »reiner praktischer Gesetze« und »reiner theoretischer Grundsätze«, »indem wir auf die Notwendigkeit, womit sie uns die Vernunft vorschreibt […] achthaben.« (KpV/34) Auf die Gestalt des moralischen Gesetzes hin gesehen, des »Grundgesetz[es] der reinen praktischen Vernunft«, stellt sich dieses also als »Faktum der reinen Vernunft« dar (KpV/56) – und mithin ist das (Selbst-)Bewusstsein zur Vernunft geworden. Die Freiheit aber verbleibt hier noch als (praktische) Idee, die die Vernunft bestimmt. Fichte geht einen Schritt weiter: »Die Freiheit, oder was das gleiche heißt, das unmittelbare Handeln des Ich, als solches, ist der Vereinigungspunct der Idealität und Realität. Das Ich ist frei, indem und dadurch, dass es sich frei setzt, sich befreit: und es setzt sich frei, oder befreit sich, indem es frei ist.«7 Was sich für moderne Augen wie eine Tautologie lesen mag und bei Kant als Bedingungsverhältnis von Freiheit und moralischem Gesetz formuliert ist, dem entspricht hier dasjenige von Freiheit und Ich, allerdings mit der entscheidenden Verschiebung vom »Grundgesetz« zur Produktivkraft des Ich selbst. Dessen unmittelbares Handeln ist Freiheit, und zwar derart, dass es »Ausdruck einer Tathandlung« ist, d.h. kein Objekt voraussetzt, sondern dieses, mittels einer Einbildungskraft, die produktiv sowohl das Ich als auch das diesem entgegengesetzte Nicht-Ich setzt, allererst hervorbringt.8 Wenngleich hier also die theoretische mit der praktischen Seite der Vernunft in deren Produktivität zusammengebunden werden, was eben die Fortführung Kants darstellt, fehlt doch bis zum Gedanken Hegels noch ein Schritt. Die Vielfalt des zwischen Ich und Nicht-Ich – potenziell unendlich – produzierten begrifflichen Wissens, bleibt ebendies: vielfältige Vorstellung, die die Freiheit der Realisierung des Begriffenen noch an sich bindet. Deren Einheit, das Absolute, bleibt vakant. Das gilt für Kant und Fichte gleichermaßen. Die Einheit wird sich erst mit dem System Hegels ergeben, das vom Vorstellen ablässt und seine Vollständigkeit mit dem »Instrument des Philosophierens, der Reflexion als Vernunft« (H 2/25) zur Bestimmtheit führt. In diesem Sinne konstatiert Hegel: »Das Absolute soll fürs Bewußtsein konstruiert werden, [das] ist die Aufgabe der Philosophie; da aber das Produzieren sowie die Produkte der Reflexion nur Beschränkungen sind, so ist dies ein Widerspruch. Das Absolute soll reflektiert

7. Johann Gottlieb Fichte, Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, Bd. 1, Berlin: de Gruyter 1971, 371. 8. Belege hierzu bspw. unter: Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794), 96, 119; und: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), 468. Beide in: Fichtes Werke, Bd. 1, Berlin: de Gruyter 1971. 34

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werden; damit ist es aber nicht gesetzt, sondern aufgehoben worden, denn indem es gesetzt wurde, wurde es beschränkt. Die Vermittlung dieses Widerspruchs ist die philosophische Reflexion.« (H 2/25) Denn sie steht in reziprokem Verhältnis zum Absoluten – die Reflexion steht zu ihm als Vernunft in Beziehung und »ist nur Vernunft durch diese Beziehung« (H 2/26). Die Praxis der Reflexion ist Wissen – in dieser Einsicht bleibt der fichtesche Gedanke noch wirksam –, doch durch ihre Beziehung aufs Absolute »vergeht aber ihr Werk, und nur die Beziehung besteht und ist die einzige Realität der Erkenntnis; es gibt deswegen keine Wahrheit der isolierten Reflexion, des reinen Denkens, als die ihres Vernichtens. Aber das Absolute, weil es im Philosophieren von der Reflexion fürs Bewußtsein produziert wird, wird hierdurch eine objektive Totalität, ein Ganzes von Wissen, eine Organisation von Erkenntnissen.« (H 2/30) Die hegelsche Metaphysik ist also nicht mehr Philosophie als Liebe zur Weisheit, sondern die Ausführung dieser Weisheit in Gestalt des wissenschaftlichen Systems. »Gedanke ihrer Zeit« zu sein heißt für die Philosophie hier, des Gedankens »höchste Blüte« darzustellen, den »Geist der Zeit, als sich denkender Geist« (H 18/73). Hegel denkt die Philosophie als den »einfachen Brennpunkte« – den »sich wissenden Begriff desselben« –, in dem sich das »vielgestaltete Ganze« abspiegelt (H 18/73). Schon in der »Phänomenologie des Geistes« verwies Hegel auf diese seine Tatsache, dass die »wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert« nur das wissenschaftliche System »derselben« sein kann (H 3/14). So ergibt sich für die Philosophie das Ziel, »ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein« (H 3/14). Der Nachweis der Kongruenz, mehr noch: der Identität, von wirklichem Wissen und Wissenschaft »oder, was dasselbe ist, indem die Wahrheit behauptet wird, an dem Begriffe allein das Element ihrer Existenz zu haben« (H 3/15) kann nicht (das wäre ein performativer Widerspruch) und muss nicht außerhalb des Systems erbracht werden. Sondern »die befriedigende Erklärung hierüber ist allein die Darstellung der Philosophie selbst.« (H 3/14) Als begriffliche Reflexion schreitet sie von den Gestalten des Bewusstseins über die »Logik« bis hin zum »Reellen« fort. Die anfängliche Darstellung der Gestalten des Bewusstseins in der »Phänomenologie des Geistes« kann nach dem bislang Gesagten aber nun nicht mehr der Versuch ihrer transzendentalen Kritik sein – und soll es auch nicht sein. Das Bewusstsein wird hier vielmehr in seinem eigenen Werden vorgestellt. Der Weg der »Phänomenologie«, als Darstellung des erscheinenden Wissens, ist der Weg der Seele, nämlich wie sie zur Realisierung gelangt, dass sie Geist ist (H 3/72). Insofern die »Phänomenologie« dieser Weg ist, stellt sie das »Werden der Wissenschaft überhaupt oder des Wissens« dar (H 3/31). Am Beginn des Wissens 35

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steht der »unmittelbare Geist« als sinnliches9 Bewusstsein (H 3/31), am Abschluss des eigenen gewordenen Weges der absolute Geist, der als solcher »für sich selbst reflektierter Gegenstand« ist (H 3/29) – die Wissenschaft. Ihr Grund, auf dem sie sich zu ihrer »Vollendung und Durchsichtigkeit selbst nur durch die Bewegung [ihres] Werdens« (H 3/29) hin entwickelt ist der »Äther als solcher« (H 3/29). Warum Äther? In anderen Worten ist er das »reine Selbsterkennen im absoluten Anderssein« (H 3/29). Und wenn die »Phänomenologie des Geistes« das »Werden der Wissenschaft überhaupt oder des Wissens« ist – und sie ist es für Hegel –, dann ist die »Wissenschaft der Logik« Darstellung des Äthers des produktiven Geistes selber; die produktive Bewegung des Geistes selber. Die »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« schließlich entlässt diese Selbstbewegung des Geistes in seine Wirklichkeit. Als Reelles ist sie nun das gewusste Schaffen des Geistes: Vernunft. In der »Phänomenologie« hatte die Vernunft die in die Vorstellungs-Welt zerstreuten Bewusstseins-Formen schließlich in der Gestalt des absoluten Wissens geborgen, das damit frei von den endlichen Inhalten des Vorstellens und der Gestalt des Bewusstseins überhaupt wird. Die »Wissenschaft der Logik« zeigt in dialektischer Vermittlung die freie Vernunft-Bewegung der Begriffe, als Darstellung des »reinen Wissen«, wie es sich zur »absoluten Idee« hin vervollkommnend bestimmt.

Wissenschaft der Logik Hegel fasst den Bau der Bewegung von der »Phänomenologie des Geistes« zur »Wissenschaft der Logik« so: »Das Bewußtsein, als der er-

9. Erwartungsgemäß beziehen sich die Analysen zur »Sinnlichkeit« in Hegels Werk in der Regel auf Kapitel A.I der »Phänomenologie des Geistes«. Dazu: Reiner Wiehl, »Über den Sinn der sinnlichen Gewißheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«, in: Hegel-Studien, Beiheft 3, hg. v. Friedhelm Nicolin u. Otto Pöggeler, Bonn: Bouvier 1966, 103-143. Wolfgang Wieland, »Hegels Dialektik der sinnlichen Gewißheit«, in: Materialien zu Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, hg. v. Hans Dietrich Fulda u. Dieter Henrich, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, 67-82. Otto Pöggeler, »Hegels Kritik der sinnlichen Gewißheit«, in: Sinnlichkeit und Verstand in der deutschen und französischen Philosophie von Descartes bis Hegel, hg. v. Hans Wagner, Bonn: Bouvier 1976, 167-185. Einen anderen Schwerpunkt setzt Gunzelin Schmid Noerr, der die »Sinnlichkeit« der hegelschen Theorie entlang des Modells von Herrschaft und Knechtschaft mit den Theorien von Marx und vor allem der Freuds in Zusammenhang setzt. Gunzelin Schmid Noerr, Sinnlichkeit und Herrschaft. Zur Konzeptualisierung der inneren Natur bei Hegel und Freud, Königstein/Ts.: Anton Hain Meisenheim 1980. 36

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scheinende Geist, welcher sich auf seinem Wege von der Unmittelbarkeit und äußerlichen Konkretion befreit, wird zum reinen Wissen, das sich jene reinen Wesenheiten selbst, [die den Inhalt der Logik ausmachen,] wie sie an und für sich sind, zum Gegenstand gibt. Sie sind die reinen Gedanken, der sein Wesen denkende Geist.« (H 5/17) So wird die Vernunft zum ihr eigenen Grund, der aber nun nicht (mehr) als transzendental gedacht ist (Kant), sondern am Ende des Durchgangs der Wissenschaft der Logik zur sich selbst begriffenen Vernunft geworden sein wird. Dieses Begreifen setzt in der »Wissenschaft der Logik« mit dem »ganz Leere[n]«, dem »reinen Sein« (H 5/82) ein, ist damit aber noch nicht in seine Bewegung gekommen. Dies auch noch nicht mit dessen bestimmter Negation, dem »Nichts« (H 5/83). Erst die diese Entgegengesetzten zusammenbindende Einheit, das »Werden«, bringt den Anfang des Systems auf den Begriff – als Begriff. Wie das? Sein und Nichts verschwinden »unmittelbar jedes in seinem Gegenteil. Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Werden« (H 5/83). Es ist ihre Wahrheit! Und der Weg ihres Hervorbringens ist diese »Bewegung« des Begriffs. Diese ist nicht vorgegeben, sondern entwickelt und bestimmt sich im und als der Äther der produktiven Vernunft. Das hatte die »Phänomenologie« theoretisch vorbereitet und hier ist nun zugleich die Methode dieses Denkens angegeben: Es ist das »Bewußtsein über die Form der inneren Selbstbewegung« (H 5/49) des Inhalts der philosophischen Wissenschaft als Wissenschaft der Logik. Jenes Bewusstsein ist mithin dieser Wissenschaft des Begriffs identisch. Das gilt bis zur letzten Bestimmung, der absoluten Idee, dem zusammenführenden Schlussstein der Bewegung des An-sich-Seins des Geistes, wie er sich in »objektive« und »subjektive« Logik unterschieden hatte. »Die Idee als Einheit der subjektiven und der objektiven Idee ist der Begriff der Idee, dem die Idee als solche der Gegenstand, dem das Objekt sie ist; – ein Objekt, in welches alle Bestimmungen zusammengegangen sind. Diese Einheit ist hiermit die absolute und alle Wahrheit, die sich selbst denkende Idee, und zwar hier als denkende, als logische Idee.« (H 8/388) So weit erst einmal nur nennend zum Schlussstein dieser Logik der Idee. Man kommt zu jenem Schlussstein ausgreifender zurück, indem man bspw. an der Logik ansetzend fragt: Woher begründet sich der Sinn einer doppelten Unterscheidung intern des Aufbaus der »Wissenschaft der Logik«? Deren erste war die der aufeinander aufbauenden Lehren vom »Sein«, vom »Wesen« und vom »Begriff«. Das Sein konnte ins Wesen insofern übergehen, da es seine (des Seins) »absolute Indifferenz« (H 5/456) gegenüber den eigenen (voraus-)gesetzten Bestimmungen noch negiert, d.h. sie als deren Einheit in sich aufhebt. Hegel schließt: Als Einheit ist das Sein »unmittelbare vorausgesetzte Totalität, so daß sie diese einfache Beziehung auf sich nur ist vermittelt durch das Aufheben dieser Voraussetzung, und dies Vorausgesetztsein 37

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und unmittelbare Sein selbst nur ein Moment ihres Abstoßens ist, die ursprüngliche Selbständigkeit und Identität mit sich nur ist als das resultierende, unendliche Zusammengehen mit sich; – so ist das Sein zum Wesen bestimmt, das Sein als durch Aufheben des Seins einfaches Sein mit sich.« (H 5/457) Und hebt aber nun das Sein seine Bestimmung von sich (in sich) auf und wird so zum Wesen, so ist das Wesen aufgehobenes Sein, bestimmt als dessen »absolute Negativität«. Um dieser absoluten Negativität willen »ist Sein nur als sich aufhebendes Sein und ist Wesen. Das Wesen aber ist als die einfache Gleichheit mit sich umgekehrt ebenfalls Sein.« (H 6/124) Als solches reflektiert das Wesen sich im Anfang »in ihm selbst« (H 6/17ff.). Und indem diese gründende Reflexion sich als die Bestimmung des »in seinem Gesetztsein unmittelbar mit sich identische[n] Wesen[s]« erweist (H 6/124), Grund und Bedingung zugleich ist, kommt das Wesen zur existierenden »Erscheinung« (H 6/124ff.). Zum Fortgang erstellt sich damit ein neues, reziprokes »Verhältnis«: das von bestimmter und formierter Existenz (Erscheinendem) und Wesen. Das Verhältnis besteht in einer noch unvollkommenen Vereinigung von »Reflexion in das Anderssein« und »Reflexion-insich«. Ihre vollkommene Durchdringung heißt »Wirklichkeit« (H 6/125). Sie ist »die Einheit des Wesens und der Existenz« – als »absolute« die »Einheit des Inneren und Äußeren« (H 6/186). Die Wirklichkeit ist in dieser Bestimmung der Einheit aber erst nur gesetzt. Sie hat sich in ihre formellen Momente »Wirklichkeit«, »Möglichkeit« und »Notwendigkeit« zu entfalten und zu reflektieren (H 6/200ff.) und wird mithin eine weitere, sie aufhebende Einheit ausbilden: die des »Absolute[n]« (H 6/187ff.). Diese Einheit ist »das absolute Verhältnis oder vielmehr das Absolute als Verhältnis zu sich selbst, – Substanz.« (H 6/187) Im Rahmen der dreigliedrigen Ordnung der »Wissenschaft der Logik« noch auf das dritte Glied aus Sein – Wesen – Begriff einzugehen, die »Lehre vom Begriff«, wäre eine Verdopplung des Gedankens. Warum das? Die Substanz ist die erfüllte Bestimmung der »Wirklichkeit«, näherhin diese Wirklichkeit als Vereinigung von Sein und Wesen. Hiermit ist das eine Moment der zweigliedrigen Ordnung der »Wissenschaft der Logik« aus objektiver und subjektiver Logik, die objektive Logik, erfüllend und kongruent zu den ersten beiden Momenten der dreigliedrigen Ordnung bestimmt. Für den Aufbau des Argumentationsganges stellt die objektive Logik die »genetische Exposition des Begriffes« dar (H 6/245). Die dialektische Bewegung von Sein und Wesen zur Substanz ist also die »unmittelbare Genesis des Begriffes« (H 6/246) – sein Werden. Sachlich aber bedeutet das Werden für die objektive Logik, ihre Reflexion in den Grund zu sein, und damit als das ihr »Andere« auch ihre Wahrheit (H 6/246). »So ist der Begriff die Wahrheit der Substanz.« (H 6/246) 38

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Schon in der »Phänomenologie des Geistes« hatte Hegel wissen lassen, dass alles darauf ankommt, »das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.« (H 3/23) Wie das Wahre als Substanz darzustellen sei, führte die objektive Logik vor – das ihrige Wahre gipfelte mit der Einheit von Wesen und Existenz in der Wirklichkeit. Als Einheit war sie als Substanz »unmittelbare Genesis des Begriffs« –, ohne dessen Ent-wicklung als solche zeigen zu können. Das vermochte sie nicht, da sie sich noch »setzend« erbrachte, und ihr Resultat, die Substanz, damit »Gesetztsein« ist (H 6/17). Die Auflösung dieser Form der Substanzialität erfolgte, da Sein und Wesen zu einer »Identität« aufgehoben wurden. »Dies ist der Begriff, das Reich der Subjektivität oder der Freiheit.« (H 6/240) Dieses Reich der Subjektivität konnte werden, indem Sein und Wesen dessen Momente waren und diese als solche wiederum untergingen (H 6/245), da der Begriff sich als ihre »Grundlage und Wahrheit« bestimmte (H 6/ 245). Mit der Erkenntnis, dass der Begriff der Grund der objektiven Logik ist und diese so in ihrer Vollständigkeit bestimmt ist, muss die Entfaltung des Begriffs als Begriff sich als das »Andere« zur objektiven Logik entbinden, da sie sonst seine Entfaltung – und damit die Realisierung der Freiheit – unterbunden hätte. Das »Reich der Subjektivität« ist also die »subjektive Logik«, weil ihre »Lehre vom Begriff« die Selbst-Entfaltung des Begriffs darstellt, und der »Begriff« ist »Subjekt«, weil er seinen eigenen Bestimmungen zugrunde liegt, sich ihrer Bewegung aus ›subjektivem‹ Begriff (H 6/273ff.), »Urteil« (H 6/301ff.) und »Schluß« (H 6/351ff.) unterwirft. Am Ende der Bewegung dieses Gedankens ist der Begriff in seiner Subjektivität für sich, denn er hat die Vollständigkeit seiner ihn selbst bestimmenden Momente vermittelt. Worin besteht diese Vermittlung? Wie stets in der Bewegung der ontologischen Dialektik bedeutet die Bewegung der Vermittlung zugleich ihre eigene Aufhebung. Hier so, dass der Begriff zur »unmittelbaren Beziehung auf sich selbst« eintritt und per definitionem das »anundfürsichseiende[ ] Sein[ ] des Begriffes« ist: die »Objektivität« (H 6/408). Mit ihr aber wird der Begriff nicht zu etwas anderem, er trennt sich nicht von sich, sondern wird seiner selbst äußerlich, d.h. durchsichtig, wissend. Die Totalität der Bestimmung seines Für-sich-Seins (Subjektivität) ist in ihrer Negation das An-sich-Sein des Begriffs (Objektivität). Beider Identität ist aufgehoben in der durchgeführten Unterscheidung beider, wie sie sich als Innerlichkeit und Äußerlichkeit des einen Begriffs in ihm trennen, damit aber als die Totalität seine Einheit nachweisen. So »ist er wesentlich dies, als fürsichseiende Identität von seiner ansichseienden Objektivität unterschieden zu sein und dadurch Äußerlichkeit zu haben, aber in dieser äußerlichen Totalität die selbstbestimmende Identität derselben zu sein. So ist der Begriff nun die Idee.« (H 6/461) 39

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Mit ihr ist er als Subjekt, dem seine Objektivität durchsichtig geworden ist, zur Wahrheit gekommen – er ist das wahre Subjekt (bspw. H 6/249). Anders gesagt, und in Hegels Worten: »Die Idee ist der adäquate Begriff, das objektive Wahre oder das Wahre als solches.« (H 6/462) Der »adäquate Begriff« ist sie, da der Begriff sich im Fortgang der »subjektiven Logik« nicht nur formell von seiner substanziellen Bestimmung gelöst hat (Lehre vom Begriff: Die Subjektivität) (H 6/272ff.), sondern sich hierin selbst transparent geworden ist (Lehre vom Begriff: Die Objektivität) (H 6/402ff.). So bewegt der Begriff als Idee sich frei – frei von die Vernunft prägenden Bewusstseins-Gestalten –, denn er erkennt seine »objektive Welt« im Rahmen seiner Subjektivität und die Subjektivität in bzw. durch seine ihm eigene Objektivität. Dieser sich derart selbst wissende Begriff ist »die sich selbst enthüllte Wahrheit« – und eben, nochmals, keine Bewusstseins-Gestalt mehr, sondern reine Vernunft. Schließlich aber ist, so Hegel, die Vernunft »die Sphäre der Idee« (H 6/271). In dieser Sphäre entwickelt sich, was die Vernunft sich als Idee selber ist: Identität der Bewegung des Begriffs mit seiner Objektivität. In dieser Adäquation zeigt sich die Wahrheit von »etwas«, da es Idee ist – und insofern es Idee ist, »hat« es Wahrheit (H 6/462). Die Idee ist Identität mit sich selbst – und zwar ist sie dies also im Prozess ihres eigenen Hervorbringens, der begrifflich gesehen Wahrheit ist und in der Sache »Logik der Wissenschaft«. Deren Form ist das System der Wissenschaften. Diesem ist die Idee aber nichts Externes, im Sinne einer wissenschaftlichen Methode oder Ähnlichem. Denn als »absolute« ist die Idee die »Identität der theoretischen und der praktischen« Idee (H 6/548) und schließt damit den Anfang des Kreises der »Wissenschaft der Logik« – das leere, unbestimmte Sein – in sich als dessen Resultat und »einfaches Sein« zusammen: den »in seiner Bestimmung bei sich selbst bleibende[n] Begriff.« (H 6/573) Die Totalität dieser sich selbst setzenden Bestimmung – die Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität – ist die Idee als Natur. Das »als« weist jedoch weder auf eine parallele Zweiheit noch auf eine Art Übergang hin, den die Idee zu bewerkstelligen hätte, wollte sie Natur werden. In der Idee ist die Bestimmtheit (Realität) des Begriffs selbst zum Begriff geworden, was die »absolute Befreiung« (H 6/573) darstellt. Hier aber findet kein Übergang mehr statt. Wohin auch? »Das Übergehen ist also hier vielmehr so zu fassen, daß die Idee sich selbst frei entläßt, ihrer absolut sicher und in sich ruhend. Um dieser Freiheit willen ist die Form ihrer Bestimmtheit ebenso schlechthin frei, – die absolut für sich selbst ohne Subjektivität seiende Äußerlichkeit des Raums und der Zeit« (H 6/573). Die »Äußerlichkeit« ist nun – nach allem – nichts mehr vom Bewusstsein Gefasstes, sondern bleibt »in der Idee an und für sich die Totalität des Begriffs« (H 6/573) – als System der Wissenschaften

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formiert und im hegelschen System als »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« ausformuliert. Hegel spricht zu Beginn der »Wissenschaft der Logik« von ihr als dem »sich selbst konstruierende[n] Wege«.10 Hiermit sind Methode und Bewegung der Vernunft zugleich gemeint – und ebenso zugleich an die »Wissenschaft der Logik« als auch an die Möglichkeiten der Philosophie als ganzer gedacht. Als fertiges Gebilde nimmt die »Enzyklopädie« jenen »Weg« an ihrem Anfang wieder auf und nutzt ihn als Theorie, die den der »Enzyklopädie« eigenen Weg in die »Naturphilosophie«11 (§§ 245-376) und die »Philosophie des Geistes« (§§ 377-577) auseinander faltet.

Enzyklopädie Was bedeutet der nah an Hegel bislang gegangene gedankliche Weg für die Abfolge der Werke? Um hier fürs Erste zu resümieren: Die »Phänomenologie des Geistes« hatte die Gestalten des Bewusstseins durchschritten und damit deren Aufbau gezeigt. Um diesen Aufbau als solchen in seiner produktiven Bewegung hatte die »Wissenschaft der Logik« sich bemüht und ihn auf den Begriff gebracht – dazu war die ihr intern stattfindende Abtrennung von der Vernunft als Bewegung eines Bewusstseins notwendig, die Scheidung von objektiver und subjektiver Logik. Letztere hatte diejenige Vernunft zu ihrem Ende, die als die sich selbst begreifende Idee (Subjekt) identisch mit Wahrheit wird und vorgängig Selbstproduktion ist. Als diese Totalität hatte der Kreis der »Wissenschaft der Logik« in sich zurückgefunden, indem das leere Sein seines Anfangs nun »die Idee als Sein [geworden ist].« »[D]iese seiende Idee aber ist Natur.« (H 8/393) Das heißt Ausdruck der absoluten Freiheit der Idee zu sein, in der Wahrheit ihrer selbst sich zu entschließen, das »Moment« ihres ihr eigenen »Anders-seins«, die Natur, »frei aus sich zu entlassen.« (H 8/393) In diesem Selbstverhältnis ›Objektivität‹ mitzuhören, führte auf eine falsche Bahn. Betont werden muss hier vielmehr, dass die Totalität der Natur eben nichts der Idee Gegenüberstehendes oder zeitlich post festum aus ihr Entstehendes, sondern im Grund der Idee verblei-

10. Hegel schreibt: »Diese geistige Bewegung, die sich in ihrer Einfachheit ihre Bestimmtheit und in dieser ihre Gleichheit mit sich selbst gibt, die somit die immanente Entwicklung des Begriffes ist, ist die absolute Methode des Erkennens und zugleich die immanente Seele des Inhalts selbst. – Auf diesem sich selbst konstruierenden Wege allein, behaupte ich, ist die Philosophie fähig, objektive, demonstrierte Wissenschaft zu sein.« (H 5/17) 11. Oder besser: Philosophie der Natur. 41

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bend und das in ihr sich selbst Gegenübergestellte ist. Die Idee hat in Natur statt, wann immer sie sich vom Sein zum Dasein entäußert.12 Und stellte die absolute Idee eine Einheit dar, so wird diese hier in ihr auseinander gefaltet, ohne dass der absolute und logische Charakter der Idee überschritten würde. Was schon allein daran zu ersehen ist, dass die Natur in ihrem System jede neue Komplexitätsstufe, die aus der vorigen als deren Wahrheit »notwendig hervorgeht«, nicht »natürlich« erzeugt, sondern »in der inneren, den Grund der Natur ausmachenden Idee.« (H 9/31) Den die Natur im dialektischen Fortgang überschreitenden »Geist« bereits im Blick, kann man sagen, dass das Defiziente der Natur darin besteht, als Reelles bestimmt auf die es bestimmende Idee verwiesen zu bleiben. Während die Eigentümlichkeit der Natur in ihrer Äußerlichkeit besteht – in der sie zur Vervollkommnung fortschreitet –, ist das innere Fortleiten der »dialektische Begriff« (H 9/31). Das Außersich-Sein der Natur bleibt bis zu ihrem Ende der Allgemeinheit des Begriffs unangemessen. Die Aufhebung dieser Unangemessenheit von einzelnem, endlichem Natürlichen und Allgemeinheit findet sich im »Tod des Individuums« (H 9/535ff.). Die sich hier ereignende Identität ist das »Aufheben der Unmittelbarkeit der Realität« der Subjektivität. Was geht in dieser Aufhebung zusammen? Die zwei Momente der genannten Subjektivität: »das absolute Insichsein der Wirklichkeit und die konkrete Allgemeinheit« (H 9/537). So kommt die Natur in ihre Wahrheit, in die »Subjektivität des Begriffs.« (H 9/537). Die Einheit mit der »konkrete[n] Allgemeinheit« hat die Objektivität der Subjektivität für sich, »so daß der Begriff gesetzt ist, welcher die ihm entsprechende Realität, den Begriff zu seinem Dasein hat, – der Geist.« (H 9/537) Der Geist hat den Begriff zu seinem Dasein und ist so die Einheit der Idee, in der die Entäußerung der Natur aufgehoben ist. Sein Begriff ist sich in seiner Entwicklung ebenso Subjekt wie Objekt. Zu deren Identität wird er aber nur durch die Entwicklung und deren Abschluss. Welche Stufen werden bis dorthin gegangen? Darauf soll in vier Schritten nun etwas ausführlicher geantwortet werden. (1) Der Geist bringt subjektiv die Beziehung auf sich selbst zur Durchsicht. So hat er in seinem Beginnen als »Seele« »die allgemeine Immaterialität der Natur« (H 10/43) für sich (»Anthropologie«) (§§ 388ff.). Die Natur ist damit zwar bereits transzendiert, der Geist ist aber noch ohne Reflexion. Diese tritt in Form des Bewusstseins (»Phänomenologie«) (§§ 413ff.) hinzu: Die Unmittelbarkeit der Seele wird mit ihrem Inhalt nun zum »Gegenstand« und ist als solcher das dem Ich (Bewusstsein) »äußere[ ]« – reine Tatsache, dass Ich weiß, und damit »Ge-

12. Siehe hierzu auch: Herbert Marcuse, Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt/Main: Klostermann 1968. 42

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wißheit seiner selbst« ist (H 10/199). Das Ich wiederum wird zum Gegenstand des »Selbstbewußtseins«, also des Verhältnisses des Bewusstseins zu sich selbst. Die Bestimmtheit des Ich ist »die Gewißheit seiner selbst als unendliche Allgemeinheit« (H 10/229). Das Selbstbewusstsein gipfelt somit in der Einheit des Wissens, dass seine Bestimmungen das Wesen der Dinge sind und die eigenen Gedanken. Das ist »die Wahrheit als Wissen« (H 10/229) – Vernunft. Oder anders gesagt: »Diese wissende Wahrheit ist der Geist.« (H 10/229) Seine ›Lehre‹, die »Psychologie« (§§ 440ff.), betrachtet »die Vermögen oder allgemeinen Tätigkeitsweisen des Geistes als solchen« (H 10/229) und findet ihren Höhepunkt von daher im »freie[n] Geist« (H 10/300ff.). Er vermittelt sein theoretisches Moment, das Wissen seiner selbst, mit seinem praktischen Moment, dass er seine Freiheit will. Welche Freiheit ist hier gemeint? Es ist die Bewegung des Geistes. Das besagt inhaltlich, dass er sich »als frei weiß und sich als diesen seinen Gegenstand will, d.i. sein Wesen zur Bestimmung und zum Zwecke hat« (H 10/301), und formell, dass sein Wesen Freiheit ist, denn er kann »von allem Äußerlichen und seiner eigenen Äußerlichkeit, seinem Dasein selbst abstrahieren« (H 10/25f.). Zwar hat der freie Wille mit der Vermittlung seines ihm eigenen theoretischen und praktischen Moments den subjektiven Geist zugleich in seine Krisis gebracht, die die Aufhebung in den objektiven Geist darstellt, aber die Freiheit an dieser Stelle ist bislang nur Begriff (H 10/302) – was ja, anders gewendet, eben auch heißt, dass die Freiheit ihr eigener Inhalt und Zweck geworden ist und der Geist sich nun die ihm eigene Freiheit objektiviert. (2) Die bislang nur auf den Begriff gebrachte Freiheit des subjektiven Geistes ist bestimmt, sich zur »Gegenständlichkeit zu entwickeln« (H 10/302) und sich hierdurch zu realisieren. Der »freie Geist«, die höchste Form des »subjektiven«, entäußert sich in die Gegenständlichkeit mit dem Durchgang des »objektiven Geistes«, genauer: mit dem Durchgang des »objektiven Geistes« durch seine Stufen »Recht«, »Moralität« und »Sittlichkeit«. Doch fällt das hegelsche System damit nicht in eine Phänomenologie des Geistes oder Phänomenologie der Phänomene zurück. Die Entfaltung des objektiven Geistes entlang der drei Stufen ist die Realisierung der von ihm gewollten und ihm eigenen Freiheit im Element der Idee. Derart erscheint sie endlich, da ihre Realität hier äußerlich ist. Der Anteil, den der objektive Geist damit an der absoluten Idee hat, ist ihr »an sich«-Sein (H 10/303). Im »Recht« findet die Freiheit ihr unmittelbares Dasein und wird in der Reflexion des Selbstbewusstseins zum Guten fortbestimmt (H 7/287). Es bleibt aber ein allgemeines Gutes, das »substantielle Allgemeine der Freiheit« (H 7/286), dem ›individuelle‹ Bestimmungsmöglichkeiten fehlen. Demgegenüber bewahrt die »Moralität« die subjektive Besonderheit und Innerlichkeit. In ihr ist der freie Wille »in sich re43

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flektiert, so dass er sein Dasein innerhalb seiner hat und hierdurch zugleich als partikulärer bestimmt ist« (H 10/306). Man sieht schon: Recht und Moralität sind komplementär defizient. Der unmittelbaren Allgemeinheit des Rechts fehlt die subjektive Bestimmtheit der Moralität – et vice versa. Die Allgemeinheit der Objektivität des Geistes des Rechts und die Besonderheit der Subjektivität des Geistes der Moralität werden synthetisiert in der »Sittlichkeit«. Als sittliches Miteinander in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat (Recht) ist sie höchster Ausdruck der subjektiven Freiheit (Moralität). Kurz: »Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit […] – der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit.« (H 7/292) In seiner vollendeten Realität ist dieser Begriff der Freiheit der »Staat«, wie er einerseits »selbstbewußt [ ]« (H 10/330) die Ordnungen der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft in sich birgt. Und andererseits? Erstens bezieht er sich als einzelner in seiner Entwicklung auf sich, zweitens setzt er sich als besonderer in ein Verhältnis zu anderen besonderen Staaten. Und drittens wird das Allgemeine des Staatsgeistes begriffen: Es ist das Moment der (historischen) Entwicklung in den ersten beiden Momenten und damit das sie umgreifende – die Weltgeschichte. Im Begreifen des Besonderen eines jeweilig Eigenen eines Staates geht dieser in die Weltgeschichte ein und wird damit an ihr zu einem Gewesenen. Doch verfällt er nicht in Vergessenheit, sondern seine Gegenwart wird im Fortgang des »Weltgeistes« aufgehoben. »Diese Bewegung ist der Weg der Befreiung der geistigen Substanz, die Tat, wodurch der absolute Endzweck der Welt sich in ihr vollführt, der nur erst an sich seiende Geist sich zum Bewußtsein und Selbstbewußtsein und damit zur Offenbarung und Wirklichkeit seines an und für sich seienden Wesens bringt und sich auch zum äußerlich allgemeinen, zum Weltgeist, wird.« (H 10/347) Der sich über diesen Weg der Weltlichkeit bewegende Geist streift diese hier ab, wo er das geschichtliche Wesen und Werden seiner eigenen Bewegung jeweilig begreift, und »erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes« (H 10/353). En passant: Die Beschreibung der dreifachen Bezüglichkeit des Staates ist prozessual die Entfaltung der Vernunft im staatlichen Leben. Auf die Stellung dieser Bewegung im hegelschen System gewendet, heißt das: die reelle Selbstentfaltung des objektiven Geistes in der, seiner, Wirklichkeit. Von hier lässt sich Hegels berühmter Vers aus der Rechtsphilosophie als Zusammenfassung des gesamten Sachverhaltes lesen: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; / und was wirklich ist, das ist vernünftig.« (H 7/24) Denn das in einem bestimmten historischen Zeitpunkt Eingetretene, Wirkliche, ist das für diesen Augenblick Notwendige, da es der weltgeschichtlichen Vernunft des objektiven Geistes entspricht. So ist alles, was wirklich (geworden) ist, vernünftig (als Entäußerung des objektiven Geistes), und alles, was dementsprechend vernünftig ist, ist auch wirklich, weil Wirklichkeit des Geistes. 44

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(3) Die Vernünftigkeit, weil Geistigkeit, des Wirklichen hat in ihrer Wendung auf den Geist für diesen eine Notwendigkeit erwiesen, nämlich die des Konkreten und der Weltlichkeit. Selbst in Form der Sittlichkeit hatte diese Weltlichkeit des Geistes noch eine notwendige Endlichkeit, weil Konkretion für sich. Hegel hatte den Weg zum von der Weltlichkeit abgelösten absoluten Geist demgemäß als Befreiung beschrieben. So zeigt sich an dieser Stelle der »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« eine strukturelle bzw. bauliche Entsprechung zu jenem Punkt der »Wissenschaft der Logik«, wo diese ihre »Lehre vom Begriff« als das Andere zur »objektiven Logik«, der »genetischen[n] Exposition des Begriffes«, von dieser trennt (s.o.). In der »Philosophie des Geistes« der »Enzyklopädie« nun stellt das Zurücklassen des subjektiven und objektiven Geistes die Befreiung des Geistes von der Welt (letztlich: der Welt der Sittlichkeit) dar. Die Darstellung der Lehre des endlichen Geistes fand in von der Darstellung des absoluten Geistes abgetrennten Teilen statt und machte so den Anschein eines seinsmäßigen Unterschiedes. Der manifestierte sich als Inkongruenz des Geist-Begriffs, unendlich zu sein, mit seiner endlichen, subjektiven bzw. objektiven Realität. Doch ist dies ein Anschein, »den an sich der Geist sich als eine Schranke setzt, um durch Aufheben derselben für sich die Freiheit als sein Wesen zu haben und zu wissen« (H 10/34). Was bewirkt das Aufheben der »Schranke«? Es gibt Einblick in den Sachverhalt, dass der absolute Geist die Endlichkeit von subjektivem und objektivem Geist in seiner Unendlichkeit birgt. Er musste sich in ihnen von sich unterscheiden und entfalten, um allererst absolut werden bzw. sein zu können. Das Endliche erscheint damit als im absoluten Geist aufgehoben. »Die eigentliche Qualität des Geistes ist daher vielmehr die wahrhafte Unendlichkeit, d.h. diejenige Unendlichkeit, welche dem Endlichen nicht einseitig gegenübersteht, sondern in sich selber das Endliche als ein Moment enthält. Es ist deshalb ein leerer Ausdruck, wenn man sagt: Es gibt endliche Geister. Der Geist als Geist ist nicht endlich, er hat die Endlichkeit in sich, aber nur als eine aufzuhebende und aufgehobene.« (H 10/36) (4) Der Durchgang von subjektivem und objektivem Geist ist der Weg der Ausbildung der Realität des absoluten Geistes. Diese Realität des Geistes besteht darin, dass sie mit dem Begriff des Geistes identisch ist, so dieser das Wissen der absoluten Idee ist. Da der Geist sich in Gestalt des philosophischen Denkens selbst thematisch wird, ist seine Vollkommenheit erreicht: Der Geist denkt sich als Geist. Derart wird er der Realisierung der reflexiven Struktur der »absoluten Idee« aus der »Wissenschaft der Logik« entsprechen (H 6/573) (s.o.). Aber nur entsprechen, denn wie gesehen ist er ihr Wissen, das sich zuerst in sich in die Natur entlassen hatte und sich dann in die »in sich gegangene Existenz emporhebt« (H 6/573). Seine Befreiung erfährt der Geist, sobald er die Notwendigkeit seiner Weltlichkeit an und für sich seiend in 45

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sich aufgehoben hat und seine Realität so mit seinem Begriff identisch wird. Damit aber hat der absolute Geist noch nicht seine erfüllte Bestimmtheit erfahren. Zu ihr gelangt er im Durchgang seiner drei Gestalten: Kunst, Religion und Philosophie, in deren Wirken der Geist das Absolute ist. Wieso das Absolute? Es ist der Gegenstand der Beschäftigung der drei Sphären des absoluten Geistes; anders gesagt: das Wahre (H 13/139). Und dass hier der absolute Geist mit der Bestimmung des Wahren übereinkommt, liegt daran, dass er »an und für sich [ist], und dadurch kein der Gegenständlichkeit abstrakt-jenseitiges Wesen, sondern innerhalb derselben im endlichen Geiste die Erinnerung des Wesen aller Dinge« ist (H 13/139). In inhaltlicher Hinsicht sind sich Kunst, Religion und Philosophie also insofern gleich, da sie sich mit dem »Wahren als dem absoluten Gegenstand des Bewußtseins« (H 13/139) befassen. Ihr Unterschied konturiert sich hinsichtlich der Formen, in denen sie das Wahre jeweils »zum Bewußtsein bringen« (H 13/139). Die Kunst, als deren erste Form, »ist ein unmittelbares und eben darum sinnliches Wissen, ein Wissen in Form und Gestalt des Sinnlichen und Objektiven selber, in welchem das Absolute zur Anschauung und Empfindung kommt.« (H 13/139) Die Gegenständlichkeit und Äußerlichkeit der Kunst, was die Form ihrer Anschauung ist, zeigt zugleich ihr Manko: Ihr fehlt die Andacht. Diese bringt die nächste Stufe, die Religion, in der Form des »vorstellende[n] Bewußtsein[s]« hinzu (H 13/139). Hier wird die Innerlichkeit der Geistigkeit, das Subjektive, zum hauptsächlichen Moment. Sie lässt das, was die Kunst objektiv sinnlich und äußerlich vorstellte, in ihr Gemüt eingehen. So wird in der Religion »diese innere Gegenwart in Vorstellung und Innigkeit der Empfindung das wesentliche Element für das Dasein des Absoluten.« (H 13/143) Die dritte und höchste Form des absoluten Geistes ist aber die Philosophie. Wieso das? Weil sie Objektivität und Subjektivität jener ersten beiden in sich aufhebt. Genauer: Die Kunst verliert ihre Objektivität, die Sinnlichkeit, in der Philosophie an die höchste Form des Objektiven, den Gedanken. Die Subjektivität der Religion, ihre Innerlichkeit der Anschauung, äußert sich in der Philosophie als Subjektivität des Denkens (H 13/143f.). Der gesamte Inhalt des Absoluten (Wahren) ist nun erkannt. Das macht die Philosophie, als höchste Form des absoluten Geistes, zur absoluten Wissenschaft. Nur als diese war die freie Bewegung der sich denkenden Idee zu erreichen und zu realisieren. Dass Hegel die drei Sphären auch als historische versteht13, er-

13. In der »Dritten Abteilung« der »Philosophie des Geistes« der »Enzyklopädie« deutet Hegel die historische Perspektive in den drei entsprechenden Kapiteln nur an. Bekanntermaßen hat er aber ja allen drei Sphären ausführliche historische Vorlesungen gewidmet. 46

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hellt, dass ihre gemeinsame Bewegung die eigentliche Weltgeschichte, nämlich die des Geistes, bildet. Und ihre Bewegung und Entäußerung ist notwendig der Weg der Bestimmung des absoluten Geistes und seiner Unterscheidung von sich in ihm. Nur so ist bzw. wird der Geist der absolute. Aber wie gelangt die Philosophie dazu – zumal die hegelsche, die laut ihres eigenen Systemgedankens ›logischerweise‹ den Endpunkt der historischen Entwicklung der Philosophie setzt und markiert –, mehr als nur eine bloße Behauptung auszusprechen, wenn sie von sich sagt der »denkend erkannte Begriff der Kunst und Religion« zu sein (H 10/378)? Und diese scheinbare Anmaßung gilt nicht nur sowohl den Inhalt (das Wahre) als auch die Formen betreffend. Mehr noch: Diese Philosophie ist als Erkennen »das Anerkennen dieses Inhalts und seiner Form und die Befreiung von der Einseitigkeit der Formen und Erhebung derselben in die absolute Form, die sich selbst zum Inhalte bestimmt und identisch mit ihm bleibt und darin das Erkennen jener an und für sich seienden Notwendigkeit ist.« (H 10/378f.) Wie also wird hieraus eine gedankliche Figur, die stark genug ist, die gesamte bislang betrachtete Bewegung des Systems zu beschließen? In der Kürze scheint die Antwort sowohl lapidar als auch immer noch rätselhaft: Die Philosophie erfasst am Schluss ihren eigenen Begriff und sieht damit auf ihr eigenes Wissen zurück (H 10/379). Und wenn man die Formulierung: »am Schluß« polysemisch läse? Dann wäre das Antworten auf die obige Frage nach der vermittelnden Kraft und Macht schon in Fahrt gekommen. Was also ist dieser Begriff der Philosophie? Er ist »das Logische mit der Bedeutung, daß es die im konkreten Inhalte als in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit ist.« (H 10/393) Dass es bewährt ist, setzt die Bewährung voraus. Ihr Werden ist zugleich das Werden des Logischen bis zum vorliegenden Endpunkt des Systems, wo es sich als sein eigenes Resultat durchsichtig wird. Der Weg hierhin führte genau durch die angesprochene Wirklichkeit hindurch, nämlich sie, sich auf ihre Welt einlassend, zu begreifen, sie als logische zu bestimmen und somit sich selbst. Das ist der Weg des Logischen, wie es auf seinem Weg als ein solches erscheint – und es ist ebenso sehr der Weg des hegelschen Systems. An dessen anfänglichem Erscheinen bildete das Logische sich im an sich des Begriffs (leeres Sein). An dessen Ende hat sich das Logische »in sein reines Prinzip zugleich als in sein Element sich erhoben« (H 10/393). Der Weg hierhin ist, als Vorgang eben, die sich totalisierende Erscheinung des Wissens, die in ihrer Vervollkommnung die Vernunft gewordene Wirklichkeit der Natur und des Geistes in sich (ein-)begriffen hat. Derart geworden, fehlt dem Gedanken des Logischen dieses Weges noch der eine Schritt, dass es von einem erscheinenden Wissen zu diesem selbst wird. Inhaltlich geschieht dies, wie gesagt, durch den 47

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Rückblick dieses Wissens auf sich selbst, formal aber – und das ist die eigentliche Aufhebung der geschilderten Entwicklung bzw. Erscheinung – durch ein dreischrittiges System von Schlüssen. Nach deren Durchgang wird sich zeigen, »daß die Natur der Sache, der Begriff, es ist, die sich fortbewegt und entwickelt, und diese Bewegung ebensosehr die Tätigkeit des Erkennens ist, die ewige an und für sich seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt.« (H 10/394) Wie also kommt das System zu diesem Endpunkt? Die Wahrheit einer Konklusion gründet sich auf der Gültigkeit des Schließens. Diese wiederum ergibt sich aus der Wahrheit der Prämissen, die ihrerseits aus gültigen Schlüssen hervorgegangen sein müssen. Dieser sich hiermit abzeichnende unendliche Regress wird durch die syllogistische Kreisform eines Schlusses von Schlüssen aufgefangen: Was die Prämissen (im ersten Schluss beide, im zweiten Schluss noch eine, im dritten Schluss keine mehr) für die Konklusion eines jeden Schlusses sind, sind die beiden ersten Schlüsse für den dritten: »voraussetzende[s] Urteilen« (H 10/393). Die Wahrheit der ersten beiden Schlüsse also erweist sich erst im dritten Schluss – und damit die Wahrheit der gesamten vom System begriffenen Wirklichkeit. »Der Schluß hat sich als die Wiederherstellung des Begriffes im Urteile und somit als die Einheit und Wahrheit beider ergeben« (H 6/351), die Einheit und Wahrheit beider!14 Das Schlusssystem bildet die abschließenden drei Paragraphen der »Enzyklopädie« (H 10/393f.). Es soll – auch für hier abschließend – nun noch im Schema dargestellt werden. Das Logische, wie es im ersten Schluss erscheint, wird hier nur erst als Voraussetzung gesetzt. Den medius terminus dieses ersten Schlusses bildet die Natur, wie sie das Logische mit ihrem anderen Extrem, dem Geist, zusammenschließt (Logos – Natur – Geist). »Das Logische wird zur Natur und die Natur zum Geiste.« Dieses Verhältnis zeigt für das Logische zwar erst an, dass »die Vermittlung des Begriffs [noch; T.S.] die äußerliche Form des Übergehens« hat. Die Natur schließt aber nicht »als Anderes nur Andere« zusammen, sondern sie wird gleichsam als geistige vorgestellt, die »an sich die Idee« ist. Gesetzt wird hier also, dass es weder eine von der Idee unabhängige ›natürliche‹ Natur gibt, noch eine Divergenz von Logos und Geist. Letzteres zeigt im Übrigen, dass wir vom »voraussetzenden Urteilen« bereits im Stadium des Schließens angelangt sind. Gleichwohl hat das Logische das an dieser Stelle noch nicht erkannt, es ist reines, gesetztes Erscheinen. Und ist insofern als »Gang[ ] der Notwendigkeit« unfrei, weil ohne Erkennen.

14. Die detaillierte Analyse der logischen Sachverhalte dieses Systems von Schlüssen und deren Bezüge auf vorbereitende Passagen ist nachzulesen in: Jan Beaufort, Die drei Schlüsse. Untersuchungen zur Stellung der Phänomenologie in Hegels System der Wissenschaften, Würzburg: Könighausen & Neumann 1983. 48

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Das Erscheinen des Wissens schreitet in logischen Schritten weiter. Der zweite Schluss ist »bereits der Standpunkt des Geistes selbst«, der die Natur (wohlgemerkt: diejenige, wie sie durch den ersten Schluss bestimmt wurde) voraussetzt und sie mit dem Logischen vermittelt (Natur – Geist – Logos). Nun erscheint das Logische in der Natur im an sich der Idee und erkennt sich (als Wissenschaft) »subjektiv[ ]«, als die »geistige[ ] Reflexion in der Idee«. Die Unfreiheit behält das Logische noch, insoweit sein Erkennen innerlich bleibt – aber sowohl schon dessen Zweck, die Freiheit, weiß, als auch, dass das Erkennen »selbst der Weg ist, sich dieselbe hervorzubringen.« Der dritte Schluss stellt die »Idee der Philosophie« dar, die zum medius terminus nun schließlich das Logische selbst hat: »die sich wissende Vernunft«. Da sie das »Absolut-Allgemeine« ist, sind ihre Extreme mit ihr identisch: Der ihr vorausgesetzte Geist ist der »Prozeß der subjektiven Tätigkeit der Idee«, die Natur der »Prozeß der an sich, objektiv, seienden Idee« (Geist – Logos – Natur). Aufs Ganze des hegelschen Systems betrachtet sind Geist und Natur die Bestimmungen des Logischen als Philosophie des Geistes und Philosophie der Natur. Und da sie in den ersten beiden Schlüssen schon in ihrem jeweiligen Sachverhalt des erscheinenden Wissens bestimmt wurden, stellen sie nun das Entfaltete des sie bergenden logischen Wissens dar – damit aber werden sie in diesem Sachverhalt des dritten Schlusses als identisch erkannt. Wie das? Der dritte Schluss muss nichts mehr zusammenführen. Die gewusste Identität von Geist und Natur wird erst im »Sich-Urteilen der Idee« diskriminiert. Insofern nämlich, da Geist und Natur als ihre »Manifestationen« bestimmt werden und – damit kongruent – der Idee (lies: der Philosophie) durchsichtig wird, dass ihre erkannte Wirklichkeit die Wirklichkeit ist, als Bewegung der »Natur der Sache«, des Begriffs. Die Vernunft weiß sich am Ende selbst, belegt durch ihren Blick zurück auf das von ihr erbrachte Wissen. Sie ist rein die Bewegung des Begriffs und schließlich ihr Wissen darum: »die sich wissende Vernunft«. Derart befreit zieht sie die geschichtliche Bewegung der Metaphysik auf sich als dem ihr einzigen Prinzip zusammen – und vollendet sie so, weil die Bestimmung der Philosophie (Metaphysik) erfüllt ist, als System der Wissenschaften in die Gleichheit mit der Idee einzutreten und sich als diese »ewig« zu »betätig[en], erzeug[en] und genieß[en]« im Wahren als Subjekt. Im Begriff-Kapitel der subjektiven Logik der »Wissenschaft der Logik« paraphrasiert Hegel die Bewegung der Negation im dialektischen Prozess: »Die höchste Reife und Stufe, die irgend etwas erreichen kann, ist diejenige, in welcher sein Untergang beginnt.« (H 6/287) Eine solche »Stufe« hat, wie zuvor gesehen, das hegelsche System und mit diesem die Metaphysik in der Schlussfigur der »Enzyklopädie der philosophi49

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schen Wissenschaften« erreicht. Aber war das Erreichte zugleich der »Untergang« des Ganzen? Retrospektiv ist wohl eher von einem Abschied zu sprechen – im Sinne des Abscheidens-von. Das, was als Philosophie der Moderne darzustellen sein wird, ist von der neuzeitlichen Metaphysik abgeschieden. Für Marx, der den Reigen eröffnen wird, stellt sich beispielsweise die Dialektik nurmehr als Methode oder Instrument dar, sie hat für ihn aber keinen ontologischen Status mehr. Oder genauer gesagt und das Abscheidende schon andeutend: Ontologisch ist sie nurmehr in einem variierten, modernen Sinne, nämlich insofern der Bezug auf das wirkliche Sein gegeben ist. Und diese Wirklichkeit ist hier nicht mehr die in der Idee gründende, sondern diejenige, wie sie in der als weltlich gedachten Vernunft des menschlichen Bewusstseins und der Gesellschaft – Bedingung der Möglichkeit einer »Kritik der Politischen Ökonomie« – ihren Ursprung findet. Für die Existenz des Einzelnen erlebt und verstanden als das repressive »Kapital«, als Wissenschaft bei Marx durchdacht als »Kritik der politischen Ökonomie«.15 Die in Hegels System erreichte Identität von Denken und Sein wird, unter Berücksichtigung ihres Auftretens als wissenschaftliches System, in der Folge als Spekulation abgeurteilt. Bis dato war die Spekulation der Begriff für das Movens der Vernunft. Und war insofern positiv oder wenigstens neutral verstanden als die interne Spiegelung des Denkens während seines eigenen begrifflichen Fortschreitens. Hegel: »Das spekulative Denken besteht nur darin, daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält« (H 6/76). Derart hatte dieses Denken es weit gebracht – bis in die Durchsichtigkeit seines eigenen Grundes, formuliert als geschlossenes System der Wissenschaft des reinen Begriffs. Dessen Wirklichkeit war die des Geistes, nicht die eines vorstellenden Bewusstseins (Intentionalität). Der Akt des Vorstellens war schon in der »Phänomenologie des Geistes« aufgehoben und zurückgelassen worden. Zuhöchst geschieht im Vorstellen die Synthese von »sinnliche[r] Unmittelbarkeit« (H 3/ 556) und Denken. Formal gesehen bleibt die Vermittlung von Sein und Denken hier mangelhaft bzw. unvollendet, da das Selbstbewusstsein sich noch nicht als Begriff erhellt hat, das Geistige in sich getrennt noch auch Anteil am »Diesseits« (H 3/556) hat. Dem entspricht, dass der Inhalt zwar »der wahre« (H 3/556) ist, aber seine Elemente, insofern sie Vorstellen sind, (noch) nicht auf den Begriff gebracht wurden und so als je selbstständige sich nur äußerlich aufeinander beziehen. Es ist das Moment der Sinnlichkeit, welches das Vorstellen zu einem unmittelbaren macht. Das aber bleibt für sich und muss in dieser seiner Befriedigung »sich selbst überlassen werden« (H 3/75). Es wurde auch

15. Doch dazu mehr im dritten Teil. 50

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zurückgelassen – das hat die Darstellung des Fortgangs des hegelschen Systems gezeigt – und es musste zurückgelassen werden, damit es im Fortgang des spekulativen Wissens als für sich geborgen werden konnte. Dass das unmittelbare Vorstellen für sich gelassen wird, heißt aber auch, dass es vom spekulativen Wissen nicht gewusst wird.16 Die Spekulation entwickelt sich bis dorthin weiter, wo die Bewegung des Begriffs und die Tätigkeit des Erkennens eins sind in der sich selbst wissenden Bestimmung der Vernunft, geborgen im System der Wissenschaften. Und eben dessen derartige Vollendung ist es, die Abstoß und Abschied von ihm als der Metaphysik hervorruft. Bei Marx ist, wie oben angedeutet, der Abstoß bereits vollzogen. Die Entfremdung des Subjekts von sich wird als wissenschaftliche Kritik an entsprechenden Produktionsverhältnissen extrapoliert, in denen es existiert und die sein (insofern entfremdetes) Bewusstsein bestimmen. Hier geht es nicht mehr um eine geistige Wirklichkeit, sondern um die konkrete, politische Existenz des Menschen als solche. Wissenschaft kann sie gleichwohl sein, da sie sich als »Kritik der politischen Ökonomie« auf das systematische Verstehen des Ursprungs der gesellschaftlichen Existenz des Menschen, deren Geschichte und seiner Produktivität besinnt. Dass die marxsche, prononcierte Unterscheidung von Sein und Bewusstsein (Denken), in der Ersteres als die gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen gefasst wird, nun aber nicht vom Himmel der hegelschen Offenbarung fällt, mag, schon wegen der Krassheit der Differenz des marxschen Gedankens zu dem Hegels, einleuchten – und die Frage provozieren, was es denn nun auf sich habe mit der Abwendung vom spekulativen Wissen und welche Rolle dabei das Vorstellen einnimmt. Die Abwendung von der Spekulation ist genau dies: Der Vorwurf an das spekulative Wissen, es sei reines Theoretisieren unter Missachtung der Sinnlichkeit des Menschen (Feuerbach), es sei Denken ohne Denkenden (Kierkegaard), und die Abwendung geht einher mit der Ersetzung der ›Welt als geistige Wirklichkeit des Begriffs‹ durch die »Welt als (Wille und) Vorstellung« (Schopenhauer). Die Trennung von Denken und Sein als Nicht-Identität hält hier so Einzug, dass Welt im Denken immer nur Vorgestelltes ist und dessen Ursprung nicht erhellt werden kann, da das denkende Subjekt als selbst weltlich verstanden wird. So wird das Bewusstsein und seine Wahrheit weltlich – und der wahre Ursprung seiner Welt schleierhaft. In Hegels System war das Vorstellen wegen seiner Bindung an die Sinnlichkeit der Welt früh in den Gestalten des Bewusstseins und dessen Phänomenologie

16. Hierzu: Claus-Artur Scheier, Nietzsches Labyrinth. Das ursprüngliche Denken und die Seele, Freiburg und München: Alber 1985, 42. 51

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zurückgelassen worden und das erscheinende Wissen war spekulativ bis in die sich wissende Vernunft fortgeschritten. Genau diese »Vernunft« kann vom Vorstellen aber nur im den eigenen Weg abschließenden Rückblick auf das von ihr erbrachte Wissen wissen, und hat das (sinnliche) Vorstellen für sich zu lassen. Insofern das Vorstellen also agiert, sich produziert – und genau mit diesem Gedanken tritt Schopenhauer auf –, ist es das der metaphysischen Vernunft Andere; und diese wiederum ist dem vorstellenden, intentionalen Denken sein Anderes, von dem es sich abstößt und so zu eigenem (modernem) Verstehen kommt. In drei Werken also entfaltet sich dieses nach-metaphysische intentionale Denken. Auf ihren jeweiligen Beitrag zur Eröffnung der Moderne soll jetzt noch kurz geschaut werden.17

17. Die Möglichkeit des Schauens bedarf eines für es geöffneten Horizonts. Für das Folgende ist der zu finden in: Scheier a.a.O., 1985, 37-59. Außerdem: ders., »Feuerbachs Motiv«, in: Independent Journal of Philosophy, Vol. 5/6, 1988, 121-127; und: ders., »Hegel und der geschichtliche Abschied des spekulativen Wissens«, in: Theorie – Technik – Praxis. Philosophische Beiträge, Katholische Akademie Schwerte, 1986, 17-29. 52

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DER FRAGLICHE »URSPRUNG«. EIN URSPRUNG MODERNEN DENKENS

Der fragliche »Ursprung«. Ein Ursprung modernen Denkens Welt (Schopenhauer) Schopenhauers Hauptwerk beginnt mit dem Satz: »Die Welt ist meine Vorstellung« (Sch 1/31). Und es endet mit der Erkenntnis: »Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, [ist] diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts« (Sch 1/528). Was ist dazwischen an gedanklicher Wandlung so radikal geschehen? Dass die Welt Vorstellung sein kann, hängt mit der absoluten Trennung von Subjekt und Objekt zusammen. Alles was ist, ist Objekt des wahrnehmenden, vorstellenden Subjekts. Die Welt ist bedingt durch die Vorstellung des Subjekts und ist auch nur für es da. Produziert wird diese Totalität des Etwas vom Willen, der die andere Seite dieser meiner Welt ausmacht: »Die Welt ist mein Wille.« (Sch 1/33) Und dieser Wille ist nicht irgendeiner unter anderen, sondern der unablässige Trieb, das Etwas, d.h. Alles, d.h. Leben hervorzubringen, zu produzieren. Aus dieser Produktion entspringt die Welt, wie sie in der Vorstellung des Subjekts erscheint, oder besser: Dies ist die Welt und nichts sonst. Der sich entsprungene, produzierte Wille zum Leben ist Welt, und so aber nicht mehr als Wille vorstellbar, sondern nurmehr als Leben. Dieses vertilgt sich im Moment seines Hervorgebracht-Seins und räumt so einem Nächsten ›nach sich‹ dessen jeweilige Zeit ein. So sehen wir ein, »daß wie die Zeit, so auch der Raum, und wie dieser, so auch Alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, Alles also, was aus Ursachen oder Motiven hervorgeht, nur ein relatives Daseyn hat, nur durch und für ein Anderes, ihm gleichartiges, d.h. wieder nur eben so bestehendes ist.« (Sch 1/36) Aber in dieser stetigen Selbstvertilgung und Neuproduktion des Lebens durch den Willen besteht unsere Welt als Vorstellung, allererst ihre »Objektität« (Sch 1/527). Letztere ist aber ein Schein, ein Schleier, der dem Subjekt das Wissen des Ursprungs verstellt, »es ist die MAJA, der Schleier des Trugs, welcher die Augen der Sterblichen umhüllt und sie eine Welt sehen läßt, von der man weder sagen kann, daß sie sei, noch auch, daß sie nicht sei« (Sch 1/37). Das Sein ist dem Denken (Vorstellen) nicht mehr identisch gegeben, 53

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ERÖFFNUNG DES ZUGANGS ZUR MODERNE

sondern nurmehr Intentionalität, nämlich Bild. In dieser Trug- und Traumbildhaftigkeit der Welt lässt diese sich aber immerhin noch in ihrer Objektität bestimmen, sie wird also nicht als solche fraglich, sondern nur ihr Ursprung. Die Verschleierung wirkt ebenso konstitutiv auf das Verhältnis des Subjekts zu sich: Das »Ich ist der finstere Punkt im Bewußtseyn, wie auf der Netzhaut gerade der Eintrittspunkt des Sehnerven blind ist, wie das Gehirn selbst völlig unempfindlich, der Sonnenkörper finster ist und das Auge Alles sieht, nur sich selbst nicht.« (Sch 2/570) Mit der »Wahrheit« (Sch 1/31), dass die Welt des Subjekts Wille und Vorstellung sei, beginnt diese Welt des Willens zum Leben und sie gilt bis zu der Erkenntnis, dass es mit ihr nichts sei. Wie entsteht nun diese Erkenntnis des Nichts? Mit dem Verlauf der philosophischen Reflexion, die Einsicht über das Wesen des Willens zum Leben erbringt – das ist das Geschäft der Philosophen (Sch 1/493) –, wird erkannt, dass genau hierin die höchste »ethische[ ] Bedeutung« (Sch 1/487) des menschlichen Handelns liegt: nämlich mit dem Lüften des Schleiers der Maja einzusehen, dass das Wesen des Willens nur als individualisierende Produktion von Leben erscheint, in Wahrheit aber »in einem steten Vergehen, nichtigem Streben, innerm Widerstreit[,] beständigem Leiden [und einer] hinschwindende[n] Welt« besteht (Sch 1/488). Diese Erkenntnis ist dem Menschen »Quietiv alles Wollens geworden« und äußert sich in der Verneinung des Willens zum Leben (Sch 1/493). Mit der Verneinung des Willens ist es aber auch nichts mehr mit der Welt als Vorstellung. Oder, spröde gesagt: »Kein Wille: keine Vorstellung, keine Welt.« (Sch 1/527) Was bleibt, ist das Erkennen des Nichts als sich stetig entziehendes, verschleierndes Prinzip der Welt, die ja mein Wille ist und meine Vorstellung.

Sinnlichkeit (Feuerbach) Während der schopenhauersche Gedanke unmittelbar einsetzt und sich am Bedenken des Ursprünglichen entwickelt, geht das Projekt Feuerbachs den historischen Weg: Erst in der historischen Abgrenzung zur spekulativen Vernunft, die für Feuerbach zuhöchst rationalisierte, »vernünftige Theologie« (Fb G/28) (Hegel) ist, bestimmt sich der eigene Ort. Und dieser will auch vor allem als geschichtlich gewordener begriffen sein, denn die Entwicklung des spekulativen Denkens sieht Feuerbach als die allmähliche Auflösung einer Entfremdung des Denkens in die Theologie. Dies Außer-sich-Sein des Denkens endet mit Hegels System, wo »das göttliche Wesen also als das Wesen der Vernunft erkannt, verwirklicht und vergegenwärtigt« (Fb G/28) wurde. So hat das Denken jetzt – in Feuerbachs eigenem historischen Ort – nur noch eine (Selbst-)Entfremdung zu gewärtigen, auf dass es in der Folge 54

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zur »Philosophie der Zukunft« anheben kann: dass dieses Denken bis dato (d.h. für Feuerbach: bis Hegel) ein rein theoretisches Begreifen in absoluten Formen (Begriff, Urteil, Schluss) ist – und damit aber »Unsinn des Absoluten«, da es das individuelle Verstehen dem menschlichen Begreifen und Vorstellen entfremdet. »So entäußert und entfremdet die absolute Philosophie dem Menschen sein eignes Wesen, seine eigne Tätigkeit! Daher die Gewalt, die Tortur, die sie unserm Geiste antut. Wir sollen das Unsrige nicht als Unsriges denken, sollen abstrahieren von der Bestimmtheit, in der etwas ist, was es ist, d.h. wir sollen es denken ohne Sinn, sollen es nehmen im Unsinn des Absoluten.« (Fb G/60) Warum liegt für Feuerbach hier Unsinn vor? Weil nur in der sinnlichen Anschauung eines »wirkliche[n], sich selbst betätigende[n]« (Fb G/64) Subjekts Sinn entsteht, nicht im abstrakten, rein begrifflichen Denken. Denn dieses hatte das Sein in seiner Undenkbarkeit doch als Nichts bestimmt. Hatte es? Hegels dialektische Logik hatte das reine Sein mit dem reinen Nichts konfrontiert, aber nicht identifiziert. Aus der Dialektik von Sein und Nichts war allererst die Bewegung des Begriffs in seinem Werden entstanden. Wogegen Feuerbach also in kritischer Weise angeht ist vermeintlich das hegelsche Sein bzw. Nichts, verstanden als unsinnliche Welt der Theorie und des Begriffs, sachlich aber der schopenhauersche Begriff des Nichts (s.o.).1 Und man sieht, dass die schopenhauersche Position hier geradezu in Umkehrung vorliegt. Wurde in dieser gerade die vom Menschen gedachte und vorgestellte Welt als mit dem Schleier der Maja bedeckt beschrieben, hinter dem das Nichts sich verbirgt, wird ebendiese Welt für Feuerbach die schlechthin wirkliche. Das Sein ist kein Schein, »kein allgemeiner, von den Dingen abtrennbarer Begriff. Es ist eins mit dem, was ist.« (Fb G/65) Und auch »nach Abzug aller wesentlichen Qualitäten der Dinge« bleibt der dann noch verbleibende Begriff vom Sein »deine Vorstellung […] – ein gemachtes, erdachtes Sein« (Fb G/66). Aber das wäre »nur Gedanke« (Fb G/75), ohne dass ein Gegenstand (Welt) in einem wahren Sinn sinnlich gegeben wäre. Diese Wahrheit erhält die Welt nur, wo sie den Sinnen als Wirkliches gegeben ist – und der Mensch wird nur wahr, wo er sinnlich ist. Feuerbach: »Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes, ist das Sinnliche. Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch. Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen, nur die Sinnlichkeit Wahrheit und Wirklichkeit.« (Fb G/75) So stößt sich der feuerbachsche Gedanke von der »Ontotheolo-

1. Womit nicht verleugnet werden soll, dass Schopenhauer sich ebenfalls häufig gegen die »Entsinnlichung« der Philosophie wendet. Zu der genannten verschobenen Projektion Feuerbachs, siehe ausführlich Scheier in den oben angeführten Quellen. 55

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gie« (Fb G/29) ab. Die Kritik des (vermeintlich hegelschen) spekulativen Denkens als bloßer Theorie und dessen Orientierung nur an der Identität mit sich selbst, erbringt die Öffnung des Denkens hin auf eine »Philosophie der Zukunft«. Diese ist getragen von der Vorstellung des Menschen als eines sinnlichen Wesens, dem die Trennung von Denken und Sein konstitutiv ist. Als das Subjekt dieser neuen Philosophie wird daher »nicht die Vernunft in abstracto, sondern das wirkliche und ganze Wesen des Menschen« bestimmt (Fb G/91). Insofern es das ist, ist ihm zugleich »das erste Prinzip und Kriterium der Wahrheit und Allgemeinheit« die »Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen« (Fb G/83). Als sinnliche Individualität ist der Mensch aufgrund seiner Sinnlichkeit ursprünglich in den Dialog zwischen Du und Ich eingebettet (Fb G/83). Kein Mensch ist ohne diesen Bezug der »Notwendigkeit des Du für das Ich« (Fb G/98). Und war in Religion und spekulativer Philosophie bisher die Trinität »das höchste Mysterium« (Fb G/98), so hat sich die neue, zukünftige Philosophie – deren »unerläßlichste Bedingung« es ist, »daß sie sich dem Wesen nach, daß sie sich toto genere von der alten Philosophie unterscheide« (Fb G/99) – dem konversationellen »gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Leben[ ]« (Fb G/98) anzunehmen und es als ihr höchstes und letztes Prinzip zu gewärtigen. So kommt der Mensch zum Verstehen seiner sinnlichen, gemeinschaftlichen Existenz. Denn wo sich »ein Sinn erhebt über die Schranke der Partikularität und seine Gebundenheit an das Bedürfnis, da erhebt er sich zu selbständiger, zu theoretischer Bedeutung und Würde: Universeller Sinn ist Verstand, universelle Sinnlichkeit Geistigkeit.« (Fb G/94) Das ist die »Philosophie der Zukunft« und Bestimmung bzw. Verstehen dessen, was der Mensch ist.

Absurdität (Kierkegaard) Ist es wirklich nur eine »metaphysische Grille« (K PhB/36), wenn Kierkegaard besagtes Verstehen mit dessen eigener »paradoxe[r] Leidenschaft« (K PhB/37) konfrontiert? Das Verstehen konnte bei Feuerbach über den Gedanken der »wahre[n] Dialektik« des Dialogs von Du und Ich in seine neuen Kleider der Philosophie als wahrer Religion (Fb G/ 97ff.) hineinwachsen. Bedarf diese neue Philosophie also auch eines neuen Glaubens, und zwar des Glaubens ans Sichverstehen in der Gemeinschaft der Konversation? Wie auch immer. Kierkegaard jedenfalls unterzieht diesen Glauben einem radikalen Zweifel. Die Konversation mit dem Du ist hier letztlich, in extremis, die Konfrontation mit dem »Unbekannten«, das nicht verstanden werden kann. Gleichwohl macht der Verstand immer weiter mit dem Verstehenwollen. Kierkegaard erinnert hier ironisch an das unablässige Fragen und Dialogisieren des Sokrates, der auch nach langer Selbst-Befragung nicht weiß, ob er »ein 56

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DER FRAGLICHE »URSPRUNG«. EIN URSPRUNG MODERNEN DENKENS

seltsameres Ungeheuer sei als Typhon oder ein freundlicheres und einfacheres Wesen, das von Natur an etwas Göttlichem teilhabe« (K PhB/36). Das Verstehenwollen ist eine Leidenschaft des Verstandes, die, wie jede gute Leidenschaft, in ihrer »höchste[n] Potenz« (K PhB/ 36) ihren eigenen Untergang will. Für das Verstehen besteht der Untergang in der paradoxen, weil von ihm selbst produzierten Entdeckung von etwas, »was es selbst nicht denken kann.« (K PhB/36) Das ist das Unbekannte, die Grenze, an die man im Verstehen beständig stößt – und das genau dann als das dem Verstehen Verschiedene aufscheint, ohne sich zu zeigen, d.h. verstanden werden zu können. Paradox, wie gesagt. Feuerbachs Abkehr vom Nichts zu dem das Ich auffangenden, weil von Verstehen getragenen Dialog mit dem Du, erscheint bei Kierkegaard gedacht als »Ärgernis« (K PhB/47) der »subiectio«, weil sie dem durch das (ganz) Verschiedene möglichen Paradox einer ästhetischen bzw. verstehenden Existenz ausgesetzt ist. Nur die Verzweiflung an ihr löst den Einzelnen aus der Orientierung am Äußerlichen und öffnet ihm das ethische Stadium: in welchem erkannt wird, dass nur ich selbst mich absolut wählen kann und diese absolute Wahl meiner selbst meine Freiheit ist. Aber was nutzt das, wo doch das Wissen um die Geborgenheit und den Sinn dieser Wahl fehlt? In der Tat: Der »Lernende« wird nicht das Paradox als solches verstehen, aber mit der Einsicht seiner subiectio unter das Paradox, kann er verstehen, »daß dies das Paradox ist.« (K PhB/55)2 Und wie geschieht dies? Mit dem oben schon gezeigten Verzweifeln am Verstehen: Wenn »der Verstand und das Paradox im Augenblick glücklich zusammenstoßen, wenn der Verstand sich selbst beiseite schafft und das Paradox sich selbst hingibt. Und das Dritte, worin dies geschieht […] ist jene glückliche Leidenschaft, der wir jetzt einen Namen geben wollen […]. Wir wollen sie Glauben nennen.« (K PhB/55) Paradox: Die Konfrontation mit dem Unbekannten des Verstehens, dem Undenkbaren, geschieht im Verstehen und erscheint so als dessen Grenze und als Nachweis, dass Sinn letztlich nur im reinen Dass zu haben ist. So ist der kierkegaardsche Gedanke der Existenz: die Verzweiflung des Verstehens an der Existenz, die in der Verzweiflung sich allererst realisiert und (paradoxen) Sinn findet.3

2. Hervorhebung T.S. 3. Auch in der Auseinandersetzung mit Hegel hat sich der kierkegaardsche Gedanke des konkreten Denkens (in) der Existenz konturiert: »Was ist abstraktes Denken? Es ist das Denken, wo es keinen Denkenden gibt. Es sieht ab von allem anderen als dem Gedanken, und nur der Gedanke ist, in seinem eigenen Medium. Die Existenz ist nicht gedankenlos; aber in der Existenz ist der Gedanke in einem fremden Medium. Was soll es da heißen, in der Sprache des abstrakten Denkens nach der Wirklichkeit in der 57

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Die Kontraktion der Entwicklung und Verzweiflung des ursprünglichen Denkens der Moderne, von Schopenhauer über Feuerbach zu Kierkegaard, zieht sich im marxschen Gedanken nun genau auf diese kritische Entscheidung zusammen: dass es mit der verschiedenen Interpretation (Verstehen) der Welt hinlänglich nichts mehr sei. Es gilt, die Welt zu verändern.4 Der Gedankengang auch dieses Textes ist damit in der Moderne angelangt. Es gilt nun anhand eines historischen Überblicks systematische Momente des Begriffs »modern« bzw. »Moderne« zu klären. Dies wird schließlich in die als »postmodern« apostrophierte Gegenwart führen und den Übergang in den Teil Zwei ermöglichen.

Bedeutung von Existenz zu fragen, da die Abstraktion gerade davon absieht? – Was ist konkretes Denken? Es ist das Denken, wo es einen Denkenden gibt und ein bestimmtes Etwas (in der Bedeutung von etwas Einzelnem), das gedacht wird; wo die Existenz dem existierenden Denker den Gedanken, die Zeit und den Raum gibt.« Søren Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Zweiter Teil, übers. v. Hans Martin Junghans, in: Gesammelte Werke, Düsseldorf und Köln: Diederichs 1958, Bd. 7, 35. 4. »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« (MEW 3/7) 58

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WIE ZWERGE AUF DEN SCHULTERN VON RIESEN?

Wie Zwerge auf den Schultern von Riesen? Anmerkungen zur Geschichte und Semantik von »modern« und »Moderne« Vorbemerkung Gewiß ist es wichtig zu wissen, was die Stunde schlägt, doch dafür muß die Uhr gehen. Ernst Jünger Eine Antwort auf die Frage, warum ein Kapitel zum Moderne-Begriff ein »systematischer« Zugang ist und kein »historischer« – wie im vorhergehenden Kapitel zum hegelschen Denkweg –, kann mit einem Gedanken Kosellecks folgendermaßen angedeutet werden: »[S]eit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts [hat sich] ein tiefgreifender Bedeutungswandel klassischer topoi vollzogen, daß alte Worte neue Sinngehalte gewonnen haben, die mit der Annäherung an unsere Gegenwart keiner Übersetzung mehr bedürftig sind.«1

1. Reinhart Koselleck, »Einleitung«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, hg. v. Otto Brunner et al., Stuttgart: Klett-Cotta 1978, XV. – Der Überblick, den dieses Kapitel über die begriffsgeschichtliche Entwicklung von »Moderne« und »modern« gibt, orientiert sich grosso modo an der historio-lexikalischen Darstellung Hans Ulrich Gumbrechts. Er versteht Sprache als soziale Institution und orientiert sich an der »sprachlichen Norm«. Für diese Norm relevant sind die beiden Aggregatzustände ›Sprache als System‹ (wie z.B. die Wissenschaft ihr Gefüge abstrakter Begriffe verwendet bzw. inhaltlich füllt) und die ›gesprochene Sprache‹. Die Norm wird definiert als »Ergebnis einer kollektiven Selektion aus den Möglichkeiten des Sprachsystems […], die von gemeinsamen Relevanzsystemen der Sprechenden, von gemeinsamen Typisierungen und von gemeinsamen Regeln sprachlichen Handelns abhängt.« Zu dieser Norm gehören bestimmte Begriffe aber erst dann, »wenn sie durch Konvergenz mit anderen Bedeutungen aus der gleichen Epoche und dem gleichen sozialen Milieu oder durch Aufnahme in Lexika als Teil der Sprachnorm 59

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Zwar ist diese These einem begriffsgeschichtlichen Lexikon entnommen und muss insofern nicht zwangsläufig auf den Wandel oder die topologischen Verschiebungen der philosophischen ratio anwendbar sein. Und der Beginn des modernen philosophischen Denkens wurde – im Hegel-Kapitel – ja auch tatsächlich nicht, wie Koselleck als (Begriffs-)Historiker formuliert, in der »Mitte des achtzehnten«, sondern in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts angesetzt. Gleichwohl wird der folgende tour d’horizon zeigen, dass sich von etwa 1800 bis zu Baudelaire ein – nur vermeintlich rein lexikalischer – Bedeutungswandel von »Moderne« und »modern« vollzieht, der auf der sachlichen Ebene philosophischer Theorien ebenfalls seinen dem obigen Zitat gemäßen Ausdruck findet. Oder anders gesagt: Dass das Flüchtige zum Programm der Moderne wird, wird kongruent mit der Sache des Denkens – insbesondere, wenn es sich dabei um »Subjekt« und »Sinnlichkeit« handelt.

Vom »Konzil von Chalkedon« bis Heinrich Heine Der früheste bekannte Beleg des Begriffs findet sich an der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert. »Modernus« wird schon hier als Absetzungsbegriff zu »antiquus« verwendet und kennzeichnet so die derzeit aktuell gültigen Dekrete des Konzils von Chalkedon, im Gegensatz zu den davor gültigen. Zudem ist in den Briefen des Cassiodor an Symmachus überliefert, dass er seine eigene Gegenwart vom antiken Rom absetzt.2 In diesem Sinne ist auch die Bezeichnung »seculum modernum« für Karls Universalreich zu verstehen. Während des Investiturstreits im 11. Jahrhundert gilt die modernitas kurze Zeit als die zu überwindende Epoche, da sie die Vorschriften der Väter vergessen habe. Dies wird im Übrigen auch in folgenden Epochen eine für das heutige Verständnis paradoxe Bedeutung des Begriffs werden: dass nämlich »modern« als negative Bestimmung verwendet wurde, um damit z.B. eine gegenwärtige Ästhetik zu bezeichnen, die sich von den anciens abgewendet hat. In der so genannten »Renaissance des 12. Jahrhunderts«

ausgewiesen sind.« So weit zu den lexikalischen Vorannahmen Gumbrechts. Im Rahmen einer heuristischen Konstruktion unterscheidet er drei »Bedeutungsmöglichkeiten« von »modern«. 1. modern = gegenwärtig; Gegenbegriff: vorherig. 2. modern = neu; Gegenbegriff: alt. 3. modern = vorübergehend; Gegenbegriff: ewig. Auf diese Unterscheidung wird in der Einzelfalldarstellung immer wieder zur Orientierung zurückgegriffen. Hans Ulrich Gumbrecht, Artikel »Modern, Modernität, Moderne«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, hg. v. Otto Brunner et al., Stuttgart: Klett-Cotta 1978, 93-131, hier: 94ff. 2. Zweite Bedeutungsmöglichkeit. 60

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WIE ZWERGE AUF DEN SCHULTERN VON RIESEN?

wird das Vergangene bewundert als »Voraussetzung seiner Überbietung in der Gegenwart«3. Hierhin gehört auch die Metapher Baernhards von Chartres, die moderni seien Zwerge auf den Schultern von Riesen – und könnten deshalb weiter sehen. Das erste – wenn auch noch unausgesprochene – Auftreten von »modern« im Sinne des Vergänglichen4 ist zum Ende des 12. Jahrhunderts nachgewiesen: Die Gegenwart wird nun auf rund 100 Jahre festgelegt, da dies den Zeitraum des noch Erinnerbaren und mündlich Tradierbaren umfasst. So wird auch vergangenen Zeiten ihre jeweilige modernitas zugebilligt. Diese Sicht festigt sich im 13. Jahrhundert: Das Paradigma antiqui/moderni bezeichnet nun die jeweils für eine gewisse Zeit gültigen philosophischen Schulrichtungen, die dann von anderen abgelöst werden. Die Verwendung von »modernus« wird also zeit- und kontextabhängiger, kurz gesagt: relational. Mit der literaturgeschichtlichen Entwicklung von der Mitte des 14. bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts (Petrarca – Boccaccio – Ficino),5 entsteht das auch heute noch vertraute Schema des Begriffs »Renaissance«, demzufolge die antike Blüte im Mittelalter einen christlichen Verfall erleidet und dann mit der Renaissance zu neuem Leben erweckt wird. Aus eben dieser Zeit stammt insofern auch die Bezeichnung »Mittelalter«. Zwar gibt es in der Renaissance auch Konzepte, die mit der Orientierung an der Antike auch die Möglichkeit ihrer Überbietung entwerfen (aemulatio), prägend für die Zeit bleibt aber die imitatio – was wohl bewirkt hat, dass das Adjektiv »modern« in der Renaissance nicht zur Bezeichnung der Gegenwart als einer eigenständigen6 Epoche verwendet wurde. In der Aufklärung gehen die wichtigsten Entwicklungsschritte von Frankreich aus und wirken dann erstens auf die deutsche Aufklärung und lassen zweitens aber auch geschichtsphilosophische Fragen offen, denen sich dann die deutsche Romantik im Rahmen ihrer Kritik der Renaissance-Orientierung der Vorgängerepochen annimmt. Die so genannte »Querelle des Anciens et des Modernes« bricht am 27. Januar 1687 bei einer Sitzung der Académie Française aus: Charles Perrault trägt ein Gedicht vor, in dem er die Größe der Antiken zwar noch beschwört, aber seiner Gegenwart eine eigene Bedeutsamkeit zugesteht, die, wegen ihrer Eigenständigkeit, mit derjenigen der Antike vergleichbar sei. Dieser hier erstmals so deutlich vorgetragene Standpunkt löste eine rund zwanzig Jahre andauernde Debatte aus, die die Streitenden in die Lager der Anciens und der Modernes teilte. Ein in vier Bänden

3. 4. 5. 6.

Gumbrecht, a.a.O., 1978, 97. Dritte Bedeutungsmöglichkeit. Gumbrecht, a.a.O., 1978, 98f. Zweite Bedeutungsmöglichkeit. 61

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ERÖFFNUNG DES ZUGANGS ZUR MODERNE

1688, 1690, 1692 und 1697 erscheinendes Buch von Perrault begleitete die Debatte mit in Dialogform geschriebenen Reflexionen zur Frage der Vergleichbarkeit und Perfektion von Antike und Gegenwart in Kunst und Wissenschaft.7 Die Basis der Position der Modernes war der Schluss, dass der Fortschritt in den Wissenschaften hin zu größerer Perfektion (Descartes, Kopernikus etc.) ein Pendant in der Entwicklung der Kunst der eigenen Zeit gegenüber der Antike finden müsse. Die antike Kunst habe nur noch relative Größe, da ihr der Gefühlsausdruck fehle. Demgegenüber beharrten die Anciens auf der Position, die Antike bleibe unerreichtes Vorbild. Resultat der konträren Diskussionen war schließlich die gemeinsame Einsicht, dass die Natur des Menschen sich in verschiedenen Jahrhunderten unterschiedlich ausbildet und -prägt und das zur Folge hat, dass die Antike in ihrer Bedeutung für die heutige Zeit zwar relativiert wurde, aber gleichzeitig bewundert werden konnte. Die Entwicklung von Kunst und der Fortschritt der Naturwissenschaften unterliegen also keinem ehernen Zeitmaß. Interessanterweise war das schon vor dem eigentlichen Beginn der Querelle formuliert worden; und zwar von dem im englischen Exil lebenden Saint-Evremond, der für den Verlauf der Querelle bezeichnenderweise keine Bedeutung gewann. Schon 1677 schrieb er, dass jede Zeit ihren ganz eigenen Charakter besitze. Trotz dieser Grenzziehung sei es für ihn ganz selbstverständlich, die Ästhetik, den Geist, das Wissen usw. der anciens zu bewundern.8 Diese Einsicht ist aus vier Gründen auch für spätere Epochen entscheidend: Erstens wird nun jede Epoche an ihren eigenen Sitten, ihrem Wissen und ihrer Ästhetik zu messen und zu respektieren sein; eine qualitative Hierarchie der Epochen fällt damit aus oder wird zumindest fraglich. Zweitens folgt aus der Einsicht in die Einmaligkeit jeder Epoche auch die Unmöglichkeit einer Wiederholung (im doppelten Wortsinn). Drittens hält nun die Einsicht in das Transitorische einer jeden Gegenwart9 Einzug ins Denken (was spätestens mit Baudelaires Bestimmung der modernité des 19. Jahrhunderts zentral werden wird). Viertens bedeutet die Abstandnahme von der Behauptung der allgemeinen Überlegenheit der damaligen Gegenwart gegenüber der Antike, »daß die Entwicklung in

7. Charles Perrault, Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences, hg. v. Hans Robert Jauss et al., München: Eidos 1964. Eingeleitet wird der Text Perraults durch einen Essay von Jauss, der die Geschichte der Querelle nachzeichnet und den gedanklichen Hintergrund der Positionen erhellt: Hans Robert Jauss, »Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹«, 8-64. 8. Zu Saint-Evremond siehe: Jauss, a.a.O., 1964, 62f. 9. Dritte Bedeutungsmöglichkeit. 62

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WIE ZWERGE AUF DEN SCHULTERN VON RIESEN?

verschiedenen Erfahrungsbereichen verschiedenen Ablaufgesetzen gehorcht«10. Der Eigencharakter der jeweiligen Epochen wird also hervorgehoben, was eine Schwächung derjenigen Positionen bedeutete, die an einer humanistischen Idealisierung der (griechischen) Vergangenheit festhalten wollten.11 In Politik und Gesellschaftstheorie taucht das Wort »modern« nur selten auf und zeigt sich von den Erkenntnissen der Querelle unbeeinflusst. Rousseau beispielsweise bezeichnet im »Contrat social« als modern das feudalherrschaftliche Machtprinzip des Mittelalters. Das zu seiner Zeit bestehende System der »Représéntants« stammt laut Rousseau von dort und belegt insofern seine These der Verfallsgeschichte des Menschen (jenseits des Naturzustandes).12 Auch die Antifeudalen der Französischen Revolution verwenden »modern« nicht – wie man erwarten könnte –, um sich etwa als Neuerer von der konservativen feudalherrschaftlichen Situation abzusetzen. Das wiederum hat im Speziellen mit der Überstürztheit der Ereignisse zu tun und damit einhergehend mit der Ansicht der Revolutionäre, dass ihre Taten nur als Durchgangsstadium für eine bessere Zukunft dienlich sind. Für die weitere Entwicklung in Deutschland sind zwei Theoretiker ganz entscheidend: Winckelmann und Herder. Winckelmann entwickelt einerseits die stilgeschichtliche Betrachtung der Kunst – auf der Grundlage der Einsicht der Einmaligkeit verschiedener Epochen! –, hält aber andererseits am Diktum der Nachahmung der antiken Kunst fest. Herder stellt als Erster die entscheidende Frage, welches das »historische Gesetz dieser Veränderung zwischen den verschiedenen Epochen sei, die für ihn nicht mehr nach qualitativen Bewertungen hierarchisch gegliedert erschienen. Er hat damit nicht allein die Folgerung aus der Erkenntnis ihrer Eigengesetzlichkeit gezogen, sondern hat auch schon die Reflexion über die Struktur in der Abfolge solcher eigengesetzlichen Epochen der Geschichtsphilosophie als Problem zugeführt.«13 An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert setzt in Deutschland eine philosophische Bestimmung von »modern« ein, die den Eigenwert der eigenen Gegenwart betont. Und wieder wird es Hegel sein, der die rechtsphilosophischen Debatten der Neuzeit um Naturrecht,

10. Gumbrecht, a.a.O., 1978, 101. Zur Zusammenfassung der vier Gründe siehe auch: Jauss, a.a.O., 1964, 12f. 11. Dazu: R. Piepmeier, Artikel »Modern/die Moderne«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, hg. v. Joachim Ritter, Darmstadt: WBG 1984, 54-62, hier: 54. 12. Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, Paris: Garnier Frères 1962, 302. 13. Gumbrecht, a.a.O., 1978, 105. 63

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Moralität und Ökonomie in eine begriffliche Einheit aufheben wird. Es ist die »Sittlichkeit«, als der »zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit.« (H 7/292) Die so verstandene Sittlichkeit wird zum Signum des modernen Staates, denn in ihr sind sowohl Recht und Moralität gegründet als auch das »Prinzip der Subjektivität« in sein Recht gesetzt. Hegel markiert: »Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit.« (H 7/233) Das »Prinzip der modernen Staaten« hat demnach eine »Stärke«, die zweierlei zu verbinden und in sich zu bergen weiß: das »Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.« (H 7/407)14 Das wird dazu führen, »modern« als einen Epochenbegriff zu verstehen, der einen Zeitraum bezeichnet, der nicht mehr darauf angewiesen ist, sich auf Antikes entweder als Grundlage oder Vorbild zu beziehen.15 Für diese Phase bilden die Theorien von Friedrich Schlegel und Schiller entscheidende Grundlagen. Schlegel bestimmt nicht mehr das Schöne als Ideal der modernen Poesie, wie es in der Antike gegolten hat, sondern das Interessante. Dies betont zwar bereits Eigenständigkeit der Gegenwart, ist aber nach wie vor negativ konnotiert. Schiller hingegen überträgt seine Gliederung von naiver und sentimentalischer Dichtung auf das Begriffsproblem und erklärt die natürliche Perfektion der Antike zwar auch für verloren, und dass der Gegenwärtige diese nur noch im Ideal anstreben könne, aber das vom gegenwärtigen Menschen im Rahmen der Kultur angestrebte Ziel sei bedeutender als das, welches er durch seine Natur erreicht.16 Der Freund und Verehrer Schillers, Wilhelm von Humboldt, sieht in der Befassung mit den Griechen ähnliche Möglichkeiten. In einem Brief von 1793 betont auch er die Größe der antiken »CharakterEinheit«, die aber mit ihrer ästhetischen Kraft ihre eigene Zeit gehabt habe, und dass man nun auf »einer andren, und unstreitig höhern Stufe [steht], wenigstens auf einer, die uns höher führen kann.« Und dieses für die Gegenwärtigen anzustrebende Ziel sei die Einheit ästhetischer und verstandesmäßiger »Kräf-

14. Ausführlich zum Bezug von hegelscher Rechtsphilosophie und moderner Welt: Miguel A. Giusti, Hegels Kritik der modernen Welt, Würzburg: Königshausen und Neumann 1987. 15. Hierzu: Gumbrecht, a.a.O., 1978, 105. 16. Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Schiller Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, hg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, 413-503. 64

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te«, wie sie in der »Reflexion« bestehe. »So entsteht Einheit der Reflexion, als das Unerreichte, dem wir nachstreben müssen.«17 Mit den Modellen F. Schlegels und Schillers können die ›moderne‹ Gegenwart und die Antike je für sich bestimmt und damit die Gegenwart in ihrer Eigenständigkeit zu Bewusstsein gebracht werden. Allerdings geht mit der festgestellten Eigenständigkeit der eigenen Gegenwart zugleich die Entdeckung einer Entfremdung einher. Fremd wird die Vergangenheit nun gerade aufgrund des gewussten Bezugs der eigenen Gegenwart auf sie. Da sie nicht mehr das der Gegenwart Zugehörige ist, wird sie als für das Jetzt aus- und dargestellte Zeit aufgefasst. Fremd wird aber auch das Verhältnis zur eigenen Gegenwart, denn die Einsicht in ihre Eigenständigkeit öffnet den Blick auf ihre jeweilige Einmaligkeit und reale Unwiederholbarkeit. So wird auch die Wahrnehmung des eigenen Jetzt zur Wahrnehmung eines Dargestellten. Und in diesem doppelten Entfremdungsverhältnis gelangen beide, Vergangenheit und Moderne, wieder zueinander, ohne einander zu integrieren: in der Erfahrung des Zurück- und Sein-Lassens des Vergangenen, um zu sich, zur eigenen Gegenwart zu kommen. Am 04. Dezember 1801 schreibt Hölderlin einen Brief an den Freund Casimir Ulrich Böhlendorf, der diesen Sachverhalt auf den Punkt bringt. Hölderlin schildert dort, dass die Griechen »weniger Meister« des »heiligen Pathos« gewesen seien, »weil es ihnen angeboren war«, jedoch die »abendländische junonische Nüchternheit […] so wahrhaft« als das ihnen Fremde »sich anzueignen« vermochten. So findet Hölderlin auch bei den Griechen dies – wie er selbst schreibt – scheinbar paradoxe Verhältnis, dass einem das Eigenste fremd bleibt und man umgekehrt das fremd Bleibende »wahrhaft« sich anzuverwandeln weiß. Hölderlin schreibt weiter: »Aber das Eigene muß so gut gelernt sein wie das Fremde. Deswegen sind uns die Griechen unentbehrlich. Nur werden wir ihnen gerade in unserm Eigenen […] nicht nachkommen, weil, wie gesagt, der freie Gebrauch des Eigenen das schwerste ist.«18 1808 stellt August Wilhelm Schlegel fest, dass »vor nicht langer Zeit« mit dem Versuch begonnen wurde, »zugleich die Alten nach Gebühr zu ehren und dennoch die davon gänzlich abweichende Eigentümlichkeit der Neueren anzuerkennen.« Und dann weist er auf eine interessante Begriffsvermischung hin: Diejenigen, die diesen Versuch unternahmen, »haben für den eigentümlichen Geist der modernen

17. Wilhelm von Humboldt, Briefe an Christian Gottfried Körner, hg. v. Albert Leitzmann, Berlin: Ebering 1940, 8. 18. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, hg. v. Günter Mieth, München: Hanser 1970, 927. 65

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Kunst, im Gegensatz mit der antiken oder klassischen, den Namen ›romantisch‹ erfunden.«19 Mit dieser Bezeichnung hält der Begriff nun auch Eingang in die Lexika, und damit in die Sprachnorm. Was darauf hinweist, »daß die schon über das ganze 18. Jahrhundert geführte philosophische Diskussion über die Abgrenzung von Gegenwart und Vergangenheit erst zu diesem Zeitpunkt mit dem Wandel des gesellschaftlich normalen Zeiterlebens konvergiert.«20 Doch war in der deutschen Ästhetik-Diskussion das, was die Prädikate »romantisch« und »modern« bezeichneten, keineswegs identisch. Im Gegenteil: Die für abgeschlossen erachtete Romantik stand für die Orientierung an der Vergangenheit (Mittelalter), das Moderne für die größtenteils negativ bewertete Kultur und Kunst der Gegenwart. Auch das Junge Deutschland setzte sich von der unmittelbaren Vergangenheit als einer von der eigenen Gegenwart gänzlich unterschiedenen Epoche ab. Heine beispielsweise hebt in »Die romantische Schule« die Befassung mit der eigenen Gegenwart und den historischen Umbruch als positiv und notwendig hervor. Seine Ausführungen sind eine Art Gegenentwurf zu Madame de Staëls »De l’Allemagne« von 1810, das, laut Heine, die »ganz neue Literatur«21 unberücksichtigt gelassen hat, stattdessen die »romantische Schule« in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt und den Franzosen so ein ganz falsches Bild der deutschen Kultur zeichnet. »Was aber war die romantische Schule in Deutschland? Sie war nichts anders als die Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters, wie sie sich in dessen Liedern, Bild- und Bauwerken, in Kunst und Leben manifestiert hatte. Diese Poesie aber war aus dem Christentume hervorgegangen […]. Die Menschen haben jetzt das Wesen dieser Religion erkannt, sie lassen sich nicht mehr mit Anweisungen auf den Himmel abspeisen, sie wissen, daß auch die Materie ihr Gutes hat und nicht ganz des Teufels ist, und sie vindizieren jetzt die Genüsse der Erde, dieses schönen Gottesgarten, unseres unveräußerlichen Erbteils. Eben weil wir alle Konsequenzen jenes absoluten Spiritualismus jetzt so ganz begreifen, dürfen wir auch glauben, daß die christkatholische Weltansicht ihre Endschaft erreicht. Denn jede Zeit ist eine Sphinx, die sich in den Abgrund stürzt, sobald man ihr Rätsel gelöst hat.«22 Die Kritik an einer das Glück erst im Jenseits verheißenden Kultur und Religion durchzieht Heines gesamtes Schaffen, und sein Plädoyer für das Irdische und die »Sinnenfreuden«23 paart sich in

19. August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1966, 21. 20. Gumbrecht, a.a.O., 1978, 107. 21. Heinrich Heine, Die romantische Schule, Stuttgart: Reclam 1976, 9. 22. Heine, a.a.O., 1976, 10 und 11f. 23. Heine, a.a.O., 1976, 11. 66

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seiner Anthropologie mit dem Wissen und der Anerkennung der menschlichen Todesverfallenheit. Der, auch ideologische, Bruch mit dem Alten bedeutet damit zugleich die Konstituierung des Neuen, eben Modernen, indem – eingedenk des oben von Hölderlin Vernommenen – die Befassung mit dem Fremden Zeitgenossenschaft allererst ermöglicht. So »wird der Mensch immunisiert gegen die Großerzählungen, die der Geschichte einen ›objektiven Sinn‹ geben wollen, wird radikal auf die Position eines endlichen Individuums zurückgeworfen, eines Individuums, das die Möglichkeit und das Recht zu leben aus seiner selbständigen, kritischen Orientierung an den früheren Texten gewinnt.«24

Die moderne Moderne Ab 1830 wird die »Erfahrung der Beschleunigung«25 prägend, die sich in der Begriffsverwendung dadurch ausdrückt, dass »modern« nicht länger eine fest umrissene Epoche bezeichnet, sondern »zur Bezeichnung einer als Durchgangspunkt empfundenen Gegenwart«26 dient. Beschleunigung meint in diesem Zusammenhang, dass die »empfundene Gegenwart« (immer) kürzer wird. Damit einher geht die Betonung der Gegenwärtigkeit des eigenen Tuns und Denkens. In diesem Sinne fragt sich Stendhal 1832, was er wohl einige Jahre später von dem denken werde, was er in diesem Augenblick zu schreiben im Begriff ist – vorausgesetzt er lebe dann noch.27 Baudelaire wird dieses neue Zeitempfinden 1859 in »Der maler des modernen Lebens«28 als ästhetische Theorie der Modernität zusammenfassen29: Das Moderne bedeutet nun nicht mehr nur, dass jede Epoche ihre eigene, besondere Aktualität, also Modernität hatte, wie es noch die Romantiker vertraten, sondern dass »modern« die jeweils verschiedenen, aber immer vergänglichen Ideen des Schönen der jeweiligen Epochen bezeichnet. Der Maler des modernen Lebens läuft wie ein

24. Bernd Witte, »Die gespaltene Moderne«, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Januar 1998, 64-72, hier: 72. 25. Das Zeitalter der europäischen Revolution 1780-1848, hg. v. Louis Bergeron, François Furet u. Reinhart Koselleck, Frankfurt/Main: Fischer 1969, 303. 26. Gumbrecht, a.a.O., 1978, 110. 27. Stendhal, Souvenirs d’égotisme, Paris: Gallimard 1983, 38. 28. Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: Sämtliche Werke/ Briefe, hg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois, Bd. 5, München/Wien: Hanser 1989, 213-258. 29. Hierzu: Werner Ross, Baudelaire und die Moderne. Porträt einer Wendezeit, München: Pieper 1993. 67

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Flaneur durch die Straßen der Großstadt, durch »die große Wüste der Menschen«, und hat doch ein höheres Ziel als dieser. Während der Flaneur sich in der bloßen Flüchtigkeit des Schauens verliert, sucht der andere dasjenige, was das Flüchtige an Ewigem enthält. Die Gegenüberstellung ist also nun nicht mehr modern – antik, sondern lautet fortan modern – unvergänglich/ewig.30 »Er ist nach etwas auf der Suche, das die Modernität zu nennen man mir erlauben möge; da es nun einmal kein besseres Wort gibt für das, was mir vorschwebt. Für ihn geht es darum, der Mode das abzugewinnen, was sie im Vorübergehenden an Poetischem enthält, aus dem Vergänglichen das Ewige herauszuziehen. […] Die Modernität ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist.«31 Die Ansätze des 20. Jahrhunderts, die sich mit der Problematisierung der Moderne und dem Begriff der Moderne befassen, werden sich im Gedanken vor allem auf Baudelaires Ausführungen beziehen. So auch Walter Benjamin mit seiner Theorie einer entfremdeten Erfahrung. Benjamin stellt fest: »Die einzigartige Bedeutung Baudelaires besteht darin, als erster und am unbeirrbarsten die Produktivkraft des sich selbst entfremdeten Menschen im doppelten Sinne dingfest gemacht – agnostiziert und durch die Verdinglichung gesteigert – zu haben.«32 Und: Der »Depossedierte« (B I/575) als »Heros ist das wahre Subjekt der modernité. Das will besagen – um die Moderne zu leben, bedarf es einer heroischen Verfassung. […] Die Widerstände, die die Moderne dem natürlichen produktiven Elan des Menschen entgegensetzt, stehen im Mißverhältnis zu seinen Kräften. Es ist verständlich, wenn er erlahmt und in den Tod flüchtet. Die Moderne muß im Zeichen des Selbstmords stehen, der das Siegel unter ein heroisches Wollen setzt, das der ihm feindseligen Gesinnung nichts zugesteht. Er ist die Eroberung der Moderne im Bereiche der Leidenschaften.« (B I/ 577f.) Angesichts zahlreicher Dokumente über Selbstmorde von Arbeitern der Industrialisierungszeit extrapoliert Baudelaire den Selbstmord als ein Motiv des modernen Lebens. Eine frühmoderne Form des flüchtigen Subjekts? Gegenwart jedenfalls wird im Rahmen der Begriffsbestimmungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr als ein fixierbarer, abgrenzbarer Zeitabschnitt im Rahmen eines transzendentalen Zeitbegriffs verstanden. Zeit wird fortan vielmehr als selbst historisch begriffen. Hierin ist auch die Zeitwahrnehmung der eigenen Gegenwart, des eigenen Lebens und deren Verhältnis zu Vergangenheit und

30. Dritte Bedeutungsmöglichkeit. 31. Baudelaire, a.a.O., 1989, 225f. 32. Walter Benjamin, Briefe, Bd. 2, hg. v. Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978, 752. 68

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Zukunft einbegriffen. Die dritte gumbrechtsche Bedeutungsmöglichkeit hat sich somit als das Paradigma des Modernen und der Moderne als Zeiterfahrung von Beschleunigung und des stetig Vorübergehenden durchgesetzt. Woher kommt die der Moderne eigene Modernekritik? Die zuvor dargestellte Neubestimmung des Modernen als flüchtig, vorübergehend, transitorisch hat zur Folge, sich nicht mehr auf tradiertes gesellschaftliches Wissen beziehen zu können, da dies per definitionem nicht mehr in die Ausdehnung eines das Vorübergehende betonenden ModerneBegriffs gehört. Die Kritik derjenigen, die sich auf ein Bewusstsein historischer Kontinuität beriefen, speiste sich also gerade aus dem nun zur Moderne zählenden »Imperativ dauernden institutionellen Wandels«33. Doch wird der Modernitäts-Begriff ab 1848 auch von Literaten selbst wieder in variierter Bedeutung verwendet: Fontane und Stifter beispielsweise lehnten nicht den Begriff in toto ab, betonten aber, dass ihnen das Beharren auf der ständigen Erneuerung fade und leer erschien und sie sich stattdessen wieder am »Realismus« (der so alt wie die Kunst selbst sei, so Fontane) und der Objektivität (Stifter) orientieren wollten. Richard Wagner verschärft 1866 in seiner Schrift »Modern«34 die Modernismus-Kritik durch Identifizierung der ›Schuldigen‹ der Moderne-Bewegung: In seinem Text findet sich die ganze Palette antisemitischer Hasstiraden, auf der die Bereiche Kunst, Nation und Finanzwelt im Rahmen einer Verschwörungstheorie zusammengerührt werden. Seine Verachtung der modernen Kunst im Allgemeinen speist sich aus seiner Orientierung am Ideal der altgriechischen Kultur: »Wir können bei einigem Nachdenken in unserer Kunst keinen Schritt tun, ohne auf den Zusammenhang derselben mit der Kunst der Griechen zu treffen. In Wahrheit ist unsere moderne Kunst nur ein Glied in der Kette der Kunstentwicklung des gesamten Europa, und diese nimmt ihren Ausgang von den Griechen.«35 Die moderne Welt hat sich laut Wagner aber von der göttlichen und der großen »Notwendigkeit der natürlichen Ordnung« verächtlich abgewandt und wird nun vom »Gott der modernen Welt« regiert, wie er sich durch die moderne Kunst ausdrücke: »Ihr wirkliches Wesen ist die Industrie, ihr moralischer Zweck der Gelderwerb, ihr ästhetisches Vorgeben die Unterhaltung der Ge-

33. Gumbrecht, a.a.O., 1978, 115. 34. Richard Wagner, Modern, in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 10, Leipzig: Siegel 1907, 54-60. 35. Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, in: Dichtungen und Schriften, Bd. 5, Frankfurt/Main: Insel 1983, 273-311, hier: 274. 69

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langweilten. Aus dem Herzen unserer modernen Gesellschaft, aus dem Mittelpunkte ihrer kreisförmigen Bewegung, der Geldspekulation im großen, saugt unsere Kunst ihren Lebenssaft, erborgt sich eine herzlose Anmut aus den leblosen Überresten mittelalterlich ritterlicher Konvention, und läßt sich von da – mit scheinbarer Christlichkeit auch das Schärflein der Armen nicht verschmähend – zu den Tiefen des Proletariats herab, entnervend, entsittlichend, entmenschlichend überall, wohin sich das Gift ihres Lebenssaftes ergießt.«36 Auch Nietzsche tritt in zahlreichen seiner Schriften als ModerneKritiker auf. Seine Polemiken und Analysen, die sich selbst durch die Beschäftigung mit Wagner und das Studium des frühen Griechentums konturieren, sind aber insofern tiefer gehend als die bislang genannten Diskussionen, da sie differenziert den Zusammenhang der Phänomene des modernen Lebens analysieren. Zur eigenen Deutung seines »Jenseits von Gut und Böse« schreibt er in »Ecce homo«: »Dies Buch ist in allem Wesentlichen eine Kritik der Modernität, […] nebst Fingerzeigen zu einem Gegensatz-Typus, der so wenig modern als möglich ist, einem vornehmen, einem jasagenden Typus.« Wie bestimmt sich dieser Jasager? Negativ, will man meinen, denn: »Alle die Dinge, worauf das Zeitalter stolz ist, werden als Widerspruch zu diesem Typus empfunden, als schlechte Manieren beinahe, die berühmte ›Objektivität‹ zum Beispiel, das ›Mitgefühl mit allem Leidenden‹, der ›historische Sinn‹ mit seiner Unterwürfigkeit vor fremden Geschmack, mit seinem Auf-dem-Bauch-liegen vor petits faits, die ›Wissenschaftlichkeit‹.« (N 6/350f.) Alle drei Komponenten können gleichsam als kritische Grundthemen bzw. -motive des gesamten Denken Nietzsches verstanden werden. Im einzelnen Menschen äußern sich die modernen Phänomene in Form eines »merkwürdigen Gegensatz[es] eines Inneren, dem kein Aeusseres, eines Aeusseren, dem kein Inneres entspricht, ein Gegensatz, den die alten Völker nicht kennen« (N 1/272). Daraus erwächst Nietzsches Diagnose: »[D]er moderne Mensch leidet an einer geschwächten Persönlichkeit.« (N 1/279) Nietzsche wird sich in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre von Wagner ebenso vehement abzusetzen beginnen, wie er ihn bis dato bewundert hatte. Wagners Spätwerk (allen voran der »Parsifal«) und Weltanschauung werden für den Philosophen dann zum pars pro toto einer zu verurteilenden christlichen (Mit-)Leidenskultur, die Nietzsche in seinen Texten immer wieder mit der Moderne gleichsetzt und von der es sich zu befreien gelte. Nietzsche pointiert 1888: »Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und umgekehrt: man hat beinahe eine Abrechnung über den Werth des Modernen gemacht, wenn man über

36. Wagner, a.a.O., 1983, 284 u. 285. 70

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Gut und Böse bei Wagner mit sich im Klaren ist. […] Wagner resümiert die Modernität.« (N 6/12) Zwei Momente der Diskussion um 1900 sind besonders auffällig und strukturierend: Erstens treten diejenigen Theorien, die sich im Rahmen einer Bestimmung des Modernen an der Vergangenheit orientiert hatten, zugunsten derjenigen deutlich zurück, die die Gegenwart nun im Sinne einer »Vergangenheit der Zukunft«37 verstanden. Der Augenblick der eigenen Gegenwart öffnete sich also hin auf eine als gestaltbar gedachte Zukunft. Zweitens wurde die Einsicht in die Gleichzeitigkeit ganz verschiedener Theorien und Lebensweisen selbst zum Thema. Die Reduktion der Ausdehnung der eigenen Gegenwart auf den historischen Moment und die Erkenntnis der irreduziblen Divergenz gleichzeitiger Orientierungen bilden die Momente des (paradoxen) Moderne-Begriffs zur Jahrhundertwende: Modern ist immer das Jetzt, das im nächsten Augenblick vergehen und einer noch zukünftigen Gegenwart zur Vergangenheit geworden sein wird. Der Begriff »Avantgarde« legt von dieser Perspektive beredtes Zeugnis ab. Die Bestimmung des Modernen als transitorisches Moment der Gestaltung der Zukunft macht das Bild der sich selbst vorweg laufenden Gegenwart vorstellbar.38 Und wie sie läuft! Allenthalben taucht die Problematik der Geschwindigkeit auf. Das verwundert nicht, da die vor allem die Zeitlichkeit betonenden begrifflichen Synonyme für »Moderne« (das Flüchtige etc.) und das technisch fundierte, auf Beschleunigung basierende Entstehen einer Öffentlichkeit der Massenkultur korrelieren und Bewusstsein und Wahrnehmung der Menschen prägen. »An die Stelle der Vorstellung diachronisch aufeinanderfolgender, epochenspezifischer Stilarten und ästhetischer Theorien, deren jeweils letzte die Kunst der Gegenwart konstituiert, ist das Bewußtsein getreten, in jedem Gegenwartsmoment aus einer synchronischen Fülle von Inhalten und Verfahren schöpfen zu können. Die Gegenwart ist dann Augenblick der Selektion aus den für die Gestaltung der Zukunft offenstehenden Möglichkeiten und hat sich als Vergangenheit dieser Zukunft zu bewähren.«39 Massenkulturell und technikgeschichtlich äußerte sich das beispielsweise im Aufkommen des Films (Muybridge 1879, Lumière 1895), der Verbreitung des Automobils (Daimler, Maybach und Benz ab 1886), der Nutzung der Flugpost (ab 1912), der drahtlosen Telegrafie (Marconi, Popow 1895; transatlantisch: Marconi 1901), dem Grammophon

37. Gumbrecht, a.a.O., 1978, 120. Hervorhebung T.S. 38. Man denke dabei auch an Delacroix’ »Die Freiheit auf den Barrikaden« von 1830. 39. Gumbrecht, a.a.O., 1978, 126. 71

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(1887)40 und auch in neuen Theaterformen, wie dem Sekundenstil des Naturalismus (z.B. Holz und Schlaf) oder den Verlangsamungsstrategien des Ausdruckstanzes (Isadora Duncan, Mata Hari). Motivisch wird die Zeitlichkeit der Großstadterfahrung zu dem, formal immer wieder anders umgesetzten (Montage; Collage; stream of consciousness) Thema in Kino, Theater und Literatur.

Über die Grenze des Modernen hinaus? ›Originalität‹ ist die Krankheit einer Moderne, die sich als etwas Neues sehen möchte, als etwas stets Neues, um dauernd bei ihrer eigenen Geburt dabeizusein. Dadurch ist die Moderne jene modische Illusion, die nur den Tod anspricht. Carlos Fuentes Die von Baudelaire 1859 auf den Weg gebrachte Betonung des Transitorischen unserer Gegenwart und sich beschleunigenden Zeitwahrnehmung wird in der jüngeren Vergangenheit im positiven Sinne auch als Möglichkeit verstanden, der Gesellschaft eine Ästhetik der Negativität entgegenzusetzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg schon äußert sich die von Barthes später beschworene ›Negativität‹ einer Flucht nach vorne im Text41 bzw. allgemeiner im Ästhetischen auf vielerlei Weise: Die abstrakte Malerei betont den Aktionismus des Malens, die Konzeptkunst setzt an die Stelle des sinnlich zu begreifenden Kunstwerks dessen Idee, die Pop-Art macht jeden Gegenstand zu einem potenziellen Kunstwerk und verweist so auf die Arbitrarität und Flüchtigkeit gesellschaftlicher Sinnproduktion, zumal in der Massen- und Konsumgesellschaft, etc. Die bedeutendste und umfangreichste Beschäftigung mit der Bestimmung der Moderne und ihrer Bedeutung für die Gegenwart findet sich bei Benjamin. Das wurde oben im Zusammenhang mit Baudelaire schon deutlich und wird im Laufe der Teile Zwei und Drei immer wieder zur Sprache kommen. Benjamins Theorie der Moderne als einer (alb)traumartigen Entfremdung des Menschen im Kontext einer aufs massenhafte Produzieren von Waren verfallenen Gesellschaft wird von Adorno nicht übernommen. Er fasst die Moderne vielmehr als die

40. Grammophon und Beschleunigung? Die Beziehung liegt in der Flexibilisierung der Zeiterfahrensstrukturen, d.h. hier, der Möglichkeit, eine Stimme jederzeit (reproduziert und reproduzierbar) hören zu können. 41. Etwa: Roland Barthes, Le plaisir du texte, Paris: Éditions du Seuil 1973, 66 oder auch 40. 72

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Norm einer »Kunst fortgeschrittensten Bewußtseins, in der die avanciertesten und differenziertesten Verfahrungsweisen mit den avanciertesten und differenziertesten Erfahrungen sich durchdringen.«42 Er betont, dass die Moderne kein Kontinuum sei, sondern es sich zum Programm gemacht habe, dieses gerade aufzusprengen. So findet sich hier auch das Modell einer unbeendbaren Moderne: Sie »trat geschichtlich als ein Qualitatives hervor, als Differenz von den depotenzierten Mustern; darum ist sie nicht rein temporal; daß übrigens hilft erklären, daß sie einerseits invariante Züge angenommen hat, die man ihr gern vorwirft, andererseits nicht als überholt zu kassieren ist«. Und wie in einer Bestimmung der »Postmoderne« avant la lettre diagnostiziert Adorno: »Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel von Moderne; das, wodurch sie die Geschlossenheit des Immergleichen verzweifelt negiert«.43 Die zeitlich letzte Variante in der Weiterentwicklung und Problematisierung des Moderne-Begriffs ist das Aufkommen (und Verschwinden?)44 der Postmoderne. Wie schon anlässlich der Spätphase der Entwicklung des Moderne-Begriffs analog gesehen, so gilt auch hier: »Postmoderne« oder »postmodern« bezeichnet nicht eine bestimmte Zeitspanne, die nach der (welcher?) Moderne läge oder käme, sondern eine spezifische Art der semantischen Beschreibung und Zusammenstellung ›unserer‹ Welt, einen »Geisteszustand«45 im Horizont der Frage nach einer möglichen Differenz zum ehedem ebenfalls selbstreflexiv titulierten epochalen Raum der »modernen Welt«. Zudem pointiert das »post-« selbstreflexiv die Frage, ob es der bedachte Zeitraum und die Semantik überhaupt sachlich rechtfertigen von »Postmoderne« zu sprechen. Oder ob vielmehr das, was »postmodern« genannt und inhaltlich diskutiert wurde und wird, nach wie vor als »modern« zu bezeichnen sei – und die Gegenwart daher funktional zur Moderne vor allem eine Anamoderne ist, ein »›Ana‹-Prozeß der Analy-

42. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, 57. 43. Adorno, a.a.O., 1993, 404 u. 41. 44. Die die Postmoderne resümierenden Stimmen mehren sich Ende des vergangenen Jahrhunderts. Siehe dazu bspw.: Postmoderne – globale Differenz, hg. v. Robert Weimann u. Hans Ulrich Gumbrecht, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991. Postmoderne. Eine Bilanz, Merkur (Sonderheft), hg. v. Karl Heinz Bohrer u. Kurt Scheel, September/Oktober 1998. 45. Jean François Lyotard, »Eine post-moderne Fabel über die Postmoderne oder: In der Megalopolis«, übers. v. Utz Riese u. Susanne Illig, in: Postmoderne – globale Differenz, hg. v. Robert Weimann u. Hans Ulrich Gumbrecht, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, 291-304, hier: 293f. Dieser Befund gilt Lyotard im hier zitierten Text analog für Moderne und Postmoderne. 73

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se, Anamnese, Anagonie und Anamorphose, der das ›ursprüngliche Vergessen‹ abarbeitet.«46 Im Alltagsjargon wird »Postmoderne« verkürzend für die Bezeichnung eines Zeitabschnitts ›nach der Moderne‹ verwendet, einer Zeit, der inhaltlich das »anything goes« eigen sei.47 Diese Verkürzung verfälscht allerdings die philosophisch-ästhetische Diskussion. Denn als Gedanke des Post-Historischen beginnt die Diskussion um die ›neue Epoche‹ bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Arnold Gehlen weist dann 1963 auf ein Problem hin, das auch die folgende Diskussion zur Postmoderne prägen wird: Dass die Konzentration auf nur eine Weltanschauung und deren Verordnung zum Scheitern einer Gesellschaft führt, deren Welt durch die Existenz vielfältigster Sinnangebote geprägt ist. Gehlen hebt das Ende der »Schlüsselattitüde« hervor, jener Versuche nämlich, »das aufgestöberte Durcheinander von allen Ideen und Motiven aus allen Zeiten und Windrichtungen so zu ordnen, daß man es von einer bestimmten Wissenschaft aus organisierte, die damit natürlich sofort eine Art Überzuständigkeit bekam.« Ein solches »Unternehmen, das aus einer Gesamtschau heraus eine Weltinterpretation und darin eine einleuchtende Handlungsanweisung geben möchte«, ist für Gehlen »geschichtlich vergangen und nicht mehr wiederherstellbar«.48 Lyotard seinerseits diagnostiziert diese Vervielfältigung der Sinnangebote in negativer Absetzung zum Ende der Glaubwürdigkeit der so genannten »große[n] Erzählung[en]« (»grands récits«) (L PW/ 13). Diese findet er in der Geistesgeschichte wirkmächtig formuliert: die Emanzipation der Menschheit und des »Subjekts« (Aufklärung und

46. Jean François Lyotard, Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985, übers. v. Dorothea Schmidt, Wien: Passagen 1987, 105. Siehe mit weiterführenden Aspekten der Begriffs-Debatte auch die klar strukturierten Hinweise in: Walter Reese-Schäfer, Lyotard zur Einführung, Hamburg: Junius 1995, bes.: 43-55. 47. Bezüglich des »anything goes« hat eine semantische Verschiebung stattgefunden. Wird der Ausdruck heute alltagssprachlich zur Illustration eines Lebensgefühls und der Diversität der Lebensstile verwendet, oder um der Kritik an einer vermeintlichen moralischen Beliebigkeit unserer Zeit Nachdruck zu verleihen, war sein Entstehungskontext ein anderer und eng umrissener. Mit ›anything goes‹ betont der österreichische Philosoph Paul Feyerabend, entgegen dem Entwurf seines Lehrers Karl Popper, die Möglichkeit des Methodenpluralismus der Wissenschaft. Auf dem Weg zur Erkenntnis ist das wissenschaftliche Denken nur ein Weg und es sollten insofern alle möglichen Denkmuster nicht nur zugelassen, sondern auch miteinander verknüpft werden. Die entscheidenden Publikationen zum Thema: Paul Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984 und ders., Wider den Methodenzwang, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976. 48. Arnold Gehlen, »Über kulturelle Kristallisation«, in: Wege aus der Moderne, hg. v. Wolfgang Welsch, Weinheim: VCH Verlag 1987, 133-143, hier: 134. 74

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Marxismus), die Geschichte des zu-sich-selbst-kommenden Geistes (deutscher Idealismus und Hegel) und die Aneignung des Eigenen und Fremden (Theorien der Hermeneutik und des Historismus). Postmodernes Denken besteht in dieser Hinsicht in der Diagnose der Fragwürdigkeit dieser Meta-Erzählungen, d.h. ihres Legitimitätsstatus. Zudem tritt eine Kritik des modernen und avantgardistischen Fetischs des »Neuen« hinzu. Der offensichtliche Zwang zum immer wieder Neuen wird als funktionale Größe entlarvt, die notwendig scheint, um Ablauf und Fortgang des gesellschaftlichen ›Betriebs‹ zu sichern.49 Postmodernes Denken versucht nun, den identifizierten vereinheitlichenden Tendenzen des modernen, professoralen Legitimitäts- und Autoritätsdiskurses die netzwerkartige Diversität der »Erforschung der Instabilitäten« (L PW/157ff.) und deren paralogische Betonung des Dissens (L PW/175ff.) entgegenzusetzen. Diese Position ergeht sich aber nun nicht in a-theoretischem Hedonismus der Differenz, sondern nimmt – neben der sprachtheoretischen Grundlegung in »Le différend«50 – seinen Epoche machenden Ausgang in einer Auftragsarbeit für den »Universitätsrat[ ] der Regierung von Québec«.51 Die Arbeitshypothese lautet 1979, »daß das Wissen in derselben Zeit, in der die Gesellschaften in das sogenannte postindustrielle und die Kulturen in das sogenannte postmoderne Zeitalter eintreten, sein Statut wechselt.« (L PW/19) Heuristische Leitlinien der kulturwissenschaftlichen Analyse dieses Wechsels sind die »Heterogenität der Regeln« und die »Analyse der Nichtübereinstimmung« (L PW/190). Dies gleichwohl vorausgesetzt und als Notwendigkeit heutigen wissenschaftlichen Arbeitens anerkannt, wird man die Euphorie oder das Hoffnungsvolle der lyotardschen Schlussfolgerungen heute nicht mehr so unumwunden teilen wollen: »Die Öffentlichkeit müßte freien Zugang zu den Speichern und Datenbanken erhalten. Die Sprachspiele werden dann im betrachteten Moment Spiele mit vollständiger Information sein. […] Es zeichnet sich eine Politik ab, in der der Wunsch nach Gerechtigkeit und der nach Unbekanntem gleichermaßen respektiert sein werden.« (L PW/192f.) Es wäre allerdings ungerechtfertigt, den lyotardschen Gedanken hier auf dieses frühe Dokument einer quasi-naiven Aussage zur mögli-

49. Siehe hierzu auch die instruktive Aufsatzsammlung: Die Furie des Verschwindens. Über das Schicksal des Alten im Zeitalter des Neuen, hg. v. Konrad Paul Liessmann, Wien: Paul Zsolnay 2000. 50. Jean François Lyotard, Le différend, Paris: Galilée 1983. Zum selben Gedanken siehe auch den Brief »Memorandum über die Legitimität«, in: Lyotard, a.a.O., 1987, 57-83. 51. Peter Engelmann, »Vorwort«, in: Jean François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, übers. v. Otto Pfersmann, Wien: Passagen 1986, 9. 75

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chen Funktion neuer Speicher- und Übertragungsmedien zusammenzuziehen bzw. zu reduzieren. Ungerechtfertigt wäre es zum einen, da ja die von Lyotard skizzierte neue Öffentlichkeit auch wiederum, ganz in Lyotards Sinne, der delegitimierenden postmodernen Wissenskultur ausgesetzt wäre und das Spiel in der einmaligen Öffnung der Archive nicht sein Ende, sondern gerade erst den Anfang fände. Ungerechtfertigt wäre es zum anderen, da es nun einmal faktum brutum des lyotardschen Denkweges ist, dass dieser ihn nicht zur ausdifferenzierenden, paradigmatischen Erörterung des (im engeren Sinne) Medialen geführt hat. Seine Argumente hatten einen anderen thematischen Kontext. Und das wird man ihm kaum vorwerfen können und wollen.52 Neben der Bedeutung des lyotardschen Textes für die Diskussion in wissenschaftlich-technischen Bezügen stellt des Weiteren für die literarisch-künstlerische, auch popkulturelle Welt ein anderer Text zumindest den Ausgangspunkt ihrer postmodernen Neubeschreibung und -bewertung dar: Ende der 60er-Jahre veröffentlicht der Literaturkritiker Leslie A. Fiedler im US-amerikanischen »Playboy« seinen Text »Cross the Border – Close the Gap«.53 Fiedler verweist darauf, dass die Epoche der großen Literatur, der Kunstromane à la Proust, Joyce oder Mann, steril geworden sei, da diese vornehmlich im Rahmen eines Gelehrten- bzw. gelehrten Diskurses rezipiert werde und aufgrund ihres Bildungsniveaus auch ein solches Publikum erfordere. Stattdessen sei die Zeit gekommen, die Massen- und Pop-Kultur zu berücksichtigen, da deren Ausdrucksweise und Inhalte längst in die Kunst übernommen werden und diese ihrerseits verändern. Diesem ersten Aufruf zum Brückenschlag sei ein ausführliches Zitat eingeräumt: »Die Pop-Kunst kann auf die Dauer ebensowenig in einem mythologiefreien Raum existieren wie die ›hohe Kunst‹; und in das Vakuum, welches das Verschwinden solcher Stoffe wie der von den trojanischen Helden oder der Mythen des orientalischen Kulturkreises gelassen hat, ist noch etwas anderes, in einem radikaleren Sinne Neues

52. Indes auch: Die Aufsatz-Sammlung zum Feld von Inhumanem – Kultur – Zeit birgt wichtige Aus- und Umbauten der medienkulturtechnologischen Thesen aus »Das postmoderne Wissen« – beispielsweise den Ansatz einer mediengeschichtlichen Strukturierung durch die Größen »Bahnung, Peilung und Durchgang (passage), die sich grosso modo jeweils mit drei sehr unterschiedlichen Arten der mit der Einschreibung verbundenen Zeitsynthese decken, als da sind: Gewohnheit, Erinnerung und Anamnese.« Jean François Lyotard, »Logos und techne, oder die Telegraphie«, in: ders., Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien: 1989, 89-106, hier: 91. 53. Leslie A. Fiedler, »Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne«, in: Wege aus der Moderne, hg. v. Wolfgang Welsch, Weinheim: VCH Verlag 1987, 57-74. 76

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WIE ZWERGE AUF DEN SCHULTERN VON RIESEN?

hinzugetreten: die Saga von Metropolis und die Mythen der unmittelbaren Zukunft, in denen die nichtmenschliche Welt um uns, feindlich oder wohlwollend, nicht mehr in der Gestalt von Elfen und Zwergen, von Hexen oder gar Göttern erscheint, sondern von Maschinen, nicht weniger unheimlich als irgendein Olympier – und offenbar ebenso unsterblich. Maschinen und mythologische Gestalten, die den von Maschinen massenproduzierten und massengestreuten Medien entsprechen: […] der Reporter (mit Brille), der in einer Telefonzelle rasch seine Zivilkleidung ablegt und sich in Superman verwandelt, unverwundbar gegen alle Waffen außer dem grünen Kryptonit – sie sind die angemessenen Symbole von Macht und Gnade für eine großstädtische, industrielle Welt, die geschäftig ihre Zukunft schmiedet. Aber die Helden der Comic Books stehen nicht allein. Aus der Welt des Jazz und der Rockmusik, aus Zeitungsschlagzeilen und politischen Karikaturen, aus alten Filmen, die durch ihr Wiedererscheinen im Fernsehen Unsterblichkeit erhalten, aus dem idiotischen Geschwätz, das aus den Autoradios dringt, erwachsen neue Antigötter und Antiheroen. In den Köpfen unserer neuen Schriftsteller leben sie ein zweites Leben, verwirklichen sie ihre Unsterblichkeit […].«54 In diesem Sinne können also bspw. Thomas Pynchons Romane oder Rolf-Dieter Brinckmanns Collagen ebenso postmodern sein wie Kubricks »2001 – Odyssee im Weltraum«, die mittlerweile zum Grundwissen des Kinogängers gewordene Tatsache, dass Quentin Tarantino jahrelang B-Movies ›studiert‹ hat, bevor »Pulp Fiction« realisiert wurde, die in den Massenmedien ausführlich auf die Agenda gesetzte, fiktive (fiktive?) Romanze zwischen Anke Engelke und Benjamin von Stuckradt-Barre, die von Letzterem wiederum literarisch weiterverarbeitet worden ist. Pynchons »Mason & Dixon« taucht in Mark Knopflers »Sailing to Philadelphia« wieder auf, Eminem im Video ist Bin Laden im Video aus der Höhle, in Grönemeyers »Mensch« finden sich Grundeinsichten der Historischen Anthropologie, in »The Matrix« wird mit Hilfe von Zen, Nietzsche und vor allem Baudrillard über das Problem der Wirklichkeit ›nachgedacht‹,55 »The Matrix Reloaded« widmet sich mit dem Philosophen Cornel West Fragen von Intellektualität, Macht und Öffentlichkeit und Gumbrecht macht in Stanford ein Seminar zu Philosophie und Sport, etc. Die Liste des transkulturellen Cross-over scheint endlos erweiterbar. Ohne Ende. Die Berücksichtigung des irreduzibel Vielfältigen, des Polysemischen, die Phänomenologie des Alltags transmedialer Verschmelzungen, Transkulturalität, die Analyse des Postkolonialen

54. Fiedler, a.a.O., 1987, 71. 55. Dazu ausführlich im Kapitel »Simulation« des zweiten Teils. 77

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etc. – all dies ist, trotz aller Absetzungsversuche, gleichwohl etwas, dass unsere als »Postmoderne« bezeichnete Gegenwart mit modernen Positionen gemein hat. Die sich als intentionales Bewusstsein verstehende Vernunft konstituiert sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das hatte der Durchgang durch das hegelsche System gezeigt. Die derart wahrgenommene und verstandene Welt wird demgemäß in eine ihr gebührende Bezeichnung verdichtet: Sie ist die Moderne (die moderne Welt) des Flüchtigen, Scheinbaren und der Alteritätserfahrung, auch des Technologischen, und zudem, in temporaler Terminologie benannt: Wahrnehmung problematisierter Geschwindigkeit. Das sind die Themen, bis heute. Auch Phänomene des Bleibenden, bspw. Erinnerung, Speicher und Gedächtnis, werden im Rahmen der sie fraglich machenden Alteritäten und Krisen erörtert. Nicht von ungefähr mag es also kommen, dass die Pariser die BNF umgetauft haben und sie in Entsprechung zum »Train Grande Vitesse« (TGV) nun »Très Grande Bibliothèque« (TGB) nennen. Auf der Basis von Lyotard lassen sich diese letzten Diagnosen in technisch-medialer Hinsicht als Realitätsperformanz des technischen Kriteriums erfassen. Die zeitgenössische Theoriebildung reagiert darauf mit der grundlagenwissenschaftlichen Ausarbeitung medientheoretischer Paradigmen, die die heutige Welt als auf eine Echtzeit zurasend (Virilio), als textual verfasst (Derrida), als von einem undargestellten Archiv her ausgesagte (Foucault) oder auch als Simulation (Baudrillard) erkennen lassen. Topologisch äußert sich das als Verunsicherung des eigenen Ortes (Subjekt) und Entwirklichung (Technisierung) des Wahrgenommenen (Sinnlichkeit). Diese vier Paradigmen bilden zusammen und korrelativ die Matrix der Erfassung der politischen und sozialen Bewertung und Analyse der gegenwärtigen – modernen postmodernen – »Welt«.

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Zweiter Teil Echtzeit – Text – Archiv – Simulation. Paradigmen philosophischer Medientheorie

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Echtzeit (Virilio) Methodische Möglichkeit des Nihilismus – Eine Vorbemerkung Immer radikal, niemals konsequent. Walter Benjamin Nihilismus muss nicht um jeden Preis sich mit dem Nichts identifizieren. Zwar wird derjenige, der Sinn im Leben sieht, demjenigen, der in ihm nur unsinnige Leere ausmachen kann und am Brückengeländer steht, gerade nicht mit den eigenen lebensfrohen Erwartungen kommen können1 – hier bleibt der Nihilist dem Leben gegenüber anästhetisch. So lässt sich fragen, gleichsam konträr, woher denn die Legitimation rührt, den antinihilistischen Lebens-Sinn eben mit dessen purem Zweck an sich selbst zu verknüpfen. Denn Nihilismus2 würde und wird solcherart, seltsam monokausal, »zum Inbegriff eines als nichtig verklagten oder sich selbst verklagenden Zustands [umfunktioniert]. Für die Denkgewohnheit, der Nihilismus auf jeden Fall ein Schlechtes ist, wartet jener Zustand auf die Injektion von Sinn, gleichgültig, ob die Kritik an diesem, die man dem Nihilismus zuschreibt, gegründet ist oder nicht. Solche Reden von Nihilismus sind trotz ihrer Unverbindlichkeit geeignet zur Hetze. Sie demolieren aber eine Vogelscheuche, die sie selbst aufgepflanzt haben.«3 1802 bestand das »Erste der Philosophie« darin, wie Hegel es in »Glauben und Wissen« angab, »das absolute Nichts zu erkennen« (H 2/410). Noch in Jena liest Hegel dem fichteschen System dessen Prob-

1. Siehe hierzu auch: Jean Améry, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Stuttgart: Klett 1986. 2. Zur Entwicklungsgeschichte des Nihilismus, siehe: Hans-Jürgen Gawoll, Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger, Stuttgart/Bad Cannstatt: fromann-holzboog 1989. 3. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, 372. 81

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PARADIGMEN PHILOSOPHISCHER MEDIENTHEORIE

lem des Nihilismus ab:4 Die Setzung des Ich (reines Denken) geschieht qua Setzung in die »unendliche Möglichkeit« des Denkens hinein. Damit aber affiziert sich dieses gesetzte Ich notwendig und unendlich mit dem Nicht-Ich der »unendlichen Wirklichkeit«. Diese Korrelation bleibt prozessual auf Unendlichkeit verwiesen, da diese als Absolutum präsupponiert ist (H 2/410) und nicht – wie Hegel fordern und durchführen wird – gerade jene Korrelation als Erkenntnisdialektik aufgefasst und »die Realität beider Glieder des Gegensatzes gegeneinander wieder« eingeführt wird (H 2/414). Es gilt, »das absolute Nichts« zu erkennen – und nicht, das Absolute zu setzen. Denn so wäre und bliebe dies: nichts. Die Meinung, dass alles nichts sei,5 hat semantisch eine ebensolche Leere, wie der Begriff »Sein« im Beginn der hegelschen »Logik der Wissenschaft« – wie Adorno in Erinnerung ruft. Diese Leere wird nicht durch die sedierende Affirmation verwunden, dass alles Sinn mache. Vielmehr: Gegen das Abstrakte, sei es nichts oder alles, Bestimmtes setzen, das per definitionem radikal inkonsequent ist gegenüber dem Quietiv totalisierender Lösungs-Versprechen. So träte »die Bilderwelt des Nichts als Etwas hervor [und] die kleinste Differenz zwischen dem Nichts und dem zur Ruhe Gelangten wäre [ein] Niemandsland zwischen den Grenzphählen von Sein und Nichts. Jener Zone müßte, anstelle von Überwindung, Bewußtsein das entwinden, worüber die Alternative keine Macht hat.«6

Der Arbeiter 1932 legt Ernst Jünger den kühnen metaphysischen Entwurf eines neuen Menschentypus, des »Arbeiters« vor. Er erinnert an den nietzscheanischen Übermenschen, der um seine Kraft der Überschreitung der bestehenden bürgerlichen Ordnung weiß zugunsten eines Verhältnisses zu elementaren Mächten. Dieses lässt ihn als starkes und freies Individuum einer neuen Ordnung entgegengehen. Die Technik spielt hier eine wesentliche Rolle. Ein Beispiel: Der Motor ist »nicht der Herrscher, sondern das Symbol unserer Zeit, das Sinnbild einer Macht, der Explosion und Präzision keine Gegensätze sind. Er ist das kühne Spielzeug eines Menschenschlages, der sich mit Luft in die Luft zu sprengen vermag und der in diesem Akte noch eine Bestätigung der Ordnung erblickt.« (Jü DA/37) Der Mensch wächst als »Arbeiter« im jüngerschen

4. Analog behandelt er die Theorie Jacobis, dort aber expliziert am Problem des Dritten. Bspw.: (H 2/410ff.). 5. Oder auch zu nichts geworden sei, wie Virilio ausführen wird. 6. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 1988, 374. Einschübe in Klammern, T.S. 82

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ECHTZEIT (VIRILIO)

Sinne zu einer »wirkenden Größe« heran, »die bereits mächtig in die Geschichte eingegriffen hat und die Formen einer veränderten Welt gebieterisch bestimmt.« (Jü DA/9) 25 Jahre später, 1957, erscheint Jüngers Erzählung »Gläserne Bienen«. Hatte der Typus des Arbeiters noch die Umstände der durch Technik bewerkstelligten, beschleunigten Zeit aufgrund seiner Individualität immunisiert und souverän überstanden bzw. die Technik für sich zu nutzen gewusst, findet sich der Protagonist der »Gläsernen Bienen« in einer gänzlich anderen Situation wieder. In der rationalisierten Welt aus Robotern und Automaten erlebt er die technisch indizierte Beschleunigung der Welt und der Möglichkeit ihrer Erfahrung geradezu als deren Verdunkelung oder Verstellung. Die Erzählung des Problems der Ortlosigkeit des Menschen angesichts einer Welt aus technischen Installationen, die eine irreversible Differenz zwischen »Weltzeit und Lebenszeit«7 öffnen, bleibt ohne positive Perspektive, ohne Happyend. Wie immer auch die Fabel des Romans im Detail aussieht, entscheidend für den Blick auf die Entwicklungen der jüngerschen Einschätzung der Technik ist Folgendes: Die technisierte Welt der gläsernen Bienen könnte die ein Vierteljahrhundert zuvor entworfene Welt des Arbeiters sein, die nun als pervertiert und ausbeuterisch vorgestellt wird. Dass demgegenüber der positive Entwurf solidarischer und naturnaher Arbeit in bienenstaatlicher Organisation nicht fehlt, mag der theoretischen Position geschuldet sein, die er mit dem im Folgenden zu besprechenden Text »Über die Linie« entworfen hatte: Trotz der niederschmetternden Diagnose einer in nihilistischer Manier technisch durchgestalteten Gegenwart ist die Orientierung am Ewigen und Transzendenten möglich, die eine Überwindung der momentanen Technokratie ermöglichen wird.8 Paul Virilio im Übrigen nimmt mit direktem Bezug auf Jünger das Bild der »Gläsernen Bienen«, einer agierenden Technik also, in einem Interview wieder auf, in dem er sich zur Technik des Krieges im

7. Martin Meyer, Ernst Jünger, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1993, 470. 8. Zu beachten bleibt dabei freilich – und das wird wieder zur Sprache kommen, wenn die Einlassungen Virilios näherhin erörtert sind – dass eine transzendierende Beschreibung von Technik ihre scheinbare Objektivität nur um den Preis der Abstraktion von den Einzelphänomenen gewinnt. Zu Jünger in dieser Hinsicht: Hans-Peter Schwarz, Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg i. Breisgau: Rombach 1962, bes. Kapitel VII. Und zu Heidegger entsprechend kritisch – schon in Bezug auf seinen Dialog mit Jünger: Alexander Schwan, »Zeitkritik und Politik in Heideggers Spätphilosophie«, in: Heidegger und die praktische Philosophie, hg. v. Annemarie Gethmann-Siefert u. Otto Pöggeler, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, 93-107. 83

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PARADIGMEN PHILOSOPHISCHER MEDIENTHEORIE

Libanon und am Golf (dem von 1991) äußert. Im Libanon wurden programmierte, unbemannte Raketen, die Virilio »Drohnen« nennt, dazu benutzt, per Video- und Thermografie jederzeit das Fahrzeug Arafats orten zu können. Aus dem Golfkrieg gibt Virilio ein Beispiel zum Phänomen der Ersetzung körperlicher Konfrontation durch diejenige mit digitaler Technik: Irakische Soldaten ergeben sich angesichts einer »Drohne«, von der sie beobachtet werden und von der sie wissen, dass über diese die Ortung für die amerikanischen Kampftruppen jederzeit gegeben ist.9 Zwölf Jahre später im übrigen, anlässlich des Golfkriegs (der jetzt »Irak-Krieg« heißt), spricht kaum noch einer von Überwachungs- oder Simulations-Kriegs-Techniken. Die Paradigmen – auch der Berichterstattung – sind nun andere (Authentizität, Symbolisierungsstrategien, Globalität des Terrors u.a.).10 Im zeitlichen Wechsel – und dieser auch biografisch-chronologisch verstanden – zwischen dem die Technik bejahenden und beherrschenden Typus des »Arbeiters« (1932) und der Ortlosigkeit des Menschen in der automatisierten Welt der »Gläsernen Bienen« (1957) versucht sich Jünger an der geistesgeschichtlichen Versicherung seines Blicks. Möglicherweise kann der Text »Über die Linie« von 1950, der Jüngers pointierte Reflexionen zum Nihilismus beinhaltet, tatsächlich als ein weiterer Versuch angesehen werden, sich eines grundlegenden Deutungsmusters, eines point de départ in unsicherer Zeit zu versichern.11

9. Paul Virilio, »De la guerre probable au paysage reconquis«, in: Cybermonde, la politique du pire, Paris: Les éditions Textuel 1996, 97. Und auch: (V öB/352). 10. Zu der Frage, wie dies massenmedial und bildhaft umgesetzt wurde und was das für die Bedingungen kultureller Erfahrung impliziert, siehe: Timo Skrandies, »Ein Hauch von Aura. Krisenbilder in Zeiten von Bilderkrisen«, in: Bilderzählungen. Zeitlichkeit im Bild, hg. v. Andrea von Hülsen-Esch, Hans Körner, Guido Reuter, Köln/Weimar: Böhlau 2003. 11. Dass es mehrere Texte mit dieser Funktion geben kann, wäre bei einer persönlichen Denkgeschichte von knapp acht Jahrzehnten kaum verwunderlich. So weist Rolf Peter Sieferle darauf hin, dass die Erarbeitung des »Arbeiter« das Ende der Verschwisterung Jüngers mit nationalrevolutionären Bewegungen und Theorien der Weimarer Republik darstellt. 1925 bis 1930 stand Jünger diesen Gedanken nahe, deren deutlichster Gestus die Radikalität war. Im Gefühl irrationaler Verbundenheit mit Nation und Heimat löst sich das Individuum in der Allgemeinheit (des nationalen Bundes) auf. Jünger ist hier in eine europaweite Bewegung eingebettet, die sowohl im linken als auch im rechten politischen Spektrum ihrem Gefühl der Erwartung einer nahen revolutionären Weltwende Ausdruck zu verleihen suchte. Diese Wende würde die Menschen im Begriff der Nation vereinen. Die Artikel und Aufsätze Jüngers zwischen 1925 und 1930 arbeiten hieran intensiv mit und der Text »Die totale Mobilmachung« (1930) kann in diesem Zusammenhang als sein persönlicher Höhepunkt interpretiert werden. Rolf Peter Sieferle, 84

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ECHTZEIT (VIRILIO)

Der »Arbeiter« von 1932 beendet eine erste solche Phase und stellt zugleich deren Überwindung dar: Der Arbeiter sprengt mit seiner planetarischen Perspektive auf die moderne Technisierung die vereinheitlichenden Einrahmungen, die den Nationalismus charakterisieren. Denn im durch den Typus des Arbeiters vorangetriebenen Prozess der totalen Mobilisierung und Rationalisierung der Welt durch Technik, wird »Nation« als Bestand und Bezugsgröße einer älteren, überwundenen Kulturschicht erkannt. Wie »Über die Linie« 1950 kann der »Arbeiter« 1932 also als Marke des jüngerschen Denkens gesehen werden.

Die Frage an Virilio stellen Es ist unmöglich sich verstohlen in einen Diskurs einzuschleichen. Jedes Reden oder Schreiben über ein Thema besetzt Positionen, und obgleich jeder irgendwie anfangen muss, tut er es doch basierend auf bestimmten, dem gewählten Thema je eigenen Voraussetzungen und Bedingungen.12 So bleibt auch ein Reflexionsweg, der von Jünger über Heidegger zu Virilio – und dann darüber hinaus – führen wird, auf die Existenz solcher Positionen verwiesen und sein Verlauf durch sie vorgeprägt.13

»Ernst Jüngers Versuch einer heroischen Überwindung der Technikkritik«, in: Selbstverständnisse der Moderne: Formationen der Philosophie, Politik, Theologie und Ökonomie, hg. v. Günter Figal u. Rolf Peter Sieferle, Stuttgart: Metzler 1991, 133-173, bes.: 154159, 169. 12. Hierzu den Anfang von: Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt/Main: Fischer. 13. Prominente Beispiele der Jünger-Rezeption: Walter Benjamin rezensiert 1930 den von Ernst Jünger herausgegebenen und mitverfassten Sammelband »Krieg und Krieger« und schreibt: »Was sich hier unter der Maske erst des Freiwilligen des Weltkrieg, dann des Söldners des Nachkrieg, heranbildete, ist in Wahrheit der zuverlässige faschistische Klassenkrieger, und was die Verfasser unter Nation verstehen, eine auf diesen Stand gestützte Herrscherklasse, die niemanden und am wenigsten sich selber Rechenschaft schuldend, auf steiler Höhe thronend, die Sphinxzüge des Produzenten trägt, der sehr bald der einzige Konsument seiner Waren zu sein verspricht. Mit diesem Sphinxantlitz steht die Nation der Faschisten als neues ökonomisches Naturgeheimnis neben dem alten, das in ihrer Technik weit entfernt sich zu lichten seine drohendsten Züge herauskehrt. Im Parallelogramm der Kräfte, welches beide – Natur, Nation – hier bilden, ist die Diagonale der Krieg.« (B III/248). So finden sich schon in diesen frühen Jahren Leitlinien der Interpretation der jüngerschen Arbeiten, wie sie sich bis heute gehalten haben. Wer wäre nicht schon auf Jünger gestoßen, wenn in Texten konservatives Denken verhandelt wird und zahlreich sind die Querverweise zwischen bspw. Oswald Spengler, Carl Schmitt, Martin Heidegger und Ernst Jünger. Resümierend dazu: Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland, Darmstadt: WBG 1989. Oder auch: Christian Graf von 85

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PARADIGMEN PHILOSOPHISCHER MEDIENTHEORIE

Denkt Paul Virilio Ernst Jünger zeitgenössisch weiter? Keiner von beiden hat über den jeweils anderen einen Text verfasst und vermutlich lassen sich in den Aufzeichnungen Jüngers nicht einmal Notizen zu Virilio finden. Auch Virilios direkte Hinweise auf Jünger sind eher spärlich. Zumeist beschränken sie sich auf die Nennung des Namens in wechselnden Kontexten seiner Texte. Unter der Überschrift »An der Zeitmauer« wurden in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Stimmen zum Tode Ernst Jüngers am 17. Februar 1998 gesammelt. Auch der französische Medientheoretiker Paul Virilio äußerte sich zu diesem Anlass: »Ende der fünfziger Jahre, als ich an meiner ›Bunker-Archäologie‹ arbeitete, stieß ich zum ersten Mal auf Ernst Jünger. Damals las ich ›Gärten und Straßen‹, Jüngers Kriegstagebuch von 1940. Seinen letzten großen Text las ich vor etwa einem Jahr: die französische Übersetzung von ›Der Krieg als inneres Erlebnis‹. Dazwischen lagen viele seiner Werke, natürlich der ›Arbeiter‹, aber auch die Bände von ›Siebzig verweht‹. Darin entwickelt Jünger eine vollkommen neue Sicht auf die Automatisierung der Arbeit und die Beschleunigung der Geschichte. Sie berührt sich mit meinen Arbeiten über die Geschwindigkeit. Ernst Jünger war das menschgewordene zwanzigste Jahrhundert. Im selben Maße wie mich der Schriftsteller anzog, stieß die Person mich ab. Aus einem einfachen Grund: Er war ein Mann des Krieges, ich aber bin ein Kind des Krieges.«14 Ernst Jünger, ein »Mann des Krieges« – wer würde das bezweifeln – getragen von konservativer Selbstsicherheit und einem gefestigten Sinn für die Realien der Welt. Doch dies spricht sich in Jüngers Texten so gar nicht immer aus. Die Kriegserfahrungen werden in den Tagebüchern auch als existenzielle Verunsicherung und als Wahrnehmungsunsicherheit reflektiert. Ernst Jünger, ein Mann des Krieges zwar, aber auch ein Kind der Moderne. Es verbindet Ernst Jünger mit Martin Heidegger die denkerische

Krockow, Die Entscheidung, Frankfurt/Main: Campus 1990. Eine veränderte Lesart findet sich in Klaus Theweleits Analyse der »Männerphantasien« der Krieger des Ersten Weltkriegs, wo Ernst Jünger einen prominenten Platz erhält, und die umfangreiche Studie Martin Meyers rückt die gesamte kulturelle Spannweite des jüngerschen Denkens in den politischen, geistes- und kulturgeschichtlichen Kontext. Klaus Theweleit, Männerphantasien, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989. Martin Meyer, Ernst Jünger, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1993. Zu diesen Lesarten Jüngers mag als abschließendes Beispiel auch der Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen gezählt werden, der über Denkmotive von Ernst Jünger und Bertolt Brecht in der Weimarer Republik reflektiert. Helmut Lethen, »Zwei Barbaren. Über einige Denkmotive von Ernst Jünger und Bertolt Brecht in der Weimarer Republik«, in: Anstöße 31, 1984, H. 1, 17-28. 14. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Februar 1998, Nr. 41, 41. 86

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Haltung des Versuchs, die eigene Zeitgenossenschaft sowohl geistesgeschichtlich als auch aus den aktuellen epochalen Gegebenheiten heraus verstehbar zu machen. Und wieder ist es der Medientheoretiker unserer Gegenwart, Virilio, der auf dieses Junktim hinweist. Während eines Interviews 1986 sagt er: »Es ist kein Zufall, daß einer der letzten großen Philosophen, Heidegger, sich immer wieder auf Hölderlin und Jünger beruft, und das ist für mich viel interessanter als seine Lehre vom Sein und vom Seienden. Hier erweist ein Philosoph ersten Ranges der großen Dichtung seine Reverenz.«15 In der Tat ist es »kein Zufall«. In der Mitte des 20. Jahrhunderts befassen sich beide Autoren mit der Aufgabe, »Technik« geistesgeschichtlich als Phänomen von Nihilismus zu verstehen und zu bewerten. Und möglicherweise ist es auch »kein Zufall«, dass Virilio sich in seinen Analysen immer wieder auf Jünger bezieht. Ein erster, unvermittelter Vermittlungsversuch von Ernst Jünger und Paul Virilio kann 1929 ansetzen. Dort führt Jünger im »Abenteuerlichen Herzen«16 den Begriff der »stereoskopischen Sinnlichkeit« ein. Er beschreibt ihn zuerst im Zusammenhang der Darstellung synästhetischer Phänomene, baut den Begriff im Folgenden dann aber zu einer Theorie der Lesbarkeit der Welt aus. Demnach erscheinen dem Künstler, im Zustand des Erstaunens, die Phänomene als je wechselnde Abbildungen der unberührten Urbilder des Lebens – und dies eben an der Wahrnehmungsoberfläche, die unsere Welt ist. Es ist dies, wie Jünger sagt, ein »Vorstoß in die Zeit«, ein Vorgang der Zeitigung, bei dem die Urbilder »wiederum als Bilder über die Barrieren der Erscheinungen« geschleudert werden.17 So nur erscheint Jünger Sinn in der Welt, und dass dieser ihm als ständig gefährdeter begegnet, wird mithin im Rahmen des skizzierten Modells verständlich.18

15. Paul Virilio: Interview, übers. v. Reinhard Kuh und Andreas Eisenhart, in: Französische Philosophen im Gespräch, hg. v. Florian Rötzer, München: Boer Verlag 1986, 149f. Zum Einfluss Jüngers auf Heidegger unter besonderer Berücksichtigung des »Arbeiters«, siehe: Jens Hagestedt, Freud und Heidegger. Zum Begriff der Geschichte im Ausgang des subjektzentrischen Denkens, München: Fink 1993, bes.: 272-278 u. 303f. 16. In der ersten Fassung; die zweite erscheint, stark revidiert, 1938. 17. Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, Stuttgart: Klett-Cotta 1979, 110. Es sei an dieser Stelle nicht versäumt, auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass das »Abenteuerliche Herz« und seine »stereoskopische Sinnlichkeit« auch hinsichtlich einer möglichen surrealistischen Wahrnehmung der Welt interpretiert werden können. Jünger rückt dann, im Kontext des Denkens der 20er- und 30er-Jahre, nahe an Walter Benjamin heran. Siehe dazu: Thomas Kielinger, »Der schlafende Logiker. Ernst Jünger und der europäische Surrealismus«, in: Über Ernst Jünger, hg. v. Hubert Arbogast, Stuttgart: Klett-Cotta 1995, 137-163. 18. In dem Abschnitt »Zur Kristallographie« der zweiten Fassung von »Das 87

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Könnte dieses Modell nicht auch von Paul Virilio stammen? Auch für ihn ist das Phänomen der Zeitigung wesentlicher Bestandteil seiner Geschichtstheorie. Die Zeit und im Besonderen das dynamische Moment der Beschleunigung prägen unser Denken, unsere sinnlichen Wahrnehmungen und also das, was für uns den Sinn unserer Welt ausmacht. Dieser Beschleunigungsprozess (eine ansteigende Geschwindigkeit also) drückt sich in fortschreitender Technisierung und Mediatisierung aus: Lasttiere, Schiffe, die Eisenbahn, Automobile, Flugzeuge, optische und elektronische Datenübermittlung sind Stationen dieser Entwicklung, die uns auf die heutigen Tage hin einen Zustand des »inertie polaire« erbracht hat – den scheinbar paradoxen Zustand (Zustand?) des »Rasende[n] Stillstand[s]«.19 Die Urbilder, die Jünger in platonischer Manier beschwört, bleiben dem Menschen unzugänglich und werden lediglich in der Zeit als Phänomene ausgefällt, die das Dispositiv unserer Wahrnehmungen bilden. Wahrheit für uns ist dabei immer zeitgebunden und zeitabhängig, Sinn ist vorläufig. Mit den Worten Virilios scheint der Gedanke Jüngers zeitgenössisch weitergedacht und medientheoretisch zugespitzt. Denn demnach nähern sich einerseits die die Geschwindigkeit unserer Welt vorgebenden technischen Installationen und andererseits das mit wandelbarer Sinnlichkeit und Subjektkonzeption ausgestattete Ich einander so an, »daß bald niemand mehr sich über die noch immerhin spektakulären Sehstörungen, die durch schnelle Fortbewegung hervorgerufen werden, wundern wird. […] [Die] wirklichkeitsverbundene Wahrscheinlichkeit [der Schnelligkeit] entfremdet uns in einem Maße, daß die optische Wirkung der Schnelligkeit aussetzt und die durch Beschleunigung hervorgerufenen Wahrnehmungsstörungen als normal erscheinen.« (V NH/156) Die Parallele der beiden Konzepte ist offensichtlich: Sinnhaftigkeit entsteht für den Menschen nur da, wo Bilder von jenseits des Schleiers, dem Ort der eigentlichen Wahrheit, qua Zeitigung ins Wahrnehmbare gestrudelt werden. Aber ist dies wirklich eine Parallele, und wenn es auch so erscheint, wirkt sie nicht ein wenig konstruiert? Ließe sich der Zusammenhang zwischen den beiden Denkern nicht doch noch weiter differenzieren? Oder wird hier vielleicht geradezu zwanghaft nach einem Junktim gefahndet, das sich von den Argumenten der Theoretiker her leidlich nicht ergäbe? Um solche Zweifel zu entkräften bzw. zu bestätigen, bliebe die reizvolle Aufgabe den Parforceritt durch beider Werk

Abenteuerliche Herz« findet sich der Sachverhalt auch nochmal in komprimierter Form. Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, Stuttgart: Klett-Cotta 1979, 182f. 19. Das ist der deutsche Titel von: Paul Virilio, L’inertie polaire, Paris: Christian Bourgois Éditeur 1990. 88

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anzutreten, um in der Fülle des Materials Sicherheit zu finden. Hier jedoch soll eine andere Methode, ein anderer Weg gewählt werden: die Abbreviatur des vielgestaltigen Problemkreises auf nur eine Frage, mit deren Beantwortung die Schwelle von der philosophischen Diagnose der technischen Welt in der Mitte des 20. Jahrhunderts zur gegenwärtigen medientheoretisch pointierten Debatte passiert wird. Virilios Aussage in der FAZ gibt die entscheidende Spur vor: Jünger entwickelt »eine vollkommen neue Sicht auf die Automatisierung der Arbeit und die Beschleunigung der Geschichte. Sie berührt sich mit meinen Arbeiten über die Geschwindigkeit.« Die »Sicht« Jüngers »berührt« sich mit Virilios »Arbeiten«. Wie? Das zu klären, soll im Folgenden die – überraschende? – Frage leitend sein: Ist Virilios Denken Nihilismus?

Arbeiter und Technik »Der Vorwurf des Nihilismus zählt heute zu den verbreitetsten, und jeder wendet ihn gern auf seine Gegner an. Es ist wahrscheinlich, daß alle recht haben. Wir sollten daher den Vorwurf auf uns nehmen, und nicht bei jenen weilen, die rastlos nach Schuldigen auf der Suche sind. Der kennt am wenigsten die Zeit, der nicht die ungeheure Macht des Nichts in sich erfahren hat, und der nicht der Versuchung erlag.« (Jü ÜdL/283)20 Der »Versuchung« – welcher? Der des Nichts und des Nihilismus wohl, dieser erlag Jünger gewiss. Lebensweltlich in den Schützengräben der Kriege – erinnert sei nur an die Interviewszene an seinem 100. Geburtstag, in der er Rolf Hochhuth stolz seinen durchlöcherten Stahlhelm zeigt. Theoretisch erlag er dem Nihilismus in den beginnenden 30er Jahren, zur Zeit des »Arbeiters«. Die Technik dient hier in katalytischer Weise als Mittel, mit dem der neue Typus Mensch die Welt mobilisiert, weg von ihrem momentanen Zustand der Unvollkommenheit und Chaotik, hin zu einer Synthese aus organischer und mechanischer Welt, die Jünger als »organische Konstruktion« bezeichnet (Jü DA/177). Sie wäre die Aufhebung der Spaltung des geschichtlichen Wesens Mensch von der Natur, mithin das Ende der als Katastrophenfolge verstandenen Geschichte selbst. Es ist ein benjaminscher Gedanke zudem. Drei Momente jedenfalls bestimmen diesen Sachverhalt »organischer Konstruktion«:

20. In den Sämtlichen Werken von Ernst Jünger ist der Text ebenfalls erschienen. Hier allerdings mit einigen Änderungen. Diese werden im vorliegenden Text nicht berücksichtigt, da im Folgenden Jüngers Bezug zu Heidegger angesprochen werden soll und die Version von 1950, wie angegeben, in der Heidegger-Festschrift erschien. Sie bildet daher den Bezugspunkt. Die andere Quelle lautet: Ernst Jünger, »Über die Linie«, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, Stuttgart: Klett-Cotta 1980, 237-279. 89

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(1) Der Typus des Arbeiters wird verstanden als ein Subjekt, das die Möglichkeit besitzt, wesentlich verändernd in die Welt einzugreifen, indem es die Technik in seinen Dienst zu nehmen weiß. Die Mobilisierung der Welt hin zu einer gänzlich neuen Ordnung führt über die Nutzung der Technik. Die Gestalt des Arbeiters ist der sowohl zerstörende als auch mobilisierende Mittelpunkt des technischen Vorgangs. Der entscheidende Charakterzug dieses den Nihilismus der technischen Welt bejahenden Wesens ist seine radikale Entschiedenheit, mit der es auf die Einsetzung der neuen Ordnung hinstrebt, die zu erreichen die gegenwärtige Weltsituation an ihr Ende getrieben werden muss. Über eine Grenze hinaus. (2) Wie lässt sich diese Ordnung charakterisieren? Jünger schreibt: »Man muß wissen, daß in einem Zeitalter des Arbeiters, wenn es seinen Namen zu Recht trägt und nicht etwa so, wie sich alle heutigen Parteien als Arbeiterparteien bezeichnen, es nichts geben kann, was nicht als Arbeit begriffen wird. Arbeit ist das Tempo der Faust, der Gedanken, des Herzens, das Leben bei Tage und Nacht, die Wissenschaft, die Liebe, die Kunst, der Glaube, der Kultus, der Krieg; Arbeit ist die Schwingung des Atoms und die Kraft, die Sterne und Sonnensysteme bewegt.« (Jü DA/68) Dies ist das Bild eines Weltzustandes, in dem alles in eine totale, d.h. hier: technisierte Zuhandenheit eingelassen ist, in die »organische Konstruktion«, der Verschmelzung des Lebendigen mit dem Künstlich-Technischen zu einer neuen Form des »Lebens«. (3) Auf die Frage des Zusammenhangs von Arbeiter und Technik antwortet Jünger mit ihrer dialektischen Verschränkung als Bedingung zur Erreichung des Ziels des »totalen Arbeitscharakters«. Die Folge ist die Verschmelzung von »Typus« und »Totalität des technischen Raums« – dies in einer ›Lebenswelt‹, die keinen Unterschied mehr von organischer und mechanischer Welt kennt (Jü DA/177). »Die Mobilmachung der Materie durch die Gestalt des Arbeiters, wie sie als Technik erscheint, ist […] in ihrer letzten und höchsten Stufe noch ebensowenig sichtbar geworden wie bei der ihr parallel laufenden Mobilmachung des Menschen durch dieselbe Gestalt. Diese letzte Stufe besteht in der Verwirklichung des totalen Arbeitscharakters, die hier als Totalität des technischen Raums, dort als Totalität des Typus erscheint. Diese beiden Phasen sind in ihrem Eintritt aufeinander angewiesen – dies macht sich bemerkbar, indem einerseits der Typus der ihm eigentümlichen Mittel zu seiner Wirksamkeit bedarf, andererseits aber sich in diesen Mitteln eine Sprache verbirgt, die nur durch den Typus gesprochen werden kann. Die Annäherung an diese Einheit drückt sich aus in der Verschmelzung des Unterschiedes zwischen organischer und mechanischer Welt; ihr Symbol ist die organische Konstruktion.« (Jü DA/177) Der jüngersche Arbeiter begegnet uns als eine Gestalt, die den 90

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Prozess der technisch bewerkstelligten Beschleunigung der Welt mit den Mitteln ebendieser Technik vorantreibt; wie rasend auf den Stillstand und die Ablösung ihrer momentanen Ordnung zu und über eine gedachte Grenze oder Linie hinaus. Diesseits dieser Grenze ist die Welt noch durch »Anarchie« geprägt, einen Zustand der fortschreitenden Zertrümmerung der alten Welt, in der die Trennung von Natur und Technik sowohl Bedingung als auch Ergebnis des gegenwärtigen Chaos ist. Doch ist diese apokalyptische Tendenz nur die eine, erste, notwendige Stufe hin zum Punkt des revolutionären Umschlags in die neue Ordnung. Jenseits dieses Umschlags wird die Technik zur Natur des Menschen geworden sein, ihre Perfektion »ist nichts anderes als eines der Kennzeichen für den Abschluß der Totalen Mobilmachung, in der wir begriffen sind.« (Jü DA/178) Das Ergebnis wird ein statischer und geordneter Raum der Konstanz sein, in dem erstens jeder Mensch seinen fest gefügten Ort hat und in dem zweitens der Arbeiter eben jenen Typus Mensch darstellt. Sein Existieren als »Ausprägung einer Rasse von höchster Eindeutigkeit« (Jü DA/180) ist als neues System technophysischer Ordnung mit der Perfektion der Technik kongruent. Zur Zeit des »Arbeiters« (1932) sieht Jünger diese Entwicklung als ebenso unabwendbar wie begrüßenswert an. Das Vorantreiben der Geschichte, dieser Geschichte, auf eine noch nicht genauer bestimmbare Leere oder einen Stillstand zu, diese nihilistische Emphase, die ihm zu dieser Zeit noch als Versprechen eines durch totale Technik geordneten Paradieses galt, wird ihm ab 1939 zweifelhaft. In den während der Kriegszeit geführten Tagebüchern »Gärten und Straßen« (03. April 1939 bis Juli 1940), den zwei »Pariser Tagebüchern« (Februar 1941 bis Oktober 1942 und Februar 1943 bis August 1944) und den zwischen diesen liegenden »Kaukasischen Aufzeichnungen« (November 1942 bis Februar 1943) öffnet sich Jünger dem Gedanken, dass Technik auch Unordnung und eine Welt ohne den Willen der Menschen bedeutet. Im schreibenden Begleiten des Krieges zerfallen ihm die »Konstruktionen geschichtlich eingreifender Kompetenz«21, mithin die Extremtheorie des »Arbeiter« als eines nietzscheanischen Übermenschen des hoch technisierten 20. Jahrhunderts. Hier setzt die Veränderung der Bewertung des Nihilismus der Technik ein, der sich bis zum Aufsatz »Über die Linie« von 1950 in die Möglichkeit einer pointierten Kritik des Nihilismus verdichtet haben wird. In der Beschreibung der verlassenen Kriegslandschaften und technischen Verwüstungen erscheinen ihm diese als »verwirklichte Vernichtung«, die allemal eine Leere ist – »und Leere ist die Substanz des Nihilismus.«22

21. Meyer, a.a.O., 1993, 328. 22. Meyer, a.a.O., 1993, 330. 91

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Nihilismus und Nullpunkt Welchem Nihilismus gehört diese »Leere« an? – gilt es erneut zu fragen bei der Beschäftigung mit dem Linien-Aufsatz. Eines »Nihilismus der Reduktion«, könnte die Antwort lauten. Jünger schreibt: »Die nihilistische Welt ist ihrem Wesen nach eine reduzierte und weiter sich reduzierende, wie das notwendig der Bewegung zum Nullpunkt hin entspricht.« (Jü ÜdL/262) Dass Jünger hierbei eine Gesamtdiagnose im Blick hat, wird an den von ihm aufgezählten Reduktionsphänomenen deutlich. Sie können soziale Belange, Geistiges, Seelisches oder auch gesellschaftliche Veränderungen betreffen. Die vorgängige Reduktion ist nicht nur Schwundphänomen, sie kann sich phänomenal auch als »Beschleunigung, Vereinfachung, Potenzierung und Trieb zu unbekannten Zielen« äußern (Jü ÜdL/265). Das bedeutet für die Wissenschaft, dass sich das Staunen, als ihre Quelle der Erkenntnis, auf den Eindruck beschränkt, den die Ziffer in der »Raum- und Zahlenwelt« hervorruft (Jü ÜdL/263). Hier geht mit der Spezialisierung in den Wissenschaften deren »Zurückführung der Zahl auf die Ziffer oder auch der Symbole auf die entblößten Beziehungen« einher (Jü ÜdL/265). Dies ist bedeutsam, da es Symptom der umfassendsten Reduktion ist, der Reduktion der Welt auf reine Kausalität. Das Erstarken des homo oeconomicus, der die geschichtliche und soziale Welt gemäß ihres Tauschwertes betrachtet und bewertet, geht ebenfalls damit einher (Jü ÜdL/265). Diese Analyse ist nicht neu, das weiß Jünger, entscheidend für ihn sind vielmehr die diagnostischen Momente der Analyse, die aufeinander aufbauen. Denn die Reduktionsphänomene stehen in einem weithin umfassenden Zusammenhang. Jünger schreibt: »Zum ersten Male beobachten wir Nihilismus als Stil.« (Jü ÜdL/265) Und dieser Stil geht aufs Ganze, er prägt jede Lebensform gemäß den oben beschriebenen Randbedingungen neu.23

23. Ernst Jüngers Bruder, Friedrich Georg, verfasst 1939 ein Buch, das 1946 unter dem Titel »Die Perfektion der Technik« publiziert wird. Darin vertritt er die These, dass die formalisierte und universalisierte »Sprache« der Technik »für die zunehmende Angleichung der Lebensordnungen an einen ›Weltstil‹« sorgten. Siehe hierzu: Meyer, a.a.O., 1993, 669. Und Ernst Jünger stimmt in dem oben genannten Gedanken ebenfalls mit der konservativen Zeitkritik des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr überein, der in seinem während der Nazi-Zeit ausgearbeiteten und 1948 publizierten Buch »Verlust der Mitte« ebendies diagnostiziert. Mit dem Verlust seiner Mitte, d.h. dem Verlust des Wissens um einen eigenen Ort in gefügten Hierarchien, seien sie politischer, theologischer oder ästhetischer Natur, gerät der Einzelne und auch die Menschheit historisch gesehen in eine Situation der »Extremzustände ohne Analogie«. In der Interpretation der »Extremzustände« stimmt der Kunsthistoriker mit dem Geschichtsphilosophen überein. Konzentriert man sich aber auf die Bedeutung der Metaphorik, wird die Differenz sichtbar. 92

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Der Geschichtsphilosoph Jünger erkennt hierin eine Entwicklung, die mit dem Typus des Dandys im 19. Jahrhundert begann und die nun aufs Extrem zuläuft – das ist eine historiografische Pointierung, wie sie auch Heideggers Argument der (nietzscheanischen) »Vollendung« des Nihilismus trägt. Die Metapher »Über die Linie« stellt vor allem einen präpositional-prospektiven Verweis dar. Wie aber ist der Verweis, besser: die Verweisung »Über die Linie« bestimmt? Der Nihilismus als Stil der Zeit führt die Welt auf einen Nullpunkt zu, an dem sie sowohl nach Maßgabe technischen Denkens und Handelns durchstrukturiert sein wird, als auch, und hier ist 1950 der Nullpunkt quasi schon erreicht, erstmals die Möglichkeit existiert, die Welt insgesamt mit den Mitteln menschlicher Technik zu zerstören. Die durch die »Maschinen-, Verkehrs- und Kriegswelt« (Jü ÜdL/267) bedingten Destruktionen denkt Jünger nicht nur als Zerstörungen im engeren Sinne, sondern auch als Reduktionen der Möglichkeiten von Weltentwürfen auf die »Welt der Tatsachen« (Jü ÜdL/267). So wird die Mobilität des technischen Wesens als Herrschaftszugriff verstanden, der ein Ausmaß angenommen hat, dass der Mensch nicht mehr dessen Subjekt ist und mehr und mehr zum Objekt der Vorgänge wird (Jü ÜdL/276). Denn deren Grundzug ist die Ausbeutung, die sich zur Unersättlichkeit steigern kann. Und darüber dürfe man sich auch dort nicht hinwegtäuschen lassen, so Jünger, wo Wohlstand und Reichtum die Schuppen des Leviathan zu vergolden scheinen (Jü ÜdL/274). Die Frage nach den Möglichkeiten der Freiheit – im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit – wird unter Berücksichtigung der genannten Bedingungen wenig hoffnungsvoll beantwortet. Die Zeitkritik Jüngers, mit ihren Bezügen auf Raum, Geschwindigkeit und Illusion, scheinen Virilios Analysen der gegenwärtigen ubiquitären Prägung des Urbanen und Sozialen durch technisch induzierte Wahrnehmungs-Welten vorwegzunehmen. Jünger: »Zwei große Ängste beherrschen ja den Menschen, wenn der Nihilismus kulminiert. Die eine beruht auf dem Schrecken vor der inneren Leere und zwingt ihn, sich nach außen zu manifestieren um jeden Preis – durch Machtentfaltung, Raumbeherrschung und gesteigerte Geschwindigkeit. Die andere wirkt von außen nach innen als Angriff der zugleich dämonisch und automatisch mächtigen Welt. […] Auf diesem Doppelspiele beruht die Unbezwinglichkeit des Leviathans in unserer Zeit. Sie ist illusionär; darin liegt ihre Macht. Der Tod, den sie verheißt, ist illusionär […]

Sedlmayr nimmt auf der Basis seiner Analyse eines Verlustes der Mitte die Perspektive eines »Zurück zu …« ein, Jünger hingegen formuliert seine Analyse der Zeit zwar auch als Benennung von Extrementwicklungen, den genannten Schwundphänomenen, doch die Metapher des »Über die Linie« stellt vor allem einen Verweis dar. Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte, Frankfurt/Main: Ullstein 1991. 93

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Wenn es gelänge, den Leviathan zu fällen, so müßte der nun freigewordene Raum erfüllt werden. Zu solcher Setzung aber ist die innere Leere, der glaubenslose Zustand unfähig. Aus diesem Grunde wachsen, wo wir ein Abbild des Leviathan stürzen sehen, gleich Köpfen der Hydra neue Bildungen hervor. Die Leere fordert sie.« (Jü ÜdL/275)24 Doch der Nullpunkt dieser nihilistischen Entwicklung, der in der Perspektive der beschriebenen Vorgänge aufzuleuchten scheint, bedeutet nicht einen Endpunkt. Er markiert vielmehr den Ort der Linie, das kurze Stillstellen der historischen Bewegung, an dem die Überschreitung der Grenze in einen anderen Zeit-Raum notwendig und möglich wird. Die Linie deutet somit den Zeit-Punkt, das zeitliche Zusammenzurren des Historischen in einem Schwellenraum an, über den die Passage vom nihilistischen Hier und Jetzt zu einer möglichen, bislang nur erhoffbaren Welt jenseits der Linie erfolgen kann. Hier rückt Jünger die Ausführungen wieder in sein geschichtsphilosophisches Denken ein, indem er versucht, die »Passage des Nullpunkts« (Jü ÜdL/266) als Grenzübertritt in eine neue Zeit zu prospizieren. Und genau dies ist es, was Jünger sowohl mit Heidegger verbindet als auch trennt.

In die Zone hinein – und wieder hinaus? Zu Heidegger und Jünger »Die Technik ist in unserer Geschichte«,25 heißt es in Heideggers Parmenides-Vorlesung im Wintersemester 1942/43. Seinsvergessenheit findet in der Gegenwart ihre Vollendung in der Vorherrschaft des Machens, Herstellens und Berechnens. Es sind dies Phänomene eines Verfügungswissens, das in die Wirkmacht des Wesens der Technik, des »Ge-stells«, eingelassen ist. Was genau wirkt hier? Die Rede von und das Fragen nach möglichen Seinserfahrungen schließt den Zweifel an deren Möglichkeiten ein. Denn diese Möglichkeiten sind je das, was der Mensch als Bestand seiner Welt sichert bzw. entbirgt. In der Technik nun ein Mittel dafür zu sehen, gilt Heidegger als anthropologische Verkürzung. Er denkt insofern dem Wesen der Technik nach und versteht es als »herausfordernden Anspruch, der den Menschen dahin versam-

24. Der im Zitat mit Mitteln des Mythologems beschriebene Vorgang des steten Nachwachsens von Weltbildern scheint den von Baudrillard in semiotischer Hinsicht beschriebenen Produktionsvorgängen der »Hyperrealitäten« nicht fern zu sein. Oder, um eine der ersten mit einer der letzten Publikationen Baudrillards motivlich zusammenzubinden: Was (in) der Welt und als diese bleibt, ist ein »échange symbolique«, der eben dadurch ein »échange impossible« ist. Mehr dazu im Kapitel »Simulation« dieses zweiten Teils. 25. Martin Heidegger, Parmenides, Gesamtausgabe, Bd. 54, Frankfurt/Main: Klostermann 1982, 127. 94

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melt, das Sichentbergende als Bestand zu bestellen.« (Hei FT/23) Dies ist des Menschen »Geschick« und die Technik selbst dessen abgeleitete gegenwärtige Ausformung. Die Geschichte der Metaphysik seit Platon, als Geschichte der Seinsvergessenheit, kulminiert im modernen Nihilismus der technischen Welt und geht mit der Gesamtbestimmung der Philosophie als ihrer Vollendung einher. Dieses Ende der Philosophie als Vollendung äußert sich als »Versammlung in die äußersten Möglichkeiten«, die den Prozess der Ausbildung, Entwicklung und bestehenden Eigenständigkeit der Wissenschaften beschließt. Der Grundzug dieser neuen Wissenschaftlichkeit ist ihr technischer, a-historischer Charakter, der in der Kybernetik als gegenwärtige Grundwissenschaft am deutlichsten zum Tragen kommt, in der Sprache zu einem »Austausch von Nachrichten« und die Künste zu gesteuert-steuernden Instrumenten der Information umgebildet werden. Demnach wird das Bedürfnis und die bloße Möglichkeit, die Technik kritisch, nicht-technisch zu hinterfragen, in dem Maße abnehmen, in dem Technik und ihre Wissenschaften die Erscheinung und Wahrnehmbarkeit von Welt und den Ort des Menschen in ihr prägen und deuten. So bestimmt das »Ge-stell« als Wesen der modernen Technik wesentlich den Horizont des Daseins. Als dieses selbst findet sich der Mensch nicht nur jenseits des Subjekt-Prinzips wieder26 und mit der unablässigen Herausforderung einer allzeit und allseits möglichen Manipulierbarkeit seiner Existenz konfrontiert, sondern auch als Objekt der »Herrschaft« dieses »vorstellend-rechnenden Denkens«, das wissenschaftliche Wahrheit mit der Effizienz ihrer Effekte gleichsetzt (Hei EdPh/63ff.). In der Analyse des Nihilismus, wie er sich als hoch technisierte Welt in der Mitte des 20. Jahrhunderts äußert, sind sich die beiden Autoren also weitgehend einig. Gleichwohl pointieren sich die Positionen an (vier) wesentlichen Differenzen. (1) Jüngers Text »Über die Linie« war Heidegger zu seinem 60. Geburtstag zugedacht. Fünf Jahre später antwortet Heidegger darauf in der Festschrift zu Jüngers 60. Geburtstag. Der Titel seines Textes lautet: »Über ›Die Linie‹«. Und schon in dieser geringen Abwandlung in Form der hinzugefügten Anführung drückt sich die Differenz des Denkens der beiden aus. Jünger legt mit seinem Text ein perspektivisches, ein dynamisch gedachtes Geschichtsmodell vor. Der Analyse des hiesigen Nihilismus folgt der Verweis auf die Notwendigkeit einer Passage. Auf diesen folgen Überlegungen, wie es jenseits der Linie weitergehen könnte, beziehungsweise wie die Welt dort beschaffen sein müsste, um bewohnbar zu sein. Kurz gesagt, Jünger versteht seinen Titel »Über die

26. Siehe hierzu die näheren Ausführungen im Heidegger-Kapitel des Dritten Teils. 95

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Linie« im Sinne des trans lineam. Nicht so Heidegger. Der jüngerschen Phänomenologie des Nihilismus konnte Heidegger unumwunden zustimmen – zudem darf man nicht vergessen, dass einige Texte Jüngers wichtige Anregungen für Heidegger dargestellt hatten. Bei der Frage nach dem Übergang aber rückt er deutlich von Jünger ab, und damit von der geschichtsphilosophischen Perspektive. Für ihn gilt es vielmehr, die Grenze als solche in die Möglichkeit des Denkens gerückt zu bekommen, insofern sie als »Geschick« die Welt des Menschlichen anzeigt und anweist. So ist die Denkbewegung Heideggers, bezogen auf den Titel der Schrift, vor allem vom de linea her zu verstehen. Er schreibt gleich zu Beginn: »Ihre Lagebeurteilung geht den Zeichen nach, die erkennen lassen, ob und inwiefern wir die Linie überqueren und dadurch aus der Zone des vollendeten Nihilismus heraustreten. Im Titel Ihrer Schrift ›Über die Linie‹ bedeutet das ›über‹ soviel wie: hinüber, trans, meta. Dagegen verstehen die folgenden Bemerkungen das ›über‹ nur in der Bedeutung des: de, peri. Sie [die Bemerkungen, T.S.] handeln ›von‹ der Linie selbst, von der Zone des sich vollendenden Nihilismus. Wenn wir beim Bild der Linie bleiben, dann finden wir, daß sie in einem Raum verläuft, der selbst von einem Ort bestimmt wird. Der Ort versammelt. Die Versammlung birgt das Versammelte in sein Wesen. Aus dem Ort der Linie ergibt sich die Herkunft des Wesens des Nihilismus und seiner Vollendung.« (Hei ÜDL/9f.) Obgleich diese Unterscheidung eine markante Differenz der Modelle betont, hebt Heidegger gegen Ende seines Textes hervor, dass Jüngers »Lagebeurteilung« und seine, Heideggers, »Erörterung« »aufeinander angewiesen« seien (Hei ÜDL/44). (2) Im Laufe seines Textes rückt Heidegger immer weiter von den Überlegungen Jüngers ab, nicht zuletzt um seine eigenen genauer konturieren zu können. Im Zuge dessen wird ihm der Gedanke der Möglichkeit des Überwindens des Nihilismus, wie ihn Jünger beschreibt, zweifelhaft, und er verwirft ihn schließlich. Aus Jüngers »Linie« wird dabei ein Raum, eine Zone, in der die Möglichkeit der Überwindung des Nihilismus durch das Überschreiten der Linie noch nicht einmal in den Blick kommt. Heidegger vermeidet damit die Verzeitlichung seiner Argumentation des de linea. Er schreibt: »Mit der Vollendung des Nihilismus beginnt erst die Endphase des Nihilismus. Deren Zone ist vermutlich, weil sie von einem Normalzustand und dessen Verfestigung durchherrscht wird, ungewöhnlich breit. Deshalb ist die Null-Linie, wo die Vollendung zum Ende wird, am Ende noch gar nicht sichtbar.« (Hei ÜDL/16) (3) Die Distanz zu Jüngers geschichtsphilosophischem Entwurf verschärft Heidegger noch – freilich ohne den freundlichen Briefton zu verlassen –, indem er von einer »eigentümlichen Schwierigkeit« spricht, sich mit Jünger über sein, Heideggers, de linea auszutauschen. »Deren Grund liegt darin, daß Sie im ›Hinüber‹ über die Linie, d.h. im 96

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Raum diesseits und jenseits der Linie, die gleiche Sprache sprechen. Die Position des Nihilismus ist, so scheint es, in gewisser Weise durch das Überqueren der Linie schon aufgegeben, aber seine Sprache ist geblieben.« (Hei ÜDL/17) Im Klartext hieße das: Jüngers Denken verharrt in der Sprache der Metaphysik. Diese ist nicht geeignet de linea zu denken, da allererst sie es ja ist, die die Geschichte der Seinsvergessenheit darstellt und die sich gegenwärtig als moderner Nihilismus der Technik äußert. Zudem kann Heidegger ein anthropologisches Modell als Wegweiser zur Passage niemals als hinreichend erachten. Es gilt ihm als aus den grundlegenden Wesensbestimmungen der Fundamentalontologie stets nur abgeleitetes. (4) »Der Augenblick, in dem die Linie passiert wird, bringt eine neue Zuwendung des Seins, und damit beginnt zu schimmern, was wirklich ist« (Jü ÜdL/271f.), schreibt Jünger in heideggerschem Ton. Viertens und abschließend geht es also um das, was sich jenseits der Linie als Möglichkeiten öffnen kann. Auf der Grundlage der bislang hervorgehobenen Differenzen verwundert es nicht, dass diese sich in die Entwürfe der für die Zukunft anstehenden Aufgaben fortsetzen. Die Unterschiede werden resümiert in Heideggers Bemerkungen zu dem soeben zitierten Satz Jüngers, der besagt, dass die Passage der Linie eine »neue Zuwendung des Seins« erbrächte und mithin zu erkennen gäbe, was wirklich ist. Wie zu erwarten fragt Heidegger – wohl rhetorisch, denn die Antwort hat er schon bereit –, ob nicht die Umkehrung des Satzes mehr Sinn ergebe. Demnach stünde das, was das Menschenwesen ausmacht, immer schon in einem Zuwendungs- und Entzugsverhältnis zum Sein, durch das das »Wirkliche« bedingt ist. Dieses Verhältnis gilt auch für die Zeit des Nihilismus. So lässt sich die mögliche Veränderung der Zeit laut Heidegger nicht einfach in einem Subjekt(Mensch)-Objekt(Seiendes)-Verhältnis denken, für das bloßer menschlicher Aktivismus (Überquerung der Linie) schon gleich eine Veränderung des Objekts mit sich führte. Das genannte Verhältnis, die Beziehung als solche und wie man sie zu verstehen versucht, ist vielmehr je schon in die Seinsmöglichkeiten des Menschenwesens eingelassen (Hei ÜDL/28f.). Daraus folgt, dass erstens die Formulierung von der »Zuwendung des Seins« fragwürdig wird, da »das Sein in der Zuwendung beruht, sodaß diese nie erst zum ›Sein‹ hinzutreten kann.« (Hei ÜDL/29) Zweitens – und dies hat entscheidende Folgen hinsichtlich der Frage: Was tun? – kann nicht die Passage der Linie eine neue Zuwendung des Seins erbringen, wie Jünger es dachte, sondern wird umgekehrt erst die neue Zuwendung des Seins den Moment der Überquerung bieten. Der Mensch kann also nicht nach Belieben von außen in die Zone des Nihilismus ein- oder aus ihr heraustreten. Er ist vielmehr diese Zone selbst, und sie entzieht sich somit der denkbaren Möglichkeit, dem Menschen als etwas Überschreitbares zu erscheinen. Der Mensch 97

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ist am Nihilismus wesenhaft beteiligt. Ein Entbergen des Seins, das kein Nihilismus mehr wäre, kann durch puren Aktivismus also nicht erreicht werden. »Vielleicht kommt der Augenblick, wo das Wesen des Nihilismus auf anderen Wegen sich in einem helleren Lichte deutlicher zeigt. Bis dahin begnüge ich mich mit der Vermutung, wir könnten uns auf das Wesen des Nihilismus nur in der Weise besinnen, daß wir zuvor den Weg einschlagen, der in eine Erörterung des Wesens des Seins führt. Nur auf diesem Weg läßt sich die Frage nach dem Nichts erörtern. Allein die Frage nach dem Wesen des Seins stirbt ab, wenn sie die Sprache der Metaphysik nicht aufgibt, weil das metaphysische Vorstellen es verwehrt, die Frage nach dem Wesen des Seins zu denken.« (Hei ÜDL/26f.) Die Denkbarkeit dessen dürfte möglich werden, wenn vom überkommenen technischen Be-Stellen des Wirklichen als Bestand abgelassen wird (Heidegger), oder wenn der Mensch vom ReduktionsNihilismus als einer Orientierungsgröße ablässt (Jünger). Welche Potenziale räumt Jünger dem Menschen in dieser Hinsicht ein? Seine Hinweise zur Überschreitung des nihilistischen Stillstands an der Linie pointieren sich als vier »praktische Winke« (Jü ÜdL/269), die er als Alternativen des Denkens und Handelns gegenüber dem Nihilismus angibt. (1) Ebenso wie der Künstler, zählt auch der Denker zu den bedeutendsten Gegnern des Nihilismus. Und ebenso wie Heidegger es andeuten wird, steht auch für Jünger der Denker im »Wagnis, das sich an den Grenzen des Nichts vollzieht.« (Jü ÜdL/281) Darunter versteht er ein Denken, in dem sich Wagnis und Präzision begegnen. (2) Der zweite »Wink« berührt die Frage nach dem geistigen Ort, an dem sich Wagnis und Präzision begegnen (Jü ÜdL/282). Und Jünger hebt das »Experiment« hervor. Denn das Experimentelle prägt als Stil des Denkens die Kunst, die Wissenschaft und auch das Dasein des Einzelnen. Es führt in den Bereich des »Unvermessenen. Hier ist die Sicherheit geringer, bei größerer Hoffnung auf Ausbeute. ›Holzwege‹ ist dafür ein schönes, sokratisches Wort. Es deutet an, daß wir abseits der festen Straßen uns befinden und innerhalb des Reichtums im Ungesonderten. Daneben schließt es die Möglichkeit des Scheiterns ein.« (Jü ÜdL/283) (3) Des Weiteren verweist Jünger auf die Möglichkeit der Freiheit im Sinne von Gebieten, »die zwar organisierbar, aber nicht zur Organisation zu zählen sind.« Die Freiheit bezeichnet das Ungeordnete, Jünger schlägt vor es »Wildnis« zu nennen, jenen Ort, zu dem der Leviathan keinen Zutritt hat (Jü ÜdL/278). (4) Das trifft auch auf den Eros zu. In der Liebe sind die Menschen der Zeit und deren Rationalisierungsmächten entzogen. Jünger nennt beispielhaft die Romane Henry Millers, der »das Geschlecht gegen die Technik ins Treffen« führe (Jü ÜdL/278). Die spätere Variante des Textes in den »Sämtlichen Werken« 98

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fügt dem den Eros betreffenden vierten Wink noch bemerkenswerte Zeilen zur Bedeutung der Freundschaft hinzu. Ihre Bedeutsamkeit wächst in Zeiten der technischen Kälte und gesellschaftlichen Rationalisierung und Überwachung: »In solchen Lagen kann das Gespräch mit dem vertrauten Freunde nicht nur unendlich trösten, sondern auch die Welt in ihren freien und gerechten Maßen wiederbringen und bestätigen. Ein Mensch genügt als Zeuge, daß die Freiheit noch nicht verschwunden ist; doch seiner bedürfen wir. Dann wachsen uns die Kräfte zum Widerstande zu. Das wissen die Tyrannen und suchen das Menschliche im Allgemeinen und Öffentlichen aufzulösen.«27

An der »Zeitmauer« – und darüber hinaus? Von Jünger zu Virilio Die Darstellung der jüngerschen Auseinandersetzung mit dem Nihilismus hatte diese als eine Zeitkritik der Omnipräsenz der technischen Welt erscheinen lassen. In der Analyse, dass die Technik den Menschen durch massive Rationalisierungsvorgänge sich selbst entfremde, stimmten er und Heidegger weitgehend überein. In der jeweiligen Strukturierung des Problems wurden aber bald wesentliche Differenzen deutlich, die durch die Angaben trans lineam und de linea pointiert werden konnten. Schließlich wurde anhand der Frage »Was tun?« ersichtlich, dass Jünger die Frage nach den Möglichkeiten des Transits der Linie mit großer Sicherheit verfolgte – dass Möglichkeiten dazu bestehen, schien ihm an keiner Stelle zweifelhaft. Auf welchen Grundannahmen basiert ein solches Denken, eine solche Gewissheit und Gelassenheit? Hinweise auf die Beantwortung dieser Frage kann die Betrachtung eines Textes geben, den Jünger 1959 publiziert: »An der Zeitmauer«. Ein weiterer symbolträchtiger Titel also, der auf Ähnliches zu verweisen scheint, was neun Jahre zuvor schon mit der Metapher der »Linie« angezeigt war. Und tatsächlich erneuert sich auch in diesem Text Jüngers Theorie der Überschreitung: »Dem Tief, das sich durch wachsende Depression ankündet, kann man nicht ausweichen, weder tatsächlich noch moralisch noch intellektuell – gleichviel ob es sich um die persönliche Katastrophe handelt oder um die kosmische, den Weltuntergang. Nur so lassen sich beide bestehen. Der Weg führt über den Nullpunkt hinweg, führt über die Linie, über die Zeitmauer und durch sie hindurch.« (Jü ZM/545) Der Grund nun für die angesprochene Sicherheit Jüngers wird erkennbar, wenn man die Vorstellung der Überschreitung der »Zeitmauer« nicht mehr nur als Zurücklassen einer katastrophischen Situa-

27. Ernst Jünger, »Über die Linie«, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, Stuttgart: Klett-Cotta 1980, 237-279, hier: 274f. 99

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tion betrachtet – das wäre die Konzentration auf die »Mauer« –, sondern sich hinsichtlich der »Zeit« befragt. Das Überschreiten der »Zeitmauer« öffnet dann den Blick für das Zeitlose bzw. Überzeitliche. Und war in Jüngers Auseinandersetzung mit dem Nihilismus, vor allem zur Zeit des »Arbeiters«, Nietzsche der prägende Autor, tritt hier der platonische Gedanke (Ideenlehre) in den Vordergrund und liefert die neue Vorgabe für Jüngers Geschichtsphilosophie. Platons Welt der ewigen, zeitlosen und unwandelbaren Ideen, die bei Jünger modern »Urbilder« heißen, äußert sich in Form ihrer Abbilder als unablässige Folge von Geschehnissen in der zeitabhängigen Geschichte. Diese sind scheinbar ohne logische Folge oder inneren Zusammenhang. Der Physiognomiker aber, als den Jünger sich sieht, erkennt, dass das Verbindende in der Periodizität und der morphologischen Ähnlichkeit der Phänomene besteht.28 So kann sich Jünger angesichts des, in menschlicher Lebenszeit gemessen, sich bedrohlich zuspitzenden Nihilismus der modernen technikdominierten Welt beruhigt zurücklehnen, da auch dieser nur vorübergehendes Phänomen erdzeitlichen Wechsels ist. Wer sich im Übergeschichtlichen der Urbilder aufgehoben weiß, den können keine in der Menschengeschichte möglicherweise auftretenden Apokalypsen oder Verfallserscheinungen aus der Ruhe bringen. Die Lebensgeschichte des Menschen schwindet angesichts der Erdgeschichte zu unbedeutender Dauer. »Wenn wir annehmen, daß wir uns am Ende eines Zyklus befinden, der die Geschichte, ja vielleicht die menschliche Existenz auf dieser Erde übergreift und daß bereits ein neuer Zeitgroßraum auf den Menschen einwirkt, so dürfen wir folgern, daß Erscheinungen eintreten werden oder bereits eingetreten sind, wie sie geschichtlich oder selbst anthropologisch noch nicht fixiert wurden. Da Erdgeschichte aber die Menschengeschichte weit überdauert, könnte aus ihr als einer umfassenden Kategorie vielleicht Vergleichbares geschöpft werden.« (Jü ZM/468) Das »Vergleichbare«, von dem Jünger spricht, stellt sich in geschichtsphilosophischer bzw. anthropologischer Perspektive als Problem des Ethos dar, der in Krisenzeiten mindestens Zweifeln ausgesetzt ist. Und so ist es nicht verwunderlich, dass das in ethischen Kategorien der Erdgeschichte »Vergleichbare« die überlieferten Werte des Mythos und der Antike sind. Warum? Folgt man der platonischen Denkart Jün-

28. Der Begriff »Physiognomiker« bezieht sich auf die ›Theorie der Physiognomie‹, die sich seit der Aufklärung entwickelt hat, von Lavater als Deutung des menschlichen Ausdrucks betrieben, von Herder und Goethe ausgebaut wurde und über Nietzsche und Klages bis ins 20. Jahrhundert reicht. Meyer fasst die grundlegende Bedeutung der Physiognomik folgendermaßen zusammen: »[A]lles Seiende ist Zeichen oder Spur von etwas anderem, ist Chiffre und Botschaft mit Verweischarakter auf die Schöpfung in ihrem überwirklichen Sein.« Meyer, a.a.O., 1993, 496. 100

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gers, liegt die Antwort auf der Hand: Das Humane der Werte des »Goldenen Zeitalters«, wie Jünger es nennt, liegt näher zum Grund, näher an den Urbildern. Es siegt deshalb über die Zeitenwechsel und deren moralische Verunsicherungen, weil es »auf tieferen Bestand zurückgreift […] und dem Kern des Menschengeschlechts näher ist.« (Jü ZM/ 484) Die jüngersche Technikdeutung im Zeitmauer-Essay wirkt dementsprechend konsequent, gleichwohl wird man ihr so nicht näher folgen wollen. Die Interpretation des Verhältnisses von Natur, Technik bzw. Produktion basiert auf vormodernen Deutungsmustern, wonach die technischen Entwicklungen und Erfindungen lediglich Modifikationen und Weiterentwicklungen des in der Natur Gefundenen oder Vorgegebenen sind. Alle traditionellen Werkzeuge, »wie kompliziert sie auch zusammengefügt sein und wie starke kollektive Bedienung sie auch erfordern mögen, sind Prothesen, die Glieder nachahmen und ihre Tätigkeit ersetzen, verfeinern, vervielfältigen. […] Ganz jungen Datums dagegen sind Werkzeuge, Apparate, die nicht mehr die dienenden Glieder, sondern die Befehle empfangende und gebende Zentrale nachahmen, also das Nervensystem. Damit werden Leistungen möglich, die nicht mehr dynamisch multiplizieren, sondern höhere Kräfte, sei es der Wahrnehmung, sei es ihrer Übermittlung, nachahmen.« (Jü ZM/500) Ein solcher Gedanke findet sich bspw. auch in Hegels »Grundlinien der Philosophie des Rechts«.29 Jüngers Modell als vormodern zu bezeichnen soll nicht bedeuten – das wäre ein performativer Selbstwiderspruch –, dass es nicht auch in der Moderne zu solchen Annahmen kommen kann.30 In einem spezifischen Sinne vormodern ist vielmehr die hier zugrunde liegende Versicherung, dass die technisch-kulturelle »Produktion« das von der »Natur« Vorgegebene nur weiterverarbeiten kann, nicht aber in das Hervorbringen selbst einzugreifen weiß. Menschliches Produzieren bleibt so in Referenz auf einen Natur-Begriff, wie er in der Metaphysik Hegels noch als »Grund« verstanden werden konnte, alsbald aber von Schopenhauer und dann dezidiert von Marx kritisiert und – aufs Technische der Epoche hin – aktualisiert wurde.31 Die Adaption des Natur-

29. §§ 196 u. 198. 30. Man denke nur an die Theorie Marshall McLuhans. Möglicherweise liegt die Differenz zwischen Metaphysik und Moderne hier im Metaphorischen. Georg Christoph Tholen hat, neben anderen Ansätzen, die Metaphorik der Projektions-These analysiert. Georg Christoph Tholen, »Metaphorologie der Medien«, in: zaesuren. Ökonomien der Differenz, November 2000, 134-168. Ders., Die Zäsur der Medien. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002. 31. Hierzu das Hegel-Kapitel des Ersten Teils und das Marx-Kapitel des Dritten Teils. 101

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begriffs der Metaphysik (z.B. derjenigen Hegels) durch den in der gedanklichen Syntax der Moderne stehenden Ernst Jünger bringt diesem seine metaphysischen Sätze ein – gleichwohl wird daraus mitnichten wieder Metaphysik im neuzeitlichen Sinne. Anders gesagt: Jünger überdreht hier sein Modell der Periodizität und Morphologie – das auf Beschreibungen der Geschichtsentwicklungen noch anwendbar zu sein schien –, wenn er darauf beharrt, dass die technischen Hervorbringungen der menschlichen Kultur nichts als Weiterentwicklungen oder Mutationen von bereits in der Natur Bestehendem seien.32 Er übersieht, dass die Erfassungsmöglichkeiten des Verhältnisses von Natur und (technischer) Kultur durch Funktionsanalogien schnell an ein Ende kommen. Die Frage nach der Gelassenheit Jüngers, dass ein Zurücklassen des Nihilismus möglich sei, war anhand des Zeitmauer-Essays mit Hinweisen auf den Urbild-Platonismus begründet worden. Die Ausrichtung an den überzeitlichen Gestaltungen, die sich in der Erdgeschichte entäußern, setzt den Physiognom in den Stand, auch ein Phänomen wie den modernen Nihilismus der technischen Welt als überschreitbar einzuschätzen. Die damit einhergehende Darstellung der Relation »Natur – technische Kultur« als eines Mimesis-Verhältnisses konnte unter Hinweis auf den Wandel des Naturbegriffs im Übergang zur Moderne zwischen Hegel und Marx bezweifelt werden. Doch gilt unabhängig davon: Jünger hat sein Modell bis auf die »postmoderne« Gegenwart hin weitergedacht. Über die Linie sich zu begeben war der Menschheit auch in den Jahrzehnten nach 1950, als Jüngers Nihilismus-Analyse erschien, nicht möglich. In den Augen Jüngers traf wohl eher die Verschärfung des Zustandes ein und seine Referenz auf das Überzeitliche hat nicht mehr nur bergende Funktion. In den 1980 und 1981 publizierten Tagebüchern »Siebzig verweht« spricht sich das Wissen um das 1952 von Arnold Gehlen kritisch postulierte »post-histoire« in Form der Metapher der »Deponie« mehrfach aus. In ihr drückt sich der Zweifel aus, ob aus der ungeordneten Gegenwart heraus noch die Möglichkeit zur Gesamtfügung zu entwickeln sei. Und der Zweifel nährt sich an der Beobachtung einer Welt, die mit den Mitteln technischer Mobilisierungen nachhaltig aufs reine Verwerten ihrer Hervorbringungen angelegt wird und ist, ohne sich über deren Wesen und Substanz zu befragen. Angesichts dieser Situation weicht die Euphorie, die Jünger in früheren

32. Zu untersuchen wäre dabei, inwiefern Jünger sich implizit auf die so genannte ›Organ-Projektionstheorie‹ von Ernst Kapp bezieht. Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik, Braunschweig: Westermann 1877. Die These Kapps findet sich in Kapitel II seines Buches, 29-39. 102

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Jahrzehnten das baldige Zurücklassen des Nihilismus hatte erwarten lassen.33 Die Charakterisierung der Welt als eine, die dem Einzelnen anscheinend keine sicheren Sinnangebote mehr zu machen weiß, hat bei Jünger nicht zur Konsequenz, diese posthistorische Gegenwart zu begrüßen. Sowohl in den späten Tagebüchern als auch in dem 1977 erschienenen Roman »Eumeswil« setzt er auf anderes: die Sicherung des Wissens, dass trotz der unbewohnbaren Gegenwart die Urbilder und das Übergeschichtliche sich in Reserve halten und nur zeitweise verdeckt sind. In »Eumeswil« lässt Jünger seinen Protagonisten, einen Historiker, sagen: »Die Geschichte ist tot; das erleichtert den historischen Rückblick und hält ihn von Vorurteilen frei, jedenfalls für jene, die den Schmerz erlitten und hinter sich gebracht haben. […] Andererseits kann nicht gestorben sein, was die Geschichte mit Inhalt füllte und in Gang setzte. Es muß sich aus der Erscheinung in die Reserve verlagert haben – auf die Nachtseite. Wir hausen auf fossilem Grunde, der unvermutet Feuer speien kann. Wahrscheinlich ist alles Brennstoff, bis zum Mittelpunkt.«34 So versichert sich der Nietzscheaner des »Arbeiters« aus den Dreißigerjahren in seinem Alter seines Platonismus. Gibt es an der Erdoberfläche, in sich beschleunigender Zeit auch keine historische Orientierungsmöglichkeit mehr, basiert dies alles dennoch »bis zum Mittelpunkt« auf dem Grundstoff, der die Geschichte allererst »mit Inhalt füllte und in Gang setzte.« Die Abwendung vom nietzscheanischen Gedanken und die Zuwendung zum Platonismus wird in »Eumeswil« anhand einer Aussage zum Verhältnis von Zeit und Ewigem zugespitzt: »Das Zeitliche kehrt wieder und zwingt selbst Götter in seinen Robot – daher darf es keine Ewige Wiederkehr geben; das ist ein Paradoxon – es gibt keine Ewige Wiederkehr. Besser ist Wiederkehr des Ewigen; sie kann nur einmal stattfinden – dann ist die Zeit zur Strecke gebracht.«35 Die theoretische und kritische Begleitung der technischen Entwicklung in der Moderne ist in den Zusammenhang einer umfassenderen Kulturkritik eingebettet. Zum Prozess der Modernisierung gehört diese unablösbar hinzu und äußert sich in Dualitäten wie z.B. alt versus

33. In den Tagebüchern schreibt er: »Mir scheint, daß der Optimismus, wie ich ihn gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hegte, geringer geworden ist. Siehe der ›Der Friede‹ und ›Über die Linie‹. Ihn zu dämpfen, trug nicht nur die Entwicklung bei, vor allem die europäische, sondern auch der fundamentale Pessimismus Friedrich Georgs« – des Bruders, der schon 1939 einen vehement technikkritischen Text vorgelegt hatte. Ernst Jünger, Siebzig verweht II, Stuttgart: Klett-Cotta 1981, 121. 34. Ernst Jünger, Eumeswil, in: Sämtliche Werke, Bd. 17, Stuttgart: KlettCotta 1980, 338. 35. Jünger, Eumeswil, a.a.O., 1980, 88. 103

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neu, Tradition versus Erneuerung, Bewahrung versus Zukunft.36 Die Positionierung und Bewertung dieser Gegensätze in den jeweiligen Theorien hängt wiederum von unterschiedlichen Vorstellungen ab, wie der Prozess der Vergesellschaftung beschaffen sei bzw. sein solle. Das eine, so genannte »normintegrative« Modell betont die Herstellung eines sozialen Zusammenhalts, der durch die eng an die Individuen und gesellschaftlichen Gruppen gebundenen Ideologien, Werte, Normen und Rituale verbindlich entstehen soll. Demgegenüber hebt das »systemintegrative« Modell objektivierende Institutionen hervor, über die sich die soziale Synthese vollziehe. Hier werden zwar auch Anpassungsleistungen gefordert, der motivationale Weg dorthin ist aber nicht festgelegt. »Das Ergebnis ist eine hohe Pluralität der Verhaltensweisen, sind Lebensstile, die sich fundamental von denen der traditionellen Gesellschaft unterscheiden. Dies wird besonders in den normativen Kernzonen, den zuvor stark regularisierten und strikt moralisch definierten Bereichen der Sexualmoral, des Familienlebens oder der Gruppenloyalität deutlich.«37 Diese mit der Modernisierung aufkommende neue Form des Vergesellschaftungsprozesses war es, die im Zentrum der technikkritischen Debatte stand: Befürworter der systemintegrativen Entwicklung sahen in der Technik vor allem die Möglichkeiten des Fortschritts – dass der Mensch mit diesem »Werkzeug« Macht über die Natur erhalte, um von diesem Mittel unabhängige Zwecke erreichen zu können. Die an der normintegrativen Vergesellschaftungsform orientierten Kritiker hoben vor allem das Entfremdende der Technik hervor – dass der Mensch deren »Knecht« geworden sei, um den Preis einer Aufgabe der sittlichen Persönlichkeit und tradierten Kultur. Im Prozess der modernen Gesellschaft hin zu einer systemintegrativen allerdings muss die normintegrative Position immer deutlicher als kulturpessimistisch, vergeblich, anachronistisch oder auch verbittert erscheinen. Und Ernst Jünger? Die These von Rolf Peter Sieferle ist, dass Jünger sich um eine dritte Position bemüht, jenseits von purem Fortschrittsglauben und konservativem, kulturkritischem Klagen.38 Mit der »Totalen Mobilmachung« von 1930 endet für Jünger eine radikalisierte konservative, an der Nation orientierte Kulturkritik. Er entwickelt nun ein Denken, das darum bemüht ist, die Entwicklung des Neuen ohne Lamento zu beschreiben und in seinen Konsequenzen zu bedenken.

36. Siehe hierzu und zum Folgenden den instruktiven Aufsatz: Rolf Peter Sieferle, »Ernst Jüngers Versuch einer heroischen Überwindung der Technikkritik«, in: Selbstverständnisse der Moderne: Formationen der Philosophie, Politik, Theologie und Ökonomie, hg. v. Günter Figal u. Rolf Peter Sieferle, Stuttgart: Metzler 1991, 133-173. 37. Sieferle, a.a.O., 1991, 134. 38. Sieferle, a.a.O., 1991, 137ff. 104

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Daraus entsteht das System des »Arbeiters«, das geordnete Starrheit mit der, wie paradox, apokalyptischen – schon platonisch fundierten? – Gewissheit einer für den Menschen positiven Zukunft paart und die beiden anderen Positionen übersteigt. Jünger kann sowohl die moderne Entwicklung des Modells einer systemintegrativen Vergesellschaftung übernehmen, ohne in den üblichen Fortschrittstaumel – z.B. eines Marinetti – zu verfallen, als auch die Entfremdung und Atomisierung der Moderne als notwendige Zwischenphase beschreiben, ohne diese verdammen zu müssen. Denn ihre Historizität, das heißt hier ihr transitorischer Charakter, ist geschichtsphilosophisch gewiss. Die Beschreibung und Bewertung einer scheinbaren Neutralität und Unschuld des totalmobilisierten Arbeitscharakters ist Jünger, sich in den Tagebüchern des Zweiten Weltkriegs entwickelnd, spätestens 1950 nicht mehr möglich. Zwar gibt es in »Über die Linie« eine ähnliche Perspektivik wie im »Arbeiter« – hiesiger Nihilismus, dann die Stillstellung an der Linie: Übergang, dort eine neue Welt –, doch hat sich gerade die inhaltliche Füllung der Orte gewandelt. Der verabsolutierte technische Charakter des Lebens gehört nun zum Nihilismus und nicht in den Entwurf des Ortes jenseits der Linie. Für Letzteren deutet sich im Linien-Aufsatz leise das an, was sich in den darauf folgenden Jahren durchsetzen wird: auf ein Denken zu setzen, das sich der durch Technik und deren Beschleunigungsmacht rationalisierten Geschichte (Zeit-Erfahrung) entzieht oder entledigt. Deren Existenz als systemintegrative Gesellschaftsform und gesellschaftliche Macht-Matrix hat Jünger früh wahrgenommen, theoretisiert und akzeptiert, sein geschichtsphilosophisches Angebot zu deren Transit und Überstieg ist die Orientierung an der »Urgeschichte«. Und Virilio? Ist er der Typus des kulturkonservativen Medienkritikers, der die technischen Vorgänge und Entwicklungen nur noch lamentierend begleiten und überspitzt deuten kann – ein Apokalyptiker, ein Nihilist? Ein Rufer in der Wüste mit Namen Kassandra?

Pro und Contra Virilio Ähnlich wie Jean Baudrillard ist auch Virilio in der feuilletonistischen Öffentlichkeit präsent, wenn es um Fragen der medialen Wahrnehmung geht. Die Bewertungen der Stichhaltigkeit von Virilios Analysen gehen dabei weit auseinander und lassen sich folgendermaßen zusammenfassen. Einerseits: Paul Virilio bemüht sich seit seinem Erscheinen im Wissenschaftsbetrieb vor rund dreißig Jahren um die unablässige Wiederholung eines schmalen Thesen-Inventars, das er an beliebigen Bei-

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spielen zu manifestieren sucht.39 Virilio verkürzt dementsprechend die Realien der Geschichte und die von ihm angeführten Beispiele sind entsprechend ungenau und beliebig, weil stets verallgemeinert. Das Grundprinzip seines Denkens ist die Reduktion komplexer Sachverhalte, die mit Hilfe unsinniger Anleihen bei naturwissenschaftlichen Theorien erreicht würden.40 Geradezu kitschig wird es an den Stellen, wo Virilio mit kritischem Unterton und überspitzten Entwürfen dem Verlust des eigentlich Echten und Wirklichen nachtrauere. Sein Denken ist eine Form der gegenwärtigen Modephilosophie und im Großen und Ganzen Rhetorik. Die Gegenposition andererseits: Sie erinnert an Virilios mehrfach wiederholte Beteuerung, er sei kein Philosoph, sondern Urbanist, und für ihn gehöre die Philosophie zur Literatur; Letztere sei als Poesie aber das Ursprünglichere.41 Virilio ist demnach ein radikal politischer

39. Ein massiver wie gründlicher Kritiker ist Kay Kirchmann, der Virilio jegliche theoretische Relevanz und Sachhaltigkeit abspricht, dies an Text-Stil und -Bau der virilioschen Arbeiten vorführt und seine Destruktion auf die Perspektive zusammenzieht, Virilios Arbeit im Ganzen sei die Frucht eines familiären Kriegstraumas während seiner Kindheit. Zudem vergebe sich Virilio selber die Chance, als Theoretiker ernst genommen zu werden, da er seine im Detail oft zutreffenden Deutungen zu globaler Gültigkeit verallgemeinere. »[L]etztlich handelt es sich meiner Überzeugung nach bei Virilios Werk eher um eine Art Privatmythologie, die sich als theoretischer, diskursiver Text im eigentlichen Sinne dieser Kategorie auszugeben sucht, aber eben kein solcher ist.« Kay Kirchmann, Blicke aus dem Bunker. Paul Virilios Zeit- und Medientheorie aus der Sicht einer Philosophie des Unbewußten, Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse 1998, hier: 38f. Stellvertretend für die feuilletonistische Diskussion sei genannt: Rudolf Walther, »Mann, Passagier der Frau«, in: Süddeutsche Zeitung, 12. Mai 1998, Nr.108, 13. 40. Hier darf der Hinweis auf ein Buch nicht fehlen, das die zeitgenössische französische Kulturtheorie wegen ihrer missbräuchlichen Nutzung (natur-)wissenschaftlicher Theoreme einer satirischen Kritik unterzieht. Wie die Autoren Virilios Thesen einschätzen, fassen die folgenden Sätze gut zusammen: »[C]e qui est présenté comme ›science‹ est un mélange de confusions monumentales et de fantasies délirantes. Par ailleurs, les analogies scientifiques sont les plus arbitraires qu’on puisse imaginer, quand l’auteur ne sombre pas dans l’ivresse verbale.« Alan Sokal u. Jean Bricmont, Impostures intellectuelles, Paris: Éditions Odile Jacob 1997, hier: 153. Ähnlich polemisch und allergisch hatte in Deutschland Klaus Laermann schon früh auf die französische Theorie reagiert: Klaus Laermann, »Lacancan und Derridada. Über die Frankolatrie in den Kulturwissenschaften«, in: Konkursbuch 84, März 1986, 34-43. 41. Paul Virilio, Interview, in: Französische Philosophen im Gespräch, hg. v. Florian Rötzer, München: Boer Verlag 1986, 147-159, hier: 147. Und hinsichtlich der Verteidigung Virilios sei, wiederum stellvertretend, auf die Antwort auf den oben genannten Artikel von Rudolf Walther in der Süddeutschen Zeitung hingewiesen: Reinhard Kreissl, »Die Wacht am Rhein«, in: Süddeutsche Zeitung, 15. Mai 1998, Nr.111. 106

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Denker, für den Theorien wichtigere Eigenschaften hätten, als logisch oder systemisch wahr zu sein. Mit seinem Denken öffnet er vor allem neue, dem Koordinatensystem des Akademischen (noch?) fremde Horizonte. Dafür aber braucht es Leser, die ebenso wie Virilio und andere zeitgenössische französische Denker und Denkerinnen am streitbaren öffentlichen Gebrauch der Vernunft interessiert seien, ohne sich hinter den Ordnungen der akademischen Begriffssysteme der Wissenschaften zu verstecken. »Virilio fokussiert mit seiner zugespitzten Interpretation ein Unbehagen, er liefert die Sprache zur Formulierung von Irritationserfahrungen, die ihre Bestätigung in der Empirie vor der Haustüre finden.«42 Beide Zuspitzungen des virilioschen Œuvres sind, laut Daniela Kloock, möglich. Sie fasst zusammen: »Virilios Geschichte der technischen Medien mündet somit in eine apokalyptische Vision. Seine Medientheorie lässt zwei mögliche Lesarten zu. Zum einen handelt es sich um eine Theorie-Fiktion, in deren Zentrum Übertreibung als Methode steht, zum anderen ist es der Beginn eines neuen Wissensdiskurses, der die Negativität der medialen Techniken ins Zentrum seiner Analysen rückt.«43

Logistik der »Ästhetik des Verschwindens«: das Verschwinden der Aisthetik Erste, transhistorische These Virilios: Allem, was ist, liegt Geschwindigkeit zugrunde. Deren Tempo erhöht sich (Beschleunigung) und artikuliert sich kulturell in der technischen Weiterentwicklung der Transportmittel. An deren Entwicklung liest Virilio drei Revolutionen von Geschwindigkeit ab: 1. Die Revolutionsgeschichte der relativen Geschwindigkeit von Transportmitteln und Verkehrswesen: »von der Frau zum TGV«. 2. Die Revolution der Transmissionsmedien, die mit der technischen Nutzbarmachung der Lichtgeschwindigkeit anscheinend die Möglichkeit der Visualisierung des Weltweiten erbringt. Mit dieser Übertragung in so genannter »Echtzeit« kommt die Geschichte der Beschleunigung an ihre Grenze! 3. Die Revolution der Transplantationen, die eine Abkopplung des Menschen von der natürlichen Evolution verursacht und die Kolonisierung des Körpers mit die Einbildungskraft und Sinnlichkeit umstrukturierenden Technologien betreibt.44

42. Kreissl, a.a.O., 1998. 43. Daniela Kloock, Medientheorien. Eine Einführung, München: Fink 1997, 163. 44. Zur dritten Entwicklung siehe vor allem: Paul Virilio, L’art du moteur, Paris: Galilée 1993. 107

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Zweite, auf dem Geschwindigkeitsdiktum aufbauende These: Jede neue Revolution, das heißt zunehmende Beschleunigung, verdrängt das bislang traditionell Bestehende, in Form einer Besetzungsmacht oder auch Macht des Eindringens.45 Diese technischen Umstrukturierungen unserer zeitlichen Wahrnehmung bewirken das Verschwinden real-körperlicher Wirklichkeit. Wir sind nurmehr Zeitstrukturen ausgesetzt, die technisch bedingt und bewerkstelligt sind – die sinnlichen Rahmenbedingungen des Menschen haben sich von einer »Ästhetik der Erscheinung« hin zu einer »Ästhetik des Verschwindens« gewandelt. Diese gewalttätige und machtvolle Wandlung hat sich im 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen der neuen bildgebenden Verfahren vollzogen, deren Wirklichkeiten nun um so präsenter sind, je flüchtiger sie in Szene gesetzt werden. Damit verdrängen sie, laut Virilio, Darstellungsformen wie sie z.B. durch Malerei und Bildhauerei gegeben waren, die ihrerseits das stoffliche Erscheinen der eigenen Wirklichkeiten verfolgten.46 Nebenbei sei erinnert: Auch Virilio evoziert mit diesem dichotomischen Modell noch das Signum der Moderne – in Bezug auf die ›handwerklichen‹ traditionellen Künste wohlgemerkt gegen seinen Willen: dass die Zeit als fugitiv und transitorisch erfahren wird.47 Laut Virilios Einteilung der Geschwindigkeitsrevolutionen stehen wir heute, parallel begleitet von den sich ausdifferenzierenden Möglichkeiten technologischer Eingriffe in den Körper, am Ende der zweiten, audio-visuellen Geschwindigkeitsrevolution. Unter medienhistorischen Gesichtspunkten ist dies mit der Moderne seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu analogisieren, als die Entwicklung und Verbreitung neuer bildgebender Verfahren einsetzte. Diese bringen einen panoptischen Zwang zu sehen mit sich, und in eins die Verdrängung des traditionalen sozio-kulturellen Raumes unseres alltäglichen

45. Siehe dazu z.B. (V EK/108ff., 124f.). Dann Virilios Beiträge in: La vitesse (Ausstellungskatalog), Fondation Cartier, Paris: Flammarion 1991. Oder auch: Revolutionen der Geschwindigkeit, übers. v. Marianne Karbe, Berlin: Merve 1993. In allen Texten finden sich auch Ausführungen zur ersten These. 46. Zur Unterscheidung von »Erscheinen« und »Verschwinden«: Paul Virilio, Interview, übers. v. Reinhard Kuh u. Andreas Eisenhart, in: Französische Philosophen im Gespräch, hg. v. Florian Rötzer, München: Boer Verlag 1986, 147-159, hier: 154ff. Und natürlich: Paul Virilio, Ästhetik des Verschwindens, übers. v. Marianne Karbe u. Gustav Roßler, Berlin: Merve 1986. Kirchmann unterstellt Virilio eine »Metaphysik der Unmittelbarkeit und des Materiellen, gekoppelt mit einer emphatischen Aufladung der handwerklichen Künste, denen ganz im Geiste des Neoplatonismus die Befähigung zugesprochen wird, die ›reine‹ Welt der Ideen in der ästhetischen Nachahmung erscheinen zu lassen.« Kirchmann, a.a.O., 1998, 117. 47. Hierzu sei an die Ausführungen zur Geschichte des Moderne-Begriffs im Ersten Teils erinnert. 108

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Miteinander-Agierens, unseres »aktuellen Hier«, zugunsten einer durch Lichtgeschwindigkeit erzeugten medialen Zeitstruktur der »Echtzeit«, so Virilio.48 Diese simulative Echtzeit wiederum öffnet, durch die konkrete Anwendung der Technik (Fernsehen, Videokonferenz, Internet), eine neue Art Raum, in dem ein erfahrbarer Horizont, der uns unseres Ortes versicherte, keinen Bestand mehr hat – denn das Sehen wird, obgleich panoptisch-neurotisch, abstrakt, d. h. zu sehen sind nurmehr Schemata und anagrammatische (Körper-)Bilder. So ist die Wahrnehmung einer Räumlichkeit ausgesetzt, die in endloser Folge und voneinander nicht mehr unterscheidbar unablässig neue Horizonte generiert. Dadurch wird die Bewegung im Raum lediglich simuliert und das Jenseits des eigenen Ortes – quasi das andere Ende der Leitung – wie durch ein Fenster in Echtzeit zur Darstellung gebracht. Anstatt also eines Horizontes eigener Gegenwart, der abhängig vom Standort ein je anderer wäre, dominiert eine technische Zeitstruktur, die nicht mehr die von intentionaler Wahrnehmung ist. Vielmehr: Das technische Dispositiv »eröffnet sich ein Zeit-Jenseits, eine Hyper-Zeit, zu der der Mensch niemals Zugang finden kann. Er nimmt diese HyperZeit nur über Skalen, Bildschirme und Schalttafeln wahr, d.h. auf indirektem Weg, was immer mehr an Bedeutung verliert, je mehr die Maschine selbst die Entscheidungen trifft. […] Dieses wissenschaftlich-technische Ereignis ist revolutionär und zugleich selbstmörderisch, denn es untergräbt die Willensfreiheit der Menschen, ganz gleich, ob sie Wissenschaftler, Militärs oder Politiker sind.«49 Das Verschwinden einer realen Welt, das Virilio konstatiert, wirkt demnach auf zweifache Weise – und damit umfassend: Erstens ist jeder Einzelne da-

48. Tholen fasst den normativen Hintergrund dessen so zusammen: »Falls die wissenssoziologische These zutrifft, daß technische Innovationen, wenn sie einen weitreichenden gesellschaftlichen und kulturellen Umbruch indizieren, zunächst die melancholische Verlustrhetorik des kulturkritischen Diskurses befördern, bevor die jeweilige Technik im alltäglichen Umgang mit ihr habitualisiert und so als Umbruch vergessen wird, dann gilt dies für den Bruch zwischen analogen und digitalen Bildmedien in besonderem Maße. Zur Disposition steht dann zum Beispiel […] nicht nur die als normal empfundene Selbstverständlichkeit eingewohnter Wahrnehmungsweisen, auch wenn diese selbst durch höchst artifizielle Mittel wie etwa die Photographie und Kinematographie verändert worden waren, sondern die angebliche Natürlichkeit und Lebendigkeit des Menschen überhaupt. Es ist diese rousseauistisch zu nennende Geste der Anklage gegen das Entfremdete und Künstliche, die bereits Virilios frühe Studien über den photographischen und filmischen Blick begleitete«. Georg Christoph Tholen, »Geschwindigkeit als Dispositiv. Zum Horizont der Dromologie im Werk Paul Virilios«, in: Von Michel Serres bis Julia Kristeva, hg. v. Joseph Jurt, Freiburg: Rombach 1999, 135-162, hier: 151; und auch: 155ff. 49. Virilio, Interview, a.a.O., 1986, 153f. 109

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von betroffen und zweitens ebenso die Gesamtstruktur von Politik und Gesellschaft, in die der Einzelne sich entwerfend eingelassen zu sein vermeint. Der einzelne Mensch ist durch den Einfluss auf seine Wahrnehmung und Urteilskraft betroffen. In einer Mischung aus Sensualismus und Ontologie heißt es nun – mit Berkeley und Merleau-Ponty: »Sein ist wahrnehmen und wahrgenommen werden.«50 Die Problematisierung der Wahrnehmung und ihrer Bedingungen ist ein Leitmotiv der Moderne. Denn durch die Abstoßung von der Metaphysik (zuletzt derjenigen Hegels) wird ein Begriff von »Welt« formuliert, zu dessen Semantik gehört, jede Aussage über deren Wahrheit und Wirklichkeit an ein intentionales oder sinnliches Bewusstsein zu binden – das wird erörtert als Scheidung von einem Denken, das sich als reine Bewegung des Begriffs in einen Grund reflektiert. Die mit diesem Abschied einhergehenden Konsequenzen für die fortan scheinbar unmöglich gewordene, bishin als Paarung von Wahrheit und Selbsterkenntnis gedachte adaequatio intellectus et rei formuliert schon Schopenhauer in »Die Welt als Wille und Vorstellung«: Das »Ich ist der finstere Punkt im Bewußtseyn, wie auf der Netzhaut gerade der Eintrittspunkt des Sehnerven blind ist, wie das Gehirn selbst völlig unempfindlich, der Sonnenkörper finster ist und das Auge Alles sieht, nur sich selbst nicht. Unser Erkenntnißvermögen ist ganz nach Außen gerichtet […]. Daher weiß Jeder von sich nur als von diesem Individuo, wie es in der äußeren Anschauung sich darstellt. Könnte er hingegen zum Bewußtseyn bringen was er noch überdies und außerdem ist; so würde er seine Individualität willig fahren lassen […].« (Sch II/570) Auch Merleau-Pontys Denken stellt sich dem Problem der wahrgenommenen Welt und ihrer verschleierten Wahrheit – allerdings nicht der einer »Vorstellung« – und radikalisiert den Gedanken der Intentionalität (Husserl) in die aporetische Struktur eines Chiasmus: Das Sehende ist stets ein Leib, der auch Gesehenes sein oder werden kann, in der Welt also vorgefunden wird, aber mithin immer auch das Medium des Vorfindens ist – und also nie in seiner Gänze verobjektiviert werden kann. Das sich existierend vorfindende Individuum (In-Dividuum?) basiert auf der Erfahrung seiner eigenen Geschichtlichkeit und Transitorik in der Existenz. Das ist die wesentliche menschliche Erfahrungsweise: die Zeiterfahrung – dass nämlich der Konstituierungsprozess von Subjektivität im Ständig-neu-Beginnen besteht. Weder wird der Mensch durch eine ihm externe Zeit angegangen, noch generiert er sie von einem transzendentalen, dem Erfahren abgelösten Ort her. Er erfährt sie – leibhaftig. »Wir sind nicht Aktivität, auf unbe-

50. Virilio, zitiert nach: Daniela Kloock, Von der Schrift zur Bild(schirm)kultur: Analyse aktueller Medientheorien, Berlin: Spiess 1995, 222. 110

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greifliche Weise mit Passivität verknüpft, von Willen überstiegener Automatismus, von Urteilskraft überhöhte Wahrnehmung, sondern gänzlich aktiv und gänzlich passiv, da wir selber nichts anderes sind als das Entspringen der Zeit.«51 Der Leib kann aufgrund seiner Eigenzeit also an der Koinzidenz von sinnlicher Wahrnehmung und Welt hindern und das Individuum (Immer noch Individuum?) einer Differenzerfahrung aussetzen. Denn der wahrnehmende Leib, wie paradox, »inszeniert« die Wahrnehmung. So besagt der Chiasmus: Die Wahrnehmung der Welt findet im Leib statt und der Leib ist in der Welt – und er ist in der Welt (MP SU/24f.). Daraus ergibt sich das (späte) Programm der Leib-Phänomenologie Merleau-Pontys als einer »Dialektik ohne Synthese« (MP SU/129).52 Eine Passage aus »Das Sichtbare und das Unsichtbare« fasst das, die Methodik betonend, zusammen, und hier wird ihr in dieser Länge der Platz eingeräumt, weil sich in der Folge Nähe und Distanz MerleauPontys zu Virilio konturieren werden – anhand Virilios Ungewissheitsdiktum (der »Ästhetik des Verschwindens«), seines Essenzialismus (der Möglichkeit einer Ur-Erfahrung jenseits von Medialisierung) und seines Zeit-Erfahrungsbegriffes (»Hyper-Zeit«). Merleau-Ponty schreibt: »Uns interessieren nicht die Gründe, mit denen man die Existenz der Welt für ›ungewiß‹ halten kann, – so als ob man schon wüßte, was existieren heißt, und als ob es nur darum ginge, das ganze Problem zu diesem Begriff in ein Verhältnis zu setzen. Uns kommt es vielmehr darauf an, den Seinssinn der Welt zu erfassen; im Hinblick auf diesen Sinn dürfen wir nichts voraussetzen, weder die naive Vorstellung eines

51. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. Rudolf Boehm, Berlin: de Gruyter 1974, 486. Siehe zum Motivzusammenhang der Zeiterfahrung besonders das Kapitel II »Die Zeitlichkeit« aus dem Dritten Teil des Buches. Bernet ordnet die wichtigsten Argumente Merleau-Pontys zur »Zeit« dessen Husserl-Rezeption zu: »Einleitung«, in: Edmund Husserl, Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hg. v. Rudolf Bernet, Hamburg: Meiner 1985, XI-LXVII, bes.: LXIII. 52. Damit enthebt er sich einerseits des Zwangs, nach der Auflösung der Widersprüchlichkeit des Wahrnehmungs- und Leib-Phänomens in Transzendentem zu fanden (wie noch der von ihm hoch geschätzte Husserl), denn zu sein ist gerade diese Widersprüchlichkeit. Andererseits gerät er methodisch nicht in die Nötigung (wie Virilio) einer monokausalen Erklärung des Verhältnisses von Sichtbarem und Unsichtbarem. Im Übrigen: Dass Merleau-Pontys Kritik an Husserl gerade bei der Erörterung des Hyletischen ansetzt, mag kaum verwundern. Für Merleau-Ponty geht die Wahrnehmung der Relation von sensueller Hyle (formloser Stoff) und intentionaler Morphe (stofflose Form) voraus. Dazu bei Husserl in den »Ideen«: (Hu 5/191-196). Merleau-Pontys Standpunkt hierzu findet sich zusammengefasst bei: Shaun Gallagher, »Hyletic experience and lived body«, in: Husserl Studies 3, Dordrecht: Martinus Nijhoff 1986, 131-166, bes.: 137ff. und 154ff. 111

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Seins an sich, noch die entsprechende Idee eines Seins der Vorstellung, eines Seins für das Bewußtsein, eines Seins für den Menschen: wir müssen diese Begriffe allesamt im Hinblick auf unsere Erfahrung der Welt und im gleichen Hinblick auf das Sein der Welt neu überdenken. Zudem müssen wir die skeptischen Argumente unabhängig von jeglichem ontologischen Vorurteil neu formulieren, um in Erfahrung zu bringen, was das Welt-Sein, das Ding-Sein, das imaginäre Sein und das bewußte Sein überhaupt sind.« (MP SU/21) Die Evidenz einer Wahrnehmung muss strikt als provisorisch und temporal-transitorisch angesehen werden, doch kann Wahrnehmung nie schlicht aussetzen oder außerhalb von Zeiterfahrung sich ereignen. Mit diesem Gedanken wird Virilio sich grundlegend durch Merleau-Ponty beeinflussen lassen und aber spezifisch fatale (fatalistische?) Konsequenzen für medialisierte bzw. technisierte Wahrnehmung formulieren. Für die Erfahrung des zeitlichen Provisoriums der Wahrnehmung jedenfalls gibt Merleau-Ponty ein lyrisches Beispiel. Es macht zugleich deutlich, dass mit der Unterbrechung einer spezifischen Wahrnehmung, die bereits ein intentionales Verhältnis (hier: leib-weltlicher Chiasmus) etabliert hatte, notwendig der »Erwerb« eines anderen, weiteren Wahrnehmungschiasmus verbunden ist. Merleau-Ponty: »Ich glaubte auf dem Sand ein durch Meerwasser geglättetes Stück Holz zu sehen, aber es war eine Klippe aus Tonstein. Das Platzen und Nichtigwerden der ersten Erscheinung berechtigt mich nicht, das ›Reale‹ fortan als das schlicht Wahrscheinliche zu definieren, denn dies sind nur andere Namen für die neue Erscheinung, die in unserer Analyse der Des-illusionierung vorkommen muß. Die Des-illusion ist nur deshalb Verlust einer Evidenz, weil sie Erwerb einer anderen Evidenz ist.« (MP SU/63)53 Demgegenüber allerdings wird Virilio – inklusive eines Cezanne-Zitates54 – die Krise der Wahrnehmungsdauer in den Blickpunkt rücken. Das Beispiel der Pyknolepsie dient ihm als Gleichnis für die Wahrnehmungsweise unter medienapriorischen Bedingungen. Während Merleau-Ponty das Moment des Augenblicklichen im Augen-Blick der Verkreuzung von (Leib-)Wahrnehmung und Welt erörtert, pointiert der Phänomenologe des modernen Alltags, Walter Benjamin, im Kunstwerk-Aufsatz die geschichtliche Relativität der Sinnlichkeit und deren Bezug zu den sich weiterentwickelnden Kunstbzw. Medienformen. Benjamin schreibt: »Innerhalb großer geschichtli-

53. Stil und Programm Merleau-Pontys erinnern im Übrigen hier und an zahlreichen anderen Stellen an Husserl, wenn dieser seine Wahrnehmungen der »natürlichen Einstellung« schildert. Bspw. in: (Hu 5/56ff.). 54. Die deutsche Ausgabe setzt auf den Klappentext das Zitat: »Man muß sich beeilen wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.« 112

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cher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt.« (B I/478) Diese geschichtlich bedingte Sinneswahrnehmung hatte nun aber durch die Entstehung der Reproduktionstechnologien eben jenen viel beschworenen »Verlust der Aura« erlitten, jenes Zustandes also, in dem das Hier und Jetzt in unverkümmerter Weise zur Anschauung kam. Den Wandel dieses nahtlosen »In-der-Welt-Seins« als geschichtskulturell relevant und als Politikum formuliert zu haben, macht – jenseits der virilioschen DenkLinie des Nihilismus (s.u.) – das benjaminsche Denken aktuell. Der Wunsch, sich der Welt erinnernd und entwerfend zu versichern, ist laut Benjamin »leidenschaftliches Anliegen« der so genannten »Massen«: »Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden. Und unverkennbar unterscheidet sich die Reproduktion, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau sie in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jener.« (B I/479) Das ist die unablässige Suche nach einer ursprünglichen Erfahrung im »öffentlichen Bild« (Virilio) – gerade auch so ergibt das benjaminsche Wort der auf Reproduzierbarkeit hin angelegten Reproduktion Sinn und erhellt die Notwendigkeit der Analyse der medialen, historisch-imaginativen Konstitution von Kultur. Der Beitrag Merleau-Pontys hierzu beläuft sich auf die genannte Radikalisierung des Wahrnehmungsbegriffes angelegentlich des LeibWelt-Chiasmus. Das ließ sehen, dass erstens Wahrnehmung im Leib stattfindet, zweitens Wahrnehmung von Welt leiblich prozediert und drittens der Leib weltlich ist, d.h. in der Welt wahrgenommen wird. Welt und Leib sind miteinander vernäht, besser: werden vernäht in der Wahrnehmung und durch die Wahrnehmung eines produktiven (leiblichen) Sehens, das die Textur der Welt er-blickt. Das Sichtbare wird mit dem Sehen poietisch er-tastet – abtastend gezeichnet. Damit wird Merleau-Pontys Distanz zu polaren Theorielösungen deutlich: Sehen ist weder bloß determinierte Deutung substanzieller Eigenschaften der res extensa (Descartes), noch visionär-semantische Übersetzung des göttlichen Wortes bzw. Willens (Berkeley) und auch nicht Konstitutionsprozess eines sinnenfälligen Eidos im Rahmen methodischer Eidetik (Husserl).55 Denn in diesen Theoremen ist das Se-

55. Siehe zur Verortung Merleau-Pontys in diesen Theoriekonstellationen den genauen Aufsatz von Santos: José M. Santos, »Die Lesbarkeit der Welt und die Handschrift des Auges. Zu Merleau-Pontys Phänomenologie des Sehens«, in: Blick und Bild im 113

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hen nicht als eine poietische Größe konzipiert. Deshalb gilt es hier insbesondere zu beachten – denn anders wird es bei Virilios Relationierung von Wahrnehmung und Medientechnik sein: Weder geht der Wahrnehmende voll im Sehen auf, noch geht das im Sehen zum Sichtbaren Gewordene in Gänze in den Wahrnehmenden über. Das wäre ja die Synthetisierung der Dialektik des Sehens, wie sie oben als »Dialektik ohne Synthese« angesprochen wurde, und hätte das Verschwinden von entweder Leiblichem oder Sichtbarem im Moment gerade seines Entstehens zur Konsequenz – und damit des (poietischen) Sehens schlechthin. Merleau-Ponty markiert seinen Punkt folgendermaßen: »Gegeben sind also nicht etwa mit sich selbst identische Dinge, die sich dem Sehenden im nachhinein darbieten würden, und ebensowenig gibt es einen zunächst leeren Sehenden, der sich im nachhinein öffnen würde, sondern gegeben ist etwas, dem wir uns nur nähern können, indem wir es mit dem Blick abtasten, Dinge, die wir niemals ›ganz nackt‹ zu sehen vermöchten, weil der Blick selbst sie umhüllt und sie mit seinem Fleisch bekleidet.« (MP SU/173) Im Moment sieht der Blick das Sichtbare im Leib der Welt. Dieser sinnliche Blick-Leib wird weder aus einem prästabilierten Begriffs-Archiv für den Augenblick terminologisch als intentionaler Begriffs-Leib zusammengestellt, noch ist das Sehen restitutiv zu Gange. Beides wäre die Erfahrung identitärpräsenter Gegenwartsvisibilitäten. Das Tastende des Sehens verbleibt in der Näherung an das, was gegeben ist – und das stets. Die Stetigkeit der Nahheit verstellt als diese und für sie die Möglichkeit einer pur kongruenten Gegenwart. Sie bleibt grundsätzlich das Unsichtbare, virtuell, denn mit dem ›nur‹ tastenden und nähernden Blicken geht notwendig ein zeitlicher Aufschub der Erfahrung dieser je und je er-blickten Welt einher. Denn dass die Dinge uns wegen unseres Blicks (bzw. durch ihn) nur bekleidet begegnen heißt ja auch, dass sie im Blick erfahren werden und nicht absolut. So sind sie jeweils Zeiterfahrung einer näherungsweisen Gegenwart des Sehens. Der zeitliche Aufschub der Erfahrung des Gegebenen, wie er sich entlang der Bekleidung der Dinge im Blick ergibt, ist das Unsichtbare – und insofern das leibliche Sehen Medium der Sinnlichkeit ist, ist es der Riss im Sinnlichen und damit in der Zeiterfahrung. Wie lautet Virilios Beitrag zu einer Kulturtheorie der Sinnlichkeit? Virilio führt schon mit der Nutzung des (Kinder-)Krankheitsbildes der Pyknolepsie – als Möglichkeit des medialen »Ungehorsams« gegenüber einer technisch induzierten »Ästhetik des Verschwindens« nämlich – zweifelhafte Dichotomisierungen von Wahrnehmung und Technik ein. Denn: Erstens vergibt er sich mit der Theorie einer »Lo-

Spannungsfeld von Sehen, Metaphern und Verstehen, hg. v. Tilman Borsche, München: Fink 1998, 63-94. 114

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gistik der Wahrnehmung«, die auf der Dichotomie von zersetzender Medien-Technik und zersetzter, vermeintlich natürlich-essenzieller, sinnlicher Wahrnehmung eines hic et nunc beruht, die Chance, sich – mit Benjamin bspw. – auf den Weg zu einer Medientheorie zu machen, die das Verhältnis von Wahrnehmung und kulturtechnischer Entwicklung als ein für Welt-Habe und Zeiterfahrung korrelatives und gerade anthropologisch-imaginär notwendiges erweist.56 Zweitens und lebensweltlich relevanter folgt aus den virilioschen Konstellationen eines Beschleunigungs- bzw. Echtzeit-Krieges der Medienmaschinen gegen den Menschen die technische Perfektion einer nihilistischen Welt, in der – jetzt wieder auf Theorieebene – den Menschen kein Zeit-Raum des kulturellen Agierens mit Medien bzw. Technik (mehr) eingeräumt ist. Das wird in der Folge am Phänomen der »Echtzeit« noch deutlich werden.57 Mit der Ausbreitung der Übertragungsmöglichkeiten unserer Welt-Bilder in Lichtgeschwindigkeit überantwortet der Mensch sich demnach einem Wahrnehmungsdispositiv, das nicht mehr auf die relationale physische Abhängigkeit von Raum und Zeit angewiesen ist. Dieses neue Dispositiv aber ist ›zu schnell‹ für den Menschen, es stellt ihn in ein Jenseits der Ereignisse und konfiguriert mittels des technischen Dispositivs, was ein Ereignis ist. Und dass die Ereignisse nicht mehr am leiblichen Ort stattfinden hat zur Folge, dass die Dinge nicht mehr in ihrer stofflichen Eigenart in Erscheinung treten, sondern »umso mehr präsent sind, je mehr sie sich verflüchtigen und dem Bewußtsein entziehen.«58 Das ist die »Ästhetik des Verschwindens«: Ausdruck einer Realität der »Automatisierung der Wahrnehmung« und »Industrialisierung des Sehens«, der die »die Erfindung eines künstlichen Sehens, die Delegierung der Analyse der objektiven Realität an eine Maschine« bevorsteht (V Se/136). Mit der Ästhetik des rasenden Verschwindens geht aber auch eine Stillstellung einher. Und auch dies denkt Virilio wieder ganz konkret, mit der Bindung von technischer Entwicklung, Lebensraum und Körperlichkeit. Die Abkehr vom Nomadentum hat die Menschen in Städten sesshaft werden lassen. Darüber täusche auch das scheinbare

56. Das aktuelle Programm hierzu heißt wohl »Historische Anthropologie der Medien«. Siehe hierzu bspw.: Wolfgang Müller-Funk u. Hans Ulrich Reck, Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, Wien/New York: Springer 1996. Oder auch: Hans Belting, Bild-Anthropologie, München: Fink 2001. 57. Auf impomierende Weise dokumentiert ein Band des »Kunstforums« das Verhältnis von Krieg und Ästhetik, Bildhaftigkeit und Medialität: Kunst und Krieg, hg. v. Florian Rötzer u. Sara Rogenhofer, Kunstforum International, Bd. 165, Juni-Juli 2003, insbes.: 36-201. 58. Virilio, Interview, a.a.O., 1986, 155. 115

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gegenwärtige Nomadentum der Autofahrer nicht hinweg, so Virilio. Die digitalen audiovisuellen Medien setzen den Grenzpunkt dieser Entwicklung zur Bewegungslosigkeit, indem sie die Notwendigkeit der körper- und sinnlichkeitsgebundenen Kommunikation und Präsenz in realer Zeit und realem Raum durch ihre simulierte Verdopplung ersetzen. Existenzsicherung scheint fortan nurmehr durch unablässig flutende Bilderwelten gewährleistet. Die entscheidende Frage lautet nun nicht mehr »Wer bin ich wirklich?«, sondern »Wo befinde ich mich jetzt?«. Denn im Liniengeflecht (Deleuze) des Mediendispositivs ist Bewegungslosigkeit nur ein anderes Wort für die Vermischung von Innen und Außen, der Unsicherheit des Raums und der Unbestimmtheit sinnlicher Zeiterfahrung. Wie McLuhan nutzt auch Virilio die Metapher der »organischen Konstruktion« (Jünger) von Mensch und Maschine. Im »letzte[n] Vehikel«, der bildgebenden »Sehmaschine«, bewegt der Mensch sich bewegungslos fort und lebt so im Entzug sowohl des ehemals ihm äußeren Raumes als auch ohne eigene Innenwelt, die ja gerade durch sinnliches Erfahren medial-unverstellter Wirklichkeit bedingt wäre. Das Ge-Stell der »Sehmaschine« ist das dem Menschen souveräne Subjekt – sie entscheidet über die Gesetze der Gastfreundschaft und macht ihn zu ihrem »Reisenden ohne Reise«, zu einem »Passagier ohne Passage« (V RST/152). Zum einen kommen Daten als mediale In-Formationen stets und stetig auf den Menschen zu, zum anderen begibt sich der Mensch in technische Infrastrukturen, die ihn rasend aber stillstehend (stillsitzend) durch den Raum bewegen – wie auch immer: Dass Daten sich in Echtzeit präsentieren und der Mensch geschwind bewegt wird, wird fortan das Zugrundeliegende seiner Existenz bleiben. Die Bedingungen dieser Horizontlinie vermag er nicht zu übersteigen. Die Beschreibung dieser perzeptiven und gesellschaftlichen Situation erinnert an Jüngers Modell des totalen Arbeitscharakters: Der Mensch ist konfrontiert »mit einer statistischen Sicht der Welt, in der wir verortet sind durch Technologien, durch wissenschaftliche und technische Entwicklungen.« (V DrK/143) Doch müsste Virilio eine Wirklichkeit des Stillstandes, in der es nichts mehr ist mit dem rasanten Echtzeit-Furor, nicht eigentlich recht sein?

Transpolitik und Öffentlichkeit Virilios Beschäftigung mit dem Zusammenhang von technisch-medialem Fortschritt und Krieg sowie seine Strategie, von hier aus zu argumentieren, lassen die genannten »Entwicklungen« noch härter erscheinen.59 Die in Kriegen verwendeten Transmissions- und Bildtech-

59. In dieser Perspektive rückt er nahe an den Ansatz Kittlers heran. Siehe dazu auch den Internet-Text von 1995: Die Informationsbombe. Paul Virilio und Friedrich 116

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nologien bilden für Virilio einen Generalschlüssel zum Verständnis der von ihm in den Blick genommenen Vorgänge: die medientechnologische und -temporale Analyse des Krieges als Hintergrund zu nutzen, darauf seine Interpretation der Auswirkungen der Geschwindigkeitsrevolutionen auf Politik und Gesellschaft abzubilden. Seit dem zweiten Golfkrieg ist, laut Virilio, klar: Bei der Kriegsführung handelt es sich nicht mehr um taktische Verteidigung oder strategische Besetzung eines geografischen Areals. Der postmoderne Krieg ist einer um Informationen, um die perfekte Nutzung digitaler Kybernetik, die nicht nur sämtliches zum Einsatz kommendes militärisches (sic!) Gerät alliiert, sondern ebenfalls das Bild dieses Einsatzes liefert (V ED/18f.)60 – je nach Seite des Freund-Feind-Diastemas entweder simulativ-cachierende oder informierende Bilder. So entsteht mittels der kriegerisch genutzten IuK-Technologien eine Ebene des Transpolitischen. Diese bewirkt einen Riss zwischen dem realen Ereignis und dessen bildhafter, aufklärerischer Unmittelbarkeit. Das Transpolitische ist eine Matrix, die das reale Ereignis in der elektronischen Information aufgehen lässt. So liegt mit der durch die Möglichkeiten der medienlogistischen Kriegsführung entstandenen Transpolitik gerade keine Täuschung mehr vor, sondern die Darstellungsbedingung des Ereignisses sinnfälliger Wahrnehmung per se.61 Politik und Gesellschaft sind in ihren aufklärerischen Konzepten (z.B. dem der Öffentlichkeit) durch das militärische Denken und dessen perzeptionskonstituierendem Dating verseucht – mit der ubiquitären62 Kriegs-

Kittler im Gespräch. Online: Internet ›www.dds.nl/~n5m/texts/gespraec.htm‹. Hierzu wiederum die genauen Erörterungen und Einwände von Georg Christoph Tholen: »Ende des Menschen? Nächtliche Assoziationen zum ARTE-Gespräch zwischen Paul Virilio und Friedrich Kittler«. Online: Internet ›www.uni-kassel.de/wz2/mitglieder/tholen/dateien. htm‹. 60. Michael Wetzel fasst diesen Aspekt so zusammen: »Die relative Geschwindigkeit des Transportes und des Einsatzes der Waffen ist der absoluten Geschwindigkeit telekommunikativer Überwachung und Steuerung des Kampfes gewichen.« Michael Wetzel, »Paradoxe Interventionen. Jean Baudrillard und Paul Virilio: Zwei Apokalyptiker der neuen Medien«, in: Baudrillard. Simulation und Verführung, hg. v. Ralf Bohn u. Dieter Fuder, München: Fink 1994, 139-154, hier: 149. 61. Zum Aspekt der »Täuschung«, siehe bes.: (V Se/150ff.) und Virilios Auseinandersetzung mit dem Thema gegen Ende der 90er Jahre im Kontext der BalkanKriege. Hierzu den in einem Band publizierten Doppel-Essay: Information und Apokalypse – Die Strategie der Täuschung, übers. v. Bernd Wilczek, München: Hanser 2000. 62. Kirchmann kritisiert Virilios Container-Modell einer direkten und totalen Übertragung von in militärischen Zusammenhängen entwickelten Technologien in die Medialität der Gesellschaft (z.B. Kino) mit Bezug auf Virilios These des Auges als Waffe. Siehe: Kirchmann, a.a.O.,1998, 136-154. Siegfried Zielinski sei in diesem Zusammen117

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Technologie entzieht sich das Transpolitische auch dem (traditional notwendigen) demokratischen Handeln im öffentlichen Raum, da dieser in die Bewegungsausfällungen der Medien- bzw. Kriegs-Technologie aufgeht. Christoph Asendorf, der am Phänomen des »Luftkriegs« die Veränderung von Raumkonzepten durch Kriegsführung analysiert, fasst exemplarisch zusammen: »Der Luftkrieg findet, ohne daß er deswegen weniger Opfer fordert, in virtuellen Räumen statt, deren ephemere Grenzen allein vom Fluß der Energien geschaffen und wieder gelöscht werden. Die Kammhuber-Linie indiziert, genau wie die Home Chain, nicht nur eine Wandlung des Kriegsraums, den Übergang von der Fortifikation zum immateriellen Schirm, sondern des Raumbegriffs überhaupt.«63 Asendorf spricht sinnvollerweise von der Wandlung des Raum(-Begriffs), bei Virilio aber – seinem temporalbetonten Modell der Ästhetik des Verschwindens parallel – »verschwindet« gleich der gesamte öffentliche Raum hinter einem omnipräsenten Bild.64 Wie, so Virilios apokalyptischer Zweifel, sollte die kulturelle Praktikabilität von demokratischer Öffentlichkeit noch möglich sein angesichts einer Zeitlichkeits-Erfahrung, deren Geschwindigkeit nicht von Menschen, sondern von Maschinen hervorgebracht und strukturiert wird? »Mit dem Transpolitischen beginnt das Politische zu verschwinden und seine letzte Lebenssphäre: die Dauer. Demokratie und Diskussion, die Grundlagen des Politischen, brauchen Zeit. Die Dauer gehört zum Wesen des Menschen. Der Mensch schreibt sich in sie ein. Das Transpolitische ist für mich der Anfang vom Ende.« (V DrK/32) Summum malum:

hang zur Lektüre empfohlen, da hier die Relativität der Bezüge Militär – Medien in historischem Nachvollzug erhellt wird. Siegfried Zielinski, Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989. 63. Christoph Asendorf, »Luftkrieg und Raumrevolution«, in: Platons Höhle. Das Museum und die elektronischen Bilder, hg. v. Michael Fehr, Clemens Krümmel u. Markus Müller, Köln: Wienand 1995, 121-138, hier: 133. 64. Dass mit dieser medialen Allpräsenz erstens ein ›abgelichtetes‹ Ereignis gerade nicht zu einem ›erfahrenen‹ wird und – vor allem – zweitens mitnichten ein Krieg nicht stattfindet, bleibt bei Virilio seltsam unterreflektiert. Die fatale Konsequenz daraus ist für Kirchmann Virilios »strikt hermetische Privatmythologie«: »Sehen und Erblicktwerden [ist] nicht die entscheidende Dimension der realen Kriegsführung, sondern Virilio empfindet die Vorstellung des Gesehenwerdens als Kriegshandlung, und diese Bedrohungspotenz wird im Zeitalter von Aufklärungssatelliten, Infrarot-Optiken und mikroskopischer Photographie natürlich ins Extrem übersteigert. Nur deshalb also sind der Dromologie alle Sehinstrumente Waffen, weil jedes optische Instrument die von Virilio ohnehin schon als lebensbedrohlich empfundene Gefahr des Erblicktwerdens nochmals erhöht.« Kirchmann, a.a.O., 1998,158. 118

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Die mediatisierte65 Existenzweise schließt die (Möglichkeit der) Lebenswelt eines realen Ortes aus. Der frühere öffentliche Raum hat sich gewandelt in das »öffentliche Bild«.66 Was der Urbanist Virilio »Telecitta« nennt, wird man als die imaginäre Gesamtheit jenes öffentlichen Bildes verstehen können – einer »Stadt der Telekommunikation« nämlich, die abstrakt bleibt und immateriell ist. »Die neue Stadt ist also im Bild selbst; die neue Urbanisation ist in den Plänen, in der Montage, den Programmen und ihrer Ausstrahlung. Eine Megapole visuellen Charakters, der die neue Form der Stadt ist. […] Es gibt also rund um die Welt eine Art gleichzeitigen Zusammenseins, wenn das öffentliche Bild den öffentlichen Raum verdrängt.«67 Bewegung ist hier der Parameter, der Ereignisse erzeugt und solange die Geschwindigkeit dieser Bewegung – historisch gesehen – niedrig genug war, unter den Bedingungen des Körpers wahrgenommen werden zu können, konnte der Mensch den für ein »natürliches soziales Relief« (V EK/16) notwendigen kommunikativen Abgleich zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung herstellen.68 Ganz anders im öffentlichen Bild: Dieses versammelt die Menschen in einer von ihm vorgegebenen Zeit- und Darstellungsstruktur der Tele-Kommunikation. Hinsichtlich der Zeitlichkeit dieser Kommunikationserfahrungen ist das bereits angesprochene Phänomen der »Echtzeit« von zentraler Relevanz. Hier ist die Vorstellungs-Responsivität der informierenden Daten so gesteigert, dass die Differenz von Hier/Ich und Dort/ Anderer in ein räumlich ausdehnungsloses Jetzt diffundiert.69 Auch Darstellungs- und Wahrnehmungsstrukturen sind einem Morphing des Hier-und-Jetzt-Verhältnisses ausgesetzt: Mediale Wahrnehmung, radikalisiert in der Körper-Erfahrung im Cyberspace, geht mit einer monsterhaften Veränderung einher. Der Augapfel wächst derartig an, dass er den Körper wie einen Kokon in Gänze um- und einschließt. Dazu Virilio: »Indem die fraktionierten Dimensionen des kybernetischen Raums die Einheit des Seins zerschlagen, ermöglichen sie die Übertra-

65. Virilio erinnert daran, »dass MEDIATISIERUNG ursprünglich das Gegenteil der KOMMUNIKATION war, ein Überbleibsel der feudalistischen Barbarei und des antiken Ostrazismus. Bis zum 20. Jahrhundert bedeutete MEDIATISIERT zu sein wörtlich, seiner UNMITTELBAREN RECHTE beraubt zu sein.« (V EK/14) 66. Dazu: Paul Virilio, Interview, in: Kunstforum International, Bd. 108, Juni/ Juli 1990, 89-93, hier: 90. Und: (V Se/81-108). 67. Kunstforum, Bd. 108, a.a.O., 1990, 90. 68. Dass es das Absenzproblem von »Lebenswelt« angesichts der Technik auch bei Husserl schon gibt, diskutiert: Junichi Murata, »Wissenschaft, Technik, Lebenswelt«, in: Husserl Studies 4, Dordrecht: Martinus Nijhoff 1987, 193-208. 69. Davon wird unten nochmals zu sprechen sein. 119

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gung des Inhalts unserer Empfindungen auf ein nicht greifbares Double und beseitigen mit der Unterscheidung zwischen innen und außen zugleich das hic und nunc der unmittelbaren Handlung.« (V EK/160) Die Wahrnehmungsorganisation von Sichtbarem und Unsichtbarem (Merleau-Ponty) obliegt den technischen Bedingungen des Zeitrahmens von Datenverarbeitung und -produktion – womit wiederum die bis zur Echtzeit steigerbare Beschleunigung der Datenübertragung (schlechthin: Geschwindigkeit) als das Subjekt des Blicks und des Bildes sich erweist. Die viriliosche Diagnose der gegenwärtigen Entwicklungen spricht also kein positives Urteil über die Möglichkeiten der Weiterentwicklungen des gesellschaftlich-politischen Lebenszusammenhangs der Menschen. Denn dieser ist – und diese Kausalität muss man nicht als hinreichend akzeptieren – neben seiner kriegstechnologischen und dromologischen Prägung zunehmend virtuell basiert.70 Der Mensch verliert mit diesem Entzug des konkreten Bezugs auf Raum und Zeit auch die Möglichkeit politisch-kritischen Handelns. Denn die ›Ersetzung‹ des öffentlichen Raums durch das »öffentliche Bild« besagt, »daß die materielle, geographische und geometrische Seite des Ortes, des Platzes, der Szene zunehmend von einer ikonographischen Dimension des öffentlichen Bildes ersetzt wird. Das öffentliche Bild tritt in der Realzeit an die Stelle des öffentlichen Platzes. Die Repräsentation wird wichtiger als das tatsächliche Geschehen.« (V öB/354) Den viel beschworenen Zugang zur »Informationsgesellschaft«, der eine neue Demokratisierung mit sich führe, deutet Virilio insofern als zunehmende Monopolisierung der Macht über das Bild unserer Welt. Er nennt das auch die »Homogenisierung der Zeit« (V F/117) hin zu einer »Echtzeit«, durch die die Bedingungen der Demokratie, also der Möglichkeit der Teilung der Entscheidungsgewalt, unterminiert werden. Dies durch die Bedingungen einer Technokratie, in der Entscheidungen in technisierten Zeit- und transpolitischen Organisationsformen getroffen werden.71 Und wenn »Entscheidungen mit Lichtgeschwindigkeit gefällt werden, kann es keine Demokratie mehr geben. Die Technik verändert den Zeithorizont menschlicher Handlungen so radikal, daß er jenseits der Überlegungen liegt. Von dem Moment an, wo das System wie eine Endlosschleife funktionieren und ohne den Menschen auskommen kann, treten wir in die Zivilisation des feed back ein.«72 Diese Rück-

70. Zur Problematik des semantischen Feldes von »virtuell« später mehr: Kapitel »Simulation«, der Exkurs: »Möglicherweise virtuell«. 71. Zum spezifischen Problem der polizeilichen Erfassung des individuellen und der Überwachung des öffentlichen Bildes (und inwiefern das mit den Techniken der bildenden Künstler des 19. Jahrhunderts zu tun hat), siehe: (V Se/81-108). 72. Virilio, Revolutionen der Geschwindigkeit, 1993, a.a.O., 37. 120

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kopplung ist die endlose Generierung immer neuer (Zeit-)Horizonte, die im öffentlich-technischen Bild erscheinen können, weil sie auf den technischen Verfahren einer »Ästhetik des Verschwindens« basieren: dass es Programmen zu eigen ist, Informationen (Zeichen) sowohl zu generieren als auch zu löschen. Wir nähern uns damit der Linie des virilioschen Denkens!

Demut! Demut? »Was sollen wir erwarten, da wir nicht mehr warten müssen, um anzukommen?« fragt (sich) Paul Virilio (V NH/155). Was hätte Ernst Jünger darauf geantwortet? Sicher hätte er das Paradox der Gleichzeitigkeit von Bewegung und Stillstand in der Frage bemerkt. Und vielleicht hätte er mit einem Gedanken aus dem Zeitmauer-Essay darauf hingewiesen, dass diese technizistische Erstarrung wohl Anzeichen für das Ende eines menschengeschichtlichen Zyklus ist, der als Neuanfang nur mit der Orientierung auf noch nicht fixierte, erdgeschichtliche Kategorien zurückgelassen bzw. überschritten werden kann. Virilio aber antwortet: »Wir werden die Ankunft des Bleibenden erwarten« (V NH/155). Muss das pejorativ gedacht sein? Nicht zwangsläufig. Die Gedankenfigur könnte ein Zeit-Modell ausdrücken, dass gerade die stete Produktion von kontingenter Sinnhaftigkeit hervorhebt. Oder, mit Benjamin, könnte hier messianisch ausgedrückt sein, dass die Ankunft des Messias nicht Ziel, sondern Ende der Geschichte bedeutete, und aus dieser Bestandsaufnahme gerade ein offenes Geschichtsmodell sich entwickeln ließe, das das materialistische Schreiben der Geschichte als ihr eigenes Archiv begreift. Doch Virilio meint anderes: Der geschichtliche Verlauf ist markiert durch irreversible und teleologische, technisch induzierte Beschleunigungsschübe des menschlichen Lebens und dessen Sozialität. Mit dem Übergehen der Wahrnehmbarkeitsbedingungen von Welt vom menschlichen Körper und seiner Sinnlichkeit an Medien, obliegt es seither den technischen Matrizes, Zeitlichkeit und in eins ›Sinn‹ zu generieren und zu reproduzieren. Diese Sinnhaftigkeit ist, laut Virilio, keine humane (mehr), weil sie keine in unmittelbarer oder a-medialer Wahrnehmung geborgene, keine substanzielle (V Se/ 41) (mehr) sein kann – die Welt-Geschichte findet ihr zwangsläufiges (vor-programmiertes?) Ende, da ihre Wirklichkeit nicht mehr gesehen (Körper-Realität), sondern visualisiert (Bild-Realität) wird. Sie nahm ihren Anfang im Licht Gottes, erreicht die Zielgerade mit der Moderne und den foto- und kinematografischen Erfindungen und stößt an die Ziel-Linie in unserer Gegenwart: dem Zusammenzucken räumlicher und zeitlicher Ausdehnungsmodi und -varianzen ins technisch-mediale Korsett des real-time-processing. Nie war die Welt so schnell wie heute – und damit steht sie still, in Echtzeit. Die Ziel-Linie ist zwar erreicht,

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kann aber nicht passiert werden, da es dem Menschen nicht mehr zukommt, deren Jenseits, das Über-die-Grenze-hinaus zu entwerfen.73 Quasi paradox:74 Trotz der diagnostizierten Undurchsichtigkeit der Sichtbarkeit des medialen Echtzeit-Bildvorhangs, zieht Virilio nicht die (theoretische) Konsequenz, die Annahme einer präexistenten und medial unberührten Wahrnehmungs-Wirklichkeit aufzugeben. »Genausowenig wie die echtzeitliche Perspektive des Ereignisses im Quadrat des Bildschirms der Perspektive des realen Raumes der Horizontlinie entspricht, entspricht der Augenblick des Live-Empfangs, des ›echten Augenblicks‹ dem gegenwärtigen, alltäglich gelebten Augenblick, sondern einem Augenblick, der gerade durch die Unmittelbarkeit verfälscht wird. Mit dem tele-präsenten Augenblick ist es in der Tat nicht unbedingt die Nachricht selbst, die falsch oder unzuverlässig ist, sondern der Zeitraum ihres Empfangs.« (V KF/48f.) Gerade also mit der Verschränkung der (medialen) Wahrnehmung eines Ereignisses und dem Modus seines zeitlichen In-Erscheinung-Tretens (Echtzeit) bleibt hier unbezweifelbar bzw. unbezweifelt, dass die Echtzeit-Medialität ein in jedem Wahrnehmungsfall verfängliches Netz ist – und das erinnert erneut an die Varianten der metaphoralen Organ-Projektions-These von Kapp über McLuhan, de Kerckhove bis hin zum zeitgenössischen Diskurs über Cyborgs. In diesem Sinne auch Virilio: Die Echtzeit-Ästhetik des Verschwindens ersetzt den »Pseudo-Zustand rationalen Wachseins durch den künstlichen Zustand paradoxen Wachseins […]; man bietet den Menschen eine Unterstützung, die inzwischen subliminal geworden ist, d.h. unterhalb der Bewußtseinsschwelle funktioniert.« (V ÄV/47) Gibt Virilio sich und uns also verloren oder hält er noch eine Trumpfkarte im Ärmel? Was wäre der normative Hintergrund seiner sowohl ethisch-theologisch anspruchsvollen Medienkritik als auch apokalyptischen Diagnostik? Ist Virilios Denken ein postmodernes Beispiel für Jüngers Diagnose, dass wir heutzutage den Nihilismus erstmals als Stil erleben? (Jü ÜdL/265) Oder versucht Virilio vielmehr, jenseits seiner Beschleunigungsthese, Jüngers Begriff und Vorstellung vom Rettenden der Urbilder und der Urgeschichte zeitgenössisch wei-

73. Zum Moment des Apokalyptischen darin, siehe: Kirchmann, a.a.O., 1998, 168-186. 74. Oder ist das Verhältnis von theoretischer Diagnose und dem Beharren auf einer – nur verschütteten – ersten Realität in Virilios Argumentationsgängen gar »schizophren« zu nennen? Zu einer so weitgehenden Pathologisierung sollte es nicht kommen – man könnte meinen, dass schon Kirchmann (s.o.) mit seiner Kriegs-Trauma-These zu weit geht –, gleichwohl wird die unleugbare Differenz von theoretischer Aussage und Schriftkörper, die den Textkörper Virilios in Dynamik und Gang hält, in der Folge von der virilioschen Echtzeit-Deutung zur Text-Zeit-Dekonstruktion Derridas führen. 122

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terzudenken – sie hinter dem Schleier der von ihm als höchstbeschleunigte Medienwelt charakterisierten Epoche doch noch zu entdecken? Jünger schrieb über das Verhältnis von Urgeschichte und Geschichte: »Das ist der Sinn der Urgeschichte überhaupt: das Leben in seiner zeitlosen Bedeutung darzustellen, während es durch die Geschichte im zeitlichen Ablauf geschildert wird. Urgeschichte ist daher immer die Geschichte, die uns am nächsten liegt.«75 Um eine Ahnung davon zu erhalten, welche Größe bei Virilio dennoch die Funktion einnehmen könnte, die bei Jünger die Referenz auf die urgeschichtlichen Ideen hatte – nämlich die Transgression, die Passage des Nihilismus zu ermöglichen –, lohnt es sich, nochmals eine Interview-Äußerung Virilios zu hören. Gefragt, ob mit seinem Denkstil der Mimesis am Vorhandenen nicht die Möglichkeit der Kritik verloren ginge, antwortet Virilio: Er schätze sein Denken schon als kritisch ein, aber gleichwohl würde er es sich zugute halten, keine Lösungen anbieten zu können, da diese auf dem »illusionistischen Charakter des totalisierenden Denkens« aufbauten. »Es gibt die ›schöne Totalität‹, wie Hegel es nannte, nicht mehr – es sei denn, in Gott«. Natürlich überrascht gerade der Nachsatz. Das scheint auch dem Fragesteller im Interview so ergangen zu sein. So stellt er die Frage nach den Möglichkeiten eines anderen, der strategisch-militärischen (man könnte hinzufügen: und medialen) Rationalität entgegengesetzten Denkens, oder auch einer Ethik. Die Frage endet mit einem Hinweis auf Heidegger: »Oder kann uns nur noch, wie Heidegger meinte, ein Gott retten?« Virilios darauf folgende Aussage könnte ebenso die Antwort auf die Frage sein: Was glauben Sie, bedarf es, um die Linie des Nihilismus zu überqueren? Er sagt: »An dieser Stelle muß ich bekennen, daß ich Christ bin und daß ich dem Nichtchristen Heidegger zustimme. […] Wir brauchen heute eine praktikable Demut, nicht die harmlose und gottgefällige Demut der Heiligen, sondern eine radikale wissenschaftliche und philosophische Demut. Wir sind nichts. Die Totalität wird uns immer unzugänglich bleiben. Ein Philosoph, ein Wissenschaftler, der sich zu dieser Demut bekennt, trägt zur Rettung der Menschheit bei. […] Ich denke, daß die Zukunft der Menschheit in der Demut liegt.«76 Was ist eine »praktikable Demut«? Eine oft betonte Eigenart von Demut besteht doch gerade darin, sich der Praktikabilität im Sinne einer Nutzbarmachung zu entziehen: Schon Thomas von Aquin hatte ge-

75. Ernst Jünger, Gärten und Straßen, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Stuttgart: Klett-Cotta 1979, 94. 76. Dieses und die vorangegangenen Zitate stammen aus: Virilio, Interview, a.a.O., 1986, 158f. Auch Baudrillard, der laut eigener Aussage viel mit Virilio zusammengearbeitet hat, weist auf die Bedeutsamkeit des Christianismus für Virilio hin. Jean Baudrillard, Paroxysmus, Wien: Passagen, 40f. 123

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zeigt, mit Bezug auf Aristoteles, dass Demut keine Tugend ist. Vielmehr beharrt sie im Feld des Unvollkommenen. Gleichwohl ist hier von Thomas keine dumpfe Irre gemeint. Vielmehr: Zur Demut gehört notwendig auch die Erkenntnis der eigenen Schwäche. Beide Motive dieses Demut-Konzeptes, die – von Gott her sich definierende – Unvollkommenheit und das Erkennen dieser, bleiben seit Thomas in der Demuts-Debatte bis zur heutigen Selbstverwirklichungsethik virulent.77 Und ebenso Virilio: Die Demut ist ihm ein Anliegen, da ihr Erfahrungsraum die schnöde Verfügbarkeit des Menschen für den ökonomischen und technischen Mammon und seine rationale Gewissheit subvertieren kann. Und ebenso, wie es anhand der alten Demuts-Debatte angedeutet wurde, will auch Virilio diese Möglichkeit der Demuts-Erfahrung nicht dem Zufall überlassen – gefragt ist eine Demut des Wissenschaftlichen, der gewussten bzw. erkannten Welt also. So what? – ließe sich fragen. Und die Antwort könnte lauten: »Demut« meint, dass das Ich in einem spekulativen, d.h. spiegelartigen Verhältnis zu Gott steht. Seine Vollkommenheit lässt erkennen, dass diese »Totalität« (Virilio) dem Menschen nicht zur Verfügung steht – doch muss der Mensch angesichts dieses Gottes sich nicht als minderwertig erachten, sondern erkennt in der Demutserfahrung die Güte Gottes, dieses Ich sein zu dürfen. »Gegenüber den – sich nach wie vor auswirkenden – Leiden des übergewichtigen und steifgewordenen modernen Subjekts könnte die Demut in postmoderner Neuauflage […] als heilendes know-how betrachtet werden, welches um seine vergessene Möglichkeit der ›Leichtigkeit des Ich‹ weiss: Im Sinne etwa des Helden Ulrich aus Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹, der sagt: ›Vielleicht gehen wir dann, wenn die falsche Bedeutung, die wir der Persönlichkeit geben, verschwindet, in eine neue ein wie in das herrlichste Abenteuer.‹«78 Eine »praktikable Demut« ist demnach gerade die individuelle und private Entscheidung für sie. Kann das als Des-Illusionierungs-Technik hinreichen? Das Aufsuchen von Ähnlichkeiten in der Welt ist sowohl die denkerische Methodik als auch die theoretische Grundorientierung (Platonismus) Ernst Jüngers, die er als Möglichkeit der Anverwandlung des Naturschönen gegen den gleichmacherischen Fortschritt der neuen Technik und ihre rationalisierenden Vergesellschaftungstendenzen

77. Bspw. die Modelle des »schwachen Subjekts« und des »schwachen Denkens« bei Welsch und Vattimo. 78. Donata Schoeller Reisch, Enthöhter Gott – vertiefter Mensch. Zur Bedeutung der Demut, ausgehend von Meister Eckhart und Jakob Böhme, Freiburg/München: Alber 1999, 21. Die im obigen Absatz vorhergehenden Andeutungen zur Bedeutung der Demut bezogen sich auf die spannenden Ausführungen von Reisch. Zur geschichtlichen Entwicklung der Demuts-Debatte, siehe dort vor allem: 21-44; und den »Anhang« zu Nietzsche: 285-322. 124

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aufwendet. Dazu sei an das Hamann-Motto erinnert, das die zweite Version des »Abenteuerlichen Herzens« einleitet: »Den Samen von allem, was ich im Sinn habe, finde ich allenthalben.«79 Und diese Methodik betreffend deckt sich das zu Jünger Gesagte auch mit dem Vorgehen Virilios. Bei ihm scheinen die in die Texte eingelassenen ›Fall‹Beispiele oft für sich sprechen zu können. Virilio wirkt dann wie ein Sammler von Ereignissen aus der Welt der Illusion, ohne diese weitergehend so auszulegen, dass daraus eine systematisierte bzw. systematische Medienkritik entstünde – für ihn scheinen sich die zahlreich in seine Texte aufgenommenen Beispiele wie von selbst als Krisenphänomene auszudrücken.80 Jenseits aber der methodischen Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten weiß sich Jünger in die »organische Konstruktion« der menschlichen Existenz eingebettet, d.h. also in die Wechselseitigkeit von Natürlichkeit und Künstlichkeit und der von Urgeschichte und Geschichte. Virilio hingegen kommt, je mehr Analogien und Ähnlichkeiten der die wahre Welt verschleiernden Phänomene er benennt, diese Welt desto nachhaltiger in Form der Illusionierung abhanden. Sein des-illusionierendes Rettungsangebot liegt nunmehr in der persönlichen Entscheidung für eine weltlich gedachte Demut – gespeist aus der Einsicht, dass ein Ganzes dem Menschen nicht zur Verfügung steht. Jünger also begibt sich in die Gelassenheit der ihn haltenden »Urgeschichte«, die ihn des möglichen Transits des Nihilismus versichert, und nutzt damit – dies sei, mit Nietzsche, kritisch eingewendet – die idealisierenden Sinnangebote der Geschichte gerade zur sedierenden Verdrängung dieser (im Sinne einer der nietzscheanischen Nihilismus-Deutungen) »Geschichte eines Irrthums«81 der Wiederkehr des ewig Gleichen. Virilio andererseits wird, ohne eine positive Gegenwelt formulieren zu können, zum ungewollten Zeugen vom Entzug und der Vollendung des Verlustes einer von ihm geradezu romantisch evozierten natürlichen Sinnlichkeit und Einbildungskraft.82 Dies zugunsten

79. Ähnliches könnte im Übrigen, zumindest was die Methodik anbelangt, auch für Walter Benjamin gesagt werden. 80. Auch hier ist die Kritik Kirchmanns gnadenlos: »Dahinter steckt mehr als nur mangelnde intellektuelle Disziplin oder methodische Unzulänglichkeit, sondern hier offenbart sich ein Hang zur intentionalistischen Weltauslegung: Virilio ist nachgerade fixiert darauf, in jeder Quelle, jedem Zitat, jedem historischen Material den unumstößlichen Beweis seiner dromologischen Theoreme zu finden, und für diesen Zweck wird der singuläre Referenzpunkt, teilweise hemmungslos, instrumentalisiert.« Kirchmann, a.a.O., 1998, 133. 81. Darüber wird im Kapitel zu Nietzsche noch ausführlich zu sprechen sein. 82. Hierauf weist auch Kirchmann mehrfach hin. Bspw.: Kirchmann, a.a.O., 125

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einer faden Leere medialisierter Echtzeit-Schein-Erfahrungs-BildWelten, eines Stillstandes der Welt und eines Stillstellens des Menschen in medialisierter Geschwindigkeits-Erfahrung. Das ist die andere Variante von Nihilismus, wie ihn Nietzsche als typisch für die Moderne reklamierte, mit einer positiven Deutung versah, und die noch Blanchot83 ausführlich reflektiert: Die Einsicht in die verstörende Faktizität der ewigen Wiederkehr des Gleichen (nicht: Desselben!) lässt sehen, dass Nihilismus ans Sein (Leben) und nicht ans Nichts gebunden ist – nämlich: an die Unmöglichkeit, mit dem Dasein von Sein, also der un-ursprünglichen Produktivität von Leben aufzuhören oder, wie simpel, von hier aus in einen gänzlich anderen Zustand überzugehen.84 In Virilios Worten lautet die Formel für die Unhintergehbarkeit dieser Matrix: »Es ist nicht so sehr der Nihilismus der Technik, der die Welt vernichtet, eher vernichtet der Nihilismus der Geschwindigkeit die Wahrheit der Welt« (V ÄV/78).

Auf der Stelle – Echtzeit Autos sind zum Fahren da, nicht zum Stillstellen. Jean-Paul Belmondo in »Außer Atem« Ernst Jünger stand mit dem Rekurs auf die platonisch verstandene »Urgeschichte« eine Superstruktur bzw. Metatheorie zur Verfügung, die es ihm ermöglichte, im Konstatieren des nihilistischen Zurasens auf einen katastrophischen Nullpunkt nicht stehenbleiben zu müssen, sondern einen gänzlich anderen Zustand jenseits der Linie zumindest entwerfen und als Utopie nutzbar machen zu können. Diese Bezugsmöglichkeit scheint Virilio, nach dem Ende der grands récits, nicht mehr eingeräumt zu sein. Einem potenziellen Vor-Entwurf auf ein Jenseits der »Ästhetik des Verschwindens«, in ein Anderes zur medialen Immanenz, zur Echtzeit-Präsenz bzw. zum »Nihilismus der Geschwindigkeit«, der die »Wahrheit der Welt« vernichtet, bietet die Systematik des virilioschen Theorie-Ansatzes keine Anschlussmöglichkeit. Oder, um diese Konstellationen polemisch zusammenzufassen – und wiede-

1998, 115, 119f., 123. Siehe dazu auch: Ralf Schnell, Medienästhetik. Zur Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart u. Weimar: Metzler 2000, 312. 83. Maurice Blanchot, L’Entretien infini, Paris: Gallimard 1969, bes.: 201-255 u. 394-418. 84. Dieser Gedanke wird von Baudrillard ins Extrem verfolgt und zu einer Art Erkenntnistheorie ausgebaut in: Jean Baudrillard, Der unmögliche Tausch, übers. v. Markus Sedlaczek, Berlin: Merve 2000. Dazu im Kapitel »Simulation« das Unterkapitel »Tausch II – an niemanden: Ein unmöglicher Tausch«. 126

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rum an den Text Virilios anzubinden: Der Rufer in der Wüste namens Kassandra ist in Wirklichkeit ein Hamster im Laufrad. Der bewegt sich im montierten Gestell des Rades und bringt so dessen Drehung hervor: Eine Bewegung, die ins Leere geht – eine scheinbare Fortbewegung, die auf der Stelle steht. Was bleibt, ist die diagnostische Erfassung dessen, was ist, im Inneren des Gegebenen. Was ist das Gegebene, oder: Wirkliche? Es sind maschinell induzierte Zeitstrukturen, die Wahrnehmung in Form medialisierter Sinnlichkeit allererst entfalten – wiederum historisch gesehen entwickelt sich dies entlang einer Beschleunigung der Wahrnehmungsübertragung und der übertragenen Wahrnehmung hin auf ein Höchstmaß, das zur Zeit die Lichtgeschwindigkeit ist. Virilio: »Ich versuche, eine Perspektive darzulegen, die nicht mehr die Perspektive des realen Raumes ist, sondern vielmehr die Perspektive der Realzeit, die Perspektive der Teletechnologien des ›live‹, bei denen die Elektronik Vorrang vor der Optik hat.« (V öB/347)85 Für die Sinnlichkeit bedeutet das die zeitliche Simultaneität von wahrnehmendem und wahrgenommenem Ort – technisch ausgedrückt: Echtzeit. Damit ist angedeutet, dass die Differenz zwischen der Zeitstelle, an der Daten produziert werden, und derjenigen, an der sie rezipiert werden, technisch gegen Null tendiert, aisthetisch Null ist. Hierzu sei unter dem Stichwort »Echtzeitverarbeitung (Real Time Processing)« eine Lexikonbestimmung in Erinnerung gerufen: »Schritthaltende Datenverarbeitung, bei der es zu keinen merklichen zeitlichen Verzögerungen zw. Ein- u. Ausgabe der Daten kommt. Die E. wird dann angewendet, wenn die Daten unmittelbar weiterverarbeitet werden sollen. Bei der E. sind sehr enge zeitliche Schranken gesetzt, in denen die Daten verarbeitet werden müssen. Die entsprechenden Routinen sind sehr zeitkritisch u. werden daher in Maschinensprache programmiert, o. es werden festverdrahtete Schaltungen verwendet.«86

85. Und ebenso dichotomisch in: (V F/54-68). Virilio lässt ästhetische Zusammenhänge, in denen Echtzeit-Verhältnisse wesentlich fürs sinnliche Erfahren sind, vollständig außer Acht – nämlich das weite Feld interaktiver Kunst. Siehe hierzu die Darstellung von Dinkla, die den Kontext historisch und anhand der künstlerischen Beiträge erörtert, und Hünnekens, die die theoretischen Konstituenten systematisiert. Söke Dinkla, Pioniere Interaktiver Kunst von 1970 bis heute, Edition ZKM, Ostfildern: Cantz 1997. Annette Hünnekens, Der bewegte Betrachter. Theorien interaktiver Medienkunst, Köln: Wienand 1997. Formen interaktiver Medienkunst, hg. v. Peter Gendolla, Norbert M. Schmitz, Irmela Schneider u. Peter M. Spangenberg, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. 86. Zitiert nach: Thomas Irlbeck, Computer-Lexikon. Das Nachschlagewerk zum Thema EDV, hg. v. Andreas Patschorke und Christian Spitzner, München: dtv 1998, 262. Arndt Röttgers stellt spezifizierend fest, »dass ›Echtzeit‹ im engen Wortsinn nicht existiert und physikalisch nicht festzumachen ist. Der Begriff stammt aus der Steuerungs127

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Mit diesem Vorrang der Elektronik vor der Optik, wie Virilio sagt, werden die anthropologischen Differenzierungs-Koordinaten Raum, Zeit, Körper-Ich getilgt und mittels aufs Ganze der Wirklichkeit zielender Raum- und Zeit-Simulationen und Körper-Generierungen der IuK- und Bio-Technologien ver-stellt. Die »Ästhetik des Verschwindens« meint hier ein Verschwinden realer Welt – die, laut Virilio, bis zum Beginn der Moderne ein letzter Orientierungspunkt war87 – hinter die in Echtzeit übertragenen Bilder technischer Simulationen. Diese Bildwerdung in der zeitlichen Kategorie der Beschleunigung zu denken, hat bei Virilio zur Konsequenz, das heutige Extrem des Erreichens einer virtuellen Höchstgeschwindigkeit zu konstatieren. Nun bietet sich keine Entwurfsmöglichkeit in ein au-delà dieser Zeit-Erfahrungs-Bedingungen mehr an, es beginnt, laut Theorie, die zitierte Drehung im Kreis, das feed-back der Endlosschleife. Die Entkopplung von zeitlichen Übertragungsverhältnissen und -vorgängen von räumlichen Bedingungen erstens und die mediale Ermöglichung diese Übertragungen in Echtzeit zu bewerkstelligen zweitens, annulieren jede Distanz ins stete, unverzögerte Ankommen (V KF/48). Oben zeigte sich, dass das Ankommende, wie paradox, das Bleibende ist und dem Menschen einzig das punktierte Warten auf es bleibt. Das Bleibende hat als seine – auch: historischen – Momente die Zähmung, Mechanisierung und Codierung, zusammengefasst genannt: die visibilisierende Programmierung dessen, was ist – oder besser: dass etwas (in der Zeit) sei.88 Das Subjekt dessen ist die »Geschwindigkeit«, ihr Modus die Beschleunigung, ihre Ausformungen die zuvor hervorgehobenen Momente. Das in der visibilisierenden Programmierung mithin Gezeigte ist das – tautologisch, wie es im Kybernetischen zuge-

und Regelungstechnik im Zusammenhang industrieller Produktion. Für die von den Teleund Kommunikationsmedien verwendeten Computersysteme lautet die Definition von Echtzeit, dass sie innerhalb einer benenn- und garantierbaren Zeit auf externe Ereignisse (Interrups) reagieren können müssen. Echtzeit heißt hier also nicht, wie von Virilio vorausgesetzt, ausschließlich hohe oder höchstmögliche Geschwindigkeit.« Arndt Röttgers, »In Echtzeit«, in: Dauer – Simultaneität – Echtzeit, Kunstforum International, Bd. 151, Juli 2000, 96-99, hier: 97. 87. In Virilios Texten finden sich häufig solche Historisierungen. Schon die Entwicklung realitätsverändernder bildgebender Verfahren seit der Renaissance findet in dieser Hinsicht seine Aufmerksamkeit, stets aber hebt er die wesentliche Veränderung der Sachverhalte seit Beginn des 19. Jahrhunderts hervor (Fotografie, später bewegte Bilder und Film). Hierzu bspw. das jeweils erste Kapitel von: Die Sehmaschine und Rasender Stillstand. Auch das Interview in: Michael Jakob, Aussichten des Denkens, München: Fink 1994, 113-136. 88. Siehe hierzu auch – mit eigener Pointe – die Ausführungen Sloterdijks zu den »Regeln für den Menschenpark«: Dritter Teil, erstes Kapitel zu Heidegger. 128

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hen muss –, was als Sinnliches ausfällt. Nochmals: Virilios Theoriearbeit erreicht hiermit, ausgehend von der spezifischen Monokausalität einer Beschleunigungs-Macht, die Bildwerdung einer teleologisch argumentierten Ziel-Linie historischer Wirklichkeit, die sich in den Wahrnehmungsartefakten moderner und zeitgenössischer (Bild-)Medien realisiert und eine Transgression aufgrund ihrer Zeit-Struktur (Echtzeit) – selbst im Entwurf – verstellt. Das Bleibende also ist die technische Bewegung der »Ästhetik des Verschwindens«: Die Generierung von industriell gefertigten, Welt simulierenden und die sinnliche Wahrnehmung kodierenden Bildern – dies in einer Zeitform (Echtzeit), die erstens nicht der notwendigen raum-zeitlichen Gebundenheit körperlichen Erfahrens entspricht und zweitens den Prospekt eigener Räumlichkeit gleich mit ins Bild stellt. Jüngers Linie wird demnach bei Virilio zu einem (Zeit-)Horizont, auf den der Mensch mit immer höherer Geschwindigkeit zurast und den er zu überwinden sucht, es aber nicht schafft. Das ist die Denkfigur einer ins Extrem gesteigerten Negativität der Gegenwart (des Augenblicks), die temporale Umkehrung des Paradoxes, das Achill im Wettlauf mit der Schildkröte erlebte: Das Erreichen eines Horizonts erbringt nur die Ankunft eines anderen. Der Mensch ist von der Technik quasi zurückgelassen worden – delokalisiert: »Jagd nach einem letzten metaphysischen Rekord, letztes Vergessen der Materie und unserer Anwesenheit, unserer Gegenwart in der Welt, jenseits der Schallmauer und bald auch der Lichtmauer.« (V ÄV/124) Mit dieser Bestandsaufnahme perfektioniert sich die »Ästhetik des Verschwindens« und endet das gleichnamige Buch. Der Mensch verbleibt im Ort des von Jünger in »Über die Linie« modellierten Nihilismus der Reduktion – die schneidende Passage in ein geschichtliches Nachher oder ein lebensweltlich Anderes bleibt sowohl aufgrund des medialen Wahrnehmungs-Dispositivs des neuen »öffentlichen Bildes« undenkbar als auch angesichts der Wahrnehmungs-Projektionen in Echtzeit unsichtbar. Das Verhältnis von technischem Dispositiv und sinnlicher Wahrnehmung – auch von Selbst-Wahrnehmung im Übrigen – bliebe hier mithin tautologisch89: Medium ist alles, was die Wahrnehmung von Geschwindigkeit verändert und ebenso alles, was die Geschwindigkeit der Wahrnehmung verändert. Die Qualität dieses neuen, »paradoxen« öffentlichen Bildes liegt in der »hohe[n] Bestimmtheit« dessen, was an ihm unsichtbar ist und

89. Schon seit Heideggers Erörterung des »Verstehens« in »Sein und Zeit« dürfte klar sein, dass das Tautologische nurmehr im strengen Regelwerk des Logizismus als Schimpfwort zu gebrauchen ist. Siehe zu Virilios Medien-Begriff auch Kloock, die auf dessen Undeutlichkeit hinweist. Daniela Kloock, Von der Schrift zur Bild(schirm)kultur: Analyse aktueller Medientheorien, Berlin: Spiess 1995, 123. 129

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im Feld des Sichtbaren wiederum phatisch den Blick fesselt.90 In Abwandlung eines Werbeslogans91 könnte man hier sagen: Das Unsichtbare daran, ist die Zeitstruktur darin. Deshalb bezeichnet Virilio dieses öffentliche Bild am »Ende der Moderne« als das Bild eines »logischen Paradox«. Die dargestellte Sache wird beherrscht von der programmierten, technischen Zeitstruktur, die das Sichtbare allererst generiert, zum Vor-Schein bringt, und wird damit zum Akzidens der neuen BildSubstanz: der Virtualität der Echtzeitübertragung. Im Präsentischen der Echtzeit-Wirklichkeit wird die »reale Gegenwart« (Steiner) zur telematischen Visibilität. Das ist die Veränderung der Wahrnehmung von Geschwindigkeit bzw. der Wahrnehmung dessen, was in ihr übertragen ist. Die Veränderung der Geschwindigkeit der Wahrnehmung ihrerseits ist bedingt durch den Status der Echtzeit, deren »Virtualität« nämlich, die es in Relation zum visibilisierten ›Gegenstand‹ einnimmt und »welche die Aktualität beherrscht und damit den Begriff der ›Wirklichkeit‹ umwälzt.«92 Denn aufgrund der Instantaneität der Echtzeit-Übertragung fällt die zur lebensweltlichen Interpretation des Wahrgenommenen notwendige Zeit-Differenz zwischen Ereignis und der medialen Darstellung dessen (z.B. als Fotografie) weg. Digitale und vernetzte Medientechnologie scheint in der Lage zu sein, das Ereignis im Augenblick des Sich-Ereignens zu übermitteln – zudem: ein anderes Ereignis, als das derart in Echtzeit übermittelte gibt es dann nicht. Die Live-Übertragung entzieht dem Menschen die Freiheit distanziert zu analysieren und er erstarrt demgemäß, im Übertragungs-Modus der Echtzeit, in Passivität. »Wie kann man die Realzeit aktiv werden lassen? Wie kann man die Unmittelbarkeit aktiv werden lassen? Das ist eine der großen Fragen. Im Augenblick gibt es darauf keine Antwort, im Augenblick herrscht die Tyrannei der Realzeit.« (V öB/353) Zu den zentralen Paradigmen der Moderne gehört die Historizität des Historischen und die Einsicht – und die Forderung der Einsicht – in die Relationalität des Augenblicks.93 Der momentane Augenblick ist stets als das Neue markiert. Doch als Gegenwärtiges ist »das Neue« in der Moderne das Zukünftige des Vergangenen und trägt so die eigene Ver-

90. Paul Virilio, »Das öffentliche Bild«, in: Ästhetik des Immateriellen? Das Verhältnis von Kunst und Neuen Technologien, Teil II, Kunstforum International, Bd. 98, Januar/Februar 1989, 106-107, hier: 106. 91. »Das Gute daran, ist das Gute darin.« – Im Werbespot galt das zumindest für die Konserven von »Erasco«. 92. Paul Virilio, »Das öffentliche Bild«, a.a.O., 1989, 107. 93. Siehe hierzu im ersten Teil das Kapitel zum Moderne-Begriff; mit dem Bezug auf Gumbrecht. 130

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gänglichkeit an sich, oder weniger pathetisch: sein metamorphotisches Moment, zum Vergangenen des Zukünftigen zu werden (geworden zu sein). Die vielfältige Berücksichtigung von »Geschwindigkeit« in der Moderne (Fortschrittstheorien, Avantgarde, Futurismus etc.) ist gerade bedingt durch die diskursive Festsetzung der vorgenannten Dynamik des Transitorischen.94 Geschwindigkeit = Weg : Zeit, sagt die physikalische Definition und zeigt auf ihre Weise, dass das Zeitphänomen »Geschwindigkeit« nur in Relation zu anderen Größen denkbar ist95 – und nicht als deren Bedingung – und dass diese Zeitlichkeit erfahren wird. Dass sie aber erfahren wird, kann aufgrund ihrer hohen »Objektadäquanz« interpretativ dazu führen, die Historizität der Zeit auszublenden. Norbert Elias deutet das so: »Daß Zeit den Charakter einer universellen Dimension annimmt, ist nichts anderes als ein symbolischer Ausdruck der Erfahrung, daß alles, was existiert, in einem unablässigen Geschehensablauf steht. Zeit ist ein Ausdruck dafür, daß Menschen Positionen, Dauer von Intervallen, Tempo der Veränderungen und anderes mehr in diesem Flusse zum Zwecke ihrer eigenen Orientierung zu bestimmen suchen.«96 Wie gesehen, hatte diese Zweckhaftigkeit bei Virilio eine andere Kausalität: Die Zunahme an Geschwindigkeit (Beschleunigung) – in Relation zu was?, darf jetzt kritisch gefragt werden – ist substanzial und teleologisch und erreicht unterdessen ein Tempo der Übertragung, das die sinn-volle Decodierung des (Welt-)Bildes für humane Relevanzen verstellt. Was demgemäß noch sichtbar wird, obliegt, paradoxerweise, der »Ästhetik des Verschwindens«. Der Erfahrens-Modus dieser Ästhetik lautet, nochmals paradox, »Rasender Stillstand« und ihr Übertragungs-Modus »Echtzeit«. »Hier stoßen wir an eine unüberschreitbare Grenze […]. Die Höchstgeschwindigkeit ist erreicht, jenseits davon gibt es nichts. Börsenkrach und Golf-Krieg sind bisher die einzigen Situationen, die die ganze Welt mitgekriegt hat, wo man an die Mauer des Lichts gestoßen ist.«97 Die im Zitat genannten Beispiele zeigen es nochmals: Was Virilio unter »Echtzeit« vorstellt, meint die technische Vernetzung von Medien, mittels derer Daten übertragen werden. Das technische Leistungs-Potenzial dieser Transmissionen nähert sich der

94. Hierzu: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979. 95. Grundlegende Modi der Zeitlichkeit untersucht Kirchmann eingehend in: Kay Kirchmann, Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theorie der Interdependenzen von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeitlichen Zivilisationsprozeß, Opladen: Leske+Budrich 1998. 96. Norbert Elias, Über die Zeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, XLVII. 97. Virilio, Revolutionen der Geschwindigkeit, a.a.O., 1993, 33f. 131

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Lichtgeschwindigkeit, die sich so gesehen, natürlich, den Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung entzieht. Das bringt zwei Gedankengänge auf den Weg. Erstens sieht es so aus, als träfe Virilio mit der Nutzbarmachung des Begriffes »Echtzeit« für seine Theorie gerade nicht die gängige (technische) Semantik. Friedrich Kittler schreibt in gewohnt eindeutigem Ton: »Es gibt […] überhaupt keine Echtzeitanalyse in dem Sinn, daß Ereignisse ohne jeden Aufschub analysabel würden. Alle Theorien, die zwischen historischer und elektronischer Zeit wie zwischen Aufschub und Gleichzeitigkeit unterscheiden möchten, sind Mythen. Real Time Analysis heißt einzig und allein, daß Aufschub oder Verzögerung, Totzeit oder Geschichte schnell genug abgearbeitet werden, um gerade noch rechtzeitig zur Speicherung des nächsten Zeitfensters übergehen zu können. […] Gegensatzbegriff zur Echtzeit ist demnach nicht historische Zeit, sondern bloß eine Simulationszeit, bei der es entweder unmöglich oder unnötig wird, mit der Geschwindigkeit des Simulierten mitzuhalten.«98 Gleichwohl wäre die technisch unpräzise, von Virilio möglicherweise bildhaft gemeinte Verwendung des Wortes noch unkritisch, denn dass auch ›harte‹ Technik- oder Naturwissenschaft der Metaphorizität von Sprache nicht entgeht, wurde in der Moderne von Nietzsche bis Derrida oft und hinlänglich nachgewiesen. In medientechnischer Hinsicht fraglich aber werden Virilios Hinweise auf die phänomenologische Relevanz von Echtzeit, wenn er sie für sozio-historische Szenarien auf eine Weise nutzbar zu machen gedenkt, wie es sich technischer Realisierbarkeit aber entzieht. Dazu erläuternd Arndt Röttgers: »Die von Virilio angelegte lineare Geschichtskonstruktion einer stetigen Annäherung an Echtzeit ist nicht plausibel, da die Digitaltechnik in dieser Sicht eher als Rückschritt gegenüber der vorhergehenden Analogtechnik angesehen werden muß. Die Unmittelbarkeit der analogen Technologien muss von den digitalen erst noch eingeholt werden. Die von Virilio schon als Realität behauptete effektive Kontrolle im Sinne einer Steuerung aller Teilnehmer ist so nicht möglich. Selbstverständlich ist eine Fremdsteuerung von Rechnern möglich, aber nur im Verhältnis eins zu eins, d.h. ein Rechner steuert einen anderen. Für eine Steuerung im Sinne der behaupteten Totalität von Virilio müsste hingegen ein Rechner alle anderen steuern können.«99

98. Friedrich Kittler, »Real Time Analysis, Time Axis Manipulation«, in: ders., Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1993, 182-207, hier: 200f. Außerdem ganz ähnlich, Kittler in einem Interview mit Birgit Richard, in: »Zeitsprünge«, in: Dauer – Simultaneität – Echtzeit, Kunstforum International, Bd. 151, Juli 2000, 100105. 99. Röttgers, in: Kunstforum, a.a.O., 2000, 97. 132

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In technischer Hinsicht also bleiben Virilios Ausführungen zur Echtzeit – wie sie auch in den vergangenen Kapiteln immer wieder zur Sprache kamen – zumindest ambivalent. Denn einerseits decken sie sich nicht mit der technischen Verwendungsweise des Begriffs und bleiben in dieser Hinsicht irrelevant, weil auf die hoch differenten technischen Dispositive der Medien nicht applizierbar, doch andererseits hallen seine Reflexionen als kulturkritische und kulturgeschichtliche Mahnungen nach, die zu Vorsicht und Enthaltsamkeit ›den‹ Medien gegenüber raten. Das führt, zweitens, dahin zurück, nochmals an den zeit-phänomenologischen Impetus Virilios zu erinnern: Das der menschlichen Kultur Zugrundeliegende ist die »Geschwindigkeit«. Neue technische Innovationen führen zur Beschleunigung dieser Geschwindigkeit und ersetzen machtvoll die bis dato gegebenen Lebensbedingungen. Heutzutage sind Letztere durch Zeitverhältnisse strukturiert, die sich der Erfahrbarkeit und Wahrnehmbarkeit durch den Menschen entziehen – sie prozedieren als technisch generierte »Hyper-Zeit« in medialen Dispositiven. Der aktuelle Rekord der Visibilisierung besteht in der Echtzeit(-Übertragung), wodurch der Mensch sich selbst und seinen Mitmenschen (Aspekt der »Öffentlichkeit«) vollständig entfremdet ist. Denn der soziale Zeit-Raum ist von diesem »öffentlichen Bild« verdeckt. Eine kritische, d.h. aktive Reaktion auf diese Existenzweise ist nicht mehr möglich bzw. fraglich. Virilio (nochmals): »Wie kann man die Realzeit aktiv werden lassen? Wie kann man die Unmittelbarkeit aktiv werden lassen?« Mit der »Unmittelbarkeit« der medialen Echtzeit scheint die Wahrnehmung an eine »unüberschreitbare Grenze« geraten. Zu dieser Diagnose kann Virilio kommen, da er sich an entscheidender Stelle nicht (weiter) von Merleau-Ponty leiten oder anregen lässt. Dessen Gedanke hatte sehen lassen, dass das Sichtbare und das Unsichtbare nicht – wie Virilio es konzipiert – eine Opposition bilden, sondern das Unsichtbare jegliches Sichtbare durchzieht. Und Derrida spitzt das zu: Sichtbares ist durch ›Unsichtbares‹ bedingt. So ist nicht die Wahrnehmungs-»Grenze« der Echtzeit die ontologische Basis, dass etwas sei. Die »Grenze« der Wahrnehmung angesichts von Echtzeit – und es war deutlich geworden, dass Virilios »Grenze« die Denkfigur einer nihilistischen »Linie« ist – hat vielmehr schon zur Voraussetzung, dass Etwas sie in den Blick nimmt, als sichtbare Wirklichkeit bekleidet, wie Merleau-Ponty wohl formulieren würde. Sinnliche »Wahrnehmung« wird damit zu einem anderen Ausdruck für die Zeit-Erfahrung, die man selber je ist – zwischen dem Bild, das wir uns von der Welt machen (Sichtbares) und der Bedingung seiner Unvollständigkeit (Unsichtbares). Fast tragisch: Gerade das Festhalten an einem quasi-aristotelischen Zeitkonzept, das Insistieren auf der Präexistenz des hic et nunc, 133

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wird dem Zeit- bzw. Geschwindigkeitstheoretiker Virilio zum argumentativen Problem, dessen Horizont er nicht zu übersteigen weiß. Wie wesentlich eine andere Reflexion über Zeiterfahrung und Echtzeit für ein dem Medialen adäquateres Theoretisieren ist, macht Tholen in einem Aufsatz über Virilio deutlich: »Nur wenn Vergangenheit und Zukunft als technischer Ersatz einer bereits als ursprünglich vorausgesetzten realen Gegenwart abgeleitet werden, entsteht der Schein, statt Gott könne nun die Technik über sie verfügen. Es ist also diese Bestimmung von Gegenwart, die Annahme des unmittelbaren Da-Seins oder Hier und Jetzt, welche die Antinomie der Insistenz auf der verloren geglaubten Präsenz des Menschen deutlich macht: Die Dromologie vergißt, daß es – zeitimmanent – einen unvordenklichen Riß im Gefüge der Dauer – d.h. in den modalen Zeitformen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – geben muß, da ohne ihn die Gegenwart als solche gar nicht von der Vergangenheit wie von der Zukunft zu unterscheiden wäre. Und eben dieser differentielle Aufschub [ist] für die Formen der modalen Zeiterfahrung und -wahrnehmung ebenso konstitutiv […] wie für das Verhältnis von Erinnern und Vergessen.«100 Durch die Beachtung der derridaschen Zeit-Reflexionen in den folgenden Kapiteln wird sich zeigen, wie auf die »großen Fragen« Virilios (s.o.) geantwortet werden kann: Dass nämlich die scheinbare »Unmittelbarkeit« der Echtzeit immer schon retro-aktiv ist, weil von einem Zeit-Bewusstsein durchzogen, dass ohne steten Aufschub der (vermeintlichen) Realzeit-Präsenz gerade nicht zu haben ist.101 So lässt sich für hier zusammenfassend pointieren: Das Medium ist der (temporale) Riss (in) der Sinnlichkeit. Und da die kritische Erörterung der Echt-Zeit nun schon – angesichts der folgenden Kapitel zur Text-Zeit – mit dekonstruktivem Inventar auf den Weg gebracht wurde, sei vorwegnehmend dazu gesagt: Die Unmöglichkeit von Echtzeit-Erfahrung ist durch die virtuelle (un-sichtbare) Wirkung der différance bedingt.

100. Georg Christoph Tholen, »Geschwindigkeit als Dispositiv. Zum Horizont der Dromologie im Werk Paul Virilios«, in: Von Michel Serres bis Julia Kristeva, hg. v. Joseph Jurt, Freiburg: Rombach 1999, 135-162, hier: 161. 101. Gleichwohl: Die kritische Passage über Virilios Linie hinaus zu Derrida betrifft angelegentlich nur die Theoretisierung der Relation Wahrnehmung – Zeiterfahrung (damit aber nun doch wieder das Herz der Theorie). Dass mit Virilios mahnenden Arbeiten vielerlei anderes, etwa medienethisches, zur Diskussion gebracht wird, soll nicht in Abrede gestellt werden und wurde in den vorhergehenden Kapiteln auch diskutiert. 134

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TEXT (DERRIDA)

Text (Derrida) Übersetzen: In Babel Die französische Übersetzung der ›Berliner Kindheit‹ […] macht Fortschritte. Wir arbeiten täglich daran. Der Übersetzer kann kein Wort deutsch. Die Technik, mit der wir vorgehen, ist wie du dir denken kannst, nicht von Pappe. Und so entsteht aber fast durchweg Hervorragendes. Benjamin an Scholem Die Texte der Geschichte lesen und sie je aufs Neue einer Teilung (krinein) unterziehen, die sie im Vorgang der Lektüre verändert, auf dass sie das Aporetische ihrer Rationalität sehen lassen. Eng am Text ansetzen, ihn beim Wort nehmen und die Zugangsweise zu ihm an seine Struktur anpassen. Der gelesene Text wird als offen verstanden. Denn er trägt implizit oder expressis verbis vielfältige Bezüge zu anderen Texten oder Kunstwerken. Der Text ist daher kein geniales (Autor) oder isoliert wahres (Werk) Geschehen, keine creatio ex nihilo, sondern ein mehrschichtiges Gewebe, dessen Verknüpfungen die Verweise auf schon Geschriebenes, auf Überlieferung darstellen. Diese gilt es zu verstehen, übersetzend nachzuvollziehen, ihnen nachzuspüren (nachzuspuren). Einem Text gerecht zu werden hieße in diesem Sinne, ihn entlang seiner rhetorischen, stilistischen, argumentativen InnenBewegung und anhand seiner Außen-Bezüge zu verfolgen, jedoch nicht den Versuch zu unternehmen, ihn auf eine Bedeutung festzulegen, die er in sich trage, die nur auf ihn verweise oder sein identitäres, geschlossenes Sinnganzes sei. Vielmehr: Dem Text selbst, gerade entgegen seiner eigenen vereinheitlichenden Tendenzen, die er durch Begriffe, Definitionen usw. in sich trägt, seine verschwiegene Vielschichtigkeit und aporetische Widersprüchlichkeit vorführen. Doch »Begriffe« sollen nicht schlechterdings abgelehnt werden – wie auch! Sie sind notwendig im doppelten Sinne: Erstens steht eine Entscheidungsgewalt für oder gegen sie nicht zur Verfügung, da auch das heutige Denken strukturell in ihre Erbschaft eingewoben ist und diese weitergehend in ›die‹ Geschichte und als diese (ein-)schreibt – so wird, zweitens, je aufs Neue die Verbundenheit von Systemischem und Historischem von Begriffen und Gesten des Denkens sinnfällig und 135

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sinnenfällig. Zu ihrer Dekonstruktion ist am Sinnlichen des Skripturalen anzusetzen, denn der Zusammenhalt der Bedingungen, des Kontextes und der Grenzen von Sinn behauptet hier signifikant seine Wirksamkeit. Seine Konstruktion und auch seine Rhetorizität, dass der Sinn eindeutig weil intelligibel sei, ist stets durch das Signifikante des Zeichens markiert (D Gr/28f.). Benjamin wusste, dass Begriffe die Segel sind, in die der Wind der Geschichte bläst. Doch genügt es nicht, über sie »zu verfügen« (B V/592) – entscheidend bleibt das Wissen um die Technik des Segelsetzens. Das Setzen einer Zeichen-Textur (Segeltuch) heißt immer auch, den Wind der Geschichte so zu kanalisieren, dass eine spezifische Richtung eingeschlagen wird, andere verstellt oder verschwiegen bleiben. Verlassen wir die Breiten der benjaminschen Allegorie, indem wir mit anderen ›Begriffen‹ fortfahren: Im Moment einer Äußerung, eines Aus-drucks hebt das Spiel (s.u.) der Verweisungen von Signifikanten aufeinander an. Was dabei als »Dekonstruktion« vor sich geht, kann als Effekt einer spezifischen Textarbeit – und auch: Arbeit des Textes – verstanden werden: Texte sind Symptome. In ihrem Inneren stellen sie mehr oder weniger streng ein Reglement und System von Epistemen aus, und indem sie es ausstellen, stellen sie es auch her und dar. Was sie also in ihrem Inneren darstellen ist Geschichte. Mit der Etablierung dieses Inneren qua Text entsteht ein Grenzverhältnis. Hier das lesbare System von Aussagen und die ihm inhärente Begriffs-Genealogie, aber im Au-delà des Hier dasjenige Etwas (Aber was?), das allererst mit der Grenzziehung entsteht – und so als Draußen das Innen des Textes und der Schrift berührt1 und sogar bestimmt. So kommt es zur Symptombildung (Text) gerade durch ein dem Symptom Undarstellbares und auch (repressiv?) Undargestelltes. Es wird obsolet, davon auszugehen, dass es einen originären Ursprung von Bedeutung in Texten und als Philosopheme gibt, da gerade das Alternieren ihres Innen und Außen eine jede Äußerung erst hervorbringt und zugleich in die Differenzialität der Schrift-Bewegung einbegriffen ist. Das Innen des Textes verkörpert sein Außen als Spur einer Spur und bildet den »finsteren Punkt« (Schopenhauer) des jeweiligen Autors (ab). Babel als Idiom bspw. reflektiert in sich dieses unabgeschlossene, vielfältige Geschehen. Der deutende Umgang mit (von?) Idiomen ist für dekonstruktive Textarbeit paradigmatisch. Ob Schibboleth, Datum, Hymen, Gabe, Gift, Babel oder andere mehr, sie alle lassen sich ihre vielfältigen Bedeutungen nicht sogleich entnehmen. Im Zuge der Analyse, die das Idiom durchsichtig machen soll, verlieren sie gerade diese im

1. Zur Sinnlichkeit des Textes gibt auch das Heidegger-Kap. des Dritten Teils Auskunft. Und für die Relation »Innen – Außen« ist unbedingt zu beachten: Petra Gehring, Innen des Außen – Außen des Innen. Foucault. Derrida. Lyotard, München: Fink 1994. 136

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TEXT (DERRIDA)

Entstehen begriffene Durchsichtigkeit und führen zum Zustand eines double-bind, einer Aporie, die als solche die unabschließbare Bewegung von Bedeutungsverdichtung und -zerstreuung erkennen lässt. In »Des Tours de Babel« von 1980 interpretiert Derrida den Aufsatz Walter Benjamins »Die Aufgabe des Übersetzers« und legt mit der Analyse »Babels« einen Text vor, der Übersetzung thematisiert, indem er sich einem übersetzungstheoretischen Essay widmet, in dem wiederum das Ur-Ereignis des Übersetzungsproblems eine wichtige Rolle spielt und der zudem das Vorwort der benjaminschen Übersetzungen der Tableaux parisiens von Charles Baudelaire darstellt. Und doch kann es bei all dieser gegenseitigen Überwachung keine Übersetzung der Übersetzung geben (D Ba/193f.).2 Babel: Das Sich-Ereignen von Sprache, Projekt eines Turmbaus, bei dem ein Volk, das »Name« heißt (Shem), sich einen Namen machen will. Nach Gelingen des Vorhabens wäre absolute Einheitlichkeit des Verstehens gesichert, das Faktum der Übersetzung nicht einmal angedacht. Gott aber zerschlägt dieses Projekt, durch Nennung des Namens, der »Babel« lautet und soviel wie »Stadt Gottes« meint, zudem wie ein Wort klingt, das als »Verwirrung« oder »Konfusion« verstanden werden kann – könnte, wenn es nicht undeutlich wäre. Die Entzweiung von Sprache wird hiermit vollzogen, Übersetzung notwendig, aber auch allererst möglich, in dem Sinne, dass erst durch die Vielheit der Sprachen Sinn und Bedeutung in sie einziehen. So erweist sich, dass schon das Ereignis Babel von Vervielfältigung berührt ist. Benjamin hatte hier – neben dem Vorgang des Sündenfalls – den Ort der Scheidung von adamitischer Namensprache und überbenennender, urteilender Sprache ausgemacht und Derrida führt das Phänomen »Überbenennung« zugleich textuell vor, indem er auf die Unmöglichkeit rekurriert, von Babel in der Einzahl zu sprechen: Des Tours (»Wege, Umwege, Abwege«). Doch für Derrida ist die Erzählung von Babel, zu Babel, mehr als nur eine Metapher für die beschriebenen Vorgänge. Sie ist deren Spurung. Denn indem sie als Mythos Verschiebungen und Uneindeutiges von Sinn und Bedeutung in der Sprache und in Sprache zur Sprache

2. Mit den Siglen-Angaben ist allerdings nicht die Referenz auf den französischen Text, sondern die auf die deutsche Übersetzung gemeint. Gleichwohl bleibt das »des tours« in der Folge noch relevant und virulent. Jacques Derrida, »Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege«, übers. v. Alexander García Düttmann, in: Übersetzung und Dekonstruktion, hg. v. Alfred Hirsch, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, 119-165. Wie überhaupt dieser hier angegebene Sammelband als Meilenstein in der dekonstruktiven Debatte um Übersetzung angesehen werden kann. Siehe hierzu zudem in Engführung auf Benjamin und Derrida: Alfred Hirsch, Der Dialog der Sprachen. Studien zum Sprach- und Übersetzungsdenken Walter Benjamins und Jacques Derridas, München: Fink 1995. 137

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bringt, kehrt sie die Notwendigkeiten hervor, die einen Text in Form von Text-Techniken begleiten (Rhetorik, Stil, Metaphorik, Übersetzung) (D Ba/119). Als Übersetzung der Übersetzung geht das babelsche Ereignis jeder Sprachbewegung voraus, d.h. findet in dieser statt und stellt insofern die Differenzialität von Sprache dar, die wiederum Versicherung von Bedeutung wäre. Einer Bedeutung allerdings, die sich nicht als direkter Sinn oder in Echtzeit (siehe Virilio) vergegenwärtigt. Im vorliegenden Fall wird dies durch die Mehrdeutigkeit des französischen »Des tours« sinnfällig, das »Türme«, aber auch »Abwege«, »Rundgänge«, »Umwege«, »Wendungen«, »Windungen« u.ä. heißen kann.3 Die aporetische Wirksamkeit Babels entfaltet sich, da sie als Übersetzung der Übersetzung, als Spur der Spur, als Ereignis der Differenz nicht in einem sprachleeren Raum stattfindet, sondern selbst bereits sprachlich verfasst ist. Babel spiegelt somit in sich eine Aporie, von der alle Sprachbewegung erfasst ist: Den notwendigen Versuch, etwas zu be-nennen, da nur so Sinn entstehen kann, und sich damit sogleich der Unmöglichkeit dieses Vorhabens auszusetzen, da das Bezeichnete nur umwegig (des tour) über das sinnfällig wird, was durch die Be-nennung verdrängt, verschwiegen, aufgeschoben wurde.4 Diese Struktur der Verschuldung begleitet jeden Text. Bei Benjamin wurde sie im Verhältnis von Original und Übersetzung und im unablässigen Nähern und Entfernen der Sprachbewegung zur »reinen Sprache« sichtbar. Eigennamen, da sie unübersetzbar sind, scheinen sich der Sprachbewegung zu entziehen und gehören dieser doch zugleich an (D Ba/120f. u. 125ff.).5 Man wird annehmen können, dass das Konzept der Namenssprache Benjamins eine reine Sprache, bestehend aus Eigennamen, wäre. In ihr ist Übersetzung unbekannt, da die Dinge direkt benannt werden (können). An den Sprach-Zustand der »Überbenennung« ist hier noch nicht zu denken. Dieser verweist in seiner Unumgehbarkeit und Unablässigkeit vielmehr auf die sich im nach-babelschen Akt der Schrift stets neu einschreibende Verschuldung.6 Welche Rolle spielt hierbei Übersetzung? Mit den Ereignissen

3. Sie hierzu nochmals die Übersetzung des Derrida-Textes von Alexander García Düttmann. 4. Siehe zum »Syndrom« von Babel auch das gleichnamige Kapitel in: Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, München: Matthes & Seitz 1996. 5. Derrida diskutiert den Zusammenhang von Eigenname (nom propre) und Übersetzung ausführlich in: L’oreille de l’autre. Otobiographies, transferts, traductions. Textes et débats avec Jacques Derrida, hg. v. Claude Lévesque u. Christie V. Mcdonald, Montreal 1982, 132ff. 6. Benjamin bezog in seine Sprach- und Übersetzungstheorie – wenn auch gebrochen – jüdische Schrifttheorietradition mit ein. Dass auch Derrida den Babel-Text als Ausgangspunkt wichtiger sprach- und übersetzungstheoretischer Reflexionen nimmt 138

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TEXT (DERRIDA)

in Babel tritt die Notwendigkeit, aber auch erst die Möglichkeit von Übersetzung in die Welt. Jeder Text steht von daher zwischen den Extremen eines absoluten Unverständnisses einerseits und einer durchgängigen, ebenso absoluten Übersetzbarkeit andererseits – das ist die Notwendigkeit einer unabschließbaren Übersetzungstätigkeit, kommentierend auf vorangegangene Texte zu antworten, ohne diese je in einer sinnhaften Gesamtheit erfassen zu können.7 Und es entsteht daraus auch die spezifische »Aufgabe« (Benjamin), auf die Differenz von Übertragung und Original, das Nicht-Mitteilbare abzuzielen. Das Unberührbare, Nicht-Mitteilbare ist nicht übertragbar, da »das Verhältnis des Gehalts zur Sprache völlig verschieden ist in Original und Übersetzung. Bilden nämlich diese im ersten eine gewisse Einheit wie Frucht und Schale, so umgibt die Sprache der Übersetzung ihren Gehalt wie ein Königsmantel in weiten Falten. Denn sie bedeutet eine höhere Sprache als sie ist und bleibt dadurch ihrem eigenen Gehalt gegenüber unangemessen, gewaltig und fremd.« Das Verhältnis von Gehalt und Sprache, das Unübersetzbare zwischen Original und Übersetzung ist Benjamin »wesenhafte[r] Kern« (B IV/15). Derrida sieht in der Beziehung von Gehalt und Sprache eine Entsprechung zu denen von Symbolisiertem und Symbolisierendem bzw. signifié (Signifikat) und signifiant (Signifikant) (D Ba/153f.). Im Original stellt der benjaminsche »Kern« einerseits (und paradoxerweise) die Verwachsung von Frucht und Schale dar, andererseits aber auch deren unsichtbares Inneres. Zum einen also hält er die Frucht als Frucht zusammen und sichert ihre Kohäsion, zum anderen bleibt er im Inneren des Verhältnisses von Frucht und Schale verborgen, unerreichbar und undarstellbar (D Ba/150f.). In der Übersetzung aber – und hier findet nun auch ein ÜberSetzen in ein anderes Metaphernfeld statt, anhand dessen im Weiteren über das Verhältnis von Gehalt und Sprache in der Übersetzung gesprochen wird – spricht eine Sprache, die ihren Gehalt, der schon ein in die Sprache der Übersetzung übersetzter ist (aus dem »Kern« wird

und an ihm das Diktum der Versprengtheit von Bedeutung und Verschuldung als Movens von Schrift weiterentwickelt, mag auf den Einfluss des benjaminschen Denkens auf Derrida hinweisen. Doch scheint bei Benjamin mit der »reinen Sprache« eine von der Überbenennung abgelöste Sphäre virulent. Dies wäre für Derrida undenkbar: »Benjamin’s ›metaphysical‹ assumption of a ›divine‹ pure origin of language before its ›fall‹ as well as his appeal to an ultimate – quasi-eschatological – overcoming of language’s ambiguities by a ›divine violence‹ are the main reasons which cause Derrida to distance himself from this thought and the politics it would seem to imply.« Hent de Vries, »Anti-Babel: The ›Mystical Postulate‹ in Benjamin, de Certeau and Derrida«, in: MLN, 107, 1992, 444. 7. Siehe dazu: Geoffrey Bennington, Jacques Derrida, übers. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, 182ff. 139

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der »Körper des Königs«), nurmehr wie ein Versprechen ankündigt und aber damit gleichwohl verhüllt (der »Königsmantel in weiten Falten«). Das heißt, dass der Mantel dem Körper durchaus angemessen passen kann, die Übersetzung gut ist – doch bleiben beide, Mantel und Körper bzw. Sprache der Übersetzung und Gehalt (der Übersetzung), voneinander getrennt, einander »fremd« eben und »unangemessen« (D Ba/149ff.). Sind die Beziehungen zwischen Original und Übersetzung sowie zwischen Gehalt und Sprache damit geklärt? Ist das Problem der Differenzen zwischen Original und Übersetzung damit beschrieben – und gebannt? Wenn dies so wäre, gäbe es das Faktum Übersetzung nicht, da ihr Unterschied zum Original, der dann keiner mehr wäre, nicht wahrnehmbar sein würde. Stattdessen bleibt als beunruhigendes Resümee des Gesagten: Irreduzible Differenzen, als Differenzialität von Bedeutungen, sind konstitutiv sowohl für das gesamte Sprach-Schriftsystem als auch für jedes einzelne Zeichen, wie auch, als Nicht-Mitteilbares und Fremdheit, für das Verhältnis von Original und Übersetzung.8 Mit dem Auftreten einer Signifikation werden mit dieser zwar Sinnspuren lesbar, andere aber, die durch die Setzung verschoben und aufgeschoben wurden (und sie dadurch erst möglich machten), bleiben als Differenz der Setzung für zum Beispiel den Schreiber oder Übersetzer uneinsehbar. Signifikat und Signifikant, Symbolisiertes und Symbolisierendes bleiben von daher immer miteinander verwoben, da sich ein beiden eigener und zueignender Ursprung einer Darstellung stetig entzieht, differiert.9 Die Erörterung der Ergänzung der »Arten des Meinens« zur »reinen Sprache« in der benjaminschen Übersetzungstheorie projektiert ihrerseits also nicht in einer historisch-mimetischen Rückwendung die Restituierung einer reinen Sprache als paradiesischer Ur-

8. Die Kapitulation vor der Aufgabe des Übersetzens speist sich, de Mans Ansicht nach, aus der Aporie, die Divergenz der Forderung nach Originaltreue und der der Sprache der übersetzten Version nicht auflösen zu können. Paul de Man, »Conclusions: Walter Benjamin’s ›The Task of the Translator‹«, in: ders., The Resistance of Theory, Minnesota 1986, 73ff., bes.: 80. 9. »Und was im Werden der Sprachen sich darzustellen, ja herzustellen sucht, das ist jener Kern der reinen Sprache selbst. Wenn aber dieser, ob verborgen oder fragmentarisch, dennoch gegenwärtig im Leben als das Symbolisierte selbst ist, so wohnt er nur symbolisierend in den Gebilden. Ist jene letzte Wesenheit, die da reine Sprache selbst ist, in den Sprachen nur an Sprachliches und dessen Wandlungen gebunden, so ist sie in den Gebilden behaftet mit dem schweren und fremden Sinn. Von diesem sie zu entbinden, das Symbolisierende zum Symbolisierten selbst zu machen, die reine Sprache gestaltet der Sprachbewegung zurückzugewinnen, ist das gewaltige und einzige Vermögen der Übersetzung.« (B IV/19) 140

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sprache. Mit der »reinen Sprache« ist die Differenzialität von Sprache selbst angedacht und auf das verwiesen, was sich als Nicht-Mitteilbares der Differenz von Original und Übersetzung im Prozess der Übertragung kundtut. Derrida sieht hierin »die Sprache selber als babylonisches Ereignis« (D Ba/159).10 Denn dieses Ereignis ist die räumliche Entfaltung der Zeitlichkeit von Sprache, oder besser: Sprache als Zeitigung, und die zeitliche Entfaltung der Räumlichkeit von Sprache, oder besser: Sprache als Verräumlichung. Es heißt bei Derrida: »différance«. »Worauf sie in der Übersetzung zielen, jede einzelne Sprache und alle Sprachen gemeinsam, ist […] die Sprachlichkeit der Sprache, auf die Sprache als solche, sie zielen auf jene Einheit ohne Selbst-Identität, die bewirkt oder bedingt, daß es Sprachen gibt und daß jenes, was es gibt, eine Vielfalt von Sprachen ist.« (D Ba/159) Im Werden und in den Wandlungen der Sprachen, für deren Fortgang Übersetzung unabdingbar ist, ereignet sich, en detail, Bewegung von Sinn (pas de sens), Sinn-Schritt, und Nicht-Sinn (pas de sens) als Entfaltung (Spur) und Brisur von Sprache selbst in den Modi sowohl verdichtender und disseminierender Verräumlichung als auch gebender und aufschiebender Zeitigung. Das Gesamt dieser Vorgänge und in eins ihre Möglichkeitsbedingung nennt sich (sich?): différance.

Text-Zeit: Im Zeichen der différance There’s no flagman ahead sign. TabTwo Die Annäherung an (die) »différance« wird im Folgenden zweifach verfahren und sich dabei im Sinne des obigen des tours verfahren. Denn

10. In Des Tours de Babel verknüpft Derrida gleich zu Anfang Übersetzung und Dekonstruktion: »Der ›Turm(bau) zu Babel‹ gestaltet nicht nur die irreduktible Vielfalt der Sprachen, er stellt auch ein Unvollendetes aus, die Unmöglichkeit des Vollendens, des Totalisierens, des Sättigens, die Unmöglichkeit, etwas zu Ende zu bringen, etwas zu vollbringen, was sich im Bereich des Aufbauens zuordnen ließe, dem Bereich der Konstruktionen, die Architekten besorgen, dem Bereich des Systems und der Architektonik. Die Vielfalt der Idiome ist nicht allein die Grenze einer ›wahren‹ Übersetzung, einer durchsichtigen und angemessenen Mit-Teilung, vielmehr begrenzt sie auch die Ordnung einer Struktur, den Zusammenhang und die Stimmigkeit des Konstruktums. An dieser Stelle stoßen wir (wenn wir übersetzen) auf eine Grenze, die das formale Aufreißen im Innern durchzieht, wir stoßen auf das Unvollendete und Unvollständige der Konstruktur. Es wäre ein einfaches und in einem gewissen Maße sogar gerechtfertigt, darin die Übersetzung zu erblicken, die ein System der Dekonstruktion zuträgt – die Übersetzung eines Systems, das begriffen ist in der Dekonstruktion.« (D Ba/119f.) 141

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auch wenn mit den Hinweisen auf de Saussures und Husserls Zeichenkonzeptionen zwei Hauptzüge des Sachverhaltes bzw. Quasi-Ereignisses »différance« konturiert werden, stellt sie sich uns selbst in den Weg, wenn wir versuchen gradlinig auf ihre Bestimmung zuzusteuern. Die Umwege um sie herum zu begehen, gehört also selbst mit zu ihr und diese Prozedur hat insofern nichts mit einem philosophischdefinitorischen Schlendrian zu schaffen – vielmehr ist das gerade der Versuch, sich ihr auf diese Weise möglichst anzubiedern. Anders gesagt: Um Differierung von Sinn in Schrift als die wesentliche sprachliche Eigenart zu extrapolieren, bedarf es einer anderen Genauigkeit, als gemäß logizistischer Episteme Definitionen zu statuieren – Sorgfalt ist für beide Domänen ratsam. Und was bislang anhand des Übersetzerischen von Sprache schon deutlich wurde, bleibt auch Motivation für das Folgende: Im Zuge der umwegsamen Erörterung von différance konturiert sich, was Medialität von Schrift ist. Kein Ereignis ohne Schrift und keine Äußerlichkeit von Schrift ohne die ihr innere Spur des Ereignens (différance).

Sinnlichkeit des Zeichens Wie bildet sich ein Zeichen? Das sprachliche System ist bestimmt durch den differenziellen und differierenden Charakter seiner Glieder. Es gibt weder Vorstellungen (idées) noch Laute (sons), die dieser Bewegung vorhergehen oder sie hervorbringen. Innerhalb des Systems erhält das einzelne Zeichen nur über den Umweg der (wiederum verweisenden) anderen Zeichen seine Bedeutung und seinen Wert. So wird ein Zeichen wahrnehmbar nur über die es von den anderen Zeichen unterscheidenden Merkmale. Diese »différences« setzen aber keine Positivitäten sprachlicher Einzelglieder voraus und führen auch nicht zu ihnen. Semantisch bleibt entscheidend, dass ein Zeichen seinen Wert durch die Eigenart der Zeichenumgebung erhält, hält oder verändert (S AS/143). Aber kann es eine ›Eigenart‹ von Zeichen (und Bedeutungen) geben, wenn ein jedes gerade durch die Differenz zu(m) anderen seinen Wert erhält? Sowohl der Signifikant als auch das Signifikat scheinen von der Differenzierung berührt, die Konstitution von Sinn ereignet sich nicht präsentisch im Zeichen als einem festen Ort, sondern heterotop als Differenzräume, die den Zeichen gerade ihren Ort zuweisen – und verschieben (D d/37). Das Ereignen von Sinn im ver- und aufschiebenden, differierenden Moment von Sprache (Zeichen) ist identisch mit dem verräumlichenden und verzeitlichenden Charakter von Schrift. Von diesen Differenzen sind Signifikat und Signifikant gleichermaßen ergriffen. Saussure veranschaulicht die formelle Totalität ihrer Zusammengehörigkeit mit der Metapher eines Blattes Papier: »image acoustique« (signifiant, Signifikant) und »concept« (signifié, Si142

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gnifikat) bilden dabei je recto und verso eines Blattes. Zerschneidet man dieses, entstehen beide immer gleichzeitig und konstituieren im Vorgang das System aus Differenzen, das die Sprache ist. Demnach kann es keine dem Verhältnis der beiden Zeichenkonstituenten vorhergehende Bindung oder Verweisungsinstanz geben und Sprache dient nicht platterdings dem materiellen und supplementären Ausdruck sprachzeichenfreier Gedanken. Vielmehr vollführt das Verhältnis die Mediation von Gedanke und dessen Sinnlichkeit (»Laut«). Denken wird gerade durch den Differenzcharakter von Zeichen gegliedert (S AS/133ff.). Der Wert eines Zeichens wird durch dessen Differenz zu den es umgebenden Zeichen bestimmt. Dabei sind Gliederung oder Komposition, wie auch Einheiten bzw. Einteilungen der jeweiligen Zeichen mitnichten stabil. Das Sprachsystem besteht also in der Korrelation von arbiträren und different-differierenden Zeichen (S AS/140f.). Diese Theorie-Kontur scheint hinsichtlich ihrer metaphysikkritischen Implikationen – das meint hier, mit Derrida, einen Logoskeptizismus des Immateriellen – weit zu gehen. Durch die das Sprachsystem stützende und Bedeutung generierende Differenzialität und die durch Arbitrarität markierte Relation der Zeichenkomponenten vermeidet Saussure ein Theorem, das Sprache auf positive, präsente Wesenheiten aufbaute.11 Und dennoch spürt Derrida logozentrische12 Implikationen der saussureschen Theorie auf. Aliquid stat pro aliquo. In dieser mittelalterlichen Formel äußert sich die Vorstellung eines binären Zeichenbegriffs. In Derridas »Grammatologie« taucht sie innerhalb eines Zitats Jakobsons auf, den Derrida anführt, um das gängige Plädoyer für eben jene These beispielhaft vorzulegen (D Gr/27). Das Zitat wiederum ist eingebettet in Derridas anfängliche Reflexionen zur auch bei Saussure dargelegten Zweiteilung des Zeichens in Signifikat (Intelligibles) und Signifikant (Sinnliches). Indem Derrida diese Konzeption in die Geschichte der Zeichentheorien einbindet (D Gr/23-48), wird deutlich, wie die Theorie von Signifikat und Signifikant der traditionellen Aufteilung in einerseits Intelligibles (signatum, Signifikat) und andererseits Sinnliches bzw. sinnlich Wahrnehmbares (signans, Signifikant) entspricht. Und Saussure ist hier uneindeutig: Einerseits lässt die Metapher von recto und verso eines Blattes erkennen, dass er Signifikat und Signifikant zusammendenkt, betonte man hier Singularität und Einheit des Blattes. Andererseits jedoch belässt Saussure in der Blatt-

11. Englert stärkt Saussures Position weitergehend, indem er dessen Kritik am Psychologismus und Phonologismus hervorhebt. Klaus Englert, Frivolität und Sprache, Essen: Blaue Eule 1987, 102. 12. »Der Logozentrismus ginge also mit der Bestimmung des Seins des Seienden als Präsenz einher.« (D Gr/26) 143

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Metapher die beiden Zeichenbestandteile auf ihren jeweiligen Seiten des Blattes. Das eröffnet theoretisch die Möglichkeit, beide Momente getrennt voneinander und dabei das Signifikat als a-skripturalen Begriff zu denken. Als einen Begriff, der in seiner Unabhängigkeit von einem System aus Signifikanten als a-sinnliches, transzendentales Signifikat verstanden werden könnte (D P/30). Insofern entzöge sich das Signifikat der Differenz-Bewegung von Sprache. Damit wäre ein LogoZentrismus gegeben, wie er die primäre Motivation des derridaschen Kritikeinsatzes darstellt.13 Gleichwohl opponiert Derrida Saussures Zeichen-Strukturierung nicht einfach durch Statuierung einer anderen. Vielmehr hält er fest, wie oszillierend die Semiologie Saussures hinsichtlich ihrer metaphysischen Implikationen ist. Denn gegen eine Geistes-Tradition des immatriellen Gedankens hat Saussure die Untrennbarkeit von Signifikat und Signifikant hervorgehoben. Des Weiteren konnte mit der Erweiterung des semiologischen Gegenstandsbereiches, durch Einbeziehung der Linguistik, eine Beschäftigung mit der Begriffstradition von »Zeichen« anheben, die es allererst möglich machte eben jene Tradition zu dekonstruieren (D P/28).14 Bei Saussure ergab sich das Zeichen aus der dichotomischen Einheit von Signifikat und Signifikant und stellte in Abwesenheit der bezeichneten Sache deren Vertretung dar. Das Abwesende kann nicht das Signifikat selbst sein – es würden sonst weder Zeichen noch Sprache existieren –, sondern ist ein Referent, den das Zeichen repräsentiert. In dieser klassischen Beschreibung erhält das Zeichen die Funktion, die beiden Welten von Idealität/Intelligiblem und Materialität/ Sinnlichem zu verbinden. Im Rahmen der saussureschen Ausführungen ergab sich dabei die ›Gefahr‹ eines »transzendentalen Signifikats«, wie es Derrida zu bedenken gab. Doch ist auch ein mögliches Konzept

13. »Das ›primum signatum‹ ist Signifikat in einem bestimmten ›transzendentalen‹ Sinn […], den alle Kategorien oder alle determinierten Bedeutungen, jede Lexik und jede Syntax, also jeder sprachliche Signifikant implizieren, der mit keinem von ihnen einfach verschmilzt, über den aber durch jeden von ihnen sich ein Vorverständnis gewinnen läßt, der gegenüber allen epochalen Bestimmungen, die er erst ermöglicht, irreduzibel bleibt; der damit die Geschichte des Logos eröffnet und selber nur durch den Logos ist: das heißt, vor dem Logos und außerhalb des Logos nichts ist. Der Logos des Seins, ›das Denken, gehorsam der Stimme des Seins‹, ist die erste und die letzte Quelle des Zeichens, der Differenz zwischen dem signans und dem signatum. Es muß ein transzendentales Signifikat geben, damit so etwas wie eine absolute und irreduzible Differenz zwischen Signifikat und Signifikant zustande kommt.« (D Gr/38) 14. Zu den publizistischen Problemen bereits der französischen Textversionen des saussureschen »Cours de linguistique général«, die auch in die Diskussionen um Derridas Saussure-Lektüre eingeflossen sind, siehe: (D Gr/128; Fußnote 38). 144

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einer reinen Materialität des Signifikanten als Kennzeichnung des Zeichens nicht hinreichend. Dies würde das Problem nur verschieben: Bis zur Kennzeichnung eines Signifikanten als eines materialen. Eine solche Feststellung nämlich bildete dann wiederum die Konstitutionsbedingung, dem jeweiligen Signifikanten eine ihm immateriell-inhärente Bedeutung idealiter zuschreibbar machen zu können.15 Wie man also die Dichotomie von Intelligiblem und Sinnlichem auch gewichtet, die »Vollendung (clôture)« (D Gr/28) der Metaphysik liegt, laut Derrida, gerade in der Verteidigung dieses Schemas begründet. Das konstitutive Moment der Differenzialität der Zeichen aber kann die Verzurrung des skizzierten Schemas lösen. Signifikat und Signifikant waren als recto und verso eines Blattes gekennzeichnet worden. Der Signifikant verleiht hierbei dem Zeichen seine sinnliche Identität. Identität wiederum war traditionellerweise an die Vorstellung einer idealen Kongruenz des Selbst mit sich selbst (A=A) gekoppelt.16 Mit der (saussureschen) Einsicht in die signifikante Bewegung der Differenzialität wird – jetzt wieder mit Derrida, eingedenk der heideggerschen Ausführungen zum Identitäts-Begriff – die Möglichkeit einer solchen Idealität nun aber fraglich: Die Formulierung »mit sich selbst« zeigt, dass die Notwendigkeit des Umwegs (des tours) selbst in einen identitären Status eingeschrieben ist. Bedeutung ist der zeitlichen Differenz zwischen den Wiederholungen von Zeichen ausgesetzt, und mithin der räumlichen Verschiebung, die der Signifikant unentwegt anlässlich anderer Signifikanten generiert.17 Das ist die (Sinn-)Spur, die die Schrift beschreibt. In der Sprache, als System von Differenzen, sind die Signifikanten Texturen von Verweisungen, in denen es nie zu einem als »Signifikat« bezeichneten Ende kommt. Das Wort »Signifikant« ist dabei selber wiederum nur signifikant in seinem Bezug auf den Signifikanten »Sig-

15. Zur Problematik einer – auch Derrida unterstellten – »Lehre von der Materialität des Signifikanten«, siehe: Bennington, a.a.O., 1994, 36ff. 16. Siehe zur heideggerschen Problematisierung dessen, das entsprechende Kapitel im dritten Teil. 17. »Andrer Name der re-präsentativen Wiederholung: das Sein. Das Sein ist die Form, in der sich die unendliche Mannigfaltigkeit der Formen, der Lebens- und Todeskräfte unaufhörlich im Wort verbinden und wiederholen lassen. Denn es gibt kein Wort, noch ganz allgemein kein Zeichen, das nicht durch die Möglichkeit seiner Wiederholung konstruiert ist. Ein Zeichen, das sich nicht wiederholt, das nicht schon durch die Wiederholung in seinem ›ersten Mal‹ geteilt ist, ist kein Zeichen. Der bedeutende Verweis muß deshalb, um jedesmal auf dasselbe verweisen können, ideal sein – die Idealität aber ist nur das gesicherte Vermögen der Wiederholung.« Jacques Derrida, »Das Theater der Grausamkeiten und die Geschlossenheit der Repräsentation«, in: Die Schrift und die Differenz, übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, 373. 145

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nifikat«. So berührt das Schriftgeschehen (der Zeichen) alle »Begriffe« – ohne es sind sie nichts. Gleichwohl wird Schrift, auch wenn sie, wie hier, als temporal-prozessierend gedacht ist, sich immer dem Vorwurf der Komplizenschaft mit der von Derrida als Logozentrismus bezeichneten (sic!) Tradition konfrontiert sehen.18 Sie baut auf der Dualität »sinnlich/intelligibel« auf, betont Letzteres idealiter und bedingt so das Denken, unser Denken, im binären Zeichenbegriff. Mit einer materialistisch geprägten Umkehrung der Beziehung lässt sich dieser Sachverhalt, wie gesehen, nicht suspendieren. Derrida nun setzt auf das Moment des nicht-idealen, nicht-identischen Signifikanten, der in seiner Differenzbewegung sich als Schrift äußert. Diese rafft Konzepte einer präexistenten Realität, eines idealen Zeichens oder eines reinen Sinn-Ursprungs schlicht durch ihr Ereignen (différance) hinweg. In diesem Sinne ist Dekonstruktion die unablässige Affizierung der Bedeutung der Signifikanten, wie sie sich in der Bewegung der Sprache (Schrift) äußert. Schrift – »Signifikant des Signifikanten« (D Gr/17) – ist also nicht der sekundäre Statthalter oder die bloße Verdopplung einer primären, a-sinnlichen Bedeutungseinheitlichkeit. »Schrift« beschreibt die Bewegung von Sprache in ihrem Ursprung. Und »Ursprung« muss hier modern gelesen werden: Das ursprüngliche Entspringen des Ursprungs ist nicht mehr entzifferbar, denn er ist überschrieben mit der signifikanten Wiederholungsbewegung ›seiner selbst‹, die ihn lesbar macht. »Das Signifikat fungiert darin seit je als Signifikant. Die Sekundarität, die man glaubte der Schrift vorbehalten zu können, affiziert jedes Signifikat im allgemeinen, affiziert es immer schon, das heißt, von Anfang, von Beginn des Spieles an. Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder anheimzufallen. Die Heraufkunft der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels.« (D Gr/17) Damit aber ist Schrift nicht

18. »Die Epoche des Logos erniedrigt also die Schrift, die als Vermittlung der Vermittlung und als Herausfallen aus der Innerlichkeit des Sinns gedacht wird. In diese Epoche gehört die Differenz zwischen Signifikat und Signifikant, zumindest aber der befremdende Abstand ihres ›Parallelismus‹ und ihre wie immer verhaltene gegenseitige Äußerlichkeit. […] Die Differenz zwischen Signifikat und Signifikant gehört zutiefst in die Totalität jener großen, von der Geschichte der Metaphysik eingenommenen Epoche […]. Die Zusammengehörigkeit ist wesentlich und unauflösbar: man kann die Bequemlichkeit und die ›wissenschaftliche Wahrheit‹ des stoischen und später des mittelalterlichen Gegensatzes zwischen signans und signatum nicht weiter beanspruchen, ohne daß man auch all seine metaphysisch-theologischen Wurzeln mit übernimmt. An diesen Wurzeln haftet nicht bloß – was schon viel ist – die Unterscheidung zwischen Sinnlichem und Intelligiblem mit ihrem ganzen Einfluß – also die Metaphysik in ihrer Totalität.« (D Gr/27) 146

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TEXT (DERRIDA)

länger der Sprache und dem, was sie bedeutet, supplementär, da sie nicht re-präsentierend ist. Sinn wird in Schrift nicht repräsentativ von einem Repräsentierten her abgebildet, sondern geht erst mit Schrift (Mit-Schrift) als der ihr eigenen Spur einher.

Stimme – autoaffektive Selbstpräsenz? Mit der Möglichkeit einer Abkopplung des Signifikats aus dem bei Derrida als »Schrift« bezeichneten Sprachgeschehen – wie es die Konstruktion des saussureschen Theorems konzediert19 – bietet das Signifikat sich einer Idealisierung an, im Zuge derer ein meta-physisch implizierter Logozentrismus stetig, mit jedem Zeichen eben, reproduziert würde. Die Ansatzstelle findet die Reproduktion in der theoretischen Bevorzugung der Lautsubstanz des Zeichens gegenüber dessen Materialität. Sprache als repräsentatives Abbild des Denkens zu verstehen, ermöglicht es, »Denken« als immateriell (a-signifikant), zeitlich präsent (augenblicklich) und evident (idealiter) zu charakterisieren. Die Idealität selbst dieses Sachverhalts ist der Logos (D Gr/23ff.). Hier gilt seit Aristoteles, dass die Stimme den, wenngleich zeichenhaften, unmittelbaren Ausdruck für der Seele innewohnende Zustände darstellt20 – das wird im Folgenden als »einsames Seelenleben« bei Husserl wieder auftauchen. Geschriebenes wiederum bildet demnach das in der Stimme Verlautete post festum ab. Und die Strategie der derridaschen Dekonstruktion des saussureschen Zeichenkonzeptes (D Gr/92ff.) lag ja darin, in der Theorie Saussures nachzuzeichnen, dass für sie, entgegen eigener Prämissen (S C/28 u. 40), die signifikante Differenzialität von Schrift doch wesentlich ist (S C/140ff.). Das war zugleich das Fundament des dekonstruktiven Schriftverständnisses selbst und der damit einhergehenden Potenzialität jeglicher – nun im Verständnis eines erweiterten Schriftbegriffs – Zeichentheorie-Analyse. Jede Theoriekonstruktion würde sich fortan der dekonstruktiven Befragung ihres Verhältnisses von Zeichen und außersprachlicher Idealität auszusetzen haben. Sei letztere »Realität« genannt, ist es dem dekonstruktiven Aufweisen der Textualität dieses, naiv vermeinten, Realen nicht darum

19. Johannes Fehr im übrigen weist auf die reziproke Beziehung zwischen Saussure und Derrida hin: Einerseits kann Derrida Saussures Phonozentrismus zurecht beanstanden, doch vollzieht er dies andererseits auf der Basis eines Schriftbegriffs, den Derrida im Ausgang der saussureschen Theorie erst entwickeln konnte. Johannes Fehr, »Die Theorie des Zeichens oder Jacques Derridas Saussure-Lektüre«, in: Cahiers Ferdinand de Saussure. Revue linguistique général, 1992, 35-54, hier: 42f. 20. Aristoteles, »Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck (De interpretatione)«, I, 16a, in: Organon, Bd. 2, hg. u. übers. v. Hans Günter Zeckl, Hamburg: Meiner 1998, 96/97. 147

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zu tun, wie billig, ihre Destruktion und restlose Auflösung in »Schrift« zu verkünden.21 Stattdessen erfolgt das destruierende und restrukturierende Durchbuchstabieren der Architektur des jeweiligen (Text-) Logos entlang der Wunsch-Techniken von Schriftsprache selbst.22 Der diffizilste Gegenstand eines solchen Vorgehens dürfte eine Theorie sein, die die Verhältnisbestimmung von Bewusstsein und Wirklichkeit selbst sich zum wesentlichen Vorhaben gewählt hat: die Phänomenologie Husserls. »Bewußtsein« meint hier ein je spezifisches noetischnoematisches Gleiten auf der Zeit, das Wirklichkeit als Welt konstituiert. Wie bei Saussure findet sich auch hier – im Kapitel »Ausdruck und Bedeutung« der »Logischen Untersuchungen« – die Rhetorik der sekundären Repräsentationsfunktion des schriftsprachlichen Zeichens. War es aber in der Auseinandersetzung mit dem Linguisten in einer der Semiologie internen Debatte darum zu tun nachzuweisen, dass alle sprachlichen Zeichen durch die Schriftartigkeit signifikanter Differenzialität bedingt sind, geht es nun darum, der Anatomie phänomenologischer Theoriebildung nachzuweisen, dass jenes Bewusstsein wie diejenige Schrift prozediert, die in der Dekonstruktion des linguistischen Zeichenbegriffs präpariert wurde. Husserl unterscheidet einen »Doppelsinn des Terminus Zeichen« (Hu 3/30). Da sind zum einen die Anzeichen, die etwas anzeigen bzw. bezeichnen, selber aber nichts bedeuten, da sie intentionslos sind (Hu 3/30) und bei denen »die Erkenntnis eines idealen Zusammenhangs der bezüglichen Urteilsinhalte geradezu ausgeschlossen« ist (Hu 3/33) – und zum anderen die Ausdrücke, bedeutsame Zeichen, aus denen jede Rede und jeder Redeteil besteht, gleichgültig, ob sie kommunikativ (Hu 3/39ff.) oder »im einsamen Seelenleben« (Hu 3/41ff.) fungieren. Das Anzeichen zeigt an, dass da hinter ihm noch die eigentliche

21. Die Gemüter hatten sich hier, allzu untheoretisch, bisweilen an einem (methodologischen) Satz Derridas aus der Grammatologie erhitzt: »Ein Text-Äußeres gibt es nicht.« (D Gr/274) (»Il n’y a pas de hors-texte.« D Gr/227) Das ist wirklich exorbitant. Dazu Derrida in einem Interview: »Was ich Text nenne, ist nicht mehr einfach das Buch in einer Bibliothek. Ich habe aus strategischen Gründen, weil mir das in einer bestimmten Situation notwendig erschien, den Begriff des Textes verallgemeinert und als Text ebenso eine Institution wie eine politische Situation, einen Körper, einen Tanz usw. bezeichnet, was offenbar zu vielen Mißverständnissen Anlaß gegeben hat, denn man hat mich beschuldigt, alles zu textualisieren, die ganze Welt in ein Buch zu stecken, was offensichtlich absurd ist. […] [Dekonstruktion] ist ein Symptom für die Veränderung der Ordnung von Rationalität, in der wir leben.« Französische Philosophen im Gespräch, hg. v. Florian Rötzer, München: Boer 1986, 70f. 22. Im Kapitel zum »Archiv« wird – ebenso medienspezifisch – noch vom Zusammenhang von Wunsch (und dessen Überschreibung) und Schreibtechniken (und deren Wünschen) die Rede sein. 148

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Bedeutung liegt, die im Anzeichen lediglich als abwesend repräsentiert wird, im Ausdruck als Bedeutung aber gegenwärtig ist. Dem vom Anzeichen befreiten »Ausdruck«, in seiner nicht-kommunikativen Form also, ist keine äußerlich-materialisierte Bedeutung eigen, sondern gerade reine Innerlichkeit von Bedeutung. Der Chiasmus von »Anzeichen« und »Ausdruck« liegt also so, dass Anzeichen zwar zeichenhaft und materiell an-zeigen, aber für sich bedeutungslos sind, der Ausdruck hingegen zwar die gegenwärtige Präsenz des Sinns ist, dies aber, ohne sich im Äußerlichen zu materialisieren – Letzteres gilt zumindest für das »einsame Seelenleben«. Gerade erstens durch die Immaterialität des Ausdrucks im »inneren Seelenleben«, das Fehlen jeglicher Sinnlichkeit, und zweitens aufgrund der reinen, d.h. verweisungsfreien Innerlichkeit der inneren Stimme, die sich »mit vorgestellten anstatt mit wirklichen Worten« begnügt (Hu 3/42), fallen hier Zeichen (Ausdruck) und Sinn zusammen. Die innere Stimme sichert die Idealität des Bedeutens und die zeitliche Präsenz des Sinns im Sinne des augenblicklich Anwesenden. »Die fraglichen Akte sind ja im selben Augenblick von uns selbst erlebt.« (Hu 3/43) Derrida erkennt hier eine dem Logos zuspielende Ausdrucks-Reinheit von »Bedeutung« in diesem husserlschen Sinne (D SP/32).23 Mittels dieser Logik wird das materiale Anzeichen als epigonal von der idealen Bedeutung im Ausdruck abgeschieden – denn: »[M]an teilt sich nichts mit, man stellt sich nur als Sprechenden und Mitteilenden vor. In der monologischen Rede können uns die Worte doch nicht in der Funktion von Anzeichen für das Dasein psychischer Akte dienen, da solche Anzeige hier ganz zwecklos wäre.« (Hu 3/43) Das »innere Seelenleben« vernimmt sich als Stimme: jetzt und evident, in einer Identität mit sich selbst (D SP/86). Die Idealität des Bedeutens bedarf einer Konzeption von »Ausdruck«, die diesen als ab-solut bar jeglicher Materialität und Medialisierung vorstellt. Nur so ist bzw. wäre gewährleistet, dass in der Verlautbarung der Akt und die Selbst-Präsenz in eins fallen bzw. sich vollziehen. »Die Stimme ist der Name für dieses Element. Die Stimme hört

23. Derrida wird noch deutlicher bezüglich seiner These einer husserlschen Theoriepolitik des Idealen: »Die Zugehörigkeit zur Metaphysik wird mit Sicherheit an dem Thema offenbar, auf das wir jetzt zurückkommen werden: die Äußerlichkeit des Anzeichens gegenüber dem Ausdruck. Ganze drei Paragraphen widmet Husserl dem ›Wesen der Anzeige‹ und elf Paragraphen im selben Kapitel dem Ausdruck. Da es einem logischen und erkenntnistheoretischen Vorhaben entsprechend darum geht, die Eigentümlichkeit des Ausdrucks als ›Bedeutung‹ und als Beziehung zum idealen Gegenstand einzukreisen, muß die Behandlung der Anzeige kurz, vorauslaufend und ›reduzierend‹ ausfallen. Die Anzeige muß als extrinsisches und empirisches Phänomen ferngehalten, abgezogen, ›reduziert‹ werden, auch wenn eine enge Beziehung sie de facto mit dem Ausdruck vereint, sie empirisch mit ihm verflochten ist.« (D SP/40) 149

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sich, versteht sich (s’entend).« (D SP/103) Derrida verleiht diesem identitären Vollzug also den Titel einer »Stimme«, die sich selbst vernimmt. Denn gerade mit der begrifflichen Tilgung des Sinnlichen und Körperlichen von Schrift wird die unmittelbare Präsenz des Signifikats im Bewusstsein (theoretisch) möglich – und vice versa kann dadurch erst ein Begriff von »Bewußtsein« formuliert werden, der sich das Beisich-Sein von Sinn attestiert (D SP/104f.). Zur Relevanz der »Stimme« in dieser Hinsicht pointiert Thiel: »Die Phoné ist keine einfache, natürliche Tatsache; sie ist vielmehr gewaltsam, auf dem Weg einer Unterdrückung anderer Komponenten, errungen und insofern mit irrationalen Qualitäten behaftet. Derrida rekonstruiert also ein Konstrukt, das gleichwohl nicht statisch, sondern prozeßhaft ist.«24 Von einer Tilgung des Sinnlichen kann deshalb gesprochen werden, da sich Husserls Konturierung des »einsamen Seelenlebens« nicht wesentlich an der Stimm-physis orientiert, sondern an der Entwurfsmöglichkeit einer theoretischen Größe des Inneren, die sich gerade in ihrer Bindung an den Logos kundgibt.25 Damit wird die Stimme zum Bewusstsein selbst, oder zumindest sieht jetzt alles danach aus, als sei so der immaterielle Ursprung der Konstitution von Sinn formuliert. Jede weitergehende, zeichenhafte (Ent-)Äußerung von Sinn gerät in die Position einer supplementären Gerätschaft von Verständigung – ideale Innerlichkeit und Selbstpräsenz von Sinn, die in anzeigende Exterritorialität abgefallen ist. Selbst die Signifikanten werden nur gehört, lautlos, sie verbleiben im Innenreich aktualer Selbstaffektion.26 Aber Vorsicht: Dieses Paradox eines autoproduktiven idealen Signifikats, dessen begrifflicher Ausdruck mit ihm identisch und eine reine, sich-selbst-innerliche Idealität ist, darf nicht ›weltlich‹ werden, exterritorial seiner selbst, denn sein »nicht-weltliche[r] Charakter« (D Gr/38) ist konstitutiv für das gesamte Gerüst. Hier wird vom Sprechenden idealiter nur ausgedrückt, was er spricht. Im Hier und Jetzt des Sagen-wollens (»vouloir-dire«) kommt Bedeutung zu sich selbst, verwirk-

24. Detlef Thiel, Über die Genese philosophischer Texte, Freiburg/München: Alber 1990, 145. 25. »Denn nicht der lautlichen Substanz oder der physischen Stimme, dem Körper der Stimme in der Welt wird er eine Herkunftsverwandtschaft mit dem Logos schlechthin zuerkennen, sondern der phänomenologischen Stimme, der Stimme in ihrem transzendentalen Leib, dem Atem, der intentionalen Beseelung, die den Körper des Wortes in den Leib verwandelt, die aus dem Körper* einen Leib*, eine geistige Leiblichkeit* macht. Die phänomenologische Stimme wäre dieser geistige Leib, der auch bei Abwesenheit der Welt zu sprechen und sich selbst gegenwärtig zu sein – sich zu vernehmen - fortfährt.« (D SP/26) 26. Hier wiederholt sich die Argumentation, wie Derrida sie bereits bezüglich Saussure vorgestellt hatte (D P/32f.). 150

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TEXT (DERRIDA)

licht sich rein geistig, trägt Wahrheit in sich aus und ist in jedem Augenblick bei sich – und in jedem Augenblick.27 Das Zusammenspiel des augenblicklichen Bei-sich-Seins der Selbst-Präsenz des Bedeutens und seine Selbst-Affektion im Vernehmen der ›eigenen‹ Stimme wird laut Derrida (a) durch die anzeigende und physische Seite des Zeichens und (b) durch die Zeitlichkeit der Intentionalität kontaminiert. Beide Einsprüche kommen – auf der entlang der saussureschen Thesen erarbeiteten Theoriebasis – insofern zusammen, als dass die Zeitlichkeit des Bewusstseins, und damit eben Bewusstsein überhaupt (s.o.), gerade nicht ohne signifikante Differenzen der Jetzt-Orte sich konstituieren kann. Anders gesagt: In die Selbst-Affektion ist die Selbst-Differenz eingelagert, da die (begriffliche) Bildung des Selbst auch im Ausdruck auf die Wiederholung des ursprünglichen Selbst verwiesen bleibt. Es ist offensichtlich, dass mit der Wiederholung eine zeitliche Differenz in die Konstitution des »Selbst« Einzug hält, so dass ein jedes ursprüngliche Entspringen des Ursprünglichen überschrieben bleibt. »Die Selbstaffektion als Operation der Stimme setzte voraus, daß eine reine Differenz die Selbstgegenwart teilte. In dieser reinen Differenz ist die Möglichkeit von all dem verwurzelt, was man aus der Selbstaffektion glaubt ausschließen zu können: der Raum, das Draußen, die Welt, der Körper usw. Sobald man zugesteht, daß die Selbstaffektion die Bedingung der Selbstgegenwart ist, ist eine reine transzendentale Reduktion nicht möglich. Aber man muß durch sie hindurchgehen, um sich die Differenz in nächster Nähe zu ihr selbst wieder zu eigen zu machen – und nicht zu ihrer Identität oder zu ihrer Reinheit oder zu ihrem Ursprung. Dergleichen hat sie nicht. Sondern in nächster Nähe zur Bewegung der différance. Diese Bewegung der différance überfällt nicht unvermutet ein transzendentales Subjekt. Sie bringt es hervor. Die Selbstaffektion ist keine Modalität einer Erfahrung, die bezeichnend wäre für ein Seien-

27. Rudolf Bernet führt dazu erhellend aus: »In der idealen Sprache gruppiert sich alles um den Begriff der Anwesenheit und den daraus resultierenden Begriff der Wahrheit. Es geht darum, das innerliche Erlebnis der Anwesenheit einer idealen Bedeutung in einem vollkommen intuitiven Denken auf die äußerliche Domäne Sprache zu übertragen. Das ist nur in einer sprachlichen Äußerung möglich, in welcher, demjenigen, was das Erkenntnissubjekt sagen will, nichts im Wege steht oder es stört, und in welcher der Ausdruck dem wahren Gedanken, den er repräsentiert, nichts hinzufügt und nichts entzieht. Dieses ›Sagen-wollen‹, das ›vouloir-dire‹, welches dem Ausdruck vorausgeht und dessen Wahrheitswert fundiert, nennt Derrida die ›Stimme‹ (voix).« Rudolf Bernet, »Differenz und Anwesenheit. Derridas und Husserls Phänomenologie der Sprache, der Zeit, der Geschichte, der wissenschaftlichen Rationalität«, in: Studien zur neueren französischen Phänomenologie. Phänomenologische Forschungen 18, Freiburg und München 1986, 51-112, hier: 70. 151

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des, das bereits es selbst (autos) wäre. Sie bringt das Selbe als Beziehung zu sich in der Differenz mit sich, das Selbe als das Nicht-Identische hervor.« (D SP/111f.)

Schrift-Spuren Il y a toujours quelque chose d’absent qui me tourmente. Camille Claudel Bedeutung ist nie präexistent und sich selbst a-semiotisch selbstpräsent, um dann von ›dort‹ in der Äußerlichkeit von Sprache und Schrift angezeigt zu werden. Jede Bedeutung, auch die der »Identität«, bleibt a priori auf das verwiesen, was ihr differiert. Hier tritt das in das »systematische Spiel von Differenzen« (D d/37) ein, was Derrida die »différance« nennt. Auch wenn »différance« – wie hier – in einem Text notiert oder in einem Gespräch geäußert werden kann, nimmt sie erkenntnismäßig doch nicht die Position eines Begriffes oder Wortes28 ein. Als ihr Ort ist eher jener zu vermuten, denn man traditionellerweise die Bedingung der Möglichkeit nennt – hier die der Strukturierung, Prozesshaftigkeit und Systemik von Begriffen (D d/37). Was also ist (die) »différance«?29 Eine solche mit »Was ist …?« formulierte Frage wird immer versuchen auf das Wesen des in Frage stehenden Gegenstandes zu zielen.30 Mit der »Was ist …?«-Frage stehen oder fallen ganze Philosophien. Das Wesen der différance jedenfalls, so lässt sich paradoxerweise sagen, wäre es, keines zu haben und seine Anwesenheit stetig ins Virtuelle zu verschieben. Sie entzieht sich einer Wesensbestimmung ebenso, wie ihr »a« als Differenz zum gemeinhin verwendeten »e« unhörbar bleibt.31

28. Zur différance als Un-Wort, siehe ausführlich: Reiner Ansén, Defigurationen. Versuch über Derrida, Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, bes.: 95-106. 29. Eine ähnlich unbeantwortbare Frage wird im Kapitel »Simulation« gestellt: Was ist die Matrix? 30. Siehe dazu auch: Jacques Derrida, Qu’est-ce que la poésie?, übers. v. Alexander García Düttmann, Berlin: Brinkmann & Bose 1990. Dazu: Timo Skrandies, »Vom Igel in vorläufiger gegenwart«, in: Undarstellbares im Dialog. Facetten einer deutsch-französischen Auseinandersetzung, hg. v. Thomas Bedorf, Georg Bertram, Nicolas Gaillard u. Timo Skrandies, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1997, 223-234. 31. »Ich werde also von einem Buchstaben sprechen.« (D d/29) In diesem »a« erkennt Habermas das Aleph des jüdischen Alphabets. Von hier aus führt er seinen Angriff gegen Derrida und dessen vermeintlicher Ästhetisierung von Denken und Welt. Zudem bindet Habermas Derrida tief in die Tradition der jüdischen Mystik ein, was an der différance augenfällig werde. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, 191-218. Der Text von Habermas brachte Gondek wie152

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Die Bedeutung eines Zeichens liegt in der Differenz zu anderen. Dieser Umweg (des tours) über den Ort der Differenz beschreibt eine sprachliche Be-wegung, die nicht wahrnehmbar ist, da jeder Versuch diese zu denken bereits in Zeichen-Sprache geschieht, auf die dann die Differenzialität ebenso zutrifft usw. Différance nun benennt eben die Ermöglichung dieser sprachlichen Bewegung als Räumlichkeit und Zeitlichkeit von Schrift. Geradezu sinnlich nachvollziehbar wird diese abstrakte UmSchreibung, vergegenwärtigt man sich in einer kurzen semantischen Analyse, wie Derrida den Begriff, der keiner ist, als Wort komponiert.32 Er bezieht sich zum einen auf die Doppeldeutigkeit des französischen Verbs différer: In der gebräuchlichen Bedeutung meint es »nicht identisch sein, anders sein, erkennbar sein usw.« (D d/34) und betont so eher das räumliche, verräumlichende Moment. Dahingegen hebt Derrida in einer weiteren Perspektive von différer dessen zeitliche Dimension hervor. Hier meint es dann vor allem »temporisieren, heißt bewußt oder unbewußt auf die zeitliche und verzögernde Vermittlung eines Umweges rekurrieren, welcher die Ausführung oder Erfüllung des ›Wunsches‹ oder ›Willens‹ suspendiert und sie ebenfalls auf eine Art verwirklicht, die ihre Wirkung aufhebt oder temperiert.« (D d/33f.) Beide Bedeutungsfelder sind in dem einen Wort verwoben und nur künstlich, im Rahmen einer Analyse voneinander zu trennen. Zudem wird die Dynamik der Raum und Zeit gebenden Bewegung von différer erst durch den Kunstgriff wirksam, mit dem Derrida différer die Endung -ance anhängt, die wiederum auf zweierlei verweist: Auf das für die erkenntnistheoretischen Grundlagen zahlreicher Theorien so wichtige Substantiv différence einerseits33 und auf das Aktivität betonende participe présent differant andererseits (D d/34f.). Doch Vorsicht: Das Französische bleibt hier uneindeutig. Die Endung -ance kann sowohl Aktivität und Bewegung als auch Passivität und Stillstand betonen. »Différance« kann allein semantisch also nicht hinreichend beschrieben werden und verbleibt dem »Wahrnehmungsglauben« (MerleauPonty) der rhetorisch stets statuierenden Sprache als nicht-repräsentierter Modus innerlich und uneindeutig. Oder wäre das Paradox eines

derum dazu zu fragen, ob Habermas Derrida wirklich gelesen habe: Hans-Dieter Gondek, »Die Universalien der Sprache und ihre Parasiten«, in: Zeitmitschrift. Journal für Ästhetik, 3, Düsseldorf 1987, 86ff. 32. Zum Begriff des »Begriffs«, siehe: Gottlob Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994. 33. Siehe hierzu etwa: Gilles Deleuze, Différence et répétition, Paris: PUF 1968. Vincent Descombes, Le même et l’autre, Paris: Les Éditions de Minuit 1979. Georg Christoph Tholen, Wunsch-Denken. Versuch über den Diskurs der Differenz, Kassel: Kasseler Philosophische Schriften 1986. 153

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»Status der Uneindeutigkeit« geradezu die, wiederum paradox, treffende Umschreibung? Jedenfalls, unterhalb der unvermeidlichen Kausalitäten von Sprache (und auch Negationen, Paradoxien, Allegorien etc. sind hier nicht dislokativ) wirksam, doch nicht als deren »konstituierende, produzierende und originäre Kausalität« oder als ebenso kausaler »Prozeß von Spaltung und Teilung, dessen konstituierte Produkte oder Wirkungen die différents oder différences wären«, kündigt, was mit différance zu bezeichnen wäre, sich »eher« als eine »mediale Form« an. Sie bringt eine Operation zum Ausdruck, »die keine Operation ist, die weder als Erleiden noch als Tätigkeit eines Subjektes, bezogen auf ein Objekt, weder von einem Handelnden noch von einem Leidenden aus, weder von diesen Termini ausgehend noch im Hinblick auf sie, sich denken läßt.« (D d/34) Sie ist in den Zwischenräumen der Sprache am Werk, d.h. in den Orten, an denen Sprache – in Derridas Sinne – zur Schrift wird, und das heißt eben: vom Beginn des Spiels aufeinander verweisender Signifikanten an. Schon zu Beginn seines Textes weist Derrida auf die Unmöglichkeit hin, différance eindeutig zu definieren. Es ginge vielmehr darum, verschiedene Linien oder Perspektiven zu bündeln, um so auf ein Bedeutungsumfeld hinweisen zu können. Die semantische Analyse mag ein erster dieser Fäden des Gewebes différance gewesen sein. Andere verlaufen als Hinweise auf andere Denker durch den Text. Expliziert werden dabei der Differenz-Begriff Saussures, eine Hegel-Lektüre Koyrés, Nietzsche, Freud, Lévinas und Heidegger. In Koyrés Text zu Hegels Jenenser Logik geht es um übersetzerische Probleme des Ausdrucks »differente Beziehung«. Er bezeichnet den Sachverhalt, dass an dieser Stelle Zeit vornehmlich als Gegenwart verstanden wird, die in sich die Grenze von Vergangenheit und Zukunft trägt. Die beiden Momente stoßen im Augenblick der Gegenwart aneinander und werden doch zugleich in dieser auseinandergehalten. Was sich hier ausdrückt, ist nach Koyrés Worten, Hegel lesend, ein aktiver »›Rapport différent: differente Beziehung. Man könnte sagen: rapport différenciant‹« – und Derrida fügt an, dass Koyré diesen rapport différent hier schon hätte mit »a« schreiben können: rapport différant (D d/40).34 Des Weiteren hebt Derrida Nietzsches Gedanken hervor, demnach das Bewusstsein Effekt von Kräften sei (»der Leib, die große Vernunft«), die selber dem Bewusstsein (»die kleine Vernunft«) nicht einverleibt werden können, und stellt sich die Frage, ob nicht die

34. Nebenbei sei bemerkt, dass das, was Derrida in Babylonische Türme (Des Tours de Babel) als Problem und Chance von Übersetzung konzeptioniert, hier bereits in einem Satz zusammengefasst aufscheint. Die Arbeit Koyrés und zugleich seine eigene kommentierend schreibt er: »Und die Übersetzung wäre, was sie immer sein muß: Transformation einer Sprache durch eine andere.« (D d/40) 154

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ganze Philosophie Nietzsches »[…] eine Kritik der Philosophie als aktiver Indifferenz der Differenz gegenüber, als System von a-diaphoristischer Reduktion oder Repression« sei (D d/43). Die sich hier der Vergegenwärtigung verweigernde Kraft (Wirkung von Kraft) entspricht der Logik der différance: Von Sprache umschrieben und chiffriert, schreibt sie sich in sie ein, indem sie die Chiffrierung als Prozess unterscheidenden Aufschubs in Gang hält.35 Wie bei Nietzsche so nimmt auch bei Freud eine das Bewusstsein prägende abwesend-anwesende Instanz eine prominente Stellung ein. Am Beispiel des Verhältnisses von Lustprinzip und Realitätsprinzip zeigt sich, wie in jedem Teil des anscheinend oppositionellen Gegensatzpaares, das jeweils andere gerade als Aufschub wirksam ist. Différance, räumliche wie auch zeitliche Differenz allererst bedingend, prägt das Korrelative von Begriffsgegensatzstrukturen ebenso wie den internen Sach-Verhalt dieser Ökonomie. Das Nicht(-anwesend)-Sein der différance evoziert auch die Problematisierung der »ontologischen Differenz« (Heidegger) von Sein und Seiendem. Auch hier ist es wiederum so, dass die These einer Hierarchie oder auch zeitlichen Abfolge nicht aufrechtzuerhalten wäre, die bspw. meinte, das Sein liege dem Seienden zugrunde oder ginge diesem voraus. Im Versuch, »die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen« (Hei SuZ/1), erhellt Heidegger die Vergessenheit des Verhältnisses von Sein und Seiendem. Die Differenz beider als solcher kommt nicht zum Vorschein, doch ist der Mensch das Da des Seins, der Ort, wo Sein als Seiendes sich kundgibt. Das entspricht, laut Derrida, der différance: Vernehmbar und lesbar ist von ihr lediglich ihre Wirkung – die Spur, die sie hinterlässt, Bedeutung generierend. Beließe man es jedoch bei der Feststellung, différance sei die Spur, wäre nichts gewonnen. Denn »Spur« wäre lediglich eine jeweils andere Version des Zustands »Unterschied« oder, nochmals auf das Heidegger-Vokabular bezogen, das »Verhältnis von Sein und Seien-

35. »Man könnte auf diese Weise alle Gegensatzpaare wieder aufgreifen, auf denen die Philosophie aufbaut und von denen unser Diskurs lebt, um an ihnen nicht etwa das Erlöschen des Gegensatzes zu sehen, sondern eine Notwendigkeit, die sich so ankündigt, daß einer der Termini als différance des anderen erscheint, als der andere, in der Ökonomie des Gleichen unterschieden/aufgeschoben (différé).« Das ließe sich mit der »Thematik der aktiven Interpretation« in Verbindung bringen: »Enthüllung der Wahrheit als Darstellung der Sache selbst in ihrer Anwesenheit, usw. durch unaufhörliches Dechiffrieren […]. Eine Chiffre ohne Wahrheit oder zumindest ein Sytem von Chiffren, das nicht durch den Wert von Wahrheit beherrscht wird, der darin nur zur eingeschriebenen, umschriebenen Funktion wird. Diese ›aktive‹, in Bewegung begriffene Zwietracht verschiedener Kräfte und Kräftedifferenzen, die Nietzsche dem System der metaphysischen Grammatik überall dort entgegensetzt, wo sie Kultur, Philosophie und Wissenschaft beherrscht, können wir mithin différance nennen.« (D d/43f.) 155

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dem«, wäre damit aber wiederum in einer Dialektik oder Dichotomie bestimmbar. So gehört zur Spur auch dasjenige, was sie qua Spur verschiebt, vergessen-macht, auflöst, zum Verschwinden bringt. Das, was von der Spur als Zeichen ausgestellt wird, trägt das Ungesagte, Verschwundene notwendig in sich und mit sich mit.36 Das Zeichen ist unsteter Gastgeber einer Bedeutung, die in den Differenzen zu anderen Zeichen als Spur von Verweisungen vernehmbar wird. Es bleibt dabei: Der zentrale Topos ist die Korrelation von »Identität« und »Anwesenheit«. Nur ändert sich eben dessen theoriezistische Funktion nach allem Gesagten wesentlich. Was in der Intention als anwesend erfahren wird, ist schon ein Effekt. Denn Identität hat zu ihrer gegenwärtigen Positionierung sich vom ihr Anderen zu unterscheiden und abzugrenzen. Damit bleibt sie für die Selbst-Konstitution darauf verwiesen, selbst-affektiv (signifikant) nur sein/werden zu können, indem ein Bezug zu einem Anderen hergestellt ist – damit aber wird Identität zu einem Signifikanten, der signifikant nur durch die Spur eines Anderen auf sie wird.37 So ist auch Anwesenheit vom temporalen und räumlichen Aufschub bewohnt, »wird zum Zeichen des Zeichens, zur Spur der Spur. Es ist nicht mehr das, worauf jede Verweisung in letzter Instanz verweist. Es wird zu einer Funktion in einer verallgemeinerten Verweisungsstruktur. Es ist Spur und Spur des Erlöschens der Spur.« (D d/49)38

Exkurs: Zur Spur des Subjekts Derridas Erweiterung des Schriftbegriffs hat theoriezistisch das Einbegreifen eines jeden »Begriffs« und Gedankengangs in Dekonstruktion

36. »Die ›frühe Spur‹ der Differenz verliert sich unwiederbringlich in Unsichtbarkeit, und dennoch wird ihr Verlust selbst verborgen, bewahrt, gewahrt, verzögert. In einem Text. In Gestalt des Anwesens. Des eigentums. Das selbst nur ein Effekt der Schrift ist.« (D d/50) 37. »Die Spur benennt eben diese nicht auslöschbare Instanz des repraesentamen in jeder Anwesenheit, dieses Mehr des Bedeutens in jedem Sinn. Es gibt, um die Termini der mittelalterlichen Logik aufzugreifen, nicht eine intentio prima und eine intentio secunda, sonder jede Intention ist immer secundo-prima oder primo-secunda, in der Weise, daß die Intentionalität immer über das Gemeinte hinausschießt, das Bedeuten die Bedeutung vorwegnimmt und sie überlebt.« Giorgio Agamben, »Pardes – Die Schrift der Potenz«, in: Ethik der Gabe, hg. v. Michael Wetzel u. Jean-Michel Rabaté, Berlin 1993, 3-17, hier: 11. 38. In ähnlicher Weise geht Derrida auf den Spur-Begriff in Auseinandersetzung mit dem heideggerschen »Anwesen« ein. Dazu: Jacques Derrida, »Ousia und gramme. Notiz über eine Fußnote in Sein und Zeit«, übers. v. Gerhard Ahrens, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, 53-84, bes.: 80-84. 156

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TEXT (DERRIDA)

zur Folge. Dies gilt letztlich auch für solche Topoi philosophischer Epistemologie, die traditionellerweise gerade umgekehrt als Instanzen der Hervorbringung von Bedeutung gedacht wurden, also z.B. »Intention«, »Ich«, »Bewußtsein« und eben auch: »Subjekt«. Der vorliegende Text verfolgt an einschlägigen Paradigmen der Medientheorie (Zweiter Teil) und Philosophien der Moderne (Dritter Teil) deren Arbeit am Begriff »Subjekt« (und an dem der »Sinnlichkeit«) und enthält sich gerade bewusst (und methodisch) einer vorwegnehmenden Bestimmung oder Umgrenzung der Topoi auf anthropologische Kategorien. Denn erst in einer solchen Offenheit kann sich – für hier – die spezifische Relevanz des »Subjekt«-Begriffs der in Frage stehenden Ansätze der Moderne für die historisch nachfolgenden Adaptionen des Topos an medienrelevante Engführungen erkenntnistheoretischer Problemstellungen erweisen. Doch gleichwohl gibt es ja philosophiehistorisch die Lektüre des »Subjekts« als spezifisch anthropologischer Kategorie. Und da, wie gesehen, einer der Dekonstruktion wesentlichen Momente die Re-Lektüre historischer Begriffssemantiken und -praxen ist, soll im Folgenden – kurz gefasst – eine Ausnahme von den vorstehenden methodischen Randbedingungen dieser Arbeit gemacht werden. Die in Dekonstruktion prozedierende Transformation des bei Husserl scheinbar vorliegenden Junktims Ich – Subjekt kann in fünf Schritten schematisiert werden und wird in der Folge auf die Medienproblematik im spezielleren hinführen. (1) Husserl bindet die Möglichkeit von Bedeutung noch ans intentionale Bewusstsein. Ohne Bezug auf ein solches bleibt jedes Wort bedeutungslos.39 Diese Relation wird bei Derrida geradezu umgekehrt: »Und genauso wie der Wert einer Wahrnehmungsaussage nicht von der Aktualität, noch nicht einmal von der Möglichkeit der Wahrnehmung abhing, hängt auch der signifikante Wert des ich nicht vom Leben des sprechenden Subjekts ab. Ob die Wahrnehmung die Wahrnehmungsaussage begleitet oder nicht, ob das Leben als Selbstgegenwart die Aussage des ich begleitet oder nicht, ist für das Funktionieren des Bedeutens vollkommen gleichgültig. Mein Tod ist strukturell notwendig für die Verkündung des ich.« (D SP/129) Die Subjektunabhängigkeit und Wiederholbarkeit der Zeichen ist also Bedingung für die Möglichkeit von Bedeutung, und nicht etwa eine jenseits existierende, gar transzendentale, vor- oder übersprachliche Instanz namens Subjekt. Aber: Hinreichend wird diese Vorannahme erst, wenn zur reinen

39. Die jeweilige Bedeutung des Wortes »Ich« kann »nur aus der lebendigen Rede und den ihr gehörenden, anschaulichen Umständen entnommen werden. Lesen wir das Wort, ohne zu wissen, wer es geschrieben hat, so haben wir, wenn nicht ein bedeutungsloses, so zum mindesten ein seiner normalen Bedeutung entfremdetes Wort.« (Hu 3/87) 157

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Bedeutungsgenerierung noch deren Funktion des Bezeichnens hinzugedacht wird. So wird man das die Bezeichnungsfunktion ausführende Subjekt heuristisch als ein empirisches, reales verstehen können, dem zwar einerseits die intentionale Möglichkeit der Wahrheitskonstitution – aufgrund der eigenen Kontextualität im Schriftgeschehen40 – nicht mehr möglich ist, das aber gleichwohl die Kommunikabilität der Zeichen verantwortet. (2) Die Möglichkeit einer Problematisierung der Selbstpräsenzthese des subjektiven Bewusstseins ist damit gegeben, kann aber gleichwohl nicht als direkte Kritik artikuliert werden. Denn jede Bestimmung des Bewusstseins bzw. Subjekts, sei sie konstruktiv, kritisch, disseminativ, wie auch immer, ist nun – nach der Privilegierung der Schrift – den Bedingungen der Bewegung der Sprache ausgesetzt. Eine direkte Bestimmung der in Frage stehenden Größen würde sich also durch die eigenen sprachtheoretischen Grundannahmen hinwegraffen. Die Dekonstruktion des Subjekts bleibt damit auf den von ihr vorgegebenen Rahmen der semiologisch rekurrierenden Bestimmungen verwiesen. Das in diesem Sinne sprachabhängige Subjekt bleibt in die Bewegung des grammatologischen Bedeutungsaufschubs eingebunden – und das gilt ebenso für dessen Intentionalität. Es findet ein ursprünglicher Diebstahl der Intention statt – in der Intention. Denn es führt keine geschlossene oder direkte Bahn vom Autor einer Rede oder Schrift zu einem Empfänger. Die Kontextbindung von Schriftzeichen ist fiktiv. So wird historisch die Einsetzung des Subjekts gestützt. Aber es bleibt eine Ein-Setzung: Eine nachträgliche Fixierung der prinzipiell offenen Zeichenkontexte, die, argumentativ nun a contrario, als aufs Subjekt als deren Ursprung zum Zweck der machtvollen Sinnpotenzierung und -steuerung zulaufend gedacht werden. Doch paradoxerweise wird nun dieses Subjekt just in dem Augenblick stets beraubt, in dem es seine Ermächtigung erfährt. Denn es bedarf der Differierung von sich selbst, der Aufgabe der Selbst-Gegenwart des Selbst, um zu sich selbst sich ins Verhältnis zu setzen. In diesem Augenblick – dem als Ereignis ein Zeit-Riss inhäriert, wie weiter unten zu sehen sein wird – ist das selbstbewusste Subjekt bewusstlos und seines Wissens um sich selbst beraubt, denn es muss den Umweg (des tours) der Lektüre seiner selbst nehmen – und die kann nie an dem Ort stattfinden, an dem Ich im Augenblick ist.41 (3) Das Bewusstsein existiert für sich selbst also nicht präsent, sondern wird wahrnehmbar nur als Effekt der in der différantiellen Ite-

40. Hierzu grundlegend: (D SEK/291-304). 41. Siehe zu diesem Vorgang des Diebstahls: Jacques Derrida, »Die soufflierte Rede«, übers. v. Rodolphe Gasché, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, 259-301. 158

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TEXT (DERRIDA)

ration im Vorgang begriffenen Verzeitlichung (Auf-Riss von Zeitlichkeit) und Verräumlichung (Einräumung von Örtlichkeit). »Der Platz des Subjekts/Sujets wird von einem anderen eingenommen.« (D Gr/ 539) Und an anderer Stelle: »Das Sprachbewußtsein und damit das Bewußtsein schlechthin ist das mangelnde Wissen um denjenigen, der im Augenblick und am Ort, an dem ich mich äußere, spricht.«42 Die Charakteristika der Schrift (différance, Spur) kommen so mit den Bestimmungen des Subjekts zur Deckung: Bewusstsein und Selbstbewusstsein in Form ihrer Repräsentation im Zeichen heißt mithin Abwesenheit des Subjekts, aufgrund des durch die différance bedingten zeitlichräumlichen Differenzgeschehens der Zeichen. Es gilt, ein originäres Sein von der Spur her zu denken – und nicht anders herum (D SP/ 115).43 (4) Die Problematisierung des Subjekts stellt sich so zwangsläufig immer als die Frage nach den Möglichkeiten der Gegenwart von (Selbst-)Bewusstsein dar. Aufgrund seiner Einbindung in die Zeitlichkeit der Schrift ist es unabdingbar von einer Verspätung betroffen. Die symbolische Ordnung, die schon in der Moderne eine schleierhafte Beziehung von Selbstbewusstsein und Subjekt-Sein und von Subjekt und Welt erbringt, lässt das Subjekt in der derridaschen Theorie nurmehr als »Effekt« der Sprachbewegung und nicht mehr als die »absolute Matrixform« erscheinen (D d/42). Das notwendige Voraussetzen einer ordnenden und strukturierenden Instanz dieser Effekte schien oben durch die – zugegeben: heuristische – Annahme eines ›empirischen‹ Subjekts in der Theorie schon erfüllt. Nun, da sich die unablösbare Einbindung einer jeden Vorstellung – also auch die eines ›empirischen Subjekts‹ – in die Spureffekte des grammatologischen Schriftgeschehens zeigt, wird dieses scheinbar schon gelöste Problem wieder virulent. Was also ist das die unablässigen Verweisungen strukturierende Zentrum, wenn es nicht mehr ein der Sprache vorgängiges Subjekt sein kann, da dieses vielmehr auch nur einer ihrer Effekte ist? Diese Mitte darf unbedingt nicht durch die Sprache konstituiert sein. (5) Das für die Hervorbringung von Sinn wegen der Zeichenstruktur der Sprache notwendige zeitliche Intervall konstituiert im Speziellen auch die Möglichkeit von Selbstbewusstsein. Doch nicht nur das: A fortiori ist die Form der Differenzialität des Selbstbewusstseins und Bewusstseins notwendig kongruent mit der Bedeutungsgenerierung, wie sie als die Bewegung der différance geschildert wurde. Das sich selbst differente Subjekt ist also nicht anders als die die Differenzialität hervorbringende différance denkbar. Das Subjekt der Sprache

42. Derrida, »Die soufflierte Rede«, a.a.O., 1994, 269. 43. Siehe zur zeitlichen Differenz von Selbst und Jetzt auch insbesondere nochmals: (D SP/83ff.) und (D SP/112ff.). 159

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ist immer ein Subjekt im Zeichen der différance. Wie gehört ist sie diejenige Größe, die jeden Begriff zu einer »Funktion in einer verallgemeinerten Verweisungsstruktur« (D d/49) macht. Dieser Topos, und auch die différance selbst, die keiner ist, bleibt damit unbestimmbar, eine Leerstelle – der Ort des derridaschen »Subjekts« ist ebendies: die Spur eines offenen Ortes. Damit klingt ein Motiv an, das bei Heidegger als das »Offene« in freund(schaft)licher Manier (»Komm, ins Offene, Freund«) wiederzuhören sein wird.44 Das »Subjekt« wird also wohl stets auf den Ex-Kurs geschickt sein, gleich, ob es – wie hier – beschrieben wird oder ob es ist. Damit endet der Exkurs zum »Subjekt« und der Text setzt wieder am oben offen gelassenen Ende der »Spur« an. Er schickt (envoi) sich wieder auf die Bahn zurück (renvoi), den Korso oder Kurs, der Schrift-Spur nach. Die Bahn kommt – jetzt, und wie immer im discours der Dekonstruktion: mit Verspätung. Das Moment des renvoi, so wird nun deutlich, ist in identifizierenden Sinnkonstitutions- und Sinnzuschreibungsprozessen unerlässlich und unumgehbar, da es die besagten Prozesse in Umlauf bzw. auf Sendung (envoi) hält.45 Erstens verläuft zudem der Reflex aufs Temporale hin gesehen nicht geschlossen von einem Status über einen anderen zum ursprünglichen zurück. Dieser Weg der Differenz setzt eine jede Intention einem Zeit-Riss aus – sie wird in keinem Augenblick gewesen sein, was sie (nie) war. Und zweitens, jenseits des modischen Postulats einer Auflösung von Sinn in totale Beliebigkeit46, weist das derridasche Modell der Spur eine Neuformulierung gerade der Konstituierung von Sinn auf. Nur eben prozediert diese nicht mehr über ein Modell der Ursprünglichkeit (des Selbst, der Intention, des Werks, des positiven Rechts, des Status des Gastgebers etc.), da die Rückfrage an sie die Einsicht erbrachte, dass auch der Ursprung entsprungen, Effekt einer Überschreibung ist, die zugleich die Möglichkeit seines Erscheinens ist und sich dabei selbst überschreibt. Deshalb ist der Effekt der Einschreibung, das Sinnliche, Spur eines Ursprungs, der die Möglichkeit der Spurung gab. Diese ursprüngliche Spur bleibt ihrerseits spurlos in

44. Gegen Ende des dritten Teils, im abschließenden Heidegger-Kapitel. 45. Hierzu die umfangreichen Lieferungen Derridas zur Semantik alles Postalischen – oder besser: zum Postalischen aller Semantik: Jacques Derrida, Die Postkarte. 1. Lieferung und ders., Die Postkarte. 2. Lieferung, übers. v. Hans-Joachim Metzger, Berlin: Brinkmann & Bose 1987. Ein kluger Kommentar hierzu: David Wills, »Dem Buchstaben nach geben« übers. v. Lisa Müller, in: Ethik der Gabe, hg. v. Michael Wetzel u. JeanMichel Rabaté, Berlin: Akademie-Verlag 1993, 285-300. 46. … die weder etwas mit Dekonstruktion noch mit Postmodernität zu tun haben, vielmehr deren sekundäre bzw. feuilletonistische Effekte sind. 160

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TEXT (DERRIDA)

dem Sinne, dass sie als Spur ohne Ursprung bleibt, ihn mit ihrem (Nicht-)Auftritt auf dem »Schauplatz der Schrift« in einer Spur zum Verschwinden gebracht haben wird. Die Spur bleibt also, was sie ist: mögliche Möglichkeit – Virtualität, oder, mit einem Wort Giorgio Agambens, »Schrift der Potenz«. Schrift ist die zeit-räumliche Entfaltung von Bedeutungszusammenhängen. Was sich in Texten an Begriffen, Definitionen, Axiomen, Idiomen etc. findet, sind Versuche, die Grenzen der Diskurse zu statuieren und zu behaupten. Mit diesen (wissenschaftlichen) Systematisierungspraxen klarer Begrifflichkeiten im Rahmen einer jeweils bestimmten Logik verliert ein jeder Text gerade mit seiner derartigen Disposition die Möglichkeit, seine eigenen Grenzen und Ränder zu vernehmen, einzuvernehmen, und den Zeit-Riss zwischen eigener Positionierung und Aussage wiederum zu bestimmen.47 Jede Schrift beinhaltet demnach ein Schweigen, ein Verschwiegenes, und es stellt sich die Frage nach der Grenze, dem Draußen der Schrift.48 Wo verläuft sie? Nach dem bislang Gesehenen verläuft sie wohl nicht als Rand anzeigender Zeichen gegenüber einer reinen, unhörbaren (unerhörten) Innerlichkeit des Ausdrucks. Behütet die Schrift ein Schweigen in sich, indem sie es gerade als »Spur der Spur«, als »Lesbarkeit der Welt« (Blumenberg) ausstellt, so wird die Grenze zu eben diesem Nicht-Gesagten je schon in der Schrift selbst verlaufen.49 Das von der Schrift

47. »Die Dekonstruktion besteht nicht darin, von einem Begriff zu einem anderen überzugehen, sondern darin, eine begriffliche Ordnung ebenso wie die nicht-begriffliche Ordnung, an der sie sich artikuliert, umzukehren und zu verschieben. Zum Beispiel umfaßt die Schrift als klassischer Begriff Prädikate, die von Kräften und nach Notwendigkeiten, die zu analysieren sind, subordiniert, ausgeschlossen oder einbehalten wurden. Diese Prädikate sind es […], deren Kraft der Generalität, der Generalisation und der Generativität befreit und auf einen ›neuen‹ Schriftbegriff aufgepfropft wird, der ebenfalls dem entspricht, was stets gegen die alte Organisation der Kräfte resistiert hat, was stets den Rest konstituiert hat, irreduzibel auf die herrschende Macht, welche die – sagen wir, um es kurz zu machen: logozentrische – Hierarchie organisierte. Diesem neuen Begriff den alten Namen Schrift zu lassen, heißt, die Struktur des Pfropfreises, den Übergang zu und das unerläßliche Festhalten an einem wirksamen Eingriff in das konstituierte historische Feld zu bewahren. Es heißt, alledem, was sich in den Operationen der Dekonstruktion abspielt, die Möglichkeit und die Kraft, die Macht der Kommunikation zu geben.« (D SEK/314) 48. Offensichtlich ist das die Frage nach dem »Archiv« und seinen Funktionen. Dazu mehr im nächsten Haupt-Kapitel dieses zweiten Teils. 49. »Das System der Schrift im allgemeinen ist dem System der Sprache im allgemeinen nicht äußerlich, außer man läßt zu, daß die Teilung zwischen Äußerem und Innerem Inneres von Innerem oder Äußeres von Äußerem scheidet, und zwar so, daß die Immanenz der Sprache wesensmäßig dem Einbruch ihrem eigenen System scheinbar 161

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umschriebene Schweigen, das der Schrift eingeschrieben ist und sie zum Sprechen bringt, heißt différance. Diese Wirksamkeit der différance stellt sich als Verräumlichung der Zeit und Verzeitlichung des Raumes dar. Mit der Verklammerung dieser beiden Bewegungen zu »einer verteilende(n) und zerteilenden Äußerlichkeit, die sich nicht mehr im Augenblick der lebendigen Gegenwart sammelt«50, gelangt Derrida zu einer erweiterten Vorstellung von Schrift. Die ursprüngliche »Gegenwart« von Sinn in Schrift wird hier zu einem einschreibendüberschreibenden Ursprungsgeschehen (s.o.), dem wiederum – zeitlich und räumlich verstanden – iterative Differenzierung und differierende Iteration wesentlich sind. »Noch ehe das sprachliche Zeichen überhaupt ›aufgezeichnet‹, ›repräsentiert‹, in einem ›Schriftsystem‹ ›dargestellt‹ wird, impliziert es eine Urschrift.« (D Gr/92) Die Urschrift ist Bewegung der différance (D Gr/105) in der – verkürzt zusammengefasst – grammatologischen Schrift; sie ist eine Schrift avant la lettre und ihre Produktivität ist die Möglichkeit, dass sich Verzeitlichung und Verräumlichung als Anspruch des Anderen in eins öffnen (D Gr/105). In diesem Offenen ereignet sich eine Schrift, die nun in ihrer Erweiterung aufgefasst werden kann: »Tatsächlich pflegte man vor einiger Zeit für Aktion, Bewegung, Denken, Reflexion, Bewußtsein, Unbewußtes, Erfahrung, Affektivität usw. ›Sprache‹ zu sagen; […] Heute jedoch neigt man dazu, für all das und vieles andere ›Schrift‹ zu sagen: nicht allein um die physischen Gesten der piktographischen, der ideographischen oder Buchstabenschrift zu bezeichnen, sondern auch die Totalität dessen, was sie ermöglicht; dann über den Signifikanten hinaus das Signifikat selbst, sowie all das, was Anlaß sein kann für EinSchreibung überhaupt, sei sie nun alphabetisch oder nicht, selbst wenn das von ihr in den Raum Ausgestrahlte nicht im Reich der Stimme liegt: Kinematographie, Choreographie, aber auch ›Schrift‹ des Bildes, der Musik, der Skulptur usw.« (D Gr/20f.)51 Es lohnt, noch mit dem Zitat fortzufahren, da Derrida auch die Computertechnik miteinbezieht: »Und endlich wird der ganze, vom kybernetischen Programm eingenommene Bereich – ob ihm nun wesensmäßig Grenzen gesetzt sind oder nicht – ein Bereich der Schrift sein. Selbst wenn man annimmt, daß die Theorie der Kybernetik sich

fremder Kräfte ausgesetzt ist. Aus dem gleichen Grund ist die Schrift im allgemeinen nicht ›Abbild‹ oder ›Darstellung‹ der Sprache im allgemeinen, es sei denn, man denkt Natur, Logik und Funktionsweise des Abbildes in dem System, aus dem man es ausschließen wollte. Die Schrift ist nicht Zeichen der Zeichen, es sei denn, was schon in einem tieferen Sinne wahr wäre, man behauptet dies von jedem Zeichen.« (D Gr/75) 50. Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, 542. 51. Hervorhebung, T.S. 162

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aller metaphysischen Begriffe – einschließlich jener der Seele, des Lebens, des Wertes, der Wahl und des Gedächtnisses – begeben kann, die noch bis vor kurzem dazu dienten, die Maschine dem Menschen gegenüberzustellen, so wird sie dennoch am Begriff der Schrift, der Spur, des Gramma oder des Graphems so lange festhalten müssen, bis schließlich auch das, was an ihr selbst noch historisch-metaphysisch ist, entlarvt wird.« (D Gr/21)52 Zwar entgeht also auch diese derridasche Schrift nicht metaphysischer clôture – das weiß der Philosoph –, denn jedes Zeichen tritt aufs Neue die Erbschaft logozentrischer Tagesreste an. Eine Sprache, jetzt virtualiter, ohne – im derridaschen Sinne – metaphysische Implikationen wäre ohne Sinn. Und doch: Das durch Dekonstruktion erweiterte Verständnis von »Schrift« kann in ihr nun mehr als lediglich ein Speicher- oder Dokumentations-Medium ausdrücklicher Wahrheit(en) sehen. Im Gegenteil sogar: Das Argument dreht sich – gemäß der Ausführungen zu Saussure, Husserl und der différance – um. Denn: Jene Wahrheiten zeichensprachlicher Ausdruckssysteme haben den differenziellen Vorgang der Inkorporation (Einschreibung), die Zeitlichkeit und Räumlichkeit von Sinn erst öffnet, zu ihrer Bedingung. Zur Aussage muss Eingravierung vonstatten gehen können, sonst ist sie nicht konstitutionsfähig. Der Akt der Schrift in diesem dekonstruktivdifférantiellen Sinne (›Spurung‹) ist primäre Möglichkeit (intentionaler) Konstitution – ohne damit selbst wieder Theoreme der prima philosophia zu restituieren.53

Écran de l’autre Ereignis der »Échographies« Derrida sieht fern – »beaucoup trop de temps« (D E/153). Er sieht fern, weil es ihn als solches fasziniert, ohne diese Faszination weiterhin begründen zu können, und er sieht fern, weil er zugleich ein Interesse hat, diese Faszination zu analysieren und zu wissen, was da ›auf der

52. Zum Motiv der Gegenüberstellung von Mensch und Maschine fügt Derrida eine Fußnote zu Norbert Wiener an und weist darauf hin, dass sich auch dort (noch) eine Organprojektions-Metaphorik finden lasse. Das ist eine Achtsamkeit auf die Rhetorik und Metaphorik der Technik- bzw. Medientheorie, wie sie heute wieder von Tholen vorgeführt wird: Georg Christoph Tholen, »Metaphorologie der Medien«, in: zaesuren. Ökonomien der Differenz, November 2000, 134-168. Und: Ders., Die Zäsur der Medien. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2002. 53. Dazu: Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, übers. v. Rüdiger Hentschel u. Andreas Knop, München: Fink 1987, 118. 163

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anderen Seite‹ geschieht. Wer trifft Entscheidungen, wer wählt aus, was zu senden sei und was nicht, wie ›funktionieren‹ die Medien, wie verlaufen die Machtbeziehungen? Aber auch: Was geschieht mit einem Fernsehsprecher (»Talking Head«!) oder einem Politiker (D E/12) angesichts eines Prompters? – den Blick scheinbar auf den Fernsehzuschauer gerichtet und auf dessen Zuhause (»chez-soi«), blickt der Sprecher, jetzt, doch eigentlich auf einen Text, der woanders und zu einem anderen Zeitpunkt geschrieben wurde, um diesen, jetzt, zu lesen. Diese Fragen zu stellen, bedarf es also der Medienrezeption, und sich diesen Fragen zu stellen, ist ein unerlässliches Moment politischer Verantwortung (D E/153f.). Seit den Achtzigerjahren sind ›politische‹ Texte der Dekonstruktion entstanden, die die sprachtheoretische mit der im weiteren Sinne sozial- und technikphilosophischen und besonders ethischen Perspektive verknüpfen. Das Ethische, an das hier gedacht ist, findet sich allerdings nicht im Areal moralphilosophischer Reglements. Vielmehr ist es – mit Lévinas – das Fragen nach dem Sinn von Ethik, und damit nach deren Bedingung.54 Zu diesem Begriff von »Ethik« schreibt Thomas Bedorf in seiner Studie zur »Rolle des Subjekts bei Emmanuel Levinas« zusammenfassend: »Produktiv wird die Lektüre nur dann, wenn Levinas nicht als Moralphilosoph, sondern als ›Subjektphilosoph‹ gelesen wird.« Denn »der Andere [wird] nicht in der Sphäre des konstituierten Ich angesetzt […], sondern [beginnt] bereits im Selben […] Das ›Immer-schon-vom-Anderen-angegangen-worden-sein‹ bildet nichts Hinzukommendes, sondern ist gerade das Subjekt.« Demnach ist in Ordnungen immer ein Überschuss am Werk, dessen Andersheit »für jede Selbstheit konstitutiv ist«. Der reflektierte Blick hierauf wäre – so Bedorf weiter, mit Bezug auf Bernasconis »Ethik des Verdachts« – »gewissermaßen eine ›Ethik ohne Ethik‹, die das woher der Ansprüche [und Ordnungen, T.S.] erkundet, ohne eine bestimmte Ethik festzulegen, ohne aber auch auszuschließen, daß sich je bestimmte Ethiken daran anschließen können. Levinas wäre insofern nicht ein Denker der Ethik im Gegensatz zur Politik, sondern ›der Denker des Raumes zwischen der Ethik des Verdachts und der Politik‹«.55 Und Derrida ist – besonders in den jüngeren Texten zur Gerechtigkeit, Verantwortung, Religion, Gastfreundschaft, Universität, zu Europa und eben auch in den medientheoretischen Reflexionen – der aktuelle Erbe und Zeuge dieses Denkens.56

54. Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches, übers. v. Dorothea Schmidt, Wien: Passagen 1996, 69. 55. Thomas Bedorf, Zur Rolle des Subjekts bei Emmanuel Levinas (unveröffentlichtes Manuskript), Bochum 1997, 118ff. 56. Mit diesen Themen – und speziell dem Thema »Europa« – steht Derrida selbstverständlich nicht allein. Das hat auch nochmals die konzertierte Aktion europäi164

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Basis bleibt aber auch (und gerade) für diese Texte ein Verständnis von Schrift, das auf die uneinnehmbare Andersheit des Anderen und dessen Spur der Differenz setzt. Auch in den Ausführungen zum benjaminschen Übersetzer-Aufsatz weist Derrida auf die RestBeständigkeit der Andersheit in Schrift hin. Sie lässt sich in die Intuitionen einer eigenen Sprache restlos weder überführen noch entgegennehmen.57 Im »Versprechen« jedoch kann eine mögliche Verbindung zu ihr anklingen. Wird das Versprechen, das mit der Übersetzung gegeben ist, auch nicht spurlos einlösbar sein, so bleibt es als Möglichkeit doch bestehen. In diesem Versprechen, das die Spur darstellt, die auf das Andere des anderen Textes hinweist und die nicht bis zu Ende verfolgbar sein wird, in diesem Versprechen, auch gerade weil es nicht einhaltbar ist, liegt eine Verantwortung dem Anderen gegenüber: »Jenes Reich, der ›Versöhnungs- und Erfüllungsbereich der Sprachen‹, wird von der Übersetzung niemals erreicht, berührt, betreten. Es gibt ein Unberührbares – in diesem Sinne bleibt die Versöhnung ein Versprechen. Aber ein Versprechen ist nicht nichts; die Übersetzung zeichnet sich nicht nur durch das aus, was ihm fehlt, um eingelöst zu werden. Als Versprechen ist die Übersetzung schon ein Ereignis, die entscheidende Signatur eines Vertrags. Der Verpflichtung mag nachgekommen werden oder nicht: dennoch ist das Sich-Verpflichten ein Ereignis, ein Bekundetes, das sein Archiv hinterläßt. Eine Übersetzung, die ankommt, der es gelingt die Versöhnung zu versprechen, von ihr zu reden, ein Verlangen nach ihr zu haben oder das Verlangen nach ihr zu wecken, ist ein seltenes und bedeutendes Ereignis.« (D Ba/148) Die Aporie des Versprechens entspricht also einer doppelten Bewegung, die einerseits die Begrifflichkeiten und Grenzen von Sinnkonstitutionen, Geschichte und deren Techniken und Medien der

scher und US-amerikanischer Intellektueller gezeigt, die am 31. Mai 2003 in verschiedenen überregionalen und nationalen Zeitungen Europas zur Frage eines ›neuen‹ Europa Stellung bezogen haben. Derrida signierte in diesem Zusammenhang einen von Habermas verfassten und von ihm mit einem Vorwort versehenen Text in der FAZ. Jürgen Habermas u. Jacques Derrida, »Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Mai 2003. 57. Zur Resistenz des Rests in der Ökonomie der Gabe, siehe auch: Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, übers. v. Andreas Knop u. Michael Wetzel, München: Fink 1993, besonders das erste Kapitel. Die Reflexionen über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Selbst-Vergewisserung in einer langue maternelle – und darüber, dass selbst hier ein Übersetzungs-Versprechen, sich selbst, immer wieder gegeben wird und gegeben werden muss – können im Rahmen einer Ökonomie der Gabe zu politischen Einsichten über die Nähe von Gastfreundschaft (hospitalité) und Feindschaft (hostilité) führen. Hierzu: Jacques Derrida, Le monolinguisme de l’autre ou la prothèse d’origine, Paris: Galilée 1996. 165

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Wahrheit, Recht und Gesetz etc. nach deren Status, Wert und Verantwortlichkeit befragt und deren Grundlagen ins Gedächtnis ruft. Es ist eine Verantwortung des Gedächtnisses. Dafür müssen die Texte gelesen, gedeutet und ihre Genealogie verstanden werden. Und aufgrund ihres Anspruchs auf eine gewisse Universalität58 bedarf es im Vorgang einer Analyse der Beachtung des Singulären und Differenten. Wie Drucilla Cornell feststellt: »Auslegung ist Umgestaltung, und sobald wir auslegen, sind wir für die Richtung dieser Umgestaltung verantwortlich.«59 Andererseits beinhaltet dekonstruktives Vorgehen auch eine Verantwortung gegenüber der Verantwortung. Denn die Dekonstruktion eines begrifflichen Netzes ist zunächst eine Zersetzung und scheint allen ethischen Forderungen entgegenzustehen. Im allegorischen Verfahren, wie Benjamin es dargelegt hatte, wird einer gegebenen Bedeutung aller Sinn entzogen, veranlasst der Allegoriker das Stürzen des Sinns und führt ihn einem neuen Kontext zu, wo das entsprechende Bild oder Begriffsystem neue Bedeutung erlangt. »Bedeutung ist in der Schrift zu Hause.« (B I/383) Die Aufgabe des »historischen Materialist[en]« konnte in diesem Sinne darin gesehen werden, »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.« (B I/696f.) Struktural gesehen ist die analytische Vorgehensweise Benjamins und Derridas kohärent. Beiden ist die Notwendigkeit einer ständigen Weiterschreibung der Überlieferung Grundlage für die Möglichkeit von Ethik überhaupt. Dieses Weiterschreiben ist ethische Praxis selbst. Jenes Nachbuchstabieren des Differierens von Sinn also ist das destruktive Moment der Dekonstruktion. Ihr konstruktives Moment nun ist darin zu sehen, dass sie mit der Auflösung universaler Ansprüche, z.B. ethisch-politischer Begriffe, das restbeständige, versprochene Recht des Anderen zum Sprechen bringt. Hier äußert sich die un-endliche Forderung nach Verantwortung dem sich einer normativen Geschlossenheit Entziehenden oder auch Vereinnahmten gegenüber (Levinas). Mit der ethischen Forderung de l’autre ist anzuerkennen, dass die Differenz und die nicht endende Iteration des Anderen auch dieje-

58. »Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit.« Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1991, 30. Die Texte (Vorträge) Derridas zum Themenfeld Benjamin – Gewalt – Gerechtigkeit haben eine auch in juristischer Hinsicht weit reichende Debatte ausgelöst. Zum Überblick: Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994. Und im Speziellen sei empfohlen: Burkhardt Lindner, »Derrida. Benjamin. Holocaust«, in: global benjamin, Bd. 3, hg. v. Klaus Garber u. Ludger Rehm, München: Fink 1993, 1691-1723. 59. Drucilla Cornell, »Vom Leuchtturm her: Das Erlösungsversprechen und die Möglichkeit der Auslegung des Rechts«, in: Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, 60-96, hier: 94. 166

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nige des Selben bedeutet. Dabei ist die Verbindung zum Anderen zugleich der Schwellenraum, den es immer wieder aufs Neue zu durchqueren bzw. zu er-örtern gilt.60 Zum Alteritäts-Problem von »chez-soi« und »l’autre«, bezogen auf deren medialisiertes, televisionäres Verhältnis, führt Derrida emblematisch aus: »Prenons l’exemple de la télévision. Elle introduit dans le chez-moi l’ailleurs, et le mondial, à chaque instant. Je suis donc plus isolé, plus privatisé que jamais, avec chez moi l’intrusion en permanence, par moi désirée, de l’autre, de l’étranger, du lointain, de l’autre langue. Je la désire et en même temps je m’enferme avec cet étranger, je veux m’isoler avec lui sans lui, je veux être chez moi. Le recours au chez-soi, le retour vers le chez-soi est d’autant plus puissant, naturellement, qu’est puissante et violente l’expropriation technologique, la délocalisation. […] [L’]accélération du processus technologique […] est toujours aussi un processus de délocalisation.« (D E/92) Jene Raum-Zeit-Struktur, in der und mittels derer der Anspruch des Anderen je spezifisch dann fürs Eigene sinnenfällig wird, ist mitnichten ein sinn-loser, neutraler Ort. Dieser kann vielmehr sowohl ereignishafte Eröffnung des Alteritätsverhältnisses sein als auch machtvolles Verschweigen und Zum-Schweigen-Bringen, ein Unsagbar-Machen zugleich sein. Denn die Möglichkeits-Bedingungen, die Codes der »Zulässigkeiten« sind gerade in diesem, von Derrida angesprochenen, medialisierenden Schwellenraums zu Hause – suchen ihn heim – und lassen sich dennoch weder übersetzen noch veröffentlichen, sondern nur in ihrer Wirkung nach-weisen.61

60. Schon früh notiert Waldenfels: »Derrida [spricht] nun ausdrücklich nicht mehr von der Metaphysik. Wenn es Ränder im Plural gibt, kann es auch nicht mehr den einen Text geben. Mit der Onto-theologie schwindet auch eine ›Onto-theolo-eschatologie‹, die zielgerecht Ende an Ende reiht. Derrida kommt auf seine Anfänge zurück, nun in noch stärkerer Anlehnung an Levinas. Was über unsere Eigenwelt hinausführt, heißt nun nicht mehr nur inter-rogation, sondern inter-pellation, eine Stimme des Andern, die sich als Apell, Aufforderung, Begehren und Anspruch vernehmen läßt [und mit einer] Verflechtung von Schrift, Praxis und Anderem [einhergeht]. Damit öffnet sich der ›atopische Raum eines nicht-theoretischen Blicks‹, der empfänglich ist für das, was man seit alters her Ethos nennt. Bedeutet dies, daß das Spiel mit den ›indécidables‹ einer neuen Entschiedenheit weicht? Von einer Abschaffung oder Auflösung des Subjekts ist jedenfalls nicht mehr die Rede, wohl aber von einem Zurücktreten (retrait), das dem Andern Raum läßt.« Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, 546f. 61. Jacques Derrida, Interview, mit Christian Descamps, übers. v. Astrid Wintersberger, in: Philosophien, hg. v. Peter Engelmann, Wien: Passagen 1985, 67f. So wurde in einer Sitzung von Derridas Seminar 1996 beispielsweise das juristische Problem eines ›Ehebruchs‹ diskutiert: In den USA hatte eine Ehefrau via Internet über längere 167

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Aber wieso lassen sie sich nicht veröffentlichen? Weil sie in jeder Veröffentlichung selbst mit im Spiel sind – sie sind die Phantasmen des Zugelassenen, des Medialisierten, sind in jeder medialen Darstellung und Codierung das Undargestellte (Undarstellbare?), das die Darstellung Ereignis werden lässt. Zwischen dem Ereignis und dem Ereignen des Ereignisses wird das Ereignis einer Wiederholung unterworfen. Es könnte ohne diese Abspaltung (différance) von sich selbst, mit sich selbst, nicht zur Darstellung gelangen. In der Ereignishaftigkeit der iterativen Darstellung ist das Ereignis dann nicht mehr das, was es (noch) war, als es noch nicht (ereignet) war.62 Die dringliche, drängende Performativität des Ereignisses, das sinnliche Sich-Ereignen,63 hat zur Eigenheit eine Anachronie ihrer selbst – die Ereignishaftigkeit schiebt sich auf, differiert und überstürzt sich. Auch in diesem Sinne überschlagen sich die Ereignisse. Sie sind je die Antwort, die auf den An-Spruch des Anderen gegeben wird. Das Gesetz der Ver-Antwortung »de l’autre« besagt hier: Das Ereignis ist jedes Mal ein anderes Mal und diese Alterität ist jedes Mal ein anderes Mal. Das Ereignis ist also die materiale und mediale Ausfällung der Überstürzung der différance. Diese ist im Ereignis am Werk und fügt in dessen Zeitigung einen Zeit-Riss, eine »déchirure« (D E/21) ein, die die Zeit eines jeden Ereignisses aus den Fugen sein lässt.64 Und das lässt sich nicht ›auf den Begriff bringen‹ (D E/19), denn: »Ereignis« ist die Erfahrung selbst, dass da immer Erfahrung vom Anderen und von einer anderen Zeit (her) ist. Das Kommen, von dem her das Ereignis sich ereignet (und gedacht werden muss), beinhaltet immer etwas Unkalkulierbares – sonst könnte das Ereignis sich nicht zeitigen. »[U]n événement qui reste événe-

Zeit ›sexuellen‹ Kontakt zu einem ihr unbekannten Mann unterhalten. Der Ehemann kam dahinter, weil die Frau vergessen hatte, den gespeicherten chat im Computer ihres Mannes zu löschen. Der Betrogene klagte daraufhin die Scheidung ein, da seine Frau Ehebruch begangen habe. Das US-amerikanische Gesetz erkennt Ehebruch aber nur nach vollzogener körperlicher Vereinigung als Scheidungsgrund an, die im vorliegenden Fall offensichtlich nicht vorlag. Zweifelsohne rührt dieser Fall an das traditionelle Verständnis von Realität und Fiktion und auch von Körperlichkeit, Sexualität usw. Des Weiteren aber wird mit diesem, eine gewisse Tragikomik nicht entbehrenden Fall das Problem augenfällig, dass mit der Entwicklung neuer Medientechnologien neue rechtsfreie Räume entstehen, denen sich ein bislang bestehendes Verständnis von Rechtsprechung nicht mehr hinreichend zu widmen vermag. 62. Hierzu auch: (D SEC/309ff.). 63. Heidegger hatte auf die Verbundenheit von Ereignis und Sinnlichkeit aufmerksam gemacht. Siehe hierzu das Kapitel »Im Ereignis des Sinnlichen« im dritten Teil. 64. Siehe hierzu grundlegend: Georg Christoph Tholen, »Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität«, in: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, hg. v. Sigrid Schade u. Georg Christoph Tholen, München: Fink 1999, 15-34. 168

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ment, c’est une arrivée, une arrivance: elle surprend et résiste après coup à l’analyse.« (D E/28) Ein Ereignis, von dem gewusst wird, dass es kommen wird, ist keines, und so bleibt es möglich, dass ein Ereignis nicht statthaben wird.65 Die Rhetorizität von Medien – ermöglicht mittels (Medialität von Medien!) des technischen Dispositivs, das generiert, was jene sind – produziert eine Ereignishaftigkeit scheinbar ohne »déchirure«, also in »Echtzeit«. Die Darstellungsweisen ihrer Realitäten setzen genau auf die Rhetorik einer (Re-)Präsenz des idealen Gegenstandes. Zumal dann – das sei in concreto eingefügt –, wenn im Hintergrund offensichtlicher Diversität medialer Bildwelten eine juristische und ökonomische Monopolisierung des Welt-Bildes vonstatten geht. Diese machtvolle Vereinheitlichung betrifft natürlich auch das theatral produzierte Ereignis in so genannter Echtzeit. Eine »culture critique« (D E/12) hätte hier – neben dem soeben angesprochenen Phänomen der Zentralisierung bei wachsender Globalisierung der Medialität – aufzuweisen, dass dieses »Direkt« nie in präsentischer Realzeit sich ereignet. Die Reflexionen zur différance hatten erkenntniskritisch bereits nachgewiesen, dass ein Zeit-Riss jedem Ereignen innewohnt. Weitere Hinweise auf die Technik medialer Echtzeit-Rhetorik lassen sich finden, wenn man auf wahrnehmungs- bzw. rezeptionsleitende Kriterien achtet: »[I]ls ne nous livrent ni intuition, ni transparence, aucune perception dépouillée d’interprétation ou d’intervention technique.« (D E/13) Und diese Quasi-Realzeitlichkeit der Performanz der Ereignisproduktion hat eine neue Qualität der Zeit- und Wahrnehmungstechniken: Die in Szene gesetzte Aktualität, mit der auch die Möglichkeit der Ereignis-Reproduktion scheinbar einhergeht, bringt einen Begriff und eine Praxis von »Virtualität« hervor, die es unmöglich machen, ihm die »Realität« gegenüberzustellen. »Cette virtualité s’imprime à même la structure de l’événement produit, elle affecte le temps comme l’espace de l’image, du discours, de l’›information‹, bref tout ce qui nous rapporte à ladite actualité, à la réalité implacable de son présent supposé.« (D E/ 14) Das ist – neben der Kritik am Echtzeit-Diktum – offensichtlich eine weitere Differenz Derridas zu Virilio, für den ja Virtualität mit einem Prozess nachhaltigen Realitätsverlustes einherging. Und auch die These des Einbegreifens sämtlicher Realität in eine simulative Matrix von Medien – eine These, bei der man an Baudrillard denken könnte – ist für Derrida ein »néo-idéalisme«. Stattdessen würde eine Dekonstruktion dieser »artefactualité«, dieser medialen Mischung aus Aktualität, Faktizität

65. Derrida fasst dieses Verhältnis von gegebenem Ereignis (Gabe) und dessen notwendiger Unvorhersehbarkeit im 4. Kapitel von Falschgeld zusammen: Derrida, Falschgeld, a.a.O., 1993. Im Exkurs »Möglicherweise virtuell« des Kapitels »Simulation« werden sich in dieser Hinsicht intime Beziehungen zum Begriff der »Virtualität« zeigen. 169

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und Artifizialität, erstens auf den Nachweis der notwendigen Singularität des Ereignisses setzen, d.h. auf dessen, oben skizzierte, radikale – und medial eben undarstellbare – Alterität, und zweitens die Heterogenität und Widersprüchlichkeit von »Information« (exemplarisch)66 vorführen, da diese sowohl in das Übersetzungs- als auch in das Darstellungsgeschehen des jeweiligen Ereignisses verflochten ist (D E/14). Eine solche Perspektive auch auf die technisch-mediale Produktion, Reproduktion und ggf. Simulation eines Ereignisses lässt sehen, dass mit der Erörterung des ganz Anderen im Ereignis eine Dislokation in die Perfektion der medialen Ereignis-Performanz sich einfügt. Sie wird fortan, vom Ereignen des Ereignisses her, einen Anspruch auch an das mediale Ereignis anmelden. Das ist wiederum die Erfahrung des Anderen als Anderer – sie geht mit einer Gabe, einem Erhalt ohne vollständige Rückerstattungsmöglichkeit einher, mit der Unmöglichkeit nämlich, das, was im Anspruch des Anderen auf mich als Zukünftiges zukommt, je antizipieren zu können. Neben der Theorie-Linie Plotin, Heidegger, Levinas, Lacan, bei denen es stets um das Paradox ging, zu geben nicht nur, was man hat, sondern auch, was man nicht hat, zeigt sich hier – laut Derrida – auch eine Möglichkeit an die emanzipatorische Tradition der Aufklärung anzuknüpfen (D E/29f.). Gegen deren zentrale Motive der Subjekt-Philosophie als Ontologie, und auf gespenstische Weise auch mit diesen, setzt Dekonstruktion hier auf ein gespenstisches Gesetz oder auch ein Gesetz des Gespenstischen (»loi du spectral«), das gerade die Dichotomie von Subjekt und Objekt und – mit Freud – die vermeintliche Stärke des Bewusstseins heimsucht (D E/30). Doch hier, um – mit Freud – dieses »loi du spectrale« zu konturieren, gilt es – bei Freud –, eine Differenzierung bzw. Differenz einzuführen. Womit sich die Homologie von »Ereignis« und »Spektralität« zeigt: »Oui, un fantôme peut revenir comme le pire, mais sans cette revenance possible, et si on en récuse l’irréductible originalité, on se prive de mémoire, d’héritage, de justice, de tout ce qui vaut au-delà de la vie et à quoi on mesure la dignité de la vie.« (D E/31) So bleibt vorerst festzuhalten: Es gibt immer mehr als einen Geist und ein jedes Erbe und Erinnern beinhaltet ein Unentscheidbares.67 Denn was wir sind,

66. Wie so oft, überrascht Derrida auch in Sachen exemplarischer Medienanalyse. Die von ihm bspw. in Marx’ Gespenster, Glaube und Wissen, Das andere Kap oder auch Échographies und Papier Machine gewählten Beispiele politisch-gesellschaftlicher Aktualität oder Brisanz (Algerien, Jerusalem, Globalisierung, Asylrecht, europäische Vereinigung, kirchliche Medienpolitik) zeigen die Aufschließungskraft dekonstruktiver Medienanalyse. 67. Auf das archivarische Verhältnis von Psychoanalyse, Erinnern, Ein- und Überschreibung, wird im folgenden Kapitel zum Archiv noch einzugehen sein. 170

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erben wir, und wir erben in einer Sprache, die uns vererbt wird (D E/ 34), »ob wir es wollen und wissen oder nicht« (D MG/93). Fokussiert man diesen Prozess des Empfangens auf das Moment des (technischen) Fortschritts, bleibt für heute daran verstörend, dass der »Glaube« an die Technologie gerade durch deren Performativität gesichert bleibt (D GW/70ff.). Das scheint zu bedeuten, dass der Fortschritt zwar (technisch) gemacht wird, aber (kulturell) nicht gekonnt wird. Nie war scheinbar das Missverhältnis zwischen individueller wissenschaftlich-technischer Inkompetenz und manipulativer Kompetenz so groß wie heute – und das gerade bei Maschinen, deren Benutzung uns vertraut und alltäglich ist und die mit uns das »Zuhause« teilen (D GW/91f.).68 Das Medium und Ich: Warum ist das kein kalkulierbares Verhältnis aus »n + Ein(e)s« (D GW/105), ohne Rest? Weil die Quelle dieses Verhältnisses und seiner Darstellung jetzt nicht von außen her im Verhältnis selbst darstellbar ist. »Leben« ist der medial-imaginative Versuch, diese iterative mise en abyme zur Darstellung zu bringen. Das ist das etc. der Immanenz. Das Jetzt eines solchen Verhältnisses lebendiger Gegenwart überbordet sich also gerade mit der Unwiderlegbarkeit seines Überlebens selbst, solange es die Möglichkeit der Aufrechnung des »n + Ein(e)s« mit dem Ergebnis gibt (D MG/17), dass das »Mehr-als-Ein(e)s […] sich unmittelbar und ohne Verzögerung als ein Mehr-als-zwei« erweist (D GW/105). Iterativität meint hier also, dass es eine Differenz in der Wiederholung gibt, und dass das Ereignen des Ereignisses als Wiedergänger (revenant) ein je anderes ist. Ohne dieses spukende Mit-Da gibt es keine Sozialität, d.h. ein Verhältnis, in dem die Dualität durch einen Dritten, durch etwas Drittes, geöffnet ist und bleibt.69 Bezeichnete man dieses Dritte als Öffnung des Ereignisses intern seiner selbst, als seine Verräumlichung und Verzeitlichung, dann wäre damit die Einschreibung des – wiederum selbstdifferenziellen – Heterotopos différance in das Ereignis benannt. In der Folge wird sich mit den »Spectres de Marx« zeigen, wie Ereignisse das Gespenstische gerade als Mediales in sich tragen und zugleich ausstellen, es ver-öffentlichen und so, heute, ein neuer öffent-

68. Sicher, der kritisch fragende Einwand liegt nahe, woran denn dieses Missverhältnis zu messen sei. Eine indirekte Antwort darauf mögen die Studien Friedrich Kittlers darstellen, der das in Frage stehende Verhältnis zwar auch nicht misst, aber darstellt. 69. Allgemeiner zum Phänomen des Dritten und den damit verbundenen, sehr grundlegenden, theoriekonzeptionellen Fragen: Thomas Bedorf, Dimensionen des Dritten. Sozialphilosophische Modelle zwischen Ethischem und Politischem, München: Fink 2003. 171

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licher Raum des Ereignisses entsteht, »transformé par les télétechnologies« (D E/33). Die Medialisierung der Iteration also ist das dem Ereignis inhärente Gespenstische.70 Eine Dekonstruktion des Medialen – auch und gerade anlässlich von Medien jenseits von Schrift im engeren Sinne – hat demnach »Hantologie«71 zu sein (D MG/27).72

70. Hubertus von Amelunxen spielt in seinem Text über die (fotografischen) Ursprünge des Spiritismus mit der Polysemantik des Wortes »Medium«. Gleichwohl gilt auch für den vorliegenden Kontext, was er zu Beginn seines Textes zusammenfassend festhält: »Medien sind die Boten im Geisterverkehr. Ihnen obliegt die Regelung und Bahnung der Kommunikation mit dem, was unseren Sinnen entlegen ist, in unserer Ordnung regellos ist und was die Regeln unserer Ordnung schafft. Medien betreiben das Geschäft der Latenz, des Unbeobachtbaren, sie nehmen sowohl die Stelle des nicht zu sehenden Objekts – des entfernten, in ihnen aufgehobenen Referenten – wie die des nicht sehenden Subjekts – der getilgten Zeugenschaft, des blinden Flecks – ein.« Hubertus von Amelunxen, »Prolegomena zu einer Phänomenologie der Geister«, in: Sehsucht, Schriftenreihe Forum, Bd. 4, hg. v. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, Göttingen: Steidl 1995, 210-220, hier: 210. 71. Man beachte die Homophonie im Französischen zu »Ontologie«. 72. Natürlich meint das »hat zu sein« keinen epistemologischen Zwang. Die medientheoretische Literatur, in der das derridasche Denken Berücksichtigung findet, nutzt dieses auf verschiedene Weise. Beispiele: Mike Sandbothe ordnet Grammatologie in die Reihe von Grundlagentheorien zum Bild-Sprache-Schrift-Verhältnis ein, die die pragmatische Auseinandersetzung mit Medien fundieren. Mike Sandbothe, »Interaktivität – Hypertextualität – Transversalität. Eine medienphilosophische Analyse des Internet«, in: Mythos Internet, hg. v. Stefan Münker u. Alexander Roesler, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, 56-82, bes.: 56f. u. 68f. Ders., Pragmatische Medienphilosophie. Grundlagen und Anwendungshorizonte im Zeitalter des Internet (Habilitationsschrift), Jena 2000. Der Wechsel von Hierarchisierungs- zu Vernetzungsstrategien und -strukturen in Lektüre und Schrift ist eines der zentralen Paradigmen des Hypertextes. George Landow versucht, dies mit Derrida theoretisch zu begründen: George P. Landow, Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology, Baltimore/London: JHUP 1992. Hier schließen teilweise auch Reflexionen von Wolfgang Welsch an, der in Derridas Theoremen neue »Wirklichkeitsbeschreibungen« der nun hypertextuell verfassten Medienwelt sieht: Wolfgang Welsch, »Virtualisierung und Revalidierung«, in: Medien-Welten Wirklichkeiten, hg. v. Gianni Vattimo u. Wolfgang Welsch, München: Fink 1998, 229-248, hier: 235ff. Ebenfalls in Mythos Internet nutzt auch Uwe Wirth Derridas grammatologischen Ansatz für Erörterungen über die Kontextualität des Lesens in hypertextueller Offenheit. A.a.O., 1997, 319-337. Hartmut Winkler eruiert, inwieweit die dekonstruktive Erweiterung des Schriftbegriffs auch bereits bei Derrida Übertragung auf die Computermedialität findet. Hartmut Winkler, Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, o.O.: Boer 1997, bspw.: 18f., 143ff., 279ff. Dies waren bislang Beispiele für medientheoretische Reflexionen, bei denen die derridasche Theorie als mehr oder weniger wichtige Referenz 172

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Whither medias? Für ein Ereignis gilt ein spezifisches Verhältnis von wiederholtem Mal und erstem Mal: Die Zeitlichkeit dieses Sach-Verhaltes nämlich, der das Ereignis in der Zeit (auseinander)hält, ist eine Un-Ruhe, der die vermeintlich eindeutige Opposition von Gegenwart und Nicht-Präsenz ausgesetzt ist. »The time is out of joint.« (D MG/39ff.) Das Gespenstische darin ist, dass die Artikulation eines Ereignisses auf der Ungleichzeitigkeit des Gegenwärtigen, des sich gegenwärtig Ereignenden mit sich selbst beruht (D MG/27 u. 69f.). Im Ereignen des Ereignisses spukt also die »Unzeitigkeit seiner Gegenwart« und Spuken (»hanter«) »heißt nicht gegenwärtig sein, und man muß den Spuk schon in die Konstruktion eines Begriffes aufnehmen.« (D MG/253) Offensichtlich, dass dies zum oben diskutierten Spur-Begriff führt: Die medialen Wahrnehmbarkeiten, ihre Konstruktionen des Realen, Fiktiven und auch Virtuellen, die politischen, ethischen, ästhetischen Zulässigkeiten und zensurierten Unzulässigkeiten, die Unterscheidung in privat und öffentlich und anderes mehr, sie alle konturieren das Mediale und werden ihrerseits allererst diskursiv aufgrund einer – z.B. oppositionellen – Konturiertheit, die ihnen in ihrem Sich-Ereignen zugeeignet wird. Es spukt im Ereignis und hinterlässt eine Spur, in der – als »grammatologische[r] Begriff«, wie Tholen richtig feststellt – »auch ein Begriff des Mediums als mediale Verschiebung von Machtbeziehungen mitgedacht ist«.73

in Betracht gezogen wird. Eine ganz andere Ausgangslage wählen solche Arbeiten, bei denen Dekonstruktion in die Theoriekonstruktion strukturell übernommen ist – ohne dass hier notwendig ein ›Derridismus‹ im modischen Sinne vorliegen muss. Dazu noch zwei Beispiele: Bernard Stiegler, ehemaliger Forscher am französischen INA, stellt Medien- und Technikgeschichte ausgehend von grammatologischen Grundannahmen der Schriftlichkeit und des aporetischen Charakters der Geistesgeschichte und der technisch induzierten Notwendigkeit des Handelns dar: Bernard Stiegler, La technique et le temps, 2 Bde., Paris: Galilée 1994 u. 1996. Mit vielfältigsten theoretischen und exemplarischen Bezügen beackert Georg Christoph Tholen materialreich das medientheoretische Feld. Alltäglicher Gebrauch der Medien, ihre normierende Macht und die Medialität als solche (Zeiterfahrung, Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit etc.) bilden stets das Raster der Analysen, in denen er u.a. Derridas Denken des Aporetischen mit Lacans Dimensionen des Symbolischen, Realen und Imaginären verkreuzt. Dazu bspw.: Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, hg. v. Georg Christoph Tholen u. Michael O. Scholl, Weinheim: VCH 1990; Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, hg. v. Sigrid Schade u. Georg Christoph Tholen, München: Fink 1999; zaesuren. eJournal für Philosophie, Kunst, Medien und Politik, hg. v. Hans-Joachim Lenger, Jörg Sasse u. Georg Christoph Tholen. Zäsur der Medien, a.a.O., 2002. 73. Georg Christoph Tholen, »Überschneidungen. Konturen einer Theorie der 173

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Wieso handelt es sich hier um »Machtbeziehungen«? Weil die mediale Technisierung, Inszenierung und Darstellung eines Ereignisses zugleich eine performative Interpretation ist, »eine Interpretation, die das, was sie interpretiert, zugleich verändert« (D MG/88). Diese Veränderungen sind Grenzverschiebungen derjenigen Parameter, die bislang zur Geltung brachten, dass zur Performativität auch Verantwortung dem Anderen gegenüber gehört. Solche Parameter sind z.B. das Öffentliche und Private, das Politische, der europäische Einigungsprozess74 oder auch »gelehrte oder akademische Kultur« (D MG/91). Dass diese Geltungen und Geltungsansprüche miteinbegriffen werden in die Grenzverschiebungen, ist das Gespenstische an den Vorgängen und ruft das genannte Erfordernis einer »Hantologie« auf den Plan. Sie rechnet mit Macht-Effekten, die sich nicht (mehr) sichtbar re-präsentieren, sondern gerade, weil sie Medium jeglicher Darstellung von Sichtbarkeiten sind, im fürs Sehen Unsichtbaren ihre Virtualitäten entfalten (D MG/93).75 Sie sind die Margen der Sichtbarkeit.76 Und so lie-

Medialität«, in: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, hg. v. Sigrid Schade u. Georg Christoph Tholen, München: Fink 1999, 15-34, hier: 26 (Fußnote 23). 74. »Europa« befindet sich im Spannungsfeld zweier Axiome. Erstens, das Axiom der »finitude«: »Nous sommes plus jeunes que jamais, nous les Européens, puisqu’une certaine Europe n’existe pas encore. […] Mais nous sommes de ces jeunes gens qui se lèvent, dès l’aube, vieux et fatigués. Nous sommes déjà épuisés.« Zweitens, das Axiom der kulturellen différance: »[U]ne nécessité très sèche dont les conséquences peuvent affecter toute notre problématique: le propre d’une culture, c’est de n’être pas identique à elle-même.« Die Aporie, die daraus folgt, lautet: Die kulturelle Identität Europas muss – gewollt und wissentlich, oder nicht: medienvermittelt – eine Balance finden zwischen einerseits Monopolisierung und andererseits Zerstreuung. Jacques Derrida, L’Autre Cap, Paris: Les Éditions de Minuit 1991, 14, 16 u. 41ff. Auch hier sei nochmals an die Positionspapiere europäischer Intellektueller (plus Richard Rorty) in großen europäischen Tageszeitungen am 31. Mai 2003 erinnert. 75. Derrida nennt an dieser Stelle resümierend die »Geschwindigkeit der Erscheinung des Simulakrums […], [das] synthetische[ ] oder prothetische[ ] Bild, [das] virtuelle[ ] Ereignis, [den] Cyberspace und [die] Rekognoszierung, [die] Aneignungen oder Spekulationen […].« (D MG/92) 76. Auch hierzu nochmals Tholen, der diesen Gedanken historisch an Merleau-Ponty und Lacan rückbindet. In diesem Zusammenhang sei auch an die diesbezüglichen Ausführungen im Virilio-Kapitel zur »Echtzeit« erinnert. Georg Christoph Tholen, »Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität«, in: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, hg. v. Sigrid Schade u. Georg Christoph Tholen, München: Fink 1999, 15-34, hier: 28ff. Und zur Unsichtbarkeit des Blicks im Sehen und in diesem Sinne zur Blindheit im Sehen beim Sehen, siehe: Ders., »Der blinde Fleck des Sehens: Über das raumzeitliche Geflecht des Sehens«, in: Konstruktionen Sichtbarkeiten, hg. v. Jörg Huber u. Martin Heller, Wien u. New York: Springer 1999, 191-214. Jacques Derrida, Aufzeich174

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TEXT (DERRIDA)

gen Anlass und Motivation der Medien-»Hantologie« dort, »wo die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten sich unaufhörlich verschiebt, unsicherer geworden als je zuvor, ebenso unsicher wie jene, die es erlauben würde, das Politische zu identifizieren. Und wenn diese entscheidende Grenze sich verschiebt, dann deswegen, weil das Medium, in dem sie sich instituiert, das heißt das Medium der Medien selbst (die Information, die Presse, die Telekommunikation, die Techno-Tele-Diskursivität, die Techno-Tele-Ikonizität, das, was ganz allgemein die Raumwerdung des öffentlichen Raums gewährleistet und determiniert, die Möglichkeit selbst der res publica und die Phänomenalität des Politischen), weil dieses Element selbst weder lebendig noch tot ist, weder präsent noch abwesend: Es spukt.« (D MG/87) Einer dekonstruktiven Medienanalyse wird hier ersichtlich: Das temporal-differenzielle Ereigniswerden des Ereignisses, seine »déchirure«, instituiert die genannten medialen Grenzverhältnisse und damit das, was ganz allgemein Verräumlichung und Verzeitlichung verantwortet und verspricht – das bleibt versprochen und damit möglich, gewährleistet ist und bleibt es aber nicht. Denn in der Logik des Spektralen, in der Spektralität des virtuellen Raumes liegt es ja gerade, dass die dichotomische Paarung von (sichtbarer) »Wirklichkeit« versus »Idealität« durch die Einschreibung des Virtuellen in sie unterlaufen wird (D MG/29 u. 107). Das ist Möglichkeit und Notwendigkeit von Krise und Chance zugleich. Die Ätiologie des Krisenhaften konnte im Rahmen eines dekonstruktiven Modus der Darstellung dieses Krisenhaften, anhand einer »doppelten Interpretation« bzw. »konkurrierender Lektüren« (D MG/132), sichtbar gemacht und als Grenzverschiebungen im Politischen und Sinnlichen benannt werden. Induziert sind diese Verschiebungen durch die spurhafte Differenzialität im Ereignis auch des öffentlich Medialen. Mit dem Fragwürdig-Werden geordneter Topografien geraten Demokratie und die Kultur der »Weltkommunikation« (Bolz) in Schwierigkeiten, sich in neuen öffentlichen Räumen zu konstituieren und sowohl event als auch alteritätsverantwortlich zugleich zu sein.77 Mit der Differenziation des Ereignisvorgangs – auch in einem produzierten oder medialisierten Ereignis/event – eröffnet sich eine

nungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen, übers. v. Andreas Knop u. Michael Wetzel, München: Fink 1997. Ders., Recht auf Einsicht, übers. v. Michael Wetzel, Wien: Passagen 1997. Ders., »Kraft der Trauer«, übers. v. Michael Wetzel, in: Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, hg. v. Michael Wetzel u. Herta Wolf, München: Fink 1994, 13-35. 77. Wunden dieser ›neuen Weltordnung‹ fasst Derrida in einem »Zehn-Punkte-Telegramm« zusammen. Siehe dazu: (D MG/132-137). 175

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»Ereignishaftigkeit als Geschichtlichkeit« (D MG/124) und führt so auch die mögliche Möglichkeit (Virtualität) radikaler Alterität und Heterogenität in die (Selbst-)Präsenz der Gegenwart, des gegenwärtigen Ereignisses ein. Erst mit der Trennung des Ereignisses a priori von sich selbst wird Gegenwart geöffnet für den Anspruch der Geschichtlichkeit von Geschichte, die sich in jener verspricht. Dieser Gedanke des Offenen ist – auch was den Entwurf »des anderen Menschen und des Menschen als anderen« (D MG/124) angeht – analog zu demjenigen, der noch von Heidegger zu hören sein wird.78 Eine dekonstruktive Einsicht wäre hier, erkannt zu haben, dass sowohl Festhalten als auch Ablehnung eines »allgemeinen Wesen[s] des Menschen« (D MG/276) nicht in Reinheit geht. Das Sprechen des Anderen, sein Anspruch jetzt, bleibt gespenstisch.79 Damit aber lässt sich, mit Jacques Derrida, nun die Aufgabe des Intellektuellen – auch wohl desjenigen, der mit Medien befasst ist – für morgen/von morgen angeben: Sich an die Vorgängigkeit des Anderen zu wenden, dem Gespenst das Wort zurückzugeben, »und sei es auch in sich selbst, im anderen, dem anderen in sich« (D MG/ 276). Denn die Gespenster geben uns das Da des Ereignisses zu denken.

78. Letztes Unterkapitel zu Heidegger im dritten Teil. 79. Siehe hierzu auch: Rudolf Heinz, »Die Scham und die Schrift«, in: ders., Pathognostische Studien. Historie – Psychopathologie – Schrift – Tausch/Opfer, Essen: Blaue Eule 1986, 149-160, hier: 149. Heinz schreibt: »Die humanistische Attraktivität des Echos ist also analog der des Spiegels, und ihr kommt wohl dieselbe jubilatorische Hypokrisie zu, von der man nicht so recht weiß, ob sie nicht doch immer auch von sich selber weiß. Wer ist’s? Ich bin’s! Überbrückt der Abgrund der Differenz, befreiendes Lachen deswegen oder, umgekehrt, Verlachen hinwiederum dieses Lachens: ich bin es ja nicht.« Und da der heinzsche Text im Weiteren auch auf die Medialisierung des Echos eingeht, öffnet sich hier eine weitere Analogie zum derridaschen Gedanken: Dass der Bezug zum Anderen, und sei’s der Andere im Selbst, stets Écho-Graphie ist. 176

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ARCHIV (FOUCAULT)

Archiv (Foucault) hier, wo immer das ist: das ist jetzt die Frage (jetzt immer:) was ist und was drankommt, hier ist jetzt … / Jürgen Becker Gemäß einer Aufforderung Jean Baudrillards aus dem Jahre 1977 solle man Foucault vergessen – »Oublier Foucault«.1 Die Reaktion des in Frage gestellten Foucault ist von Didier Eribon überliefert: »Mein Problem wäre es wohl eher, mich Baudrillards zu erinnern.«2 Gleichwohl, trotz der Meriten historischer Größe, zum professoralen Kreis der Lehrenden am Collège de France gehört zu haben, scheint es heute doch so, dass Foucault in den theoretischen Debatten um ›die‹ Medien weniger präsent ist als Baudrillard.3 Die Thesen Baudrillards zur Welt als Simulakrum scheinen näher an den medialen Problemlagen einer postmodernen Informationsgesellschaft zu liegen und deren sinnliche Verunsicherungen offensichtlicher artikulieren zu können. Doch die Relation der beiden Autoren auf diese Konstellation festzurren zu wollen, verstellte doch zumindest zwei entscheidende Prospekte: Erstens erfährt Baudrillard in der Regel verkürzende Rezeptionen. Diese stellen meist – gleichsam auf der Oberfläche des baudrillardschen Gedankens surfend – auf die gruseligen Entdeckungen Baudrillards ab, die Realität sei ermordet worden, ein Krieg (im Golf) fände (tatsächlich) nicht statt, und ein gewisser Jahreswechsel auch nicht (1999/2000), die Frau sei

1. Jean Baudrillard, Oublier Foucault, Paris: Galilée 1977. 2. Didier Eribon, Michel Foucault, übers. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1993, 394. 3. Hierzu gleichwohl ein Foucault-Reader zu »Diskurs und Medien«: Michel Foucault. Botschaften der Macht, hg. v. Jan Engelmann, Stuttgart: DVA 1999. Außerdem setzt sich Wolfgang Ernst intensiv im medienarchäologischen Sinne mit Foucault auseinander. Von diesem: M.edium F.oucault. Weimarer Vorlesungen über Archive, Archäologie, Monumente und Medien, Weimar: Verlag für Datenbank und Geisteswissenschaften 2000; und: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin: Merve 2002. 177

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ein Simulakrum, eine ganze Nation sei eine Illusion (USA), der Terrorismus am 11. September 2001 habe unsere (Alb-)Träume lediglich umgesetzt etc., ohne dass die philosophischen und soziotheoretischen Untergünde der baudrillardschen Aussagen bedacht würden. Zweitens, so könnte man paradox festhalten, liegt die fehlende Offensichtlichkeit (s.o.) der foucaultschen Medien-Thesen darin, dass seine Problemvorgaben gerade in dem bestehen, was sich an der Oberfläche (des Sozialen, des Ästhetischen etc.) nicht zeigt. Die Mühen Foucaults lagen in der Ausgrabung dessen, was dem in Gesellschaft und Geschichte und am Individuum – und als Individuum – sinnfällig und sinnenfällig Gewordenen machtvolle Bedingung ist. Und zu dieser Macht gehört es nun einmal, dass ihr subjektives Für-sich-Sein objektiv ein An-sichSein ist, dass nur in ihren diskursiven Momenten ein Für-mich-Sein zeitigt. Medientheoretische Ausarbeitungen, die Foucaults Archäologie in der Folge für die eigenen Ausführungen intim berücksichtigen, sind bspw. die Theorie eines historischen Apriori der Medien Friedrich Kittlers, die Medienarchäologie Wolfgang Ernsts4 und auch die mittlerweile weit verzweigte Forschung zu einer »Historischen Anthropolgie der Medien«. Für die Letzteren mag eine methodologische Reflexion Hans-Ulrich Recks als exemplarisch gelten können: Die Zeitlichkeit selbst des »Historischen« bedeutet demnach, »daß Geschichte diskontinuierlich ist und daß gerade wegen der Nicht-Geschlossenheit des Historischen die jeweiligen Vorgeschichten bedacht werden müssen: Ohne Archäologie, ohne Bruch, ohne Resistenz des Monumentalen, Diskreten und Dispersen keine Reflexion, nämlich Relativierung von ›Historie‹.«5 Dass die Frage nach diesem Diskreten selbst, das in der Resistenz residiert, Aufgabe und Movens des foucaultschen Denkens ist, werden die Kapitel der folgenden Seiten nachzubuchstabieren haben.

4. Hierzu bspw.: Wolfgang Ernst, »Archivbilder«, in: Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter, Stuttgart-Bad Cannstatt: fromann-holzboog 2000, 175-193. In dieser Perspektive bewegen sich auch die Beiträge des Bandes: Kommunikation – Medien – Macht, hg. v. Rudolf Maresch u. Niels Werber, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. Siehe ebenda den Aufsatz von Wunderlich, der in besonderer Konzentration dem ernsthaften und politisch ernst zu nehmenden »Gedankenspiel« der Anwendbarkeit des foucaultschen/benthamschen Panoptikums auf das heutige mediale global village nachgeht: Stefan Wunderlich, »Vom digitalen Panopticon zur elektrischen Heterotopie. Foucaultsche Topographien der Macht«, 342-367. 5. Hans Ulrich Reck, »›Inszenierte Imagination‹ – Zu Programmatik und Perspektiven einer ›historischen Anthropologie der Medien‹«, in: ders. u. Wolfgang MüllerFunk, Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, Wien u. New York: Springer 1996, 231-244, hier: 243. 178

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ARCHIV (FOUCAULT)

Erinnern und Überschreiben: Die Zeit des Archivs »[J]e n’ai jamais dit qu’il n’y avait pas de ›sujet de l’écriture‹. Je n’ai jamais dit non plus qu’il n’y avait pas de sujet.« (D P/122) Wenn es weder ein Subjekt der Schrift nicht gibt und es auch kein Subjekt nicht gibt: Wo beginnt dann die Einschreibung der Subjektivierung? Sie beginnt nicht an einem definiten Ort, gleichwohl aber ist sie stets und stetig durch das System »Text« sowohl versichert als auch in ihrem Effekt produziert (D P/120ff.). In diesem Sinne ist die »scène de l’écriture« der Ort des Subjekts. Dieser Schauplatz aber ist vielschichtig: »Das ›Subjekt‹ der Schrift existiert nicht, versteht man darunter irgendeine souveräne Einsamkeit des Schriftstellers. Das Subjekt der Schrift ist ein System von Beziehungen zwischen den Schichten: des Wunderblocks, des Psychischen, der Gesellschaft, der Welt. Im Innern dieser Szene ist die punktuelle Einfachheit des klassischen Subjektes unauffindbar.« (D FSS/344) So bleibt das Subjekt disseminiert, da die Orte seines Erscheinens in den heterogenen Zeit-Zonen der Schrift (écriture) liegen. Es ist daher sinnvoll, genauer nach diesem »Im Innern« zu fragen. Denn es scheint dort diejenigen Schrift-Spuren des Subjekts zu geben, die dessen Archiv bilden. Dieses kann aber seinerseits wiederum nicht ein erster Ursprung von Schrift sein, da es, wenn es die Möglichkeiten haben soll, Zeitlichkeit bzw. Geschichtlichkeit des Subjekts zu beschreiben und sie zu versichern, selber einem/seinem Archiv der Geschichtlichkeit – sich also? – verschrieben sein und bleiben muss. Ein solches Verschrieben-Sein kann aber niemals vor der Geschichte liegen im Sinne eines gründend-entspringenden Ursprungs, sondern ist bereits Effekt von Schrift.6 »Alles fängt mit der Reproduktion an. Immer schon, das heißt Niederschlag eines Sinns, der nie gegenwärtig war, dessen bedeutete Präsenz immer ›nachträglich‹, im Nachhinein und zusätzlich rekonstituiert wird.« (D FSS/323) Nochmals also: Wo beginnt die Einschreibung der Subjektivierung? Im Haus (archeîon) der árchontes wurden diejenigen Dokumente geborgen, verborgen – archiviert – die von öffentlichem Interesse und Belang waren. Jenseits der etymologischen Vielschichtigkeit des Wortes »Archiv«7 beginnt hier, am Ursprung (arché) dieser Institution, also sogleich die paradoxale Verfasstheit des Archivs bzw. sein verfassungsmäßiges Paradox. Die Aufgabe der Magistratsangehörigen, die offiziellen Dokumente in ihrem (Privat-)Haus zu bewahren, wurde

6. Zu diesem Themenkomplex einer ursprünglichen Einschreibung und der Spur, siehe auch: (D Gr/114-129). 7. Der Brockhaus verweist auf eine doppelte Quelle: grch. archeion – Behörde (Amtsgebäude) und lat. arca – sicherer Ort. Artikel »Archiv«, in: Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden, Erster Band, Wiesbaden: Brockhaus 1966, 690ff., hier: 690. 179

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ihnen – für die Dauer ihrer Amtszeit, die je nach historischer Epoche ein Jahr, zehn Jahre oder lebenslang gelten konnte – zuerkannt, und sie erhielten so die Befugnis, über jene ›Unterlagen‹ zu gebieten. Das Archiv ist hier ein offizieller Ort öffentlichen Interesses, eingelagert in die Gastfreundschaft einer geheimen Privatheit, von der her das Archivierte im nomologischen Sinne ausgelegt werden darf, um über Topologien des Öffentlichen zu befinden. »In der Überkreuzung des Topologischen und des Nomologischen, von Ort und Gesetz, Träger und Autorität, wird ein Schauplatz verbindlicher Ansiedlung sichtbar und unsichtbar zugleich.« (D A/12) Was erhält an der Kreuzung dieser Überkreuzung (»croisement«), in dieser Vierung, auf verbindliche Weise seine Bleibe? Die Antwort auf diese Frage ist Inhalt und Gegenstand der folgenden Kapitel. Um eine mögliche Antwort, die sich dem Archiv verschreibt,8 also in Gang zu setzen: Wenn es – das In-Frage-Stehende – auch im Umlauf (discours) oder der Zirkulation des Hauses (oikos) wie gesetzgebend (nomos) anwesend bleibt, muss es sich doch zugleich außerhalb dieser sichtbaren Zirkulation befinden und kryptisch verbergen (können). Denn auf ihm bildet sich das diskursive Gesetz des Hauses (öko-nomie) ab, überlagert es quasi und ist doch erst topologisches und nomologisches Resultat einer Einschreibung archivarischer Gewalt (D A/17ff.). Diese archivarische Notwendigkeit geht einher mit einer sie unterlaufenden, krypto-grafischen und un-ursprünglichen Gefahr bzw. Gewalt (»archiviolitisch«) (D A/24). Genauer: »Archiv« darf nicht verwechselt werden mit der materialen Sicherung von Erinnertem und Erinnerbarem im Sinne eines Speichers. Vielmehr stellt es gerade gemäß kreuzender topologischer und nomologischer Dimensionen die Möglichkeit des Speicherns, der Erinnerung, der Reproduktion der Erinnerung und seiner Wiederholung sicher. Und das Archiv stellt sie aus, indem es eine virtuel frei flottierende Erfahrung – und die Erinnerung daran – zu Möglichkeiten von Aussagen stillstellt und institutionell versammelt. Die Virtualität seiner Gewalt – und ebenso die Gewalt seiner Virtualität – liegt nun darin, dass diese Archiv-Technik, eine Versammlung von Mnemata und auch deren mögliche Wiederholung zu ermöglichen und sicherzustellen, auch bedeutet, dass die Wiederholung dasjenige überschreibt und zerstört, an was es erinnern soll bzw. für was es steht. Die französische Sprache (Derridas) kennt hierfür die treffende Formulierung avoir lieu au lieu de: Das »Archiv hat Statt (a lieu) an Stelle (au lieu)« (D A/25). Selbst »in dem, was die Archivierung ermöglicht und bedingt, werden wir niemals etwas anderes finden als das, was der

8. Dem Archiv verschrieben. So lautet die wunderbare Übersetzung Hans-Dieter Gondeks und Hans Naumanns des derridaschen Mal d’Archive ins Deutsche (Berlin: Brinkmann & Bose 1997). 180

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ARCHIV (FOUCAULT)

Destruktion aussetzt und wahrlich mit Destruktion bedroht, indem es a priori das Vergessen und das Archiviolithische in das Herz des Monumentes einführt.« (D A/26) Das obige Wort von der Archiv-»Technik« bietet sich an dieser Stelle nicht nur deshalb an, weil es schon hier nahe liegt, »Archiv« mit zwei – hier nur heuristisch-analytisch auseinander zu haltenden – Grundbedeutungen von »Medium« zu analogisieren: erstens der Speicherung, Verbreitung und Verarbeitung von Aussagen und in eins – was bedeutend ist – zweitens der topologisierenden und nomologisierenden Darstellung dieser Vermittlung von Aussagen. Evident, dass Aussagen, die nicht nur den Vorgängen des ersten Moments unterliegen, sich nicht (mehr) als Aussagen ereignen können, ohne dass ihre fiktive bzw. virtuelle Reinheit in ihr Ausgesagtsein in der Materialität ihrer Darstellung eingeht. Und das betrifft alle Aussagen – ebenso wie Derrida es bereits in »Grammatologie« für die Konstellation von Signifikat und Signifikanten geklärt hatte. Das Wort von der Archiv-Technik bietet sich auch deshalb an, um auf den Umstand aufmerksam zu machen, dass die epistemologische Strukturierung unserer Darstellung des Archivs in technologischer Hinsicht die Semantik von »Erinnerung«, »Gedächtnis« etc. bedingt.9 Fasst man die beiden Momente des Medialen zusammen und bezieht sie aufs Archiv, heißt das, »daß das Archiv als (Ein-)Druck, Schrift, Prothese oder hypomnestische Technik im allgemeinen nicht nur der Ort einer Speicherung und Aufbewahrung eines vergangenen archivierbaren Inhalts ist, der auf jeden Fall existieren würde, so daß man auch ohne das Archiv glaubt, daß er war oder daß er gewesen sein wird. Nein, die technische Struktur des archivierenden Inhalts bestimmt auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung und in seiner Beziehung zur Zukunft. Die Archivierung bringt das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet. Das ist auch unsere politische Erfahrung mit den sogenannten Informationsmedien.« (D A/35)10 Das abwesend-anwesende Ereignen des Archivs in Ereignissen von Aussagen und in Dingen als Aussagen zerstört einerseits also das Archiv und lässt es andererseits doch zugleich wachsen und (sich) differenzieren. Einerseits also: Mit dem Ereignen eines Ereignisses, das das Archiv ermöglicht, da es die Möglichkeit von Wiederholung virtuell versichert, wird gerade die Restitution des archivierten Ereignisses verunmöglicht, überschrieben, destruiert. Was also wiederholt wird, kann nicht gewusst werden – und genau das ist das ›Andererseits‹ des

9. Derrida führt das im archiv-Buch exemplarisch an der Psychoanalyse vor. 10. Derrida nimmt das Argument nochmals auf und bezieht es auf die Veränderung des Verhältnisses von öffentlichem und privatem Raum (und den Möglichkeiten, dieses Verhältnis zu bestimmen): (D MA/36ff.). 181

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Archivs, das es dem Zukünftigen verschreibt. Denn das Archiv bleibt dem Zu-Künftigen, oder genauer: der Erfahrung des Zu-Künftigen verpflichtet, da es mit bzw. in der Archivierung bewahrt, dass da Anderes ist, das wird gekommen sein können. In die topologische und nomologische Gewalt der archivarischen Thesis, die ja Hervorbringung und Aufzeichnung des Ereignisses strukturierte, schreibt sich – nochmals: mit und in seiner archivarischen Hervorbringung allererst – die Offenheit des Zu-Künftigen ein, da jede Wiederholung eines Ereignisses einmalig und unvorhersehbar gewesen sein wird.11 Das Unvorhersehbare des Ereignisses ist auch das Gespenstische des Archivs und in ihm sein Geheimnis. Hiervon kann es – wie paradox – »per definitionem« kein Archiv geben (D A/174).

Transgression des Archivs Die Dekonstruktion des Archivs hin auf seine aporetische Verfassung lässt also vorerst eine zweifache Öffnung des Archivs sehen. Zum einen eine zeitliche Öffnung: Das – prima vista – performativ auf die Bewahrung von Vergangenheit abgestellte Archiv hat sich, zur Erhaltung gerade der Spur des Vergangenen in den Wiederholungs-Ereignissen von Überschreibungen, dem Kommenden des Zu-Künftigen, seinem ihm eignenden anderen Versprechen zu verschreiben. Zum anderen eine räumliche Öffnung: Das Archiv bedarf notwendigerweise einer Externalisierung. »Archiv« ist dann die Gesamtheit all der Systeme, die das Sich-Ereignen von einerseits Bedingungen und Domänen von Ereignissen und andererseits Möglichkeiten und Feldern der Verwendung von Dingen als »Aussagen« (énoncés)12 in einer »diskursiven Praxis« (F AW/171) induzieren. Das Archiv lässt erscheinen – es ist in diesem Sinne per-formativ und beherrscht die Ordnung des Diskurses mittels der Diskrimination von Sichtbar-geworden-Sein versus Unsichtbar-Bleiben. Wenn das Archiv dies nicht wäre, wenn es nicht etwas aus sich herausstellte, bliebe es ein Geheimnis, und damit ohne Möglichkeit der Entfaltung topologischer und nomologischer Thesis. Zu dieser kann es erst kommen – wie gesagt ist dies das Aporetische des Archivs

11. Fast überflüssig daran zu erinnern, dass die Dekonstruktion des Archivs anhand seiner Ereignishaftigkeit eng verwandt ist mit den Ausführungen Derridas zum medialen Ereignis und dessen Spektralität, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln erörtert wurden. Zum vorliegenden Kontext, siehe: (D MA/123f., 129f., 144ff., 174). 12. Die vielfältigen sprachphilosophischen und phänomenologischen Bezüge der »Aussagen« in Foucaults Archäologie des Wissens und in auf die Archäologie verweisenden Texten werden ausgelotet in: Andreas Gelhard, Aussage und Diskurs bei Michel Foucault (unveröffentlichtes Manuskript), Bochum 1996. 182

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ARCHIV (FOUCAULT)

–, wenn die immaterielle Reinheit der archivarischen Formatierungen sich in archivierbaren Materialitäten von Aussagen und Formationen von Aussage-Beziehungen niederschlägt – wenn das Archiv sich in einer räumlichen Exteriorität kundgibt. Ist diese Exteriorität noch die seine? Oder ist die Ent-Äußerung des Archivs zugleich die Exterritorialisierung des Archivs? (F AW/147) Wo also – und diese Frage kann sich auf beide übertretenden Öffnungen bzw. öffnenden Übertretungen des Archivs beziehen – beginnt das Außen des Archivs, das zum Archiv Andere? »Diese Frage ist die Frage des Archivs. Mit Sicherheit gibt es keine weitere derartige Frage.« (D A/19) Es ist evident: Jede Antwort auf diese Frage, und nimmt sie auch noch so vorsichtig das Recht für sich in Anspruch, eine vorläufige oder provisorische zu sein – um schließlich doch in der Rhetorik einer gültigen Antwort sich niederzuschlagen – wird, um hier ein Heidegger-Wort zu variieren, nur in Aussage-Sätzen gesprochen haben13 – und damit selbst wieder dem Archiv verschrieben sein und bleiben. Was ist das Spezifikum von Aussagen? Um mit einer Negation anzusetzen, deren Inhalte man vielleicht gerade als positive Bestimmung der »Aussage« hätte erwarten können: Die Aussage ist nicht die bloße Existenz von Elementen einer Sprache, auch nicht deren Konstruktionsregeln oder Permutationen. Das alles wären Reihen von Zeichen. Eine Aussage stellt dasjenige Moment von Sprachlichkeit dar, das unter der Bedingung einer spezifischen Beziehung auf etwas anderes steht. Kurz: Eine Aussage ist eine Kopie – darauf wird zurückzukommen sein. Foucault: »Eine Folge von Zeichen wird zur Aussage unter der Bedingung, daß sie zu ›etwas anderem‹ […] eine spezifische Beziehung hat, die sie selbst betrifft, – und nicht ihre Ursache, nicht ihre Elemente.« (F AW/129) Die Aussage selbst – Externalisierung im System des Archivs – ist markiert durch einen spezifischen Bezug auf etwas ihr anderes. Doch die Aussage verweist nicht, wie auf einen Referenten, auf dieses Andere. Sie stellt das Ereignen dieses Anderen der Sprache dar und ist somit gerade die Grenze von einerseits der (Materialität von) Sprache, die die Wiederholbarkeit versichert, und andererseits dem, was unwiederholbar vorbei ist, wenn die Aussage statt hat an stelle von (F AW/44). Sie ist das sprachliche Ereignis der Replikation als Ereignen des archivarischen Ausfällens. Die Aussage markiert die Grenze, die die Sprache ist, und übertritt diese zugleich, da das Sprachereignis als Aussageereignis Ausfällung des hic et nunc material verdoppelten Ungesagten, also des in der archivarischen Wiederholung Überschriebenen ist. »Grenze und Übertretung verdanken einander die Dichte ihres Seins: Inexistenz einer Grenze, die absolut nicht über-

13. Martin Heidegger, »Zeit und Sein«, in: Zur Sache des Denkens, Tübingen: Niemeyer 1988, 1-25, hier: 25. 183

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schritten werden kann; umgekehrt Sinnlosigkeit einer Übertretung, die nur eine illusorische, schattenhafte Grenze überschritte. Aber hat die Grenze eigentlich eine Existenz jenseits der Gebärde, die sie so siegreich überschreitet und leugnet? Was wäre sie danach und was könnte sie vorher gewesen sein? Und entäußert sich die Übertretung nicht selbst ganz, wenn sie die Grenze überschreitet, da sie ja nirgends sonst ist als zu diesem Zeitpunkt?« (F BÜ/73) Diese Frage ist rhetorisch. Denn die Antwort hat Foucault in seiner Herleitung der Frage bereits gegeben. Grenze und In-FrageStellung der Grenze im Vorgang ihrer Transgression sind aufeinander verwiesen. Das eine ohne das andere zu denken oder zu konzipieren ergibt keinen Sinn. Und hier – im Archiv Foucaults – findet sich auch eine mögliche Antwort auf die Frage, die, laut Derrida, die Frage des Archivs ist: Wo »beginnt das Draußen?« (D A/19) Die Geste der Überschreitung des Archivs in seine Exteriorität ist die Aussage – und das ist ebenso die Existenz der Grenze: der wiederholte und in der Wiederholung differierende Prozess ihrer Markierung, Löschung und ReMarkierung. Dieses instituierende Grenzereignis entfaltet zwei Bezüge, in die eine Aussage gleichermaßen gekleidet ist: einen Rückbezug (repli) auf sich selbst und einen auf ein geschichtlich bereits ausgesagtes, materialisiertes (déjà-dit). Diese Entfaltungen der Aussage bleiben aufeinander verwiesen – miteinander vernäht, könnte man sagen. Denn auch die iterative Lektüre eines geschichtlichen Textes ›der Bibliothek‹ in einer Aussage unterwirft diese ihrer Wiederholung (Kopie) (F AW/ 129 u. 167ff.). Die Aussage bleibt so dem Archiv verschuldet: »Schreiben hieße also für die abendländische Kultur von vornherein, sich in einen virtuellen Raum der Selbstdarstellung und der Verdopplung stellen; wenn die Schrift nicht die Sache, sondern das Wort bedeutet, dann täte das sprachliche Werk nichts anderes, als noch tiefer in diese unfaßliche Dicke des Spiegels vorzudringen, das Double dieses Doubles hervorzurufen, das auch schon Schrift ist, so ein mögliches und unmögliches Unendliches zu entdecken, ohne Ziel das Wort zu verfolgen […] und das Rieseln eines Murmelns freizusetzen.« (F Spr/92) Noch mal anders wiederholt: Es kann nun, hier, oder genauer: gleich und dort, an diese Stelle des Textes, eine Aussage kopiert werden, die schon oben zusammenfasste, dass eine Aussage stets in einer spezifischen Beziehung auf etwas anderes sich befindet. Eine Aussage – Exteriorität des Archivs – hat zu seinem Anderen das Archiv in duplizierender Beziehung in sich, nämlich sowohl als das, »was an der Wurzel der Aussage selbst als Ereignis und in dem Körper, in dem sie sich gibt, von Anfang an das System ihrer Aussagbarkeit definiert«, als auch als das, »was den Aktualitätsmodus der Aussage als Sache definiert; es ist das System ihres Funktionierens.« (F AW/188). Der Duplizität von Aussagen liegt das Archiv zu Grunde (Subjekt). Mehr als die Gesamtheit von Texten, die durch eine Kultur gespeichert wurden, oder deren 184

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Spuren, die man vor der Zerstörung retten konnte, mehr als das ist das Archiv das System der Aussagbarkeit und des Funktionierens der Aussage, d.h. Bedingung des Systems der Aussage sowohl als Ereignis wie als Sache. In Foucaults Worten: »Ich werde als Archiv nicht die Totalität der Texte bezeichnen, die für eine Zivilisation aufbewahrt wurden, noch die Gesamtheit der Spuren, die man nach ihrem Untergang retten konnte, sondern das Spiel der Regeln, die in einer Kultur das Auftreten und das Verschwinden von Aussagen, ihr kurzes Überdauern und ihre Auslöschung, ihre paradoxe Existenz als Ereignisse und als Dinge bestimmen.«14 Das Archiv in-stituiert sich zur Aussage, indem eine jede Aussage als Original (originär) sich ereignet und diese Materialisation sich restituiert, da sie verdoppelt, was sie als Sache aussagt. Das ist der der Aussage existenzielle Rückbezug auf sich selbst. In concreto: Die (von oben) kopierte Aussage lautet »eine Aussage ist eine Kopie«.15 Allerdings: Der Sinn dieser (hier) wiederholten Aussage hat sich verschoben, da zwischen ihrer erstmaligen Niederschrift oben und der Wiedereinschreibung hier (Hier?) Aussagen über die Ereignishaftigkeit des Archivs getroffen wurden. Mit dieser Verschiebung der Aussage in der Wiederholung ihrer selbst, wird sie zu einer anderen und hält ineins damit den Bezug auf das geschichtliche déjà-dit. Die Aussage wird zum Ort der Wiedereinschreibung und er stagnierenden Bewahrung. Das »19. Jahrhundert [hat] die streng dokumentarische Aufbewahrung erfunden: Es hat mit den ›Archiven‹ und der ›Bibliothek‹ einen Fundus von Sprache im Stillstand geschaffen, die nur da ist, damit sie um ihrer selbst willen in ihrem rohen Sein wiederentdeckt wird. […] Tatsächlich taucht mit der Sprache-im-Stillstand ein dritter, irreduzibler Gegenstand auf.«16 Die Erfindung der Bibliothek, Phantasma des Archivs, Projekt der Aufklärung und materiale Konstitutionsbedingung für die Syntax der Moderne, versichert den kontinuierlichen Zugriff auf Aussagen nach wiedererkennbaren, wenngleich modifizierbaren Kriterien. Die Aussage – wie sie für die Moderne von Belang ist – erhält in der Bibliothek ihre konstitutive und

14. Michel Foucault, »Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie«, übers. v. Hermann Kocyba, in: Schriften in vier Bänden, Bd. I, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, 887-931, hier: 902. Für den Hinweis auf diese pointierende Textstelle geht der Dank an Andreas Gelhard. 15. Anführungszeichen sind eines der zentralen Medien der De- und Re-Kontextualisierung. Zur Spezifik dieser Medientechnik bei Foucault, siehe: Rudi Visker, »Foucaults Anführungszeichen. Eine Gegenwissenschaft?«, in: Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, 298-319. 16. Michel Foucault, »J.-P. Richards Mallarmé«, übers. v. Hans-Dieter Gondek, in: Schriften in vier Bänden, Bd. I, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, 559-571, hier: 562. 185

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diskrete Materialität gemäß der Erfordernisse, die sie sowohl wieder auffindbar, kopierbar, iterierbar und rediskursivierbar als auch – in eins mit den aufgezählten Modi – modifizierbar macht: Träger, Ort, Datum. Mit der Modifikation dieser Materialitätserfordernisse wechselt die Aussage ihre »Identität« (F AW/147). Aber erlaubte das bereits zu sagen, wie oben erörtert, dass die Aussage für sich nicht nur ein Verhältnis von Differenz und Wiederholung hat, sondern auch die differierende Wiederholung eines geschichtlichen déjà-dit darstellt? Dazu bedarf es, laut Foucault, einer weiteren Charakterisierung von »Materialität«. Die Materialität der Aussage besteht demnach in einem – Foucault schreibt: sie wird definiert durch ein – »Statut als Sache oder als Objekt. Dieses Statut ist nie definitiv, sondern modifizierbar, relativ und kann immer in Frage gestellt werden.« (F AW/149) Diese Relativierbarkeit ergibt sich, da die Identität des Statutes der Aussage als »Sache« oder »Objekt« durch ein Changieren zwischen »komplexe[n] Systemen […] materielle[r] Institutionen« variieren kann (F AW/150). Eine Aussage ist nicht Ergebnis der Aussage-Kraft des raum-zeitlichen Ortes eines Subjekts, z.B. eines Autors, sondern gehorcht in ihren Erscheinungsweisen und -orten den institutionellen »Möglichkeiten der Re-Inskription und der Transkription (aber auch Schwellen oder Grenzen).« (F AW/150) Das bedeutet weiterhin, dass eine Aussage nie alleine auftritt, sondern ihre aktuelle Identität am Erscheinungsort ihrer kulturellen (Wieder-)Einschreibung immer den Bedingungen und Grenzen der Gesamtheit aller anderen Aussagen unterworfen ist. Das stabilisiert die Aussage und ist zugleich Bedingung der Möglichkeit ihrer Varianz und Variabilität (F AW/150ff.). Das ist der Rückgriff aufs Archiv, das an sich ebenso wenig ›spricht‹, wie Sokrates der Philosoph ist, der nicht schreibt. Statt also »etwas ein für allemal Gesagtes […] zu sein, erscheint die Aussage gleichzeitig, wie sie in ihrer Materialität auftaucht, […] zirkuliert, dient, entzieht sich die Aussage, gestattet oder verhindert sie die Erfüllung eines Wunsches, ist sie gelehrig oder rebellisch gegenüber Interessen, tritt sie in die Ordnung der Infragestellungen und der Kämpfe ein, wird sie zum Thema der Aneignung oder der Rivalität.« (F AW/153) Das sind die impliziten, virtuellen und ereignishaften Exterioritäten des Archivs. In ihnen, den materialen Pluralitäten des kulturellen Imaginationsraumes drückt sich nun – mit und als spezifischer Beginn der Moderne – Wissen aus.17 Die Performanz der iterierenden Wiederholung des déjà-dit der Bibliothek überschreitet das vermeintlich rein restitutive Verhältnis der Gegenwart zu einer archivierten Vergangen-

17. Hierzu: Michel Foucault, »Un ›fantastique‹ de bibliothèque«, übers. v. Anneliese Botond, in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt/Main: Fischer 1988, 157-177. 186

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heit in die Offenheit des Zu-Künftigen der aus dem Archiv generierbaren Aussagen.18 Die dem Archiv verschriebenen und in eine Ordnung des Diskurses eingefügten Aussagen ordnen mit der Performanz ihres sich dort Ereignens – ihres il y a, wie Lyotard vielleicht sagen würde – die Formation der diskursiven Ordnung um. Dass die Aussage dem Zukommen ihres Sich-Ereignens versprochen bleibt – das wäre ihr performativer An-Spruch –, ist Bedingung dafür, dass sie dem déjà-dit des Archivs verschrieben bleibt – dass es sich ereignet. Wie ereignet sich das Archiv und was sind seine Formationen unseres Wissens vom déjà-dit? Oder, nochmals mit Derrida: Wo »beginnt das Draußen? Diese Frage ist die Frage des Archivs.« (D A/19) Foucaults Antwort lautet: »Es sind die bereits gesagten Worte, die überprüften Texte, die Massen an winzigen Informationen, Parzellen von Monumenten, Reproduktionen von Reproduktionen, die der modernen Erfahrung die Mächte des Unmöglichen zutragen. Nur noch das ständige Raunen der Wiederholung kann uns überliefern, was nur ein einziges Mal stattgefunden hat. Das Imaginäre konstituiert sich nicht mehr im Gegensatz zum Realen, um es abzuleugnen oder zu kompensieren; es dehnt sich von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen aus, im Spielraum des Nocheinmal-Gesagten und der Kommentare; es entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte. Es ist ein Bibliotheksphänomen.«19

Exkurs: Realia des Archivs Die Französische Revolution – so es die gegeben hat – ist kulturgeschichtlich auch wegen ihrer Zerstörungswut bekannt geworden: Men-

18. Im Vorwort zu seinem Buch über die Klinik schreibt Foucault: »Was bei den Dingen, die die Menschen sagen, zählt, ist nicht so sehr das, was sie diesseits oder jenseits dieser Worte gedacht haben mögen, sondern das, was sie von vornherein systematisiert, was sie für die Zukunft immer wieder neuen Diskursen und möglichen Transformationen aussetzt.« Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, übers. v. Walter Seitter, München: Hanser 1972. Hervorhebung, T.S. Siehe des Weiteren zum Verhältnis von Bibliothek und Archiv: Walter Seitter, »Zur Gegenwart anderer Wissen«, in: Michel Foucault/Walter Seitter, Das Spektrum der Genealogie, Bodenheim: Philo Verlagsgesellschaft o.J., 94-112. 19. Foucault, »Un ›fantastique‹ de bibliothèque«, a.a.O., 160. Siehe hierzu nochmals Reck, wo man den foucaultschen Gedanken im Prinzip wiederfindet, extrapoliert auf das Enzyklopädische digitaler Technologie: Hans Ulrich Reck, »Metamorphosen der Archive/Probleme digitaler Erinnerung«, in: Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter, Stuttgart-Bad Cannstatt: fromann-holzboog 2000, 195-237, bes.: 208ff. u. 228ff. 187

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schenleben (meist adliger Herkunft), Gefängnisfestungen, Uhren und Kalendarien, sakrale Gestaltungen etc. Paradox bleibt, dass zur Zeit dieser historischen Destruktionen und Umwertungen (fast) aller Werte die meisten Archive aller (bisherigen) Zeiten entstanden sind.20 Die Aufgabe von Archiven ging bis dahin aus dem Faktum der (archivarisch dokumentierten) Herrschaftsverhältnisse selbst hervor: Die Gesamtheit der Hinterlassenschaften physischer oder juristischer MachtPersonen musste zur Machterhaltung – bspw. durch Legitimierung von Besitztiteln – erfasst, geordnet und verwaltet werden. Mit der Infragestellung dieser gesellschaftlichen und staatspolitischen Gegebenheiten durch Aufklärung und Französische Revolution ging auch eine Wandlung der Zwecke der Archive einher. Die bis dahin ›geheimen‹ Archive adliger und religiöser Herrschaftssicherung wurden im 19. Jahrhundert zur Quelle historischer Forschung und damit Gegenstand moderner Reflexion gesellschaftlicher Selbstvergewisserung.21 Vormals also diente ein Archiv der Dokumentation und Festschreibung von Herrschaftsverhältnissen. Was an Werten dem Bestand hinzugefügt werden konnte, sicherte zugleich seinen Erhalt. Macht erhaltende Rechtssicherheit und Kontrollbefugnis galten so stets als dokumentierbar. In der späteren Ausdifferenzierung von Archiv und Registratur liegt zum einen die Verwaltungsnähe heutiger Archive begründet und zum anderen festigt sich damit die allgemeine Bedeutung des Archivarischen zur Sicherung staatspolitischer Belange. Im Sinne des »Datenschutzes« wird anhand von Archiven also das Wechselverhältnis von einerseits dem nationalidentitären Dokumenten-Bestand und der Öffentlichkeit andererseits austariert – man könnte sagen: das Wechselverhältnis von Gesellschaftskörper und Individualkörper.22 »Provenienz« (einer Archivalie) gilt dabei als eine Zentralkategorie für Struktur und Funktionalität von Archiven. Die Funktionstrias auch heutiger Archive – Verwahrung, Erhaltung, Nutzbarmachung – steht mit ihrer Nutzung – andere Formulierung für ihr Maß an Öffentlichkeit – in spannungsvollem Zusammenhang. Die Nutzung gefährdet, wie paradox, den Bestand der Archive. Das Problem der materialen Erhaltung der Dokumente ist abhängig

20. Auf diesen Umstand machte Reimer Witt in einem Tagungs-Beitrag aufmerksam: »Archive des Lebens«, geplant und durchgeführt von Hubertus von Amelunxen, Evangelische Akademie Tutzing, Rothenburg ob der Tauber, 24.-26. November 2000. 21. Hierzu: Artikel »Archiv«, in: Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden, a.a.O., 1966, 690ff. 22. Witt wies auch auf die damit allererst einhergehenden Probleme hin. Bspw. betrifft dies so genannte »sensible Vermerke« in Personalakten, solange sie im Umlauf sind. 188

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von der technischen Entwicklung der Medienherstellung (z.B. mittels Tinte und Papier). Mit Anbruch des neuen Jahrtausends lagen die Erhaltungskosten bei rund 2.500 bis 3.000 DM pro laufendem Meter; und es gilt die Faustregel: Je jünger Medien sind, desto anfälliger sind sie.23 Heiko Reisch fasst Sinn und Zweck von Archiven so zusammen: »Archiv bezeichnet seit dem 17. Jh. zunächst einen Aufbewahrungsort für Dokumente, Akten, Urkunden und Zeitschriften. In metaphorischer Erweiterung der institutionellen Ausprägung umfaßt das Archiv jegliche Einrichtungen, die eine Kultur ausbildet, um Schriftzeichen zu erfassen, zu erhalten und auszuwerten. Mit der Ausbildung neuer Medien wird der Begriff allerdings auch auf andere Speichersysteme ausgedehnt. Das Schriftarchiv erscheint neben Ton-, Bild- und Filmarchiven.«24 Allerdings: Audio-visuelle Daten werden auch heute noch kaum systematisch archiviert. Das Faktum der technischen Komplexität dieser Vorgänge hat das bislang zwar hauptsächlich aus ökonomischen Gründen verhindert, doch wirken hier auch kulturelle Momente. Erst mit der flächendeckenden Verbreitung des Rundfunks seit Mitte des 20. Jahrhunderts und mit der noch später einsetzenden Personalisierung digitalisierter Informationen entsteht auch ein nachhaltiges Bewusstsein dafür, dass auch die massenmediale Bildlichkeit einer Kultur zu ihrem Gedächtnis zählt. Hinzu kommt das Problem der Indexikalisierung: Mit welchen Metadaten sollen ein Bild- oder Tondokument, eine Fotografie oder gar ein Film versehen werden, dass sie nicht nur überhaupt wieder gefunden werden können, sondern in einem differenzierten Verweisungssystem auch sinnvollen Verknüpfungen unterliegen? Anders gefragt: Wie lassen sich die virtuellen »Arsenale der Erinnerung«25 eines Bildes, die unsichtbar jenseits seiner Sichtbarkeit schlummern, archivarisch realisieren? Was Derrida für Freuds Wunderblock-Gleichnis des Gedächtnisses gezeigt hat, gilt auch für ein Bild: Die jetzt sichtbaren Einschreibungen von (kulturellem) Sinn auf der Bildoberfläche sind Über-Schreibungen von vorangegangenen Spuren historischer Erfahrungen. Das Sichtbare also ist ebenso grundiert von Unsichtbarem, wie dieses Vergangene nur um den Preis einer selbst-differenziellen Restitution auf der Folie jenes gegen-wärtig Sichtbaren zu haben ist. Dieser

23. So Witt in seinem Vortrag. 24. Heiko Reisch, Das Archiv und die Erfahrung. Walter Benjamins Essay im medientheoretischen Kontext, Würzburg: Königshausen und Neumann 1992, 19. 25. So lautete der Untertitel einer Ausstellung im Münchener Haus der Kunst, 03. August bis 12. Oktober 1997, und ihres gleichnamigen Katalogs: Deep Storage – Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, München u. New York: Prestel 1997. 189

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Aporie sind auch die begrifflichen und technischen Mühen der Ebenen archivarischer Indexikalisierung von Bildmaterial ausgesetzt. Wolfgang Ernst hält eine dementsprechend gewichtige, medienarchäologische Notwendigkeit in einer nüchternen Aussage fest: »Erst eine Neufassung des Bildbegriffs selbst macht neue Formen der Bildarchivierung denk-, also konstruierbar. Ausgangspunkt ist dabei das Archiv«. Für diese Archivierung ist technisch gesehen eine Codierung digitaler Bilder in diskrete Einheiten notwendig. Diese gälten fortan als deren Index, nach denen eine Software schließlich suchen könnte. »Damit folgt die (An-)Ordnung der Bilder nicht mehr als schlagworthafter Zugriff analog zur bibliothekarischen Volltextrecherche der Suprematie der Schrift […]. Diese Wahrnehmung des Bildes erlaubt keinen semantischen Ansatz für die Bildfindung im Computer.«26 Ein anderes Problem der Archivierung ist damit allerdings nicht umgangen – eher im Gegegnteil: Gänzlich ungewiss sind bislang die Archivierungsbedingungen und zeitlichen Möglichkeiten des Erhaltes von Dokumenten elektronischer Datenverarbeitung. Denn die Bedingungen hierfür sind davon abhängig, wie lange erstens die gespeicherten Daten auf einem Träger vorhalten (Festplatte, Diskette, CD-ROM etc.), zweitens auf wie viele Jahre eine Software- und Hardware-Generation in Zukunft ausgelegt sein wird und drittens welchen Einfluss die Computerwirtschaft bzw. -industrie auf die Konvertierbarkeit der Daten nehmen wird. Letzteres hängt natürlich von der Zeitspanne der so genannten ›Generationen‹ der Systeme ab.27 Martin Warnke poin-

26. Wolfgang Ernst, a.a.O., 2000, hier: 182 u. 184. Ernst zitiert ebenda zur weitergehenden Erläuterung der technischen Vorgänge Manfred Thaller: »Image files contain basically a bit map; that is a long string of bytes […] each of which describes an individual pixel of the image. Besides this bit map, […] two more items [are] required to interpret an image correctly: its height and its width […]. This information about an image is usually described as part of the physical characteristics of an image, together with information on how many bits per pixel are actually used, whether a compression algorithm has been applied, which one it has been and which 256 colours to select out of the millions which can be displayed […].« Ebenso dazu: Wolfgang Ernst u. Stefan Heidenreich, »Digitale Bildarchivierung: der Wölfflin-Kalkül«, in: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, hg. v. Sigrid Schade u. Georg Christoph Tholen, München: Fink 1999, 306-320. 27. Zu allen drei Aspekten siehe auch: Hans Ulrich Reck, a.a.O., 2000, bes.: 195-206. Reck pointiert hier sehr genau »Aspekte, die als Eigenheiten digitaler Archivtechniken und -medien gelten dürfen oder im Zeichen der Konzeption digital kompatibler Archiv-Transformationen sich dringlich zeigen« (200) und reflektiert an den Beispielen neuer Speichermedien (CD-ROM), der Filmarchivierung, Materialerhaltungstechniken neuer Kunst, Bibliotheken, politischen Archiven und der Photogrammetrie die Konse190

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tiert dies mit einem Hinweis auf das Verhältnis von digitalem Speicher und Gedächtnis.28 Wenn es, laut Warnke, ein »Mal d’Archive« (Derrida) gibt, dann ist es die digitale Archivierung, da hier wegen der rasanten technischen Entwicklungen schon nach jeweils wenigen Jahren ein hoher Verlust der Daten zu verzeichnen ist. Man ist deshalb dazu übergegangen ein Erfassungssystem von Meta-Daten zu entwickeln – also ein System von Datencodes, die andere Daten generierbar und lesbar machen. Das weist in technischer Hinsicht auf den Umstand hin, dass die elektronischen Schaltungen und die daran gebundenen (z.B. Internet-)Inhalte heute benutzt bzw. abgerufen werden müssen, um erhalten zu bleiben.29 In kultureller Hinsicht wiederholt sich hier, was Witt für das bisherige Wechselverhältnis von Daten-Nutzung und -Archivierung markiert hatte: Mit der Differenzierung technischer Speicherungsmöglichkeiten schwindet die Möglichkeit dauerhafter Archivierung. Für die Bestimmung des Gedächtnis-Begriffs heißt das: Das kulturelle Gedächtnis – auch das so genannte »kollektive« – ist weder Zustand noch bloßer Speicher, sondern Prozess. Dessen Zeitlichkeit ist durch Erfahrungen strukturiert, die ihrerseits durch die Generierbarkeit archivierter Erinnerung konturiert sind. Die Frage, wie mit einer solchen Einsicht kulturell, in archivarischer Hinsicht, umgegangen werden kann, lässt verschiedene Antwort-Wege offen. Im Folgenden seien zwei kurz erörtert. (1) Der (materialen) Flüchtigkeit des Erinnerns kann der Versuch seiner Stillstellung entgegengesetzt werden – also die traditionelle Archiv-Funktion der Bewahrung. Brewster Kahle hat es sich mit seiner Firma »Alexa« zur Aufgabe gemacht, die gesamten Daten des Internet zu speichern. Er stellt zudem eine Software-Erweiterung zu den Browsern von Netscape oder Microsoft zur Verfügung, mit der in den Terabyte-großen Archiven von Alexa gesucht und gefunden werden kann – manche der berühmten Error-404-Dateien sind hier (noch) lesbar. Damit ist ersichtlich: Die digitale Speicherung des Internets in Form von film stills erfüllt nicht nur die Funktion der Bewahrung, sondern auch diejenige, solche Daten wieder zugänglich und nutzbar zu machen, die ohne die Stillstellung verloren wären. Auch deshalb mag der

quenzen, die die Digitalisierung für tradierte und vertraute Formen der Gedächtniskultur(theorie) hat. 28. So geschehen in einem Vortrag während der o.a. Tagung »Archive des Lebens«. 29. Für Warnke schließt sich hier die Frage an, ob daraus abzuleiten sei, dass die quantitative Kategorie »Zugriff« als Qualitätskategorie der jeweiligen sites zu veranschlagen sei? 191

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Name »Alexa« an die Bibliothek von Alexandria erinnern. Gleichwohl bleibt zu bezweifeln, ob der Wunsch des Unternehmers Kahle dereinst in Erfüllung gehen kann und sollte: »Ich will ein richtiges Orakel von Delphi schaffen.«30 Er meint damit, dass Alexa, das Orakel in spe, Antwort auf jede menschliche Frage geben können sollte. Offensichtlich liegt hier ein historischer Irrtum vor. Denn das Orakel ist – Glücklicherweise? – kein prophetisches Medium der Zukunft. Es vermag (mehrdeutige) Anregungen zu geben und auf die ihm gestellten Fragen Gegenfragen zu stellen. Auch die mögen ›anregend‹ sein – wie ›wir‹ aber damit umgehen und Wirklichkeit konkretisieren, bleibt nach wie vor als Aufgabe und Verantwortung bestehen.31 Doch was wäre, wenn der InternetArchivar Kahle mit seinem Gleichnis vom Orakel eine Art absolutes Wissen – auch des Historischen – gemeint hätte? Auch dann hätte Alexa nicht das Zeug das totale Archiv zu werden, da auch ihre Verschaltung mit den von ihr gespeicherten synchronen Daten (Inter-Net) die überlieferten anthropologischen Erinnerungs-Daten zu einer ›Historie‹ allererst macht (nach Maßgabe ihrer technischen Randbedingungen eben), und nicht eine Geschichtlichkeit per se, jenseits ihrer – Alexas – selbst, schlicht unberührt bloß ab-bildet. Selbst also in den Verschaltungen heutiger Medien führt das Imaginäre den Haushalt des Anthropologischen. Natürlich, der Gedankengang muss (sollte?) hier – in einer quasi-humanistischen Rettungs-Emphase – nicht abbrechen. Denn, um ihn mit einer rhetorischen Frage fortzuführen: Von wo sollten sich informiert-informierende Aussagen über ›das Anthropologische‹ speisen, wenn nicht aus dem archivarischen Dispositiv (Foucault) oder Ge-Stell (Heidegger) medialer Überlieferungs-Technik? Nun aber – Glück auf! –, so lautete ja doch genau das Argument des Imaginären. Dazu Georg Christoph Tholen: »Technische Medien zu fingieren als prothetische Ordnungen eines ›Selbst‹ oder ›Wir‹ – also als ureigener Bestand des Menschen –, ist eine Geste, die den anthropomorphen Narzissmus noch dort fortschreibt, wo sein erträumtes oder beklagtes Ende beschworen wird. Denn der Fetischismus dieses Schemas liegt in dem Glauben, es gäbe ein vom dinglichen Schein jedweder technischen Gestaltung ablösbares Eigenes, ein verstellungsfreies und ersatzloses Proprium, dem zuliebe der artifizielle Schein als solcher sich aufzulösen habe. Das unbefleckte Ideal dieses anthropomorphen Narzissmus führt zu einer in sich krei-

30. Das Internet-Archiv findet sich unter: >http://pages.alexa.com/company/ index.html< (21. Juli 2003). Das Statement Kahles ist zitiert nach: Ludwig Siegle, »Ein Archivar des Netzes«, in: Die Zeit, 12. März 1998, Nr. 12, 73. 31. Wunderschön wird dies in den Matrix-Filmen durch die Dialoge zwischen dem Orakel und Neo vorgeführt. 192

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senden Denkfigur des unmittelbaren, vormedialen Lebens, in dessen Namen das Leben als verloren gilt, aber nach kathartischer oder gar apokalyptischer Reinigung zu sich oder auf sich zurückkommen könne.« Das Verhältnis Mensch – Imaginäres – Medium zu dislozieren ist unmöglich, da das Verhältnis gerade selbst je aufs Neue dislokativ ist. In diesem Sinne pointiert Tholen seine Schlussfolgerung: »Die Schnittstelle zwischen Mensch und Medium bleibt auch unter digitalem Vorzeichen eine, die nur in Gestalt imaginärer Interfaces zugänglich ist. Sie als Symbiose von Technik und Subjekt zu apostrophieren, ist ein ebenso metaphorischer Kurzschluss wie das apokalyptische Bild, dass der Mensch sich durch elektronische Medien und Prothesen von sich, von seiner ›eigenen‹ Zwischenleiblichkeit, entferne oder gar diese verlöre. Vielmehr passiert die metaphorische Unbeständigkeit im digitalen Medienverbund dergestalt, dass der gespenstische, intermediale Zwischenraum als Oberfläche selbst sichtbar wird.«32 (2) Eine andere Form kulturtheoretischer Praxis, mit der oben angesprochenen Wandlung der technisch-medialen Grundlagen des Archivs umzugehen, ist die historische Rekonstruktion des digitalen Gedächtnisspeichers. Das ließe sich emblematisch auf die Frage zuspitzen, ob Bill Gates ein guter Programmierer war. »Ja, er war verdammt gut!«, antwortet Reuben Harris auf die Frage nach Gates Vergangenheit als Programmierer. Harris ist ein britischer Informatiker, der im Internet in »Dutch Owens Software Museum«33 auf das »Altair-Basic« gestoßen ist – jenes Software-Programm, das Bill Gates 1974 als 19-jähriger Harvard-Student zusammen mit seinen Kollegen Paul Allen und Monte Davidoff geschrieben hat. Es war die allererste Software für einen PC – den »Altair 8080«. Die Vertriebsfirma des Hardware-Bausatzes kündigte die Weltneuheit so an: »World’s First Minicomputer Kit to Rival Commercial Models«. Gates und seine Kollegen schrieben hierfür die funktionstüchtige Anwendersoftware, die obendrein – ein wichtiges Kriterium der damaligen Zeit – nur 4 KByte Arbeitsspeicher benötigte. Wie nun durch Harris’ Analyse des Codes ersichtlich wird – und was das Interessante für den vorliegenden Kontext ist –, bildete Altair-Basic den Grundstein von Microsoft. Harris hat nämlich herausgefunden, dass die »Fehlercodes« des Programms »auch bei den neuesten Versionen von Microsofts Visual Basic noch dieselben sind. In den unendlichen Datenhaufen moderner Software finden sich also noch Spuren der Geschichte, ähnlich wie in einer Stadt, deren Glaspaläste auf uralten Grundmauern ruhen. Vielleicht

32. Georg Christoph Tholen, »Metaphorologie der Medien«, in: zaesuren. Ökonomien der Differenz, November 2000, 134-168, hier: 156 (Fußnote 14) u. 162. 33. >museum.sysun.com< (21. Juli 2003). 193

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wird sich eine besondere Sparte der Archäologie schon bald mit Bit und Byte statt mit Tonscherben befassen.«34

»eine einfache Falte in unserem Wissen« Seit den Zeiten der Archonten sind Archive systematisch bewahrende Sammlungen der Ausdrucks- und Tradierungsmöglichkeiten von Machtverhältnissen. Daran hat sich auch in Zeiten der Digitalisierung der Erinnerung nichts geändert (Reck), vielmehr verschärft, denkt man an den »Computeranalphabetismus«, den Friedrich Kittler allenthalben eruiert. Die Gefahr besteht, dass sich dies zu mehr als nur einer vorübergehenden Lese-Rechtschreib-Schwäche auswächst. So mahnt Kittler, die Perfidie dieser Machtkonstellation zu bedenken und zu berücksichtigen: »In Zeiten globaler Vernetzung […] wäre es die bessere Rückversicherung, wenn Computerchips, Betriebssysteme und Quellcodes wieder öffentlich würden. Auch Chip-Architekturen sind Bilder, auch Quellcodes sind Texte. Nur haben beide – selbst im Vergleich zu Kathedralen oder Enzyklopädien – derart abgründige Komplexitäten, dass kein denkbarer Mausklick ihre unvermeidlichen Fehler beheben könnte. […] Unsere Kultur ist die erste, die wortwörtlich auf Sand gebaut ist. Sand besteht aus kleinen Kieselsteinkörnern, die Silizium-Architektur aus noch tausendmal kleineren. Sandhaufen sind instabil, die computergestützten Infrastrukturen unserer Kultur noch viel mehr. Schrift und Bild haben ein Maximum an Beweglichkeit erreicht, das als Lebensform eigenen Rechts die althergebrachte Lebensrettung und Lebenserhaltung nachgerade unterläuft. Ich weiss nicht, ob wir dieses Leben auf Siliziumbasis einigen wenigen Konzernen anvertrauen können.«35 Der Foucault-Leser Kittler vollzieht hier die Engführung einer Einsicht, wie sie sich dem Franzosen vom Bücherstaub der Archive in Uppsala, den Pariser Krankenhäusern und von anderswo her zugesprochen hatte: Dass die Realia der Archive Ausdruck von Machtverhältnissen sind und sich daraus ein Begriff des »Archivs« entwickeln lässt, der für das Gesamt derjenigen Ordnungsstrukturen einsteht, aus denen sich Dokumente diskursivieren und zu Aussagen formen lassen, die ihrerseits zu konkreter Macht führen. Kittler war auch auf Nietz-

34. Zur Entdeckung von Reuben Harris, siehe: Emil Zopfi, »War Bill Gates ein guter Programmierer?«, in: Neue Zürcher Zeitung, 08. Juni 2001, Nr. 130, 53. 35. Friedrich Kittler, »Schrift und Bild in Bewegung«, in: Neue Zürcher Zeitung, 09./10. Oktober 2000, Nr. 288, 51f., hier: 51. In diesem Sinne, siehe auch: Friedrich Kittler, »Computeranalphabetismus«, in: Literatur im Informationszeitalter, hg. v. Dirk Matejovski u. Friedrich Kittler, Frankfurt/Main u. New York 1996, 237-251. 194

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sche zurückgekommen, weil dieser medienarchäologisch interessant wurde, als der erste Philosoph, der eine Schreibmaschine verwendet hat. Sein Denken stellte sich demgemäß nicht nur prozessual aufs Aphoristische ein, sondern war medientechnisch auch zum »Aufschreibesystem 1900« konvertiert.36 Die Bezüglichkeit des Denkens von Nietzsche und Foucault liegt tiefer, wenn man so sagen kann, sie betrifft den Quellcode der Theorien. Die Aussagen Nietzsches sind Ergebnisse (des Prozesses) einer archäologischen Genealogie – man denke an die genealogische »Geschichte« des Subjekts jenseits von Gut und Böse »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde« (N 6/80f.). Das Ergebnis dieser »Geschichte eines Irrthums« war ein Subjekt Namens »Wille zur Macht«.37 Die Aussagen Foucaults sind Ergebnisse (des Prozesses) einer genealogischen Archäologie – man denke an die archäologische Rekonstruktion der »Aussage«. Das Ergebnis war das (scheinbare) Paradox objektivierender Subjekt(ivierungs)-Strategien dispositiver Macht: Der Mensch als »Subjekt« ist ausgesagter Effekt dessen, was ihm zugrunde liegt (Archiv). Das Archiv sagt ein Subjekt aus – und das Subjekt bringt das Archiv zum Sprechen. Doch wie gesehen, spricht es das Archiv nicht einfach aus. Es sagt es aus, und das bedeutet, dass das déjà-dit des Archivs in jeder Aussage (eines »Subjekts«) neu geschrieben wird und sich materiell ereignet (F AW/145ff.). Auch ein »Subjekt« erscheint so als (stets vorläufig postuliertes) Ergebnis differenzieller Rekonstitutionen des archivarischen déjà-dit. »Subjekt« meint hier offensichtlich – dies sei vorerst festgehalten – einen diskursiven Knotenpunkt potenziell verschiedenster Aussagetypen. Gibt es also diese Logotektonik (Boeder) von nietzscheanischem Subjekt eines »Willens zur Macht« und dem foucaultschem »herausgetrete[n] Subjekt« (»sujet exorbité«) (F BÜ/83), das der Aussage-Macht des Archivs ausgesetzt und von ihr durchzogen bzw. konturiert ist? Die Antwort hierauf nun genauer. Ein Diskurs ist das Sich-Ereignen diskursivierter Aussagen. Das scheint tautologisch zu sein – der Schein des Tautologischen verblasst aber, wenn der, bereits erörterte, spezifische Charakter der Repetition einer Aussage bedacht wird. Das Sich-Ereignen einer Aussage (Diskurs) ist nicht bloß die quantitative Verwandlung des Diskurses, indem diesem etwas ›Neues‹ hinzugefügt wird, sondern ist auch die machtvolle Umfunktionierung des bereits Aus-Gesagten – es ist der Moment, da der Diskurs, gerade im Rückgriff auf historisches déjà-dit, umgeschrieben wird. Hier, zeitlich ausgedrückt: dem »instant de dérèglement« und

36. Hierzu ausführlich: Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800–1900, München: Fink 1995, bes.: 223-258. 37. Siehe hierzu das Nietzsche-Kapitel »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde« im dritten Teil. 195

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räumlich ausgedrückt: der »seuil d’un fonctionnement« (F AS/17) des Diskurses, kreuzen sich die nomologische und topologische Funktion (Derrida) des Archivs. Die Historie – anderes Wort für: Eigentum des Archivs – ereignet sich in ihrer eigenen, kontinuierlich-diskontinuierlichen Umschreibung und Umschreibung des Archivs. Das meint nicht, jetzt mit Nietzsche gedacht, dass es nichts – kein »Leben«38 – außerhalb von Schriften oder Dokumenten gäbe. Vielmehr so: Die vorhandenen »Dinge« und die Ursachen ihrer Entstehung sind scharf zu trennen (»toto coelo«) von ihrer machtvollen Nutzbarmachung, »thatsächlichen Verwendung und Einordnung«, d.h. deutenden Zurichtung und Umbildung »in ein System von Zwecken« (N 5/313). Im Moment also der – im doppelten Sinn des Genitivs – subjektiven Aneignung des Archivs hat das »Diskurs« genannte Ereignis des »Neu-Interpretieren[s]« und »Zurechtmachen[s]« (N 5/314) statt. Foucault fasst das – mit Bezug auf Nietzsche, wie man jetzt sieht – so zusammen: »Mit Ereignis ist nicht eine Entscheidung, ein Vertrag, eine Regierungszeit oder eine Schlacht gemeint, sondern die Umkehrung eines Kräfteverhältnisses, der Sturz einer Macht, die Umfunktionierung einer Sprache und ihrer Verwendung gegen die bisherigen Sprecher, die Schwächung, die Vergiftung einer Herrschaft durch sie selbst, das maskierte Auftreten einer anderen Herrschaft. Die Kräfte im Spiel der Geschichte gehorchen weder einer Bestimmung noch einer Mechanik, sondern dem Zufall des Kampfes. Sie manifestieren sich nicht als die sukzessiven Formen einer vorgängigen Intention oder eines endgültigen Resultates. Sie treten im einzigartigen Würfelspiel des Ereignisses auf.«39 – das ist der »Zufall des Kampfes« der aus dem Archiv generierten Aussagen. Diese subjektivierenden Machtkonstellationen und -formen, diese archivarischen Bedingungen der Möglichkeit von

38. Das »Leben« unterliegt einem Funktionswechsel in der Geschichte des foucaultschen Œuvres. Von der Untersuchung seiner diversen Erscheinungsformen als eines epistemologischen Phänomens (Diskurs des Wahnsinns, des Krankenhauses, des Gefägnisses etc.) geht Foucault dazu über die verleiblichte bzw. ein-verleibte Erfahrung des Lebens zu untersuchen (Geschichte der Sexualität, Wille zum Wissen, Gebrauch der Lüste, Sorge um sich, Geständnisse des Fleisches etc.). Über diesen Wechsel hinweg verfolgt Francisco Ortega die Varianten des foucaultschen Subjekt-Begriffs unter dem Fokus von Intersubjektivität und Freundschaft. Siehe: Francisco Ortega, Michel Foucault. Rekonstruktion der Freundschaft, München: Fink 1997. 39. Michel Foucault, »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, übers. v. Walter Seitter, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/Main: Fischer 1993, 6990, hier: 80. Die Verbindung von Subjekt- und Ereignis-Begriff bei Foucault erörtert auch: Pierre Macherey, »Foucault: Ethik und Subjektivität«, in: Denken und Existenz bei Michel Foucault, hg. v. Wilhelm Schmid, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, 181-196. 196

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Wissen und Erfahrungen und deren Repräsentationsformen zu erkennen, bedarf es einer – wohlgemerkt: institutionalisierten – Analyse der »Geschichte der Denksysteme«. Ihre Darstellung – das ist das Œuvre Foucaults – fokussiert je aufs Neue die Schnittstelle von Epistem (Archiv) und Leben (Leib), die das Subjekt ist. Diese Einsicht in die Position des Menschen als »Subjekt«, Zwischenkunft zu sein, artikuliert sich früh und wird – trotz gewaltiger, werkgenetisch einteilbarer Volten der Blickperspektive auf dieses Phänomen (Archäologie, Genealogie, Existenzästhetik) – auch in späteren Analysen für Foucault bindend bleiben: »Seltsamerweise ist der Mensch, dessen Erkenntnis in naiven Augen als die älteste Frage seit Sokrates gilt, wahrscheinlich nichts anderes als ein bestimmter Riß in der Ordnung der Dinge, eine Konfiguration auf jeden Fall, die durch die neue Disposition gekennzeichnet ist, die sie unlängst in der Gelehrsamkeit angenommen hat […] Indessen gibt es eine Stärkung und tiefe Beruhigung, wenn man bedenkt, daß der Mensch lediglich eine junge Erfindung ist, eine Gestalt, die noch nicht zwei Jahrhunderte zählt, eine einfache Falte in unserem Wissen, und daß er verschwinden wird, sobald unser Wissen eine neue Form gefunden haben wird.« (F OD/26f.)40 Diese Formulierungen sind entscheidend. Denn hier findet sich das Konzept eines »Subjekts« – ebenso wie Nietzsche den »Willen zur Macht« als Subjekt »großer Vernunft« durchgearbeitet hatte –, das nicht mehr als geformter Status denkbar ist. »Subjekt« wird fortan einen Prozess meinen. Oder genauer: markieren, denn es ist die Marge, der Grenzort, an dem eine quasi-transzendentale Allgemeinheit (Archiv) auf das radikale Individuelle der einen Aussage, das Jetzt, trifft. Im Ereignis des Aufeinandertreffens, des Sich-Ineinander Faltens kontaminieren sich beide mit dem je anderen. Der Effekt dieser Verwebung heißt »Subjekt« – es steht so stets am Rand der Geschichte, der Ereignis ist. Aber mit dieser Randständigkeit wird es nicht banal oder marginal in einem pejorativen Sinne. Sondern: Dass die Differenz von Innen und Außen statthat, ist bedingt durch die Existenz dieses Subjekts. Das ist paradox: Dieses Subjekt ist nicht präpotent oder präexistent den Diskursen, die es sichtbar macht, aber es ist gleichwohl deren Ereignishaftigkeit, ohne die ihr déjà-dit in einem undarstellbaren Ungesagtem (non-dit) verbliebe – reine, ab-solute Hypothese. »Subjekt« als Ereignis ist, so gesehen, die Einfaltung des Besonderen ins Allgemeine. Das Allgemeine, das Außen, das für sich ohne Kenntnis bliebe, ereignet sich im je Besonderen einer Aussage – eine Aussage wäre damit eine geäußerte Innerlichkeit, die sich in das Schweigen des Außen (Archiv) einstülpt und es so zum Sprechen bringt. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich, dass die Aussage eine Kopie ist. Gilles Deleuze nennt

40. Hervorhebungen, T.S. 197

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das »Double« und er markiert den Sinn des Zusammenhangs von Aussage/Archiv einerseits und dem foucaultschen »Subjekt« andererseits: »Das Double […] ist keine Reproduktion des Gleichen, sondern die Wiederholung des Differenten. Es ist nicht die Emanation eines ICH, es ist das Immanent-Werden eines stets anderen oder eines Nicht-Ich. Es ist niemals der andere, der in der Verdopplung das Double ist, ich bin es, der sich als das Double des anderen erfährt: ich begegne nicht mir im Äußeren, sondern ich finde den anderen in mir.«41 Damit schließt sich das Besondere als das Andere des Allgemeinen in dieses ein, und es wird – jetzt im Bewusstsein einer »kritischen Art der Historie« (N 1/258) – sinnlos, weil metaphysisch, das Allgemeine ohne sein Anderes zu denken. Bedenkt man die Typik des genealogischen Arbeitens Foucaults, wird evident, dass ihn diese Figur der Verschränkung bzw. gegenseitigen Überschreitung auch allgemeiner – jenseits spezifizierter Reflexionen über die Aussage, das Subjekt etc. – als Methodik des nietzscheanischen Denkens besonders fasziniert hatte: »Ce qui m’a paru frappant chez Nietzsche, c’est que, pour lui, une rationalité – celle d’une science, d’une pratique, d’un discours – ne se mesure pas par la vérité que cette science, ce discours, cette pratique peuvent produire. La vérité fait elle-même partie de l’histoire du discours et est comme un effet interne à un discours ou à une pratique.«42 Die Reflexion auf die Wahrheit als inbegriffenes Moment eines Diskurses ist die Methodik der Machtanalyse (N 1/269f.). Denn Wahrheit wird immer im Namen einer historischen Macht gesprochen. Ihre Worte geben kein (womöglich: erstes) Signifikat an, sondern setzen Interpretationen und Perspektiven durch.43 »Leben« heute ist – aus Sicht der »kritischen« Betrachtung der Vergangenheit – Resultat all der historischen »Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht ganz möglich, sich von dieser Kette zu lösen. […] Aber hier und da gelingt der Sieg doch, und es giebt sogar für die Kämpfenden, für die, welche sich der kritischen Historie zum Leben bedienen, einen

41. Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, 136. Zur ausführlichen Entwicklung des Gedankens des Subjekts als Grenzverhältnis, siehe das Kapitel »Die Faltungen oder das Innen des Denkens (Subjektivierung)«, 131-172. Zum selben Themenmotiv: Pierre Macherey, a.a.O., 1991. Matthias Rüb, »Das Subjekt und sein Anderes. Zur Konzeption von Subjektivität beim frühen Foucault«, in: Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, hg. v. Eva Erdmann, Frankfurt/Main u. New York: Campus 1990, 187-201. 42. »Entretien avec Michel Foucault«, in: Dits et Écrits, Bd. IV, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Paris: Gallimard 1994, 41-95, hier: 54. 43. Siehe hierzu auch: Michel Foucault, »Nietzsche, Freud, Marx«, übers. v. Michael Bischoff, in: Schriften in vier Bänden, Bd. I, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, 727-743. 198

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merkwürdigen Trost: nämlich zu wissen, dass auch jene erste Natur irgend wann einmal eine zweite Natur war und dass jede siegende zweite Natur zu einer ersten wird.« (N 1/270) Nietzsche löst mittels seiner archäologischen Genealogie den Menschen aus der metaphysischen Verklammerung der Dichotomie idealer Werte (Wahrheit) und körperlicher Erscheinungen (Schein). Dasjenige Subjekt, das dabei entsteht, ist nicht mehr ›das‹ durch eine ihm vorgängige Machtrelation fest-gestellte Subjekt. Es ist, so gesehen, selber die – unpathetisch – freie Bewegung des »Willens zur Macht«, die sich in jedem Moment ihrer Setzung (Produktion) und Durchsetzung neu formt. Diese »große Vernunft« des Leibes vollzieht »[d]ie unablässige Verwandlung – du musst in einem kurzen Zeitraume durch viele Individuen hindurch.« (N 9/520) Eine Eigentlichkeit des Subjekts kann es so nicht mehr geben, und doch ist alles dem Subjekt zu eigen bzw. zugeeignet; denn jetzt wird allererst etwas in demjenigen Wechsel der Perspektive, der der (autoproduktive) Augenblick des Subjekts ist.44 Dieser »Übermensch«, und eben nicht der ›humanistische‹, bedingt und realisiert – jetzt wieder mit Foucault gedacht – die Ästhetik der Existenz der »ewigen Wiederkehr des Gleichen«. Sich in einem Interview vom sartreschen Konzept eines intentionalen »Subjekts« absetzend, formuliert Foucault seinen Einsatzpunkt hierzu fragend – gleichwohl thetisch – so: »La question était: peut-on dire que le sujet soit la seul forme d’existence possible? Ne peut-il y avoir des expériences au cours desquelles le sujet ne soit plus donné, dans ses rapports constitutifs, dans ce qu’il a d’identique à lui-même? N’y aurait-il donc pas d’expériences dans lesquelles le sujet puisse se dissocier, briser le rapport avec lui-même, perdre son identité?«45 Der Verlust der Selbst-Identität des Subjekts ereignete sich in den ›eigenen‹ Erfahrungen und machte so die Interpretationen des »Lebens« unabschließbar. Warum? Weil es mit dem Rollen des Menschen »vom Zentrum ins X« (Nietzsche) nichts Erstes mehr gibt, das dem endlosen Murmeln der Interpretationen Einhalt gebieten würde bzw. einen Grund geben könnte. Dass das Subjekt derart aus sich heraustritt und die Identität mit sich und an sich selbst verliert, enthebt es seiner idealistischen (Nietzsche: nihilistischen) Macht, das Zentrum der Welt zu sein, und macht die Archäologie seiner Aussagemöglichkeiten (Archiv) notwendig. Dass das Subjekt zur »brisure« (Derrida) seiner selbst, zum »Double« (Deleuze) wird – und damit nicht mehr Subjekt ist –, macht es zur Heterotopie am Saum der Zeit.

44. Siehe hierzu das Nietzsche-Kapitel »Der Augenblick des Subjekts«. 45. »Entretien avec Michel Foucault«, a.a.O., 1994, 49f. 199

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Sexualität am »Saum der Zeit« Ein Mädchen sagte, laß mich, du machst aus mir noch ’nen Text. Jürgen Becker Auch vergessene oder (materialiter) zerstörte Aussagen sind von bleibender Dauer. Der Modus ihres Überdauerns hätte so lediglich die Form des (Be-)Schweigens angenommen – wie der Ausschlag einer Schwingung zeitweise ohne Amplitude sein kann und doch existiert. Vor dem Hintergrund des mehr oder weniger großen Ausschlags konturiert und entfaltet sich Gedächtnis und Erinnerung. Allerdings: Wie in den vorangegangenen Kapiteln sichtbar wurde, ist »Erinnerung« nicht die reine Aktualisierung historischer bzw. schlicht vergangener Aussagen. Sondern zur Aussage gehört per definitionem, dass ihre Bindung an Medialität (bspw. an das Buch), ihre institutionalisierte Systematisierung (bspw. in Bibliotheken) und die Modalitäten ihrer DiskursReferenz (bspw. juristische Aussage, theologische Aussage, biologische Aussage etc.) die Aussage allererst in die Remanenz bindet.46 So gesehen ist »Erinnerung« eher ein Nachleuchten vergangener Aussagen in definierten Ordnungen aktueller Aussagen. Dieses gebundene Bleiben führt zu applizierten Aussage-Techniken, abgeleiteten Aussage-Praktiken und zu konstituierten bzw. modifizierten sozialen Verhältnissen (»Persistenz«) (F AW/180). Des Weiteren treten Aussagen in Form einer geregelten Häufung oder »Additivität« auf, die je nach (wissenschaftlichem) Diskurs anderen Regeln und Schemata folgt. Die Spezifizität der additiven Aussage-Gruppen ergibt sich durch die Weise, wie Aussagen komponiert werden, sich negieren, gegenseitig ausschließen oder auch ergänzen (F AW/180f.). Dass eine Aussage persistieren und additiv sein kann, setzt in gewisser Weise voraus, dass es etwas ihr Vorgängiges gibt, »ein Feld

46. Siehe zum foucaultschen Diskurs-Begriff auch die erhellende Bestimmung mittels des differenzierenden Vergleichs von »Diskursanalyse« und »Dekonstruktion«: Christa Karpenstein-Eßbach, »Zum Unterschied von Diskursanalysen und Dekonstruktion«, in: Sigrid Weigel (Hg.), Flaschenpost und Postkarte. Korrespondenzen zwischen kritischer Theorie und Poststrukturalismus, Köln: Bohlau 1995, 127-138. Des Weiteren eine Erörterung dieses Terms, die ihn durch eine Abgrenzung zum Dialogbegriff Bachtins verständlich und – zusammen mit der Heterotopie – nutzbar macht: Vittoria Borsò, »Utopie des kulturellen Dialogs oder Heterotopie der Diskurse?«, in: Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, hg. v. Klaus W. Kaempfer, Stuttgart: Steiner 1992, 95-117. Ein wesentliches Problem des foucaultschen Diskurs-Begriffs ist das Innen-Außen-Verhältnis. Das zeigt: Petra Gehring, a.a.O., 1994, bes.: 41-62. 200

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von vorhergehenden Elementen, im Verhältnis zu denen sie ihren Platz findet, die sie aber neu organisieren und neu verteilen kann, gemäß neuen Verhältnissen.« Das der Aussage Antezendente liegt jedoch gerade (erst) in und mit der Aussage vor. Sie setzt die ihr eigene »Rekurrenz« (F AW/181) – und zwar in dem für jede Aussage spezifischen Sich-Ereignen. Dies ist – nochmals – der Rückgriff der Aussage auf ein déjà-dit, das die Aussage, jetzt, allerdings erst so und je hier (aus-)sagt. Diese Qualitäten der Aussage – »Persistenz«, »Additivität«, »Rekurrenz« – lassen ihre Lückenhaftigkeit (jenseits der Möglichkeit, die historisch wahre Bedeutung zu restituieren), ihre Äußerlichkeit (jenseits der Repräsentationsmöglichkeiten einer idealisierten Innerlichkeit eines Subjekts) und ihre diskursive Kumulation (jenseits der Ausgrabungsmöglichkeiten eines/ihres Ursprungs) sehen. Das ist die »Positivität« eines Diskurses (F AW/182). Doch die »Dichte der Zeit« (F AW/ 179), die einem Diskurs trotz der Lückenhaftigkeit, Äußerlichkeit und Kumulativität seiner Aussagen inhäriert, verdankt der Diskurs einem ihm Anderen, das in seiner Aktualität, jetzt, sich einer Vergegenwärtigung – in toto – entzieht. Denn dieses Andere ist als Alterität in die zeitlich scheinbar mit sich identische Gegenwart des Diskurses eingelagert – sozusagen: archiviert. Eine jede Aussage trägt, wie gesehen, diese Andersheit im Sich-Ereignen ihrer Selbst(-Differenz) aus. Das alter im ego der Aussage versichert, dass Aussagen in der kulturellen Textur, in der sie verortet sind (Rekurrenz) und die sie weben (Additivität), Pointierung und Kontur gewinnen (Persistenz) – einen raumzeitlichen Saum erhalten. Das ist das Gebiet, das Feld, die Region des Archivs: »gleichzeitig uns nahe, aber von unserer Aktualität abgehoben, ist es der Saum der Zeit, die unsere Gegenwart umgibt, über sie hinausläuft und auf sie in in ihrer Andersartigkeit hinweist; es ist das, was uns außerhalb von uns begrenzt.« (F AW/189) Das Archiv ist das Gesetz, das Aussagen systematisch die Möglichkeit gibt, (sich) zu ereignen. Da ereignet sich eine Aussage und in deren (Aus-)Gesagtem das Archiv, mithin als definitorische Größe der Aussagbarkeit des Gesagten. Die archivarische Gabe besteht darin, der Aussage das allgemeine System eines diskursiven Ortes in einer erfahrbaren bzw. erfahrenen Zeit einzuräumen. Die Gabe der Aussage besteht ihrerseits darin, das Archiv zum Sprechen zu bringen – ohne dieses selbst erschöpfend beschreiben zu können; denn sie spricht innerhalb des Archiv-Systems. Die Aussage, »Komplex möglicher Positionen für ein Subjekt« (F AW/158), ist das Ereignis des Archivs – in Sprache. Aber eben: in Sprache. Das heißt, nochmals erinnert, dass »Aussage« nicht eine grammatische oder logische Menge von Zeichen ist, sondern gerade deren materiale »Existenzmodalitäten« (F AW/158) charakterisiert, die stets einen Verweis auf das zu ihnen Andere tragen (F AW/161f.). »Die Aussage ist gleichzeitig nicht sichtbar und nicht verborgen.« (F AW/158) Das meint, dass sie in der Materiali201

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tät der Sprache sich ereignet und (quasi) erscheint und im Ort dieses Ereignens doch verborgen bleibt – die Aussage hat diese »Quasi-Unsichtbarkeit des ›es gibt‹« (F AW/161). Der Grenzort dieses doppelten Austrags einer reziproken Andersheit von Aussage und Archiv heißt »Subjekt«. Es stellt die Gesamtheit der Linien eines Schnittmusters dar, an denen sich das Sagbare vom Unsagbaren scheidet. Diese Konstellation lässt sehen, dass »wir« Differenz sind. Im Wechselspiel von Archiv und Aussage trägt sich »Vernunft« als Differenz von Diskursen, »Geschichte« als Differenz von Zeiten und »Ich« als Differenz der Dispersion von Identitäten bzw. als »Masken« aus (F AW/190). Diese Individualitäten, die – als »hätten wir Angst, das Andere in der Zeit unseres eigenen Denkens zu denken« (F AW/23) – traditionell mit einem konstitutiven (Vernunft-)Subjekt und dessen Vermögen einer adaequatio intellectus et rei zusammengebracht werden konnten,47 erweisen sich nun ihrerseits derart, allererst Ergebnisse und nicht Ursprung von Adäquations- bzw. Konstitutionsvorgängen zu sein. Sie manifestieren sich an der diskontinuierlichen Grenze von Archiv und Aussage. Der Prozess der Manifestationen ist die »›diskursive Praxis‹‹« (F AW/170)48 der Subjektivierung. Das bedeutet, laut Foucault: »Subjekt« ist die »expérience qui est la rationalisation d’un processus, lui-même provisoire, qui aboutit à un sujet, ou plutôt à des sujets. J’appellerai subjectivation le processus par lequel on obtient la constitution d’un sujet, plus exactement d’une subjectivité, qui n’est évidemment que l’une des possibilité données d’organisation d’une conscience de soi.«49

47. Foucault charakterisiert das so: »Die kontinuierliche Geschichte ist das unerläßliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts: die Garantie, daß alles, was ihm entgangen ist, ihm wiedergegeben werden kann; die Gewißheit, daß die Zeit nichts auflösen wird, ohne es in einer erneut rekomponierten Einheit wiederherzustellen; das Versprechen, daß all diese in der Ferne durch den Unterschied aufrechterhaltenen Dinge eines Tages in der Form des historischen Bewußtseins vom Subjekt erneut angeeignet werden können und dieses dort seine Herrschaft errichten und darin das finden kann, was man durchaus seine Bleibe nennen könnte.« (F AW/23) 48. Foucault definiert: »Sie ist eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben.« (F AW/171) 49. Michel Foucault, »Le retour de la morale«, in: Dits et Écrits, Bd. IV, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Paris: Gallimard 1994, 696-707, hier: 705f. Friedrich Kittler nimmt Foucaults Reflexionen zur historischen Entstehung von »Mensch« und »Subjekt« um 1800 ernst und medienhistorisch genau – und kann deshalb an Foucault den Wunsch und die Frage nach Präzisierung zurückgeben, wo denn der »sozial-historische[ ] Raum« genauer zu verorten sei, in dem der Mensch »zwar empirisch zum Un202

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Die Erörterung des Subjekt-Problems – worunter hier bislang die Theoriekonstellation aus Subjektivierung, Archiv und Aussage (Diskurs) verstanden wurde – erfährt in der foucaultschen Engführung der späten Jahre eine Fokussierung auf Sinnliches, genauer gesagt: auf Sexualität. Dieser Konzentration liegt das Interesse an der Frage zugrunde, wie Strategien der »›Diskursivierung‹ des Sexes« (F WW/21) sich in einer gewissen machtvollen Form (Diskurs) so am Individuum manifestieren, das aus ihm ein »Subjekt« wird.50 Und schon die Perspektive dieser Frage macht klar: Sexualität ist keine erste Realität, von der her Aussagen getroffen werden (könnten, oder nicht), sondern sie ist selbst Resultat diskursiver Strategien, ein Dispositiv, auf dem sich ›etwas‹ abbildet – Subjektivität. Foucault nennt die Macht-Linien dieses Dispositivs und die Art ihres Zusammentretens: Sexualität – das »ist der Name, den man einem geschichtlichen Dispositiv geben kann. Die Sexualität ist keine zugrundeliegende Realität, die nur schwer zu erfassen ist, sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und der Widerstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten.« (F WW/128) Das sind Grenztopoi der Ein- und Ausschließung, entlang derer ein Subjekt konstituiert wird – und obgleich diese Konstitutionsformationen selbst nicht zwingend sinnlich sein müssen, liegt hier dennoch ein Konstitutionsdispositiv des Sinnlichen vor. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass die Produktion von Sexualität bis heute anhand des Wechselspiels aus individuellem Geheimnis und den Ritualen der

tertanen neu entdeckter Positivitäten wie Arbeit, Sprache, Leben [wurde], die ihn machten und verendlichten, transzendental aber zur Möglichkeitsbedingung ihrer Erkenntnis«. Die historische Quelle dieses doppelten foucaultschen Subjekts als »Untertänigkeit und Freiheit« liegt, laut Kittler, – »technischer und materialistischer« gefasst – in dem Umstand, dass »deutsche Staaten ihr Schulwesen und zumal das höhere nach Strategien [reformierten], die uns in Theorie wie in Praxis Subjekte beschert haben.« Hier ist der Ort der beamtenmäßigen (Lehrer, Philosophen) Durchsetzung des Schriftmonopols. Pädagogisch heißt der: »Bildung«. Auch das Ende dieses Subjekts lässt sich so – »technischer und materialistischer« eben – herleiten: »Mögen für den unmöglichen Beruf zum Allgemeinen nach Deutschlands Erziehungsbeamten, seinen historisch ersten Inhabern, auch andere Kandidaten aufgetreten sein – Intellektuelle, Proletarier, Studenten und neuerdings Experten –: das Zerbrechen des Schriftmonopols an technischen Medien zieht wahrscheinlich alle denkbaren Kandidaturen zurück. Die Frage nach dem Subjekt erlischt selber.« Friedrich Kittler, »Das Subjekt als Beamter«, in: Die Frage nach dem Subjekt, hg. v. Manfred Frank, Gérard Raulet u. Willem van Reijen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, 401-420, hier: 401f. u. 415f. 50. Michel Foucault, »Le retour de la morale«, a.a.O., 1994, 705. 203

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PARADIGMEN PHILOSOPHISCHER MEDIENTHEORIE

Geständniskultur prozediert (F WW/11-23 u. 69ff.). »Im Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden.« (F WW/77)51 Die Betonung liegt hier auch auf der Wechselhaftigkeit dieses sinnlichen (Macht-)Spiels »Geständnis«. Denn mit der These, Sex sei repressiv kaschiert und käme nur in diskursiven Ausnahmen an die Oberfläche der Aussagen, wird man, so Foucault, den »Willen zum Wissen« der Sexualität nicht bestimmen können. Denn einer solchen Perspektive bleiben gerade diejenigen Bedingungen des Erscheinens und Funktionierens der »positiven, wissensproduzierenden, diskursvermehrenden, lusterregenden und machterzeugenden Mechanismen« (F WW/93) ungesehen, deren Vernetzung das »Subjekt« konturiert und es mit sich gerade in seinem Gebrauch der Lüste konfrontiert.52 So lässt sich die Relation von Archiv (allgemeines System der Macht), Subjekt und Sexualität (Sinnlichkeit) folgendermaßen festhalten: Das »Subjekt« wird zweifach produziert. Es ist zum Ersten das in Aussagen be-schriebene Ereignen des Archivs. Als solches ist es (verortete und verzeitlichte) Schwelle binnen-differenter Aussagen – ›binnen-different‹ weil, nochmals: materialiter verdichtet und in eins rückbezüglich auf ein historisches déjà-dit. Und »Subjekt« ist zum Zweiten

51. Tholen sieht im sozialisierten Geständnis nur einen von zwei Schauplätzen zu analysierender Machtvorgänge – die so genannten neuen Medien stellen den anderen dar: »Die Informatisierung des Sozialen ist nur zu dechiffrieren als eine Ordnung von Vorschriften und Axiomen, welche die vielfältigen Linien des Wünschens und Wissens blockieren und gleichschalten, in zugelassene Warnungen bzw. Ghettos zurückbinden und einfrieden. Gleichwohl bildet sich an der Oberfläche dieser sozialen Strategeme der andere Schauplatz unbewußter Energien: Gerade im Umgang mit den Neuen Medien häufen sich die Versuche, träge gewordene soziale Zustände und Normen aufzulösen und mit der Kunst unabgeschlossener Verführungen aufs Spiel zu setzen. […] Beschreibbar allein sind die historisch bestimmbaren Verknotungen von Wissen und Macht, welche [beispielsweise, T.S.] als kybernetische Diskurse der Bestandsicherung wirksam werden. Es ist nicht auszuschließen, daß deren statuarische Trugbilder zu kollektiven Vorbildern erstarren. Denn der Institutionalismus, welcher das ›Denken der Technokraten‹ zu einer der ›Varianten von Ontologie‹ werden läßt, gräbt sich in technische und soziale Projektionen ein. Eine von ihnen ist die informatikgeschulte Super-Vision […], und deren Vorläufer die […] panoptische Anstalt«. Georg Christoph Tholen, a.a.O., 1986, 250. 52. Siehe hierzu: Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste, übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. Das Kapitel 3 der Einleitung, »Moral und Selbstpraktik« (hier: 36-45), stellt diesen Gedanken zusammengefasst dar, bevor Foucault ihn an der antiken griechischen Kultur entfaltet. Er geht von Existenz, Status und Regeln der Praktiken des Gebrauchs der Lüste aus (chrêsis aphrodisíon) (gesunde Lebensführung, Hauswesen, Liebeswerben) und verfolgt seine wiederkehrenden »Erfahrungsachsen […]: Verhältnis zum Körper, Verhältnis zur Gattin, Verhältnis zu den Knaben und Verhältnis zur Wahrheit.« (44) 204

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ARCHIV (FOUCAULT)

Ort der »Herkunft« (Nietzsche) der materialen Einschreibung des vorigen ›Ersten‹ (Archiv): nämlich Körper. Foucault: Am »Leib findet man das Stigma der vergangenen Ereignisse, aus ihm erwachsen auch die Begierden, die Ohnmachten und die Irrtümer; am Leib finden die Ereignisse ihre Einheit und ihren Ausdruck, in ihm entzweien sie sich aber auch und tragen ihre unaufhörlichen Konflikte aus.«53 Dies beides ist das »Subjekt« sowohl als auch54 – und damit ein nietzscheanisches Paradox des »Lebens«: Es ist konstituiert aus einer Leiblichkeit, die ihm, dem »Subjekt«, das je Andere seiner selbst ist (»Saum der Zeit«) und auch ewig wiederkehrend bleibt, und zugleich – man könnte sagen: subjektivierend objektivierend – ist es solcherart diskursiviert, sich mittels sinnlichem »Gebrauch der Lüste« stets als »Selbst« zu entwerfen (»Sexualität«). Aber: Wenn »Subjekt« nicht mehr die innerliche Zentralität einer vernunftgeleiteten Identität bedeuten kann, wie lässt sich dann der Ort beschreiben, an dem dieser zuvor so leichtfertig behauptete SelbstEntwurf statthat? Das Sprechen und die Sexualität des Subjekts, durch deren Performativität es, aufgrund ihrer archivarischen Gebundenheit, allererst zu dem wird, als was es sich entwirft, baut gerade in dieser Gebundenheit am Netz seiner diskursiven Verortung und Zeitigung mit, fixiert Positionen, die wiederum, aufgrund der Differenzialität ihrer Aussagen, Dis-Positionen sind – deren Aussage-Formationen sich kreuzen (z.B. »Geständnis«-Praktiken des Öffentlichen und des Privaten) und dort wiederum das »Subjekt«, seine Sprache und die Sexualität erst konstituieren, und so weiter ad ultimo. Auch wenn diese Beschreibung zutrifft: Ihre Verschlungenheit und Zirkularität näherte die Aussage aber der Unverständlichkeit an. Die Gefahr der Unverständlichkeit in einer Verschlungenheit kann aber die Antwort auf die zuvor gestellte Frage gerade vorbereiten, ja, sie sogar bereits grammatisch – nicht: rhetorisch – dargestellt haben. Deshalb sei nun auch darauf eingegangen, inwiefern die Verschlungenheit einer Aussage übers »Subjekt« etwas übers »Subjekt« selbst aussagt. So also: »Es gibt […] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, […] in denen die wirklichen Plät-

53. Foucault, »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, a.a.O., 1993, 75. 54. Darin die Gefahr eines »Circulus vitiosus« zu sehen – wie Ortega es ausführt (a.a.O., 87) –, bietet sich nur dann an, wenn die Spur des nietzscheanischen »Augenblicks des Subjekts« im foucaultschen Gedanken nicht markiert wird. Siehe zu dem obigen »sowohl als auch« des foucaultschen Subjekt-Begriffs auch ausführlich: HansHerbert Kögler, »Fröhliche Subjektivität. Historische Ethik und dreifache Ontologie beim späten Foucault«, in: Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, hg. v. Eva Erdmann, Frankfurt/Main u. New York: Campus 1990, 202-226. 205

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PARADIGMEN PHILOSOPHISCHER MEDIENTHEORIE

ze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.« Diese Orte heißen Heterotopien, weil sie »ganz andere [Orte] sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen«.55 Der Ort des Subjekts lässt sich nicht punktieren gerade aufgrund der Ähnlichkeit und Nähe, die es zu seinen Konstitutionsbedingungen unterhält (undarstellbare Verschlungenheit). Der Ort des »Subjekts« wird also immer jenseits oder außerhalb des Ortes sein, an dem es anstelle seines ihm Anderen statthat (Archiv, Sexualität). Damit erfüllte dieses »herausgetretene Subjekt« das entscheidende Defintionskriterium einer »Heterotopie«: Raum zu sein, der mit allen anderen in Verbindung steht und gleichwohl diesen allen widerspricht. Der unbändige Widerspruch besteht darin, dass »Mensch« und »Subjekt« nicht (mehr) kongruent zur Deckung zu bringen sind. Doch wie trägt sich das aus? Die (Selbst-)Verortung des Menschen sowohl in den Epistemen als auch im »Leben« führt nicht dazu, dass er diese Regionen vollends ent-decken oder erhellen kann, dass er sich noch im ruhigen Fluss eines sich selbst denkenden Denkens (Hegel) zu ihm als Subjekt in Beziehung bringen könnte. Man muss es noch schärfer formulieren: Mit der Subjektwerdung des Menschen (der Moderne) geht korrelativ die Berührung des Ortes seiner eigenen (un-ursprünglichen) Produktion einher. Dieser entzieht sich in der Berührung, das heißt im Versuch, ihn als Ort eines Wissen zu formieren. Dieses Entzogene bleibt das dem Subjekt undarstellbar Andere. Denn die Konstituierung des Subjekts als Darstellungs-Ort des ihm Gegenwärtigen ist in eins die Modifizierung dessen, was das Subjekt über den Ort, seinen Ort, jetzt, auszusagen weiß. »[W]eit entfernt davon, den Moment des Gleichen anzuzeigen, indem die Dispersion des Anderen noch nicht am Werke war, ist das Ursprüngliche im Menschen das, was von Anfang an ihn nach etwas anderem gliedert als ihm selbst. Es ist das, was in seiner Erfahrung Inhalte und Formen einführt, die älter als er sind und die er nicht beherrscht. Es ist das, was ihn mit multiplen, verkreuzten, oft aufeinander irreduziblen Zeitfolgen verbindet, ihn durch die Zeit verstreut und inmitten der Dauer der Dinge sternförmig ausstrahlen läßt.« (F OD/399)56 Dass das »Subjekt« zuvor als Heterotopie sichtbar wurde, heißt, so gesehen, dass dieser andere Ort bzw. dieser Ort des Anderen, dieser »Saum der Zeit« des Subjekts, zu seinem Gleichen geworden ist.

55. Michel Foucault, »Andere Räume«, übers. v. Walter Seitter, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1990, 3446. (Hervorhebungen T.S.). Zur Charakterisierung der Heterotopie siehe des Weiteren: (F OD/20) 56. Zum gedanklichen Zusammenhang der zuletzt erörterten Momente, siehe besonders: (F OD/396-404). 206

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SIMULATION (BAUDRILLARD)

Simulation (Baudrillard) Crisis, what crisis? – Supertramp Nach der Erörterung der ersten drei medientheoretischen Paradigmen Echtzeit, Text und Archiv, die hier mit den Autoren Virilio, Derrida und Foucault verbunden und gewiss auch – entgegen der sicher auch möglichen Vervielfältigung auktorialer Bezüge – strikt annektiert wurden, soll nun noch der Fokus auf die Simulation gerichtet werden. Doch da dies den letzten Zug zur Vervollständigung des (mehr oder weniger zeitgenössischen) medientheoretischen Rahmens bildet, ist es ratsam, schon jetzt, der Auseinandersetzung mit Baudrillard seltsam vor- und eingelagert, einen Vorblick auf die historischen Präfigurationen zu wagen, die im dann folgenden Dritten Teil konturiert werden. Das Denken der philosophischen Moderne – und in der Retrospektive scheint man typisierend sogar sagen zu können: das moderne Denken – beginnt mit einer Grenzziehung zum Denken Hegels, das nun als Spekulation abgetan wird, da dort ein Denkender, ein denkendes Bewusstsein nicht vorkomme (Kierkegaard). Mit der Ablehnung des denkerischen Fortschreitens in rein begrifflichen Bezügen und einer Logik des Schließens (wie es Hegel bis zur Perfektion forciert hatte), handelt sich die Moderne damit aber fortan das Problem ein, den sachlichen Ursprung ihrer eigenen Entwürfe bestimmen zu müssen – und das aber letztgültig nicht leisten zu können. Wichtige Positionen der Philosophie, die das Denken und die Interpretation in der Moderne geprägt haben, tragen dieses Ursprungs-Problem immer wieder im Verhältnis von Wirklichkeit und Welt aus. Und dieses Verhältnis wird in den Theorien anhand ganz unterschiedlicher Momente erörtert und fokussiert. Mal ist es die Vorstellung (Schopenhauer), mal eine produktive Leibsinnlichkeit (Nietzsche), oder das Paradoxe (Kierkegaard), die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen (Marx), die Zeitlichkeit intentionalen Bewusstseins (Husserl) oder auch die gegebenen Möglichkeiten des verstehenden Mitseins im Ge-Stell (Heidegger). Und je nachdem, welches dieser Momente betont wird, zeichnet sich eine andere Positionierung der Terme »Subjekt« und »Sinnlichkeit« ab. Ein Ergebnis dieses tour d’horizon in die Moderne hinein und durch sie hindurch, von Hegel bis Heidegger, könnte dementsprechend, 207

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PARADIGMEN PHILOSOPHISCHER MEDIENTHEORIE

in Kürze, als folgende, allseits bekannte These zusammengefasst werden: Die Positionen des »Subjekts« (z.B. der Rationalität, des Autors etc.) und die der »Sinnlichkeit« zugestandenen Erkenntnismöglichkeiten werden mit dem Aufkommen des Strukturalismus ff. radikal in Frage gestellt. Seine Zusammenfassung findet dieses Modell in dem populären Schlagwort vom »Tod des Subjekts«. Von hier aus sieht es so aus, als halte demgegenüber das moderne Denken weiterhin am Logozentrismus und den grands récits fest. Diese Großthese bleibt stringent, solange sie sich in der Hauptsache auf die epistemologische Ebene der in Frage stehenden Theorien bezieht. Geht man allerdings grammatologisch der Topologie der Begriffe innerhalb der Theorien nach und analysiert ihre Funktion für deren Argumentation selbst, ihren Textkörper mithin, ergibt sich ein variiertes bzw. historisch erweitertes Bild. Nämlich: Beide Topoi (und zu dem ihr innerer Zusammenhang) unterliegen seit Beginn der Absetzungsbewegung von der Metaphysik hegelscher Prägung einer logotektonischen (Boeder) Bedeutungsverschiebung. Deren Ergebnis grosso modo ist, dass mit »Subjekt« nicht mehr ein Mensch oder ein individuelles Ich gemeint sein muss und »Sinnlichkeit« geradezu emblematisch dafür einsteht, dass dieser a-subjektive Mensch einem medialisierten Auf-Schub oder Auf-Riss der Wirklichkeit beiwohnt, ja, dass er in diesem Riss nur jeweils sagen kann, was »Ich« sei. Allerdings zeigen, analog zum Subjekt-Topos, die medientheoretischen Ansätze bis hierher – und Baudrillard wird keine Ausnahme bilden –, dass man schlechterdings von einem »Verlust der Sinnlichkeit« sprechen kann. Sinnlichkeit wird vielmehr – gerade wegen des medialen Zwischenspielens – zur überbordenden Positionierungsfunktion und -instanz des Menschen. Die Gesamtheit der Wirklichkeit(en), innerhalb derer sich die in den modernen Theorien je anders dargestellten Verhältnisse von »Subjekt« und »Sinnlichkeit« austragen, die Gesamtheit also aller potenziell begrenzbaren Wirklichkeits-Räume heißt in der Moderne »Welt«. Aus ihr entspringt der (für die Moderne) unergründbar entspringende Ursprung dessen, was ist – und: (jetzt andersherum gedacht) das, was ist, scheint zeichenhaft in ein Anderes dispositiviert zu sein, dessen Ort und Margen undarstellbar bleiben. Es spricht einiges dafür, dieses Andere »Matrix« nennen zu können.

Ein Sub-Text: Die Matrix Ce journal est une matrice subtil de paresse. Jean Baudrillard, Cool memories Was für die Romantik die blaue Blume war, ist für ein Zeitalter »technischer Reproduzierbarkeit« der Anblick unmittelbarer Wirklichkeit – 208

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SIMULATION (BAUDRILLARD)

dieser Anblick wäre, mit Benjamin gesprochen, die »blaue[ ] Blume im Land der Technik« (B I/458). Was stattdessen (au lieu de) ansichtig wird, ist eine »Natur zweiter Ordnung« (B I/458), die zwar immer noch »Wirklichkeit«, »Geschichte«, »Natur«, »Körper« etc. heißen kann, aber in den Verfügungsprozessen der Potenzialität von Reproduktions- und – mit der Durchsetzung der Computertechniken – Simulationstechnologien fundiert ist. Darin liegt, immer noch mit Bezug auf den Gedanken des benjaminschen Reproduktions-Aufsatzes, dass das Entscheidende der nachhaltigen Wirksamkeit der im 19. Jahrhundert sich ausbreitenden Reproduktionstechnologien nicht war, dass sie reproduzieren konnten – und das auch taten –, sondern dass sie aus dem einzelnen Objekt ein reproduzierbares Ding machten. Fortan inhärierte jedem Objekt die Möglichkeit, vielfach zu sein. Mit den technischen Dispositiven der Reproduktionstechnologien (vorerst und vornehmlich Fotografie und Film) und ihren Produkten, kam erstens eine Potenzialität (der Objekte) in die Welt, die bislang nicht gekannt worden sein konnte, und zweitens rückte, korrelativ zum ersten, die Welt selbst in den Status der Potenzialität1 ein, denn der Referent (Welt) wird mit der Reproduktion nicht bloß ein zweites oder n-tes Mal kopiert – er wird in der Reproduktion neu hervorgebracht.2 Für das benjaminsche Beispiel des »Kunstwerks« heißt das: »Das reproduzierte Kunstwerk ist in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks.« (B I/442) Richtet man demgemäß den Blick auf das Wechselverhältnis von (kollektiver) Aisthesis, Kunstwerk und gesellschaftlichen Bedingungen, folgt daraus, so Benjamin: »Die Dinge sich ›näherzubringen‹ ist […] ein genau so leidenschaftliches Anliegen der Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch deren Reproduzierbarkeit darstellt. Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion habhaft zu werden.« (B I/440) Das ist eine Verunsicherung des Referenten, die in eins das Seiner-Habhaft-Werden ist, da er – reproduzierbar – in der Reproduktion erst (wieder) hervorgebracht wird. Während also das Wort von der ›Reproduktion eines Referenten‹ den produktiven Vorgang seiner Duplizierung fokussiert, zeigt gerade das Faktum dieses Vorganges, dass der Referent reproduzierbar ist. Hier tritt die Potenzialität bzw. Potenzialisierung (Virtualität) des Referenten ins Spiel ein: dass er auch ganz anders sein kann, da die techni-

1. Im unten folgenden Exkurs »Möglicherweise virtuell« werden mögliche Begriffsfacetten von »Virtualität« erörtert, die sich stets in der Nähe des Problems der Potenzialität wissen. 2. Im vorangegangenen Kapitel zu Foucault zeigte sich dieser Vorgang anhand der »Aussagen«. 209

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sche Reproduktion nicht sein Abbild, sondern sein Transformationsvorgang ist. Die Reproduzierbarkeit des Referenten wird so zur, zeitlich paradox, vorgängigen Bedingung der Möglichkeit allererst des wiederholbaren Referenten. In dieser Potenzialität des Referenten liegt der Zugewinn technisch realisierter Wirklichkeit – und damit aber auch die Einsicht, dass in den geschilderten Vorgängen von dem Referenten nur schlechterdings gesprochen werden kann. Um es nochmals mit Benjamins Beispiel zu sagen: Der Film setzt den abbildbaren, reproduzierbaren Referenten status quo ante voraus, den er selbst in der Reproduktion – als Reproduktion – erst post festum hervorbringt.3 Es gehören zur paradoxen Semantik der Selbstversicherung der Moderne Denkfiguren, die darauf abheben, dass es hinter dieser »Natur zweiter Ordnung« eine – nein, nicht ›erste Natur‹, sondern – entzogene Größe gibt, die auch entzogen bleibt; sich entziehend-entzogen der repräsentierenden und reproduzierbaren Darstellung und der Versicherung in einen Grund enthalten. Der Ort oder Ursprung des Entspringens des nun aber gleichsam stets als »zweite Natur« sinnenfällig und diskursiv Gewordenen bleibt also undarstellbar, gleichwohl und wohl gerade daher reflexionsmotivierend und -würdig. Er trägt Namen wie z.B. »das Andere«, »der Leib«, »das Unbewußte«, »l’invisible«, »le désir«. Eine wesentliche Funktion dieser anderen Räume ist die Gabe. Die strukturierende Gabe einer strukturierten Räumlichkeit und Zeitlichkeit, in die das Objekt »Welt« hoch differenziert und sinnlich ausfällen kann. Die Welt ist Ereignis, immer und je schon (wie Heidegger sagt), ein Ereignis, das uns zu-fällt – doch woher und wann uns das Glück des Zufalls gegeben ist, bleibt undarstellbar. Man könnte auch andersherum sagen: Das Bleibende des Undarstellbaren ist die Welt. Ein weiteres solcher pro-grammatischen Großkonzepte, in der es ums Ganze der Welt geht, lautet »Matrix«. Die folgende Sammlung wird Hinweise geben, wie die Matrix im (akademischen) Denken wirksam wird und welche Funktionen sie einnehmen kann. Das wird dazu führen, sie auch im medientheoretischen Diskurs verorten zu können, ihre filmische Umsetzung in einem USamerikanischen Kino-Kassenschlager von 1998 anzudeuten – dessen reload 2003 dem ersten gegenüber eher schal ist – und dort entscheidende Spuren des baudrillardschen Tausch- und Simulationsbegriffes ausfindig zu machen.

3. Hierzu: Burkhardt Lindner, »Les médias, l’art et la crise de la tradition«, in: Mémoire et Médias, hg. v. Louise Merzeau u. Thomas Weber, Paris: Les Éditions Avinus 2001, 13-25. Ders., »Das Optisch-Unbewußte. Zur medientheoretischen Analyse der Reproduzierbarkeit«, in: Übertragung – Übersetzung – Überlieferung. Episteme und Sprache in der Psychoanalyse Lacans, hg. v. Georg Christoph Tholen, Gerhard Schmitz u. Manfred Riepe, Bielefeld: transcript 2001, 271-289. 210

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lexikalisch In der Biologie ist der Terminus »Matrix« bekannt als allgemeine Bezeichnung für eine Grundsubstanz ohne innere Struktur. Zwei gängige lexikalische Bestimmungen differenzieren dies weiter aus. In einem etymologischen Wörterbuch ist zu lesen: »Matrize f. ›Guß-, Präge- oder Preßform, gewachstes Papierblatt zur Vervielfältigung‹, Übernahme (17. Jh.) von frz. matrice, einer Entlehnung aus lat. matrix (Gen. matricis) ›Mutter-, Zuchttier-, Gebärmutter, Mutterleib‹, hier an den übertragenen Sinn ›Hülle, in der etw. geformt wird‹ anknüpfend (zu lat. mater ›Mutter‹).«4 Die Brockhaus Enzyklopädie fügt noch die in mediengeschichtlicher Hinsicht (Archiv!) interessante Bedeutung der Matrix als »öffentliches Verzeichnis« oder »Stammrolle« hinzu.5 Und für die Übersetzung aus der – wie zitiert – lateinischen Herkunft, bietet Langenscheidt folgende Orientierung an: »matrix, icis f (mater) [vkl., nkl.] 1. Muttertier, Zuchttier. 2. / a) Stamm, aus dem die Zweige kommen; b) Gebärmutter.«6

theorie-topologisch Im Umfeld theologischer Debatten zieht sich der Matrix-Begriff durch die gesamte Geschichte seit dem Mittelalter. Bei Jakob Böhme beispielsweise spiegelt der Begriff die Reflexionen zur biomorphen Entstehung der Welt, für die ein zweigeschlechtlicher Gott einsteht. Böhme schreibt: »Weil Gott die ganze Welt geschaffen hat, hat Er keine andere Materiam gehabt, daraus Ers machte, als sein eigen Wesen aus sich selbst.« Die Matrix ist hier Teil des Urandrogynen selbst und von ihr wird der göttliche Wille, verstanden als männlicher Same, »zur Schöpfung aufgenommen und erzeugt so die Welt«. Dieser Perspektive nicht unähnlich, versteht Paracelsus unter »Matrix« einen »dynamischen Ort für die Entstehung jedes natürlichen Körpers«. So kann z.B. auch der Mensch, wesenhaft als Mikrokosmos verstanden, Matrix für den Makrokosmos sein.7 In der Linie dieser Theorietradition nimmt Gershom Scholem eine bewusst exemplarische Motiv-Analyse vor, in-

4. Artikel »Matrize«, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer, München: DTV 1999, 849. 5. Artikel »Matrix«, in: Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, Bd. 14, Mannheim: Brockhaus 1991, 314f., hier: 314. 6. Artikel »matrix«, in: Langenscheidts Großes Schulwörterbuch. Lateinisch – Deutsch, Berlin u.a.: Langenscheidt 1991, 730. 7. Zitiert nach: H. M. Nobis, Artikel »Matrix«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Darmstadt: WBG 1980, 939-941, hier: 939. 211

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dem er die Konzeption der »Schechina« als Grundbegriff der Kabbala erörtert und sie durch die Geschichte der jüdischen Tradition verfolgt. »Schechina« ist in diesem Sinne »die Personifikation und Hypostasierung der ›Einwohnung‹ oder ›Anwesenheit‹ Gottes in der Welt«. Neben zahlreichen weiteren historischen Varianten extrapoliert Scholem sie sodann auch – zwischen Passivität und Aktivität oszillierend – als »Zusammenfassung aller in sie mündenden Wege«. Und die Pointierung ihrer Funktion findet er in der Rezeption eines kabbalistischen Textes aus dem 13. Jahrhundert, wo sie definiert wird als »das, wodurch alle Potenzen sich darstellen.« Dass »Potenzen« sich darstellen, wird im unten folgenden Exkurs mit der Charakteristik des Status von Virtuellem zusammenführen. Für hier gilt: Die Matrix realisiert das Mögliche und bleibt selber aber virtuell.8 Der Ansatz von Sibyl Moholy-Nagy siedelt die Matrix als Basis städtebaulicher Geschichte an. »The Matrix of Man« (1968)9 versteht die Stadt als »Gußform« des Menschen und analysiert an zahlreichen Illustrationen aus allen Epochen, welche Schemata des Städtebaus die Menschen im Laufe der Geschichte ausgeprägt haben und durch die sie sich haben prägen lassen. »Städte sind ihrer Natur nach permanent« und jede für sich stellt einen Schnittpunkt dar, die »symbolische Gestalt eines Punktes in der Geschichte und eines Punktes auf der Erdoberfläche.« Für die Großstadt des 20. Jahrhunderts gilt, laut Moholy-Nagy, das städtebaulich notwendige Paradigma der »Neuordnung [von] Formbeziehungen«, da nun »neue Energieballungen in Erscheinung getreten sind: Bevölkerungszuwachs und -Konzentration, Mechanisierung und Automatisierung, Massenverteilung von Waren, Massenerziehung, Weltverkehr und die Verlagerung vom Naturprozeß zum Wissenschaftsprozeß.« Die habitare Matrix der Gegenwart stellt sich, so gesehen, als »kontrollierte[ ] Laboratoriumsbedingungen« dar – wie sie auch den technologischen, städtebaulichen und zivilisatorischen Ausgangspunkt im Film »The Matrix« darstellte: Der Mensch verlor den Kampf gegen die »KI«. So baute diese die Erdoberfläche gemäß ihrer Bedürfnisse um (unendliche Plantagen biomorpher Batterien zur Stromversorgung) und entwickelte, zur Unterstützung der Vitalfunktionen jener Batterien (Mensch), die zerebrale reizkonstante Simulation einer Stadt- und Lebens-Wirklichkeit, die ›wir‹ Welt nennen. 1968 veröffentlichen die Psychologen Jürgen Ruesch und Gregory Bateson ein Buch mit dem Titel »Communication: The Social Matrix

8. Gershom Scholem, »Schechina; das passiv-weibliche Moment in der Gottheit«, in: ders., Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, 135-191, hier: 136, 158, 166. 9. Zu Deutsch mit dem seltsamen Titel: Sibyl Moholy-Nagy, Die Stadt als Schicksal. Geschichte der urbanen Welt, übers. v.d. Autorin, München: Callwey 1970, hier: 10ff. 212

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of Psychiatry«. Die Autoren betonen die evolutiven Chancen, die die technologische Erweiterung der zerebralen, privaten und gesellschaftlichen Kommunikationsformen durch den Computer eröffnet – und das auch in Bezug auf neue Tendenzen in der Sozialpsychologie: »Während in der Vergangenheit der Mensch mit Tieren oder mit Menschen interagierte, sieht er sich nun, in Ergänzung dazu, aus Metall hergestellten autonomen Quasi-Organismen gegenübergestellt. Somit hat der moderne Mensch mit der menschlichen Interaktion, mit der MenschMaschinen-Interaktion und der Maschine-Maschine-Interaktion zu kämpfen. Kommunikation ist damit zur sozialen Matrix des modernen Lebens geworden.« Nahezu im Sinne einer Feldtheorie des Sozialen versuchen die Autoren, die Größe »Kommunikation« als »das einzige wissenschaftliche Modell« zu etablieren, »das uns in die Lage versetzt, physikalische, intrapersonale, interpersonale und kulturelle Aspekte von Ereignissen innerhalb eines Systems zu erklären.« Der biologischen Notwendigkeit sinnlicher Kommunikation wird dabei besondere Beachtung geschenkt – ein Aspekt, der im Film »The Matrix« ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, da die anthropo-biologischen Batterien durch Informationsverarbeitung in einem chemico-physikalischen Erregungszustand gehalten werden und nur so als Batterien genutzt werden können. Das »Endresultat« der Wechselwirkung »von Wahrnehmung und Übermittlung« wird von Ruesch/Bateson als »Information« definiert. Das »Medium«, man könnte sagen: der Aggregatzustand, in dem die Gesamtheit dieser informatorischen Prozesse zwischen Individuum, Gruppe und Kultur operiert, ist die »soziale Matrix«. Und: »Als Individuen sind wir uns normalerweise der Existenz dieser sozialen Matrix nicht voll bewußt.« Menschliche Praxis, seine Kommunikation sowohl mit Maschinen als auch mit anderen Menschen, kurz: die Gesamtheit seiner strukturierten Wirklichkeit und die Wirklichkeit seiner Strukturen, sind eingelassen in die Matrix.10 In »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« bringt Thomas S. Kuhn die »Matrix« in Zusammenhang mit wissenschaftsdisziplinären Fragen. Die Gesamtheit der »disziplinären Matrix« setzt sich zusammen aus fachspezifischen Schemen der Interpretation, entsprechenden Modellen, die diese Schemen bilden, leitenden Werten und Musterbeispielen von Problemlösungen. Ein Wechsel dieser Matrix entspricht, anders ausgedrückt, einer »wissenschaftlichen Revolution«, einem Paradigmenwechsel.11

10. Jürgen Rüesch u. Gregory Bateson, Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychiatrie, übers. v. Christel Rech-Simon, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme 1995, 13, 16, 18, 20 und 25. 11. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, übers. v. Kurt Simon, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, bes. 58-67 u. 210-227. 213

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Der US-amerikanische Wissenschaftshistoriker Frederick Seitz legt 1992 ein Buch mit dem Titel »The Science Matrix. The Journey, Travails, Triumphs« vor. Hier versucht er mittels eines historischen Durchgangs von der Antike bis heute zu klären, welche Rolle für die moderne Gesellschaft das Verhältnis von Naturwissenschaft und Technologie spielt. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wie unsere Wahrnehmung das Verstehen wissenschaftlicher Erkenntnisse beeinflusst und heißt »The Brain Matrix: Our Window to the World«. Die Matrix in diesem Sinne ist ein Konvertierungsprogramm, das dazu dient, physikalische oder chemische Reaktionen des Körpers so zu übertragen, dass sie als Informationen für das alltägliche Leben dienlich und sinnvoll sind. Dass es aber stets Konvertierungen von »primary information[s]« gibt, ist uns nicht bewusst – »[t]he brain matrix ties them into our inner world.«12 Auch an der Schnittstelle von Literaturwissenschaft und Diskursanalyse der »Bio-Politik« (Foucault) taucht die Matrix auf. Die an den Post-Colonial-Studies orientierte US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Laura Doyle veröffentlichte 1994 ein Buch mit dem Titel »Bordering on the Body«. Dort schlägt sie einen Bogen von der Romantik über prominente Vertreter der modernen und zeitgenössischen Literatur, wie z.B. James Joyce, Virginia Woolf, Toni Morrison, hin zur aktuellen Debatte um die Eugenik und der Umdeutung von ›Mutterschaft‹. Das Buch heißt im Untertitel: »The Racial Matrix of Modern Fiction and Culture«. Doyle schreibt zusammenfassend: »In sum, the story I tell is that eugenics and modern fiction together entered a welldevelopped discours on the powers of racially and sexually different bodies, initiated at the end of the eighteenth century partly in conjunction with Romanticism and increasingly articulated in nineteenthcentury science.«13 Wie bereits angedeutet, werden im Film »The Matrix« »Mutterschaft« und »Matrix« tatsächlich verschmelzen: Das Zur-Welt-Kommen im heideggerschen Sinne bleibt aus, denn der anthropomorphe Körper wird mittels künstlicher Intelligenz als Reagenzie erzeugt und verbleibt dort auch während des Heranwachsens, da er nurmehr als Energiespeicher der Maschinen Verwendung findet. Schon Butler hatte in ihrem viel diskutierten Buch die Identitätsproblematik entlang der Leitdifferenz gender/sex an entscheidender Stelle mit dem Matrix-Gedanken in Verbindung gebracht. Butler schreibt: »Die Vorstellung, daß es eine ›Wahrheit‹ des Sexus geben könne, wie Foucault ironisch behauptet, wird gerade durch die Regulierungsver-

12. Frederick Seitz, The Science Matrix. The Journey, Travails, Triumphs, New York: Springer 1992, 1. 13. Laura Doyle, Bordering on the Body. The Racial Matrix of Modern Fiction and Culture, New York u. Oxford: OUP 1994, 9. 214

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fahren erzeugt, die durch die Matrix kohärenter Normen der Geschlechtsidentität hindurch kohärente Identitäten hervorbringen. […] Die kulturelle Matrix, durch die die geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity) intelligibel wird, schließt die ›Existenz‹ bestimmter ›Identitäten‹ aus, nämlich genau jene, in denen sich die Geschlechtsidentität (gender) nicht vom anatomischen Geschlecht (sex) herleitet und in denen die Praktiken des Begehrens weder aus dem Geschlecht noch aus der Geschlechtsidentität ›folgen‹. [Es ist] von entscheidender Bedeutung, die ›Matrix der Intelligibilität‹ zu begreifen«.14

mathematisch In der Mathematik meint »Matrix« ein quadratisches oder rechteckiges Schema, das zur Darstellung, Berechnung und Lösung linearer Gleichungssysteme und von Differenzialgleichungen angewendet werden kann. Die allgemeine Form einer Matrix lautet: a11 a12 a13 a14 … a21 a22 a23 … a … Aik = 31 . . am1

a1n a2n = (aik) amn

Historisch gesehen gab es schon im alten China Verfahren, die man als Matrizen bezeichnen kann. In Europa wurden ähnliche Verfahren im 15. Jahrhundert zunächst von französischen Mönchen eingesetzt. Die bedeutende theoretische Durchdringung von Matrizen und deren Lösungsverfahren wurde von Gauß geleistet.15 Mit der Computertechnik ist es möglich geworden, das an Zahlenziffern orientierte Darstellungsschema einer Matrix in zwei für die Computertechnologie wesentliche Anwendungsbereiche zu übersetzen. Zum einen ist die Übertragung der Ziffernordnung auf die Vektorrechnung bzw. die vektorielle Darstellung möglich. In der jeweiligen ›Zeichnung‹ entspricht dann jede Koordinate einem Matrix-Schema. So können in der Gesamtheit der Übertragung – der Addition der Matrizen

14. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, übers. v. Katharina Menke, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, 38f. 15. Für die vorgenannten Sachhinweise geht der Dank an Gerald Eckert. Das Matrixschema stammt aus: Richard Knerr, Knaurs Lexikon der Mathematik, München: Droemer Knaur 1988, 252. 215

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– Gitternetzlinien zur Darstellung von Körpern entstehen, wie sie z.B. beim Rendering und bei Animationen zur Erstellung eines so genannten Drahtmodells (wireframe) und dessen fortführende Umwandlung in ein Volumenmodell (solid model) benötigt werden. Zum anderen: Der britische Mathematiker und Logiker Georg Boole (Boolesche Algebra) nutzte die Erkenntnis, dass eine Unabhängigkeit eines jeden mathematischen Formalismus von der speziellen inhaltlichen Deutung und seiner praktischen Anwendung besteht. So konnten logische Symbole und Zeichen erarbeitet werden, die die logischen Begriffe und vor allem deren Verknüpfungen ausdrückten, ohne kultur-semantische Belange berücksichtigen zu müssen. Die Reduktion der darstellenden Elemente (bspw. 0 und 1) führen so zu einer Hochdifferenzierung der logischen Verknüpfungen – bspw. den langen Reihen von 0 und 1, die, decodiert, eine bestimmte kulturelle Bedeutung haben, etwa den Ort und die ästhetische Ausgestaltung einer Linie im Raum angeben (s.o.). Der Film »The 13th Floor« (USA 1999) arbeitet mit dieser Idee und ihren (utopischen) technischen Möglichkeiten, indem er Computerspezialisten eine gesamte Welt (das Los Angeles der 30er Jahre) wie oben beschrieben technisch simulieren lässt. Die realitätsdiffundierenden Verwicklungen des Films beginnen erwartungsgemäß an der Stelle, da beide (!) Welten feststellen, dass sie Simulationen einer jeweils anderen, sie allererst generierenden sind. »The Matrix« wird diesen Gedanken bzw. dieses Setting radikalisieren, indem hier der Menschheit – abgesehen von der kleinen Besatzung der »Nebukadnezar« – jegliche Möglichkeit genommen ist, überhaupt auf die Idee zu kommen, dass ihre Welt in ein Ge-Stell namens »Matrix« eingehängt ist bzw. erst durch diese generiert sein könnte. Mit den obigen Hinweisen auf Boole und auf die Vektorrechnung ist die Übersetzung der »Matrix« von der Mathematik ins mediale Feld technisch und thematisch erstellt und soll im Folgenden noch um einige Motive verlängert werden.

medial Martin Bill publiziert 1992 ein Buch zu Derridas Sozialphilosophie mit dem Titel »Matrix and Line«. Die technischen Bedingungen der »community« werden hier als diejenige Matrix verstanden, die über In- und Exklusionen entscheidet, über die Nennung des Namens oder über dessen Verschweigen. Das Internet (das ja 1992 gerade begann, ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit zu treten) gilt dem Autor als (noch) entwicklungsoffenes Paradigma, an dem sich entscheiden wird, wie weit eine Politik des Namens wird gehen können – das heißt eine Politik der Unilinearität des Netzes, der Alternativen oder Abweichungen nurmehr als Objekte der Reterritorialisierung gelten und jegliche 216

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(Sub-)Kultur, die sich diesem Regime nicht beugt, undarstellbar (unbenennbar, unadressierbar) wird. »The net does not simply reach into different areas of people’s lives – it increasingly defines those areas in so reaching. […] Simply seeing the other on television«, wie Bill ganz im Gedanken des vier Jahre später erscheinenden Derrida-Textes »Échographies« hervorhebt, »cannot allow us to commune with our fellows – on the contrary. Right now the problem is that the other can be put on the screen as this or that abomination, and just as easily be taken off the screen or never put on to start with – i.e., unnamed.«16 Auch bei Walter Benjamin lässt sich die Matrix finden. Die »zerstreute Masse« steht in ästhetischer Korrelation zur technischen Weiterentwicklung der Kunstformen. Neue Formen der Rezeption entstehen im Chock der medialen Wahrnehmung: »alles Wahrgenommene, Sinnenfällige [ist] ein uns Zustoßendes« (B I/464). Daher gilt für den Blick auf die historische Zeiterfahrung: »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der historischen Kollektiva auch ihre Wahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Wahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt.« (B I/439) Zu Beginn des Abschnitts 18 heißt es dann kurz und bündig, die genannte Korrelation ausspielend: »Die Masse ist die matrix, aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten Kunstwerken gegenüber neu geboren hervorgeht.« (B I/464) Das Ende des Abschnitts nimmt diesen Gedanken wieder auf, ohne die »Matrix« zu nennen: Wo »das Kollektivum seine Zerstreuung sucht, fehlt [neben der optischen Dominante; T.S.] keineswegs die taktile Dominante, die die Umgruppierung der Apperzeption regiert. [Nichts] verrät deutlicher die gewaltigen Spannungen unserer Zeit als daß diese taktile Dominante in der Optik selber sich geltend macht.« (B I/466) Wer den ersten Teil von Douglas Adams’ »Per Anhalter durch die Galaxis« gelesen hat, wird den »Babelfisch« kennen. Dieser ›Fisch‹ lebt von den Gehirnströmen des Wirts, dem er gerade im Ohr sitzt. Das hat für diese Person den Vorteil, dass sie mit dem Babelfisch im Ohr eine jegliche Sprache der gesamten Galaxis simultanübersetzt verstehen kann. Wie macht der Babelfisch das? Er zieht, wie gesagt, die Gehirnströme der Wirtsumgebung ab und scheidet ins Gehirn seines Wirts »eine telepathische Matrix aus, die sich aus den bewußten Denkfrequenzen und Nervensignalen der Sprachzentren des Gehirns zusammensetzt.«17

16. Martin Bill, Matrix and Line. Derrida and the possibilities of postmodern social theory, New York: State University of New York Press 1992, 193f. 17. Douglas Adams, Per Anhalter durch die Galaxis, Bd. I, übers. v. Benjamin Schwarz, Frankfurt/Main: Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins 1981, 60. 217

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Im Orwell-Jahr 1984 erscheint William Gibsons Roman »The Newromancer«. Hier ist die Matrix eingebunden in das Metaphernund Systemgeflecht des »Cyberspace«. Dieser Begriff wurde bekanntlich durch den Roman populär und mithin in vielfältiger Bedeutungsweise ausgelotet. »Cyberspace« ist hier »Synonym für den Raum hinter dem Bildschirm, für ein weltumspannendes Netzwerk, die Matrix, an der sich Menschen direkt mit ihrem Nervensystem anschließen können.«18 Der Film »The Matrix« zeigt, bezogen auf die Anschlussfähigkeit des Nervensystems, sicher die pervertierte Variante dieser BioUtopie und da bleibt – abgesehen von der Lebensweise der CyberTerroristen auf der »Nebukadnezar« im Gefolge von Morpheus und Trinity – nicht viel Wahlfreiheit des »Anschließen-Könnens«. Nebenbei sei erinnert, dass auch Cronenbergs »Existenz« (1999) mit dem Gedanken des bioportalen Einloggens und der daraus resultierenden Diffusion der Realitätsebenen spielt. Hier handelt es sich allerdings um ein Switchen zwischen den Realitätsebenen eines (eines?) »Spiels« (Spiel?), das aufgrund seines neuronalen Interfaces mit den immersiven Techniken der Virtual Reality vergleichbar ist. Gibson seinerseits beschreibt die hybriden Möglichkeiten und Wirkungen der Matrix in seinem Roman stakkatoartig folgendermaßen19: »Die Matrix hat ihren Ursprung in primitiven Videospielen, […], in frühen Computergrafikprogrammen und militärischen Experimenten mit Schädelelektroden. […] Kyberspace. Unwillkürliche Halluzinationen, tagtäglich erlebt von Milliarden Berechtigten in allen Ländern, von Kindern zur Veranschaulichung mathematischer Begriffe. […] Grafische Wiedergabe abstrahierter Daten aus den Banken sämtlicher Computer im menschlichen System. Unvorstellbare Komplexität. Lichtzeilen, in den NichtRaum des Verstandes gepackt, gruppierte Datenpakete.«20 John S. Quarterman hebt in den Danksagungen des Vorwortes seiner Dokumentation »The Matrix« Gibson und seinen »Newromancer« ausdrücklich als Quelle für den Titel seines Buches hervor. Quar-

18. Achim Bühl, Die virtuelle Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Sozialer Wandel im digitalen Zeitalter, Opladen: Westdeutscher Verlag 2000, 30. 19. Siehe zur Hybridität des Medialen in Gibsons Roman auch: Angela Krewani, »Strategien medialer Inszenierung im postmodernen Roman«, in: Hybridkultur. Medien Netze Künste, hg. v. Irmela Schneider u. Christian W. Thomsen, Köln: Wienand 1997, 227-244, bes.: 229-232. Ganz ähnlich der Funktion der Matrix im gleichnamigen Film fasst Krewani jene in Gibsons Roman zusammen: »Die Welt der Matrix ist eine der unbegrenzten Möglichkeiten, da die Figuren in ihr eine körperlose Existenz führen, die ihnen alles erlaubt, sogar die des andauernden Verweilens in ihr, während der Körper außerhalb dieser als menschliches Wrack bewußtlos mit Hilfe flüssiger Nahrung existiert.« 20. William Gibson, Die Neuromancer-Trilogie, übers. v. Reinhard Heinz u. Peter Robert, München: Heyne 2000, 76. 218

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terman gibt darin, so der Untertitel, einen geografischen und historischen Überblick über »Computer Networks and Conferencing Systems Worldwide«. Der Text versteht sich vor allem als Kompendium der globalen technischen Standards und Protokolle und wo diese gelten. In den Beschreibungen des Vorwortes verwischen die Grenzen zwischen selbstreferenzieller Beschreibung der Funktion des vorliegenden Buches und der Bedeutung von »Matrix« als ›realer‹ Vernetzung der Welt. Eine in diesem Sinne mehrdeutige Definition Quartermans lautet beispielsweise: »The Matrix is a worldwide metanetwork of connected computer networks and conferencing systems that provides unique services that are like, yet unlike, those of telephones, post offices, and libraries.« Und weiter zur sozialen Brisanz dieser »Matrix«: »The Matrix affects the personal lives of millions of users. Marriages and divorces have been made because of it. Research and subjective evidence indicate that those who use it tend to interact with many more people, not only by the new technology but also by telephone, paper mail, and physical travel. […] The full extend and composition of this Matrix of society and technology is unknown even to its users.«21 Das zweite Kapitel des ersten Bandes von Günther Anders’ berühmter Studie zur »Antiquiertheit des Menschen« befasst sich mit dem Problem des unsere Gesellschaft umgreifenden Wesens von »Rundfunk und Fernsehen«22 und lautet »Die Welt als Phantom und Matrize«. Die »Matrize« nimmt hier die Position ein, die in dem durch die anderssche Syntax evozierten Titel des berühmten Schopenhauer-Textes die »Vorstellung« einnahm. Die durch die Medien evozierte Vorstellung (von) der Welt ist eine totalisierte, ein »pragmatisches Weltbild« in toto. Dieses gilt als »praktisches Gerät […], das darauf abzielt, unser Handeln, unser Erdulden, unser Benehmen, unser Unterlassen, unseren Geschmack, mithin unsere gesamte Praxis überhaupt, zu formen; allerdings eben ein Gerät, das gleichzeitig, um diese seine Gerätbestimmung zu verbergen, als ›Welt‹ verkleidet auftritt. Es ist ein Instrument in Form eines pseudo-mikrokosmischen Modells, das seinerseits die Welt selbst zu sein vorgibt.« Welt und Modell werden pragmatisch-kongruent, was den Effekt zeitigt, dass der Verdacht der Inkongruenz gar nicht erst aufkommt oder zumindest unwirksam bleibt. Die Matrizen der Vorstellung nehmen also, so Anders, eine solche »An-

21. John S. Quarterman, The Matrix. Computer Networks and Conferencing Systems Worldwide, o.O.: Digital Press 1990, xxiiif. 22. Nebenbei sei bemerkt, dass Anders hier ein kleiner Lapsus der Begrifflichkeit unterläuft: Mit »Rundfunk« meint er den »Hörfunk« (Radio), doch »Rundfunk« ist die Sammelbezeichnung von Hörfunk und Fernsehen. Doch Anders’ Analysen sind für die Geschichte der Medienkritik zu bedeutend, als dass es wichtig sein könnte, ihm diese Undeutlichkeit nachzutragen. 219

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wendungsbreite und Leistungs-Universalität« ein, dass sie der Vorstellung (von) der Welt »apriorische Bedingungs-Formen« sind.23 Damit endet diese Reise durch die »Matrix« und beginnt eine weitere – nur andere? Die Sprache umkreist den Philosophen in einem immer schweigsamen Kreis, wie Foucault wusste. Die Zerstreuung des Sinns aber hat im Innern einer Sprache statt. Und so finden wir uns wieder im »Zeitalter der Kommentare« mit seiner »historische[n] Verdopplung«.24 Später wird Foucault zeigen können, dass auch »Sexualität« für einen solchen (künstlichen?) Zeit-Raum einer Matrix einstehen kann – dem Raum für »Kommentare«, aus denen so genannte Individuen entstehen. Nicht die Sprache hat sich erotisiert, sondern die Sexualität ist in die Sprache eingezogen (worden) (F BÜ/86f.). Dem gemäß: »Der Sex eröffnet den Zugang sowohl zum Leben des Körpers wie zum Leben der Gattung. Er dient als Matrix der Disziplinen und als Prinzip der Regulierungen. […] [M]an macht die Sexualität zum Dynamometer einer Gesellschaft, der sowohl ihre politische Energie wie ihre biologische Kraft anzeigt. Zwischen den beiden Polen dieser Technologie staffelt sich eine ganze Serie verschiedener Taktiken, die in wechselnder Proportion das Ziel der Körperdisziplin mit dem der Bevölkerungsregulierung kombinieren.« (F WW/174) Die »Anwendungsbreite« (Anders) der Matrix dehnt sich also auch auf den Körper aus, auf die sinnliche Wahrnehmung unserer selbst. Auch hier, in unserem ›eigenen‹ Körper, kommen wir uns bereits entgegen, ist die Absenz der (Körper-) Matrix in die Präsenz des Körpers (»Sexualität«) als Simulation einer Erfahrung eingelassen. Was hier »Erfahrung« heißt – und im engsten Sinne »sinnliche Wahrnehmung« meint – ist, gemäß der Worte Fou-

23. Günther Anders, Von der Antiquiertheit des Menschen, München: Beck 1961. Das Kapitel »Die Matrize« findet sich: 163-170, die Zitate, hier: 164 u. 169. Siehe zur Matrize bei Anders auch: Ralf Schnell, Medienästhetik. Zur Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart u. Weimar: Metzler 2000, hier: 192ff. Wolfgang Kramer verfolgt stringent und exhaustiv die gedanklichen Ähnlichkeiten von Anders und Baudrillard: Wolfgang Kramer, Technokratie als Entmaterialisierung der Welt. Zur Aktualität der Philosophien von Günther Anders und Jean Baudrillard, Münster u.a.: Waxmann 1998. 24. Pars pro toto – wie paradox – einer Realisierung der Matrix-Figur könnte in diesem Sinne das Internet sein, wie Bolter anhand der Auswirkungen der Vernetztheit von Gedanken in Schrift im Internet auf Sozietät und spezifische Formen der Individualität (z.B. Autorschaft) zeigt. Demnach: »Die Gemeinschaften im Internet konstituieren sich durch eine wandelnde Multiplizität des individuellen Selbst.« Jay D. Bolter, »Das Internet in der Geschichte der Technologien des Schreibens«, übers. v. Stefan Münker, in: Mythos Internet, hg. v. Stefan Münker u. Alexander Roesler, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, 36-55, hier: 51. 220

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caults, eine Serie von Modellen gerade zur Produktion der Sinnlichkeit jenes »Körpers«. Deren Status, jetzt wieder mit Anders gedacht, hat die Perfektion eines Apriori. Dem sinnlichen Modell der Welt, in das das Ich einbegriffen ist, liegt ein Modell des Sinnlichen, der Sexualität, des Körpers etc. zugrunde. Was im Tausch von Körper (Sinnlichkeit) und Welt agiert, ist also nie das Wechselspiel von modellbildender Wahrnehmung einerseits und realer Welt andererseits, sondern – Anders sagt: a priori – »eine Serie verschiedener Taktiken« (Foucault), die das eine Modell zum Referenten des folgenden werden lassen. Mit Baudrillard gedacht, heißt das, dass auch diejenige Größe, die den Tausch garantiert(e) (der Referent, Gott, Natur etc.), simuliert ist. Ein Jenseits des Tausches kann es demnach nicht geben – und dieser wird so zu einem »unmöglichen Tausch« (»échange impossible«). »Dann wird das ganze System schwerelos; es ist nichts anderes mehr als ein gigantisches Simulakrum: nicht irreal, aber ein Simulakrum, das niemals wieder für das eingetauscht werden kann, was real ist, sondern sich nur noch in sich selbst vertauscht, in einem ununterbrochenen Kreislauf ohne Referenz oder Umfang.« (Bau PS/14) Und Baudrillards Theorie setzt hier den Punkt auf das »i« einer Theoriegeschichte der »Matrix«, wie er, wie gesehen, Günther Anders und auch Benjamin möglich gewesen wäre, hätte es das technische Faktum des Computers bereits in dieser Breitenwirksamkeit gegeben – und das in seiner historischen Spezifität damit einhergehende kulturtechnische Faktum, das für den i-Punkt eben einsteht: »Simulation«. Eine solche Hypothese betreffs der theoriegeschichtlichen Nobilitierung Anders’ und Benjamins in allen Ehren – und von so mancher »Philosophiegeschichte« wäre analog zu berichten, die das nach Platon oder auch nach Kant Gedachte und Geschriebene als bloße ›Fußnoten‹ zu ebendiesen Autoren herabsetzen –, Faktum bleiben gleichwohl die Realia dieser Geschichte auch nach allen Heroen. Daher soll im Folgenden das Spezifische des baudrillardschen Gedankens von der Simulation als unserer Matrix herausgehoben werden.

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Tausch I – Code und Fetischismus Wir schlagen vor, den Namen ›Potlatsch‹ jener Art von Institution vorzubehalten, die man unbedenklicher und präziser aber auch umständlicher totale Leistung vom agonistischen Typ nennen könnte. Marcel Mauss Insofern der Tausch weniger ein kommerzieller Vorgang im eigentlichen Sinn als vielmehr eine Zirkulation von Gaben ist, sind die Tätigkeiten des Tauschens und Handelns spezifische Ausprägungen des für uns ganz andersartigen Begriffs der uneigennützigen ›Gabe‹. Emil Benveniste Die »Matrix« ist nicht real, doch ist sie auch nicht nicht-real oder irreal. Sie verbleibt im Status des Virtuellen und realisiert das Reale, das wiederum auf sie zuführt – nicht nur, wie alle Wege auf Rom, sondern – als »Zusammenfassung aller in sie mündenden Wege« (Schechina). Das ist das Szenario I eines Tausches, wie er von Baudrillard für die Definition des Simulakrum schon genannt wurde (s.o.): Nicht mehr Zirkulation des Eintausches zu sein, die ein Hiesiges gegen ein dem System Jenseitiges in Bewegung bringt und wechselt, sondern nurmehr Bewegung eines Vertausches zu sein, selbstreferenter Selbstläufer, der seine Energie durch die Implosionen der schon implizierten Orte (Waren, Codes) erhält – und erhält. Dies nun konkreter. Das Interface zeigt die Worte: »Wake up, Neo …« Und Neo erwacht. Wieder erscheint auf dem Computerbildschirm – wie von Geisterhand geschrieben – ein gespenstisches Diktum: »The Matrix has you …« Und: »Follow the white rabbit. Knock, knock, Neo.« Es klopft an der Tür. Der Bildschirm: schwarz. Neo öffnet. Vor seiner Türe (mit der Nummer 101)25 stehen ein paar Leute, darunter Choi, ein Bekannter Neos, der gekommen ist, um mit ihm einen Deal abzuwickeln. Choi gibt Neo Geldscheine (»zwei Riesen«). Der schließt die Tür, geht mit dem Geld zu einem Regal, nimmt ein Buch in die Hand, klappt es auf und legt die Geldscheine auf die linke Hälfte des aufgeschlagenen Buches. Auf der rechten Buchhälfte sind Seiten zu einem Fach herausgeschnitten, so dass bei zugeschlagenem Buch etwas darin transportiert, geschmuggelt werden kann, ohne dass es gesehen wird. In diesem Fach liegen einige Disketten, von denen Neo eine herausnimmt, zur Türe zurückgeht und sie dem vor der Tür Wartenden aushändigt. Da-

25. »Neo« ist ein Anagramm für »one« und kann als Anspielung auf das binäre Schema des Digitalen: 0/1 gelten, und auf das theologische ›The One‹. Folgerichtig also, dass sein Appartement diese Ziffer trägt – und das seiner Komplizin in spe, Trinity, die Nummer »303«. 222

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mit ist der Tausch zur Zufriedenheit aller abgeschlossen – doch ist er scheinbar illegal, denn auf die Andeutung Neos, dass dieser Handel nicht stattgefunden habe, antwortet Choi: »Ich kenn‹ dich nicht. Du existierst gar nicht.« Auf die Aufforderung Chois, Neo solle, da er blass aussehe, mit in einen Club gehen, damit er etwas Abwechslung bekomme, antwortet Neo mit einer Frage: »Kennst du das Gefühl, wenn du nicht weißt, ob du wach bist, oder noch träumst?« Noch unentschieden, ob er in den Club mitgehen soll, entdeckt Neo auf der Schulter von Chois Freundin die Tätowierung eines weißen Kaninchens. Und Neo wird den Leuten in den Club – doch eigentlich dem weißen Kaninchen in den Kaninchenbau, um herauszufinden, wie weit der tatsächlich hinunterreicht – folgen, wo er auf Trinity trifft, die ihn der Antwort auf die Frage »Was ist die Matrix?« ein Stück näher bringen wird. Was war das für ein Buch, auf und in dessen Seiten der besagte Tausch stattfand? Der Autor des Buches ist Jean Baudrillard und sein Titel lautet »Simulacres et Simulation«.26 Das aufgeschlagene Kapitel heißt »Sur le nihilisme«. Was haben Matrix und Nihilismus miteinander zu tun? Dass Trinity Neo bei der Begegnung im Club nicht sagt, was die Matrix ist, liegt nicht nur daran, dass beide sich zu dieser Zeit in der Matrix befinden. Es ist, mit Baudrillard gedacht, auch eine erste, und zugleich letztmögliche terroristische Aktion gegen die Obszönität des (symbolischen) Systems: Verführung. Denn die Überdeutlichkeit des Symbolischen des Systems, sein beharrliches Erscheinen ist zugleich die Hyperrealität seiner Aussagen. Das Ganze des Sichtbaren verharrt darin, Anschein des Sichtbaren des Ganzen zu sein. Diese Art Anschein prozediert jenseits der Nihilismus-Frage von Sinn oder NichtSinn und die vorläufig einzige Taktik (Terrorismus), dem zu entgehen, wendet Trinity an, indem sie die Möglichkeit der Existenz eines Anderen (Virtualität), gerade durch Erkenntnis dessen was ist (»Was ist die Matrix?«), nur andeutet – und Neo damit verführt. Die Verführung beginnt hier (Bau SS/234). Die Bestandsaufnahme dieses Systems des Hyperrealen nochmals anders ausgedrückt, lautet also: Es ist ein Zeitalter, in dem Ereignisse geschehen, ohne Konsequenzen nach sich zu ziehen. »Nous sommes à l’ère des événements sans conséquences […]. Il n’y a plus d’espoir pour le sens. Et sans doute est-ce bien ainsi: le sens est mortel.« (Bau SS/234) Das ›hyper‹ des Realen verdeckt, dass es mit dem Realen nichts mehr ist, indem die anscheinenden Sichtbarkeiten (»apparences«) undurchsichtig werden. Denn alles bleibt hier Tausch von Codes, ohne dass, wie noch im polito-ökonomischen System der Ware, ein Mehrwert entstünde, der durch das System erst produktiv hervor-

26. Im Film wird die englischsprachige Version des Buches benutzt. 223

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gebracht wäre und dieses mithin zu einer weiter führenden Produktivität öffnete (Reproduktion). Im symbolischen Tausch-System der Codes ist der Kreislauf aus Produktion, Distribution und Konsumtion aufgebrochen, und damit abgebrochen. Doch ist dies nicht durch eine Epiphanie, eine Revolution, einen parlamentarischen Beschluss oder Ähnliches hervorgerufen worden. Der Grund liegt, historio-grafisch formuliert, in der Aufeinanderfolge von Veränderungen bzw. Mutationen im Wertgesetz, denen drei Ordnungen von Simulakren parallel laufen: »Die Imitation ist das bestimmende Schema des ›klassischen‹ Zeitalters von der Renaissance bis zu Revolution. Die Produktion ist das bestimmende Schema des industriellen Zeitalters. Die Simulation ist das bestimmende Schema der gegenwärtigen Phase, die durch den Code beherrscht wird. Das Simulakrum der ersten Ordnung handelt vom Naturgesetz des Wertes, das der zweiten Ordnung vom Marktgesetz des Wertes, das der dritten Ordnung vom Strukturgesetz des Wertes.« (Bau STT/79) Die Simulation wird also das bestimmende Schema der durch den Code beherrschten Gegenwart durch eine Wandlung des Wertgesetzes im System des Modus der Produktion selber: vom Marktgesetz zum Strukturgesetz. Die fetischistische Orientierung auf die Notwendigkeit der kontinuierlichen Produktion macht(e) diese – auch historisch-technisch27 – zu einer Re-Produktion und die Welt zu einer reproduzierbaren. Was in und mit diesen Reproduktionen aber hervorgebracht wird, ist im Wesentlichen nicht der immer nur weiter einszu-eins kopierte Referent eines Realen, sondern das nach und nach sich vernetzende System von Codes, die stattdessen statthaben (au lieu de: Prinzip der Äquivalenz) und in den Tausch eintreten (Bau STT/87). Die reale Dialektik von Produktion und Verbrauch endet und die hyperreale Tauschbewegung von Codes setzt sich fest, differenziert sich aus und wird ihrerseits zum als Wirklichkeit bezeichneten Wahrnehmungsartefakt. Perfidie des Codes aber: »Um so weniger kann man darauf verzichten, die Arbeit als gesellschaftliche Zuteilung zu reproduzieren, als Reflex, als Moral, als Konsens, als Steuerung, als Realitätsprinzip. Aber Realitätsprinzip des Codes: ein gigantisches Ritual von Zeichen der Arbeit breitet sich über die ganze Gesellschaft aus – einerlei, ob das noch produziert, Hauptsache, es reproduziert sich. […] Die Arbeit, die derart ihre Energie und ihre Substanz verloren hat […], lebt als Modell sozialer Simulation wieder auf, das nunmehr alle anderen Kategorien der politischen Ökonomie in die aleatorische Sphäre des Codes überführt.« (Bau STT/24f.) Das bedeutet fortan: Die Gesellschaft, wie sie im Blick politischer Ökonomie analysiert, dargestellt, gelebt wurde, hat sich nun nicht in Nichts aufgelöst, sondern kehrt im panoptischen System des

27. Hierzu das Kapitel zu Marx. 224

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Codes als das Reale zurück; und hat hier die Funktion, die in der Zeichentheorie »le référentiel« einnimmt (Bau STT/54). Die Gesellschaft der politischen Ökonomie als das Reale im System des Codes – das heißt zweierlei: Erstens gehen Reales und Imaginäres ineinander über. Denn wie sollte das Reale im Symbolischen nicht als Imaginäres auftreten? Zweitens verdeckt das Simulieren der politischen Ökonomie die Simulakrenhaftigkeit des simulierenden Symbolischen (Codes) (Bau STT/54). Das zeigt zudem, dass es (Baudrillard) hier nicht um die Ersetzung von Lebenswelten durch Zeichenwelten geht. Von der totalitären Einlassung des Symbolischen in die Welt ist vielmehr auch gerade das Semiotische betroffen (Bau STT/87-89).28 Nochmals also: Keine Szenerie, nicht mal die kleinste Illusion wäre denkbar, in der die Ereignisse wieder den Charakter einer ersten Realität annehmen würden bzw. könnten (Bau SS/234). Selbst die Öffnungen und Schwellen dieser Erscheinungs-Welt – Bücher, in denen etwas versteckt wird; Interfaces, die etwas zu lesen geben; Türen, an denen man Gabe und Gegengabe inszeniert, oder durch die man ins Freie tritt; Fenster, durch die man scheinbar flüchten kann, oder den Himmel sieht; Münder, aus denen Worte kommen; Unterführungen, die Schutz vor Regen geben und zu neuen Straßenmündungen leiten etc.29 – führen je aufs Neue ins System der Transparenz zurück, sind Implosionen des Sinns im Tauschvorgang von Symbolischem. Das ist, anscheinend paradox, heute Nihilismus (Bau SS/227). Nihilismus ist nicht mehr die Destruktion der Ordnung der Erscheinungen eines Systems oder der Ordnung des Sinns (Bau SS/228). Er besteht auch nicht mehr in der Verneinung (Negation) der »Welt zur Fabel« – wie von Nietzsche entlang der Geschichte der Metaphysik extrapoliert –, nicht mehr in der Bejahung (Affirmation) des Da-capoRufes nach der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« – wie von Nietzsche propagiert –, sondern: Wir alle »sind lebendig in ein Schattendasein, in den Bereich des Fluches und des Bösen, oder nicht einmal des Bösen, sondern in den der Indifferenz und Überzeugungslosigkeit getreten: der Nihlismus hat sich auf außergewöhnliche Weise völlig durchgesetzt, und zwar nicht mehr durch Destruktion, sondern als Auflösung in den Schein« (Bau T/30) Nihilismus besteht heute darin, dass alles scheinbar sichtbar ist, es ist ein Nihlismus der Transparenz (Bau T/30). Hieran schließt auch an, was Friedrich Kittler als neue Kulturleistung der Simulation als modaler Kategorie herausstellt: Während

28. Kritisch zum Zeichenbegriff Baudrillards: Klaus Kraemer, »Schwerelosigkeit der Zeichen? Die Paradoxie des selbstreferentiellen Zeichens bei Baudrillard«, in: Baudrillard. Simulation und Verführung, hg. v. Ralf Bohn u. Dieter Fuder, München: Fink 1994, 47-69. 29. Eine kleine Auswahl an Szenen aus »The Matrix«. 225

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die Affirmation bejaht, was ist, die Negation verneint, was nicht ist, drücken sich in Simulation und Dissimulation paradoxe Kommunikationsstrukturen aus. Denn die Simulation bejaht, was nicht ist, und die Dissimulation verneint, was ist.30 Der Foucault-Leser Kittler ist hier auch an der Problematik der Macht der Simulation interessiert – wie im Exkurs des vorigen Kapitels zu den »Realia des Archivs« deutlich wurde. Baudrillard seinerseits hebt vor allem die Beweglichkeit oder Reaktivität der Macht der Simulation im Verhältnis zum Realen hervor: »Solange vom Realen eine historische Bedrohung ausging, hat die Macht Dissuasion und Simulation gespielt und alle Widersprüche mit Hilfe der Produktion äquivalenter Zeichen aufgelöst. Heute, wo die Bedrohung von der Simulation ausgeht (eine Bedrohung, im Spiel der Zeichen zu verdunsten), bringt die Macht das Reale und die Krise ins Spiel und erzeugt dabei fortwährend künstliche, soziale, ökonomische und politische Einsätze.« (Bau PS/40) Was also könnte die Funktion der Verführung (»séduction«) Trinitys im Rahmen eines solch totalitären Nihilismus noch sein – eines Nihilismus, der Subjekt aller Modi der Reversibilität des Sinns ist? Die Funktion der Verführung müsste darin bestehen, die Möglichkeit einzuräumen (Virtualität), dass der symbolische Tausch unmöglich sein könnte, d.h. dem Symbolischen eine Gabe zu bescheren, für die es kein Maß hat, also nicht in der Lage ist, eine Gegengabe zu produzieren bzw. zu simulieren. Gleichwohl: Auf die hieran anschließende Frage, ob es eine irreversible Gabe mit einer solchen Wirkung geben kann, wird es, mit Baudrillard gedacht, keine eindeutige Antwort geben können. »Mister Anderson« alias Neo wird von der KI der Matrix als Systemfehler identifiziert, da er – ohne es schon selber zu begreifen – über den Rand seiner Brutwanne hinaus gesehen hat, was er nicht sehen darf: dass sein Körper, wie unzählige andere auch, allein zur Energieversorgung der KI dient. Diese Version des »Erkenne dich selbst« ist aber ein Fehler im System der Matrix und so wird Neo ausgeschieden, von der Gruppe um Morpheus mittels eines Tracking-Systems aber geortet und gerettet. Derart entkörperlicht, findet Neo sich in einem Leib wieder, der ihm fremd ist. Paradoxe Gabe – und terroristischer Akt im Sinne Baudrillards: Das Entziehen von Lebens-Sinn, der in einem System ohne Sinn (Matrix) empfunden wurde, öffnet die existenzielle Möglichkeit »Ich« sagen zu können, und damit die Ästhetik einer Existenz, sich selbst gerade nun erst wirklich fremd zu sein. Neos Gegengabe – Geschenk an Morpheus einerseits und fundamentale Infrage-

30. Friedrich Kittler, »Fiktion und Simulation«, in: Philosophien der neuen Technologie, Berlin: Merve 1989, 57-80, hier: 63f. Das ebenso bei Baudrillard: (Bau PS/ 10). 226

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stellung der Matrix andererseits – wird sein, die Entfremdung so weit zu kultivieren, dass sein Tod möglich wird, eintritt und damit auch der des symbolischen Tausch-Systems namens »Matrix«. Für den Tod des simulativen Systems des symbolischen Tausches ist die Möglichkeit bzw. Virtualität des Todes, im Beispiel der Tod Neos, notwendig. »Es ist also erforderlich, alles in die Sphäre des Symbolischen zu verlegen, deren Gesetz das der Herausforderung, der Reversion und der Überbietung ist. […] Wenn die Herrschaft daraus entspringt, daß das System das Monopol der Gabe ohne Gegengabe innehat […], dann ist die einzige Lösung die, gegen das System das Prinzip seiner Macht selbst zu kehren: die Unmöglichkeit der Antwort und der Vergeltung. Das System herausfordern durch eine Gabe, auf die es nicht antworten kann, es sei denn durch seinen eigenen Tod und Zusammenbruch. [J]eder Tod paßt unschwer ins Kalkül des Systems, […] nur nicht der Tod als Herausforderung, der symbolische Tod, denn dieser hat kein kalkulierbares Äquivalent mehr. […] Das System kann nicht anders, als im Austausch zu sterben, […] um die Herausforderung anzunehmen. Sein Tod ist in diesem Augenblick eine symbolische Antwort – an der es zugrunde geht.« (Bau STT/64ff.) Neos symbolischer Tod im Angesicht eines Agenten der Matrix ist ein Ereignis, dass dem System durch einen symbolischen Tod die Stirn bietet (Bau SS/233). Und Trinity wird Neo abermals verführen und ihm damit zeigen, dass das System des Codes nicht die Notwendigkeit hat, die die Erscheinungen des Codes wiederum vorgeben zu haben. Schließlich wird Neo den Terrorismus des Tausches, der von Morpheus als contrebande begonnen worden war, perfektionieren, indem er die Matrix anruft31 und Ereignisse zu-künftiger Veränderungen (Umschreiben des Programm-Codes) ankündigt32 – ein kurzer Anruf, mit der Wirkung und Kraft eines einzigen ironischen Lachens, das einen ganzen Diskurs außer Kraft setzen kann (Bau SS/233).33 Aber genau hier, an der Grenze zur Möglichkeit zu-künftiger Freiheit vom symbolischen Tausch, wird, laut Baudrillard – wie oben angekündigt – die Antwort auf die Frage uneindeutig, ob der symboli-

31. Gutes Beispiel für Intermedialität: Zur Ankündigung der Veränderungen ruft Neo aus einer Telefonzelle an. Das ist just der Ort, an dem der Journalist Clark Kent sich regelmäßig in Superman verwandelte, wenn es galt, die Welt zu retten. Was ist die englische Übersetzung des nietzscheanischen »Übermenschen«, der ja bekanntlich aus der Vollendung des Nihilismus hervorgeht? (Hierzu das Nietzsche-Kapitel in Teil Drei. Die richtige Antwort lautet: »Superman«. 32. Dass dann »The Matrix Reloaded« (USA 2003) die Helden Neo und Trintity der Matrix gegenüber und in ihr doch eher obszön als verführerisch agieren ließ, hat viele Zuschauer und Zuschauerinnen enttäuscht, ist aber ein anderes Thema. 33. Zur Macht dieses Todes, siehe auch: (Bau TdM/88f.) 227

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sche Tod als Modus des symbolischen Terrorismus34 den Ausstieg aus dem Nihilismus des Codes realisierbar macht. Denn die Grenzen bisheriger Gegensätze werden unklar. Baudrillard bezeichnet Großtaten, wie sie etwa der symbolische Tod oder auch eine »theoretischen Gewalt« (bspw. »Mauss gegen Mauss, Saussure gegen Saussure, Freud gegen Freud ausspielen«) (Bau STT/8) darstellen – wenn von ihrer Wirkung her auch wünschenswert – als utopisch (Bau SS/233). Denn: Dem Nihilismus aktiver Radikalität seitens des symbolischen Terrorismus opponiert das System des Codes mit einem Nihilismus radikaler Neutralisierung und Ent-Differenzierung. So wird auch der kontraproduktive Gegensinn (Terrorismus) sterblich, ohne dass der Code des symbolischen Tausches es ihm in Gänze gleichtun müsste. Ein zweites, kurzes, vorerst letztes ›Aber‹ – denn Baudrillard bleibt bis zum letzten Satz dabei, dass die Sachlage der Simulation unlösbar uneindeutig ist –, das zu einem Punkt zurückführt, der schon einmal erreicht war (Perfektion eines unlösbaren Systems): Es gibt keine Hoffnung für die Produktion eines subversiven, terroristischen, melancholischen, utopischen oder andersartig aktiven (Gegen-)Sinns. Denn der Sinn ist sterblich im Sinne der Neutralisierung seiner Realität gerade durch (imaginäre) Realisierung im System des symbolischen Tausches. Eines aber bleibt hier konstant. Die Tatsache nämlich, dass es die Darstellungen des symbolischen Tausches in simulativen Erscheinungs-›Bildern‹ gibt. Genau hier ist es, wo sich aufs Neue dieses kleine, zarte ›Aber‹ festsetzt. Und aufs Neue beginnt hier die Verführung (auch die des Denkens). Jene Verführung ist die Dekonstruktion von Dialektik. Anders, mit einem Wort Nietzsches, metaphorisch, und damit verführerisch mehrdeutig gesagt: Das Gesetz des Symbolischen, Simulation als Reales zu verkaufen und so das Sichtbare zur Transparenz des Obszönen zu machen – »Strukturgesetz des Wertes« (Bau STT/79) –, wird in der Verführung einem »Aprilwetter« ausgesetzt, das nicht mehr eindeutig einzuschätzen erlaubt, ob wir uns noch in der Nähe des Winters befinden oder ihn bereits überwunden haben.35 Die

34. Die positive Konnotation dieses (theoretischen) »Terrorismus« sollte im übrigen nicht verwechselt werden mit dem politisch-realen Terror unserer Tage. Wenngleich Baudrillard sich auch hierzu streitbar geäußert hat. Jean Baudrillard, Der Geist des Terrorismus, übers. v. Markus Sedlaczek, Michaela Ott u. Peter Engelmann, Wien: Passagen 2002. 35. Nietzsche, der in der Vorrede zu »Die Fröhliche Wissenschaft« von seinem eigenen Buch sagt: »es ist Uebermuth, Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin, so dass man beständig ebenso an die Nähe des Winters als an den Sieg über den Winter gemahnt wird, der kommt, kommen muss, vielleicht schon gekommen ist […].« (N 3/345) Die Analogie zum Denken Baudrillards, siehe: Jürg Altwegg, Französische Denker der Gegenwart, München: Beck 1987, 55. 228

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Erscheinungen der Verführung sind Scheinformen des Scheins – sie sind und bleiben ebenso ambigue. Ein kurzes Wort oder ein Blick der Verführung – und der Sinn ist verloren (Und die Sinne?).36 Die Macht der Verführung liegt auch in ihrer zeitlichen Virtualität: Sie gibt das Versprechen, dass ihre Potenzialität realisierbar sei, löst aber ihr Versprechen niemals ein. Damit wird auch die Verführung zu einem Tausch. Aber zu einem Tausch, bei dem nicht – wie in kommunikativer Echtzeit – sogleich die Gegengabe erfolgt. Hier gilt vielmehr die Verzögerung, der Aufschub ins Ungewisse. Auf diese Verführung wird zurückzukommen sein. In der »Hyperrealität« der Simulation werden Reales und Imaginäres kongruent. Ausgangspunkte des Handelns und Denkens sind nicht mehr Zwecksetzungen, die das Tun begründen und (be-)werten. Stattdessen: »Der Wert herrscht nach der ungreifbaren Ordnung der Generierung durch Modelle, nach der unbegrenzten Kette der Simulation.« (Bau STT/10) An diese (wiederholte) Bestandsaufnahme schließen sich zwei Fragen an, die miteinander verbunden sind: Wie kann es geschehen, dass das enchaînement der Simulation (Codes) unbegrenzt ist? Und: Warum tritt die »Ordnung« ihrer Unbegrenztheit selbst nicht in Erscheinung, sondern bleibt ungreifbar? Dies wäre, mit einem marxschen Wort, die Frage nach dem ideologischen Prozess. Daher sei die zweite Frage nochmals andersherum, nicht von der »Ordnung«, sondern von der Erfahrung und Wahrnehmung der Ordnung her formuliert: Warum gehen wir, wie Baudrillard behauptet, stets davon aus, dass das System der Codes (Simulation) das Reale ist? Wir haben es hier anscheinend mit einer Rhetorik des Simulakrums zu tun, die so perfekt ist, dass die Simulationen und Codes fürs Reale gehalten werden. Eine mögliche Antwort auf diese Fragen lässt sich entwickeln, indem dieser »ideologische Prozeß«, diese »Rhetorik« der Blindheit als totalitärer Fetischismus schematisiert wird. Eines ist evident: Im Zeitalter der Simulation37 kann es sich nicht mehr um einen Fetischismus handeln, wie er von Marx analysiert bzw. konstatiert wurde. Dort galt er als die falsche Ideologie, als das durch die Individuen verinnerlichte und gelebte allgemeine System des Tauschwerts, das ihre Entfremdung mit jedem Waren-Tausch zementierte. Fetischismus in diesem Sinne war die gesellschaftlich-kulturelle Praxis ideologischer Werte, in die das arbeitende Subjekt sich sowohl projizierte als auch entfremdete.38 Laut Baudrillard geht damit – vor

36. Siehe hierzu auch: Jean Baudrillard, Les Stratégies Fatales, Éditions Grasset & Fasquelle 1983, bes. das Kapitel zur Obszönität, 55ff. 37. Auf deren Ordnung der Dinge wird im nächsten Kapitel näher eingegangen. 38. Siehe dazu das erste Unter-Kapitel zu Marx im dritten Teil. 229

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allem in den Theoremen, die den marxschen Fetischismus-Begriff beerben – die Unterstellung eines »falschen Bewußtseins« einher, das geschildert wird, als sei es einer animistischen Kraft der Waren ausgesetzt, die es zu analysieren gelte, um den Menschen in die Heimat einer ideologiefreien Existenz zurückzuführen.39 »[W]enn der Fetischismus etwas anderes bezeichnet als jene Metaphysik des entfremdeten Wesens, welches ist dann sein wirklicher Prozeß?« (Bau FI/319) Ein Blick auf die Etymologie des Begriffs zeigt, dass schon die Bedeutungsherkunft des Wortes zwischen »machen«, »durch Zeichen nachahmen« und »Täuschung« (oder auch »Fälschung«) oszilliert (Bau FI/319). Es sind nicht der Gebrauchswert von Waren und ihre Konsummöglichkeit, die die fetischistische Faszination bedingen, sondern dasjenige, was sie als solche erst auszeichnet. Das ist der Umstand, dass im Fetischismus sich der Wunsch nach einem Code ausdrückt, der nichts zu tun hat mit dem Fetischismus von Waren-Objekten. Die Fetischisierung ist stets auf Signifikanten gerichtet, bringt diese hervor und ist also eine »Leidenschaft des Codes« (Bau FI/ 320).40 Erst mit dieser systemischen Verallgemeinerung kann das Ideologische des Fetischismus zum Vorschein kommen: Im Schema der Simulation (Simulakrum dritter Ordnung) ist jegliches gesellschaftliche ›Produkt‹ per se (per se!) Ergebnis einer »Arbeit der Bedeutung, d.h. der codierten Abstraktion« (Bau FI/322). Das Begehren im Fetischismus ist »ein aktiver, kollektiver Prozeß der Produktion und Reproduktion eines Codes, eines Systems« (Bau FI/322) – Ausdruck des Wunsches nach perfekter und lückenloser Symbolisierung, Dissimulation des Realen im Symbolischen mit den Mitteln des Imaginären (Simulation) und

39. Die paraphrasierten kritischen Töne Baudrillards richten sich durchaus nicht direkt gegen Marx, sondern eher gegen die populären Filiationen des Sachverhalts. Einzig die Psychoanalyse entgeht dem Animismus, »indem sie den Fetischismus mit einer perversen Struktur verknüpfte, die vielleicht in der Tiefe eines jeden Wunsches besteht.« Was Baudrillard daran imponiert, das wird noch deutlich werden, ist die Annahme einer »Struktur«. Zum Vorigen, siehe besonders: (Bau FI/315ff., 318 u. 321). Zum traditionellen psychoanalytischen Begriff des Fetischismus, siehe besonders: Sigmund Freud, »Fetischismus«, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, hg. v. Anna Freud et.al., Frankfurt/Main: Fischer 1999, 309-317. 40. Dazu Baudrillard an anderer Stelle: »Genau darauf beruht die Euphorie der Simulation, die Ursache und Wirkung, Ursprung und Ziel aufheben und durch die Verdopplung ersetzen will. Auf diese Weise schützt sich das geschlossene System zugleich vor dem Referenten und vor der Furcht vor dem Referenten – so daß es jeder Metasprache dadurch zuvorkommt, daß es mit seiner eigenen Meta-Sprache operiert, das heißt indem es sich durch seine eigene Kritik verdoppelt. In der Simulation verdoppelt und vollendet die meta-linguistische Illusion die referentielle Illusion (die pathetische Halluzination des Zeichens und die pathetische Illusion des Realen.« (Bau STT/117) 230

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perfekte Form (Bau FI/321) obszöner Transparenz.41 Fetischismus wäre, so gesehen, die obszöne Rhetorik der Erscheinungen des Symbolischen, der Modus seines Gegebenseins zur Dissimulation seines Daseins, kurz: seine Erscheinungsweise als solche. »Diese semiologische Reduktion bildet den eigentlichen ideologischen Prozeß.« (Bau FI/329)

Very High Density – Simulation als Simulakrum der Sinnlichkeit Nochmals an die Matrix zurückgefragt: Die Matrix des Codes ist ein extrem morphisches Gebilde. Sie lässt das Reale sich so perfekt an sie anschmiegen, dass sie als Symbolisches selbst zum Realen wird und dieses ins Unsichtbare dissimuliert. Simulation, ein steter Prozess – wie kam es dazu, und wieso bleibt es (vielleicht) dabei? Die Vermehrung von Zeichen in der Imitation (Simulakrum erster Ordnung) seit der Renaissance fand ihren Reiz gerade darin, dass der Differenzcharakter zum Realen ausgespielt wurde. Das setzte historisch voraus, dass der strenge Schutz gesellschaftlicher Zuordnungssysteme von Zeichen von einer (beginnenden) Vermischung und damit einhergehenden Neulektüre gesellschaftlich-ständischer Distinktionszeichen abgelöst wurde. So konnten Analogieverhältnisse ins soziale Spiel eingeführt werden, die die verloren gegangene Notwendigkeit und Zwanghaftigkeit der Bindung von Signifikat und Signifikant gerade produktiv – im Sinne der Illusionsproduktion – nutzten. Beispiele dafür sind etwa das trompe l’Œil, der Spiegel, Automaten, Stucktechniken (Bau STT/80-86) – oder auch anatomische Körper-Darstellungen.42 Die Vermehrung von Zeichen in der Produktion (Simulakrum zweiter Ordnung) seit Beginn der so genannten industriellen Revolution (Moderne) setzt die Produktionstechniken des Seriellen voraus. Denn das »industrielle Simulakrum« stellt sich nicht mehr dem Wechselspiel von Realem und Imaginärem, es produziert Objekte, deren Existenz gerade darin besteht, identisch zu sein. Mit dem Wegfall des Bezugs auf einen Referenten geht die technische, gesellschaftliche und kulturelle Durchsetzung des Äquivalenzgesetzes (Bau STT/87) in der Produktion einher.43 Die Reproduzierbarkeit der Objekte und Zeichen

41. Baudrillard führt zahlreiche Beispiele dieses gesellschaftlichen Vorgangs vor. Am ausführlichsten, im Sinne einer exemplarischen Analyse, zeigt er die Fetischisierung des »Körpers« (Bau FI/323-329). 42. Für diesen Hinweis geht der Dank an Markus Buschhaus (Graduiertenkolleg »Bild – Körper – Medium«, Karlsruhe). 43. Das wurde eingangs des vorigen Kapitels bereits ausgeführt. 231

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– d.h. die Potenzialität ihrer identischen und infiniten Reproduktion – absorbiert den, ihren, Status des Produziert-Seins. Baudrillard fasst Relation und Differenz von erster und zweiter Ordnung so zusammen: »Das Simulakrum der ersten Ordnung hebt niemals den Unterschied auf: es setzt den immer spürbaren Widerstreit des Simulakrums und des Realen voraus […]. Das Simulakrum der zweiten Ordnung aber vereinfacht das Problem, indem es die Erscheinung absorbiert oder das Reale auflöst; wie auch immer – es errichtet jedenfalls eine Realität ohne Bild, ohne Echo, ohne Spiegel, ohne Schein: so ist die Arbeit, so ist die Maschine, so ist das gesamte System der industriellen Produktion: es stellt sich dem Prinzip der theatralischen Illusion radikal entgegen. Es gibt weder Ähnlichkeit noch Unähnlichkeit zwischen Gott und dem Menschen, es gibt nur eine immanente Logik des operationalen Prinzips.« (Bau STT/85) Die Ersetzung der Wertakkumulation (Arbeit) durch seriellmaschinelle Reproduktionsvorgänge hat daher schließlich eine weitere Konsequenz: Die sinnliche Wahrnehmung der reproduzierbar erzeugten Objekte wird nicht mehr anhand der ihnen vorhergehenden Produkte (Produktion) oder gar mit einem Original (Imitation) abgeglichen, sondern bezüglich der Differenz, die verschiedene Formen anlässlich eines Modells bzw. Referenz-Signifikanten aufweisen, aus dem sie hervorgegangen sind. Damit ist das Simulakrum dritter Ordnung (Simulation) eröffnet, denn nicht mehr die Äquivalenz ist der fortan entscheidende Modus, sondern die digitale Codierung und ihre Modulationen (Bau STT/87ff. u. 112f.)44 – das meint hier, noch unvoreingenommen durch die Besetzung des Begriffs in der Computertechnologie: die Setzung distinkter Differenzen. Gelöst vom determinierenden Äquivalenzgesetz (von der Relation Signifikat/Signifikant) folgen die Objekte/Zeichen nun dem Wert einer allgemeinen Struktur freier – d.h. indeterminierter – Kombinatorik: der Simulation. Das Indeterminative der Simulation besteht darin, dass die Zeichen sich gegeneinander tauschen können, ohne sich gegen ein Reales einzutauschen, ja, dass sie sich nicht mehr gegen Reales tauschen, ist sogar Bedingung der Perfektion ihrer Simulativität (Bau STT/18). Das System der freien Tauschbarkeit, 0 gegen 1 et vice versa et cetera,45 ist der Code der Simulation, die Matrix, aus der die sich ereignenden Erscheinungen des Realen generiert werden. Die Definition des Realen lautet demgemäß: »das, wovon man eine äquivalente Repro-

44. Siehe hierzu auch die bündige Darstellung in: Mike Gane, Baudrillard’s Bestiary. Baudrillard and Culture, London u. New York: Routledge 1991, bes.: 94-103. Gane hebt auch die Effekte der Simulation auf Politik und Ästhetik hervor, wie Baudrillard sie pointiert. 45. Oder auch die Doublure des World Trade Center (Bau ESM/108f.). 232

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duktion herstellen kann.« (Bau STT/116) Dieses Reale (Simulation) ist also nicht mehr die »äquivalente Reproduktion« selbst, sondern das, wovon es möglich ist, eine solche herzustellen! Das Realistische daran findet sich ein durch die Kombinatorik distinkt modellierter Terme bzw. Formen, denn hier gilt die Möglichkeit – und zur Aufrechterhaltung der Simulation: die Notwendigkeit – der minimalen Abweichung. Die Produktion wahrnehmbarer Restdifferenz ist die »eigentlich generative Formel« mit der das Realistische der Simulation die »Fiktion von Sinn« aufrechterhält (Bau STT/115). Aber das ist nicht das ›Reale‹, sondern das ›Realistische‹, und damit eben ›wie real‹. Wie paradox: Gerade im Ereignis des Entzugs von Sinn erfahren wir das (imaginäre) Reale. Um beim Gedanken des Entzugs zu bleiben: Noch Virilio hatte zum Motto seiner »Ästhetik des Verschwindens« ein Wort Cezannes gemacht: »Man muß sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.« Die Möglichkeit des Verschwindens – gerade, wenn es sich um »Alles« handelt – setzt voraus, dass es etwas gegeben hat, das nun einem Entzug unterworfen ist. Im Kapitel zur Echtzeit wurde deutlich, dass dieses Modell auf problematische Weise mit einer nihilistischen Verlustrechnung einer, der (präponierten) Realität verbunden ist. Baudrillards Konzept funktioniert nun geradezu konträr dazu: Wenn es Implosions-Ereignisse von Sinn nicht gäbe, würde das, was hier und heute Realität heißt, in einen a-sinnlichen Zustand zusammendampfen, in ein konturloses Wahrnehmungsfeld, in dem nicht mal die Möglichkeit der Einschätzung gegeben ist, dass es sich um Wahrnehmungsneutralität handelt – möglicherweise wäre das der weiße, konturlose Raum (Raum?), wie er in »The Matrix« als »Konstrukt« bezeichnet wird. Dieses »Konstrukt« ist absolut wahrnehmungs- und sinn-neutral, so dass es als »Ladeprogramm« alle (gewünschten, begehrten) Realitäten zur Darstellung bringen kann. Das ist auch der Ausgangspunkt Baudrillards, der sich mit Bezug auf den besagten Film veranschaulichen lässt: Zum kulturellen Wissen der Moderne (Simulakren zweiter und dritter Ordnung) gehört der Zweifel, ob das aktuell ›geladene‹, wahrnehmungs- und sinnrelevante Modell der Welt nicht auch anders oder gegebenenfalls (sic!) auch überhaupt nicht sein könnte. Diese klassische philosophische Frage (Warum gibt es etwas, und nicht vielmehr nichts?) erhält hier ihre Zuspitzung darin, dass gerade zwischen den Polen von z.B. »Etwas« und »Nichts« nicht mehr mit Sicherheit unterschieden werden kann und gleichwohl immer ›etwas‹ da ist – es ließe sich auch sagen: Immer gibt es ein Da. Und Baudrillard fokussiert just diese dekonstruktive Unmöglichkeit, eine definite Unterscheidung zweier Pole noch aufrechterhalten zu können. Dieses Zweifeln heißt: Implosion des Sinns. Diese Implosionen sind gerade die Produktivkraft der Simulation (Bau PS/30f. u. 49ff.). Denn in den Differenz-Modulationen von Sinn und 233

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Nicht-Sinn erweist sich die realproduktive Kraft der Simulation des Realen, kurz: der Hyperrealität, wie Baudrillard sie auch anhand der Kunst erläutert. Demnach wird das Irreale nicht mehr mit dem Traum, der Kunst oder einem Phantasma ›identifiziert‹, sondern liegt in der Vorstellung einer »halluzinierenden Ähnlichkeit des Realen« – ›unseres‹ Realen – »mit sich selbst« (Bau STT/114). Baudrillard dazu: »Analog zum inneren Distanzierungseffekt im Traum – bei dem man sich sagt, daß man träumt, was aber nur eine Zensur und Fortsetzung des Traums ist – bildet der Hyperrealismus einen integrierenden Bestandteil der codierten Realität, die er perpetuiert und an der er nichts ändert. Tatsächlich muß man den Hyperrealismus gerade umgekehrt interpretieren: die Realität selbst ist heute hyperrealistisch.« (Bau STT/ 116)46 Und die Simulation ist, wie perfide, ihr Modus und Motor. Kon-Sequenz: Es gibt die Kontinuität und Reproduktibilität der Bedeutung der Hyperrealität entsprechend ihrer sinnlichen, anscheinenden Bedeutung (»apparences«). Und das gilt abseits einer möglichen, anderen Welt, die real eben nichts (nichts!) bedeutete. Das liest sich wie eine Tautologie oder ein positivistischer Glaubenssatz – oder wie der Konstruktivismus respektive Solipsismus von Pippi Langstrumpf: »Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt« –, meint aber etwas anderes: Existenz und (Fort-)Bestehen sinnlicher Prozesse der Raum- und Zeiterfahrung, ihr Da-Sein, verbleiben in einer dauerhaften, radikalen Simulation. Denn Simulation überbordet stets Fragen nach dem Sinn von Wahrgenommenem oder Gedachtem, da jene die-

46. Was den Traum betrifft, deutet Baudrillard hier die so genannte »Rücksicht auf Darstellbarkeit« an. Zum Traum in diesem Sinne, siehe die umfassende Studie: Rudolf Heinz, Somnium Novum. Zur Kritik der psychoanalytischen Traumtheorie, 2 Bde., Wien: Passagen 1994. An anderer Stelle, in direkter Auseinandersetzung mit Baudrillard, schreibt Heinz zur Fortsetzung des Träumens und dem Hyperrealismus des Schreibens: »Man hängt so schön fest: nicht vorwärts, nicht rückwärts gehts mit Zahl und Zeichen, so als könne man weder wegschlafen noch recht erwachen noch dazwischen endlich mehr als bloß sitzen. Und beide geben just nicht her, was sie versprechen: mein Sein in diesem größten Denken mit festem Grund, nicht nur in meinem Innen, nein, Außen nicht minder, ja insonderheit. Was anderes bleibt unsereinem übrig, als diesen üblen Übergang an Unlösbarkeiten, diese erinnerungsträchtige Traumatik des unabdeckbaren Abgrunds notierend beruhigen zu müssen? Man schreibt die Misere auf, legt sie damit ab; auch dehnt sie sich dann, dünnt sich aus? Aber gewiß! Aber nicht doch – philosophische Texte […] sind zugleich Katasteramtsinformationen, auch Grundbucheintragungen oder dergleichen. Der Zauber geht wieder von vorne los. Gib mir bitte doch ein starkes Schlafmittel, das stärkste, bitte!« Rudolf Heinz, »Hot Memories«, in: Baudrillard. Simulation und Verführung, hg. v. Ralf Bohn u. Dieter Fuder, München: Fink 1994, 203-215, hier: 214. 234

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SIMULATION (BAUDRILLARD)

ses erst ermöglicht.47 Daraus folgt auch, dass es – z.B. im Modus der Ideologiekritik – eine unzureichende Problemvorgabe ist, hinter den statutierten Simulakra noch eine Wahrheit zu vermuten, die bloß aufzudecken sei. Die »Simulation ist gerade jener unwiderstehliche Ablauf, bei dem die Dinge so miteinander verkettet werden, als ob sie einen Sinn hätten« (Bau IE/30). Und das gilt eben auch für den Modus der Beschreibung der Sinn-Simulationen. Diese werden als Reales produziert gerade auch im Vorgang ihrer Analyse als fortgesetzte Verkettung von Aussagen (Foucault) oder Ereignissen (Lyotard). Die Produktion realitätssimulierender, d.h. realistischer Modelle erschöpft sich regelmäßig selber, indem sie den Tauschvorgang von Sinn und Nicht-Sinn gerade erst mit der ihr eigenen Performanz zur Wahrnehmung bringt. Anders gesagt: Die Thesen ›Es könnte auch alles ganz anders sein!‹ und ›Dieses Modell ist wahr!‹ gelten gleichzeitig. So gesehen ist es also gerade die Beweglichkeit und Veränderbarkeit des Gesamtmodells »Welt«, die seine Simulationen so real erscheinen lassen. Baudrillard veranschaulicht das an der Relation von Territorium und Karte: »Heutzutage funktioniert die Abstraktion nicht mehr nach dem Muster der Karte, des Duplikats, des Spiegels und des Begriffs. Auch bezieht sich die Simulation nicht mehr auf ein Territorium, ein referentielles Wesen oder auf eine Substanz. Vielmehr bedient sie sich verschiedener Modelle zur Generierung eines Realen ohne Ursprung oder Realität, d.h. eines Hyperrealen. Das Territorium ist der Karte nicht mehr vorgelagert, auch überlebt sie es nicht mehr. Von nun an ist es umgekehrt: (Präzession der Simulakra:) Die Karte ist dem Territorium vorgelagert, ja sie bringt es hervor.« (Bau PS/8f.).48

47. Der Gang dieses Gedankens lässt sich mit wissenschaftstheoretischem Handwerkszeug, z.B. Modellen der Argumentationstheorie, als »immanente[r] Selbstwiderspruch des Simulationstheorems« und spezifischer als »metalogische Reflexion des immanenten Selbstwiderspruchs« darstellen. So brilliant durchgeführt bei: Jochen Venus, Referenzlose Simulation? Argumentationsstrukturen postmoderner Medientheorie am Beispiel von Jean Baudrillard, Würzburg: Königshausen und Neumann 1997, hier: 112f. Der Vervielfältigung realer Modelle der Wirklichkeit scheinen tatsächlich keine Grenzen gesetzt zu sein. 48. Es ist auch möglich, diesen Tausch-Vorgang anders zu deuten. Zum Beispiel als Wechsel von mimetischen zu simulativen Konzepten sinnlicher Realitäten. Siehe dazu: Götz Großklaus, Medien-Zeit Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, bes.: 123ff., 132, 140ff. Oder auch als Ausdruck des »fundamentale[n] Strukturkonflikt[s] jeglicher Medialität […]: die Unüberspringbarkeit des medialen Konstruktcharakters, bzw. deren Leugnung.« So: Kay Kirchmann, Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theorie der Interdependenzen von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeitlichen Zivilisationsprozeß, Opladen: Leske+Budrich 1998, bes.: 452-455, hier: 453. 235

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In Baudrillards Sicht sind etwa naturwissenschaftliche Forschungen sowohl in mikro- als auch in makrokosmischer Perspektive (Teilchenphysik, Gentechnik, Mars-Sonde, Big-Bang-Theorie etc.) nur die offensichtlichsten Belege dieser simulativen Realitäts-Performanz. A fortiori muss, laut Baudrillard, davon ausgegangen werden, dass die Performativität der Simulation heute so funktioniert, dass sie ihren Status als Reales sichert, indem sie Sinn- und Wahrnehmungs-Krisen ihres Status inszeniert (Bau SS/35ff.). Das Sinnliche der Simulation als Reales zu erfahren und diese Erfahrung als Form des Realen zu bewerten – dafür gilt heute das Paradox: Die Sicherheit der Erfahrung stabilisiert sich im Entzug des Erfahrungs-Sinns (s.o.) und in der Verunsicherung der Realitäts-Erfahrung. Metaphorisch könnte das so formuliert werden: Was das magrittsche Bild von der abgebildeten Pfeife sagt, sagt auch die Simulation von der Welt: Ceci n’est pas une simulation. Das Krisenhafte und Katastrophische der (technischen) Kultur ist dabei nur ein Moment jener Performanz. Phänomene des scheinbaren Nicht-Gelingens sind geradezu die Bestätigung ihrer Existenz. Börsen-Krach und Börsen-Barometer, Rekonstruktion eines Flugzeugabsturzes, Versprecher der Fernsehansager, Big-Brother-Reality-Soap, Disneyland, Filmriss im Kino, Anti-Psychiatrie und Anti-Pädagogik, Watergate oder die so genannte Lewinsky-Affäre, Kriegsberichterstattung und Kriegsverbrechertribunal, die Embryonen-Schutz-Debatte, Computer- und biologische Viren – das sind Beispiele für die zuvor genannte Strategie der Performanz (Fetischismus), die Simulakrenhaftigkeit der Welt als Reales erfahren zu lassen. Baudrillard: »Es geht nicht mehr um die falsche Repräsentation der Realität (Ideologie), sondern darum, zu kaschieren, daß das Reale nicht mehr das Reale ist, um auf diese Weise das Realitätsprinzip zu retten. […] Es handelt sich stets darum, das Reale durch das Imaginäre zu beweisen, die Wahrheit durch den Skandal, das Gesetz durch die Überschreitung, die Arbeit durch den Streik, das System durch die Krise, und das Kapital durch die Revolution« (Bau PS/25 u. 34).49 Die Simulation als Simulakrum dritter Ordnung ist also ein Dilemma, eine Aporie der Sinnlichkeit. Simulation unterschiebt der Sinnlichkeit eine Performanz, die behauptet, sie sei alles, was der Fall ist – und das dauerhaft, kontinuierlich, stets. Was aber der Fall ist, ist dem Wahrnehmungszweifel ausgesetzt, ob das, was Da ist, denn auch alles sei, und zudem: real?

49. Es liegt in der Natur der These, dass die Reihe der Beispiele quasi endlos erweiterbar wäre. Einige der hier genannten sind verschiedenen Texten Baudrillards entnommen. Neben den im Text bereits genannten, siehe hierzu vor allem: Jean Baudrillard, Cool memories. 1980-1985, Paris: Galilée 1987. Ders., Cool memories II. 1987-1990, Paris: Galilée 1990. Ders., Fragments. Cool memories III. 1991-1995, Paris: Galilée 1995. Ders., Amérique, Paris: Grasset & Fasquelle 1986. 236

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Ist das Faktum des Zweifels – descartscher Gedanke im Prinzip – womöglich Ausdruck einer ironischen Qualität der Simulation: Kommentar darauf, den eigenen Horizont – d.h. ihre perfekte Realisierung – noch nicht erreicht zu haben? Die Ironie in diesem Sinne wäre das momenthafte Aufreißen des Schleiers der Simulation und – nein, nicht das Zum-Vorschein-Kommen einer dahinter vormals nur kaschierten wahren Realität – das Vernähen des Gewebes mit Sinnes- und Denkstrukturen, die die Perfektion der Textur stören, anders gesagt: die Laufmaschen verursachen und die Obszönität des sonst perfekten Anblicks sehen lassen. Beide Tendenzen der Simulation – Ironie und Perfektion – sind, laut Baudrillard, durchaus sinnlich festzustellen. In der Beschäftigung mit künstlerischen Phänomenen bzw. Ausdrucksweisen spürt Baudrillard immer mal wieder verführerische, ästhetische Ausdrucksformen dieser Ironie der Simulation auf und nennt sie, ebenso verführerisch, »Illusion«.50 Wo die Gefahr der Simulation ist, da wächst also das Rettende der Illusion auch? Nicht ganz, denn: Die realitätskonstitutive Macht der Simulakra bleibt Gefahr – sie bleibt es, und das ist das Gefährliche. Denn sie hat ihre Technologien hoher Auflösung. »Am Horizont der Simulation ist nicht bloß die wirkliche Welt verschwunden, sondern selbst die Frage nach ihrer Existenz kann nicht einmal mehr gestellt werden.«51 Wo also (in der Kunst) das Rettende fataler Strategien »Illusion« heißt, lautet der Name für die Gefahr des »perfekten Verbrechens« am Horizont der Simulation: »Virtual Reality«. Die radikalste Auflösung der Welt selbst noch als simulatives Double ortet Baudrillard in der Virtual Reality. Das wäre dann – mit Florian Rötzer gedacht – ein so grundsätzlicher Einstieg in ein Bild, dass nicht nur die Rahmung des Bildes aus den Augen gerät, sondern gerade das Wissen, dass da – besser: hier – ein Bild ist.52 Baudrillard spitzt das zu: »Mit der Virtuellen Realität und all ihren Folgen sind wir in die äußersten Grenzbereiche der Technik vorgestoßen, in die Technik als Grenzphänomen. Jenseits des Endes gibt es keine Reversibilität

50. Siehe hierzu beispielsweise: Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, München: Matthes & Seitz 1996; (Bau TdM/75ff.); Jean Baudrillard, »Illusion, Desillusion, Ästhetik«, übers. v. Bernhard Dieckmann, in: Illusion und Simulation. Begegnung mit der Realität, hg. v. Stefan Iglhaut, Florian Rötzer und Elisabeth Schweeger, Bonn: Cantz 1995, 90-101. Ders., Die Illusion und die Virtualität (Vortrag), übers. v. Helmut P. Einfalt, Bern: Benteli 1994. Ders., »Towards the vanishing point of art«, in: Kunstforum International, Bd. 100, April/Mai 1989, 386-391. 51. Jean Baudrillard, »Illusion, Desillusion, Ästhetik«, a.a.O., 1995, 94f. 52. Florian Rötzer, »Bilder in Bildern – oder: Vom Bild zur virtuellen Welt«, in: Platons Höhle. Das Museum und die elektronischen Medien, hg. v. Michael Fehr, Clemens Krümmel u. Markus Müller, Köln: Wienand 1995, 57-75, bes.: 63f., 70f. 237

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mehr, keine Spuren, nicht einmal Heimweh nach der vorherigen Welt. Diese Hypothese ist weitaus ernster als die der technischen Entfremdung oder der Heideggerschen Unvernunft. Es ist die Hypothese eines Projekts irreversiblen Verschwindens« (Bau PV/59f.).53 Baudrillard geht es hier, anlässlich der technischen Möglichkeiten Virtueller Realität, offensichtlich um die Reflexion eine allgemeine Ordnung oder Ökonomie der Virtualität.54 – hier würde selbst also dem ImaginärRealen, wie es als Simulation erscheint, ein Ende gesetzt. Denn durch die hoch auflösende Synästhesie der VR wird gerade dasjenige Moment der Welt verschwinden, das ihr Erscheinen in Codes (»apparences«), ihre Simulation, eigentlich Reversibilität (Sinn/Nicht-Sinn-TauschBewegung) sein ließ: nämlich dass sie generierte Illusion ist.55 Jene Virtualität wäre demgegenüber gerade die Irreversibilität der Simulation. Dieser totalen Realität wäre der Mensch angesichts ihrer Perfektion schutzlos ausgeliefert – »Information als Katastrophe« (Bau IE/ 91). Wäre! Denn – und wiederum setzt Baudrillard einen Gedanken gegen einen anderen, eben zuvor erst von ihm selbst initiierten56 – mit der fatalen Strategie eines Theoretisierens, das sich gegen das Objekt seiner Darstellung wehrt, beendet Baudrillard seine Reflexionen zur Gefahr der VR als »crime parfait« folgendermaßen: Zum »Glück ist all das im wahrsten Sinne des Wortes unmöglich. Nicht realisierbar […]. Es gibt neben der Welt keinen Platz für ihr Double.« (Bau PV/60f.)57 Im folgenden Exkurs soll, in Abstand zu Baudrillard, über Möglichkeiten einer begrifflichen Rückvergewisserung nachgedacht werden, die am Status des »Virtuellen« andere Momente als die von Baudrillard pointierten zu sehen gibt. Nicht zuletzt aus folgendem Grund, auf den Sigrid Weigel hinweist und der sich auch bei der baudrillardschen Charakterisierung des Virtuellen andeutet: »In der Engführung von Simulation und virtueller Anwesenheit verschwindet in der Theorie des Virtuellen das Denken der Abwesenheit – zugleich mit der Berücksichtigung von Phänomenen wie Nachträglichkeit, Textualität und Entstellung.«58

53. Kurz gefasst zum Zusammenhang von Reversibilität und Simulation, siehe auch: (Bau TdM/71f.) 54. Dazu etwa: Jean Baudrillard, Die Illusion und die Virtualität, a.a.O., 1994. Und auch: (Bau IE/91). 55. Hierzu auch: (Bau IE/99f.). 56. Dies ist wieder der Theorie-Terrorismus, der uns oben bereits begegnete und den Baudrillard auch gegen eigene Thesen wendet. Siehe dazu auch seine Stellungnahme in: (Bau TdM/90f.). 57. Auf die Problematik dieses »échange impossible« wird im übernächsten Kapitel zurückzukommen sein. 58. Sigrid Weigel, »Spuren der Abwesenheit. Zum Liebesdiskurs an der 238

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Exkurs: Möglicherweise virtuell »Wir gehen rein!«, sagt Morpheus zu Trinity, und nimmt Neo mit. Wenn in dem Science-Fiction-Film »The Matrix« einer der Hauptdarsteller sich mit anderen zusammen per zerebraler Telefonverschaltung in das so genannte »Konstrukt« einloggt, dann wissen wir, eine fiktionale filmische Erzählung vor uns zu haben, in dessen Fabel wiederum es das Faktum einer perfekten Realitäts-Simulation, die »Matrix« eben, gibt. Wenn in der Sitcom »Ally McBeal« die junge Anwältin regelmäßig von Visionen heimgesucht wird und in einer Szene mit einem Baby tanzt, dann wissen wir ebenfalls, als geübte Fernsehzuschauer, dass wir es mit einer fiktiven Realität, nämlich dem mehr oder weniger unkonventionellen Leben einer Anwältin, zu tun haben und in der genannten Szene gleichzeitig mit einer Simulation, die uns ihre technische Produktionsweise nicht verbirgt und uns – ein alter, aber treffender Ausdruck – das »Gesicht« der Protagonistin illustriert. Wenn der »Stadtneurotiker« (Woody Allen) sich in der Warteschlange vor der Kinokasse (Wo sonst?!) in ein Streitgespräch über die Theorie Marshall McLuhans verstrickt und unser aller Wissenschaftler Traum (oder Albtraum?) real werden lässt, nämlich die Autor-Referenz leibhaftig bei der Hand zu haben, um die diskutierten Thesen augenblicklich bestätigen bzw. widerlegen zu lassen – ja, auch dann haben wir die Realisierung einer Fiktion bzw. fiktiven Handlung vor uns, das Artefakt nämlich: »ein Film des Regisseurs Woody Allen«, der uns eine reale, besser: realistische Situation vor Augen führt, zur Darstellung bringt, nämlich die Szene vor der Kinokasse, in die – trotz ihrer filmischen Fiktionalität – Reales, Wirkliches einbricht: Marshall McLuhan, hier Person und persona in einem. Im Abspann des Films wird es heißen: »Marshall McLuhan – himself«. Sicher, man hätte für diese und andere mögliche Beispiele auch solche aus der Literatur finden können, bspw. Don Quichottes Vorliebe für Ritterromane. Oder aus dem Theater: Der Dialog in »Hamlet«, nachdem der »Geist« das erste Mal abgegangen ist: »Marcellus: Fort ist’s und will nicht reden. / Bernardo: Wie nun, Horatio! Ihr zittert und seht bleich: Ist dies nicht etwas mehr als Einbildung? Was haltet Ihr davon? / Horatio: Bei meinem Gott, ich dürfte dies nicht glauben, Hätt’ ich die sichre, fühlbare Gewähr Der eignen Augen nicht.«59 In der Mu-

Schwelle zwischen ›postalischer Epoche‹ und post-postalischen Medien«, in: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, hg. v. Sigrid Schade u. Georg Christoph Tholen, München: Fink 1999, 80-93, hier: 85. 59. William Shakespeare, Hamlet, Prinz von Dänemark, übers. v. A.W. Schlegel, 239

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sik gibt es z.B. Parsifal und seinen »liebe[n] Schwan« oder auch Eric Satis Ironisierungen tradierter Akkorde bzw. Phrasen durch eine nur partielle Übernahme. Aus der Philosophie wäre exemplarisch Kants Schrift über die »Träume eines Geistersehers«60 zu nennen. Diese und viele andere Beispiele ließen sich zur Illustration des schwierigen Verhältnisses von Realität und Fiktion anführen. Doch die drei EingangsBeispiele haben zudem die spezifische Gemeinsamkeit, laufende, filmische Bilder zu sein – die zudem unentwegt reproduzierbar und wiederholbar wären. Die obige textuelle, referierende Beschreibung wird dadurch einer gewissen medialen Verdopplung, einer Redundanz ausgesetzt, die gleichwohl doch nicht oder kaum zur Kongruenz mit dem Notierten zu bringen wäre. So wird schon fürs Erste die Frage nach dem Status der beschriebenen Szenen virulent: Bleiben sie virtuell, wenn ich sie nur beschreibe und werden real in der filmischen Projektion? Ändert sich dadurch ihr Modus der Fiktionalität? Schiebt sich – wie bei den berühmten russischen Puppen – mit der beschreibenden Reflexion über bspw. die Simulation der »Matrix«, die realistisch dargestellt ist, ihrerseits innerhalb einer filmischen Fiktion inszeniert ist und zudem irgendwann in der (fiktiven) historischen Zukunft spielt, wobei das Ganze vom Zuschauer im hoch artifiziellen Setting eines Kinos rezipiert wird und nun schließlich wiederum hier im Text schriftlichen Einlass gefunden hat – schiebt sich hier also angesichts dieses so zahlreich auftretenden, mediengestützten Symbolischen womöglich eine Wirklichkeit vor die jeweils vorhergehende, die ihrerseits dadurch in einen Prozess der Virtualisierung gerät? Ist das überhaupt möglich: Etwas zu virtualisieren, so wie es möglich ist, etwas zu realisieren? Mea culpa: Die bisherigen Beispiele und Fragen zum Verhältnis von Realität/Wirklichkeit und Fiktionalität haben auf eine falsche Fährte geführt. Zwar stecken sie den Kontext des Sprechens über »Virtualität« ab – zu dem das Verhältnis von Fiktion und Realität ebenso gehört wie Techniken der so genannten »Virtual Reality« etc. –, doch wird man damit kaum etwas von der problematischen Modalität der »Virtualität« selbst darstellen können. Frei nach Wittgenstein lässt sich sagen, dass der Gebrauch eines Wortes seine Bedeutung ist. Berücksichtigt man dies, so ließe sich kaum mehr Sinnvolles einwenden gegen die vielen Texte oder Sprachspiele, in denen das Wort »virtuell« in einem Kontext der Entsprechung zu

Bd. I, in: Shakespeares Werke, hg. v. Schlegel/Tieck, Hamburg: Standard-Verlag o.J., 7-114, hier: 11. 60. Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, Hamburg: Meiner 1975. 240

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»nicht-wirklich« oder »nicht-real«, »Cyberspace«, »mediale Fiktion«, »Simulation«, immersiver »Virtual Reality« etc. auftritt. Alles, was irgendwie irgendwo auf, besser: hinter dem Bildschirm erscheint, jenseits unseres Ortes vor der Mattscheibe (Interface), wäre dann also »virtuell«? »Virtuelle Realität« scheint – mit Stefan Münker gesprochen – ein »allgemeine[r] Titel für die unterschiedlichsten Formen computergenerierter Nachbildungen der Wirklichkeit« zu sein.61 Eine heuristische Differenzierung von Karlheinz Steinmüller lautet demgemäß: »1. Als Virtuelle Realitäten im engeren Sinne (mit dem Großbuchstaben V, abgekürzt VR) sollen im Computer erzeugte Modellwelten bezeichnet werden, die in Analogie zu der physischen Welt visuell dreidimensional repräsentiert werden und durch geeignete Hilfsmittel ›begehbar‹ sind. 2. Als virtuelle Realitäten im weiteren Sinne (mit dem Kleinbuchstaben v) sollen die Welten der im Computer bzw. in Datennetzen gespeicherten, manipulierbaren und abrufbaren Daten bezeichnet werden, also die zwischen die unterschiedlichen Nutzer, Netzteilnehmer geschaltete ›Interzone‹ der Zeichen und dessen, worauf sie verweisen.«62 Im Folgenden allerdings wird sich hinsichtlich dieser Begriffsbestimmungen eine vorläufige Ignoranz durchsetzen, die von den Fragen und der Debatte um die technischen Möglichkeiten und Gefahren von Virtual Reality und deren Status in Bezug zur lebensweltlichen Wirklichkeit, Realität oder Fiktion absieht – und von dort her nur eine Irritation als Ausgangspunkt ansetzt. Nämlich: Diejenigen Phänomene, die in der Regel63 »virtuell« genannt werden, sind gerade immer im Augenblick – und für diesen –, also temporal ausgedrückt: aktuell generiert, und somit, im Sinne der Zeitlichkeits-Struktur des Wortes, gerade nicht »virtuell«: nämlich abwesend, nicht realisiert, nur mögliche Wirklichkeit usw. Auch Elena Esposito hatte in ihrem Text »Fiktion und Virtuali-

61. Stefan Münker, »Was heißt eigentlich: ›Virtuelle Realität‹?«, in: Mythos Internet, hg. v. Stefan Münker und Andreas Roesler, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, 108-127, hier: 108; Hervorhebung, T.S. 62. Karlheinz Steinmüller, »Vorwort«, in: Wirklichkeitsmaschinen. Cyberspace und die Folgen, hg. v. Karlheinz Steinmüller, Weinheim u. Basel: Beltz 1993, 7-10, hier: 9. Für eine andere Aufschlüsselung, siehe: Achim Bühl, a.a.O., 2000, bes.: 89. 63. Ohne weiter darauf einzugehen, soll hier mit »in der Regel« angedeutet sein, dass in der Debatte um Virtualität oft der Einsatz des Sprechens ungeklärt bleibt, d.h., ob nun bspw. von Virtual Reality als (technischem) pars pro toto ausgegangen wird, ob schlicht die Gesamtheit der Phänomene hinter der Mattscheibe des Computers gemeint sind, oder ob mglw. eine Verwechslung mit Termen wie »Fiktionalität« oder auch »Simulation« vorliegt. Man beachte hierzu auch den instruktiven Aufsatz: Elena Esposito, »Fiktion und Virtualität«, in: Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, hg. v. Sybille Krämer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, 269-296. 241

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tät« dem Begriff des Virtuellen »einen äußerst interessanten modalen Status« zugesprochen, der im Kontingenten das »Feld« der »nicht-aktualisierten Möglichkeiten« bildet. Esposito schreibt: »Wenn man vom Möglichen das Notwendige ›abzieht‹, bleibt immer noch ein sehr viel umfassenderer Bereich übrig als das, was unsere reale Welt tatsächlich ausmacht; es bleibt also der Bereich des Kontingenten, der weitere Unterscheidungen einschließt, insbesondere diejenige zwischen den aktualisierten und den nicht-aktualisierten Möglichkeiten. Genau diese letzteren bilden das Feld des Virtuellen. […] Zweck [der Virtualität] ist, ein ›concret de pensée‹ als eine alternative Realitätsdimension zu schaffen: keine falschen realen Objekte, sondern wahre virtuelle Objekte, für welche die Frage der realen Realität ganz und gar gleichgültig ist.«64 Angesichts dessen bleibt philosophiegeschichtlich die Modalitäten-Differenzierung in Erinnerung zu rufen, wie Kant sie in der »Kritik der reinen Vernunft« vornimmt: Neben das assertorische Urteil, das zu einer bestimmten Zeit die Wirklichkeit bezeichnet, tritt zum einen das apodiktische Urteil, das zu jeder Zeit Notwendigkeit besitzt, und zum anderen – hier setzt Esposito an – das problematische Urteil, das irgendwann zutrifft und damit die Kategorie der Möglichkeit repräsentiert.65 Das Virtuelle, ein modaler Status, der Mögliches, Potenzielles, aber aktuell nicht Realisiertes bezeichnet. Ließe sich also – wieder mit Wittgenstein – denken, dass vom Virtuellen nicht gesprochen werden kann, weil es jenseits der Grenzen meiner Welt liegt? Und ist Virtuelles möglicherweise geradezu gar nicht – ohne sogleich Nichts zu sein? Virtuelles ist schlicht nicht der Fall, und, wie paradox, der status quo der Virtualität wäre der status nascendi eines Ereignisses status quo ante. Diese erste begriffliche Bestandsaufnahme in Erinnerung haltend, sollen im Folgenden, angesichts euphorischer oder kassandrischer Haltungen das Thema betreffend, einige wenige, kurze und exemplarische Angebote einer begrifflichen Rückvergewisserung gemacht und Bedeutungsmöglichkeiten in Erinnerung gerufen werden. Vilém Flusser schildert den Sachverhalt des Virtuellen als »das, was aus dem Möglichen auftaucht und beinahe ins Wirkliche umschlägt.«66 Er fordert, dass man sich mit dem Begriff der »Wirklichkeit« befassen müsse. Man muss wohl dieser Aufforderung nicht folgen

64. Elena Esposito, a.a.O., 1998, 269 u. 270. 65. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Meiner 1993, B100 u. B265ff. 66. Vilém Flusser, »Vom Virtuellen«, in: Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk, hg. v. Florian Rötzer und Peter Weibel, München: Klaus Boer 1993, 65-71, hier: 66. 242

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– gleichwohl ist sie einleuchtend und Argumentationen von bspw. Achim Bühl, Manfred Faßler, Sybille Krämer, Gianni Vattimo und Wolfgang Welsch sollte in dieser Hinsicht mit Aufmerksamkeit gefolgt werden.67 Variierend dazu ließe sich allerdings auch fragen, wie diese seltsame modale Konstellation zu verstehen sein kann, die nicht Flusser-spezifisch ist, dass etwas »aus dem Möglichen auftaucht« und gleichwohl im Status des »Beinahe«, nämlich: beinahe Wirklichen, verharrt, verbleibt, wirkt, spurt, sich einigelt – was auch immer, jedenfalls sich nicht (noch nicht?) im Wirklichen realisiert bzw., energetisch ausgedrückt: seine Potenzialität verausgabt. Mit dieser Konstellation zwischen Potenz und Präsenz liegt ein Zustand (Zustand?) vor, so ließe sich vorläufig festhalten, wie er im lessingschen »fruchtbaren Augenblick« des Ereignisses, des Sich-Ereignens harrt. Vorhanden also ist das Virtuelle, wie jede gängige lexikalische Bestimmung des Wortes sagt, aber nur der Möglichkeit nach – wie kann es dann »vorhanden« sein? Nun, doch wohl gerade so, wie es eben benannt wurde: der Möglichkeit, Potenzialität, Anlage nach. Scheint also die Fokussierung aufs »Mögliche« Klärung zu versprechen? Zwei philosophische Ansätze, die »virtuell« sogar im Titel tragen, stammen aus dem 19. und vom Anfang des 20. Jahrhunderts und entwickeln den Begriff von einer vitalistischen Auffassung des Potenziellen her. Da ist zum einen der »Virtualismus« Friedrich Bouterwerks (1765-1828) aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zum anderen die so genannte »Virtuellitätshypothese« Ernst Bechers von 1911. Bouterwerk schreibt: »Das individuelle Leben im ganzen Umfange seiner Funktionen ist eine Virtualität, das heißt, eine Einheit von subjektiven und objektiven Kräften.«68 Das Funktionieren dieses Organismus ist durch Ausgleichung energetischer Einflüsse externer (Natur) oder interner (Empfindungen, Gedanken etc.) bedingt. In ganz ähnlicher Weise baut Becher seine Hypothese auf, indem er den Organismus als aus einer ersten, organischen, und zweiten, mentalen Ordnung aufgebaut sieht und den Gesamtkomplex beider, der ein Prozess stetiger vi-

67. Siehe also bspw.: Achim Bühl, a.a.O., 2000. Alle möglichen Welten. Virtual Reality. Wahrnehmung. Ethik der Kommunikation, hg. v. Manfred Faßler, München: Fink 1999. Sybille Krämer, »Vom Trugbild zum Topos«, in: Illusion und Simulation. Begegnung mit der Realität, hg. v. Stefan Iglhaut, Florian Rötzer und Elisabeth Schweeger, Bonn: Cantz 1995, 130-137. Dies. (Hg.), Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. Medien – Welten – Wirklichkeiten, hg. v. Gianni Vattimo u. Wolfgang Welsch, München: Fink 1998. 68. Friedrich Bouterwerk, Lehrbuch der philosophischen Wissenschaften I, 53ff. Hier zitiert nach: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hg. v. Rudolf Eisler, Berlin: Mittler & Sohn 1930, 424. 243

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taler Wirkungsausgleichungen ist, als »virtuelle Gestalt« begreift.69 Kann in dieser Perspektive des Physiologischen auch die heutige Bedeutung des Virtuellen, seine Bedeutung heute, genauer konturiert werden? Wohl eher nicht. Daher sei ein Weg eingeschlagen, auf dem mithin auch die Unzulänglichkeit einer modallogischen Verteilung oder Gegenüberstellung von »virtuell« einerseits und »real«/»wirklich« andererseits problematisiert werden kann und wird. Also: Von Virtuellem lässt sich sinnvoll nur da reden, wo die Möglichkeit eines im Möglichen Verbleibenden gegeben ist. So zieht die Größe »Virtualität« in den Themenkomplex des Medialen ein. Denn erst wenn Wirklichkeit als eine sich zeichenhaft bzw. auch intentional darstellende aufgefasst wird (wie es ein Signum der Moderne ist), kann Undargestelltes thematisch werden – ohne sogleich, wie noch bis zu Hegels Metaphysik, eine es auflösende Vermittlung oder Versicherung in einen Grund (Gott, Natur, Idee) zu erfahren. Die Welt »als Wille und Vorstellung« (Schopenhauer), die Gesellschaft als System zirkulierenden Kapitals (Marx), Wahrheit als »bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen« aufzufassen (Nietzsche), die Differenzierung von Latenz und Manifestation des Traums (Freud), Welt als Wirklichkeit eines intentionalen Zeit-Bewusstseins zu konzipieren (Husserl), das Dasein des Menschen als einen unablässigen Welt-Entwurf zu denken (Heidegger) etc., all dies sind philosophische Modelle, die konstitutiv mit Virtuellem rechnen, mit etwas nämlich, das die präsentische, gegebene Realität entweder allererst in ihrer Potenzialität bedingt, sich ihr entzieht oder überbordet. Das Spiegelbild zur Virtualität wäre also nicht Wirklichkeit oder Realität, sondern das Modell einer Welt, die auf einer in einen Grund vermittelten Wahrheit basiert (Stichwort: »neuzeitliche Metaphysik«) und so in der eigenen Topografie keinen Raum für nur möglicherweise Mögliches verortbar sein ließe. Positiv formuliert und anders akzentuiert: Mit der Einsicht, dass die aktualiter und formaliter – der mittelalterliche Gegenbegriff zu virtualiter – zur Darstellung gelangte Wirklichkeit ebendies ist: eine dargestellte, wird es möglich, die Differenz von Dargestelltem (Signifikat) und Darstellendem (Signifikant) zu berücksichtigen. »Welt« meint in der Theorie nun den Zusammenschluss der Gesamtheit des zeichenhaft Dargestellten – und das Jenseits des Zeichens bleibt zwar als ›Mögliches‹, Potenzielles gedacht, ist aber damit gerade das, was nicht gegenwärtig ist, sich nicht realisiert oder materialisiert hat. Sodann zieht mit der Verweisung des Zeichens auf das durch es gerade Undargestellte die Zeitlichkeit in das Verhältnis ein. Wie Derrida zusammenfasst: »Die Abwesenheit eines transzendentalen Signifi-

69. Hierzu: Stichwort »Virtuellitätshypothese«, in: Philosophisches Wörterbuch, hg. v. Georgi Schischkoff, Stuttgart: Kröner 1978, 729. 244

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kats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.«70 Damit ist der Ort des Virtuellen ein Hetero-Topos, dessen Andersheit ja gerade darin begründet liegt, da er das ›Ich‹, wie Foucault in Bezug auf die Virtualität des Spiegels als Heterotopie sagt, »auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme« – und seine Wirksamkeit oder Potenzialität entfaltet, als Zeit-Erfahrung gerade der Differenz von Jetzt und Möglichem. Es lässt sich hier ein Gedanke von Georg Christoph Tholen adaptieren, den er im Zusammenhang der derridaschen Reflexion über den »Entzug der Metapher« geäußert hat: »Es ist die Wendung zum medialen Ausschnitt oder auf-reissen-den Einschnitt, der die jeweilige Nähe von Erscheinungen stiftet, aber als Auf-Riß nicht vertraut, heimisch oder anwesend gemacht werden kann. Dieser Gestalt verleihende Riss hat keine ›eigene‹ Phänomenalität, sondern gibt diese von sich frei.«71 Um den Zusammenhang von Virtuellem und Heterotopie weitergehend zu konturieren und zu er-örtern seien zwei mögliche Varianten dessen exemplarisch vor Augen geführt: Da sind zum einen zwei Denk-Figuren, wie sie als »Virtualität des Extrems« im Denken der Moderne auftreten können: (1a) die göttliche Gewalt und (1b) der Tod. Das sind Topoi des Virtuellen, die durch die Differenz von Dargestelltem und Undargestelltem bedingt sind.72 Zum anderen trägt sich in der theoretischen Reflexion über das angesprochene Differenzverhältnis des Zeichens auch diejenige Differenz von Zeichen und Zeichenträger, kurz: der Medialität des Zeichens aus (2). (1a) Zur ersten Figur: In seiner »Kritik der Gewalt« unterscheidet Walter Benjamin die so genannte »Mythische Gewalt« von der »göttlichen«. Wo die mythische Gewalt konkreter historischer Machtsetzungen Grenzen setzt, zerstört die göttliche als ›schlagende‹ Gewalt alle Verbindungen, in denen Zwecke, Mittel und Gewalt als Machtsetzung in Beziehung ge-setzt worden waren. Gerade als Scheidung, Ent-Setzung und krinein ist die göttliche Gewalt also Grenzsetzung selbst. Ihr Niederschlag zeitigte sich als ent-setzliche Auswirkung. So ist sie als solche selbst von ihrer Erscheinung getrennt und zeitigte sich lediglich als Spur im Ereignis. Göttliche Gewalt erscheint nie-mals, keinmal in der Vollstreckung selbst, sie hinterlässt kein Datum, durch kein Mal ist sie markiert, vielmehr hinterließe sie ein solches – das wä-

70. Jacques Derrida, »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, übers. v. Rodolphe Gasché, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, 422-442, hier: 424. 71. Georg Christoph Tholen, a.a.O., 2000, 161. 72. Übrigens ist damit das große Feld des Undarstellbaren noch gar nicht thematisiert – und wird es hier auch nicht mehr. Hierzu: Undarstellbares im Dialog, a.a. O., 1997. 245

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re das Merkmal ihrer Virtualität. Sie bleibt daher für die Geschichte zwar ein mögliches Ereignis, in dieser allerdings unmöglich, wie Benjamin im so genannten »Theologisch-Politischen Fragment« aufklärt: »Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, dass er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende.« (B II/203) Das wäre nun denn gerade nicht mehr die Möglichkeit oder Virtualität des Ereignisses, dass sich in der Geschichte als Realisierung lektorischer Kontingenz zeitigte. Es bedeutete vielmehr das Ende der Geschichte und so gerade die radikale Verunmöglichung bzw. zukünftige Unmöglichkeit eines nach-künftig er-messbaren Ereignisses. (1b) Bei der zweiten Figur einer »Virtualität des Extrems« ließe sich fragen, ob auch der Tod, zumal der eigene, die ab-solute, die Virtualität in extremis bildet. Derrida zeigte, dass das Reden vom eigenen Tod (»Ma mort est-elle possible?«) notwendig über die Erfahrung der Möglichkeit des Todes eines Anderen verläuft und die Möglichkeit vor Augen führt, dass die Unmöglichkeit der Erfahrung des Anderen möglich wird.73 Zwar bleibt die Erfahrbarkeit des eigenen Todes auch so weiterhin un-möglich und das Nachdenken darüber aporetisch, doch wird gerade so (ohne planbar zu sein) die Grenze des erfahrbaren Wirklichen touchiert: In die scheinbare dichotomische Geschlossenheit der Grenz-Ökonomie von Realisiertem und Virtuellem fügt sich, das strikte Grenzverhältnis öffnend, die Supplementierung durch das Imaginäre als Schwellenraum ein. An der Grenze des möglichen Erfahrbaren und realisiert Erfahrenen kommt das Virtuelle als mögliches UnMögliches wieder ins Spiel. Kommt es erst ins Spiel oder ist es dort von Beginn an? Diese Frage scheint paradox, denn wie soll das Unmögliche im Beginn von etwas anderem sein, dessen Bedingung es ist. Foucault weist darauf hin, dass das Zusprechen der Toten und der Götter – ihre unüberwindliche Ferne mithin – der Ort ist, an dem das Sprechen beginnt. Dieser Ort weitet sich zu einem Schwellenraum, wenn er als jetziges und unendliches Sprechen verstanden wird. Dann nämlich ist dieses ›Unmögliche‹ als unendlicher Raum der Erfahrung des Todes im Sprechen ins stets Realisierte schon eingelagert. Das Sprechen entdeckt »eine Verschachtelung, die nie zu einem Ende kommen muß. An der Grenzlinie des Todes reflektiert sich das Sprechen: es trifft auf so etwas wie einen Spiegel; und um den Tod aufzuhalten, der es aufhalten wird, hat es nur

73. Jacques Derrida, Apories, Paris: Galilée 1996. 246

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eine Möglichkeit: in sich, in einem Spiel mit Spiegeln, das selbst keine Grenzen hat, sein eigenes Bild entstehen zu lassen. In der Tiefe des Spiegels, da, wo das Spiel wiederbeginnt, um wieder an den Punkt zu kommen (den des Todes), um ihn jedoch wieder zu umgehen, gewahrt man ein anderes Sprechen – das Bild des wirklichen Sprechens, aber als winziges, inneres, virtuelles Modell.« (F Spr/91). Das Ereignis des Sprechens: Spekulation des Todes in einem virtuellen Raum, in dem das Wort unbegrenzte Fortsetzungsmöglichkeit genießt. Damit konturiert sich auch, was ein Denken des Draußen ausmacht: Es ereignet sich außerhalb des Diskurses und doch enklavisch in einem jeden Diskurs. Denn es ist der Raum des Sprechens des Diskurses selbst und damit dessen Heterotopisches, das nicht zur Darstellung kommt und an der Schwelle zur Positivität verbleibt.74 Möglicherweise ist das das Spiel des Offenen des Ereignisses, das Heidegger in seinen späten Texten annonciert. (2) Wie angekündigt, nun noch exemplarisch zu der Variante des Virtuellen, insofern es eine Modalität des Mediatisierten von Zeichenhaftem (oder allgemeiner: Imaginärem) ist. Elena Esposito weist zu Recht darauf hin, dass das Konzept des Archivs als eines stets realisierten Bestandes von kulturellem Wissen nicht mehr ein hinreichendes Modell zur Beschreibung von IuK-Technologien sein kann, da es leidlich an die Vorstellung vom Speicher, dem Ideal der Bibliothek und der Möglichkeit einer integralen, auch diachron abgesicherten Gedächtniskultur (Assmann) gebunden bleibt. Die technische Realität des Internets mit seinen – so Luhmann – »virtuellen Informationen«75 lässt sich auf diese Weise nicht mehr adäquat erfassen. Diese Bestandsaufnahme könnte gestützt und noch radikalisiert werden durch Hans Ulrich Recks Ausführungen zu den »Metamorphosen der Archive« und aktuellen Pointierungen Friedrich Kittlers76. Das Internet bietet demnach nurmehr die Simulation eines Zugriffs auf oder Zugangs zu Informationen. Denn erst im Augenblick (Zeitlichkeit!) der befehlsmäßigen Benutzung der Browser-Software mittels des Maus-Klicks oder der Enter-Taste werden die Informationen (medientechnisch:) generiert, (philosophisch:) realisiert und wahr, (kulturwissenschaftlich:) materialisiert – und stehen dann der potenziellen Zuführung als kulturelles Wissen zur Verfügung. Dass es keine Originale bzw. Dokumente mehr

74. Hierzu auch: Michel Foucault, »Das Denken des Draußen«, übers. v. Karin von Hofer, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt/Main: Fischer, 130-156. 75. Esposito zitiert diesen Ausdruck mit einem Hinweis auf Luhmann. Esposito, a.a.O., 1998, 292. Zum Thema an anderer Stelle: Dies., Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002. 76. Hans Ulrich Reck, a.a.O., 2000, besonders: 219ff. Friedrich Kittler, a.a.O., 2000. Siehe hierzu auch den Exkurs im Foucault-Kapitel zu den »Realia des Archivs«. 247

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gibt im Raum des Internets, auf die man archivarisch zurückgreifen könnte, lässt sich relational so zusammenfassen: Die Virtualität des materialen Dokuments im Archiv wird zur Originalität des generierten Materials im Internet. Ungeachtet der Dynamik dieser technischen Umstellungen, die dazu anhalten, unsere Denk-Modelle konkreter Archive zu modifizieren und die spezifische Virtualität dessen zu bedenken, was schließlich als Daten generiert wird, bietet auch die medientheoretische Reflexion über den Archiv-Begriff Interessantes für das Phänomen des Virtuellen. Dies sei jetzt nur noch kursorisch und thesenhaft in Erinnerung gerufen, da es oben, allerdings in anderen Kontexten, bereits ausführlich dargestellt worden ist. Mit Foucault kann das Archiv begriffen werden als das Gesamt von Ordnungsstrukturen, aus denen sich Dokumente, besser: Aussagen diskursivieren, die ihrerseits die Regeln, nach denen sie generiert wurden, nicht anzugeben wissen, und doch auch zu konkreter Macht führen können. Das Archiv stellt somit die Bedingung der Diskurse dar, aufgrund der Diskurse von dispositiven Regeln durchzogen werden, die sich als Systemdifferenzierungen etablieren. Daraus können sich Diskursmöglichkeiten, aber auch -unmöglichkeiten ergeben, so dass das Archiv im foucaultschen Sinne als die Matrix der Diskurse bezeichnet werden kann – dasjenige, was der Potenz nach in jedem Diskurs abwesend anwesend vorhanden ist, aber nur der Möglichkeit nach, eben virtuell. Die Methodik der strukturierenden Beschreibung dieses Virtuellen ist die »Archäologie«. Derrida verfolgt in seinem Text zum Archiv, »Mal d’Archive«, einen ganz anderen Gedanken, der ihn zur Aporie des Archivs führt, das Gedächtnis von Anfang an (»arché«) bewahren zu müssen und sich damit dem Wechselspiel von Geheimnis und Gabe und von Erinnern und Überschreiben ausliefert. Das Virtuelle erscheint hier nicht als Archivisches selbst, wie bei Foucault, sondern ist enklavisch ins Archiv einbeschlossen – und bleibt geheim. Um zum virtuellen Abschluss dieses Exkurses nun doch wieder an die zu Anfang genannte Relation der Virtualität zur Realitäts- und Fiktions-Problematik anzuschließen und nochmals an deren seltsamen Einfluss auf unser Verhältnis zur Materialität zu erinnern, mag beispielhaft die Küste Norwegens dienen. Das sogleich zu zitierende Beispiel zeigt – kritisch zu Sybille Krämers oppositioneller Verhältnisbestimmung von realer »Gegenstandserfahrung« und symbolischem Doppelgängertum einer Computersimulation (anhand ihres Hurrican-Beispiels)77 und mit Baudrillards Theorem des »unmöglichen Tausches« –, dass Imaginäres nicht einfach als Supplement oder akzidentelle Ver-

77. Sybille Krämer, a.a.O., 1995. 248

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dopplung zu unserer Materialitätserfahrung hinzutritt, sondern, wie Derrida es für die Schrift gezeigt hat, die virtuelle Kraft des Imaginären eine jede Sinnkonstitution von Beginn an, besser: in ihrem Beginn affiziert (D Gr/17). Die Neue Zürcher Zeitung meldet am 22. November 2000: »Die norwegische Küste ist etwa 26.000 Kilometer länger als bisher angenommen. Wie ein Mitarbeiter der Kartierungsbehörde mitteilte, ergaben Computermessungen, dass der Verlauf des Festlands um 4.000 Kilometer länger ist als bisher angenommen. Der Umfang der Inseln misst sogar 22.000 Kilometer mehr, was vor allem an der Erfassung Tausender kleiner Inseln liegt. Zuletzt war Norwegen vor etwa 30 Jahren von Hand vermessen worden. Damals hatte sich eine Küstenlinie von 57.300 Kilometern ergeben.«78 Möglich also, dass sich das Virtuelle – wieder mit einem Wort Baudrillards, und möglicherweise gegen seinen Gedanken – bestimmen ließe als ein Streik der Ereignisse, denn: Die Beziehung zum Wirklichen ist für Sinnlichkeit kontingent und zugleich notwendig. Oder, wie es der französische Videokünstler Pierrick Sorin metaphorisch zuspitzt: »[C]e qui est [le] plus intéressant ce n’est pas le moment où le coque se brise, mais le moment où elle n’est pas encore tout a fait brisée. Le moment qui n’existe pas. Le moment virtuel.«79 Diese Heterotopie und Heterochronie, zwischen einerseits der Möglichkeit des Kontingenten, in der Zeit auszufällen und sich zu materialisieren, und andererseits der anthropologischen Unmöglichkeit, dem sich ereignenden Imaginären zu entgehen, dieser sich öffnende »andere Raum«, nennt sich »das Virtuelle«.

78. Neue Zürcher Zeitung, Nr. 273, 22. November 2000, 47. Und wo das Thema nun wieder bei den Bildern und der Einstiegsthematik dieses Exkurses angelangt ist, soll die Gelegenheit nicht versäumt werden, neben den drei oben genannten, zwei weitere Filme in Erinnerung zu rufen, die noch andere Momente des Virtuellen ins (laufende) Bild setzen. 1. Das Phänomen des Spiegels – und die filmische Umsetzung seiner virtuellen Kraft. In »Blade Runner« (USA 1982) analysiert der Privatdetektiv Decker die räumliche Tiefe und Szenerie eines Spiegelbildes in einem Foto, indem er visuell in den Raum des Spiegels eindringt. 2. Die Virtualität politisch-medialer Macht wird in »Twelve Monkeys« (USA 1995) in einem Dialog in der geschlossenen Psychiatrie in Szene gesetzt (»Verrückt sind die da draußen.«) und verweist so auf Foucaults frühe Texte zur Psychiatrie, zur Klinik und zum benthamschen Panoptikum als auch auf die damit einhergehende Frage nach der Virtualität (Fiktionalität?) psychopathologischer Phänomene. 79. Zitiert nach: Neue Zürcher Zeitung, »Virtualität – virtuos von Hand geblasen. Pierrick Sorin in der Pariser Fondation Cartier«, Mai 2001. 249

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Tausch II – an niemanden: Ein unmöglicher Tausch Is there anybody out there? Pink Floyd Foucault zieht die Frage, an wen sich das Werk de Sades richtete, auf eine kurze Antwort zusammen: »an niemanden« (F Spr/98). Denn jenseits der a-sozialen Bedingungen, unter denen die Texte entstanden (Gefängnis etc.), trägt, laut Foucault, das Œuvre de Sades genau jenen Entzug oder Rückzug der Sprache von der Welt emblematisch aus, der jedem Sprechen inhäriert: Im Sich-Ereignen konstituiert es einen eigenen, offenen Raum, der dem Diskurs entzogen bleibt. Das war auch oben bereits im Kontext des Virtuellen deutlich geworden. Das Ereignis des Sprechens ist »seine Spiegelreflexion über den Tod und daher die Konstituierung eines virtuellen Raums, in dem das Wort unbegrenzte Möglichkeiten zum Selbst-Bildnis findet und sich unendlich schon hinter sich oder noch jenseits von sich darstellen kann.« (F Spr/92) Da sich das Sprechen der Worte an niemanden richtet, verschiebt sich die Position der Person, die (scheinbar) das Sprechen lanciert, ins Akzidentelle. Das Subjekt des Werks wird zum Objekt des Sprechens des Werks. Wird das Objekt zum Subjekt? In der Folge wird zu sehen sein, welche möglichen Antworten Baudrillard, im Zeitalter der Streik der Ereignisse oder auch »fraktaler« Objekte (und Subjekte), auf diese, mit Foucault initiierte, eher moderne Frage unterbreitet.80 In den vergangenen Kapiteln wurde dies betreffend deutlich, dass auch die Verfasstheit der Texte (Baudrillards) selbst von dieser Instabilität des Verhältnisses von Subjekt und Objekt durchzogen sind. Das hatte Einfluss auf die Eigenart des Kritischen in der Theorie: Verlassen blieb fortan derjenige Ort des Kritischen, an dem mit aufklärerischem Impetus eine Rationalität prozedierte, die, sich als getrennt setzend vom Etwas ihrer Betrachtung, dieses analysierte und es so aller-

80. Jean Baudrillard, Subjekt und Objekt: fraktal, Bern: Benteli 1986. Und auch: Ders., »Videowelt und fraktales Subjekt«, übers. v. Matthias Rüb, in: Philosophien der neuen Technologien, hg. v. Ars Electronica, Berlin: Merve 1989, 113-131. Der technologische (oder sollte man sagen: technokratische?) Entwurf eines Gegenmodelles hierzu ist längst in Gang gekommen: Nämlich die Restituierung eines integralen Subjekts auf Objektebene. So geschieht das auf dem weiten Forschungsfeld des Verbundes von Informationswissenschaft, Linguistik und Psychologie. Hier werden Softwareprogramme entwickelt, artifizielle Subjekte, die aufgrund kommunikationstheoretischer, semantischer und psychologischer Propositionen menschliches Verhalten und menschliche Eigenschaften simulieren. Siehe dazu: Wolfgang Huber, »Das artifizielle Subjekt«, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 2, hg. v. Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle u. Peter Schulz, Berlin u. New York: de Gruyter 1998, 1291-1316. 250

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erst in ein Objekt und sich selbst in ein Subjekt verwandelte. Das wäre eine autarke Bewegung des Denkens (eines Subjekts), wie sie in den Ausführungen Baudrillards – und unablösbar davon: angesichts der erörterten Gegenstände (Simulation etc.) – zu einem performativen Selbstwiderspruch führen müsste. Also legt Baudrillard in seinen Texten nicht eine reale Widerspiegelung der Simulation in Theorie dar, sondern durchläuft stattdessen immer wieder aufs Neue den Versuch, im Schreiben, besser: in der Schrift das »Prinzip der Wirklichkeit« – das oben mit dem Fetischismus als Rhetorik der Simulation beschrieben wurde – herauszufordern.81 Neo ist, nach seiner Befreiung aus der Brutfarm der KI durch Morpheus, das erste Mal in die Matrix eingeloggt. Während Neo noch über die perfekte Realitätsillusion der Matrix verblüfft ist – wie ein alternder Tennisprofi in der Fernsehwerbung eines Internetproviders – meldet Morpheus ›telefonisch‹ Vollzug an die technische Zentrale: »Wir sind drin.« Mit dem Wagen bewegen sie sich durch die Großstadt und der Weg führt sie durch eine Gegend, die Neo auch vor seiner Befreiung schon kannte. Jetzt weiß er, dass das, was er im Augenblick wahrnimmt, nicht existiert. Alles simuliert! »Unglaublich, nicht wahr!?«, sagt Morpheus. Und Neo, noch ganz benommen von der Differenz seiner sinnlichen Wahrnehmungen zu seinem Wissen über deren Simuliertheit, antwortet ausweichend. Er schaut aus dem Wagenfenster und sein Gesicht spiegelt sich schemenhaft im Glas – wie ein fraktaler Narziss: »Da drüben habe ich früher oft gegessen. Die machen gute Nudeln. Ich habe aus meinem Leben so viele Erinnerungen. – Nichts davon ist passiert. Was hat das zu bedeuten?« Nach einer kurzen Pause antwortet Trinity, die neben ihm sitzt: »Dass dir die Matrix nicht sagen kann, wer du bist.« Und den Umstand, dass Neo sich erinnern kann, dass gleichwohl er es gewesen ist, dort im Restaurant, auch wenn das lediglich eine durch die Technik der Matrix hervorgerufene Nervenreizung seines Gehirns war, erklärt Morpheus an anderer Stelle grundsätzlich so: Es ist das »Restselbstbild«, die mentale Projektion des virtuellen Selbst. Die baudrillardsche Ordnung der Dinge präsentiert sich in einer ähnlichen Konstellation: »Letzten Endes sind Objekt und Subjekt ein und dasselbe. Wir können die Quintessenz der Welt nur erfassen, wenn wir die Wahrheit dieser radikalen Äquivalenz in ihrer ganzen Ironie erfassen.« (Bau PV/10) Es findet nicht ein Enthebungs- oder Austauschverfahren von Subjekt und Objekt statt, ein bloßer Tausch der Positionen, nach dem sich Objekte als Subjekte und Subjekte als Objekte wiederfänden. Wenn aber Subjekt und Objekt eins wären, wie-

81. Siehe hierzu: Florian Rötzer, Jean Baudrillard (Interview), in: Französische Philosophen im Gespräch, München: Boer 1986, 29-46, bes.: 29-32. Auch: (Bau TdM/ 96f.). 251

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so sollte dann noch von ihnen beiden gesprochen werden? Die Objekte der Erscheinungswelt (»apparences«) stehen nicht mehr in einem dialektischen, dichotomen oder korrelativen Verhältnis zum Subjekt. Das galt, als noch die Strategien des Subjekts die Reversibilität von Sinn hervorbrachten. Die Reversibilität geht jetzt vom Objekt aus (Bau TdM/67).82 Dadurch ist sie nicht mehr – ›subjektiv‹ – planbar, steuerbar oder definierbar und das Wesen des Subjekt-Objekt-Verhältnisses lässt sich damit nicht mehr angeben bzw. auf eine dialogische oder diaphane Strategie reduzieren. Stattdessen bleibt nur das »Objet comme attracteur étrange«83 – Objekte von seltsamer und befremdlicher Anziehungskraft. Das zeigt sich, indem die Bewegung des Verschwindens einer sinnlich und rational gesicherten Welt – Resümee der Moderne – sich in eins durch gegenläufige fatale Strategien erhält, die die Wahrnehmung so herausfordern, dass da doch stets noch ein anderes Etwas ist, und: dass da noch Etwas anders ist. Das Wachhalten dieser Herausforderung wird durch Objekte geleistet.84 Während zum Subjekt gehörte, symbolische Ordnungen zu produzieren, sich (sich!) auf Zukünftiges hin zu entwerfen, Ansprüche zu erheben etc., ist das Objekt jederzeit vollständig und realisiert da (Bau TdM/72 u. 79). Darin gerade besteht seine fremdartige Attraktivität – wie sie auch Neo während des ersten Besuchs in der Matrix begegnete. Es erscheint, und verschwindet. Das ist beobachtbar und ist jene Ekstase des Objekts, die uns in der Simulation versichert, dass da noch Etwas (anderes) ist, oder zu sein scheint. Objekte erscheinen, und verschwinden. Mehr lässt sich nicht sagen, denn der Code dieser Bewegung ist mit dem Übergang vom Simulakrum erster zu zweiter Ordnung unzugänglich geworden. Das gehört aber ganz offensichtlich ebenfalls zur Strategie der Transparenz des Objekts und zeigt, wie unmöglich es ist, noch von den oben genannten Verhältnissen zwischen Subjekt und Objekt (Dialektik, Dichotomie, Korrelation) ausgehen zu können.85 Die Strategie des Objekts, so Baudrillard ganz ähnlich wie Foucault, »ist die Strategie von niemandem mehr« (Bau TdM/84)86. Doch deshalb ist sie nicht Nichts. Im Gegenteil. Paradoxe Strategie einer Kultur der Simulation und Fatalität der Objekte: Mit einer Wucht werden hoch gerüstete neurotische Versuche der Bergung und

82. Auch: Jean Baudrillard, »Illusion, Desillusion, Ästhetik«, a.a.O., 1995, 97. 83. Jean Baudrillard, La Transparence du Mal. Essai sur les phénomène extrêmes, Paris: Galilée 1990, 179. 84. Zum Komplex der Strategien ›aktiver Objekte‹, siehe: Jean Baudrillard, Les Stratégies fatales, Paris: Grasset & Fasquelles 1983. 85. Dazu ebenfalls – mit dem Fokus aufs Problem der »Freiheit« des Subjekts: (Bau UT/75-82). 86. Hervorhebung, T.S. 252

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SIMULATION (BAUDRILLARD)

Bewahrung von Objekt-Welten hervorgebracht, wie sie, so Baudrillards Vermutung, bis zur Moderne unbekannt gewesen sind. »Nichts verschwindet, nichts darf verschwinden: das ist die Formel dieser neuen Therapiebesessenheit, der mnestischen und archäologischen Besessenheit. Ein hypertelisches, überentwickeltes Gedächtnis, das alle Informationen für immer und jederzeit abrufbereit speichert und das jede Trauerarbeit und jede Arbeit an der Vergangenheit ausschließt.« (Bau IE/115) Der Film »The Matrix« kann auch als Allegorie verstanden werden. Er besagt dann: Die Welt hat sich von ihrer Geschichte getrennt. Paradox daran scheint zu sein, dass mit dieser Scheidung keine (Auf-) Klärung einhergegangen ist, die das Verstehen nun sowohl der hiesigen Welt als auch ihrer Geschichte aus all den gespeicherten und systematisierten Daten und Objekten hervorgetrieben hätte. Vielmehr hat die Trennung einen Verschluss der Welt produziert: Im Inneren geht die unaufhaltsame Schichtung von Bildern dieser Welt vor sich – und doch ist ein Austausch dieser Welt gegen eine ihr andere unmöglich. Das ist der »unmögliche Tausch« und ist abermals die Figur der steten Produktion reversibler Sinnproduktionen, die nun auch die Implosionen des Historischen sehen lassen. Dazu nochmals Baudrillard am Beispiel der Archäologie: »Dieser archäologische Fetischismus verdammt seine Objekte nicht nur dazu, zu musealen Abfällen zu werden, die Zeitgenossen der industriellen Abfälle sind, sondern er ist auch Beleg für eine verdächtige Nostalgie. Weil wir uns immer mehr von unserer Geschichte entfernen, sind wir versessen auf Zeichen der Vergangenheit, allerdings keineswegs um sie wiederzubeleben, sondern um den leeren Raum unseres Gedächtnisses wieder aufzufüllen. Oder wird der Mensch, der im Begriff ist, die Spur seiner Geschichte zu verlieren, vielleicht von der Sehnsucht nach Gesellschaften ohne Geschichte ergriffen, in der dunklen Ahnung, dadurch zum gleichen Punkt zurückzukehren? All diese Überreste, die wir als Zeugen für unseren eigenen Ursprung bezeichnen, würden somit ungewollt zu Zeichen für seinen Verlust.« (Bau IE/118) Erhebt sich hier aufs Neue, qua Komplettierung des Wissens von der Welt und ihrer ›ganzen‹ Geschichte, ein historisches Subjekt? In keiner Weise, denn die gesamte Stapelarbeit des Historischen drückt ein Begehren aus, und das Begehren ist nun just die Situation, eines Objektes nicht habhaft zu sein. Es liegt am Objekt, ob es dem Begehren in einer Situation der Verführung nachgibt. Damit wird das Objekt zum unerträglichen – gleichwohl verführerischen – Beleg der Existenz des Entzugs von Etwas aus der symbolischen Ordnung. Aber: Entzug wohin? Vorausgesetzt man lässt außer Acht, dass gerade diese Frage unmöglich ›wahr‹ zu beantworten ist, da es zum Wesen des Entzugs gehört, den Ort des Entziehens gerade undarstellbar zu belassen, lautet Baudrillards Vorschlag: Verzicht auf ein Modell der Differenz der Dualität oder 253

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PARADIGMEN PHILOSOPHISCHER MEDIENTHEORIE

Äquivalenz. »Die Alternative liegt im exponentiellen Anderswo, das virtuell als etwas total Exzentrisches definiert wird. Man darf sich mit der Entfremdung nicht abfinden, man muß zum anderen des Anderen durchstoßen, zur radikalen Andersheit. […] Ich bin nicht entfremdet. Ich bin definitiv anders.« (Bau TB/199) Die Strategie dieses »Subjekts« wäre also, sich dem anderen zu einem Objekt mit fataler Strategie zu machen und gerade über das verführerisch zu verfügen, was jenem anderem nie zur Verfügung stehen wird – also ebenso über das Geheimnis zu verfügen, ohne es je zu lüften, wie die Verführungs-Strategien der Objekte ihre souverände Alterität uns gegenüber ausspielen. Das ist jene radikale Alterität, »die in unser Leben in Form einer Geste, eines Gesichts, einer Form, eines Worts, eines prophetischen Traums, eines Geistesblitzes, eines Objekts, einer Frau, einer Wüste einbricht, deren Evidenz sich blitzartig offenbart.« (Bau TB/199f.) Damit werden Subjekt und Objekt eins: Begehren des Anderen und das Andere des Begehrens. So bleibt, einerseits, die Welt als Objekt weiterhin eine wahrgenommene, ein Attraktor, dessen Geheimnis hinter den Erscheinungen verschieden bleibt und dennoch – fetischisierend eben – da ist.87 Die Welt bleibt, so gesehen, das Gesamt der Phänomene. Sie löst sich nicht auf, nur weil die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt nicht mehr gelingt, sondern ergeht sich nach wie vor in der Banalität ihrer Obszönität. Aber das ist nicht alles – und schon gar nicht das Ende. Denn, andererseits, findet jenes »Subjekt« der fatalen Strategien radikaler Alterität inmitten dieser Welt seinen Ort. Die Alterität, von der Baudrillard in Abgrenzung zum Modell der einfachen Differenz sprach, ist keine des Jenseits oder der Utopie. Das hier gedachte Subjekt ist eine Heterotopie zum Obszönen der simulierten Erscheinungen (»apparences«) der Welt. Es heißt allerdings nicht mehr »Subjekt«, da es dies (sub-iectum) auch nicht mehr ist. Baudrillards Vorschlag lautet auf einen Titel, der seinerseits bereits hybrid, übersetzt, metaphorisch, damit: fatal ist, und so das Ende der Welt in Bewegung hält: »Le paroxyste indifférent«.88 Und so kann er charakterisiert werden: »Le paroxyste, lui, s’attache aux phénomènes extrêmes, mais ne partage pas l’illusion de la fin. Il vit dans l’imminence de la fin. Il l’utilise comme ob-

87. Dazu vor allem die so genannte »Habilitation«: Jean Baudrillard, L’autre par lui même, Paris: Galilée 1987. 88. Baudrillard erläutert die Übertragung dieser seltsamen Bezeichnung in einer Prolepse zur französischen Ausgabe des Buches: »Le ›paroxiton‹, dont l’équivalent littéral en latin est le pénultième, caracterise en prosodie la syllabe avant-dernière. Le paroxysme serait donc le moment avant-dernier, c’est-à-dire non pas celui de la fin, mais celui juste avant la fin, juste avant qu’il n’y ait plus rien à dire.« Jean Baudrillard, Le paroxyste indifférent, Paris : Grasset & Fasquelle 1997, 7. 254

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SIMULATION (BAUDRILLARD)

servatoire, d’où il peut avoir une vue imprenable. Il fait intervenir la fin dans le déroulement même des choses. Il se situe même eventuellement au-delà, façon de sauter par-dessus son ombre. Ni fanatique, ni prosélyte, ni exorciste: juste la violence du paroxysme et le charme discret de l’indifférence. Juste balance entre les extrêmes, juste là où aux confins de l’indifférence brille encore une lueur de désespoir. C’est sans doute aussi la figure de notre monde.«89 Von dieser heterotopen Positionierung eines gewissen »Subjekts« sei – für einen letzten Gedankengang – nochmal ans Allgemeinere des geschichtlichen Motivs zurückgefragt, in das das Verhältnis von Subjekt und Objekt eingelagert ist: Was war diese »dunkle Ahnung« zum gleichen Punkt (eines Ursprungs von Geschichte) zurückzukehren, von der Baudrillard oben im Zusammenhang mit dem Rückgang zum Ursprung der Geschichte sprach (archäologischer Fetischismus paläoanthropologischer Ausgrabungen)? Was ist dieses allgemeine Etwas, das die fatalen Strategien eint? Oder, diese Frage andersherum: Was ist die allgemeine fatale Strategie? Was ist der Ursprung, aus dem das, was »Welt« genannt wird, entspringt, oder produziert, reproduziert, simuliert wird, sich selbst dieser Welt aber entzieht? Es ist genau dieses (theoretische, hypothetische) Faktum, die Existenz einer »Matrix« anzunehmen, eines undarstellbaren Ursprungs des Entspringens von Welt, der selbst nie Faktum sein wird. Für Baudrillard ist das das Emblem dafür, dass die Transzendierung der Geschichte unmöglich geworden ist, nachdem der theoriepolitische Vorgang der Moderne (zweite und dritte Ordnung der Simulakra), den Referenten in die Theorie einzubinden, vollzogen ist. Mithin ist das – jenseits aller Theorie – durch die medientechnische Entwicklung auch darstellbar und zur performativen Kultur geworden (Simulationsmodelle, Virtual Reality etc.). Die Welt tritt damit in den »unmöglichen Tausch« ein und der geschichtliche Prozess wird zur Hyper-Geschichte. Das ist abermals nicht das Ende ›der‹ Geschichte. Ebenso wenig wie ›die Welt‹ im historischen Durchgang durch die drei Ordnungen der Simulakra einfach verschwunden, sondern dadurch erst in besonderem Maße zu einem aufdringlichen Da geworden ist. Der »unmögliche Tausch« ist also nicht das Ende der Welt und auch nicht der Geschichte. Vielmehr zeigt sich damit gerade die Unmöglichkeit ihres Endes. Denn die Implosion der Gegenwart in die – von eigener Hand datierte – Geschichte (historia) qua archivarischer Remanenz, medialer Rekursivität und technologischem Recycling sämtlicher Data, erbringt gerade die »Hypersensibi-

89. Jean Baudrillard, Le paroxyste indifférent, a.a.O., 1997, Klappentext. Die deutsche Ausgabe enthält diese Erläuterungen nicht: ders., Paroxysmus, übers. v. Jonas Maatsch, Wien: Passagen 2002. 255

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PARADIGMEN PHILOSOPHISCHER MEDIENTHEORIE

lität gegenüber den Endbedingungen« und damit aber doch zugleich die Unmöglichkeit, dem Endigen ein Ende zu machen, was hieße: zum Ende zu kommen. Dieses ab-solute Ende ist unmöglich, da die Gegenwart Effekt des Historischen ist, ihres »Historischen« mithin. Und wenn die »Effekte versuchen, zu ihrer eigenen Ursache zurückzukehren [zum Ursprung?]«, löst sich die Möglichkeit der Linearität von Geschichte auf.90 Oder, in Hegels Worten, aber jenseits der Dialektik seiner Logik ausgedrückt: Die »Weltgeschichte« verbleibt in beschränkter »Endlichkeit«, ohne dass sie sich durch ein entschränkendes »Weltgericht« des »allgemeinen Geistes« zu seinem »Element des Dasein« vollendete: zu einer »geistige[n] Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfange von Innerlichkeit und Äußerlichkeit.« (H 7/503) Die beschränkte Endlichkeit führt anstatt zum Ende vielmehr zum Wuchern des Sinns, was in der Gegenwart besonders am Wuchern des historischen Sinns zu beobachten ist. Das obige Beispiel der Archäologie und Prä-Historie – und für die breit geführte kulturwissenschaftliche Debatte um Erinnerung und Gedächtnis gilt das ebenso – ließ die Bewegung des nicht-endenden Endes der modernen Welt sehen: Es ist die in die Gegenwart eingelagerte Metastasen-Bildung (Bau TdM/152f.) historischer Objekte (zu denen selbstverständlich auch ›Ereignisse‹, Personen, Theorien etc. gehören). Damit gilt nach wie vor: Die »Moderne ist in der Ekstase.« (Bau TdM/141) Sie steht aus sich heraus durch unentwegte Produktion, besser (mit Baudrillard): Simulationen (Modus) und Orgien (Form) von Sinn.91 Das gilt bis ins Detail des Alltäglichen: Der – kulturkritisch gedeutete – Unsinn von Teilen der gegenwärtigen massenmedialen Unterhaltungsbranche ist nur scheinbar Unsinn. Denn er zeugt dafür, dass die Welt noch das Da ist, das eine, diese, unsere Geschichte hat – und bestehe sie auch nur darin, sich zu unterhalten. Womit aber, so muss man nun – schließlich und schließend, wie paradox – fragen, beginnt so stetig dieses bleibende Ende dieser Welt? Baudrillard: »Alles beginnt mit dem unmöglichen Tausch. Die Ungewißheit der Welt besteht darin, daß es nirgends ein Äquivalent gibt, und daß sie sich gegen nichts austauscht. […] Das ist sogar ihre Defin-

90. Jean Baudrillard, »Die Rückwendung der Geschichte«, übers. v. M. Sedlaczek u. I. Uchtdorf, in: Zeit – Medien – Wahrnehmung, hg. v. Mike Sandbothe u. Walter Ch. Zimmerli, Darmstadt: WBG 1994, 1-13, hier: 1. Zu dem oben angeklungenen Motiv der Retorsion der Geschichte, siehe besonders die Seiten: 2, 6, 7, 9, 11. Kritisch zu Baudrillards Modell: Thomas Jung, Vom Ende der Geschichte. Rekonstruktionen zum Posthistoire in kritischer Absicht, Münster u. New York: Waxmann 1989, bes.: 149-190 u. 196-199. Jung fokussiert seine Kritik (auch in einer abschließenden, sinnvollen »Synopse«) auf die baudrillardsche Entwicklungslogik und seine Geschichtsmetaphorik. 91. Hierzu das erste Kapitel von Transparenz des Bösen: »Nach der Orgie«. 256

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SIMULATION (BAUDRILLARD)

tion, oder ihre Unbestimmtheit. Kein Äquivalent, kein Double, keine Repräsentation, kein Spiegel. Jeder Spiegel wäre selbst noch ein Teil der Welt. Es ist nicht gleichzeitig Platz für die Welt und für ihr Double. Folglich ist keine Verifikation der Welt möglich […]. Was auch immer sich lokal verifizieren mag, die Ungewißheit der Welt in ihrer Gesamtheit ist unwiderruflich.« (Bau UT/9) – und regt so zum Weitermachen und Weiterfragen an. Morpheus fragte oft: »Was ist die Matrix?« Am Ende der Geschichte, wenn Neo durch die Verführungen Trinitys weiß, was die Matrix ist, wird nicht mehr diese seinen Körper durchziehen, sondern sein Leib ihre Technik. Doch auch das wird nur Vorbereitung einer weiteren Reise durch die Matrix sein. Was bei Heidegger »das Offene« heißen wird, ist hier die Virtualität der Möglichkeit einer weiteren Reise in die Verführung. »Alles zurück auf Anfang«, heißt es in der Filmbranche. Auf den vorliegenden Text übertragen, meint das so viel wie: Der folgende Dritte Teil wird sich – unter Fokussierung auf die Topoi »Subjekt« und »Sinnlichkeit« – mit den historischen, modernen Präfigurationen der bis hierher diskutierten medientheoretischen Paradigmen befassen. Daher gilt, historisch wie auch in der theoretischen Referenz: Von Baudrillard zurück auf Marx.

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Dritter Teil »Subjekt« und »Sinnlichkeit« in der Philosophie der Moderne

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KAPITAL UND »MASCHINERIE« (MARX)

Kapital und »Maschinerie« (Marx) Ich kauf’ mir was. Kaufen macht so viel Spaß, ich könnte ständig kaufen gehen, kaufen ist wunderschön, ich kauf’ ich kauf’ – was ist egal, ich kauf’ ich kauf’, dir was und mir was und Herbert Grönemeyer

Entfremdung und moderner Produktionsbegriff Kierkegaard hatte gesehen, dass der menschlichen Existenz ihr Dass ihr nicht verstehbares absolutes Paradox ist – ihr Ursprung.1 Für Marx nun steht die gesellschaftliche Existenz des Menschen im Blickpunkt. Dieses Sein findet die Produktivität seines Ursprungs aber nicht mehr in jenseitiger Herkunft, sondern in den geschichtlich gewordenen, ökonomisch-materialen Sachverhalten, wie sie sich als die kapitalistische Produktionsweise und deren Bedingungen selbst hervorbringen und reproduzieren. Als solche können sie sprachlich objektiviert und zur Form der Wissenschaft ausgearbeitet werden, wodurch ihre Kritik allererst möglich wird. Und nötig ist die Kritik, da die Reproduktion der kapitalistischen Bedingungen für den Menschen unerträglich ist. Denn der Zyklus von Produktion, Distribution und Konsumtion von Waren wird letztlich durch den entsprechenden Zyklus der Waren produzierenden Ware bewegt und reproduziert: der Arbeitskraft des Lohnarbeiters. Die derartige Entfremdung des Subjekts ist bedingt durch den »Antagonismus« (MEW 13/9) des Verhältnisses von bürgerlicher Gesellschaftsform und ›fortschrittlichen‹ Produktionsweisen, in denen die Produzenten (Arbeiter) vom Besitz der Produktionsmittel abgetrennt sind. Die Entfremdung ist damit eine dreifache: Erstlich in den gesell-

1. Siehe dazu: Erster Teil, Kapitel »Absurdität (Kierkegaard)«. 261

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

schaftlich-ökonomischen Verhältnissen die Entfremdung von der Eigenheit des Produktionsvorgangs; dann in der Einsicht, dass die derartige Produktion von Waren die Reproduktion des selbstverwertenden Kapital-Systems in Gang hält, die Entfremdung vom eigenen Tun (Produzieren) als solchem; schließlich daraus folgend, das entfremdete sich Wiederfinden im aufgrund der gegebenen Produktionsbedingungen zwanghaft individuierten Zustand einer Waren produzierenden Ware, der von den gesellschaftlichen Bedingungen (Verweltlichung des Seins in Form der kapitalistischen Produktionsbedingungen) als die Eigenart des Weltlichen des menschlichen Wesens bestimmt wird. Dass dieses (gesellschaftlich-ökonomische) Sein das Bewusstsein bestimmt – und nicht umgekehrt – wird nachvollziehbar, wo es wissenschaftlich (»Kritik der Politischen Ökonomie«) objektivierbar zur Darstellung kommt. Immerhin aber leistet dieses Bewusstsein doch ebendies: die systematisierte Widerspiegelung der Produktionsbedingungen des Menschen, wie sie geschichtlich geworden und gegenwärtig existent sind. Das ist das Verstehen des Subjekts Mensch. Aber welcher Art ist dieses Subjekt – unter Bedingungen des kapitalistischen Produktionsprozesses? Wie bestimmt sich sein Ort – zwischen Kapital und Technik? Hegels »Metaphysik« und Marx’ »Moderne« berühren sich im Gedanken der Produktion bzw. Produktivität. Jene Vernunftwissenschaft war die Darstellung der Hervorbringung ihrer selbst, poiesis der Vernunft selbst, die letztlich das Wirkliche als vernünftig erwies und das Vernünftige als wirklich. Dieses Wirkliche ist für Marx nicht mehr allererst vernünftig, sondern es ist allererst, und zwar immer als gesellschaftliches Ergebnis menschlicher Produktivität (Arbeit). Im Vorgang der Produktion realisiert sich abstrakt gesprochen das (Macht-)Verhältnis des Menschen zur Natur. Was hier »Mensch« und »Natur« heißt, ist nicht vorgängig ontisch fundiert, sondern resultiert gerade aus der historisch jeweils spezifischen Produktivität. Marx: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. […] Indem er […] auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur.« (MEW 23/192) Einerseits konturiert sich am Natur-Begriff so nochmals die Grenze von neuzeitlicher Metaphysik und Moderne und andererseits erhellt sich bereits hier die Bedeutsamkeit der Größe »Produktion« für die weiterführende Charakteristik der Moderne, wie sie schließlich bis auf die Gegenwart hin auf den Zusammenhang von Technizität und Medialität unserer Welt enggeführt werden kann. Das Arbeitsmittel als »Machtmittel« (MEW 23/194) zu verwenden, um die Natur zu verändern – und sich als Mensch gleich mit –, ist 262

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KAPITAL UND »MASCHINERIE« (MARX)

bei Hegel nicht gedacht. Im »System der Bedürfnisse« (H 7/346) stellt die Arbeit die Vermittlung dar, »den partikularisierten Bedürfnissen angemessene, ebenso partikularisierte Mittel zu bereiten und zu erwerben« (H 7/351). Das Fortschreiten dieser Partikularisierungen wird bewirkt durch die »Abstraktion« (H 7/352) der Arbeit: die Spezifizierung der Produktion und das Hervorbringen der »Teilungen der Arbeiten«. »Die Abstraktion des Produzierens macht das Arbeiten […] immer mehr mechanisch und damit am Ende fähig, daß der Mensch davon wegtreten und an seine Stelle die Maschine eintreten lassen kann.« (H 7/352f.) Ihr Verhältnis zur Natur findet diese Arbeit allerdings weiterhin (nur) darin, »das von der Natur unmittelbar gelieferte Material für diese vielfachen Zwecke durch die mannigfaltigsten Prozesse« zu spezifizieren (H 7/351). So wird hier zwar schon vorbereitend auf die Industrialisierung des menschlichen Produzierens hingedacht. Dieses verbleibt aber in der Position, nur dasjenige manufakturiell weiterverarbeiten zu können, was von der Natur selbst anfänglich produktiv hervorgebracht wurde. Vorausgesetzt bleibt ein Begriff von Natur im Sinne der MetaPhysik: Sie ist das originär Poietische, die menschlichen Produktionen bleiben Weiterverarbeitungen des von ihr Hervorgebrachten und in ihre poiesis selbst kann von menschlicher Seite nicht eingegriffen werden. Die Grenze von Metaphysik und Moderne ist in gesellschaftlicher Hinsicht also der von Hegel geahnte historisch-technische Übergang von der handwerklich-menschlichen Produktionsweise zur maschinellen Produktion, das Wegtreten des Menschen. Im »Kapital« pointiert Marx den historischen Schnitt so: »In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der Fabrik existiert ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen, und sie werden ihm als lebendige Anhängsel einverleibt.« (MEW 23/445) Historisch konkretisiert stellt sich das metaphysisch-menschliche Produzieren für Marx in der Manufaktur dar, der »klassische[n] Gestalt« der »auf Teilung der Arbeit beruhenden Kooperation« (MEW 23/356). Ihren gesellschaftlichen Höhepunkt erreicht die Manufaktur in der weiten Verbreitung in Form sowohl des »städtischen Handwerks« als auch in der »ländlich häuslichen Industrie« (MEW 23/390). Doch entsteht im Laufe der Zeit ein Widerspruch zwischen ihren technischen Möglichkeiten und den »von ihr selbst geschaffenen Produktionsbedürfnissen« (MEW 23/390). Die Aufhebung des manufakturiellen Produktionswesens wird von diesem selbst von seiner »Werkstatt zur Produktion der Arbeitsinstrumente selbst« (MEW 23/ 390) hervorgebracht: »Dies Produkt der manufakturmäßigen Teilung der Arbeit produzierte seinerseits – Maschinen. Sie heben die handwerksmäßige 263

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

Tätigkeit als das regelnde Prinzip der gesellschaftlichen Produktion auf. So wird einerseits der technische Grund der lebenslangen Annexation des Arbeiters an eine Teilfunktion weggeräumt. Andererseits fallen die Schranken, welche dasselbe Prinzip der Herrschaft des Kapitals noch auferlegte.« (MEW 23/390) Beide von Marx hier hervorgehobenen Aspekte werden in der Folge interessieren: Die Wegräumung des Arbeiters bringt seine Ortlosigkeit in der modernen Lebenswelt der nurmehr Waren produzierenden Industriegesellschaft zum Vorschein. Auf sein Verhältnis zum Kapital und zur Produktion gewendet ist das die Frage, wer hier (eigentlich noch) Subjekt ist. Und insofern die moderne menschliche Tätigkeit Produzieren, d.h. Arbeit ist, wirft die Einsicht in ihre fortschreitende Technisierung Fragen zu ihrer Sinnlichkeit auf. Schon 1845 schreibt Marx in den Feuerbach-Thesen: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv.« (MEW 3/5) Die menschliche Praxis ist wesentlich Produktion, in geschichtlich sich wandelnden Produktionsverhältnissen. In ihnen zu existieren kennzeichnet die Natur des Menschen, macht ihn seit je zum gesellschaftlichen Wesen und die Gesellschaft zu seiner Natur (MEW Erg. 1/537f.). Den Menschen als genuin gesellschaftliches Wesen zu beschreiben, heißt, sich von der hegelschen Idee des Staates abzuwenden und diese als Verhüllung der ökonomischen Mächte, unter denen der Mensch steht, zu analysieren. Die Gesellschaft als Gesamt der Produktionsverhältnisse erscheint dann in anderer Verfassung, denn ihre Wirklichkeit ist dies: Sie »besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehen« (M Gr/176). Grundlage, euphemistisch gesagt: Motivation für das Eingehen dieser »Verhältnisse« sind nicht die Einsicht in die Vernünftigkeit eines Gesellschafts- oder Staatsvertrages oder ein freier Wille, sondern ist die Notwendigkeit der Anpassung ihrer materiellen Produktivkräfte an die gegebenen Verhältnisse (MEW 13/8f.). So vollzieht Marx eine radikale Trennung von einerseits »Ideologie[n]« – »Moral, Religion, Metaphysik […] und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen« (MEW 3/26) –, die sich den Schein von Selbstständigkeit geben und die wirklichen, materiellen Verhältnisse verschleiern, und andererseits der geschichtlich bedingten, gesellschaftlichen Existenz des Menschen in (gegenwärtig) ihn entfremdenden Produktionsverhältnissen. Daraus folgt eine wesentliche Entscheidung für die weiterführenden Analysen: Die »ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens.« (MEW 264

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KAPITAL UND »MASCHINERIE« (MARX)

3/27)2 Was die Wirklichkeit ist, basiert auf der jeweiligen Entwicklung materieller Produktion, die ihrerseits Denken und dessen Entwicklung ändert. Das Bewusstsein der Menschen ist hier immer das der in den wirklichen Produktionsverhältnissen stehenden (MEW 3/27).3 Es ist mithin gesellschaftliches Bewusstsein. Und als solches ist es von den ökonomischen Produktionsverhältnissen bestimmt und deren Sein, den Ergebnissen der Produktionsprozesse, unterworfen. Ihre moderne geschichtliche Bestimmung erhalten diese Sachverhalte durch das Kapital. Die Bedingungen des Kapitals wiederum spezifizieren die menschliche Produktion auf Warenproduktion und Reproduktion, lassen die Arbeitskraft ebenso als Ware erscheinen und, indem sie deren Käufer auf den Ertrag von Mehrwert spekulieren lässt, halten sie den warenproduzierenden Zyklus reproduktiv in Gang. Arbeit erscheint so rein als Verkauf der allen anderen Waren gleichwertigen Ware »Arbeitskraft«, die der Arbeiter an den Kapitalisten verdingt und als Preis dafür den Arbeitslohn erhält. »Der Austausch zwischen Kapital und Arbeit stellt sich der Wahrnehmung zunächst ganz in derselben Art dar wie der Kauf und Verkauf aller andren Waren.« (MEW 23/563) Was aber wie die übliche Warenzirkulation aussieht, verbirgt, dass allein die menschliche Produktion (Arbeit) wertbildend ist. Ihre ›Gleichschaltung‹ mit den anderen in der gesellschaftlichen Produktion hervorgebrachten Waren ist mithin eine Reduktion, die die »Mystifikationen« der bürgerlichen Gesellschaft vom freien Warentausch und der Gleichwertigkeit der Eigentümer allererst ermöglicht. Marx: »Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.« (MEW 23/562) Nochmals mit anderem Gewicht: Die Reproduzierbarkeit und

2. Im marxschen Text folgt an dieser Stelle das berühmte: »Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.« Entscheidender für das vorliegende Thema ist aber der oben zitierte Satz. An seinen Gedanken wird sich auch Benjamin erinnern, wenn er vom Kunstwerk als einem immer stärker auf Reproduzierbarkeit angelegten reproduzierten Kunstwerk schreibt. 3. Letztlich werden in diesem Kapitel die technischen Bedingungen der Wirklichkeit dieser Produktionsverhältnisse (Gesellschaft) interessieren. Zum Verständnis ihres Einflusses auf »Subjekt« und »Sinnlichkeit« muss zuvor aber der Umweg über die Darstellung der Produkte des Produktionsprozesses gewählt werden, denn die menschliche gesellschaftliche Existenz ist wesentlich die des Produzenten, und der steht im unlösbaren Verhältnis zu Waren – auch zu sich selbst. Vom Gedanken des Menschen als Produzenten her entwickelt Boeder seine Marx-Analyse. Siehe: Heribert Boeder, Das Vernunft-Gefüge der Moderne, Freiburg u. München: Alber 1988, 238-284. 265

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

Reproduktion von Waren, Arbeitskraft (Menschen, Leben) und Produktivkräften (Technik) ist die Bedingung für die Differenzierungsmöglichkeiten des gesellschaftlichen Seins, ökonomisch verstanden als kapitalistische Produktionsverhältnisse. Der Wandel der Produktionsverhältnisse in der Geschichte ist an den Fortschritt der Produktivkräfte (Technik) gebunden, die ihrerseits wieder von den Produktionsverhältnissen abhängen.

Fetischcharakter (nicht nur) der Ware Wie wird dieses perfekte, sich selbst reproduzierende System des Kapitals wahrgenommen? Marx unterscheidet zwischen »Erscheinungsformen« und dem »verborgnen Hintergrund«. »Die ersteren reproduzieren sich unmittelbar spontan, als gang und gäbe Denkformen, der andre muß durch die Wissenschaft erst entdeckt werden.« (MEW 23/ 564) Die Analyse oder Offenlegung des Hintergrunds hatte Marx sich mit seinem Projekt der »Kritik der Politischen Ökonomie« insgesamt vorgenommen.4 Die »Erscheinungsformen« sind die Spiegelungen der den kapitalistischen Produktionsverhältnissen angemessenen Bewusstseinsformen und -prozessen. Marx’ Phänomenologie der modernen Gesellschaft nennt die Bestandsstücke, die den illusionären Sachverhalt stellen: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform.« (MEW 23/49) Wie ein staunendes Kind blickt – ja: Wer? – das Subjekt des Kapitals (doppelter Genitiv) gebannten Auges auf die Sammlung einzelner Waren, nimmt sie nicht als Kapitalakkumulation, sondern als »Reichtum« wahr und verliert im Vorgang dieser lebenspraktischen Orientierung auf dessen Distribution den Sinn für die eigentliche (Macht-)Funktion dieses Vorgangs. Das ist der Fetischcharakter der Ware, der die Bewegung der kapitalistischen Reproduktion in Gang hält und Bewusstsein und Wahrnehmung an der Evidenz entlang orientiert.5 In seiner perfektionierten Form verkehrt er die Position der Quelle des Werts: Die Pro-

4. Deren Bedingungen, philosophische Voraussetzungen etc. sind für den Fortgang des hier Interessierenden allerdings nicht weiter von Belang. 5. Hierzu ausführlicher: Rolf Peter Sieferle, Die Revolution in der Theorie von Karl Marx, Frankfurt/Main u.a.: Ullstein 1979, besonders: Kapitel 4.1 und 4.2. Claus-Artur Scheier, Ästhetik der Simulation. Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert, Hamburg: Meiner 2000, bes.: 5-14, 22-29. Und ebenso bei Derrida: (D Sp/234ff. u. 262ff.). 266

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duktion von Kapital und dessen Zirkulation in Form von Waren erscheint nurmehr als alleinige, ›natürliche‹ Form von Produktion. Dass diese historisch geworden und gesellschaftlichen Charakters ist, bleibt durch die definierte Identität mit der Bestimmung der Arbeit verborgen. Die Perfektionierung dieses Verschleierungsvorganges findet Marx in der gesellschaftlichen Verkehrung, die Produktion speise sich aus drei »Faktoren« (Kapital, Boden, Arbeit) (MEW 25/822ff.) als deren »wirkliche Quellen« (MEW 25/834), anstatt sie vielmehr ihrerseits als Aneignungs- oder Einkommensquellen zu verstehen und die menschliche Produktion (Arbeit) als einzige Quelle zu extrapolieren. »Alle Gesellschaftsformen, soweit sie es zur Warenproduktion und Geldzirkulation bringen, nehmen an dieser Verkehrung teil.« (MEW 25/835) Die Konvergenz der so genannten Produktions-»Faktoren« – die »ökonomische[ ] Trinität« (MEW 25/838) – vollendet »die Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse, das unmittelbare Zusammenwachsen der stofflichen Produktionsverhältnisse mit ihrer geschichtlich-sozialen Bestimmtheit« (MEW 25/838). Zwar wusste laut Marx auch schon die klassische Ökonomie diese Verhältnisse zu analysieren, doch blieb sie letztlich aufgrund ihres »bürgerlichen Standpunkt[es]« (MEW 25/838) an der Oberfläche der Sachverhalte. Genauso ergeht es den in der kapitalistischen Gesellschaft Lebenden. Die Matrix ihrer Alltagsvorstellungen entspricht den Systematisierungen und Modellen der »Vulgärökonomie« und so ist es »natürlich, daß die wirklichen Produktionsagenten in diesen entfremdeten und irrationellen Formen von Kapital – Zins, Boden – Rente, Arbeit – Arbeitslohn sich völlig zu Hause fühlen, denn es sind eben die Gestaltungen des Scheins, in welchem sie sich bewegen und womit sie täglich zu tun haben.« (MEW 25/838) Dem auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft Surfenden erscheint diese Oberfläche selbst als das Alles der (gesellschaftlichen) Existenz, und ihre Produktionsformen als die Naturgesetzlichkeiten ihrer Bedingungen. Das durch diese Bedingungen entfremdete und beherrschte (objektivierte) Individuum sieht sich und die anderen dementsprechend nicht als solches, sondern verkauft (sich) die fetischisierende Warenproduktion als Freiheit, als freien Tausch6 – und sich selbst als »Subjekt«. Die kapitalistische Gesellschaft simuliert den Waren-Fetischismus als Freiheit der Produktion und Reproduktion von Waren und deren Austausch und Verbrauch. Diese Zirkulation ist der gesellschaftliche Vorgang, der das Eigentum an der eigenen Arbeit in Eigentum an fremder, gesellschaftli-

6. Baudrillard wird in Der symbolische Tausch und der Tod – das wurde im Kapitel zum Paradigma der »Simulation« deutlich – den Tausch auf das hin befragen, was dieser verdrängt: das Reale, das nicht symbolisiert ist, und den Tod, der nicht tauschbar ist. 267

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cher verwandelt (M Gr/903). Dieser scheinbar unabhängig, privativ und, im personalen Sinn des Wortes, subjektiv sich vollziehende Produktionsprozess bleibt gesamtgesellschaftlich an ein Abhängigkeitsverhältnis gebunden: die Arbeitsteilung. Die Bedürfnisse der Einzelnen bleiben so gerichtet auf die nur mit anderen zusammen produzierbaren Waren und auf die Nutzung ebendieser Anderen als Mittel. Marx rechnet vor: »Das Individuum A dient dem Bedürfnis des Individuums B vermittelst der Ware a, nur insofern und weil das Individuum B dem Bedürfnis das Individuums A vermittelst der Ware b dient und vice versa. Jedes dient dem andren, um sich selbst zu dienen; jedes bedient sich des andren wechselseitig als seines Mittels.« (M Gr/155) Schon an dieser Stelle ist erahnbar, wie der Fetischismus sozial funktioniert: Die Dinge und die Anderen als Mittel zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zu nutzen, heißt umgekehrt, erstens selbst auf diese Weise instrumentalisiert zu werden – und zwar in jedem Augenblick – und zweitens, dass das beschriebene System der Bedürfnisse ein Abhängigkeitsverhältnis ist, in das jeder Einzelne stets eingebunden ist. So entpuppt sich in der Analyse das scheinbar freie »Subjekt« Mensch als ebenso in die Zirkulationsbedingungen abhängig eingebaut wie die Waren-Dinge. Was zählt (sic!), ist der Gebrauchswert des Subjekts, der sich als Waren produzierende Arbeit äußert – und in vereinheitlichter Zeit messbar gemacht und gemessen wird. Der Ort der Entstehung des Fetischismus war oben schon als der Kontext markiert worden, in dem die Verkehrung der theoretischen Positionen von Erscheinung und Wirklichkeit vonstatten geht. Das ist entscheidend: Sie gründet in der Auffassung, Arbeit ausschließlich als Warenproduktion anzusehen (MEW 23/87). Der Fetischismus entspringt also weder aus dem Gebrauchswert einer Ware noch aus dem Inhalt der Wertbestimmungen (MEW 23/85). »Das Arbeitsprodukt ist in allen gesellschaftlichen Zuständen Gebrauchsgegenstand, aber nur eine historisch bestimmte Entwicklungsepoche, welche die in der Produktion eines Gebrauchsdings verausgabte Arbeit als seine ›gegenständliche‹ Eigenschaft darstellt, d.h. als seinen Wert, verwandelt das Arbeitsprodukt in Ware.« (MEW 23/76) Derart gilt auch die menschliche Arbeit (Produktion) als Ware, die Menschen als Warenbesitzer, ihre Beziehungen als die der zeitlich und pekuniär – Geld als abstraktes Warenäquivalent – messbaren (Produktions-)Verhältnisse (MEW 23/72 u. 74). So verschleiert der Fetischismus erstens, dass die uns begegnenden Waren produzierte Waren sind, und keine Naturprodukte, und dass der jeweilige Wert der Waren aus der menschlichen Produktivität stammt, und nicht aus den »Produktionsfaktoren«, die aus dieser eigentlichen Quelle vermeintlich noch hervorgehen (s.o.).7 Hierzu Marx

7. Die Suche nach ursprünglichen »Naturprodukten« oder auch »naturbelas268

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zusammenfassend: »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. [Die] Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, [hat] mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. […] Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist. Dieser Fetischcharakter der Warenwelt entspringt […] aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert.« (MEW 23/86f.)8

Arbeiter und Kapital: Wer ist wessen »sub iectum«? Diese Verschleierung scheint also nicht aufhebbar zu sein, da in der modernen, kapitalistischen Gesellschaft die menschliche Produktion im Kern Arbeit ist. Ist der so produzierende Mensch, der so in den Produktionsverhältnissen stehende, noch »Subjekt« seines Tuns? Oder sind es die (fortschreitend sich technisierenden) Produktionsbedingungen? Und das vermeintliche Subjekt ihr Objekt? Wie verändert sich das Verhältnis dieses produktiv tätigen Subjekts zu seiner Sinnlichkeit? »Das bloß atomistische Verhalten der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Produktionsprozeß und daher die von ihrer Kontrolle und ihrem bewußten individuellen Tun unabhängige, sachliche Gestalt ihrer eignen Produktionsverhältnisse erscheinen zunächst darin, daß ihre Arbeitsprodukte allgemein die Warenform annehmen.« (MEW 23/ 107f.) Um das Erscheinen der »Warenform«, und dass die Waren Fetisch werden, ging es bislang. Nun nochmals, vertiefend, zur Produktion und ihren Bedingungen. Die marxsche Analyse ihrer historischen Entwicklung liest sich retrospektiv wie die Analyse des unaufhebbaren Verschwindens eines natürlichen, meta-physischen Grundes. Auf die

senen Produkten« ist die große erkenntnistheoretische Hürde auch zeitgenössischer so genannter Öko-Bewegungen. 8. Baudrillard wird die von Marx hier nur en passant genannte Unzertrennlichkeit des Verhältnisses als »Produktionsfaktor« der Simulation fokussieren. 269

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menschliche Tätigkeit gewendet liest sich das wie die Analyse der Ersetzung manufakturieller Arbeit, d.h. in der Produktion so zu verfahren »wie die Natur selbst« (MEW 23/57), jetzt aber durch die maschinelle Produktionsform, d.h. der Erzeugung von Waren, deren Spuren ihrer Herkunft schon im Vorgang der Produktion getilgt wurden. Gerade so erscheinen sie natürlich, sind aber gesellschaftlicher Natur und spiegeln mit ihrer Form ihre »gesellschaftliche[n] Natureigenschaften« den Menschen zurück (MEW 23/86). In ihrer Gesamtheit wären sie, um hier ein Wort Benjamins aus dessen Analyse der Illusion des Films zu adaptieren, die »Natur zweiter Ordnung« (B I/458). Aufs Materielle gesehen schreitet die maschinelle Produktion von der Veränderung der Naturformen hin zum Eingriff in die physikalischen und chemischen Bedingungen der Stofflichkeit selbst (MEW 23/192-200). Die so produzierten Waren haben eine vom »bewußten individuellen Tun« des Menschen »unabhängige, sachliche Gestalt«, sie sind Produkte einer Produktion geworden, die sich als automatische bereits von der menschlichen Manufaktur getrennt hat. Die ökonomisch-soziale Entfremdung (die oben besprochen wurde) und die technisch-maschinelle Entfremdung (die im Folgenden interessieren soll) laufen hier zusammen: »Die verselbständigte und entfremdete Gestalt, welche die kapitalistische Produktionsweise überhaupt den Arbeitsbedingungen und dem Arbeitsprodukt gegenüber dem Arbeiter gibt, entwickelt sich also mit der Maschinerie zum vollständigen Gegensatz.« (MEW 23/455) Wenn so viel in der Technik, der Maschinerie und ihrer Entwicklung liegt, werden sich in diesem Kontext auch die Bestimmungen und Verortungen von Subjekt und Sinnlichkeit erhellen lassen. Die Verschleierung der Entfremdung des Subjekts durch den Warenfetischismus und die Produktionsweise der Waren kann, um eine weitere Facette hinzuzufügen, auch in ideologietheoretischer Absicht geschehen. Wie das? »Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen« (MEW 3/26) gehen, laut Marx, vom Bewusstsein als einem lebendigen Individuum zugehörend aus und können so die jeweilige Bewusstseins-Geschichte, sozusagen den grand récit (Lyotard), schreiben. Aber diese Geschichte(n) existieren nicht wirklich (MEW 3/27), sie sind auf der Grundlage der ökonomischen Produktionsverhältnisse sozial reproduzierte Täuschungen, den Menschen »notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses.« (MEW 3/26) Real sind allein die Produktionsbedingungen der materiellen Reproduktion.9 Um diesen Zu-

9. Marx analysiert sie anhand der Kritik der politischen Ökonomie, Baudrillard mit dem Simulations-Theorem. 270

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sammenhang zu erläutern, scheut Marx nicht vor der Analogie menschlicher Sinnlichkeit mit der Fotografie zurück: »Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.« (MEW 3/26) Anders gesagt: Die Menschen haben keine Möglichkeit, von außen in die camera obscura hineinzuschauen, um die Verkehrung im Inneren mit der Realität außerhalb der Kamera abzugleichen und bloßzustellen, sondern befinden sich gerade innerhalb der Kamera und das auf den Kopf Gestellte erscheint ihnen hier wie auf den Füßen stehend. Und nicht nur das. Dass die Menschen das (im Sinne Nietzsches:) »Schauspiel« für bare Münze nehmen, liegt daran, dass sie es selbst leben und mit ihrer Sinnlichkeit sind. Das ist die sinnliche Nähe einer Kultur zu sich selbst.10 Diese Art der dauerhaften, strukturellen Identifikation ermöglicht die Reproduktion der Realität kapitalistischer Produktionsbedingungen. Sie werden nicht außerhalb des Systems von bösen Mächten ausgeheckt, sondern konstituieren und reproduzieren sich im Vorgang der produktiven Tätigkeit (Arbeit) des Menschen, wie auch andersherum die Bestimmung dieses Menschen als Subjekt sich aus den Produktionsbedingungen ergibt und erhält – nämlich durch den über die Sinnlichkeit bewerkstelligten, ideologischen Identifikationsvorgang.11 Sein point de départ ist der Ort der Produktion. Und diese ist leiblich gesehen das tätige Arbeiten, technisch gesehen die »Maschinerie«. Mit der Aufnahme der Arbeit im kapitalistischen Produktionssystem löst sich die Arbeitskraft vom tätigen, empirischen Menschen und wird zu einer Ware als Moment des Kapitals, wird »variables Kapital« (MEW 23/224). »Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.« (MEW 23/247) In dieser Darstellung der Sachverhalte erscheint also nicht mehr der Mensch als das dem System Zugrundeliegende, als Subjekt, sondern es ist das System des Kapitals, welches nun als »automatisches Subjekt« (MEW 23/169) die Bühne betritt und Zirkulation und Reproduktion bestimmt. Der

10. Siehe hierzu etwa: Reinhold Görling, »A Hot Thing. Über die Nähe des Anderen«, in: Interkulturalität. Zwischen Inszenierung und Archiv, hg. v. Stefan Rieger, Schamma Schahadat u. Manfred Weinberg, Tübingen: Gunter Narr 1999, 269-284. 11. Hierzu sei empfohlen: Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg Berlin: VSA 1977, bes.: 108-153. 271

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Wert kann nun als die aristotelisch »sich selbst bewegende Substanz« (MEW 23/169) und die Degradierung des produktiv tätigen (sinnlichen) Menschen zu einem Träger physischer Arbeitskraft bloß akzidenteller Bedeutung erkannt werden. »[I]nnerhalb des kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungsund Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, entfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses, worin letzterem die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird« (MEW 23/674). So wird das scheinbar autonome Subjekt der Geschichte zum verdingten Produzenten im kapitalistischen System und mithin zur Ware, die in der Zirkulation die Funktion erhält, sich selbst und andere Waren stetig zu reproduzieren. Die Existenz des sinnlich tätigen Menschen »ist also auf die Bedingung der Existenz jeder andren Ware reduziert. Der Arbeiter ist zu einer Ware geworden, und es ist ein Glück für ihn, wenn er sich an den Mann bringen kann.« (MEW Erg. 1/471) Aber mit dieser Entfremdung nicht genug, denn der Arbeiter hat in die von ihm produzierte Ware »sein Leben« gelegt; »aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand.« (MEW Erg. 1/512) Das vom Arbeiter Entäußerte, das Produkt, tritt ihm gegenüber und verdeutlicht so die von ihm unabhängige Macht, die das Ding ihm gegenüber besitzt. Kurz: »Was das Produkt seiner Arbeit ist, ist er nicht« (MEW Erg. 1/512), der Arbeiter ist von seiner eigenen Produktivität (Sinnlichkeit, s.u.) entfremdet (MEW Erg. 1/515). Hier zeichnet sich die Beschreibung von Produktionsbedingungen ab, deren Subjektlosigkeit einem Gesellschaftsbild der Subjektivität des Kapitals entspricht, die mit der Objektivität des Produzenten Mensch einhergeht. Wie äußert sich das an der Arbeit? – der Arbeit »[…] auf kapitalistischer Grundlage, wo nicht der Arbeiter die Arbeitsmittel, sondern die Arbeitsmittel die Arbeiter anwenden […]« (MEW 23/674). Feuerbach hatte gefordert, dass der Philosoph das dem Philosophischen (d.h. das hegelsche Logische) entgegengesetzte in den »Text der Philosophie« aufnehme, nämlich das »Prinzip des Sensualismus«, das, laut Feuerbach, bei Hegel zur bloßen Anmerkung verkommen sei.12 Gleichwohl sieht Marx im »Materialismus« Feuerbachs einen Rest des Theoretischen, eine vergeistigte und, entgegen Feuerbachs eigenem

12. Ludwig Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, in: ders., Entwürfe zu einer Neuen Philosophie, hg. v. Walter Jaeschke u. Werner Schuffenhauer, Hamburg: Meiner 1996, 13f. 272

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Einsatz, gerade unsinnliche Bestimmung des Menschen. Und so lässt die erste der so genannten »Thesen über Feuerbach« wissen, dass auch der feuerbachsche Materialismus im bloß Gegensätzlichen zum (hegelschen) Idealismus verhaftet bleibt, der wiederum »natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt« (MEW 3/5). Denn er fasst den »Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung« (MEW 3/5), begreift aber die »Sinnlichkeit nicht als praktische Tätigkeit« (MEW 3/7). Das marxsche Urteil über Hegel, hier mit Feuerbach gedacht, lautet also: Sinnlichkeit ohne Wirklichkeit! Denn die hegelsche Sinnlichkeit wird im Verlauf der Logik in der Fortbewegung der Vernunft aufgehoben und bleibt damit lediglich ein ihr negatives Moment. Und was der Sinnlichkeit hier im dialektischen Prozess geschieht, ist pars pro toto für die Tätigkeit der Dialektik insgesamt: Das je Andere wird in seiner Andersartigkeit aufgehoben. Es sei diese Gründlichkeit der metaphysisch-idealistischen Dialektik in Rechnung gestellt: Was ist der Grund, dass sie die »sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt«? Die Tätigkeit dieser Dialektik ist eine Tätigkeit des Logischen. Dieser muss die sinnliche Tätigkeit als solche fremd bleiben, da sie die (im marxschen Sinne:) Wirklichkeit nicht erreicht, sondern nur die Bewegung des Begriffes kennt. Der nicht-metaphysische Charakter der marxschen Dialektik besteht in Bezug auf die Sinnlichkeit nun gerade darin, Sinnlichkeit als Dialektik zu verstehen. Ihr Fortgang ereignet sich in der Produktivität des tätigen Menschen (Arbeit). »Alle Arbeit ist einerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn, und in dieser Eigenschaft gleicher menschlicher oder abstrakt menschlicher Arbeit bildet sie den Warenwert.« (MEW 23/61)13 Und der dialektische Typus dieses sinnlichen Bildungsvorgangs kann grundlegender nicht gedacht werden – insofern man sich wie Marx an der gesellschaftlichen Wirklichkeit orientiert – als die Arbeit als »Existenzbedingung des Menschen« und »Naturnotwendigkeit« aufzufassen, die den »Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur« vermittelt (MEW 23/57). Die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« vermerken die eigene Differenz zu Hegels Verortung der Arbeit: Zwar erkennt auch Hegel Arbeit als den »Selbsterzeugungsakt des Menschen«, doch verbleibt diese Analyse »innerhalb der Abstraktion«. »Bei Hegel […] erscheint dieser Akt aber […] als ein nur formeller, weil als ein abstrakter, weil das menschliche Wesen selbst nur als abstraktes denkendes Wesen, als Selbstbewußtsein gilt« (MEW Erg. 1/584). Wie zum Beleg dazu Hegel14: Indem »in Wahrheit das Bewußtsein allein

13. Hervorhebung T.S. 14. Dass sich Hegel an dieser Stelle der »Phänomenologie des Geistes« mit dem Phänomen der Entfremdung befasst, was inhaltlich hier nicht weiter von Belang ist, 273

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das Element ist, worin die geistigen Wesen oder Mächte ihre Substanz haben, so ist ihr ganzes System, das sich durch die Teilung in Massen organisierte und erhielt, zusammengefallen, nachdem das einzelne Bewußtsein den Gegenstand so erfaßt, daß er kein anderes Wesen habe als das Selbstbewußtsein selbst, oder daß er absolut Begriff ist. [Der zum Begriff gewordene Gegenstand] tritt so in die Existenz, daß jedes einzelne Bewußtsein aus der Sphäre, der er zugeteilt war, sich erhebt, nicht mehr in dieser besonderten Masse sein Wesen und sein Werk findet, sondern sein Selbst als den Begriff des Willens, alle Massen als Wesen dieses Willens erfaßt und sich hiermit auch nur in einer Arbeit verwirklichen kann, welche ganze Arbeit ist.« (H 3/433) Im Sinne des marxschen Gedankens geht Hegel hier einseitig vor und vermag den eigentlichen Charakter der Arbeit, sinnliche Tätigkeit zu sein, nicht zu kennen oder einzusehen. Die Produktivität und Tätigkeit der hegelschen Vernunft(-Bewegung) in der Dialektik geht bei Marx auf die Sinnlichkeit über, die ihrerseits nun als die zentrale Kategorie menschlicher Arbeit (gesellschaftlicher Produktivität) bestimmt werden kann.15 Diese Verschiebung innerhalb der Topologie der Theorie sichert Marx den analytischen Zugriff auf die Wirklichkeit. Und im Rückschluss auf das oben geschilderte: Die marxsche Analyse der Erscheinungs-Welt (Matrix) funktioniert nur schlüssig, wenn sie durch ein Theorem fundiert ist, das des Menschen Verhältnis zu seiner gesellschaftlichen Welt der Produktionsverhältnisse als ein wesentlich aisthetisches begreift. Ästhetik und Ontologie kommen an dieser Stelle dialektisch zusammen: Das Sein des Menschen ist immer seine gesellschaftliche Wirklichkeit – diese wird versichert durch die Sinnlichkeit. Sinnlichkeit selbst ist das produktive Tätigsein (Arbeit) des Menschen und damit selbst wirklich – und nicht Begriff. Wirklichkeit wird durch diese Sinnlichkeit produziert und reproduziert, und Sinnlichkeit durch die menschliche poiesis wirklich. Marx: »Sinnlich sein, d.h. wirklich sein, ist Gegenstand des Sinns sein, sinnlicher Gegenstand sein, also sinnliche Gegenstände außer sich haben, Gegenstände seiner Sinnlichkeit haben.« (MEW Erg. 1/579) An dieser Aussage wird eine weitere Bedeutung von Sinnlichkeit deutlich: Dass die Dialektik von Sinnlichkeit und Wirklichkeit nicht nur das Verhältnis von Produktivität und Ding betrifft, sondern auch das des produzierenden Menschen zu sich selbst, und des Weiteren

rückt ihn näher an Marx heran. Wie er aber dieses Thema perspektiviert, und darum allein wird er hier zitiert, nämlich vom Bewusstsein her, rückt ihn weit von Marx ab. 15. Zu diesem Gedanken und zum Folgenden: Ernst Vollrath, »Die Kategorie der Sinnlichkeit bei Marx«, in: Philosophisches Jahrbuch, hg. v. Hermann Krings et al., Freiburg/München: Alber 1978, 306-322. 274

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sich in der gesellschaftlichen Beziehung des Menschen versichert. Marx pointiert Letzteres wie folgt: Die »unmittelbare sinnliche Natur für den Menschen ist unmittelbar die menschliche Sinnlichkeit (ein identischer Ausdruck), unmittelbar als der andere sinnlich für ihn vorhandene Mensch; denn seine eigene Sinnlichkeit ist erst durch den anderen Menschen als menschliche Sinnlichkeit für ihn selbst.« So gibt es hier eine weitere dialektische Verzurrung: Die korrelative Versicherung von Wirklichkeit und Sinnlichkeit des Menschen ist gesellschaftlichen Charakters, und die Gesellschaftlichkeit des Menschen macht seine Sinnlichkeit zu einer wirklichen. Die Verwirklichung der gesellschaftlichen Sinnlichkeit geschieht nie a-historisch. Die Dingwerdung der Natur ist ein Vorgang der Aneignung, der dem geschichtlichen Wandlungsprozess der Produktionsverhältnisse unterworfen ist. In diesen stehend, ist jede Form menschlicher Sinnlichkeit als »Verhalten zum Gegenstand« Aneignung des Gegenstandes – und damit Aneignung menschlicher Wirklichkeit, durch »Betätigung der menschlichen Wirklichkeit« als Sinnlichkeit (MEW Erg. 1/540). Marx als Phänomenologe der Wahrnehmungsweisen in der Warenwelt: In der Geschichtlichkeit der Ausbildung der Sinn- und Sinnenhaftigkeit zeigen sich die menschlichen Vermögen der Sinnlichkeit in ihrem Verhalten zum Gegenstand als die Aneignung desselben. So wird die Sinnenhaftigkeit des Menschen erst in der machtmäßigen Aneignung der Natur (Warenproduktion) ausgebildet. Die »Vergegenständlichung des menschlichen Wesens, sowohl in theoretischer als praktischer Hinsicht, gehörte dazu, sowohl um die Sinne des Menschen menschlich zu machen als um für den ganzen Reichtum des menschlichen und natürlichen Wesens entsprechenden menschlichen Sinn zu schaffen.« (MEW Erg. 1/542) Und in der allgemeinen Form: »Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte.« (MEW Erg. 1/541f.)16

Sinnlichkeit als (technische) Praxis Ist dieser sinnlich tätige, sich quasi selbst erzeugende Produzent ein Subjekt? Auch nach der Analyse, dass die Sinnlichkeit tätiges Produzieren (Arbeit) ist, bleibt es Realität, dass diese Produktion sich unter kapitalistischen Bedingungen vollzieht. Hierzu gehört: Die Entfremdung der Arbeiter vom Eigentum an sich selbst und an den Produktionsmitteln, die Organisation der Arbeit in Form der Arbeitsteilung,

16. Dieser Gedanke der von den gesellschaftlich-technischen Bedingungen abhängigen, historisch relativen Sinnlichkeit begegnete in Benjamins KunstwerkAufsatz, auf das Medium Film hin enggeführt. 275

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die Globalisierung der Märkte, schließlich – but not least! – die Verknüpfung von Arbeit und Naturwissenschaft, in concreto der technische Fortschritt der Produktionsmittel (MEW 25/276f.). Die so produzierten Waren bewegen sich zwischen Verkauf und Kauf, um über die Aneignung von Gebrauchswerten die Bedürfnisbefriedigung zu sichern bzw. zu steigern. Das ist der Zweck der Warenzirkulation. Doch geschieht die eigentliche Verwertung der Waren nicht über sie als solche, sondern sie vermitteln lediglich eine Zirkulation ganz anderer Art: die Geldzirkulation. Und während die Warenzirkulation einen ihr externen Zweck erfüllt, ist »die Zirkulation des Geldes als Kapital […] dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.« (MEW 23/167) Indem Marx die Realisierung des Kapitals als Geldzirkulation beschreibt, erhält das Kapital den Status des Selbstzwecks. Damit trifft Marx das wesentliche Moment der Bestimmung des Subjekts während der Vollendungsphase der Metaphysik im deutschen Idealismus. In der »Wissenschaft der Logik« schreibt Hegel: »Das Subjekt ist der Selbstzweck, der Begriff, welcher an der ihm unterworfenen Objektivität sein Mittel hat; hierdurch ist es als die an und für sich seiende Idee und als das wesentliche Selbständige konstituiert, gegen welches die vorausgesetzte äußerliche Welt nur den Wert eines Negativen und Unselbständigen hat.« (H 6/480)17 Dass also der Arbeiter dem Kapitalisten, diesem rechtlich prinzipiell gleichgestellt, seine Arbeitskraft verkaufen kann, macht ihn keineswegs zum Subjekt – weder im Allgemeinen zum Zugrundeliegenden des gesamten Sachverhaltes, noch im Speziellen zum Subjekt dieser spezifischen Warenzirkulation. Denn die Arbeitskraft ist nicht per se ein Wert oder gar Selbstzweck, sondern entsteht allererst in dem Augenblick, wo sie in die Geldzirkulation als Ware eingefügt wird, d.h. der Mensch seine Arbeitskraft produktiv verausgabt (und den Beweis nicht schuldig bleibt, reproduzierbar zu sein). Hier ist der Ort der je geschichtlichen Entstehung des Produzenten »Mensch«: innerhalb des Rahmens historisch sich und die Sinnlichkeit wandelnder Produktionsbedingungen und -mittel (Technik) – hier, wo er »die Bedeutung einer zu verbrauchenden Ware«18 annimmt. Die marxsche Analyse macht eine quasi-semiologisierte »Erscheinungs«-Welt sichtbar, die für »Ware« syntaktisch jedes Argument, auch »Mensch«, äquivalent einzusetzen weiß und austauschbar hält, außer natürlich »Kapital«. Mit dieser Flexibilität des Systems geht im

17. Des Weiteren noch: (H 6/548ff.). Und zu den entsprechenden Positionen Kants und Fichtes, siehe: Heribert Boeder, Das Vernunft-Gefüge der Moderne, a.a.O., 1988, 259f. 18. Heribert Boeder, Das Vernunft-Gefüge der Moderne, a.a.O., 1988, 263. 276

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KAPITAL UND »MASCHINERIE« (MARX)

Weiteren auch die Wandlung des (sinnlichen) Verhältnisses des tätigen Produzenten (Arbeiter) zu seiner Arbeit einher. Es gilt, die »möglichste Vielseitigkeit der Arbeiter als allgemeines gesellschaftliches Produktionsgesetz anzuerkennen und seiner normalen Verwirklichung die Verhältnisse anzupassen.« Die kapitalistische Produktionsweise erzwingt (und benötigt) »die absolute Disponibilität des Menschen für wechselnde Arbeitserfordernisse; das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum, für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind.« (MEW 23/512)19 Dem entspricht die formale Beschreibungsweise der Menschen und ihrer gesellschaftlichen Beziehungen. Die Menschen begegnen sich mittels des Austauschs von Tauschwerten gleicher (Wert-)Größe als Besitzer dieser Tauschwerte. Diese ökonomische Beziehung macht sie zu scheinbar gleichen (gleichwertigen) Subjekten des Austausches (M Gr/153). Doch geht mit dieser radikalen Prävalenz des Ökonomischen in den Verhältnissen der Menschen die Abstraktion vom Individuellen einher. Der Mensch vermeint sich dann als »Subjekt«, wenn er seine sozialen Verhältnisse formal gemäß der vorgängigen Produktionsbedingungen des Kapitals eingeht (MEW 1/280ff.). So reproduziert sich die Zirkulation des Kapitals, die auf den drei Voraussetzungen Äquivalententausch, Vorhandensein und Verkauf von Arbeitskraft (Menschen) und Interesse an der Kapitalverwertung beruht. Sind diese Voraussetzungen aber erfüllt, kann das Kapital, als Gesamtprozess, die der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegende Größe werden. Sein Zirkulieren hält sich in Gang durch den WarenFetischismus und die Simulation, die drei so genannten Produktionsfaktoren (Arbeit, Boden, Kapital) seien die natürlichen, Wert bildenden Bedingungen der Gesellschaft. Das Kapital wird zum sich selbst verwertenden Wert. Marx: »Als das Subjekt […] ist das Kapital Capital circulant. Capital circulant ist daher zunächst keine besondre Form des Kapitals, sondern es ist das Kapital, in einer weiterentwickelten Bestimmung, als Subjekt der beschriebnen Bewegung, die es selbst als sein eigner Verwertungsprozeß ist.« (M Gr/514) Diese Prozesshaftigkeit des Kapitals ist es nun, die die Gesellschaft wesentlich strukturiert und die individuellen Produzenten so normalisiert, dass sie zu Trägern von Funktionen seiner Reproduktion werden. Ob Kapitalist oder Lohnarbeiter, gleichwie, der Einzelne wird, im Moment seiner eigenen Produktion zur seinen Subjektstatus lediglich simulierenden persona: »Personifikation ökonomischer Kategorien« der Kapital-Verhältnisse –

19. Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, übers. v. Martin Richter, Berlin: Berlin Verlag 1998. Hier kann man die entsprechende Analyse für unsere heutige (Arbeits-)Welt lesen. 277

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

und er bleibt es in der Warenzirkulation. Sozial bleibt er »Geschöpf« der Verhältnisse, »sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.« (MEW 23/16)20 Da zeichnet sich eine weitere Volte der Subjekt-Bestimmung ab, die schon bei der obigen Darstellung der Erscheinungs-Welt-Problematik virulent war: Das durch die gesellschaftlichen Bedingungen simulierte Selbstverständnis des Menschen als Subjekt wird unterlaufen durch den analytischen Nachweis seines Objektstatus. Erst die (marxsche) Analyse lässt den Ort des Menschen als Funktionär des Kapitals sehen, dessen »Geschöpf er sozial bleibt«. Für den nicht-analytischen – Heidegger würde sagen: ontischen – Aufenthalt in der Erscheinungswelt des Produzenten jedoch stellt dieses Objekt sich als Subjekt dar – als Subjekt, das (sinnlich) produziert, verteilt, konsumiert. Doch diese Perspektive bleibt eine eingeschränkte, denn die historisch sich je verschiebenden Schranken, die das Selbstverständnis konturieren, werden durch die Produktionsbedingungen des Kapitals und durch die aus der technischen Fortentwicklung der Produktionsmittel hervorgehenden Produkte gesetzt. Das Kapital reproduziert sich als »automatisches Subjekt« blind (MEW 23/169). Auf die Produktion bezogen liest sich das so: Die stets gegebene Notwendigkeit, sich arbeitend und produktiv die Natur anzueignen, macht den Menschen als »Gattungswesen« (MEW Erg. 1/515) zum Subjekt dieses Produzierens. Doch die konkreten gesellschaftlichen Produktionsbedingungen des Kapitals – die das Subjekt als Gattungswesen allererst produziert – konstituieren die Entfremdung und lassen den (nun:) Lohnarbeiter zum Objekt des seinem Tun zugrunde liegenden Kapitals werden, zum nurmehr »physische[n] Subjekt«.21 Marx: »Nach doppelte[r] Seite hin wird der Arbeiter also ein Knecht seines Gegenstandes, erstens, daß er einen Gegenstand der Arbeit, d.h., daß er Arbeit erhält, und zweitens, daß er Subsistenzmittel erhält. Erstens also, daß er als Arbeiter, und zweitens, daß er als physisches Subjekt existieren kann. Die Spitze dieser Knechtschaft ist, daß er nur mehr als Arbeiter sich als physisches Subjekt erhalten kann und nur mehr als physisches Subjekt Arbeiter ist.« (MEW Erg. 1/513) Ob etwas oder jemand Subjekt ist oder nicht, hängt mithin von der Weise ab, wie über den jeweiligen

20. An dieser Stelle des Vorwortes des »Kapital« beweist Marx, entgegen mancher Marx-Exegese, einmal mehr sein analytisches Interesse, das mit dem Aufbau des Feindbildes »Kapitalist« ebenso wenig zu tun hat wie der hegelsche Begriff »Subjekt« mit einem Menschen aus Fleisch und Blut. 21. Dieser Sachverhalt beschreibt weder ein zeitliches noch ein Kausalverhältnis, sondern stellt die zwei möglichen Beschreibungsmodi ein und derselben Situation dar. Das wird auch an der Differenz der Kategorien »Gattungswesen« und »Lohnarbeiter« deutlich. 278

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KAPITAL UND »MASCHINERIE« (MARX)

Sachverhalt ausgesagt wird. »Subjekt« nicht zu definieren, wie Marx es tut, ist nicht nur ein methodischer Kniff, der es Marx erlaubt, zwischen Erscheinungs- und analytischer Ebene zu wechseln. Entscheidender ist die damit verbundene Sichtweise, dass das »Subjekt« erst durch die Möglichkeiten, die Bedingungen des gesellschaftlichen Seins der Menschen zu erhellen, seine Bedeutung erhält, und diese Bedeutung nicht schon durch einen vordefinierten »Subjekt«-Begriff bezeichnet werden kann. Sachlich aber bleibt die folgende Korrelation vorbehaltlich: Der Mensch ist anscheinend das Zugrundeliegende (Subjekt) seiner Handlungszwecke, und bleibt doch auch wiederum durch die Resultate der eigenen Produktionen bestimmt, die so als das ihm Zugrundeliegende fungieren. Die Produktionsbedingungen und gesellschaftlichen Verhältnisse werden gerade dadurch reproduziert, dass die Menschen sich als Subjekte verstehen und thematisieren. Doch zeigte ja die Analyse, dass sie sich gerade darin aber missverstehen und das Selbstverständnis der Menschen als Subjekte ein Resultat der Bewegung des Kapitals (Produktion, Distribution, Konsumtion) ist. Im Zusammenhang des Fetischcharakters der Ware und deren veränderlicher Wertgröße pointiert Marx die Position der »Austauschenden« so: »Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.« (MEW 23/89) Die quasi-unendliche Reziprozität des Warenaustauschs erhält die Abhängigkeit der einzelnen Austauschenden von den je anderen und führt zur nicht-gewussten Orientierung der Einzelnen an den gesamtgesellschaftlichen Zwecken – das individuelle, anscheinend subjektive Produzieren verkommt so unbemerkt zum Mittel der Reproduktion der Produktionsbedingungen gesamtgesellschaftlicher Zwecke des Kapitals als dem eigentlichen Subjekt.22 Die Eigenart der Sinnlichkeit, tätiges Produzieren (Arbeit) bzw. »menschliche Tätigkeit, Praxis« zu sein, und die polysemische Verortung des Subjekts, sowohl als Bewegung des Kapitals als auch als (falsches) Selbstverständnis des Produzenten, entwickeln im Ensemble eine fortschreitende Problematik angesichts des technischen Fortschritts der Produktionsmittel. Schon im Rückblick auf die neuzeitlichen Formen gesellschaftlicher Produktionsprozesse wird das Neue und Besondere der modernen »Maschinerie« und deren Einfluss auf die Bestimmung des Menschen

22. Diesen Sachverhalt in die ökonomischen Momente des Themas einzubetten, widmet sich ausführlich: Friedhelm Guttandin, Genese und Kritik des Subjektbegriffs. Zur Selbstthematisierung der Menschen als Subjekte, Marburg: Guttandin und Hoppe 1980, hier: 316-352. 279

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

deutlich: »Die buntscheckigen, scheinbar zusammenhangslosen und verknöcherten Gestalten des gesellschaftlichen Produktionsprozesses lösten sich auf in bewusst planmäßige und je nach dem bezweckten Nutzeffekt systematisch besonderte Anwendungen der Naturwissenschaft. Die Technologie entdeckte ebenso die wenigen großen Grundformen der Bewegung, worin alles produktive Tun des menschlichen Körpers, trotz aller Mannigfaltigkeit der angewandten Instrumente, notwendig vorgeht, ganz so wie die Mechanik durch die größte Komplikation der Maschinerie sich über die beständige Wiederholung der einfachen mechanischen Potenzen nicht täuschen läßt. Die moderne Industrie betrachtet und behandelt die vorhandne Form eines Produktionsprozesses nie als definitiv. Ihre technische Basis ist daher revolutionär, während die aller früheren Produktionsweisen wesentlich konservativ war. Durch Maschinerie, chemische Prozesse und andre Methoden wälzt sie beständig mit der technischen Grundlage der Produktion die Funktionen der Arbeiter und die gesellschaftlichen Kombinationen des Arbeitsprozesses um.« (MEW 23/510f.) Und diese »Umwälzungen« betreffen nicht nur die rein empirischen Bedingungen des Produzierens, sondern sind ebenso wirkmächtig, was das Selbst(miss)verständnis der Menschen (als Subjekte) anbelangt. Angesichts der massenhaften Kooperation der Arbeiter scheint deren Kontrolle über das »System produktiver Maschinerie« noch bedenkenlos möglich zu sein, da in dieser Beschreibung die Produzenten es lediglich mit Mitteln vergegenständlichter Arbeit zu tun haben. Die Produzenten bleiben, so gesehen, »Subjekt«, der mechanische Automat »Objekt« (MEW 23/441f.). Doch gerade die Objektivität dieses »ungeheuren« Dings, dass nämlich dieser Automat im Einverständnis aller seiner Teile (»Organe«) in der Regel23 ein perfektes Produkt vorlegt, ordnet die Arbeiter diesem Vorgang des automatischen Inhumanen als bloße Anhängsel »der zentralen Bewegungskraft« und Handlanger unter (MEW 23/442). Während die erste Beschreibung noch für jede historische maschinelle Produktionsbedingung gilt, trifft die zweite die Eigenart des kapitalistischen, modernen Produzierens. Es ist die Subjektivierung der Automaten (MEW 23/442), das »System der Maschinerie« (MEW 23/ 401). Die Maschinerie ist, so gesehen, nun nicht mehr ein Mittel oder Medium des Produzenten. Sie ist nun selbst der »Virtuose« (M Gr/584). Dabei bleibt es nicht bei der unmittelbaren Umprägung der Sinnlichkeit, die sich durch die Automatisierung ergibt. Von mittelbarem Einfluss ist auch die hinter der Technologie stehende (mathematisch-na-

23. Paul Virilio wird es sein, der die kulturelle Bedeutung der Ausnahmen von der Regel analysiert: die technischen Katastrophen. 280

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KAPITAL UND »MASCHINERIE« (MARX)

turwissenschaftliche) Wissenschaft. »Die Wissenschaft, die die unbelebten Glieder der Maschine zwingt durch ihre Konstruktion zweckgemäß als Automat zu wirken, existiert nicht im Bewußtsein des Arbeiters, sondern wirkt durch die Maschinerie als fremde Macht auf ihn, als Macht der Maschine selbst.« (M Gr/584)24 Der ökonomische Hintergrund dessen – um auf diesen nochmals mit anderer Betonung zurückzukommen – ist die Aufnahme der Arbeitsmittel in den Produktionsprozess des Kapitals. Durch die Erhöhung der Produktivkraft der in Zeit gemessenen Arbeit (z.B. durch Einsatz neuer Maschinen) wird die Differenz zwischen dem »gesellschaftlichen« und »individuellen« Wert der Ware erweitert, was in der ökonomischen Konkurrenzsituation einen Produktionsvorteil und eine höhere Gewinnmarge des jeweiligen Kapitalisten gegenüber der Konkurrenz einbringt. Diese wird mit ihrer Technisierung so bald als möglich nachziehen, und der Prozess beginnt von neuem – immer abhängig von den Möglichkeiten technischer Innovation (MEW 23/429). Dazu muss regelmäßig ein »Teil des Kapitals, der früher variabel war, d.h. sich in lebendige Arbeitskraft umsetzte, in Maschinerie, also in konstantes Kapital, das keinen Mehrwert produziert«, umgewandelt werden (MEW 23/429). So wird auch nochmals die Selbstzweckhaftigkeit des Kapitals deutlich. Mit der Vergrößerung des konstanten Kapitalteils (Maschinerie) und der einhergehenden Verkleinerung des variablen wird eine Steigerung der Mehrwertrate erzeugt (MEW 23/429). Das Subjekt »Kapital« wird sich zur eigenen Voraussetzung und damit als Produktionsquelle des eigenen Produktes: produktives Kapital.25 Die Resultate dieses Vorgangs der gemeinsamen Bewegung aus Produktion und Zirkulation wurden bereits mehrfach geschildert und sind unveräußerbare Kennzeichen der modernen Welt. Der rapide technische Fortschritt der Moderne erbringt einerseits als Steigerung der Produktivität der Arbeit die Verkürzung der Produktionszeit (MEW 25/80f.) – und das Zeitmaß ist hier das Maß aller Dinge: Zeit ist Geld. Andererseits kann die Zirkulationszeit verkürzt werden, indem »verbesserte Kommunikationen« hervorgebracht werden – Marx nennt hier die Eisenbahn, die regelmäßig verkehrende Dampferlinie und aber auch schon, dass »der ganze

24. Mit dem Terminus des »Vorstellend-rechnenden Denkens« wird Martin Heidegger sich dieses Gedankens der durch die Technik ›gestellten‹ Macht annehmen. Genaueres zu Heidegger im unten folgenden Kapitel. 25. An anderer Stelle des »Kapital« führt Marx diesen Gedanken weiter bis zur denkbaren Aufhebung der Selbstverwertung des Kapitals und möglichen Krisensituationen. Dazu den Abschnitt »Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate«. Hierzu auch nochmals: Guttandin, a.a.O., 1980, hier: 353-362. 281

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Erdball umspannt [wird] von Telegraphendrähten.« (MEW 25/81) Die Beschleunigung (des Kapitals) betrifft insofern alle Lebensbereiche26 und stellt sich im Rahmen der marxschen Perspektive als Ökonomisierung des gesamten (gesellschaftlichen) Seins dar (MEW 25/89f. u. 93). »Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen. Die Arbeitsmittel sind nicht nur Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird.« Und unter diesen Arbeitsmitteln sind die »mechanischen« (Technik) die entscheidenden. (MEW 23/194f.) Sie entwickeln sich über mannigfaltige Metamorphosen (technischer Fortschritt) weiter, bis zu jener Form der Automation und der Vernetzung der Produktionsmittel, wo diese »den Arbeiter anwenden« (MEW 23/ 329). Die »Schlußgestalt« dieses historisch von der Manufaktur herkommenden Produktionsprozesses ist »ein Produktionsmechanismus, dessen Organe Menschen sind.« (MEW 23/358)27 Und hier von Organen zu sprechen, verweist auch auf das, was mit dem Körper des Einzelnen unter diesen Bedingungen geschieht: Das ist der Eingriff in die Sinnlichkeit der Selbstwahrnehmung! Die Eingriffe »verwandeln ihn in ihr naturgemäß wirkendes Organ, während der Zusammenhang des Gesamtmechanismus ihn zwingt, mit der Regelmäßigkeit eines Maschinenteils zu wirken.« (MEW 23/370) Mit dieser Produktionsform der extremen Teilung der Funktionen wird die Existenz des Kapitals gesichert, sie »verkrüppelt den Arbeiter in eine Abnormität, indem sie sein Detailgeschick treibhausmäßig fördert durch Unterdrückung einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen […]. Die besondren Teilarbeiten werden nicht nur unter verschiedne Individuen verteilt, sondern das Individuum selbst wird geteilt, in das automatische Triebwerk einer Teilarbeit verwandelt und die abgeschmackte Fabel des Menenius Agrippa verwirklicht, die einen Menschen als bloßes Fragment seines eigenen Körpers darstellt.« (MEW 23/381f.)28 Statt dass die Produktionsmittel vom Arbeiter »als stoffliche Elemente seiner produktiven Tätigkeit [Sinnlichkeit; T.S.] verzehrt […] werden, verzehren sie ihn als Ferment ihres eigenen Lebenspro-

26. Die gegenseitige Beeinflussung von Zeit und Kommunikation wird vor allem Virilio analysieren. 27. Was hier historische Analyse ist, wird in den Matrix-Filmen als technoide Horrorvision veranschaulicht. 28. Hier an die kamper-wulfschen Motive des Verlustes der Sinnlichkeit und der Frage nach der Wiederkehr des Körpers zu denken, oder auch an die »Fraktalität« der Sinnlichkeit (Baudrillard), liegt nicht sehr fern. Doch für einen abschließenden Gedanken nochmals zurück zu Marx. 282

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KAPITAL UND »MASCHINERIE« (MARX)

zesses, und der Lebensprozeß des Kapitals besteht nur in seiner Bewegung als sich selbst verwertender Wert [Subjekt; T.S.].« (MEW 23/329)29 Die Äußerungsform der Sinnlichkeit des Produzenten als Welt-Erschaffung und -Wahrnehmung wird nun grundlegend vermittelt durch die Technik, deren produktiver »Lebensprozeß« die Bewegung des Subjekts »Kapital« ist. Die Emanzipation der Technik von den Schranken menschlicher Möglichkeiten ist nicht mehr zu befürchten, weil längst Wirklichkeit.30

29. Mit dem Akzent auf den Arbeitsbedingungen schreibt Marx ganz ähnlich an anderer Stelle: »Aller kapitalistischen Produktion […] ist es gemeinsam, daß nicht der Arbeiter die Arbeitsbedingung, sondern umgekehrt die Arbeitsbedingung den Arbeiter anwendet, aber erst mit der Maschinerie erhält diese Verkehrung technisch handgreifliche Wirklichkeit. Durch seine Verwandlung in einen Automaten tritt das Arbeitsmittel während des Arbeitsprozesses selbst dem Arbeiter als Kapital gegenüber, als tote Arbeit, welche die lebendige Arbeitskraft beherrscht und aussaugt.« (MEW 23/446) 30. Hierzu Marx für den Stand der Technik seiner Zeit: (MEW 23/391-407). Und ebenda auch der Satz: »Sobald die Arbeitsmaschine alle zur Bearbeitung des Rohstoffs nötigen Bewegungen ohne menschliche Beihilfe verrichtet und nur noch menschlicher Nachhilfe bedarf, haben wir ein automatisches System der Maschinerie, das indes beständiger Ausarbeitung im Detail fähig ist.« (MEW 23/402) 283

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) vakat 284.p 29190157522

DER AUGENBLICK DES MENSCHEN ALS SCHAFFENDER (NIETZSCHE)

Der Augenblick des Menschen als Schaffender (Nietzsche) Give me one moment in time When I’m more than I thought I could be When all of my dreams are a heartbeat away And the answers are all up to me Give me one moment in time When I’m racing with destiny Then in that one moment of time I will feel eternity. Whitney Houston »Frei steht grossen Seelen auch jetzt noch die Erde. Leer sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame, um die der Geruch stiller Meere weht. Frei steht noch grossen Seelen ein freies Leben. Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine Armuth!« (N 4/63) Die moderne Gegenwart Nietzsches ist ein »Nichtwissen-wo-aus-noch-ein« (N 6/152) und ihre Besessenheit ist mindestens zweifach: der Mensch, besser: die Menschheit steht im Bann sowohl metaphysischer Residuen (Nihilismus) als auch lebenspraktischer Bedingungen und Phänomene moderner Massenexistenz (»Primat der Ökonomie«). Die »grossen Seelen« zeichnen sich aus, indem sie hierauf verzichten. Dieser Verzicht wiederum ist nicht ex negativo als schopenhauerscher Appell an die Askesefähigkeit gedacht, sondern meint gerade positional die produktive Macht des Menschen: das stetige Entspringen des Ursprungs im kreativen Sich-selbst-Überschreiten (»vis creativa«). Das nietzscheanische Lob der »kleine[n] Armuth«, dass wer wenig besitze, um so weniger besessen werde, meint so also auch diese beiden Aspekte: (1) die Absage an den ökonomisch-technischen Furor und (2) die Enthaltung von metaphysischen Wahrheiten gemäß des sich selbst entspringenden Ursprungs. Die theoretische Haltung Nietzsches ist der marxschen an dieser Stelle nahezu konträr. Denn hatte Marx seine ökonomischen Analysen als Auseinandersetzung mit der »Vulgärökonomie« motiviert und als »Kritik der politischen Ökonomie« geschrieben und verstanden, nimmt 285

2003-08-14 16-14-47 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S. 285-307) T03_02 augenblick.p 29190157546

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Nietzsche die ökonomischen Verhältnisse ganz a-wissenschaftlich ins Visier, eher phänomenal; und als Ausdruck einer Entfremdung, die er, Nietzsche, an einer anderen Linie der Geschichte extrapoliert. Das ist seine Nihilismus-Genealogie, die ihn von Platon bis zu seiner Gegenwart führt und ihm eine andere als die ›überlieferte‹ Geschichte des schaffenden Subjekts eröffnen wird. Für seine Gegenwart bedeutet dies – und da ist er ein Kind der Moderne und des 19. Jahrhunderts – das Subjekt von seiner Produktivität her zu denken. Die darf nun aber keine weitere Figur der Geschichte der europäischen ratio sein, sondern speist sich aus dem Gedanken eines leibhaft-sinnlichen, sich selbst entspringenden (künstlerischen) Schaffens, der Kreativität. Die Kunst wird der neue Ort von Erkenntnis. Erst ihr Schein des Scheins gibt den Blick auf den »›wahren‹« Zustand der Welt frei. Bei Nietzsche erfährt der moderne Produktionsbegriffs vor allem – und erstmals in dieser Deutlichkeit – ästhetische Prägung. Der Mensch dieser nietzscheanischen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat den Sinn der subjekthaften Existenz allererst (leibhaft-sinnlich) zu produzieren. So rückt der Vorgang nahe an die Frage nach Sprache und Wahrheit der Welt und beider Simulationsmöglichkeit heran. Letztlich wird zu ersehen sein, wie auch das prozessual gedachte, leibhaft-sinnliche Subjekt von einem Machtdispositiv (Foucault) durchzogen wird.

Die Technizität der Epoche Zu fragen, wo denn heute die freien Geister seien (N 11/590), zielt auf die Frage nach den Möglichkeiten und dem »Wohin?« der Moderne. Wohl muss man sehen, dass die freien Geister noch gar nicht sind, da hierzu die Überwindung des Nihilismus die noch nicht eingelöste Bedingung ist. Der alltagspraktische Grund hierfür liegt in der gegenwärtigen Verfasstheit der »Cultur«: »Das Leben krank an diesem entmenschten Räderwerk und Mechanismus, an der ›Unpersönlichkeit‹ des Arbeiters, an der falschen Ökonomie der ›Theilung der Arbeit‹.« (N 6/316) Hier werden nochmals, allerdings nicht systematisiert, die diversen Formen der auch von Marx analysierten Entfremdung genannt: Entfremdung vom Produktionsprozess, vom Eigentum an den Produktionsmitteln, vom Besitz an der eigenen Arbeitskraft. Was Marx die »verkehrende Macht« (MEW Erg. 1/566) des Geldes nannte, war bei ihm in ein System der ökonomischen Analyse der modernen Produktionsgesellschaft eingebettet und ließ von daher in dieser Perspektive jene verheerenden Auswirkungen sehen. Marx: »Da das Geld als der existierende und sich betätigende Begriff des Wertes alle Dinge verwechselt, vertauscht, so ist es die allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt, die Verwechslung und Ver286

2003-08-14 16-14-47 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S. 285-307) T03_02 augenblick.p 29190157546

DER AUGENBLICK DES MENSCHEN ALS SCHAFFENDER (NIETZSCHE)

tauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten.« (MEW Erg. 1/566) Und auch wenn Nietzsche nicht quasi-szientifisch wie Marx das Interesse einer systematischen Analyse der Ökonomie verfolgt, trifft er doch seinen Punkt: Die Auswirkungen der Technisierung und Ökonomisierung auf den modernen Menschen. Das zeigt er in Hinblick (1) auf die Verhaltensweisen und Denkgewohnheiten der Menschen und auch (2) auf ihre Relationen zu den Maschinen. (1) »Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirtschafts-Gesammtverwaltung der Erde, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner ›angepaßten‹ Rädern; als ein immer wachsendes Überflüssig-werden aller dominirenden und commandirenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte, Minimal-Werthe darstellen.« (N 12/462f.) Die Einbeziehung der »Werthe« in die Maschinerie zeichnet den Gedanken Nietzsches aus – und ihre »Umwertung« werden sie noch zu gewärtigen haben. Dass sie in die Darstellung der modernen, auf industrieller Produktionsweise beruhenden Gesellschaft einbezogen werden, zeigt, dass der Mensch im »MaschinenZeitalter« (N 2/674) lernt, die Maschine als neue Existenzform anzuerkennen und als »Lehrerin« zu achten (N 2/653). (2) »Die Maschine ist unpersönlich, sie entzieht dem Stück Arbeit seinen Stolz, sein individuelles Gutes und Fehlerhaftes, was an jeder Nicht-Maschinenarbeit klebt, – also ein Bisschen Humanität. Früher war alles Kaufen von Handwerkern ein Auszeichnen von Personen, mit deren Abzeichen man sich umgab: der Hausrath und die Kleidung wurde dergestalt zur Symbolik gegenseitiger Werthschätzung und persönlicher Zusammengehörigkeit, während wir jetzt nur inmitten anonymen und unpersönlichen Sclaventhums zu leben scheinen.« (N 2/ 682f.) Die Maschinisierung verändert das Verhältnis der Menschen untereinander und deren Wertschätzung. Und die Folgen der mithin gemachten Erfindungen sind nicht abzuschätzen (N 2/674). Durch den »ökonomische[n] Optimismus« (N 12/463) reduziert sich der menschliche Austausch auf die taxierbaren Relationen, was eine Abstumpfung gegenüber den ehemals so hehren Zielen ›Individualität‹ und ›Gleichheit‹ zur Folge hat. So wird der Mensch »geringer« (N 12/463) und etwaige (Schaffens-)Ziele verlieren sich. Das menschliche Verhalten und auch die entsprechende Verortung des Menschen als Subjekt reduzieren sich auf das »anonyme[ ] und unpersönliche[ ] Sclaventhum[ ]«, dessen zeitgemäßer Begriff die ›Masse‹ ist. Das ist der aktuelle Nihilismus, reflektiert im polierten Metall der Maschinen. »Die Erscheinung des modernen Menschen ist ganz und gar Schein geworden.« (N 1/457) Hier laufen die Linien zusammen: Die kritische Charakterisierung der Moderne erhellt sich aus den technischen und ökonomischen (Macht-)Bedingungen der Gesellschaft und zeitigt im Individuum das 287

2003-08-14 16-14-47 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S. 285-307) T03_02 augenblick.p 29190157546

»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

Empfinden der Auflösung seiner selbst in der Masse. Die Selbstdeutung des Menschen als »Subjekt« stellt sich nicht ein, da (bislang) die Wert- und Willensmaßstäbe eines historisch sich je wandelnden ›metaphysischen Überbaus‹ als Zugrundeliegendes – das bei Marx das Kapital war – gelten. Insofern ist es »unzeitgemäß«, wenn Nietzsche dem Menschen zuruft: »Das bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst, begehrst.« (N 1/338) Aber wer bist du dann? Du bist das alles doch, »was du jetzt thust, meinst, begehrst«, aber nur immer im Schein des vorgängigen nihilistischen Dispositivs, nie aber als sich-selbst-schaffendes Subjekt. Um das werden zu können, bedarf es des genealogischen Durchgangs durch den Nihilismus und der Umwertung aller Werte. Also, scheinbar paradox, aber modern: Wir »wollen Die werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!« (N 3/563)

Nietzsches »Ursprung« Schopenhauers Subjekt als causa prima aller Vorstellungen wird von Nietzsche zurückgewiesen und zum Oberflächenphänomen, zum »Wortspiel« reduziert (N 6/91). Denn im Vollzug der Genealogie werden gerade die Instanzen unsicher, mit deren Hilfe man bis dato annahm, durch Ursächlichkeiten bedingte Zusammenhänge (in) der Welt feststellen zu können: die Instanzen des »Willens«, des »Bewußtseins« und des »Subjekts«. Daran schließt sich eine Kritik der Sprache als »Lüge im aussermoralischen Sinne« geradezu nahtlos an. Nietzsche fragt rhetorisch und antwortet apodiktisch: Wie »steht es mit jenen Conventionen der Sprache? Sind sie vielleicht Erzeugnisse der Erkenntniss, des Wahrheitssinnes: decken sich die Bezeichnungen und die Dinge? Ist die Sprache der adäquate Ausdruck aller Realitäten? Nur durch Vergesslichkeit kann der Mensch je dazu kommen zu wähnen: er besitze eine Wahrheit in dem eben bezeichneten Grade. Wenn er sich nicht mit der Wahrheit in der Form der Tautologie d.h. mit leeren Hülsen begnügen will, so wird er ewig Illusionen für Wahrheiten einhandeln. Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. Von dem Nervenreiz aber weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde.« (N 1/878) Im Horizont dieser Sprachauffassung besteht keine Hoffnung mehr darauf, hinter der »Lüge«, dem Schleier, der unsere Welt ist, hinter dieser Simulation aus Sprache, die Wahrheit noch entdecken zu können. Und hier würde auch Schopenhauer noch zustimmen und die Welt »Wille und Vorstellung« nennen. Sein Ursprung bleibt ein entspringendes Anderes, das bei ihm letztlich der Wille ist. So kann sich die Dichotomie von Wahrheit und Schein noch aufrechterhalten und 288

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DER AUGENBLICK DES MENSCHEN ALS SCHAFFENDER (NIETZSCHE)

der vermeintliche Schein, der Schleier der Maya wird zur Wahrheit (Vorstellung), generiert aus dem Willen. Nicht so für Nietzsche. Seine Umwertung besteht nicht in der Entscheidung für eine Seite. Bei ihm bleiben keine Seiten zweier Welten, von denen die eine wohl wahr und die andere Schein ist, sondern es bleibt die eine Welt, die sie ist, das »Leben« – jenseits der Opposition. Um die spezifische Ursprünglichkeit des »Lebens« bei Nietzsche zu verstehen, also sowohl seine ursprüngliche Produktivität als auch seine Entzüglichkeit, ist es sinnvoll, an den Gedankengang Hegels zu erinnern. Die Analyse der »Sinnlichkeit« zu Beginn der »Phänomenologie des Geistes« hatte noch auf die Gebundenheit der Zeitlichkeit des (sinnlichen) Bewusstseins aufmerksam gemacht. Die Wahrheit eines in der Nacht niedergeschriebenen Satzes, der der Beobachtung Ausdruck verleiht, dass es Nacht sei, ist, gelesen am folgenden Mittag, »schal geworden« (H 3/84). Das Ende der »Phänomenologie« weiß dann im »absoluten Wissen«, dass die Zeit der Begriff selbst ist, der »da ist und als leere Anschauung sich dem Bewußtsein vorstellt« (H 3/584). Die Zeitlichkeit des Begriffs – seine Bindung an Formen des Bewusstseins – wird so lange erhalten bleiben, wie nicht der reine Begriff »erfaßt« und entwickelt worden ist (H 3/584). Eine Aufgabe, die die »Wissenschaft der Logik« übernehmen wird. Hier, in der »Idee des absoluten Erkennens«, ist der Begriff zu ihrem eigenen Inhalt geworden. Diese Idee »ist selbst der reine Begriff, der sich zum Gegenstande hat und der, indem er sich als Gegenstand [habend] die Totalität seiner Bestimmungen durchläuft, sich zum Ganzen seiner Realität, zum System der Wissenschaft ausbildet und damit schließt, dies Begreifen seiner selbst zu erfassen, somit seine Stellung als Inhalt und Gegenstand aufzuheben und den Begriff der Wissenschaft zu erkennen.« (H 6/572) Mit diesem Durchgang zeigt sich, dass Hegels Projekt nicht die Klärung eines Ursprungs war, sondern sein Denkweg sich auf einem und durch einen Grund entfaltete, der selbst, im Schluss des Weges, sich zum vermittelt-vermittelnden geworden war: die auf den Begriff gebrachte, sich selbst denkende und wissende Vernunft, auseinander gelegt als System der Wissenschaften. Sie ist die realisierte Idee, die zu begreifen verlangte, dass der Mensch sich als Vernunftwesen von sich unterscheide, um jene Realisierung bis auf den Grund zu verfolgen.1 Wie gesehen gehört es zur Gründungsbewegung der Moderne, dieses Denken als solches in Frage zu stellen. Die metaphysisch bestimmte poiesis jenes Grundes steht mithin nicht mehr als billige Referenz zur Verfügung. Die Bestimmung des ursprünglichen Ortes der nun weltlichen (menschlichen?) Produktivität wirft sich der Moderne als zentrales Problem auf. Nur konsequent daher, dass Nietzsche sei-

1. Hierzu Boeder, a.a.O. 1980, 27. 289

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

ner »Genealogie der Moral« eine »Vorrede« schreibt, in der er dieses Problem zu bedenken gibt: »Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst: das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht, – wie sollte es geschehn, dass wir eines Tags uns fänden? […] Wir bleiben uns eben nothwendig fremd, wir verstehn uns nicht, wir müssen uns verwechseln, für uns heisst der Satz in alle Ewigkeit ›Jeder ist sich selbst der Fernste‹, – für uns sind wir keine ›Erkennenden‹ […].« (N 5/247f.) Wir Erkennenden sind mit uns nicht an einem Ort2, von dem aus wir den Ursprung erkennen, beschreiben, verstehen könnten. Oder anders gesagt: Wir beschreiben ihn ständig, z.B. in Subjekt-Objekt-Verhältnissen, aber genau deshalb ist er nie da, sondern immer, im »aussermoralischen Sinne«, (sprachlicher) Schein. Wir sagen den Ursprung, aber wir wissen ihn nicht. Wir vermeinen, ihn als Subjekte bestimmen zu können, erfahren aber damit zugleich unseren Objektstatus, da das ursprünglich entspringende unseres Ursprungs uneinsichtig bleibt. Es ist diese Differenz zwischen Sein und Denken, die für die Moderne konstitutiv ist. Sie trägt sich auch in Nietzsches »Leben« aus – was in der Folge genauer zu sehen sein wird.

»Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde« Dem »Leben« nachzudenken – etwas anderes bleibt nicht – ist die Weisheit der Stunde. Dieser Vorgang ist eins mit dem Sich-Entfernen von den historisch und akademisch abgesicherten Wegen der Wissenschaften, d.h. von deren Logik.3 Es ist die Suche nach dem Ursprung,

2. Und im Übrigen sind wir mit uns als »Ich« auch nicht ›zu einer Zeit‹. Das wird sich weiter unten erhellen, wenn es im sechsten Abschnitt der »Geschichte eines Irrthums« um den mittäglichen Augenblick geht und darum, welche Rolle dieser für die Verfassung des Subjekts spielt. Nur so viel für den Moment: Wir sind uns stets »hinterdrein«. Nietzsche schreibt an der eben zitierten Stelle aus der »Vorrede« der »Genealogie«: »Was das Leben sonst, die sogenannten ›Erlebnisse‹ angeht, – wer von uns hat dafür auch nur Ernst genug? Oder Zeit genug? Bei solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht ›bei der Sache‹: wir haben eben unser Herz nicht dort – und nicht einmal unser Ohr! Vielmehr wie ein Göttlich-Zerstreuter und In-sich-Versenkter, dem die Glocke eben mit aller Macht ihre zwölf Schläge des Mittags in’s Ohr gedröhnt hat, mit einem Male aufwacht und sich fragt: ›was hat es da eigentlich geschlagen?‹ so reiben auch wir uns mitunter hinterdrein die Ohren und fragen, ganz erstaunt, ganz betreten ›was haben wir da eigentlich erlebt? mehr noch: wer sind wir eigentlich?‹ und zählen nach, hinterdrein, wie gesagt, alle die zitternden zwölf Glockenschläge unsres Erlebnisses, unsres Lebens, unsres Seins – ach! Und verzählen uns dabei […].« (N 5/247) 3. Was nicht heißt, dass Nietzsche für Irrationalismus oder Wissenschaftsfeindlichkeit plädiert hätte. 290

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im Leben. Entfernung von der Wissenschaft? So gibt Nietzsche im Rückblick die eigene »Aufgabe« an als »die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens […].« (N 1/ 14) Für Nietzsches sprachkritische Optik ist hierzu die selbst gegebene (und berühmt gewordene) »aussermoralische« Antwort auf die Frage »Was ist also Wahrheit?« unerlässlich (N 1/880f.). Die obigen Hinweise auf die »Conventionen der Sprache« und die Hürden des »Erkennenden« mögen dazu für den vorliegenden Kontext genügt haben. Für Nietzsches historisch-genealogische Optik aber stellt sich wiederum eine neue, andere Frage, die einer eigenen Beantwortung bedarf. Nämlich: »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde.« (N 6/80) Oder ist das gar keine Frage, sondern vielmehr die Ankündigung der Schilderung und Analyse einer »Geschichte eines Irrthums« (N 6/ 80)? Gleichviel, »Irrthum« oder Schein kann hier je nur die Verstellung der »›wahren Welt‹« und des Lebens durch historische Figuren des Nihilismus sein. Daher ist die nietzscheanische ›Welt‹ das »Ende des längsten Irrthums« (N 6/81): Denn sie, die Welt des 19. Jahrhunderts, hat durch die Einsicht in ihre Scheinhaftigkeit nun die Voraussetzung zu verstehen, was »neunzehn Jahrhunderte im Grunde mißverstanden worden ist – das Christenthum« (N 13/157). Das »im Grunde« deutet an, dass es Nietzsche gerade nicht nur um die Schein-Heiligkeit des Christentums geht, sondern ebenso sehr um dessen historische Vor- und Nachformen. Die werden in der Folge nochmals in Erinnerung zu rufen sein, da sie zusammengenommen als Geschichte des Nihilismus den Schlüssel zu Nietzsches leiblich-sinnlichem, selbst-produktivem Subjekt bilden. So lautet Nietzsches Zusammenfassung der Geschichte der Formen des Nihilismus (N 6/80f.)4: »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums. 1. Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie. (Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes ›ich, Plato, bin die Wahrheit‹.) 2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften (›für den Sünder, der Busse thut‹). (Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfasslicher, – sie wird Weib, sie wird christlich …)

4. Zum Folgenden sei besonders beachtet: Scheier a.a.O., 1985, 22-29; und: Heidemarie Oehm, Subjektivität und Gattungsform im Expressionismus, München: Fink 1993, 74-124. 291

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3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ. (Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.) 4. Die wahre Welt – unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten? […] (Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.) 5. Die ›wahre Welt‹ – eine Idee, die zu Nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend, – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab! (Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröthe Plato’s; Teufelslärm aller freien Geister.) 6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? […] Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft! (Mittag; Augenblick des kürzesten Schatten; Ende des längsten Irrthums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)« (1) Im ersten Kapitel dieser Kurzgeschichte »eines Irrthums« bleibt die wahre Welt noch erreichbar. Zumindest für denjenigen, der die Potenzialität des Menschen ausschöpft, gemäß der platonischen Ontologie an der immateriellen, nicht-sinnlichen Welt der idea teilzuhaben. Was aber ist diese Welt? Sie wird durch geordneten Vernunftgebrauch erschlossen und eröffnet sich als Welt aus unwandelbaren und absolut gültigen Urbildern. Als solche ist sie dem »Weisen« zugänglich und führt aber zudem ein Wertverhältnis mit sich, das sie als Zielvorgabe demjenigen vorgibt, der es einhergehend mit der Orientierung am Intelligiblen versteht, in ihr den Ort der Sittlichkeit zu finden (der »Fromme« und der »Tugendhafte«). So wird diese Welt der Ideen zum eigentlich Erstrebenswerten. Und wer das mit Nietzsches »Geburt der Tragödie« hört, vernimmt hier erstmals den ›sokratischen Geist‹. Seine Rationalität wird nun die eigentlich wahre Welt. Die andere Seite des Dualismus, die Welt der Erscheinungen, der Körper und des Sinnlichen, stellt sich nurmehr als Abbild dar. Ihr Status ist der des Scheins. Er bemisst sich daran, was – jetzt wieder von der anderen Seite gesehen – für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften als Welt je da bzw. »wahr« ist. Zu diesem Komplex schrieb Nietzsche in den 1880erJahren: Der Platonismus »maß den Grad Realität nach dem Wertgrade ab und sagte: je mehr ›Idee‹, desto mehr Sein. Er drehte den Begriff ›Wirklichkeit‹ herum und sagte: ›Was ihr für wirklich haltet, ist ein Irrtum, und wir kommen, je näher wir der ›Idee‹ kommen, um so näher der ›Wahrheit‹.‹ – Versteht man es? Das war die größte Umtaufung: und weil sie vom Christentum aufgenommen ist, so sehen wir die erstaun292

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lichste Sache nicht. Plato hat im Grunde den Schein, als Artist, der er war, dem Sein vorgezogen! also die Lüge und Erdichtung der Wahrheit! das Unwirkliche dem Vorhandenen! – er war aber so sehr vom Werte des Scheins überzeugt, daß er ihm die Attribute ›Sein‹, ›Ursächlichkeit‹ und ›Gutheit‹, ›Wahrheit‹, kurz alles übrige beilegte, dem man Wert beilegt.« (N III/880) Auch Heidegger sieht diesem Augenblick den Beginn einer Geschichte an – allerdings seiner Geschichte: »Mit Platons Auslegung des Seins als idea beginnt die Philosophie als Metaphysik.« (Hei NII/202) (2) Es hört sich doch ganz hoffnungsfroh an, dass im zweiten Schritt der »Geschichte« die wahre Welt zwar »unerreichbar für jetzt«, aber gleichwohl »versprochen« bleibt. Doch sollte hier gefragt sein: Was meint der behauptete »Fortschritt der Idee«? In der Antwort schwindet das Hoffnungsfrohe – und Nietzsche hat die Bitterkeit des so genannten Fortschritts bekanntlich quer durch sein Gesamtwerk verfolgt: Das Abbildhafte der platonischen Phänomenalität entpuppt sich in christlicher Perspektive als irdisches, unter Gottes Augen schuldhaftes Dasein; die wahre Welt der idea wird zum alles bedingenden und transzendenten Jenseits – dessen Synthese aller Werte und Wertsetzungen ist ›Gott‹. Aus seiner Verantwortlichkeit bildet sich die schuldhafte, weil unerfüllbare Verantwortlichkeit des Menschen. Der Unmut Nietzsches speist sich eben aus dieser Moralisierung des Diesseitigen und Sinnlich-Leibhaften. »Fortschritt der Idee« besagt also, dass die »wahre Welt« nicht mehr da ist, in dieser Welt als Welt, wie noch unter gewissen Bedingungen im Platonismus, sondern dass die »wahre Welt« nun die ganz andere ist, unerreichbar für das ins leiblich-sinnliche Leben verkörperte Subjekt.5 Damit begeht das Christentum ein »Kapitalverbrechen am Leben« (N III/826). Eugen Fink fasst Nietzsches Analyse des Christentums als Chiasmus zusammen: eine »moralisierende Ontologie und eine ontologisierende Moral«.6 Undenkbar für Nietzsche, dass dieser Sachverhalt, mit seinem (leeren) Zentrum ›Gott‹, nicht menschengemacht ist. »Ein Begriff hier weg, eine einzige Realität an dessen Stelle – und das ganze Christen-

5. Welche pädagogischen Folgewirkungen hat diese Entsinnlichung oder Entkörperlichung der Wahrheit, die Idee geworden ist? Von Nietzsche hören wir, dass sie mithin »Weib« geworden sei – und erinnern uns an die »Vorrede« zu »Jenseits von Gut und Böse«: »Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist –, wie? Ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden? dass der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen? Gewiss ist, dass sie sich nicht hat einnehmen lassen […].« (N 5/11) 6. Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart: Kohlhammer 1960, 145. 293

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thum rollt in’s Nichts!« (N 6/212) Unten wird sich zeigen, wie Nihilismus- und Décadence-Analyse für Nietzsche, den Modernen, in diesem Gedanken zusammenkommen. (3) Die Décadence des Zwei-Welten-Gedankens findet Nietzsche auch anlässlich der nächsten (»königsbergisch[en]«) Volte, und mithin ahnt man bereits die Morgenröte des anderen Ursprungs: »Die Welt scheiden in eine ›wahre‹ und eine ›scheinbare‹, sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant’s (eines hinterlistigen Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der décadence, – ein Symptom niedergehenden Lebens […] Dass der Künstler den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen diesen Satz. Denn ›der Schein‹ bedeutet hier die Realität noch einmal, nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur […].« (N 6/79) In Kants Kritizismus findet das Interesse des neuzeitlichen Rationalismus an den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung pointierten Ausdruck. Es kulminiert in der Analyse des Zusammenhangs des erfahrungsabhängigen, empirischen Subjekts und der transzendentalen, apriorischen Subjektivität. Gerade in den systemischen und universalistischen Darstellungen Kants zum Moment des Transzendentalen erblickt Nietzsche die Fortschreibung der »Idee« à la Platonismus und Christentum. Nur dass die »Idee« nun »sublim geworden« ist, weiterhin »unerreichbar«, zudem »unbeweisbar, unversprechbar«. Und so ist auch hier die Anbindung an die Sittlichkeit zu entdecken, die aus dieser wahren Welt »eine Verpflichtung, ein[en] Imperativ« werden lässt. Gerade das veranlasst Nietzsche, z.B. im »Antichrist« (N 6/ 176ff.), das neuzeitliche Denken dieses Typs in seine Geschichte des Nihilismus, der Verneinung des »Lebens« einzureihen. Und wie der Gottesbegriff schon in der Auseinandersetzung mit dem Christentum als sprachliche self-fulfilling-prophecy entlarvt wurde, ergeht es nun dem Universalitätsgedanken kantischer Prägung analog: Nietzsche führt die Sprachgebundenheit der Vernunft vor und desubstanzialisiert damit das transzendentale Subjekt Kants. Die Vernunft wird mit »Sprach-Metaphysik«identifiziert,derenBasisdurchein»grobesFetischwesen« gelegt ist. Es besteht darin, in der Sprache durch Operationen Unterteilungen und Kategorisierungen vorzunehmen, die so allererst als ›seiend‹ postuliert werden können. Das gilt insbesondere und folgenreich für die Relationen von willentlichem Subjekt, Prädikat und Objekt. Das dergestaltige »Fetischwesen« »glaubt an’s ›Ich‹, an’s Ich als Sein, an’s Ich als Substanz und projiciert den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge – es schafft erst damit den Begriff ›Ding‹ […]. Das Sein wird überall als Ursache hineingedacht, untergeschoben; aus der Conception ›Ich‹ folgt erst, als abgeleitet, der Begriff ›Sein‹ […]. Am Anfang steht das grosse Verhängniss von Irrthum, dass der Wille Etwas ist, das wirkt, – dass Wille ein Vermögen ist […]. Heute wissen wir, dass er bloss ein Wort ist […].« (N 6/77) Wie unten zu sehen sein wird, 294

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ist dieses Wissen ein Vorlauf für den Gründungsakt von Nietzsches eigenem, ästhetischen Subjekt-Begriff. (4) Mit der beginnenden Müdigkeit der ›sokratischen‹ »Vernunft« erwacht am grauen Morgen mit einem »Gähnen« der Positivismus und die klare Nacht-Zeit der bisher eindeutigen Distinktionen von scheinbarer und ›wahrer‹ Welt, wie sie bislang dargestellt wurden, geht zu Ende: »Hahnenschrei des Positivismus«. Diesem neuen Denken stellt sich diese »wahre Welt«, wie sie bis dato verstanden wurde, als nicht mehr erreichbar oder erkennbar dar. So verliert sie ihre Schlüssigkeit und ist folglich auch nicht mehr »tröstend« wie im Platonismus, »erlösend« wie im Christentum oder »verpflichtend« wie die Vernunft-Sittlichkeit Kants. Vielmehr wendet die wahre Welt des Positivismus sich dem Empirischen zu, dem, was bislang als bloßer Schein gegolten hatte.7 Der Positivismus (à la Nietzsche) wird nun jeden Gedanken, der sich nicht an ›Tatsachen‹ beweist, als ›metaphysisch‹ abtun. Auf die Frage, ob die wahre Welt unerreichbar sei, antwortet sich Nietzsche apodiktisch schlussfolgernd: »Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt.« Damit trifft er das Denken des Positivismus exakt, und meint es, insofern es modern ist. Der Positivismus hält den nichtverifizierbaren Schein-Fragen der Metaphysik den Spiegel der Modernität vor und antwortet auf sie: ›Eure ›Wahrheit‹ bleibt uns notwendig unbekannt, da sie nicht erfahren werden kann. Daher ist sie uns sinnlos.‹ Dem Ruf des Positivismus, Zu den Tatsachen, folgt Nietzsche dennoch nicht. Auch im Positivismus spürt er noch einen nihilistischen Rest auf, nämlich den, unter »Tatsache« ein letztlich feststellbares factum brutum zu verstehen. Und wieder greift Nietzsches sprachkritischer Einwand: »gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen.« (N 12/315) An die Stelle des Positivismus setzt Nietzsche den »Perspektivismus« (N 12/315) – und hier darf man getrost die sinnliche Komponente des Begriffs mithören. »Subjekt« und »Sinnlichkeit«: Auch diese beiden Größen, die den Positivisten gerade in der Sicherheit wiegen, nun die Phänomene als Tatsachen vor sich zu haben, geraten in Nietzsches Perspektive in den Strudel ihrer nicht-metaphysischen Grund-losigkeit: »›Es ist alles subjektiv‹ sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, das ›Subjekt‹ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. – Ist es zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese. Soweit überhaupt das Wort ›Erkenntniß‹ Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deut-

7. Hier sei nochmals an die Referenz erinnert: Scheier hatte schon zu Punkt 3 hervorgehoben, dass Nietzsche zwar »königsbergisch« sagt, aber den Gedanken Schopenhauers trifft: den »Pessimismus«, die wahre Welt noch zu erreichen, zu beweisen, zu versprechen. Scheier, a.a.O., 1985, hier: 25. 295

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bar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne ›Perspektivismus‹.« (N 12/315) Wie jede systematisierte, wissenschaftliche Darstellung der Welt, unterliegen auch die Naturwissenschaften in ihrem Tun vorgängigen Entscheidungen über Beschreibungsmodi, Systematisierungen, Wahrheitsbegriffe etc.8 So bleibt auch diese Welt Bild und »subjektive Fiktion«. »Dieses Weltbild, das sie entwerfen, ist durchaus nicht wesensverschieden von dem Subjektiv-Weltbild: es ist nur mit weitergedachten Sinnen konstruiert, aber durchaus mit unseren Sinnen […]. Und zuletzt haben sie in der Konstellation etwas ausgelassen, ohne es zu wissen: eben den notwendigen Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftzentrum – und nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze übrige Welt konstruiert, d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet […]. Sie haben vergessen diese Perspektiven-setzende Kraft in das ›wahre Sein‹ einzurechnen – in der Schulsprache geredet: das Subjektsein.« (N III/705) Vorläufig also so: »Subjekt« meint »sinnlicher Perspektivismus«. Und die Geschichte des »längsten Irrthums«? Die geht zugrunde, indem sie sich ihres Verlaufes (durch Nietzsche) bewusst wird (N 5/410f.). Der Positivismus hatte erstmals den Zweifel an der »Geschichte« dieser Wahrheit geschürt und genährt. Daher der »Hahnenschrei«, er war der Weckruf. (5) Nun ist es bereits »Heller Tag« und das Wissen um den Perspektivismus (in) der Welt versichert sich seiner selbst. So kann die ehemals wahre Welt, die nun als Fiktion erkannte, jetzt die ›wahre Welt‹ heißen. Sie wird als fixe »Idee« metaphysischer Systeme entlarvt und ist mithin »zu Nichts mehr nütz«. Nietzsche hat es eilig an dieser Stelle: Da die »Idee« als »unnütz« erkannt wurde, ist »sie folglich eine widerlegte Idee«. Denn sie produziert nichts mehr, oder besser: Ihre Produktivität läuft ins Leere, denn ihre Werte sind nicht mehr hinreichend. »Der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus« (N III/678). Und der Glaube versetzte zwar möglicherweise auch Berge, produzierte sie aber allererst, Begriffsberge, deren Spitzen in der Wolkendecke der Metaphysik der historisch je verschiedenen Idee verschwanden. Nietzsches ›Perspektivismus‹ nutzend, möchte man ihn an dieser Stelle korrigieren, zuspitzen: Nicht, dass dieser Glaube die Ursache des Nihilismus ist, er war es vielmehr, von hier aus gesehen, vom (vermeintlichen) Ende des Nihilismus aus, und jene »wahre Welt« war eine »rein fingierte« (N III/678). Der Glaube an sie ist nun »unfrucht-

8. Wie Spiekermann zeigt, setzte Nietzsche sich rege mit den Naturwissenschaften auseinander. Klaus Spiekermann, Naturwissenschaft als subjektlose Macht. Nietzsches Kritik physikalischer Grundkonzepte, Berlin u. New York: de Gruyter 1992. 296

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bar«, weil unproduktiv, nicht-schaffend geworden. »Der Glaube, daß die Welt, die sein sollte, ist, wirklich existiert, ist ein Glaube der Unproduktiven, die nicht eine Welt schaffen wollen, wie sie sein soll. Sie setzen sie als vorhanden, sie suchen nach Mitteln und Wegen, um zu ihr zu gelangen. ›Wille zur Wahrheit‹ – als Ohnmacht des Willens zum Schaffen.« (III/549) Das Duell von wahrer und scheinbarer Welt entscheidet sich im Folgenden: »High Noon« – und nimmt eine überraschende, aber produktive Wende. (6) 1948 beklagt Hans Sedlmayr den »Verlust der Mitte«, die Orientierungslosigkeit der modernen Welt, die sich ihm in der dehierarchisierten und vermeintlich von Vorbildern entbundenen Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausdrückte. Einer seiner Gewährsleute in der Wahrnehmung dieses »entfesselte[n] Chaos«9 ist Nietzsches »tolle[r] Mensch« (N 3/480) aus »Die fröhliche Wissenschaft«. Der tolle Mensch ist der ›freie Geist‹ aus dem fünften Abschnitt der hier ausgelegten Geschichte. Er taucht »am hellen Vormittage« (N 3/480) (»Heller Tag; Frühstück«) auf dem Marktplatz auf und macht – man kann es sich vorstellen – mit seinem Geschrei einen »Teufelslärm«. Seiner Meinung nach haben wir alle Gott getötet, sind alle seine Mörder und wissen doch (noch) nicht, wie wir diese endgültige Tat verkraften, verantworten sollen und sühnen werden. ›Endgültig‹ ist die Tat, da sie für die gesamte folgende Geschichte relevant bleiben wird: »wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« (N 3/481)10 Doch die Menschen auf dem Marktplatz schwiegen und mit ihnen dann auch der »tolle Mensch«, da er im Augenblick begriff: »Ich komme zu früh, […] ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.« (N 3/481) Doch warum blicken die Zuhörer »befremdet auf ihn« (N 3/ 481)? Es ist die Zeitlichkeit seines Erlebens, die den »tollen Menschen« ihnen fremd bleiben lässt. Denn als freier Geist weiß er gegenwärtig schon vom vergangenen Niedergang der nihilistischen Grundeinstellung der Geschichte, die sich aktuell in der Tötung Gottes, d.h. im Abschaffen letzter, ideeller Wahrheiten ereignet hat. So ist er in die Lage versetzt, Fragen zur Unsicherheit der Zukunft an die Zuhörer zu richten, die auf diese aber befremdend wirken, als sei das Fragen auf eine

9. Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte, Frankfurt/Main u. Berlin: Ullstein 1991, 109ff. Zarathustra/Nietzsche selbst hätte sich wohl mit einer kritischen Bemerkung zu Sedlmayr nicht zurückhalten können: »Die Mitte ist überall.« (N 4/273) 10. Reizvoll, in dieser »Geschichte« ›nur‹ ein anderes Wort für »Moderne« zu sehen. 297

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noch nicht reale Zukunft gerichtet. Der »tolle Mensch« aber weiß, dass diese scheinbar zukünftige Welt jenseits metaphysischer Orientierungen gerade Gegenwart geworden ist. Gleichwohl, Nietzsches »schaffen wir sie ab!«, die ›wahre Welt‹ als Idee, bleibt (im fünften Abschnitt) eine Aufforderung. Wer sie im und als Lebensvollzug gelebt ausführt, verbleibt mit seinem Wissen in der Verschlussbewegung des Nihilismus. Letzterer öffnet sich als historisch je verschiedene Ideologie zwar der Einsicht und Analyse, die Figur dieses ›Wissenden‹ aber zeichnet Nietzsche als verbittert und erfolglos. In »Also sprach Zarathustra« lässt er ihn als »Schatten« zu Zarathustra sprechen, bevor dieser ihn zurücklässt und seinen Weg alleine weitergeht. Doch zuvor spricht der Schatten, den Zarathustra »freie[n] Geist und Wanderer« (N 4/341) nennt: »Diess Suchen nach meinem Heim: oh Zarathustra, weisst du wohl, diess Suchen war meine Heimsuchung, es frisst mich auf. / ›Wo ist – mein Heim?‹ Darnach frage und suche und suchte ich, das fand ich nicht. Oh ewiges Überall, oh ewiges Nirgendwo, oh ewiges – Umsonst!« (N 4/340f.) Die Aufforderung, die ›wahre Welt‹ abzuschaffen, also verstanden zu haben, von ihr zu wissen (wie der freie Geist, der »tolle Mensch«), ist eine Sache, und eben eine dekadente; sie zu leben, eine andere. Dazu bedurfte es in Nietzsches »Geschichte eines Irrthums« genau noch der Zeit, von der der »tolle Mensch« am Vormittag sprach: »Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden.« (N 3/ 481) Aber nun, jetzt (»High Noon«) ist es so weit: In diesem sechsten und letzten Abschnitt haben wir zum ersten Mal in dieser Geschichte nicht mehr die Angabe eines Zeitraumes, es gibt keinen Verweis mehr auf eine versprochene Zukünftigkeit, sei sie jenseitig platonisch oder christlich gedacht, keine Betonung einer Fortschrittsbewegung, einer beginnenden oder verlaufenden Tageszeit. Es ist »Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrthums«. Es musste Mittag werden und es ist nun Mittag. Für die Entscheidung des angekündigten Duells zwischen wahrer und scheinbarer Welt steht die Zeit diesen einen Moment still, diesen »Augenblick des kürzesten Schattens«, der für den (nietzscheanisch gedachten) Nihilismus bedeutet, seine ihn begrenzende »Zeitmauer« (Ernst Jünger) erreicht zu haben.

Der Augenblick des Subjekts Mit »der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!« Der hier »wir« sagt, vermeint sich schon jenseits der nihilistischen Welt, sei sie nun Wahrheit oder Schein. Und nicht nur das: Er war es selbst, der

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diese Umwertung (mit-)bewirkt hat.11 In welcher Welt aber lebt er, kann er leben, wenn diese, nun, weder die wahre noch die scheinbare Welt ist? Es ist die Welt des ankommenden Augenblicks. Die lange »Geschichte eines Irrthums« ist an ihr Ende gekommen, und durch die Zusammenziehung der Zeit auf diesen mittäglichen Augenblick allererst zur Geschichte geworden, die nun ihre Herkunft der Darstellbarkeit öffnet. Der Augenblick ist, als Zeitraum ohne Zeitverlauf, der Ort, an dem das Leben seinen sich selbst entspringenden Ursprung hat. Hier und jetzt entsteht es immer wieder aufs Neue und ist der immer wieder zurückkehrende Moment – der Zeitort der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Im Jetzt stülpt sich das Leben immer wieder zirkulär aus sich heraus und gebiert in seiner Bewegung ohne Stillstand die Matrix, die wir Welt nennen und leiblich-sinnlich erfahren. »Die wahre Welt mußte endlich zur Fabel werden, weil die Fabel einst zur wahren Welt geworden war: der Ring hat sich geschlossen.«12 Die ringförmige Bewegung des Lebens aus Entstehen, Vergehen und wieder neu Entstehen hat kein Ziel außerhalb des Lebens. Die Immanenz des Lebens als Leben ist alles was ist, und das ist »das, was sich immer selber überwinden muss« (N 4/148) und dies auch machtvoll will. So markiert sich im Detail auch die Differenz Nietzsches zu Schopenhauer: Zwar sprechen beide vom »Willen«, doch während Schopenhauer ihn jenseits verortet und durch ihn das Leben allererst hervorbringen lässt, ist das nietzscheanische »Leben« in seiner Bewegung selbst der Wille, und nichts außerdem. Nichts außerdem? Nietzsche selbst setzt die Unterscheidung zu Schopenhauers »Willen zum Leben« folgendermaßen: den »›Willen zum Dasein‹: diesen Willen – giebt es nicht! Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen! Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern […] Wille zur Macht!« (N 4/148f.) Nun sind die beiden Komponenten des sich-selbst-entspringenden Lebens zusammen: erstens der »Wille« als Vollzugsmoment einer sich im Augenblick je erneuernden Bewegung dessen, was ist, und zweitens die »Macht« als die dem Willen entsprechende Formgebung, die als Vorgang destruiert und konstruiert.13 Der Wille zur Macht ist der

11. Das »Wir« erhielt im Rahmen der Paradigmen des Zweiten Teils eine noch schärfere Konnotation: Kann angesichts eines »Wir« überhaupt noch ein »Subjekt« gedacht sein? Ist ›das‹ Subjekt nicht immer schon plural? Und weiter: Kann das »Wir« anders gedacht werden, als dass es ein schreibendes bzw. medialisiertes ist – ein »Wir«, das im Schreiben und in diesem Text durch das konstatierende Schreiben erst die wahre und die scheinbare Welt (performativ also) abschafft? 12. Scheier, a.a.O. 1985, 27. 13. Mag es erlaubt sein, schon an dieser (historischen) Stelle die Worte »de299

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»unerschöpfte zeugende Lebens-Wille.« (N 4/147) Nichts steht mehr still, in diesem Augenblick, denn wenn er wiederkehrt, hat er sich als (s)ein anderer bereits überschritten. Das »INCIPIT ZARATHUSTRA« ist in dieser Hinsicht ungenau, da Zarathustra nicht erst beginnt. Er hat immer schon begonnen, sonst wäre die Darstellung der »Geschichte eines Irrthums« nicht möglich, schließlich ist sie in seinem Sinne geschrieben. Zarathustra ist ein Modell. Als solches verkörpert er und macht wahrnehmbar, was sich aus Nietzsches Konzept des automobilen ursprünglichen Lebens als Wille zur Macht hinsichtlich des anihilistischen Subjekts ableiten lässt: Mit dem Verzicht auf das Diktum einer wahren Welt, mit deren Abschaffung, verlieren ebenso all die Subjekttheorien ihre Logik, die dem augenblicklichen Erleben, in dem sich das Subjekt je neu konstituiert, eine vorgängige und konstante, bspw. transzendentale Subjektivität unterlegen. So lässt dies Subjekt sich weder als ideelle Wahrheit (1), noch als jenseitige Welt (2), noch als transzendental Erhabenes (»königsbergisch«) (3), noch als feststellbare positive Tatsache (4), noch als freier Geist der Dekadenz (5) arretieren. Die substanzielle Eigenheit des zarathustrischen Subjekts ist es vielmehr, keine Eigenheit zu haben. Denn im Augenblick selbst beginnt es zu sein und nimmt hier seine produktive Tätigkeit auf, indem es davon ausgeht, dass die Welt, »die sein sollte«, noch nicht ist, und auch ›von selber‹ nicht wird, sondern geschaffen, entworfen, produziert sein will – in jedem Augenblick und für jeden Augenblick neu als Überschreitung des vorigen (N III/549). Aber wohin übersteigt das Subjekt sich in diesem Augenblick? In der Enthaltung eines jeden das sich-selbst-entspringende »Leben« transzendierenden Entwurfes produziert das Subjekt in seiner schaffenden Bewegung das, was ist, die Welt, seine Welt als »unendliche«. »Unser neues ›Unendliches‹. – Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ›Sinn‹ eben zum ›Unsinn‹ wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist – das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. […] Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ›unendlich‹ geworden: [nämlich] insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst.« (N 3/626f.)

struieren« und »konstruieren« zusammenzusetzen zu »dekonstruieren«? La déconstruction, c’est la vie. 300

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Die Autoproduktion des Subjekts im Augenblick prozediert in der Unendlichkeit möglicher bzw. gewollter Welten. Die Unendlichkeit im Augenblick: Das ist die Zeitlichkeit des Subjekts, seine ewige Wiederkehr des Gleichen im Augenblick. Dessen »Bejahung« (N 6/335) ist Produktion von Welt, ohne sie zu affirmieren.14 Diese temporal beschriebene Subjektivität des Augenblicks kann auch räumlich erfasst werden. Sie beschreibt dann eine vertikale und horizontale Alterität. (1) Vertikale Subjektivität. In der Auslegung seiner selbst gelangt das Subjekt an keine letztgültig schlüssige Interpretation, die ihm eine bleibende Identität erbrächte. Nietzsches »Wie man wird, was man ist« (N 6/255ff.) zu befolgen, heißt insofern, sich einer unendlichen (Selbst-) Auslegung gegenüberzusehen. Und hier auf eine »schlechte Unendlichkeit« (H 5/155) zu setzen und insgeheim doch auf die hermeneutische Chance einer sich letztlich offenbarenden, wahren Identität zu hoffen, verfehlte das hier Gemeinte. Denn: Die »Geschichte eines Irrthums« hatte gezeigt, dass die Vernunft sich immer mittels einer objektiven Bedingtheit begründet hatte. Mit der Abwendung von ihr gerät die Vernunft in die Begründungsbewegung eines infiniten Prozesses, in der die »Gleichheit mit sich selbst« weder für das Objekt noch für das Subjekt fortan Beschreibungs- und Wahrheitsrelevanz hat. Vielmehr werden Subjekt und Objekt zu »Komplexe[n] des Geschehens« (Wille zur Macht), in dem sie »in Hinsicht auf andere Komplexe scheinbar dauerhaft« sind, sich aber von diesen letztlich doch nicht in Form eines Gegensatzes unterscheiden.15 Sondern eher »durch eine Verschiedenheit im Tempo des Geschehens (Ruhe – Bewegung, fest – locker: alles Gegensätze, die nicht an sich existieren und mit denen tatsächlich nur Gradverschiedenheiten ausgedrückt werden, die für ein gewisses Maß von Optik sich als Gegensätze ausnehmen.« Die formende Verdichtungsbewegung des »Geschehens« ist der Schaffensprozess des Subjekts, dessen Wahrheit nie endgültig ist, sondern im Augenblick des Schaffens selber liegt. Das, was das Subjekt jeweils und augenblicklich ist, ist der durchgeführte »Wille zur Macht« – dessen Wahrheit aber besteht darin, ein »processus in infinitum« zu sein [N III/540f.], was für die Individualität und Identität des Subjekts bedeutet, sich je neu verlassen und destruieren zu müssen, um die neue Existenz schaffen zu können. Im Moment dieser Überschreitungsbewegung entsteht die

14. Hierzu: Eva Strobel, Nietzsches Philosophie der Bejahung, Tübingen: Attempto 2000. 15. Man hört hier das baudrillardsche »Weder Zukunft noch Ende« sich ankündigen. Siehe: Jean Baudrillard, »Weder Zukunft noch Ende – Die Reversion der Geschichte«, in: Zukunft oder Ende. Standpunkte – Analysen – Entwürfe, hg. v. Rudolf Maresch, München: Boer 1993, 479-490. 301

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dem nietzscheanischen Subjekt immanente Vertikalität: Die je zu erneuernde Rückkehr zu sich selbst bedeutet, dort einen je anderen zu entwerfen, indem die ›alte‹ Identität in der Neuschaffung transgredierend zurückgelassen wird. Das Subjekt sieht sich derart einer vertikalen Fremdheit seiner selbst gegenüber. Ganz wie Zarathustra seine ganz eigene Gipfel-Paradoxie als »Wanderer« im Gespräch mit der einsamen »Stunde« vertikal entwirft: »Dein Fuss selber löschte hinter dir den Weg aus, und über ihm steht geschrieben: Unmöglichkeit. Und wenn dir nunmehr alle Leitern fehlen, so musst du verstehen, noch auf deinen eigenen Kopf zu steigen: wie wolltest du anders aufwärts steigen? […] Du aber, oh Zarathustra, wolltest aller Dinge Grund schaun und Hintergrund: so musst du schon über dich selber steigen, – hinan, hinauf, bis du auch deine Sterne noch unter dir hast! Ja! Hinab auf mich selber sehn und noch auf meine Sterne: das erst hiesse mir mein Gipfel, das blieb mir noch zurück als mein letzter Gipfel!« (N 4/194) (2) Horizontale Subjektivität. Die menschliche Produktivität wurde bei Marx in Hinblick auf das Machtverhältnis zur Natur und deren Umformung und Reproduktion im Rahmen kapitalistisch-industrieller Produktionsbedingungen der Gesellschaft gedacht. Anders bei Nietzsche. Die Produktion ist hier diejenige von machtvollen Perspektiven, die je »Welt« sind. Dass der Perspektivismus »unendliche Interpretationen in sich schliesst«, bewahrt das Subjekt à la Nietzsche/Zarathustra davor, in die idealisierenden oder moralisierenden Gefilde des Nihilismus zurückzugeraten. Das Verhältnis »Subjekt« – Welt bleibt damit unablässig in Bewegung und die gesetzten Perspektiven sind mithin zielund wertgerichtete Handlungen16, solche aber, die sich zwar für den Augenblick als provisorisch identitätsstiftend und machtvoll durchzusetzen vermögen, aber mitnichten das Verhältnis von Subjekt und Objekt festzurren. Ebenso also wie das Subjekt zu sich als Objekt in seinem vertikalen Verhältnis des Sich-selbst-Übersteigens, bleibt auch die horizontale Relation von Subjekt und Welt eine Bewegung von »Komplexe[n] des Geschehens«. Das ist ihr Ursprung (s. o.). Nietzsche: »Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ›intelligiblen Charakter‹ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben ›Wille zur Macht‹ und nichts ausserdem.« (N 5/55)17

16. Zu diesem Letzten und der genannten Differenz zu Marx, siehe: Boeder, a.a.O. 1988, 284. 17. Der hier inhärente Begriff der »Produktion« ist an dieser Stelle ästhetisch gedacht und weist voraus auf die foucaultsche »Ästhetik der Existenz«. Hierzu auch nochmals: Oehm, a.a.O., 1993, 108-112. 302

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Produktiver Leib Bleibt zu fragen, wie dieses Subjekt, sei es in zeitlichen oder räumlichen Bewegungskategorien beschrieben, sich ›ausdrückt‹ und wahrnimmt. Wie materialisiert sich der Akt des schaffenden Subjekts? Zuerst: Der Akt spaltet das Subjekt zweifach. Das Subjekt trennt sich von sich im Vorgang der selbst-übersteigenden Neuschaffung und wird sich damit mittels des Willens zur Macht subjektiv zum Objekt. Sodann: Die in machtvoll-setzender Interpretation produzierte Welt kann, anlässlich des nurmehr gültigen Willens-Subjektes, nicht mehr als reines Objekt gedacht sein, und sie kann nicht mehr als reines Objekt gedacht sein, dem das Subjekt (Welches denn auch noch?) substanziell, entwerfend gegenüberstünde. Denn: Mit den Einsichten, die sich aus dem Durchgang durch die »Geschichte eines Irrthums« für die Verfassung des »Subjektes« ergeben hatten, werden die tradierten Dualismen der Erkenntnistheorie (bspw.: Ich – Welt, Rationalität – Sinnlichkeit, Geist – Körper, Innen – Außen, Subjekt – Objekt) obsolet, oder büßen zumindest ihre Trennschärfe ein. Zarathustra (»Der Genesende«) fragt, und antwortet: »Zwischen dem Ähnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten; denn die kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken. Für mich – wie gäbe es ein Ausser-mir? Es giebt kein Aussen!« (N 4/272) Zwischen den Ähnlichsten liegt die kleinste Kluft eines Unterschiedes. Der kann also nicht wegen seiner Weite so schwer zu überbrücken sein, sondern wegen der Nähe des Differenten zueinander. Diese Nähe ist es, die so leicht dem Schein verfällt, sie bestünde gar nicht mehr, sondern sei Identität des Differenten. Der Erkenntnistheoretiker Nietzsche entgeht hier nur haarscharf dem Widerspruch oder der Ungenauigkeit. Denn wir scheinen entweder ein Subjekt zu benötigen, das jenseits der Welt steht und diese konstruiert, oder eine Welt, die eine sie konstruierende Ursache voraussetzte. Die Relation von Subjekt und Welt, anders gesagt: das Faktum ihrer Differenz, engt sich auf die winzige Spalte des »Ähnlichsten« ein, was aber nicht ein »Gleiches« und schon gar kein »Selbes« ist. Mithin: Zwar gibt es, laut Zarathustra, kein Außen für das Subjekt, oder ihm gegenüber. Dieses Selbst aber ist außer sich – und zwar in der »Welt« als einer sinnlich-leiblich allererst perspektivierten. Nietzsche: »Unsre Unart, ein Erinnerungs-Zeichen, eine abkürzende Formel als Wesen zu nehmen, schließlich als Ursache z.B. […] das Wörtchen ›ich‹. Eine Art von Perspektive im Sehen wieder als Ursache des Sehens selbst zu setzen: das war das Kunststück in der Erfindung des ›Subjekts‹, des ›Ichs‹!« (N 12/162) Das Subjekt ist als ›Ursache der Welt‹ eine Erfindung, eine Konstruktion des Denkens wiederum (N 11/526). Wie wird es von Nietzsche stattdessen ›für wahr genommen‹? Als »Perspektive im Sehen«, in der die »Einverleibung der Außenwelt« je schon be303

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gonnen hat: »unsere Sinneswahrnehmungen sind bereits das Resultat dieser Anähnlichung« (N 12/106f.). Wer hier »unsere« sagt, würde im Singular »meine« sagen und »Subjekt« meinen, das, bevor es »ich« sagt, je schon sinnlich in der Welt (gewesen) ist. Und in dieser »Perspektive« des Sinnlichen verleibt sich das Subjekt der Welt ein: »Wir können nur eine Welt begreifen, die wir selber gemacht haben.« (N 11/138) Nochmals also: Wie materialisiert sich das prozedierende Subjekt und seine Welt, wo ist beider Ort? Nietzsches Votum für das sichselbst-schaffende und sich-selbst-überschreitende Subjekt, dem die Welt sich in ihren »unendliche[n] Interpretationen« erschließt, basiert auf der Einsicht, dass dieses nur am »Leitfaden des Leibes« (N 12/106) entlang möglich und entwerfbar ist. »Leib bin ich ganz und gar, und nichts ausserdem […] Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch eine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ›Geist‹ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft. ›Ich‹ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich. […] Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.« (N 4/39f.) Vom Geist aus gesagt: Mit ihm kann als Werkzeug gesagt werden, was der Leib tut. »Dem Leibe selbst fehlt es an Abstand zum Leben, um über sich hinaus wollen zu können. Dazu bedarf es einer Trennung des Lebens von sich selbst.«18 Vom Leib aus gesagt: Der ist das sprudelnde Leben, das sich in seiner Produktion selbst nicht weiß, aber durch das Werkzeug der »kleinen Vernunft« als machtvolles Wollen gespiegelt werden kann – »Jenseits von Gut und Böse« und jenseits auch von »Wahrheit« oder »Schein«.19 Die Desavouierung der ehemals großen Vernunft (»Geist«) entlang der »Geschichte eines Irrthums« führte in einem ersten Schritt dazu, die Brisanz des ›Subjekts im Augenblick‹ erkennen zu können, und brachte diese nietzscheanische Aufklärung in einem zweiten Schritt so weit, für die »unendliche[n] Interpretationen« der Welt im Leib zu beginnen, in der Leibhaftigkeit der Welt. So kann er sich fragen, »ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständnis des Leibes gewesen ist. Hinter den höchsten Werthurtheilen, von denen

18. Boeder, a.a.O. 1988, 303. 19. Zum Zusammenhang von Leib und Sprache bei Nietzsche, siehe: Christof Kalb, Desintegration. Studien zu Friedrich Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000. 304

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bisher die Geschichte des Gedankens geleitet wurde, liegen Missverständnisse der leiblichen Beschaffenheit verborgen« (N 3/348). Die »Auslegung des Leibes« ist notwendig ein »Missverständnis des Leibes«. Seine Notwendigkeit liegt in der Verborgenheit des Leibes, seiner Undarstellbarkeit mittels der »kleinen Vernunft«. Die Realitäten des Leibes sind sinnlich-gelebte und können nicht aus der Vernunft abgeleitet werden – auch nicht (oder gerade nicht?) mit einer Sprache als Lüge »im aussermoralischen Sinne«. Der Leib ›verzichtet‹ auf den Satz vom Grunde und die damit notwendig verbundene Logik der Reflexion, die ihn ihrerseits abbildend metaphorisch20 zur Sprache bringt (»kleine Vernunft«).21 Stattdessen ist sein Tun alles, was er ist; während die »kleine Vernunft« »Ich« sagt, »thut« die »große Vernunft« »Ich«. Aber was ist der Leib indem er »thut«? Er ist die Vielheit des Sinnlichen des Subjekts, das mithin der von der »kleinen Vernunft« angebotenen, idealisierenden sprachlichen Festzurrung seiner »unendliche[n] Interpretationen« der Welt (und seiner selbst) in jedem Augenblick misstraut und ihn (und sich) insofern je neu schafft.22 Dem Subjekt, das sich in der Immanenz der Welt augenblicklich je neu schafft und überwindet (Zarathustra), fügt sich so nun ein weiteres wesentliches Charakteristikum hinzu. Es ist nicht nur nicht mehr an eine idealisierte Identität gebunden (wie noch während der »Geschichte eines Irrthums«), sondern zudem ist seine je neue ambulante Identität die

20. Zur Metapher als Schnittstelle zwischen Leiblichkeit und »kleiner Vernunft«: Gunzelin Schmid Noerr, »Der Leib im Gitterwerk der Sprache«, in: Der Sturz der Idole. Nietzsches Umwertung von Kultur und Subjekt, hg. v. Philipp Rippel, Tübingen: edition diskord 1985, 165-211, besonders: 174-178. 21. Zu den differenten Erfahrungs- und Anschauungsweisen von »kleiner« und »großer« Vernunft, siehe auch: Stephan Grätzel, »Physiologie der Kunst – Eine Grundlegung der Vernunft des Leibes«, in: Nietzsche-Studien (1984), 13, hg. v. Ernst Behler et al., Berlin u. New York: de Gruyter 1984, 394-398. Grätzel betont hier besonders den Aspekt des Künstlers als ›Medium‹ der großen Vernunft. Dazu in ähnlichem Sinne ebenda (»Primat einer ästhetischen Einstellung«): Volker Gerhardt, »Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst«, 374-393. 22. Für Nietzsche war Wagner lange Zeit der Künstler schlechthin. Ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis der Wirksamkeit Wagners ist in dessen Versuchen zu sehen, »Natur«, »Triebe« und eine als »ursprünglich« verstandene Sinnlichkeit und Sexualität durch den künstlichen Schöpfungsprozess im Gesamtkunstwerk zu fabrizieren. Unverzichtbar für Nietzsche blieb dabei aber, ein Bewusstsein von der Simuliertheit dieser Welt durch die »kleine Vernunft« zu behalten – da Wagner dies nicht beachtete, wurde er für Nietzsche zum »Fall«. Siehe dazu die aufschlussreichen Analysen in: Christina von Braun, Nicht ich. Logik Lüge Libido, Frankfurt/Main: Neue Kritik 1994. 305

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provisorische Verdichtung seiner in der Welt »disseminierten« (Derrida) sinnlichen Leiblichkeit. Dem Augenblick, in dem »Subjekt« gesagt wird, liegt etwas zugrunde, das »Subjekt« tut. Nietzsche: »Die Annahme des einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrunde liegt.« (N III/473) Dass wir uns, wie oben von Nietzsche zu hören war, keine »Erkennenden« sind und uns notwendig fremd bleiben, lässt sich jetzt nochmals anders, und zwar zweifach begründen. Erstens: Das transzendental angesetzte oder göttlich erhellte Subjekt ist mittels kritischer Genealogie desavouiert. So kann es nicht mehr als Zentrum und Ausgangspunkt der Erkenntnis verortet werden und erscheint vielmehr als post factum sprachlich festgestellte Rekonstitution. Derart aber ist das Subjekt als Erkennendes in die Perspektivität des Erkennens eingerückt, die ihrerseits – der Begriff deutet es an – ein Vorgang polymorpher Sinnlichkeit ist. Zweitens: Das Auseinander der erkennenden und sprachlichen »kleinen Vernunft« des Denkens einerseits und des nicht-sprachlichen Seins des leiblich erlebten Lebens andererseits zieht ins Subjekt eine irreduzible Differenz ein, die uns »hinterdrein« uns selbst fragen lässt, »›was haben wir da eigentlich erlebt? mehr noch: wer sind wir eigentlich?‹« (N 5/247) Hier schießt ins Subjekt eine unüberbrückbare Fremdheit sich selbst gegenüber ein, eine Hybridisierung, die nicht ›von irgendwoher‹ kommt. Sie kommt aus der dem Subjekt eigenen Sinnlichkeit. »Subjekt« zu sagen, ist fortan nur noch sinnvoll eingedenkend dieser dem Subjekt eigenen und vorgängigen sinnlichen Alterität, die die Gaben der »kleinen Vernunft« übersteigt.23 Die Alterität ist hier vorgängig, da das »Subjekt«, bei Nietzsche, von der Sinnlichkeit der »großen Vernunft« herrührt. In der »kleinen Vernunft« wissen wir von jener »großen« nur schon diskursiv bewertet (Sprache). So sollten wir unserem Wissen über unsere Sinnlichkeit nicht allzu weit trauen: »Das Glauben ist das Uranfängliche schon in jedem Sinnes-Eindruck: eine Art Jasagen erste intellektuelle Tätigkeit! Ein ›Für-wahr-halten‹ im Anfange! Also zu erklären: wie ein ›Für-wahr-halten‹ entstanden ist! Was liegt für eine Sensation hinter ›wahr‹?« (N III/432) Um für eine mögliche Antwort darauf zur entscheidenden Frage nach dem Subjekt zurückzukehren: Was ist in den geschilderten Sachverhalten und Vorgängen das ihnen Zugrundeliegende? Es ist der »Wille zur Macht« als mundane Vollzugs- und Formbewegung des autotransgressiven Lebens. Er äußert sich, so er mit dem Zarathustra-Modell

23. Zu diesem Gedanken der täuschenden Sinnlichkeit finden sich zahlreiche Stellen verstreut im Werk Nietzsches. Beispielsweise: (N 1/876f.), (N 5/29), (N 9/434f.), (N 12/107f.). 306

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DER AUGENBLICK DES MENSCHEN ALS SCHAFFENDER (NIETZSCHE)

»dionysisch« verstanden und gelebt wird, als sinnlich-verleiblichte, produzierte Welt. Das Subjekt als Wille zur Macht ist der Akt des unablässigen Schaffens (Produktion) und prozediert als Sinnlich-Leibliches in der Heterotopie und Heterotemporalität »unendliche[r] Interpretationen« der Welt. »Wir müssen folglich auch das sein, was trügt: d.h. wir müssen auch real sein, und zwar muss dorther unser Bewusstsein stammen, dass die Welt ein Trug ist, im rein Logischen: dies sind wir selber irgendwie.« (N 9/453)

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DIE WELT ALS WIRKLICHKEIT DES BEWUSSTSEINS (HUSSERL)

Die Welt als Wirklichkeit des Bewusstseins (Husserl) Das Wirkliche ist grausam real, also doppelt grausam. Anna u. Bernhard Johannes Blume Im chronologischen Fortschreiten der Darstellung modernen philosophischen Denkens, das für die Paradigmatik medientheoretischer Einlassungen grosso modo zeitgenössischer Philosophen präfigurativer Bezug ist, erscheint es vorerst seltsam, nun den Schritt vom aphoristischen Leib-Radikalisten Nietzsche zu Husserl zu tun, der sich um die Grundlegung der Philosophie als »strenge[r] Wissenschaft«1 bemüht. Diese wäre dann die neue »Erste Philosophie«.2 Also »Metaphysik«? Mitnichten, da die in Husserls Phänomenologie eruierten strengen Grundlagen der Wissenschaften – in einem Zwischenschritt durch eine jeweilige materiale »regionale Ontologie« (Hu 5/23) bereits abstrahiert – immer an einer Welt abgelesen sind, die dem sinnhaften Erleben und der Intentionalität von Individualerlebnisströmen entspringt. Die mittels der Epoché erreichten Einsichten zeigen, dass das Erleben von einer Intentionalität getragen wird, die in ihrer abstrahiertesten Form rein beziehend ist. Gleichwohl widerlegt sich für Husserl hiermit nicht die Intentionalität des empirischen und individuellen Ich auf Welt – wenn dem so wäre, wäre das husserlsche Denken in der Tat als Metaphysik zu bezeichnen, oder mit Kierkegaards Hegel-Kritik als »Denken ohne Denkenden« –, sondern bestätigt sich vielmehr, dass nur hierauf basiert das reelle »Wie« des sich auf Welt beziehenden Bewusstseins sich seinen Sinn stiftet und findet. Schreibt also auch Husserl an einer kritischen Dialektik von »wahrer« und »scheinbarer« Welt angesichts der metaphysischen »Ge-

1. Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Husserliana, Bd. XXV, hg. v. Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Dordrecht: Martinus Nijhoff 1987, 362. 2. So auch der Titel der als Bände VII und VIII der »Husserliana« herausgegebenen Texte Husserls. 309

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

schichte eines Irrthums«?3 Ja und nein, denn das Verhältnis von Nietzsche und Husserl ist hier ein chiasmatisches: Nietzsche geißelt in seiner »Geschichte eines Irrthums« die idealistische Vernunft und gewinnt daraus einen Begriff von »Leben«, das sich in der Produktivität des leiblich-sinnlichen Subjekts, einer »grossen Vernunft«, selbst augenblicklich je wieder neu entspringt. Husserl entlarvt das Idealisieren der Wissenschaften in der Geschichte ebenfalls. So heißt es in der Krisis-Schrift unter der Überschrift »Die Lebenswelt als vergessenes Sinnesfundament der Naturwissenschaft«: »Aber nun ist als höchst wichtig zu beachten eine schon bei Galilei sich vollziehende Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt – unsere alltägliche Lebenswelt. Diese Unterschiebung hat sich alsbald auf die Nachfolger, auf die Physiker der ganzen nachfolgenden Jahrhunderte vererbt.« (Hu 8/2/48f.) Die »Lebenswelt« also ist »die einzig wirkliche« Welt. Ein solcher Gedanke kommt dem nietzscheanischen »Leben« sehr nahe, entzieht doch auch dieses sich radikal einer jeden Idealisierung oder Eingliederung in eine Dichotomie aus »wahr« und »scheinbar«. Gleichwohl (und nun zeichnet sich der Chiasmus ab) zeitigt dieser Gedanke bei Husserl andere Konsequenzen. Gerade aufgrund der Relativität der »Lebenswelt« lässt sich mit ihr keine »Philosophie als strenge Wissenschaft« konstituieren. Das Lebensweltliche muss, jenseits der Frage nach seiner Wahrhaftigkeit oder Scheinhaftigkeit, hierfür überbordet werden durch eine Ergründung dessen, was der »Lebenswelt« als solcher an Absolutem inhäriert. Husserls methodischer Titel hierfür lautet »Epoché«. Ihr Prozedieren enthüllt, dass sich »Leben« und »Welt« in der rein beziehenden Intentionalität des Bewusstseins konstituiert – und die »Lebenswelt« ist das unausgelegte Wie dieses Beziehens. Letztere erscheint so in der Analyse als unablässige Interpretation von »Akten […] sinnliche[r] Inhalte« (Hu 4/703), die in eins den Vorgang der Konstitution von »Welt« beschreibt und sich so per definitionem der Frage nach »wahr« oder »(nur) scheinbar« enthebt. Um hier nochmals Nietzsche in Erinnerung zu rufen: »Die Welt ist uns […] ›unendlich‹ geworden: [nämlich] insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst.« (N 3/627)4

3. Hierzu auch: Rudolf Boehm, Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie, Husserl-Studien, Den Haag: Martinus Nijhoff 1968, hier: 217-236. 4. Das im Nietzsche-Kapitel bereits angeführte Zitat lautete in seiner Ganzheit: »Unser neues ›Unendliches‹. – Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ›Sinn‹ eben zum ›Unsinn‹ wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist – das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und 310

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Und die reale Gegenwart der Philosophen? Bei Nietzsche begegnete ein zeitgenössisch-selbstkritisches Reflektieren, z.B. der Technizität seiner Epoche gegenüber oder der Dekadenz-Kultur à la Wagner. Doch gerierte sich Nietzsches kritische Haltung der Epoche gegenüber als eine so grundsätzliche Infragestellung des gesamten »Projekts Moderne« (Habermas), dass sie derart wieder emblematisch für die Moderne wurde.5 1935 lässt Husserl seinerseits außer Zweifel, dass die Analyse der intersubjektiv gültigen phänomenologischen Grundlagen des Menschen und deren Darstellung im Rahmen eines unablässigen Forscherlebens angesichts der »Krisis der europäischen Wissenschaften« immense ethische Implikationen mit sich führt: »Aber nun wir selbst, wir Philosophen dieser Gegenwart […] Wollten wir hier nur eine akademische Rede hören? Können wir nur einfach wieder zurückkehren zur unterbrochenen Berufsarbeit an unseren ›philosophischen Problemen‹? […] Wir sind […] auch schon dem allgemeinsten nach innegeworden, daß menschliches Philosophieren und seine Ergebnisse im gesamtmenschlichen Dasein nichts weniger als die bloße Bedeutung privater oder sonstwie beschränkter Kulturzwecke hat. Wir sind also – wie könnten wir davon absehen – in unserem Philosophieren Funktionäre der Menschheit.« (Hu 8/2/15) Woher speist sich das Pathos dieser Rede? Es begehrt gegen die Ergebnisse auf, die Husserl der neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte angesehen hatte. Diese nämlich gipfelt mit der Auffächerung wissenschaftlicher Forschung im 19. Jahrhundert in der sich festsetzenden Vorherrschaft des positivistisch-technischen Dispositivs. Husserl trifft mit Galilei seinen historischen Punkt einer »sich vollziehende[n] Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche, […] unsere alltägliche Lebenswelt.« (Hu 8/2/49) Hieraus folgt, dass die ursprünglich lebensweltliche Sinnbildung in eine mathematisierte verwandelt wird und die »Lebenswelt« zum »vergessene[n] Sinnesfundament der Naturwissenschaft« (Hu 8/2/48) gerät.6

peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. […] Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ›unendlich‹ geworden: [nämlich] insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst.« (N 3/ 626f.) 5. Das war ja auch den Ausführungen im Ersten Teil schon abzulesen. 6. Dass Husserl gleichwohl an der Unversehrbarkeit der Lebenswelt festhält, begründet sich aus seiner Wissenschaftsgeschichtsschreibung: »Diese wirklich anschauliche, wirklich erfahrene und erfahrbare Welt, in der sich unser ganzes Leben praktisch abspielt, bleibt, als die sie ist, in ihrer eigenen Wesensstruktur, in ihrem eigenen konkreten Kausalstil ungeändert, was immer wir kunstlos oder als Kunst tun. Sie wird also auch 311

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Die Reinstallierung der Philosophie als gewusstes Sinnfundament kulturellen Lebens gäbe menschlicher Existenz seine Orientierungsbedingungen zurück, stets Teil eines Umgreifenden zu sein – der Lebenswelt. Dass dieses Wissen in der Matrix des technisch-mathematischen Entfremdungszusammenhangs verdeckt bleibt, ist Movens der husserlschen Pathogenese aktueller Existenzbedingungen. Mit dem gedanklichen Einsatzpunkt der Kritik dieser diagnostizierten Krise der modernen technischen Welt deutet sich zudem an, dass Husserl in der »Krisis«-Schrift methodologische Bedingungen reformuliert, wie er sie Jahrzehnte zuvor in der Auseinandersetzung um eine »Philosophie als strenge Wissenschaft« im wissenschaftstheoretischen Kontext der damaligen Zeit bereits bedacht hatte. Dieser point de départ wird im folgenden Kapitel zu beachten sein.

In der Welt Während für Nietzsche die (Geschichte der) Metaphysik zur »Fabel« verkam, zuvor Marx von Hegel die Dialektik nurmehr als methodisches Instrumentarium und Reflexionsmedium übernehmen wollte (und es auch tat), findet sich »Metaphysik« im husserlschen Denken begrenzt auf die Möglichkeit einer »Gestalt von Sätzen, die ›etwas Metaphysisches‹ enthalten.«7 In ihnen wird, qua Phänomenologie, aus- und durchgeführt, was sich in der Epoché über die Beziehung des reinen Bewusstseins aufs Intendierte reflektiert, mithin »allerdings an Stelle des ursprünglichen Erlebnisses ein wesentlich anderes« tritt (Hu 8/1/ 36). Nämlich eines, das gerade davon absieht, »die natürliche Seinssetzung mitzuvollziehen, die die ursprünglich geradehin vollzogene Wahrnehmung oder das sonstige cogito in sich enthält bzw. die das geradhin in die Welt hineinlebende Ich wirklich vollzogen hat.« (Hu 8/1/ 35f.) Das ist Husserl ein »Punkt von entscheidender Wichtigkeit«: Dass auch die Epoché »hinsichtlich alles weltlichen Seins daran nichts ändert, daß die mannigfaltigen cogitationes, die sich auf Weltliches beziehen, in sich selbst diese Beziehung tragen, daß z.B. die Wahrnehmung von diesem Tisch nach wie vor eben Wahrnehmung von ihm ist.« (Hu 8/1/34) Dieser Sachverhalt der »Intentionalität« bildet die ursprunghaf-

nicht dadurch geändert, daß wir eine besondere Kunst, die geometrische und Galileische Kunst erfinden, die da Physik heißt.« (Hu 8/2/51) Dass die Frage der Beeinflussbarkeit der so genannten Lebenswelt durch Technik freilich auch anders beantwortet werden kann, hat in der Moderne schon Marx gezeigt. Im Zweiten Teil gehörte das wie ein roter Faden zur Diskussion, und besonders Virilio legte hiervon klagend beredtes Zeugnis ab. 7. Boeder, a.a.O., 1980, 21. 312

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te Logik des husserlschen Denkens.8 Die moderne Grundsätzlichkeit – und auch eine gewisse Totalität – jenes Sachverhaltes wird anhand seiner begrifflichen Bestimmung und eines weiteren Beispiels evident: »Jedes cogito, jedes Bewußtseinserlebnis, so sagen wir auch, meint irgend etwas und trägt in dieser Weise des Gemeinten in sich selbst sein jeweiliges cogitatum, und jedes tut das in seiner Weise. Die Hauswahrnehmung meint ein Haus, genauer als dieses individuelle Haus, und meint es in der Weise der Wahrnehmung, eine Hauserinnerung in der Weise der Erinnerung, eine Hausphantasie in der Weise der Phantasie; ein prädikatives Urteilen über das Haus, das etwas wahrnehmungsmäßig ›dasteht‹, meint es eben in der Weise des Urteilens, wieder in neuer Weise ein hinzutretendes Werten usw. Bewußtseinserlebnisse nennt man auch intentionale, wobei das Wort Intentionalität dann nichts anderes als diese allgemeine Grundeigenschaft des Bewußtseins, Bewußtsein von etwas zu sein, als cogito sein cogitatum in sich zu tragen, bedeutet.« (Hu 8/1/34f.) Husserls Analyse der »Krisis« verwies auf die Entfremdung der Wirklichkeit der positiven Wissenschaften von derjenigen Wirklichkeit des Menschen. Ehedem hatte Husserls historischer Einsatzpunkt, rund drei Jahrzehnte zuvor, ganz ähnlich ausgesehen. Um die Jahrhundertwende 1900 hatten die empirisch ausgerichteten, positiven Naturwissenschaften sich hinsichtlich der Analyse und Darstellung der Wirklichkeit von Natur und Geschichte eine Zuständigkeit errungen, die mit der Ablösung der Philosophie als ernst zu nehmender Grundlagenwissenschaft einherging. Als Universitätsfach überlebte die Philosophie als Methodologie der Naturwissenschaften oder als Historiografie in eigener Sache. Andererseits, abseits des Akademischen, schloss man sich zu zahlreichen Bünden und Vereinen zusammen, um als »Weltanschauung« in idealisierender Manier den Restbeständen metaphysischer Bedürfnisse nachzugehen (z.B. Haeckel, Ostwald, Eucken).9

8. Scheier zeigt, dass die »Intentionalität« nicht nur ein Spezifikum Husserls ist, sondern allgemeiner die logische Verfassung modernen Denkens darstellt. War die Logik der metaphysischen Vernunft bis Hegel eine des Urteils (Schluss), kann – mit Frege – die Logik des modernen Denkens als eine der »Satzfunktion« in der Form »f(a)« begriffen werden: Die »Funktion ist kraft ihrer leeren Stelle ›intentional‹ auf das Argument verwiesen.« Für den Fall Husserl hieße die entsprechende Syntaktik also bspw.: »Welthorizont« ist Funktion des Arguments »Phänomen«, oder kurz: »Welthorizont(Phänomen)«. Claus-Artur Scheier, »Die Grenze der Metaphysik und die Herkunft des gegenwärtigen Denkens«, in: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, Band XLVI, 1995, Göttingen: Goltze 1996, 189-196, hier: 190f. 9. Zur geschilderten historischen Situation, siehe: Hermann Lübbe, »Die geschichtliche Bedeutung der Subjektivitätstheorie Edmund Husserls«, in: ders., Bewußtsein und Geschichte, Freiburg: Rombach 1972, 9-32. 313

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Was war jenseits dieser Konstellation, in der Sache, der durch Husserl bereitete und beschrittene Weg? Die »Naturalisierung des Bewußtseins«10 zu betreiben, so also das »Subjekt« als funktionales System wissenschaftlich beschreibbarer bio-physischer und technischer Prozesse aufzufassen, reduziert nach Husserl das hier als »Subjekt« verstandene Ich auf ein ihm anderes Objektives, als was es sich selbst gar nicht gegeben ist, d.h. an ihm selbst nicht vorkommt. Hierdurch wird eine Dichotomie von Innen und Außen, »Subjekt« und »Objekt« installiert, durch die das (physiologisch gedachte) Bewusstsein zu einem Subjekt als internalem System gerät. Mit der mithin konstituierten, vom Bewusstsein abgetrennten so genannten Aussenwelt kann dieses Innensystem, so gedacht, nur vermittels eines quasi technischen Dispositivs des Neuronalen in Kontakt treten – diese Kontaktvorgänge aber wiederum sind dem Selbst-Bewusstsein, der Subjektivität, nicht gegeben.11 Deutlich wird hier zudem eine Aufsplitterung des »Subjekts« in eines, das als Gesamt physiologischer Vollzüge der Erkenntnis (der Außenwelt) beschrieben wird, und ein weiteres, das mit dieser erkannten Außenwelt dann in Kontakt tritt. Aus der Kritik an dieser erkenntnistheoretischen Konstellation speist sich philosophiehistorisch auch die husserlsche Kritik am cartesianischen Subjekt-Objekt-Dualismus12. Anders gesagt: Es ist dieser Dualismus als philosophiegeschichtliche Altlast, die sich in der hier angedeuteten positivistischen Subjekt-Theorie noch auswirkt und der Husserl nun mit seiner phänomenologischen Lösung zu Leibe rückt. Die Lösung des Dualismus kann nicht durch eine radikale Entscheidung für eine der beiden Seiten befriedigend gelöst werden, indem also bspw. das »Subjekt« objektivierend gedacht wird, als käme es als naturwissenschaftlich bestimmbares, bio-physisches System neben anderen Objekten weltlich vor, oder andersherum, die Objektwelt subjektivierend in einen Konstruktivismus oder Solipsismus des subjektiven Bewusstseins aufgelöst wird. Stattdessen vermitteln sich Subjekt und Objekt phänomenologisch so, dass ein subjektives intentionales Bewusstsein die Objektwelt prozessual wahrnehmend konstituiert – und so in eins seine Welt als Wirklichkeit des Bewusstseins gewinnt. Diese Welt wird bei Husserl schließlich »Lebenswelt« heißen, und auch als eine solche, aus Lebensvollzügen bestehende, gedacht sein. Das Strukturprinzip des bewusstseinsmäßigen Subjekts ist also das stetige ›Sich-Beziehen-auf‹. Die Realität der Objekte kommt in diesem Bewusstsein immer so vor, wie

10. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, a.a.O., 1987, 12. 11. Hierzu auch noch mal Lübbe, 1972, a.a.O., der zur physiologischen Erkenntnistheorie der Zeit einige Beispiele zitiert (z.B. Oster, Helmholtz). 12. Bspw.: (Hu 8/1/25f.), (Hu 8/1/66ff.). 314

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DIE WELT ALS WIRKLICHKEIT DES BEWUSSTSEINS (HUSSERL)

es sich das Ding intendiert, ohne dieses wiederum aber je ganz, im starken Sinne des Wortes: objektiv haben zu können. Von der Realität der Objekte wird das Bewusstsein also im Eigentlichen gar nichts wissen können, sondern diese ist ihm immer: die eigene Wirklichkeit. So findet das Verhältnis Subjekt – Objekt seinen Ort im prozedierenden und stets weltlich sich beziehenden Bewusstsein, da die Wirklichkeit des phänomenologisch gedachten Bewusstseins eben Welt ist, »und nichts ausserdem« (Nietzsche). »Die Welt ist der Gesamtinbegriff von Gegenständen möglicher Erfahrung und Erfahrungserkenntnis, von Gegenständen, die auf Grund aktueller Erfahrungen in richtigem theoretischen Denken erkennbar sind.« (Hu 5/11) Das zur Gegebenheitsweise des Dinges Gesagte, dass es nämlich immer nur abgeschattet sich der Intention zeigt, lässt schon ahnen, dass »Welt« ein relationaler Begriff ist. Diese Tatsache zeitigt eine überraschend reflexive Beziehung von Totalität und Unvollständigkeit, man könnte auch sagen von Absolutem und Relativem. Einerseits also: Das Ziel der Epoché bzw. der phänomenologischen transzendentalen Wesensschau ist die Erfassung der Dinge als solche, in ihrer Totalität, mit all ihren Implikationen und eben ohne sinnliche Abschattungen. Das zu erreichen, nötigt die husserlsche Phänomenologie methodisch zur »Einklammerung« (Hu 5/61) des »Erlebnisstroms«. Denn hier begegnet die Welt nie wesenhaft im transzendentalen Sinne, sondern immer nur als Relativum, und ihre Dinge bleiben abgeschattet, unvollständig. Andererseits aber: »Welt« ist immer eine totale, als die dem sich auf sie beziehenden Bewusstsein gegebene Wirklichkeit (Hu 5/ 61f.). Eingedenk der Abschattungs-Tatsache ist die Wahrnehmung eines äußeren Gegenstandes dieser Wirklichkeit stets und unabänderlich »inadäquat«, eine totale (»adäquate«) Evidenz, wie bei der Kongruenz von cogito und cogitatum in der inneren Wahrnehmung, stellt sich niemals ein (Hu 3/365f.). Vollwertig für sich ist diese »inadäquate« Evidenz gleichwohl, da zur äußeren Wahrnehmung immer die wesentliche Tatsache gehört, dass die gegebenen Gegenstände durch »vielfältig unbestimmten Sinn« charakterisiert sind (Hu 5/319)13. Die Vollwertigkeit erhält sich im »Setzungscharakter« der »Vernunft«: »Zu jedem Leibhaft-Erscheinen eines Dinges gehört die Setzung, sie ist nicht nur überhaupt mit diesem Erscheinen eins […], sie ist mit ihm eigenartig eins, sie ist durch es ›motiviert‹, und doch wieder nicht bloß überhaupt, sondern ›vernünftig motiviert‹.« (Hu 5/316) Mit dieser Volte stellt sich also das Verhältnis von Totalität und Unvollständigkeit des »Sein[s] der Welt« (Hu 8/1/63) neu dar – und nur so ist es interessant im vorliegenden (modernen) Rahmen: Die Transzendenz der Welt kann sich nur im relationalen, intentionalen Bewusstseinsleben ereignen, in dem der

13. Auch: (Hu 8/1/63). 315

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Sinn des Wirklichen des Seins der Welt gebildet wird. Oder anders gesagt: auf »Welt« bezogen, ist der Terminus »intentionales Bewusstsein« ein Pleonasmus. Wie die Dinge gegeben sind, sind sie in ihrer Seinsweise erfahren. Methodisch dazu Husserl: »Letztlich ist es die Enthüllung der Erfahrungshorizonte allein, die die ›Wirklichkeit‹ der Welt und ihre ›Transzendenz‹ klärt und sie dann als von der Sinn und Seinswirklichkeit konstituierenden transzendentalen Subjektivität untrennbar erweist. Die Verweisung auf einstimmige Unendlichkeiten weiterer möglicher Erfahrung von jeder weltlichen Erfahrung aus, wo doch wirklich seiendes Objekt nur Sinn haben kann als im Bewußtseinszusammenhang vermeinte und zu vermeinende Einheit, die als sie selbst in einer vollkommenen Erfahrungsevidenz gegeben wäre, besagt offenbar, daß wirkliches Objekt einer Welt und erst recht eine Welt selbst eine unendliche, auf Unendlichkeiten einstimmig zu vereinender Erfahrungen bezogene Idee ist – eine Korrelatidee zur Idee einer vollkommenen Erfahrungsevidenz, einer vollständigen Synthesis möglicher Erfahrungen.« (Hu 8/1/64) Aber: Mit diesen methodischen Angaben ist das Feld der »natürlichen Einstellung« (Hu 5/56) schon verlassen. Daher sei nochmals in diese zurückgefragt.

Die Welt in ihrer Sinnlichkeit Wie gibt sich die Welt dem Ich vor-erst? Unthematisch. So nämlich ist Welt beständig »vorgegeben« (Hu 8/2/148), in ihrem Strömen uns immer für uns jeweilig. Wichtig dabei ist das ›für uns‹. Denn die Vorgegebenheit der Welt ist in eins ihre Gegebenheit für uns. Das ist die Subjektivität der Welt. In der Einheit der Vorgegebenheit der Welt mit der Gegebenheit der Welt für das Ich und seiner Erfahrensweise von Welt in der »natürlichen Einstellung«, wodurch es korrelativ allererst bewusst wird (indem es also ist) – in dieser Einheit und als diese, ereignet sich Vorhandenheit (Hu 5/58). In diesem Gedankengang wird die Weltlichkeit des Daseins als der Erfahrung dieser Weltlichkeit so nah gedacht, dass der Philosoph Husserl nicht zögert, die textuelle Darstellung des Gemeinten auf es einzustellen: Was die »Thesis der natürlichen Einstellung« »besagt«, macht man sich »am besten« in der »Ichrede« klar (Hu 5/56). Sie ruht auf einem »Wissen« von der Faktizität der Welt, das – anders als das der »sinnlichen Gewißheit« hegelscher Prägung – »nichts vom begrifflichen Denken hat« und in seiner sowohl räumlichen als auch zeitlichen »Seinsordnung« »von einem dunkel bewußten Horizont unbestimmter Wirklichkeit« »durchsetzt« ist (Hu 5/57). Anderes ist dem weltlichen Bewusstsein auch nicht notwendig, denn aufgrund der Relationalität und Intentionalität des Bewusstseins bedeutet das eben nicht, ein 316

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Mangel zu sein. Denn in »dieser Weise finde ich mich im wachen Bewußtsein allzeit, und ohne es je ändern zu können, in Beziehung auf die eine und selbe, obschon dem inhaltlichen Bestande nach wechselnde Welt.« (Hu 5/58) Wie also prozediert dieses an Welt partizipierendpräsente »Ich« in der »natürlichen Einstellung«? Husserl (in der »Ichrede«): »Ich bin mir einer Welt bewußt, endlos ausgebreitet im Raum, endlos werdend und geworden in der Zeit. Ich bin mir ihrer bewußt, das sagt vor allem: ich finde sie unmittelbar anschaulich vor, ich erfahre sie. Durch Sehen, Tasten, Hören usw., in den verschiedenen Weisen sinnlicher Wahrnehmung sind körperliche Dinge in irgendeiner räumlichen Verteilung für mich einfach da, im wörtlichen oder bildlichen Sinne ›vorhanden‹, ob ich auf sie besonders achtsam und mit ihnen betrachtend, denkend, fühlend, wollend beschäftigt bin oder nicht.« (Hu 5/56) Dass Bewusstsein und Dinglichkeit der Welt eine Einheit bilden, ist Husserl unzweifelhaft (Hu 5/80). Die Vorhandenheit der Welt der Dinge ist vorerst aber sinnlich und wird leiblich erfahren. Diese Weise der Gegebenheit muss bedacht sein, bevor diese selbe Welt, zur Klärung ihrer Wirklichkeit für ein Bewusstsein, der Époche unterstellt wird. So ordnet Husserl die Sinnlichkeit sowohl in ihrer sachlichen Bedeutung als auch methodisch ein: »Um ins klare zu kommen, suchen wir die letzte Quelle auf, aus der die Generalthesis der Welt, die ich in der natürlichen Einstellung vollziehe, ihre Nahrung schöpft, die es also ermöglicht, daß ich bewußtseinsmäßig als mir gegenüber eine daseiende Dingwelt vorfinde, daß ich mir in dieser Welt einen Leib zuschreibe und nun mich selbst ihr einordnen kann. Offenbar ist die letzte Quelle die sinnliche Erfahrung.« (Hu 5/80) Husserl denkt hier insbesondere an die »sinnliche Wahrnehmung« – sie ist die »Urerfahrung, aus der alle anderen erfahrenden Akte einen Hauptteil ihrer begründenden Kraft ziehen.« (Hu 5/81)14 Was wird hier erfahren? Im »Leben« der natürlichen Einstellung tritt das da seiende bloße Ding der Wahrnehmung entgegen: Wie es in »der Ursprünglichkeit des ›es selbst‹« gegeben ist (Hu 8/1/81). Aufs Ich bezogen beschreibt das den Prozess konstitutiver Genesis von Welt in ihrer »passiven« Erfahrungsform, das unablässige Konstituieren dinghaft-stofflicher Materie (Hu 8/1/81).15 Die lässt sich durch die »aktive« Synthesis praktischer Vernunft wohl modifizieren, doch bleibt

14. Ein weiterer »Hauptteil« wird sich als die allen Konstitutionsvorgängen zugrunde liegende Zeitlichkeit herausstellen. Siehe hierzu das übernächste Husserl-Kapitel. 15. Die »passive« Erfahrungsform liegt aller so genannten »aktiven Genesis« zugrunde. In die »Aktivität« gehören alle Leistungen der in einem weitesten Sinne praktischen Vernunft. (Hu 8/1/79f.) 317

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das sinnliche Ding »auch während und in dieser Aktivität stehende Vorgegebenheit«. ›Stehend‹ ist hier allerdings eine trügerische Bestimmung, denn der Charakter der passiven Synthesis ist es gerade, stetig im (zeitlichen) Fluss der Konstitution immer weiterer stofflicher Materie zu bleiben. So setzt Husserl denn auch fort: Es »verlaufen die mannigfaltigen Erscheinungsweisen, die einheitlichen visuellen oder taktuellen Wahrnehmungsbilder, in deren offenbar passiver Synthesis das eine Ding, daran die eine Gestalt usw., erscheint. Doch eben diese Synthesis hat als Synthesis dieser Form ihre sich in ihr selbst bekundende ›Geschichte‹.« (Hu 8/1/81) Sie bildet die dem Ich sinnlichmannigfaltige, konstituierende Vorgängigkeit oder Vorgegebenheit (zu) erfahrener Welt, sie gibt dem Ich seine jeweilige stofflich-materiale »Umgebung von ›Gegenständen‹« (Hu 8/1/82).16 Den »Gegenständen«, als an sich rein stofflich Vorkommendes des Sensuellen, eignet nichts Intentionales.17 Husserl lehnt es aber ab, für diesen Sachverhalt die Bezeichnung »Sinnlichkeit« beizubehalten. Obgleich er keinen Zweifel daran lässt, dass er eigentlich die vielgestaltigen Phänomene der Sinnlichkeit meint (also z.B. das durch die Sinne Vermittelte, dann Gefühle und Triebe etc.) (Hu 5/193), fasst er sie terminologisch und hinsichtlich ihrer Funktion in einem ›neuen‹ Ausdruck zusammen: »hyletische oder stoffliche Data, auch schlechthin Stoffe.« (Hu 5/194) Das sind Träger sensueller Erlebnisse bzw. Empfindungen, die sich als »formlose Stoffe« (hylé) den »stofflosen Formen« (morpheé) als Material geben – wie schon bei Aristoteles.18 So bilden sie den reellen Bestand eines jeden intentionalen Erlebnisses19 – und sind als Träger das jenen jeweils Zugrundeliegende, aristotelisch gesprochen: das hypokeímenon, wie es in der Geschichte als griechische Fassung von »Subjekt« fungiert. Gleichwohl ist das hyletisch Gegebene nicht einfach statisch da, denn das oben zur »Synthesis« Gesagte gilt auch hier: Das hyletische Empfindungsdatum hat als Ding die Form der Zeitlichkeit. »Das Ding als Gebilde einer aesthetischen Verknüpfung

16. Das fundamentalontologisch gedachte »In-der-Welt-Sein« und das »Verstehen« des heideggerschen Gedankens ist hiervon nicht weit. 17. Dass und wie sie qua Intentionalität Sinn gebend geformt werden, wird noch darzustellen sein. Dann wird schließlich ersichtlich, dass das (»reine«) Ich mit seiner Intentionalität nicht nur den »primären Inhalten« (Hu 4/708) der Sinnlichkeit, sondern auch dem Strom der Zeitlichkeit erfahrend aufliegt. Beide sind dem vermeintlichen Subjekt »Ich« das subiectum, das ihm Zugrundeliegende. 18. Aristoteles, Metaphysik, übers. v. Hermann Bonitz, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, hier: Siebtes Buch, Z.3, 178-181. 19. Hierzu: Werner Marx, Die Phänomenologie Edmund Husserls, München: Fink 1987, 52. 318

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DIE WELT ALS WIRKLICHKEIT DES BEWUSSTSEINS (HUSSERL)

baut sich aus sinnlichen Merkmalen auf, die ihrerseits aus kontinuierlicher Synthesis stammen.«20 Die Grundsätzlichkeit des Hyletischen für jegliche (im Weiteren noch darzustellende) Stufe des Bewusstseins bzw. der Intentionalität fasst Husserl so zusammen: »Empfindungen sind ja vom Standpunkt des reinen Bewußtseins die unentbehrlichen stofflichen Unterlagen für alle Grundarten von Noesen, und wenn das Bewußtsein, das wir Dingerfahrung oder auch Leibeserfahrung nennen, in seiner konkreten Einheit wesentlich Empfindungen als Stoffe der Auffassung […] enthält, […] so ist es evident, daß dieselben Empfindungen, die in der realisierenden Auffassung der materiellen Wahrnehmung als darstellende Inhalte für materielle Merkmale fungieren, in der neuen realisierenden Auffassung, die wir Leibeserfahrung nennen, als Empfindungszustände Lokalisation erhalten und nun spezifische Leiblichkeit erscheinen lassen, und endlich drittens unter dem Titel Wahrnehmungszustände des Ich (materielles Wahrnehmen und ebenso Leibeserfahren) Komponenten von Seelischem sind und somit in die Seele […] hineingehören und entsprechend in das Ichleben.«21 Das Spezifikum der sinnlichen Wahrnehmung, was es so grundlegend macht, ist, dass sie im Verlauf passiver Synthesis das je-weilige Ding zur anschaulichen originären Gegebenheit bringt. Das Ist-da des Dings ereignet sich als gewärtigendes Erfassen seiner »›leibhaftigen‹ Selbstheit« (Hu 5/14). Für jegliches Intentionale heißt das, dass die derart statthabenden Akte stets im originär Gebenden der Sinnlichkeit bzw. des Hyletischen fundiert sind – hiervon nicht auszugehen, wäre ein »Widersinn«.22 Gleichwohl: Zu beachten bleibt, dass die Simultaneität von sinn-

20. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, in: Husserliana, Bd. IV, hg. v. Marly Biemel, Den Haag: Martinus Nijhoff 1952, 19 (Fußnote). 21. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch. Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften, a.a.O. 1952, 11f. 22. »Die Akte schlichter Anschauung nannten wir sinnliche, die fundierten, unmittelbar oder mittelbar auf Sinnlichkeit zurückführenden Akte kategoriale. […] Es liegt in der Natur der Sache, daß letztlich alles Kategoriale auf sinnlicher Anschauung beruht, ja daß eine kategoriale Anschauung, also eine Verstandeseinsicht, ein Denken im höchsten Sinne, ohne fundierende Sinnlichkeit ein Widersinn ist. Die Idee eines ›reinen Intellekts‹, interpretiert als ein ›Vermögen‹ reinen Denkens (hier: kategorialer Aktion) und völlig abgelöst von jedem ›Vermögen der Sinnlichkeit‹, konnte nur konzipiert werden vor einer Elementaranalyse der Erkenntnis nach ihrem unaufhebbaren Bestande.« (Hu 4/712) 319

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

lich sich Gebendem und dessen rezeptiver bzw. perzeptiver Erfahrung (Wahrnehmung) nur eine scheinbare ist. Das gründet in der Zeitlichkeit jeglicher Erfahrung.23 In der Zeitlichkeit der Intentionalität gibt sich das Ding immer als erfahrungsvermitteltes und so schießt in die Wahrnehmung eine Perspektivik ein, die aus dem wahrgenommenen Ding immer schon eine gedeutete, intentionale Erfahrung in der Wahrnehmung hat werden lassen. Mit dieser stetigen Nachträglichkeit rückt das Bewusstsein in die Position der nachvollziehenden Zeugenschaft »sich entfaltende[r] Wirklichkeitsgebungen. […] Dieses Zeugesein ist das Grundproblem. Man ist nicht einfach im Nachhinein Zeuge, sondern immer schon Zeuge. Eine Art Kontinuum der Zeugenschaft – das ist die Wahrnehmung.«24 Zwischen obigem »Widersinn« und dem »Gleichwohl« des vorigen Absatzes scheint es keinen Ausgleich zu geben – das Verhältnis von Sinnlichkeit und intentionalem Bewusstsein scheint in eine Aporie zu geraten, da sich die Ursprungs-Frage nicht eindeutig beantworten lässt. Anders gesagt: Beide Seiten können sowohl das Konstituierende als auch das Konstituierte sein. Zu fragen wäre hier also nach dem Medium der Vermittlung, dem Raum der Schwelle, an dem sich der scheinbare Widerstreit ereignet. Das Ding, das nicht vollständig im Bewusstsein aufgeht, dessen Sein aber auch nicht ausschließlich dem Sinnlichen zugeschlagen werden kann, ist der Leib. Er ist »bei aller Erfahrung von raumdinglichen Objekten […] als Wahrnehmungsorgan des erfahrenden Subjektes ›mit dabei […]‹«25. Er ist immer der meine und ein Ich ist allererst, da es sich in und mit ihm sich-bewegendbewegt, erlebend erfährt. Der Modus des Nicht-Statischen, der sich hier, über die Leiblichkeit vermittelt, im Ich andeutet, weist schon voraus auf die Subjektivität der Erfahrung: Zeiterfahrung zu sein. Allerdings stellen die zum Leib zitierten Einsichten für die husserlsche Phänomenologie – anders votiert hier bspw. Merleau-Ponty – bekanntermaßen nur den point de départ dar, auf dem Weg zu einer Phänomenologie des »reinen Ich«. In der Folge wird die Domäne der »natürlichen Einstellung« und des Sinnlichen also verlassen, zumindest wird

23. Was sich mit der Diskussion hierzu im übernächsten Unterkapitel weiter erhellen wird. 24. Ernst Wolfgang Orth, »Zu Husserls Wahrnehmungsbegriff«, in: Husserl Studies 11, 1994/95, 153-168, hier: 164f. Orth befasst sich in diesem Aufsatz mit einer Reihe früherer Texte Husserls, Vorlesungen der Zwanzigerjahre und mit »Erfahrung und Urteil« (1929). 25. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, a.a.O., 1952, 144. 320

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DIE WELT ALS WIRKLICHKEIT DES BEWUSSTSEINS (HUSSERL)

sie als »Lebenswelt« eingeklammert, und demzufolge erörtert, wie sich die Welt als Wirklichkeit des Bewusstseins intentional gibt. So stellt der Leib auch für diesen Text hier – hier diesen – den Grenzraum dar. Die Einheit der Erlebnisweise der »natürlichen Einstellung« (s.o.), die »Generalthesis« (Hu 5/61), ist Fundament dafür, differenzierend bestimmen zu können, was es mit der Intentionalität auf sich hat. Damit erst wird »Welt« dann zum »Phänomen«, wie es die (husserlsche) Phänomeno-logie interessiert, und steht damit »im Blick rein als Korrelat der ihr Seinssinn gebenden Subjektivität, aus deren Gelten sie überhaupt ›ist‹.« (Hu 8/2/155) Auch innerhalb dieses Geltungsbereiches der Epoché bleibt die Sicherheit der Gegebenheit der Welt erhalten, denn ihre »Einklammerung« ergibt keine neue Welt, keine von der des unthematischen Lebensstroms andere. Was in dieser Welt gilt, besitzt auch in der epochalen Welt Gültigkeit, nur dass es nun in seinem Wie gewusst wird. Zudem folgt die »Einklammerung« einer subjekthaften Entscheidung (Hu 5/61ff.). Gesichert ist sie durch die Erfahrung des »Prinzip[s] aller Prinzipien« von der Gegebenheit (Existenz) von Welt: »daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen. Sehen wir doch ein, daß eine jede ihre Wahrheit selbst wieder nur aus den originären Gegebenheiten schöpfen könnte.« (Hu 5/51) Und in der Abstandnahme von dieser Welt der natürlichen Einstellung erhellt sich paradoxerweise aus dem Dass der Welt ihr Wie. Gerade im radikalen methodischen Anzweifeln des »Prinzips aller Prinzipien«, in der Ausschaltung der »Generalthesis« zeigt sich das Wesentliche des Wie des Bewusstseins, immer Bewusstsein von etwas zu sein, auf das es sich je gerade richtet.26 Das weltliche Erleben des subjektiven Bewusstseins ist intentional – dies wird als Sachverhalt in der Phänomenologie ausgelegt.

Das Wie des Bewusstseins und der »Sinn« Die »Lebenswelt« ist die Vorgabe der »Phänomenologischen Auslegung«. Diese ist »nichts dergleichen wie metaphysische Konstruktion und nicht, weder offen noch versteckt, ein Theoretisieren mit über-

26. Hierzu auch der materialreiche Aufsatz: Karl Mertens, »Das Problem des perspektivischen Sehens in Husserls Phänomenologie der Wahrnehmung«, in: Blick und Bild im Spannungsfeld von Sehen, Metaphern und Verstehen, hg. v. Tilman Borsche, München: Fink 1998, 45-61. 321

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nommenen Voraussetzungen oder Hilfsgedanken aus der historischen metaphysischen Tradition. Sie steht zu all dem in schärfstem Gegensatz durch ihr Verfahren im Rahmen reiner Intuition, oder vielmehr der reinen Sinnesauslegung durch erfüllende Selbstgebung. Insbesondere tut sie hinsichtlich der objektiven Welt der Realitäten […] nichts anderes – das kann nicht oft genug eingeschärft werden – als den Sinn auslegen, den diese Welt für uns alle vor jedem Philosophieren hat und offenbar nur aus unserer Erfahrung hat, ein Sinn, der philosophisch enthüllt, aber nie geändert werden kann und der […] in jeder aktuellen Erfahrung Horizonte mit sich führt, die der prinzipiellen Klärung bedürfen.« (Hu 8/1/154f.) Die Wirklichkeit dieser Erfahrung vollzieht sich in Akten des Bewusstseins und entsprechenden Modi der Vollzüge. Es bleibt das Charakteristische für die Moderne und für die aus ihren »Besinnungen« (Boeder) hervortauchenden Philosophien, deren medientheoretische Engführungen im Zweiten Teil behandelt wurden: dass dieses Bewusstsein ein intentionales und die Intentionalität in sich ein »Fluß« (Hu 5/167) immanenter Zeitlichkeit ist.27 Intentionalität und Zeitlichkeit sind die wesentlichen Parameter des phänomenologischen »Subjekts«. Der eigene Erfahrungsort wiederum dieses »Subjekts« ist der sensuelle Leib, wie er sich oben bereits zeigte. Mit der Epoché wird nun von der »natürlichen Einstellung« abgesehen und aufs Wie des Intentionalen hingeführt, aber dieses selbst noch nicht ausgelegt. Die Epoché ist zur Auslegung des Bewusstseins lediglich, aber das doch eben als ihre wesentliche methodische Bedingung, die Ein-führung. Nur in ihrem Rahmen erreicht man den »wirklichen Anfang«, die »absolute[ ], alles Seiende nach Sinn und Geltung konstituierende[ ] Subjektivität« (Hu 8/2/202). Diese erreichen zu können, spricht Husserl der kantischen Transzendentalphilosophie in der »Krisis«-Schrift ab, da diese aus »konstruktive[n] Begriffe[n]« gebaut sei, »die einer letzten Klärung prinzipiell widerstehen« (Hu 8/2/203). Die Formulierung »letzte Klärung« wiederum darf hier nicht metaphysisch verstanden werden im Sinne z.B. der sich selbst denkenden Vernunft bei Hegel. Mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer »letzten Klärung« stellt Husserl vielmehr radikal die Frage nach dem Anfang.28

27. Der berühmte jamessche Topos des stream of consciousness fasst diesen Zusammenhang gut zusammen. Husserl hatte James bereits in der ersten Hälfte der 1890er Jahre gelesen. Bernet vermutet, dass er dort Anregungen zur Konzeptionierung der »ausgedehnten« Gegenwart gefunden hat. Rudolf Bernet, »Einleitung«, in: Edmund Husserl, Texte zur inneren Phänomenologie des Zeitbewußtseins (1893-1917), hg. v. Rudolf Bernet, Hamburg: Meiner 1985, XI-LXVII, hier: XXIf. (Fußnote). 28. Husserl bringt es in den »Ideen« in der Abgrenzung zu den positiven Wissenschaften so auf den Punkt: Wir nehmen »unseren Ausgang von dem, was vor allen Standpunkten liegt: von dem Gesamtbereich des anschaulich und noch vor allem theore322

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Und seinen Ursprung findet dieser Anfang im – bereits zitierten – »Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei« (Hu 5/51). Was gibt diese Anschauung? Es sind die im inneren Zeitbewusstsein bzw. der immanenten Wahrnehmung erfahrenen und sich erfüllenden Intentionen adäquater Gegenstände. So wird konsequenterweise der sachliche Ursprung der phänomenologischen Transzendentalanalyse des »Subjekts« kongruent mit dem Einsatzpunkt der Phänomenologie als theoretisch-methodischem Dispositiv. So also: »Die gebende Anschauung der ersten, ›natürlichen‹ Erkenntnissphäre und aller ihrer Wissenschaften ist die natürliche Erfahrung, und die originär gebende Erfahrung ist die Wahrnehmung, das Wort in dem gewöhnlichen Sinne verstanden.« (Hu 5/11) Wahrnehmung und Wahrgenommenes dieser Welt fallen weder in eins, sind also nicht wesensmäßig verwandt (Hu 5/105), noch können sie als getrennt gedacht werden (Hu 5/106), sondern werden vielmehr in einem Sachverhalt auseinander gehalten (Hu 5/106).29 Hier beginnt die Differenzierung der Gegebenheitsweisen der Gegenstände im immanenten intentionalen Bewusstsein, in »Akten zweiter Stufe, deren Gegebenes das unendliche Feld absoluter Erlebnisse ist – das Grundfeld der Phänomenologie.« (Hu 5/107) Das Wie dieses Bewusstseins ist den Konturen des Subjekts kongruent. Was aber dieses Subjekt ist, wird sich erst nach Klärung der Eigentümlichkeiten des Bewusstseins finden lassen. Um dieses Wie darstellen zu können, muss es denaturisiert werden, um es also denken zu können, muss es ausgesagt werden, wie es nicht ist.30 Denn »Bewusstsein« meint den Fluss eines einheitlichen

tisierenden Denken selbst Gegebenen, von alledem, was man unmittelbar sehen und erfassen kann – wenn man sich eben nicht durch Vorurteile blenden und davon abhalten läßt, ganze Klassen von echten Gegebenheiten in Beachtung zu ziehen. Sagt ›Positivismus‹ soviel wie absolut vorurteilsfreie Gründung aller Wissenschaften auf das ›Positive‹, d.i. originär zu Erfassende, dann sind wir die echten Positivisten. Wir lassen uns in der Tat durch keine Autorität das Recht verkümmern, alle Anschauungsarten als gleichwertige Rechtsquellen der Erkenntnis anzuerkennen – auch nicht durch die Autorität der ›modernen Naturwissenschaft‹.« (Hu 5/45) 29. Das ist der § 50. 30. Die Gesamtheit dessen wird »das reine Ich« sein (Hu 3/372). Husserl hatte in den »Logischen Untersuchungen« die Möglichkeit der Aufweisung eines solchen »reinen Ich« noch mit dem Hinweis auf das stets Empirische des Ich abgewiesen. Zumal in der Auseinandersetzung mit Natorp in diesem Text. Schon für die zweite Auflage gilt dies nicht mehr so eindeutig (»Zusatz zur zweiten Auflage«) (Hu 3/376). Und die »Ideen« erkennen das »reine Ich« als zentrales Moment der Wesensanalyse des Bewusstseins an, erlauben aber, dass »für viele Untersuchungen die Fragen des reinen Ich in suspenso bleiben können.« (Hu 5/124) Für eine ausführlichere Darstellung der Entwick323

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Geschehens, in dem sich alle seine Momente aufeinander beziehen (Hu 8/1/77)31. Seine Darstellung ist eine ihn stillstellende Inszenierung, die als Phänomenologie durchgeführt und, mediatisiert in der Epoché, ausgelegt werden kann, die aber real nicht gewusst wird und reell nicht ist. Der enklavische Terminus für den Ort dieses »reinen Ich« lautet: »Transzendenz in der Immanenz« (Hu 5/124). Sie spielt bei jeder cogitatio eine wesentliche Rolle. Wie ist das sie Bergende gebaut? Aus der Erörterung dreier Begriffe (Hu 3/355ff.) von »Bewußtsein« filtert Husserl den phänomenologischen: das »Bewußtsein als intentionales Erlebnis«. Das scheint nichts Neues zu sein, war doch von dieser Relationalität oben schon mehrfach die Rede. Doch nun geht es um die »transzendentale« Analyse des Genannten. So meint »Erlebnis« in diesem Zusammenhang einen »Akt« (Hu 3/392) des Bedeutens, bei dem »alle Beziehung auf empirisch-reales ausgeschaltet bleibt« (Hu 3/ 357). Und die dazugehörige Struktur der Intention ist »das sich in der Weise der Vorstellung oder in einer irgend analogen Weise auf ein Gegenständliches Beziehen.« (Hu 3/392) Wie geht das vor sich? – In »der Weise der Vorstellung«? Liegt also dem intentionalen Erlebnis noch ein anderer Vorgang zugrunde? In der Tat setzt sich Husserl in den »Logischen Untersuchungen« ausführlich mit dem »Vorstellungs«Begriff (Brentanos) auseinander.32 Es ist nahe liegend, dass Husserl diesen Begriff so eingehend diskutiert, da seine Bestimmung der »Vorstellung« als etwas-vorstellig-machen allererst den die Intention und ihren Gegenstand verbindenden Topos erbringt. Demnach: »Ein intentionales Erlebnis gewinnt überhaupt seine Beziehung auf ein Gegenständliches nur dadurch, daß in ihm ein Akterlebnis des Vorstellens präsent ist, welches ihm den Gegenstand vorstellig macht. Für das Bewußtsein wäre der Gegenstand nichts, wenn es kein Vorstellen vollzöge, das ihn eben zum Gegenstande machte und es so ermöglichte, daß er nun auch zum Gegenstand eines Fühlens, Begehrens u. dgl. werden kann.« (Hu 3/443) Dass die »Weise« intentionaler Erlebnisse als »Vorstellung« bedacht ist, sagt schlechterdings noch nichts über deren »Eigenheit […] als solcher« (Hu 3/413) aus. Die Binnenstruktur des Intentionalitätsverhältnisses von Bewusstseinserlebnis und Gegenstand lässt sich nun auf verschiedene

lung der husserlschen Einschätzung des »reinen Ich«, siehe: Hartmut Tietjen, Fichte und Husserl. Letztbegründung, Subjektivität und praktische Vernunft im transzendentalen Idealismus, Frankfurt/Main: Klostermann 1980, 172-178. 31. An anderer Stelle veranschaulicht Husserl diesen Zusammenhang mit dem Bild des heraklitischen Flusses. Edmund Husserl, Die Pariser Vorträge, in: Husserliana, Bd. I, hg. v. S. Strasser, Den Haag: Martinus Nijhoff 1950, 18. 32. Gemeint sind hier die Kapitel drei bis sechs aus den »Logischen Untersuchungen«, Zweiter Band, Erster Teil, Abschnitt V, (Hu 3/§§ 22-45). 324

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Weise beschreiben. Das hängt davon ab, ob man (1) mit dem Husserl der »Logischen Untersuchungen« an der Klärung der triangulären Struktur des »intentionalen Inhalts« interessiert ist, oder sich (2) mit dem Husserl der »Ideen« an die Klärung des bipolaren Korrelationsverhältnisses intentionaler Vermeinung begibt. (1) Intentionaler Inhalt. Husserl unterscheidet drei Begriffe intentionalen Inhalts – die aber miteinander verknüpft sind: »den intentionalen Gegenstand des Aktes, seine intentionale Materie (im Gegensatz zu seiner intentionalen Qualität), endlich sein intentionales Wesen.« (Hu 3/413) Die in intentionalen Erlebnissen bzw. Akten vorgestellten Gegenstände sind wesentlich intentionale Gegenstände, d.h. ihre Wirklichkeit ist nicht noch neben dem Erlebnis »präsent« (Hu 3/386). Vielmehr besagt »Gegenstand«: Es »ist ein Akt da mit einer bestimmt charakterisierten Intention, die in dieser Bestimmtheit eben das ausmacht, was wir die Intention auf diesen Gegenstand nennen. Das sich auf den GegenstandBeziehenisteinezumeigenenWesensbestandedesAkterlebnisses gehörige Eigentümlichkeit, und die Erlebnisse, die sie zeigen, heißen (nach Definition) intentionale Erlebnisse oder Akte.« (Hu 3/427) Dass also ein Gegenstand als Inhalt einer Intention vorgestellt wird, gehört wesentlich zu jedem intentionalen Akterlebnis (Hu 3/414). Und diese Korrelation gilt, aus wie vielen Teilakten die Intention sich auch zusammensetzt (Hu 3/414f.) und obgleich die Gegenständlichkeit des Gegenstandes der »reell phänomenologische[n] Betrachtung« transzendent ist (Hu 3/427). Wie zum Spaß könnte man fragen: »Was haben die beiden Behauptungen ›2 x 2 = 4‹ und ›Ibsen gilt als Begründer des modernen Realismus in der dramatischen Kunst‹ gemeinsam?« Von Husserl zumindest würde man die ernst gemeinte Antwort bekommen: »Dieses Gemeinsame nennen wir die Urteilsqualität.« (Hu 3/426) Alle Akte sind als sie selbst, z.B. als Behauptungen, Urteile, Fühlen, Begehren, durch einen »allgemeinen Charakter« (Hu 3/425) gekennzeichnet, ihre »Qualität«. Davon begrifflich zu differenzieren – aber mit der Qualität zusammen eine Komponente desselben Aktes – ist der Inhalt des Aktes, seine »Materie« (Hu 3/425). Während in dem genannten Beispiel beide Aussagen qualitativ ein Urteil waren, waren sie material different.33 Natürlich sind Intentionen möglich, in denen die Materie unverändert bleibt, dafür sich die Qualität von Mal zu Mal ändert.34 Entscheidend für diese begriffsbestimmende Beschreibung der

33. Das eine Urteil entstammte der Mathematik, das andere der Literaturwissenschaft. 34. Was die diversen Möglichkeiten beweisen, über die Vorstellung von Lebewesen auf dem Mars zu sprechen – bspw. als Behauptung, Vermutung, Befürchtung etc. 325

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intentionalen Bezogenheit auf den Gegenstand ist nun: Die Materie ist das Moment des Aktes, »mit der die Beziehung auf den Gegenstand erst in das volle intentionale Wesen und so in das konkrete intentionale Erlebnis selbst hineinkommt.« (Hu 3/452)35 Es kommt der Materie (dem Inhalt) also eine ausgezeichnete Stellung im Intentionalen zu. Gleichwohl lässt Husserl keinen Zweifel daran, dass Aktmaterie und Aktqualität notwendig korrelativ aufeinander verwiesen sind (Hu 3/ 430). Sie sind »zwei einander fordernde Momente«, die »als die durchaus wesentlichen und daher nie zu entbehrenden Bestandstücke eines Aktes gelten müssen.« (Hu 3/431) Ihre Einheit ist das »intentionale Wesen« des Aktes, dessen »ideierende Abstraktion« eine »Bedeutung« allererst ergibt (Hu 3/431). In der Bindung von Materie und Qualität erwächst die Sicherung von »Bedeutung« im Verhältnis von Gegenstand und intentionalem Bewusstsein. Dass diese »Bedeutung« des Gegenstandes für das subjektive Bewusstsein »Sinn« ist, wird mit der Darstellung der Beziehung von Intention (Noesis) und deren Korrelat (Noema) sichtbar. (2) Noesis/Noema. Im »Strom des phänomenologischen Seins« (Hu 5/196) liegen sensuelle Erlebnisse, die rein stofflicher (»hyletischer«) Natur sind und an sich noch nichts Intentionales kennen. Dieses Moment der Hyle unterliegt einem formenden Erlebnisvorgang, durch den die hyletische Schicht ihrerseits zur prägnanten intentionalen Gerichtetheit des Bewusstseins wird. Dieser Vorgang beschreibt nochmals in anderer Begrifflichkeit, was bereits als das Spezifische des Bewusstseins gilt: dass es »eo ipso auf etwas hindeutet, wovon es Bewußtsein ist.« (Hu 5/194) Hieran hat sich phänomenologische Beschreibung zu halten, da alles im obigen Sinne ›bloß‹ Sensuelle an sich sinn-los bleibt. So zögert Husserl nicht, erstens die vieldeutigen Umschreibungen des Form gebenden Vorgangs im Begriff der »Noese« zusammenzufassen, und zweitens darauf hinzuweisen, dass diese Noesen »das Spezifische des Nus im weitesten Sinne des Wortes« ausmachen: nämlich »Sinngebung« zu sein (Hu 5/194). Der Gegenstand erscheint dem Bewusstsein als sein Sinn: Jener wird in der »Noese« Form gebend als Sinneinheit konstituiert. Jedes intentionale Erlebnis ist von solch einem formenden Moment der Sinngebung markiert, sonst bliebe es

35. In der VI. der Logischen Untersuchungen fasst Husserl diesen Sachverhalt nochmals so zusammen: »Die Materie galt uns als dasjenige Moment des objektivierenden Aktes, welches macht, daß der Akt gerade diesen Gegenstand und gerade in dieser Weise, d.h. gerade in diesen Gliederungen und Formen, mit besonderer Beziehung gerade auf diese Bestimmtheiten oder Verhältnisse vorstellt. Vorstellungen von übereinstimmender Materie stellen nicht nur überhaupt denselben Gegenstand vor, sondern sie meinen ihn ganz und gar als denselben, nämlich als völlig gleich bestimmten.« (Hu 4/617) 326

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DIE WELT ALS WIRKLICHKEIT DES BEWUSSTSEINS (HUSSERL)

unvermerkte, rein sinnliche Hyle. So gehört es zum Wesen der Intentionalität, »Sinn in sich zu bergen« (Hu 5/202).36 Das Sinn und Form gebende Moment der bewusstseinsmäßig gegenstandhaft vermeinenden Intentionalität ist also die »Noese«. Jenseits dessen – und doch immanent – besitzt auch die in der Intention vermeinte Gegenständlichkeit eine Entsprechung. Phänomenologische Aussagen, die die Bewusstseinstätigkeit der Konstitution des Gegenstandes als solche meinen, heißen »Noematische Aussagen« (Hu 5/205) – und die ihnen eigene Sache: »Noema«. Seitens also des »intentionalen Objekt[s]« (Hu 5/206) bildet sich als Korrelat der Noesis ein gegenständlicher Sinn (Hu 5/210), als der sich ein jedes intentionale Erlebnis objekthaft als solches abzeichnet. Das Vollzogene der Form bzw. Sinn gebenden Noesis ist das Noema, das spezifische Erlebnis als solches, das dem Erlebnis intentional immanent ist. In dem »als solches« liegt viel. Das intentionale Erlebnis in noematischer Hinsicht beschreiben, heißt, es auszulegen, als was es erscheint: das Erinnerte des Erinnerns, das Erwartete des Erwartens, das Fantasierte des Fantasierens, und neben Weiteren natürlich auch das Wahrgenommene des Wahrnehmens (Hu 5/210). Husserl erinnert auch an die Bedeutung des Noesis-NoemaVerhältnisses im Rahmen der Epoché-Methodik der Phänomenologie: »Die ›Einklammerung‹, die die Wahrnehmung erfahren hat, verhindert jedes Urteil über die wahrgenommene Wirklichkeit (d.i. jedes, das in der unmodifizierten Wahrnehmung gründet […]). Sie hindert aber kein Urteil darüber, daß die Wahrnehmung Bewußtsein von einer Wirklichkeit ist […]; und sie hindert keine Beschreibung dieser wahrnehmungsmäßig erscheinenden ›Wirklichkeit als solcher‹ mit den besonderen Weisen, in der diese hierbei […] bewußt sind. Mit minutiöser Sorgfalt müssen wir nun darauf achten, daß wir nicht anderes, denn als wirklich im Wesen Beschlossenes dem Erlebnis einlegen, und es genau so ›einlegen‹, wie es eben darin ›liegt‹.« (Hu 5/209) Aber was ist die Qualität des Verhältnisses von Noesis und Noema genau? Das Verhältnis ist eine Korrelation, wie sie wirklichkeitsdichter nicht sein kann. Husserl: »Überall entspricht den mannigfaltigen Daten des reellen, noetischen Gehaltes eine Mannigfaltigkeit in wirklich reiner Intuition aufweisbarer Daten in einem korrelativen ›noematischen Gehalt‹, oder kurzweg im ›Noema‹ – […].« (Hu 5/203) »[K]ein noetisches Moment ohne ein ihm spezifisch zugehöriges noematisches Moment, so lautet das sich überall bewährende Wesensgesetz.« (Hu 5/215) Das Bewusstsein hält sich mit dieser Parallelstruktur in der

36. Zu den diversen möglichen Formgebungstypen, siehe beispielhaft: (Hu 5/202f.). 327

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

Intentionalität seine Welt zusammen: Die Charaktere der Noemata, die für jedes Erlebnis andersartige sind, gehören als Korrelate je den Noesen notwendig zu. Der Sinngebung, die die Intentionalität qua Noesis an sich erfährt, entspricht das Wie des Als-Sinn-Gegebenen als solches, das Noema. »Die ›transzendentale‹ Reduktion übt Epoch hinsichtlich der Wirklichkeit: aber zu dem, was sie von dieser übrig behält, gehören die Noemen mit der in ihnen selbst liegenden noematischen Einheit, und damit die Art, wie Reales im Bewußtsein selbst eben bewußt und speziell gegeben ist.« Hierbei handelt es sich um »eidetische, also unbedingt notwendige Zusammenhänge«, denen der »Wesensbeziehungen zwischen Noetischem und Noematischem, zwischen Bewußtseinserlebnis und Bewußtseinskorrelat.« (Hu 5/228) Hierin liegt, dass jedem intentionalen Erlebnis der Gegenstand sowohl als solcher bewusst gegeben ist als auch in der Formung seines Wie, seiner »Gemeintheit«. Das Noematische insgesamt ist »Welt« – und diese ist es als Wirklichkeit des noetisch-intentionalen Bewusstseins. Hiermit rückt der oben geäußerte Gedanke wieder näher, dass das Wie dieses Bewusstseins den Konturen des »Subjekts« kongruent ist. Eine solche Rede besagt, dass das Bewusstsein nicht das »Subjekt« ist – worunter schlechterdings auch »der Mensch« oder »das Individuum« verstanden werden könnte, was aber angesichts der Eingebundenheit des Bewusstseins in die korrelativen Konstitutionsbewegungen des (phänomenologisch verstandenen) Seins kaum der Fall sein kann; und in den bisher analysierten Positionen der Moderne ebenfalls nicht der Fall gewesen ist. Was vielmehr diesem Bewusstsein, dass es prozedieren kann, und seiner Wirklichkeit zugrunde liegt – und in deren Korrelation eingelegt ist –, wird im nächsten Kapitel zu erörtern sein. Zuvor aber nochmals zurück zu obigem Gedanken: Zwischen Noesis und Noema besteht die sinnhafte Wesensbeziehung von »reinen Erlebnissen« auf ihre »reellen Komponenten« (Hu 5/296). Husserl erkennt hieran noch eine offen gelassene Frage, nämlich »wie der Bewußtseins-’Sinn‹ an den ›Gegenstand‹, der der seine ist, […] herankomme, wie wir das dem Sinn ansehen«, oder anders gesagt, »was die ›Prätention‹ des Bewußtseins, sich wirklich auf Gegenständliches zu ›beziehen‹, ›triftiges‹ zu sein, eigentlich besage, wie sich ›gültige‹ und ›ungültige‹ gegenständliche Beziehung phänomenologisch nach Noesis und Noema aufkläre« (Hu 5/296f.). Triftig und gültig ist die Intentionalität dann, wenn sie vernünftig ist. Das das intentionale Bewusstseinserlebnis sichernde »Vernunftbewußtsein« (Hu 5/314) tritt unter genau bestimmbaren Bedingungen auf: Der Setzungscharakter eines Bewusstseinserlebens wird dann mit Vernunftcharakter ausgezeichnet, »wenn er Setzung auf Grund eines erfüllten, originär gebenden Sinnes und nicht nur überhaupt eines Sinnes ist.« (Hu 5/316) Jede Setzung ist notwendig gebunden an das sie 328

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DIE WELT ALS WIRKLICHKEIT DES BEWUSSTSEINS (HUSSERL)

(vernünftig) motivierende »Leibhaft-Erscheinen eines Dinges«, das als originäre Gegebenheit den »ursprünglichen Rechtsgrund« der Setzung gibt (Hu 5/316). Ist Sinn so nun glaubensgewiss gesehen, ist die »Einheit einer Vernunftsetzung mit dem sie wesensmäßig Motivierenden« (Hu 5/ 316) gegeben: die Evidenz.37 Die Evidenz drückt sich in einer Äquivalenz aus, bei der zum einen »jedem ›wahrhaft seienden‹ Gegenstand die Idee eines möglichen Bewußtseins« entspricht, »in welchem der Gegenstand selbst originär und dabei vollkommen adäquat erfassbar ist. Zum anderen, »wenn diese Möglichkeit gewährleistet ist, ist eo ipso der Gegenstand wahrhaft seiend.« (Hu 5/329) Der Ausdruck »Evidenz« und seine Beschreibung als Äquivalenzverhältnis suggeriert eine stillstehende Situation des Wahren des Bewusstseins, die, orientiert am Rahmen der Darstellung, möglicherweise sogar ans System transzendentaler Subjektivität des Idealismus denken lassen könnte. Stattdessen aber ist die »Idee« der Gesamtheit möglicher wesensmäßig gegebenen Evidenzen als allseitig unendliches Kontinuum gedacht. Es besteht »in allen seinen Phasen aus Erscheinungen desselben bestimmbaren X […], derart zusammenhängend geordnet und dem Wesensgehalt nach bestimmt, daß jede beliebige Linie desselben in der Durchlaufung einen einstimmigen Erscheinungszusammenhang ergibt […].« (Hu 5/331) In diesem Fluss bleibt das zu bestimmende X an sich dasselbe, wird eben nur immer ›näher bestimmt‹, aber »niemals ›anders‹.« (Hu 5/331)38 So schält sich aus der Unendlichkeit möglicher Gegebenheiten dem Bewusstsein die Wirklichkeit des originär gebenden Sinns des Gegebenen heraus. Ein solcher bewusstseins-wirklicher Gegenstand »X« wird schließlich der (phänomenologischen) Sinnprüfung der Vernunftzusammenhänge unterzogen, die die lückenlosen aber unendlichen Verknüpfungen von noetischer und noematischer Sphäre als je spezifische Evidenzen erweist. Die Gesamtheit des materialen Sinns der Wirklichkeit des Bewusstseins heißt »Welt«. Im Verhältnis von Bewusstsein und Welt (Sinn) geht keine der beiden Seiten der je anderen voraus. Sie sind ein Sach-Verhalt, der auf sein Moment des Prozessualen hin als korrelative Konstitution bezeichnet werden kann. Der Ursprung der Welt liegt in der Sinn gebenden Wirklichkeit des Bewusstseins, und dieses wäre nichts ohne originär gegebenen Gegenstand – womit die Behauptung des »Ursprungs« (am Satzanfang) wiederum un-begründet bleibt. Die

37. Natürlich lässt Husserl keinen Zweifel daran, dass es verschieden leistungsstarke Evidenzen gibt, die sich jeweils auf andere »Sphären« beziehen, bspw. wesensmäßige (Arithmetik) oder individuelle (›Landschaft‹). Hierzu: (Hu 5/§ 138). 38. Mit der letzten Spezifizierung wird vor allem Derrida nicht mehr einverstanden sein, wie sich im Kapitel »Text« des Zweiten Teils zeigte. 329

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

Form dieser Ursprungs-Bewegung kommt dem bei Nietzsche Gesehenen sehr nahe. Die Tendenz der Differenz aber sei so benannt: Während in Nietzsches Gedanke betont wird, dass die Welt leiblich erschaffen wird, wird sie bei Husserl eher im Konstitutionsprozess vorgefunden. Gleichwohl bleibt auch hier das der Moderne Typische erhalten: Die Grund-losigkeit des Entspringens dessen was ist, ist der Grund (sic!) der progredierenden und prozedierenden Reproduktion und Reproduzierbarkeit des Sachverhaltes selbst. Die Faktizität des Gegebenseins von Welt verstellt ihre BeGründung und begreift alles, was ist, in ihre verzeitigten Strukturverhältnisse ein. Das gilt auch für die Position des Ich – selbst wenn dieses in der Theorie eines transzendentalen Ich als fiktives Zentrum (»Subjekt«) aller Bewusstseinsvorgänge vermeint wird.

Die Zeiterfahrung der Wirklichkeit Mehrfach wird in der Husserl-Forschung darauf hingewiesen, dass Husserl in den »Ideen« seine Analysen zum transzendentalen Bewusstsein »unterbricht«, um sich der Bedeutung der »Zeit« zuzuwenden.39 Ob diese Unterbrechung aber als »plötzlich« einzuschätzen ist, wie es die Wortwahl de Oliveiras vermuten lässt, bleibe dahingestellt. Nach den Darstellungen der vergangenen Kapitel erscheint es wohl zumindest nicht unerwartet, dass sich Husserl in den »Ideen« nach der Beschäftigung mit der »Beziehung der Erlebnisse auf das reine Ich« (§ 80), dann der »phänomenologische[n] Zeit« und dem »Zeitbewußtsein« widmet (§ 81). Zudem: Als die »Ideen« 1913 erstmals erscheinen, hatte Husserl »Zeit« schon seit rund zwanzig Jahren als bedenkenswertes Phänomen entdeckt.40 Bernet fasst die Grundgedanken Husserls – der Phase von 1893 bis 1911 – in vier »sachlichen Schwerpunkten« folgendermaßen zusammen: Zuerst erfolgt der »Übergang von der Frage nach dem psycho-

39. Bspw.: Manfredo Araújo de Oliveira, Subjektivität und Vermittlung. Studien zur Entwicklung des transzendentalen Denkens bei I. Kant, E. Husserl und H. Wagner, München: Fink 1973, hier: 193; auch Boeder, a.a.O., 1988, hier: 168. 40. Seither haben sich immer wieder namhafte Herausgeber der Edition der husserlschen Zeittexte gewidmet. Zum Beispiel Martin Heidegger mit dem Band IX des »Jahrbuch Philosophie und phänomenologische Forschung«, 1928, Rudolf Boehm mit dem Husserliana-Band X, 1966, oder auch Rudolf Bernet, 1985. Hier ist nicht der Ort, Rezeptionslinien der husserlschen Zeitphilosophie nachzuzeichnen. Notwendigerweise sei aber gleichwohl daran erinnert, dass der Ausgangspunkt des derridaschen Denkens wesentliche Anstöße in der kritischen Befassung mit Husserls Begriff der »Gegenwart« findet. 330

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DIE WELT ALS WIRKLICHKEIT DES BEWUSSTSEINS (HUSSERL)

logisch-genetischen Ursprung der Zeit zur phänomenologischen Beschreibung der Wahrnehmung von zeitlichen Gegenständen.« Sodann geht es vor allem um »die Ausschaltung der objektiven Zeit, die Wahrnehmung eines dauernden Gegenstandes sowie ansatzweise auch [um] eine verbesserte Lehre von der Wiedererinnerung.« Des Weiteren liegt der Schwerpunkt »bei der ausdrücklichen Anwendung der phänomenologischen Reduktion auf die Analyse des Zeitbewußtseins sowie bei der Entdeckung des ›absoluten‹, unzeitlichen Bewußtseins, in dem sich alle Zeitgegenstände konstituieren.« Schließlich wird die »Beschreibung der ›Retention‹ im Rahmen des Schemas ›Auffassung – Auffassungsinhalt‹ konsequent kritisiert und mit der neu ausgeführten Lehre der Retention zugleich auch die Eigenart und Funktion des absoluten Bewußtseins verdeutlicht.«41 Wie bestimmt sich die Zeitlichkeit nun strukturell und prozessual? Das »Ich« hält nicht die Position des »Subjekts«. A contrario kann es, wie jeder andere »Gegenstand« auch, zum phänomenologisch erhellbaren »X« im Sinnverhältnis von Bewusstsein und Gegenstand werden – wie Husserl in § 131 der »Ideen« festhält – und erscheint so als eidetischer Gegenstand einer Vernunft, die nicht mehr, wie bei Hegel, an sich die Freiheit der Idee erbringt, sondern nurmehr Evidenz prüfende Gestalt gegenüber unendlichen Möglichkeiten intentionaler Gegenstände ist. So kommt diese Vernunft erst post festum zur Geltung, denn auch wenn sie theoretisch-konzeptioneller Fluchtpunkt transzendentaler Phänomenologie ist,42 hat dieselbe Phänomenologie doch erwiesen, dass diese Wirklichkeit der Vernunft (transzendental) dieselbe ist, wie die Welt der »natürlichen Einstellung«. Die so nun eruierten phänomenologischen Strukturen des Sinns werden getragen von einem Strom, der die Zeitlichkeit des Bewusstseins-Erlebens ist – in ihn sind auch die phänomenologischen Reflexionen eingebettet, seien es auch solche zum »reinen Ich«. Mit dem Vollzug der Epoché verfällt die gesamte Welt der natürlichen Einstellung der Ausschaltung, so auch »Ich, der Mensch«. Es bleibt das reine Akterlebnis und als sein Zentrum die nicht-reduzierbare Form »reines Ich« (Hu 5/179). Seine Bestimmung lässt an den Beginn der hegelschen »Wissenschaft der Logik« denken, deren eigene Logik mit der Dialektik von Sein und Nichts einsetzt, wie sie als »reine« in ihrer »unbestimmten Unmittelbarkeit« ineinander übergehen und ihre Wahrheit in der Bewegung (»Werden«) finden (H 5/82f.). Eine solche Leere der Nicht-Bestimmung und -Bestimmbarkeit gibt es auch am husserlschen »reinen Ich«, nur dass der moderne Gedanke um die

41. Alle Zitate aus: Rudolf Bernet, a.a.O., 1985, XVIII. 42. Siehe: »Ideen«, Vierter Abschnitt. 331

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sprachliche Grenze seiner Darstellungsmöglichkeiten weiß: »es ist an und für sich unbeschreiblich: reines Ich und nichts weiter.« (Hu 5/179) Auf die Zeit hin besehen, entspricht dieses Modell des reinen Ich dem ausdehnungslosen Punkt des Jetzt (bspw. Hu 5/183). Auch bei Hegel schon war ein reines Ich im Zusammenhang mit dem Jetzt aufgetreten. In der »Phänomenologie des Geistes« kennt die sinnliche Gewissheit als ihre Wahrheit nur, dass die Sache Sein hat bzw., dass sie ist. »[D]as Bewußtsein seinerseits ist in dieser Gewißheit nur als reines Ich.« (H 3/82) Sein Erfahren ist eine an die Sinnlichkeit gebundene Unmittelbarkeit, in der das Jetzt gezeigt wird. Doch treten die sinnliche Erfahrung und das Aufzeigen des Jetzt zeitlich auseinander. Mit dem Vorgang des Aufzeigens schwindet die Unmittelbarkeit des Jetzt – das so nurmehr als Gewesenes gezeigt werden kann – in einem neuen Jetzt, welches seinerseits nur nachträglich vermeint werden könnte. Für Hegel folgt hieraus: »Das Aufzeigen ist also selbst die Bewegung, welche es ausspricht, was das Jetzt in Wahrheit ist, nämlich ein Resultat oder eine Vielheit von Jetzt zusammengefaßt; und das Aufzeigen ist das Erfahren, daß Jetzt Allgemeines ist.« (H 3/89) Der Modus der Nachträglichkeit des in der Sinnlichkeit vermeinten (Hegel) bzw. erfahrenen/erlebten (Husserl) Jetzt auf das Jetzt an und für sich sucht auch das husserlsche »reine Ich« heim. Alles, was ist, wird im zeitlichen Fluss kontinuiert. Vom »reinen Ich« kann dann aber nur retrospektiv die Rede sein, und immer nur es erstens verfehlend, wie es »an und für sich ist«, und, daraus folgend, es zweitens immer hinsichtlich seines Erlebens zu vergegenwärtigen. Ein zeitlicher Strom verbindet und »umspannt« (Hu 5/184) die Folge jeglicher Erlebnisse und verbürgt die Identität der Kontinuität (Hu 5/182).43

43. Der Gedanke der Identität der Kontinuität führt Husserl zum »Wesensgesetz«, »daß jedes Erlebnis nicht nur unter dem Gesichtspunkt der zeitlichen Folge in einem wesentlich in sich geschlossenen Erlebniszusammenhang steht, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Gleichzeitigkeit. Das sagt, daß jedes Erlebnis jetzt einen Horizont von Erlebnissen hat, die eben auch die Originaritätsform des ›Jetzt‹ haben, und als solche den einen Originaritätshorizont des reinen Ich ausmachen, sein gesamtes originäres Bewußtseins-Jetzt.« (Hu 5/184) An dieser Kopplung von unverbrüchlicher Identität der Kontinuität und Gleichzeitigkeit als jeweiliger Präsenz des ›Jetzt‹ wird Derrida seinen Ansatzpunkt der Dekonstruktion des husserlschen Gedankens finden. Sie geht vom husserlschen Zeichenbegriff aus (»Logische Untersuchungen«, Zweiter Band, Abschnitt I, »Ausdruck und Bedeutung«, Hu 3/30-112) und dringt in der Folge zum Problem der Zeitlichkeit vor. Auch wenn Derrida von Husserls Zeichen-Konzeption ausgeht: Die Dekonstruktion des Zeichens basiert sachlich auf jener der Zeitlichkeit des Bewusstseins. »Diese innige Verbindung der Nicht-Gegenwärtigkeit und Andersheit mit der Gegenwärtigkeit tastet das Argument der Nutzlosigkeit des Zeichens in der Selbstbeziehung an seiner Wurzel an.« (D SP/90) 332

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DIE WELT ALS WIRKLICHKEIT DES BEWUSSTSEINS (HUSSERL)

Die phänomenologische Kopplung, die Husserl durchführt, von Ich und erlebter Wirklichkeit, wird erst lesbar auf der ihr zugrunde liegenden Strömung, die die Zeiterfahrung des Bewusstseins von Welt als seiner Wirklichkeit ist (Hu 5/182f.). So leuchtet dann ein, dass auch der scheinbare Schlussstein phänomenologischer Reduktion, das transzendentale Bewusstsein namens »reines Ich« (Hu 5/158f.), doch nicht das »Absolute« ist. Es »ist in Wahrheit nicht das Letzte, es ist etwas, das sich selbst in einem gewissen tiefliegenden und völlig eigenartigen Sinn konstituiert und seine Urquelle in einem letzten und wahrhaft Absoluten hat« (Hu 5/182) – der Zeitlichkeit. Erst mit Rücksicht auf das Faktum, dass »Erlebnis« eine (eine?) zeitlich verfließende Erfahrung darstellt, erhellt sich der Sinn der Paraphrase von »Intentionalität« als »Bewusstsein von …« – und erhellt sich nicht nur die Paraphrase, sondern vor allem die Sache selbst: Die in der Formulierung »Bewusstsein von …« ausgedrückte, scheinbar nur strukturelle Distanz zwischen Noesis und Noema ist vielmehr eine dem Noesis-Noema-Verhältnis zugrunde liegende Zeitlichkeit. Dem Bezug der Noesis aufs Noema, oder auch des ›Ich‹ auf sein intentional vermeintes Ding (Gegenstand), liegt die Zeitlichkeit des Verhältnisses selbst zugrunde und insofern dieses als Konstitutionsvorgang gedacht wird, ist es die Zeitigung des Verhältnisses selbst. Gerade hierdurch wird die Trennung der Seiten (Subjekt-Objekt-Verhältnis) ruiniert und beider Positionen rücken in ein intermediäres Verhältnis des Zwischen ein. Husserl betont dementsprechend die Verflechtung von Kontinuität und Konstitution: »Eine gewisse Erscheinungskontinuität, nämlich eine solche, die Phase des zeitkonstituierenden Flusses ist, gehör[t] zu einem Jetzt: nämlich zu dem, das sie konstituiert, und gehör[t] zu einem Vorher, nämlich zu dem, das konstitutiv ist (wir können nicht sagen: ›war‹) für das Vorher.«44 Die Erfahrung, in der das Bewusstsein die Welt als seine Wirklichkeit ursprünglich bildet, sein intentionales Erlebnis, ist eine Zeiterfahrung. In ihr erst geht der Sinn des Wirklichen auf, und zwar in der Form eines zeitlich strukturierten Konstitutionsprozesses, der nicht absetzbar ist und so auch das vermeintliche Subjekt »reines (Vernunft-) Ich« in sich einbeschließt und durchzieht. Subjektivität also besteht darin, kein stillgestellter Ort zu sein, sondern einer des zeitlichen Verfließens von Erfahrung, die das Bewusstsein von Welt als seine eigene Erlebnis-Wirklichkeit macht. Diese Subjektivität der Zeitlichkeit ist von Husserl als eine starke gedacht, deren ursprüngliches Entspringen aber weltlich verstellt ist: Es gibt für sie nur ein »Bild«, aber keinen

44. Edmund Husserl, »›Bewußtsein (Fluß), Erscheinung (immanentes Objekt) und Gegenstand‹«, in: Texte zur inneren Phänomenologie des Zeitbewußtseins (18931917), hg. v. Rudolf Bernet, Hamburg: Meiner 1985, 234-248, hier: 237. 333

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

»Namen«. Husserl: Ist der zeitliche Fluss nicht doch »ein Nacheinander, hat er nicht doch ein Jetzt, eine aktuelle Phase, und eine Kontinuität von Vergangenheiten, in Retentionen jetzt bewußt? Wir können da nicht helfen und nur sagen: Dieser Fluß ist etwas, das wir nach dem Konstituierten so nennen, aber es ist nichts zeitlich ›Objektives‹. Es ist die absolute Subjektivität, und hat die absoluten Eigenschaften eines im Bilde als ›Fluß‹ zu Bezeichnenden, eines Aktualitätspunktes, Urquellpunktes ›Jetzt‹ etc. Im Aktualitätserlebnis haben wir den Urquellpunkt und eine Kontinuität von Nachhallmomenten. Für all das haben wir keine Namen.«45 Die je-weilige Erlebnisaktualität ist stets von einem »allgemeine[n] Milieu« weiterer Erlebnisse umgeben, das zwar gerade für diesen Moment nicht der »ausgezeichneten Ichbezogenheit« in einem starken Sinne gegenwärtig ist, das aber gleichwohl jederzeit die Möglichkeit des Wechsels eines Erlebens aus dem »Bewußtseinshintergrund« in den aktuellen Vordergrund in sich birgt. So ist dieses Milieu das »Feld der Freiheit« (Hu 5/179). Aufgrund der zeitlichen Kontinuität des Erlebens ist es zudem perzeptiv potenziell unendlich. Das erfahrende Ich entscheidet über die »ausgezeichnete« Auswahl. Genauer: Das Ich erfährt nicht zuerst ein Etwas und entscheidet dann über das Wie dieses Etwas als dessen Interpretation. Vielmehr ist die je aktuelle Wirklichkeit Ausdruck des bewusstseinsmäßigen Konstitutionsstromes noetischnoematischer Verflechtungen. Die Auszeichnung des Jetzt zum Gegenwärtigen hat als Konstitution von Wirklichkeit dann immer schon stattgefunden und ist im nächsten Augenblick wieder ein vergangenes (Retention) für ein weiteres Jetzt; und so immer weiter, vom Protentionalen herkommend. Das ist unendlich auch aus dem Grund, da der Erlebnisstrom nie als »ein durch einen einzigen reinen Blick Gegebenes oder Gebendes« erfasst werden kann. In einem paradoxen Sinne ›erfassbar‹ ist er nur in seiner »›Grenzenlosigkeit im Fortgang‹« (Hu 5/ 185). So aber bleibt »die adäquate Bestimmung [des] Inhaltes, hier des Erlebnisstromes unerreichbar« und wir erfassen ihn nicht als etwas »aufs Geratewohl Gesetztes oder Behauptetes, sondern [als] ein absolut zweifellos Gegebenes« (Hu 5/186). Die Subjektivität des Bewusstseins, die Zeitlichkeit, ist an sich »die einheitliche[ ] Form aller Erlebnisse« (Hu 5/180) – sie hat zum Inhalt das Gegebene intentionaler Erfahrungswirklichkeit und als die ihr eigene Form den Perspektivismus vor-läufig konstituierter Aktualität, die als »konkretes Erlebnis« immer unvollständig und »›ergänzungsbedürftig‹« bleibt (Hu 5/186). Der Perspektivismus findet bei Husserl sein ursprünglich-entspringendes Moment der Produktion aber nicht, wie bei Nietzsche, in der machtvollen Setzung ästhetisch selbst-erfahren-

45. Husserl, a.a.O., 1985, 237. 334

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DIE WELT ALS WIRKLICHKEIT DES BEWUSSTSEINS (HUSSERL)

der Leiblichkeit,46 sondern in der Konstitution bewusstseinshafter Wirklichkeit (Welt) als intentionale Erfahrung, in dem Strom eines nur retrospektiv abzuschildernden jeweiligen Jetzt, konturiert aus potenziell unendlichen Virtualitäten und weiteren Jetzt, die jeweilige Perspektive des aktuellen Jetzt ergebend. Die intentional konstituierten Konturen der Zeiterfahrung der Wirklichkeit sind denen des Ich kongruent, das sich an jenen aus- und stets umbildet. Der Ort dieses Ich sind die Margen des Zwischen von subjektiver Zeitlichkeit und objekthafter Welt als Wirklichkeit des Bewusstseins. Indem Daten protentional kommen und retentional vergehen, macht das leibhaft-sinnliche Erleben des Ich, als Zeiterfahrung, aus dem punktierten Ort einen ausgedehnten Grenzraum (Schwelle) in dem die Wirklichkeit als Jetzt je neu konstituiert wird.

46. Zum Vergleich mit dem Gedanken Nietzsches in dieser Hinsicht, siehe auch nochmals: Boehm, a.a.O., 1968, 227f. u. 234f. 335

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JENSEITS VON HUMANISMUS UND TECHNIK (HEIDEGGER)

Jenseits von Humanismus und Technik (Heidegger) Wir haben eine Redaktions-Philosophie, eine Sender-Philosophie, eine BildPhilosophie, eine Interview-Philosophie, wir haben unwahrscheinlich viele Philosophien, weil wir in Wirklichkeit überhaupt keine haben. Und selbst wenn wir eine Philosophie hätten, würde die immer nur heißen: Noch mehr Zuschauer. Friedrich Küppersbusch

Von Briefen über Humanismus und »Anthropotechniken« Walter Benjamin wusste, dass Baudelaire letztlich kein Flaneur war. Zwar bewegt er sich in der Menge, doch geht er gegen sie an. Die Haltung, mit der er dies tut, ist in seinen Texten zur Erfahrung der Moderne zusammengeschmolzen. Wie Benjamin sagt: Sie bezeichnen den Preis, »um welchen die Sensation der Moderne zu haben ist: die Zertrümmerung der Aura im Chockerlebnis. Das Einverständnis mit dieser Zertrümmerung ist ihn teuer zu stehen gekommen.« (B I/653ff.) Friedrich Nietzsche, der nur durch eine Generation getrennte Zeitgenosse Baudelaires, dessen Krankheit ihn überkam etwa zu der Zeit, als Benjamin das Licht der Welt erblickte, – Nietzsche also schreibt in der Vorrede zu seiner »Genealogie der Moral« vom Unbekannten, der wir selbst uns selbst sind.1 Und Nietzsches »Herdenmoral« in Erinnerung, ist man geneigt hier auf Kafkas »Schaf« vorauszudenken. Seinem Tagebuch vertraut der Schriftsteller an: »Ich bin wirklich wie ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft.«2 Nietzsche jedenfalls weiß einen

1. Hierzu äußerte sich ausführlich das Kapitel zu Nietzsche. 2. Franz Kafka, Schriften. Tagebücher. Briefe. Kritische Ausgabe, hg. v. J. Born et al., Frankfurt/Main: Fischer 1990, 594 (19. November 1913). Diesen Hinweis verdanke ich Susanne Kaul (Universität Bielefeld). 337

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

»Guten Grund« (N 5/247) für die Selbstverfehlung des Erkennenden: »Wir haben nie nach uns gesucht« (N 5/247). Nach wem oder was haben wir denn gesucht? Nietzsche würde antworten: Wir haben gar nicht gesucht, sondern immer schon gefunden, vorgefunden, nämlich die das »Leben« nihilierenden »wahren« Welten der »Ideen« – Platonismus, Christentum etc. –, die scheinbar helfen, human zu bleiben, oder: die helfen, scheinbar human zu bleiben. Nur dadurch, so Nietzsche, sind wir für das Erleben der Sachen selbst des »Lebens« nicht mit dem Herzen dabei – und auch nicht mit dem Ohr (N 5/247). Sonst könnten wir vielleicht hören, was das Erlebnis im Ereignis des Seins uns zuspricht: Dass der Nihilismus begonnen hat, sich sich-vollendend auszutragen und es mithin nichts mehr ist mit dem an Idealen orientierten Menschenbild à la Humanismus. Was führt dazu, Benjamins »Chock« und Nietzsches ahumanistische Nihilismus-Analyse hier zusammenzustellen? Die Trennung von Natur und Geschichte, von Sein und Denken wird im Text der Moderne aus- und vorangetragen. Wer sich – nach Heidegger – hierauf einlässt, kann dies bspw. mit einem epistem-historisierenden A-Humanismus tun oder auch Materialität und Medialität der humanistisch-geisteswissenschaftlichen Kultur-Tradition analysieren. Peter Sloterdijk hatte sich mit seiner so genannten »Elmauer Rede« der Korrelation des Historisch-Relativen von Ideen, hier dem »Humanismus«, und dem Medienwandel bzw. der Technikentwicklung zugewandt.3 Mit seiner Zuspitzung des Themas auf die »Anthropotechniken« entzündete er einen theoriepolitisch heißen Herbst 1999. Sein Vortrag im Rahmen der Tagung »Neue Wege des Humanismus«, am 16. September 1999 in DIE ZEIT nachträglich publiziert, trug den Titel »Regeln für den Menschenpark – Eine Antwort auf den Humanismusbrief«, und löste sowohl in den so genannten akademischen Fachkreisen als auch in den Feuilletons eine wochenlange Debatte aus.4

3. Für Sloterdijk war dieser methodische Ansatz – entgegen des durch das agenda setting der Massenmedien hervorgerufenen Eindrucks – mitnichten ein neuer Angang. Beispielsweise in »Der starke Grund, zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes« – der, neben der Publikation in Buchform bei Suhrkamp, auch massenmediale Verbreitung in DIE ZEIT fand – geht er der Frage nach, welcher Zusammenhang zwischen dem Bestehen einer »Nation« und den massenmedialen Formen der Sicherung ihres Fortdauerns besteht. Die zwei Orte der Veröffentlichung gleichen Titels: Peter Sloterdijk, »Der starke Grund, zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes«, in: DIE ZEIT, Nr. 2, 2. Januar 1998, 9-12. Und: Ders., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. 4. Peter Sloterdijk, »Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismusbrief«, in: DIE ZEIT, Nr. 38, 16. September 1999, 15 u. 18-21. Der Text erschien später unter demselben Titel auch in Buchform: Frankfurt/Main: 338

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JENSEITS VON HUMANISMUS UND TECHNIK (HEIDEGGER)

Sloterdijk war scheinbar, um mit Benjamin zu reden, gegen die Menge angegangen und hatte ihr mit seinen Ausführungen einen »Chock« versetzt, indem seine nüchterne Diagnose, rhetorisch-ironisch gekleidet, ergab, dass die moderne »Zertrümmerung der Aura« auch heißt einzusehen, dass auch der Mensch – durch den Menschen – technisch reproduzierbar (geworden) ist. Der Radikalreformer Nietzsche hatte, am Ende seines Durchgangs der historischen Verstellungen des »Lebens« durch sich ablösende Formen des Nihilismus schließlich in der seinigen Zeit angelangt, einen Nihilismus in eigener Sache konstituiert und konstatiert. Denn die Frage war nun, wie fortan, nach der Destruktion metaphysisch gesicherter Moralität, die moralische Bestimmung des Menschenwesens würde gedacht (und gelebt) werden können – hier, in dieser weder wahren noch scheinbaren Welt. Welches würden die Parameter sein können, die das Zusammenleben der Menschen zwischen Pädagogisierung und Individuation tarieren? Nietzsches Entscheidung für das Leiblich-Sinnliche und den ästhetisch-künstlerischen Entwurf der Existenz ließ sehen, dass es die Rationalität der »kleinen Vernunft« nicht würde sein können, da diese sich stets in der Multi-Perspektivik der »großen Vernunft« (Leib) zu inkarnieren hat. So blieb mit Nietzsches positiv-nihilistischer Entsagung rational diskursivierter Werte vorerst ein offenes Erbe: die Frage nach den Produktionsmöglichkeiten der moralisch-geistigen Bestimmung des Menschen durch den Menschen und für das Zusammenleben der Menschen. Der »Diskurs über die Differenz und Verschränkung von Zähmung und Züchtung, ja überhaupt der Hinweis auf die Dämmerung eines Bewußtseins von Menschenproduktionen und allgemeiner gesprochen: von Anthropotechniken – dies sind Vorgaben, von denen das heutige Denken den Blick nicht abwenden kann, es sei denn, es wollte sich von neuem der Verharmlosung widmen.« (Slo RM/20) Heidegger wird es sein, der dieser – auch nietzscheanischen – Vorgabe nachstellt. Und Sloterdijk war es, der Heidegger aufs Aktuelle hin nochmals zum Sprechen brachte. Man könnte auch sagen: Sloterdijk wurde durch eine Sendung Heideggers in eigener Sache angestoßen. Als Abschluss von »Identität und Differenz« gibt Heidegger nämlich einige »Hinweise« zur weiterführenden Lektüre, wo es unter anderem heißt: »Erst im Zurückdenken aus der vorliegenden Schrift […] wird der Brief über den Humanismus (1947), der überall nur andeutend spricht, ein

Suhrkamp 1999. Für weitere Publikationen zu dieser, auch schon vor der massenmedialen Veröffentlichung des Vortragstextes mehrere Wochen auf die Agenda der Zeitungen und Zeitschriften gesetzten Auseinandersetzung, sei auf das Literaturverzeichnis verwiesen. 339

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

möglicher Anstoß zu einer Auseinandersetzung der Sache des Denkens.«5 Bleibt man angesichts der dringlichen und aktuell brisanten Motivierung durch die »Anthropotechniken« noch im sloterdijkschen Bild vom »Humanismus« und wendet sich – vorerst – dessen Moment des Medialen zu, ergibt sich für den heideggerschen Einsatz folgendes Setting: Mit der Flexibilität des altgriechischen Alphabets ist die medientechnisch notwendige Bedingung für die Entstehung (Einführung?)6 der Schriftkultur gegeben. Der hierdurch beginnende und bis heute anhaltende »Kettenbrief durch die Generationen« (Slo RM/15) führt bald auch das Konzept der humanitas mit sich. Im schreibenden Antworten auf all diejenigen, die zuvor schon geschrieben haben, setzt es sich als so genannte Tradition fort und gibt sich selbst das Programm, »freundschaftsstiftende Telekommunikation im Medium der Schrift« (Slo RM/15) zu sein. Das moderat klingende Moment des Freundschaftsstiftenden kann sich allerdings bis zur Ausbildung, Verfestigung und technisch versierten und pervertierten Perpetuierung des Nationalen und der es begleitenden Identitätsmythen ausagieren. Eine letzte Hochphase dessen deckt sich mit der Gründungs- und Verlaufsphase der Moderne: 1789 – 1945 (Slo RM/18). In deren letzten Jahrzehnten kündigt sich die Krise und die Ablösung des kommunionsstiftenden fortgeschriebenen Humanismus an. Sie hat ihren Ursprung in der »medialen Etablierung der Massenkultur« (Slo RM/18) durch den Rundfunk (allgemeiner regelmäßiger und kommerzieller Hörfunk ab 1920; elektronisches Fernsehen von Zworykin 1923/1931)7 und hat sich bis heute, durch die Etablierung der Computervernetzung, vollzogen.8 Sloterdijks These lautet dementsprechend: »Moderne Großgesellschaften können ihre politische und kulturelle Synthesis nur noch marginal über literarische, briefliche, humanistische Medien produzieren. […] Es sind inzwischen neue Medien der politisch-kulturellen Kommunika-

5. Martin Heidegger, Identität und Differenz, Stuttgart: Neske 1996, 69f., hier: 70. 6. Dass die Verbreitung einer Sprache durch machtvolle Einführungs-Strategien bedingt ist und verfolgt wird, hat Derrida beispielhaft am Französischen vorgeführt. Jacques Derrida, »Wenn Übersetzen statt hat. Die Philosophie in ihrer Nationalsprache«, in: Diskursanalysen 2. Institution Universität, hg. v. Friedrich Kittler, Manfred Schneider u. Samuel Weber, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, 12-30. 7. Hans H. Hiebel, Kleine Medienchronik. Von den ersten Schriftzeichen zum Mikrochip, München: Beck 1997, 103ff. und 153ff. 8. An diesem Gedanken setzen auch die Untersuchungen von Norbert Bolz an. Bspw. in: Theorie der neuen Medien, München: Fink 1990; Chaos und Simulation, München: Fink 1992; Am Ende der Gutenberggalaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München: Fink 1993. 340

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tion in Führung gegangen, die das Schema der schriftgeborenen Freundschaften auf ein bescheidenes Maß zurückgedrängt haben. Die Ära des neuzeitlichen Humanismus als Schul- und Bildungsmodell ist abgelaufen, weil die Illusion nicht länger sich halten läßt, politische und kulturelle Großstrukturen könnten nach dem amiablen Modell der literarischen Gesellschaft organisiert werden.« (Slo RM/18) Gleichwohl: Die literal sich reflektierende Orientierung am Ideal der ethisch-kulturellen Höchstentfaltung des Menschenmöglichen durch Ästhetisches (Schrift) erlebte nach 1945 nochmals eine Renaissance. Sloterdijk weist darauf hin, dass schon der antike Humanismus den ihn allererst motivierenden Gedanken mit sich führt, gegen die Tendenzen des Barbarischen im Menschen (pane et circensis) die Zähmung durch Schrift und Lektüre zu setzen. Dieser Sachverhalt deutete sich in seiner modernen Variante oben mit dem Erbe von Nietzsches Nihilismus-Analyse so an, dass fortan subtextuell die Frage mitlaufen würde, wie die humanitas post-metaphysisch zu begründen sein könne. Andersherum: wie, samt und trotz des Wissens um den unbezähmbaren Radikal-Perspektivismus auch der »kleinen Vernunft« im geistigen Gepäck, das Tier im Menschen würde gezähmt oder sediert werden können. Diese Frage ist die subtextuelle Begleiterin der Diskussionen um die Möglichkeiten des Humanismus in der Moderne, und wird daher von dieser nicht eigens beantwortet. Stattdessen wird man – auch im Sinne Sloterdijks – sagen können, dass die Reaktion auf diesen Subtext der Sache des Humanismus darin bestand, die Debatte um die humanitas gerade auch nach 1945 zeitgemäß als Reaktion aufs Barbarische fortzusetzen. »Humanismus als Wort und Sache hat immer ein Wogegen, denn er ist das Engagement für die Zurückholung des Menschen aus der Barbarei. […] Das latente Thema des Humanismus ist also die Entwilderung des Menschen, und seine latente These lautet: Richtige Lektüre macht zahm.« (Slo RM/18f.) Beispielhaft für den damaligen historischen Kontext sei hier nochmals an das so genannte »Darmstädter Gespräch« von 1950 erinnert, bei dem das »Menschenbild in unserer Zeit« verhandelt wurde. Hier trafen sich Künstler, Kunsthistoriker, Philosophen und Psychologen, um anhand der Abstrakten Malerei (der damals führenden Kunstform) die Möglichkeiten des Humanen fünf Jahre nach dem Ende von Naziherrschaft und Zweitem Weltkrieg auszuloten. So widerstreitend die Meinungen im Einzelnen waren, Einigkeit herrschte darüber, dass es um den ganzen, ›heilen‹ Menschen zu gehen habe.9 Prominenter, und populärer vor allem, wurde allerdings Sartres

9. Hierzu: Timo Skrandies, »›Verlust der Mitte‹?«, in: »Flächenland«. Die abstrakte Malerei im frühen Nachkriegsdeutschland und in der jungen Bundesrepublik, hg. v. Hans Körner, Tübingen u. Basel: Francke 1996, 20-51. 341

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Zur-Vernunft-Rufen der existenzialistischen Pariser Jugend. Die hatte nämlich Sartres Diktum, dass der Mensch zur Freiheit verurteilt sei, popkulturell umgedeutet, so dass Sartre am 29. Oktober 1945 dagegenhielt: »L’existentialisme est un humanisme.« Rund zwei Jahrzehnte später wird lesbar, wie Sartre in eigener Sache den Sinn seines Tuns als intellektueller Produzent von ethischen Werten und denen von Waren humanistisch fundiert. Es illustriert nochmals die ZähmungsFunktion der (verschriftlichten) »Wörter« für den Menschen und das Bild, das dieser sich von sich macht – und zu machen hat. Sartre schreibt 1963 in »Les Mots«: »Ich habe das geistliche Gewand abgelegt, aber ich bin nicht abtrünnig geworden: ich schreibe nach wie vor. Was sollte ich sonst tun? Nulla dies sine linea. Schreiben ist meine Gewohnheit, und außerdem ist es mein Beruf. Lange hielt ich meine Feder für ein Schwert: nunmehr kenne ich unsere Ohnmacht. Trotzdem schreibe ich Bücher und werde ich Bücher schreiben; das ist nötig; das ist trotz allem nützlich. Die Kultur vermag nichts und niemanden zu erretten, sie rechtfertigt auch nicht. Aber sie ist ein Erzeugnis des Menschen, worin er sich projiziert und wiedererkennt; allein dieser kritische Spiegel gibt ihm sein eigenes Bild.«10 Das ist Sartres Antwort auf Jean Beaufrets Frage an Heidegger: »Comment redonner un sens au mot ›Humanisme‹?« (Hei BrH/315) Sloterdijks Antwort hierauf fällt anders aus – und geht in zwei Passagen über die Grenzlinie des heideggerschen Gedankens hinaus. Erstens findet sich diejenige Antwort, in der Sloterdijk das medientechnische Moment des Humanismus pointiert.11 Dieser Gedanke war oben begonnen worden und soll nun noch zu Ende geführt werden. Den humanistischen Entwürfen menschlicher Kommunion liegt ein Modell von Gemeinschaft zugrunde, das wesentlich von der Literalisiertheit ihrer Mitglieder und deren zuallererst gemeinschaftsstiftendem Austausch im Medium der Schrift ausgeht. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kündigt sich allerdings ein Medienwechsel an (s.o.), der mit der Durchsetzung der so genannten »Informationsgesellschaft« als etabliert gelten kann. Die »soziale Synthesis« wird nun nicht mehr über die bislang tradierten Kulturtechniken der Schrift produziert, sondern die »Koexistenz der Menschen [ist] in den aktuellen Gesellschaften auf neue Grundlagen gestellt worden. Diese sind, wie sich ohne Aufwand zeigen läßt, entschieden post-literarisch, post-epistolographisch und folglich post-humanistisch.« (Slo RM/18) Das ist aller-

10. Jean-Paul Sartre, Die Wörter, übers. v. Hans Mayer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, 144. 11. Als »Medien« werden von Sloterdijk in diesem Zusammenhang »die kommunionalen und kommunikativen Mittel [verstanden], durch deren Gebrauch sich die Menschen selbst bilden zu dem, was sie sein können und sein werden.« (Slo RM/19) 342

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JENSEITS VON HUMANISMUS UND TECHNIK (HEIDEGGER)

dings nicht nur das zukunftsrelevant Optierte. Für die ›Pflege‹ der literalen Vergangenheit könnte das bedeuten, dass die Zustellungen uns von dort nicht mehr erreichen können und »sich in archivierte Objekte [verwandeln]« (Slo RM/21). Ob das – im benjaminschen Sinne – ad plures ire für uns Heutige noch Sinn zeitigen wird, muss von nun an zumindest fraglich bleiben. Hierzu – sein Redemanuskript beschließend – nochmals Sloterdijk: »Kann auch der Archivkeller zur Lichtung werden? Alles deutet darauf hin, daß Archivare und Archivisten die Nachfolge der Humanisten angetreten haben. Für die wenigen, die sich noch in den Archiven umsehen, drängt sich die Ansicht auf, unser Leben sei die verworrene Antwort auf Fragen, von denen wir vergessen haben, wo sie gestellt wurden.« (Slo RM/21)12 Zweitens, das war auch bereits angeklungen, verfolgt Sloterdijk das Motiv der so genannten »Anthropotechniken«. Hinter dem Motiv der geistig-ethischen Zähmung und der Abwehr des Barbarischen durch das Schreiben der Geschichte als hoch komplexes Netz der Brieffreundschaft, tritt nun das kulturgeschichtliche Phänomen körperlicher Zähmung, »Formung« und, a fortiori, Selektion hervor.13 Hinter den befriedenden Lektionen der Humanisten war demnach immer die Macht der Selektionen wirksam. Beide Kulturtechniken werden von je einer spezifischen humanen Differenz durchzogen. Der Medienhumanismus der Lektionen teilt die Menschen machtrelevant in diejenigen, die lesen und schreiben können, und die, die es nicht können.14 Der Domestikationshumanismus der Selektionen teilt die Menschen subjektrelevant in diejenigen, die »ihresgleichen züchten«, und die, die die Gezüchteten sind.15 »Nur gewollt sein heißt, bloß als Objekt, nicht als Subjekt von Auslese existieren.« (Slo RM/20) Hiermit wird zum einen an einem aktuellen Phänomen hörbar, was sich als Nietzsches Zarathustra-Modell des Augenblicks des Subjekts herausgeschält hatte, zum anderen zieht sich hier die Krise des Humanismus auf jenen kritischen Punkt zusammen, von dem aus Sloterdijk zu seinen Pointierungen der »Signatur des technischen und anthropotechnischen Zeitalters« kommt.

12. Hier sei an die bereits im zweiten Teil diskutierte Archiv-Problematik erinnert. 13. Hierzu und zum Folgenden: (Slo RM/20f.). 14. Im Übrigen ist anzunehmen, dass die Verwendung der Tätigkeitsworte »lesen« und »schreiben« medienhistorisch kontingent ist. Schon der aktuell gängige Topos kündigt das an: »Medienkompetenz«. Zur Historizität und Veränderlichkeit des Lesens und Schreibens, siehe: Erich Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlung des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart: Klett-Cotta 1987. 15. Wie damit ein Staat zu machen sein könnte, lässt der Film »GATTACA« ahnen (USA 1997). 343

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

Mit der gentechnischen Entwicklung kommt der Mensch immer eindeutiger in die Lage, wollend oder nicht, aktiv die Selektion bestimmen zu können.16 Die humanitas sieht sich damit vor eine Situation gestellt, die zwar zu ihrer (verdrängten?) Geschichte gehört, in der sie sich aber mittels des brieffreundschaftlich tradierten Maßnahmenkatalogs nicht adäquat zu handeln in der Lage sieht. Laut Sloterdijk wird es deshalb »in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren. Ein solcher Codex würde rückwirkend auch die Bedeutung des klassischen Humanismus verändern – denn mit ihm würde offengelegt und aufgeschrieben, daß humanitas nicht nur Freundschaft des Menschen mit dem Menschen beinhaltet; sie impliziert auch immer – und mit wachsender Explizitheit –, daß der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstellt.« (Slo RM/20f.) Zu diesen Reflexionen hatte sich Sloterdijk durch Heidegger hinführen lassen, wie dieser, »[u]nterwegs zur Sprache«, brieflich auf die historische Sendung des Humanismus abschlägig geantwortet und, wie Sloterdijk paraphrasiert, »die Epochenfrage artikuliert« hatte: »Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert? Was zähmt den Menschen, wenn seine bisherigen Anstrengungen der Selbstzähmung in der Hauptsache doch nur zu einer Machtergreifung über alles Seiende geführt haben? Was zähmt den Menschen, wenn nach allen bisherigen Experimenten mit der Erziehung des Menschengeschlechts unklar geblieben ist, wer oder was die Erzieher wozu erzieht?« Das war Sloterdijks point de départ, von wo aus er den Weg der Problematisierung der (körperlichen) »Hegung und Formung des Menschen« betrat (Slo RM/20). Wie hatte er jenen Punkt zuvor noch anhand der heideggerschen Vorgabe als Problemhorizont entwickelt? Heidegger mustert in seinem »Brief über den ›Humanismus‹« den Marxismus, den französischen Existenzialismus und das Christentum gemäß ihrer humanistischen Eigenart durch. Die drei sind verschieden nach Art ihrer angestrebten »Verwirklichung« des Humanen, »sie kommen doch darin überein« (Hei BrH/321), dass sie die humanitas des Menschen von einer schon vorweg angenommenen, ihm eignenden Natur, der animalitas, her bestimmen. Damit ist aber die Auslegung des Seienden schon begonnen, ohne die Frage der Wahrheit des Seins voraus-gesetzt zu haben (Hei BrH/321). Die Theoreme verbleiben damit im Schatten der Metaphysik. Denn da sie den Menschen

16. Auf den verschiedenen Ebenen des medizinisch-technischen Systems deuten sich nach und nach Konvergenzmöglichkeiten an bzw. haben sich längst ergeben. Beispiele hierfür sind: Genomanalyse, Genkartierung, Pränataldiagnose, Keimbahntherapie. 344

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JENSEITS VON HUMANISMUS UND TECHNIK (HEIDEGGER)

»von der animalitas her und […] nicht zu seiner humanitas hin« denken, verschließen sie sich »dem einfachen Wesensbestand, daß der Mensch nur in seinem Wesen west, indem er vom Sein angesprochen wird.« (Hei BrH/323) Die Weise des Angesprochen-Werdens und -Seins ist die Sprache. In ihr, als Haus des Seins, wohnt der Mensch und steht so in seiner Existenz. Der Ort des genannten Anspruchs ist die Lichtung, die der Mensch als Da des Seins ist. So ist das »Sein« des Menschen immer eigentlich »sein« – Verbalform, Verlaufsform: »Unterwegs zur Sprache« und aus der damit einhergehenden Lichtung hinaus-stehend, ek-sistierend (Hei BrH/326).17 Hier hat statt, dass der Mensch Welt hat und in ihr ist. Sein In-Sein hat auch den Charakter des Inne-Haltens, um auf das zu hören, was sich ihm im In-Sein des Hauses als Sprache vom Sein her zuträgt und schickt (sendet). Hier, in der »Weite« (Hei BrH/ 331)18 der Räume des Hauses kann der Mensch hören, was seine Welt je ist. »Für den Menschen aber bleibt die Frage, ob er in das Schickliche seines Wesens findet, das diesem Geschick entspricht; denn diesem gemäß hat er als der Ek-sistierende die Wahrheit des Seins zu hüten. Der Mensch ist der Hirt des Seins.« (Hei BrH/331) Hiermit ist der Mensch in seine Aufgabe gewiesen, und es wird mithin deutlich, wieso Heidegger die dem Menschen durch den Humanismus gestellte Wesensaufgabe der Humanitas als »nicht hoch genug« angesetzt verstand (Hei BrH/330). Im humanistischen Medienverbund erweist sich das (geschriebene) Wort als das das Gespräch mit dem Anderen verbindende Element. Hiervon setzt sich auch Heidegger nicht ab. Vielmehr radikalisiert er das »Aufschreibesystem« (Kittler) des Humanismus noch weiterführend: Sprache ist Heidegger zufolge nur unwesentlich Mittel der Kommunikation. Das nicht sehen zu können, ist einer der Gründe des Verbleibs bisheriger humanistischer Theoreme in der Rahmung metaphysischen Denkens. Grundlegend(er), laut Heidegger, ist Sprache das den Menschen Behausende. Hier, wenn überhaupt, ereignet sich, dass sich das Sein ausspricht. Mit dem Hören auf das, was das Sein von sich in der Sprache zu ihr bringt und als diese gibt, bringt der Mensch sich in die EntSprechung zum Sein. Aber eben hören muss der Mensch. Und so wäre es für den Moment un-erhört, schon jetzt bei den – auch von Sloterdijk betonten – Problemstellungen des Medialen und

17. Eine sinnvolle Ergänzung bietet die an dieser Stelle als Fußnote von Heidegger eingefügte Erläuterung: »›Hinaus‹: hin in das Aus des Auseinander des Unterschieds (des Da), nicht ›hinaus‹ aus einem Innen.« 18. Auch hierzu die erhellende Erläuterung Heideggers in der Fußnote: »Weite: aber nicht die des Umgreifens, sondern der ereignenden Ortschaft; als die Weite der Lichtung.« 345

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

Technischen zu verharren, ohne auf den heideggerschen Weg des Denkens »[u]nterwegs zur Sprache« bis dorthin gesehen zu haben. Das hieße wohl, sich zu verlaufen – ohne zu wissen eben, »was es heißt, auf einem Holzweg zu sein.«19 Stattdessen also soll fürs Erste die sich zaghaft andeutende Einsicht in die Notwendigkeit des Hörens Gelegenheit bieten, der »Sinnlichkeit« Heideggers nachzufragen.

Im Ereignis des Sinnlichen In der Moderne sichert die Sinnlichkeit nicht mehr unverbrüchlich das Wahrnehmen von Welt – und das nicht einmal mehr in dem anfänglichen Sinne der Wahrnehmung eines »Dieses« oder eines »Jetzt«, mit der Hegel seine »Phänomenologie des Geistes« eröffnet. Zwar kann auch hier aufgrund eines Raum- bzw. Zeitwechsels im Wahrnehmen der Versuch, die in der Wahrnehmung gemachte Erfahrung festzuhalten, »schal« werden (H 3/84). Doch die Erfahrung der Sinnlichkeit besteht hier gerade darin zu erfahren, dass ich nicht ein Unmittelbares weiß, sondern es wahrnehme – und das mit Gewissheit, eben mit sinnlicher Gewissheit. Die so gemachte sinnliche Erfahrung ist je für sich wahr (H 3/92). Demgegenüber erfährt die Sinnlichkeit in der Moderne eine massive Anästhesie.20 Erinnert sei an das oben schon angedeutete sinnliche Problembewusstsein Nietzsches, dass, wenn wir eben nicht mit dem Ohr »bei der Sache«, sondern in uns versunken dem Erleben »hinterdrein« sind, wir die zwölf Schläge der Glocke zum Mittag – »INCIPIT ZARATHUSTRA« (N 6/81) – nicht einmal dann richtig zu zählen vermögen, wenn sie uns »mit aller Macht […] in’s Ohr gedröhnt hat.« (N 5/247) Demgemäß weiter mit Heidegger: Mit der Sinnlichkeit in Heideggers Sprache spricht sich ein selten so unmittelbar gedachtes Verhältnis des Daseins zur Welt aus. Orte dieser Sinnlichkeit wurden bereits mehrfach einer Befragung unterzogen – vor allem von Derrida.21 Aber auch von anderen. So vertrat zum Beispiel der Neurophysiologe und -chirurg Detlef B. Linke in einer Fernsehdebatte zu Sloterdijks Vortrag die These, zur Klärung der geistesgeschichtlichen Ursprünge

19. Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt/Main: Klostermann 1963, 3. 20. Hier würde die weitere Analyse über Virilios »Ästhetik des Verschwindens« und der damit einhergehenden »Pyknolepsie« zu pathogenitätsrelevanten Momenten des Medialen führen (Heinz). 21. Jacques Derrida, »Geschlecht: différence sexuelle, différence ontologique«, und: ders., »La main de Heidegger (Geschlecht II)«, beide in: ders., Psyché. Inventions de l’autre, Paris: Galilée 1987, 395-414 und 415-452. 346

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JENSEITS VON HUMANISMUS UND TECHNIK (HEIDEGGER)

der aktuellen Diskussion käme es darauf an, sich die Frage zu stellen: »Was hat Heidegger gehört?«22 Eine Antwort auf diese Frage ist, wenn überhaupt, nur in den Texten Heideggers zu finden. Das ist eine wesentliche Randbedingung, so profan die Aussage fürs Erste klingen mag. Sie ist wesentlich aus zwei Gründen. Erstens spricht aus ihr die Gegebenheit, dass die Rede von »Sinnlichkeit«, die bspw. Heideggers Hand, Ohr oder Geschlecht betreffen mag, einer Referenz auf »Sinnlichkeit« in Texten unterliegt. Das damit verbundene medien-geschichtliche Moment hatte das vorhergehende Kapitel diskutiert. Zweitens – und das ist der Grund, der bei der Befassung mit Heidegger insbesondere zu berücksichtigen ist – liegt diese »Sinnlichkeit« in Texten. Auf das Ereignis des Seins, auf Ursprung und Folgen der platonischen Verstellung der Frage nach dem Sein des Seins oder auch auf Nietzsches Wissen um den Nihilismus der Geschichte zu hören – wie es im vorhergehenden Kapitel als sinnvoll anklang –, heißt nicht, dass diese Größen auch hörbar sind. Das wusste Heidegger und beachtete diesen Umstand in seiner Weise des Darstellens: dem »Versuch einer Besinnung, die im Fragen verharrt« (Hei EdPh/61) und »Unterwegs« zur Sprache verbleibt, um sich in die »Entsprechung« zum Sein zu bringen – und es so hörbar und sichtbar wird. Das ist nicht als bloßer Verzicht auf eindeutige und ergebnisorientierte Wissenschaftlichkeit zu verstehen, die hier, wie billig, gegen ein vermeintlich poetisches Raunen eingetauscht wäre. Als Darstellungsproblem verstanden, ist es die Kraftanstrengung, die Modi der wissenschaftlich-technischen Sprachdispositive zu destruieren und damit den Weg einer Passage zu bahnen, auf dem das »In-der-Welt-Sein« anders, eben anfänglicher, erscheint. Für die Denkleistung folgt daraus, Wortschatz und Logik des Denkens immer wieder aufs Neue zu durchqueren und das in der sprachlich-textuellen Darstellung wesentlich zu berücksichtigen. Was in dieser Hinsicht die von Heidegger in seine Text eingelegte »Sinnlichkeit« selbst anbelangt: Schon in »Sein und Zeit« klärt Heidegger ihren Ort und ihre Funktion.23 Die empirischen Sinne sind ontologisch nicht die erste Instanz, über die das Dasein sich konstituiert und entwirft. Vielmehr beruhen sie auf der Gegebenheit, dass zum Seienden als Dasein gehört, »die Seinsart des befindlichen In-der-

22. Detlef B. Linke, in der zum Thema geführten »Nachtstudio«-Diskussion des ZDF. Außerdem zum »Hören« in philosophischer Absicht ein Buch, in dem Heidegger allerdings nur marginal verhandelt wird: Holger Schmid, Kunst des Hörens. Orte und Grenzen philosophischer Spracherfahrung, Köln/Weimar: Böhlau 1999. 23. An Orten und Funktion wird sich auch in den späteren Texten nicht prinzipiell etwas ändern, die Internalisierung des Sinnlichen in den Textkörper sich aber noch verschärfen. 347

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

Welt-seins« zu haben (Hei SuZ/137). Woher motiviert sich dann aber die fortgesetzte Versinnlichung der Erörterungen? Sie kann nach dem zuvor Gesagten nicht mehr leibliche Sinnlichkeit meinen. In der Tat: Das In-der-Welt-Sein wird ursprünglich erschlossen durch die Existenzialien »Befindlichkeit« und »Verstehen« (Hei SuZ/148). Auf die Prozessualität des Erschließens kommt es an, denn das Dasein fährt fort im unablässigen Entwurf. Die Möglichkeiten, die es hier entwerfend »sieht«, werden nicht in gesellschaftlicher Produktivität (Marx), ästhetischer Leiblichkeit (Nietzsche) oder noetisch-noematischer Intentionalität (Husserl) gesichtet. Vielmehr entspricht die »Sicht« »der Gelichtetheit, als welche wir die Erschlossenheit des Da charakterisieren. […] Das leistet freilich jeder ›Sinn‹ innerhalb seines genuinen Entdeckungsbezirkes.« »Sehen« ist durch die »Tradition der Philosophie« gleichwohl seit je mit einer Auszeichnung versehen: Man kann »Sicht und Sehen so weit formalisieren, daß damit ein universaler Terminus gewonnen wird, der jeden Zugang zu Seiendem und Sein als Zugang überhaupt charakterisiert.« (Hei SuZ/147) Der spätere Heidegger wird mit dem Gedanken des »Hören aufs Sein« auch diesem Sinn die Ehre eines »universale[n] Terminus« geben. Die eigentliche Hörbarkeit des Seins ist im Ge-Stell dadurch verstellt, dass dieses die Notwendigkeit einräumt und vom Menschen »herausfordert, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen.« (Hei FT/24) Es gilt also, von der derartigen Vollendung der Metaphysik abzukehren und ins »Denken« einzukehren. Das ist leidlich nicht mit einem ›Entschluss dazu‹ getan, da die »Vollendung« der Metaphysik, die mit Nietzsches Wissen um den Nihilismus anhebt, eben kein Ende ist, mit dem ein beschließbarer Neuanfang einherginge.24 Vielmehr ist die besagte »Vollendung« von dem sie versammelnden Ort zu erörtern, wie er sich in der Sprache des »Denkens« (Hei WhD/1) zeigt. Dann nämlich zeigt der Ort sich nicht als Feststellbares, als Gestellbares, sondern als »Fragen«, das an einem Weg baut (Hei TuK/5). Und der »Weg ist ein Weg des Denkens. Alle Denkwege führen, mehr oder weniger vernehmbar, auf eine ungewöhnliche Weise durch die Sprache.« (Hei FT/9) Auch an diesem Punkt spricht sich indirekt nochmals Heideggers Kritik am Humanismus-Modell des Menschen aus, denn jenes konzipiert diesen eben als animal rationale und setzt damit die Ermächtigungsbedingung des Menschen zum Subjekt der Geschichte schon voraus, ohne allererst des Menschen Rahmung bedacht zu haben. Heidegger sieht im Humanismus »einen Beitrag zur Aufrüstungsgeschichte der Subjektivität […] und deutet die geschichtliche Welt Europas als

24. Diese Einsicht lässt nochmals an Heideggers Austausch mit Ernst Jünger über die »Linie« denken – und wie diese zu Paul Virilio führt. 348

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JENSEITS VON HUMANISMUS UND TECHNIK (HEIDEGGER)

das Theater der militanten Humanismen; sie ist das Feld, auf dem die menschliche Subjektivität ihre Machtergreifung über alles Seiende mit schicksalhafter Folgerichtigkeit ausagiert.« (Slo RM/20) Der Titel des aufgeführten Theater-Stücks lautet »Metaphysik«, da mit der Prädestination des Menschen als Subjekt namens »animal rationale«, seit der Vorhang sich mit der römischen Übernahme des griechischen zoon logon echon zum europäischen Publikum (Öffentlichkeit) hin öffnete, nie gefragt wurde, »in welcher Weise das Wesen des Menschen zur Wahrheit des Seins gehört.« (Hei BrH/322) Diese Frage nicht gestellt zu haben, ermöglicht andersherum – und Heidegger sieht gleichwohl, dass man »dabei stets Richtiges über den Menschen aussagen« kann (Hei BrH/323) – das Wesen des Menschen als Subjekt zu setzen, das von der animalitas her bestimmt ist. Denn es beruht auf der »Auslegung des Seienden« als zoon oder physis, und setzt »in solcher Weise den Menschen innerhalb des Seienden als ein Seiendes unter anderen« (Pflanze, Tier, Gott) an (Hei BrH/323). Heidegger überlässt diese Humanismen sich selbst und bestimmt den Menschen »ursprünglicher« (Hei BrH/342), wie bereits gesagt, als in der (sprachlichen) Lichtung des Seins stehend, d.h. als ek-sistierend. Die Seinsweise der Ek-sistenz (»Da«) eignet nur dem Menschen. Heideggers Abwendung vom Menschen als »Subjekt« – eine Tradition der Moderne, wie die vergangenen Kapitel gezeigt haben – schreibt sich von hier her: Die Offenheit der Lichtung des Seins ist »Welt«, als das, was ist, und in die sich der Mensch da seiend in »die Sorge« entwirft. Der Dichotomie Subjekt – Objekt geht die Offenheit des Entwerfend-Existierens in der Welt notwendig und immer und je schon voraus, ja, das Intermediäre von »Subjekt« und »Objekt« ist gerade der Ort, an dem der Mensch entwerfend ist. Dieses Existieren besteht darin, in die Offenheit seines In-derWelt-Seins sich zu entwerfen (Hei BrH/350). Die Emersion des Sinnlichen ist daher und zudem auch nicht mehr an produktive Arbeit (Marx), den perspektivischen Leib (Nietzsche), die Intentionalität (Husserl) oder Ähnliches gebunden, sondern tief eingelassen in das Sprechen der Sprache (Schrift). Demgemäß bleibt der Erkennende sich selbst unbekannt. Oder genauer, den Schreibenden miteinbeziehend: »Wir selbst uns selbst.« (N 5/247) Das war Nietzsches Einsicht, die im vorigen Kapitel die Problematisierung zum Humanismus mit in Gang gesetzt hatte. Wäre der Mensch sich selbst der Erkennende als »Subjekt«, dann läge ein Satz der Identität vor, wie er für die sich selbst durchsichtige und schließend-geschlossene »Vernunft« der hegelschen »Enzyklopädie der Wissenschaften« gilt. Die Auseinandersetzung mit Nietzsche hatte gezeigt, dass diese »große«, bei-sich-seiende Vernunft zur »kleinen Vernunft« wird und derart eben nicht mehr als Metaphysik in die moderne Welt (Nietzsches) zu ragen vermag. Analog zu Nietzsche, der mit seinem »wir selbst uns selbst« ge349

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

rade die Unmöglichkeit von Identität annoncierte, setzt auch Heidegger mit der Problematisierung eines »Satz[es] der Identität« ein. Ausgehend vom logischen »A = A« diskutiert er eine Stelle des platonischen »Sophistes« (245d), wo es laut Heideggers Übersetzung heißt: »jedes selber ihm selbst dasselbe« (Hei SdI/10). Schon mit dieser antiken Formulierung sieht Heidegger eine Erbschaftsfrage für die IdentitätsProblematik aufgegeben, die erst der Deutsche Idealismus einzulösen weiß: Dass das, von dem gesagt wird, es sei in Identität, es selbst dies ist und es dies mit sich ist. Die Identität ist keine bloße Einheit, sondern ein Status des Vermittelten, dessen stase im Sachverhalt des intern Vermittelten (Medialen?) auseinander gehalten ist – »die Einung in eine Einheit.« (Hei SdI/11) Die Argumentation betreffs der Kritik am Humanismus, dass dieser schon voraussetze, was der Mensch sei, bevor er dessen Bestimmung überhaupt erst nachfrage, wiederholt sich an dieser Stelle: Auch in der durch den Deutschen Idealismus ermöglichten Sicht auf »Identität« als einer »in der Einheit waltenden Vermittelung« bleibt vorausgesetzt, was »Identität« »heißt und wohin sie gehört« (Hei SdI/ 12). Der heideggersche Gedanke kommt nun gerade an dieser Stelle scheinbarer Starre erst in Fahrt. Wenn »A ist A« die Formel für die Identität ist, dann gilt es um der Destruktion der Metaphysik willen zu fragen, wo in der Formel der Ort für die Formulierung »es selbst mit ihm selbst dasselbe« liegt. Er liegt im »ist«. Heidegger setzt das Wort, mit den technischen Mitteln des Buchdrucks, kursiv: »A ist A« – und fragt nach dem Sinnlichen hierin: »Was hören wir?« (Hei SdI/12). Angesprochen von der Identität hören wir mithin, dass ihre Einheit einen »Grundzug im Sein des Seienden« bildet (Hei SdI/13). Doch kann das nicht das letzte zum Thema gesprochene Wort sein, kommt die genannte Bestimmung doch aus der Geschichte der Metaphysik. Diese verstellt ja gerade das Hören auf das Sprechen des Seins. Der Blick auf die denkerische Herkunft des »Sein des Seienden« führt demgemäß auf eine das Tableau der heideggerschen Reflexionen weitgehender verschiebenden Relation der Momente des Identitätsproblems. Von Parmenides ist überliefert: »›Das Selbe nämlich ist Vernehmen (Denken) sowohl als auch Sein.‹« (Hei SdI/14) Und wiederum wird die Buchdrucktechnik Sinn bringend eingesetzt: Die Selbigkeit ist ein Zusammengehören von Denken und Sein. Als »Zusammengehören« erscheint ihr Verhältnis als eine scheinbar »notwendige Verknüpfung des einen mit dem anderen«, des Denkens mit dem Sein im Selben. So lässt noch die »Gewohnheit« den Sinn des »Zusammengehörens« hören (Hei SdI/16). Doch das Sinnliche bahnt sich unterwegs zur Sprache Heideggers seine Spur in die Worte des heideggerschen Textes. Denn er verfolgt nun die Möglichkeit, das »Zusammen«, in dem sich Identität er350

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JENSEITS VON HUMANISMUS UND TECHNIK (HEIDEGGER)

eignet, vom »Gehören« her zu entfalten. Die Typografie von Heideggers Text berücksichtigt diesen Umstand: »Zusammengehören« (Hei SdI/16). Denken, ausgezeichnet als der Mensch (Hei SdI/17), und Sein gehören einander, in der Lichtung aufeinander hörend (Hei SdI/18f.). Wird das Verhältnis von Mensch und Sein im Selben soherum vom aufeinander hörend Gehören gedacht, ist der metaphysische Bann der Identitätsbestimmung als Vermitteltes (s.o.) durch das »vorstellende[ ] Denken« gebrochen und es kann zum »Absprung« von der Vorstellung des Menschen als animal rationale angesetzt werden. Wohin? Der Absprung reicht in das Gehören von Denken und Sein, aus dem heraus die »Konstellation beider« sich blicken lässt (Hei SdI/20), sich ereignet. Dies kann geschichtlich je verschieden sein. Aktuell geschieht der gegenseitige An-Spruch in der Art der wechselseitigen Herausforderung, sich planend und (be-)rechnend zu entwerfen. Das ist das »Ge-Stell«, sein Modus der »Konstellation von Sein und Mensch [wird] durch die moderne technische Welt erfahren« (Hei SdI/25). Entscheidend aber bleibt vorerst, das Einander-zugeeignet-Sein von Mensch und Sein, ihr Ge-Hör, im Modus des Ge-Stells, zu erfahren. Denn der Schaffensprozess, der mit dem Verb »erfahren« angedeutet ist, besteht im Vollzug des (denkenden) Hörens auf die Eigenart der genannten Konstellationen. Da spricht sich nicht einfach abstrakt etwas von einem begrifflich leeren »Sein« (Hegel) her aus, sondern ist die destruktive Aus-Einander-Setzung der »Überlieferung« – ein schrifttechnisches Faktum, das nun nach der obigen Diskussion um Sloterdijk nicht mehr fremd ist. Heidegger: »Was immer und wie immer wir zu denken versuchen, wir denken im Spielraum der Überlieferung. Sie waltet, wenn sie uns aus dem Nachdenken in ein Vordenken befreit, das kein Planen mehr ist. Erst wenn wir uns denkend dem schon Gedachten zuwenden, werden wir verwendet für das noch zu Denkende.« (Hei SdI/30) Das denkerische Erfahren selbst dessen, was sich aus der Überlieferung hörend zuspricht, wäre – wiederum prozesshaft verstanden – im Rahmen der aktuellen technischen Bedingungen die Entwicklung eines denkerischen Vorwissens, das »Aktuelle«, das Ge-Stell also, nicht für »das allein Wirkliche« zu halten (Hei SdI/30). Der Einblick in die derartige Verfügtheit von Mensch und Sein ist notwendig dafür, das Wesen des Technischen ursprünglicher erfahren zu können: dass es nämlich verwindbares »Vorspiel« dessen ist, »was Er-eignis heißt« (Hei SdI/25). Und wieder taucht damit das Motiv des Sinnlichen in der Sprache auf. Wie beim Hören auf das Ge-hören von Mensch und Sein, wie es sich im Haus des Seins von diesem her ausspricht, legt sich das Sinnliche auch nun angesichts des »Ereignisses« wieder tief in Heideggers Text ein. Als erfahrene Räumlichkeit ist das Er-eignis der Ort der Sichtung dessen, was sich in der Lichtung zeigt und vorstellt, als erfahrene Räumlichkeit ist es das Bewohnen der Sprache, die das »Bauzeug« für das Entwerfen und Zueignen der Konstellation von Mensch bzw. 351

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Denken und Sein »anfänglicher« (Hei SdI/29) (ursprünglicher?) vernehmen lässt und bietet. Das Er-eignis ist das uns ontisch Naheste, denn es nähert uns allererst dem, was wir »ursprünglich« erfahrend besorgen: unsere Eignung. Diese Erfahrung ist sinnlich. Denn: »Es gilt, dieses Eignen, worin Mensch und Sein einander ge-eignet sind, schlicht zu erfahren, d.h. einzukehren in das, was wir das Ereignis nennen. Das Wort Ereignis ist der gewachsenen Sprache entnommen. Er-eignen heißt ursprünglich: er-äugen, d.h. er-blicken, im Blicken zu sich rufen, an-eignen.« (Hei SdI/24f.) Was ist nun unterdessen aus dem Status der »Identität« geworden? Mit Nietzsches Vorrede zur »Genealogie der Moral« beginnend, war sie sogleich in paradoxer Weise beschrieben worden: Wir bleiben uns im Erkenntnisprozess des Eigenen, des Selbst, notwendig unbekannt – wir selbst uns selbst. Das Modell für diese Selbst-ErfahrungsStruktur, die das unablässige Differieren von sich selbst bejahend immer wieder aufs Neue ins Leben zurückruft und von diesem produktiv und leiblich-schaffend empfängt, war oben, am Ende der »Geschichte eines Irrthums« als »INCIPIT ZARATHUSTRA« begegnet. Heidegger seinerseits fand eine erste Auslegung in der platonischen IdentitätsBestimmung als »jedes selber ihm selbst dasselbe« und eruierte sie im Deutschen Idealismus als zu einer Einheit Vermitteltes. Heideggers Text führte dann aber zurück bis in den Anfang der Philosophie: Das parmenideische »Selbe« rückt in einen je gleichwertigen Bezug zu Denken (Mensch) und Sein, aus dem erkannt wurde, dass Mensch und Sein in einem gemeinsamen Gehören einander zugeeignet sind. »Jetzt zeigt sich: Sein gehört mit dem Denken in eine Identität, deren Wesen aus jenem Zusammengehörenlassen stammt, das wir das Ereignis nennen. Das Wesen der Identität ist ein Eigentum des Er-eignisses.« (Hei SdI/27) Im Ereignis trägt sich das Sein dem Menschen sprachlich zu, insofern das Sein dem Menschen sprachlich zugeeignet ist. Doch das Ereignis ist kein Event, das einem kalkulierten Management unterstellt werden könnte. Und auch die Befassung mit dem Ereignis als eines wissenschaftlichen Objektes verfehlt es gänzlich. Immer? Nicht immer, aber in der Regel. Die appellative Ausnahme dieser Regel scheint sich in einer Formulierung Nietzsches zu finden, die Heidegger im Rahmen der »neue[n] Auslegung der Sinnlichkeit« (Hei NI/213)25 bespricht: »die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens […].« (N 1/14)26 Die schaffende Kraft des Denkens, auch

25. Das Zitat ist Teil einer Kapitelüberschrift, die in Gänze lautet: »Die neue Auslegung der Sinnlichkeit und der erregende Zwiespalt zwischen Kunst und Wahrheit«. 26. Siehe hierzu die ausführliche Auslegung durch Claus Artur Scheier, in: 352

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des wissenschaftlichen Denkens als »Verhältnis zur Wahrheit« (Hei NI/222), bemisst sich nach der »Ursprünglichkeit«, mit der das »Schaffen« »in das Sein hinabreicht«. »[D]as Handelnkönnen nach der Maßgabe des Seins ist selbst das höchste Schaffen, […], das Ja zum Sein.« (Hei NI/224) Das Erfahren des Sich-Ereignens des Ereignisses findet also nicht einfach so von selbst statt, auch wenn der Mensch im Ereignis »ek-sistiert«, sondern das Denken hat sich auf einen Weg zu begeben, darauf es sich in die ge-eignete Konstellation zur Wahrheit (im Sinne der Lichtung) bringt. Fraglich bleibt erneut das Wie dieses Bringens bzw. Gebracht-Seins. Und wiederum lautet die Antwort: In der Erfahrung des Sinnlichen als Erfahrung der Sprache. Denn das Sein will in seinem Sprechen gehört und als (sich-)verbergend-entbergendes Ereignis in der Lichtung gesichtet, d.h. anfänglich gesehen werden. Wie soeben von Heidegger gehört, möge das Schaffen des Menschen nach der Maßgabe abgeschätzt werden, inwieweit es sich dem Sein zueignet. Der Modus dieser Zueignung ist das Sinnliche, das ist an Heideggers Textkörper evident ablesbar. Das dazu gehörige Handlungsmodell ist der nietzscheanische »Übermensch«, wie ihn Heidegger in »Nietzsche I« (Hei NI/213-224) ganz unmartialisch, vielmehr künstlerhaft, entwickelt und auslegt. Zarathustras »INCIPIT« an high noon initiierte die Bewegung von »Leben«, wie es als augenblicklich je neu Geschaffenes (Produziertes) den Blick auf »die Wahrheit« als multiperspektivisch und »leibend« (Hei NI/100) Sinnliches, jenseits also des binären Codes von wahr/scheinbar, in der ewigen Wiederkehr des Gleichen generiert – aber eben des »Gleichen« und nicht »Desselben« (Identität!). Mit Blick auf die Sinnlichkeit fasst Heidegger diese nietzscheanische Denkfigur folgendermaßen zusammen, und bindet sie, sie übersetzend,27 zugleich in den Kontext der eigenen Schlüsselwörter ein: »Nietzsche versteht […] dieses Gefühl der Kraftentfaltung, der Fülle und der wech-

Friedrich Nietzsche. Ecce auctor. Die Vorreden von 1886, hg. und eingeleitet v. Claus-Artur Scheier, Hamburg: Meiner 1990, VII-CXXIII, hier: VII-XXIII. 27. »Niemand wird Heidegger bestreiten können, daß er wie kaum ein anderer gegenwärtiger Interpret hellhörig ist und sich auf die Kunst des Lesens und Auslegens versteht, wenn er ein denkerisches oder dichterisches Sprachgefüge sorgsam auseinander- und neu zusammenlegt. Niemand wird aber auch die Gewaltsamkeit seines Interpretierens verkennen können. Sein Auslegen geht in der Tat über alles Verdeutlichen dessen, was dasteht, hinaus. Es ist ein deutendes Inter-pretieren, bei dem sich etwas dazwischen legt, und ein Über-setzen des Textes in eine andere Sprache, die beansprucht, ›das Selbe‹ zu denken […] Man kann diese Gewaltsamkeit bemängeln und jene Subtilität bewundern, aber sie ergänzen sich.« Karl Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 8, Stuttgart: Metzler 1984, 203f. 353

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selweisen Steigerung aller Vermögen als das Über-Sich-Hinaus-Sein und so als das Zu-Sich-Selbst-Kommen in der höchsten Durchsichtigkeit des Seins – […]. Zugleich aber liegt für Nietzsche darin das Heraufkommen des Abgrundes des ›Lebens‹, seiner Widerstreite in sich, aber nicht als moralisch Böses und zu Verneinendes, sondern als Bejahtes. Das ›Physiologische‹, das Sinnlich-Leibliche, hat in sich dieses Über-sich-hinaus.« (Hei NI/214) Das »Über-sich-hinaus« ist das Schaffen auf dem Weg unterwegs zur »höchsten Durchsichtigkeit des Seins«. Das Maß der »Ursprünglichkeit« des Schaffens solle, so Heidegger, danach bemessen werden, wie nah es an diesen sich anfänglich ereignenden »Bezirk des ›Seins‹, des ›Wahren‹« heranzureichen vermag (Hei NI/216). Welcher Art mag dieses – topologisch ja eigentlich unheideggerische – »Schaffen« sein? Das sinnlich-leibliche Schaffen des zarathustrischen Subjekts namens »Wille zur Macht« prozessiert in seinen multiplen Perspektiven solcherart, dass es zu sich selbst kommt, indem es selbst sich selbst unbekannt bleibt, da es im Entwurf der eigenen Identität immer und je schon im Begriff ist, sein »Über-sich-hinaus-Sein« zu erreichen. Nur in dieser paradoxen Identität ist es es selbst, und damit aber eben seiner selbst nicht identisch. Jetzt lässt sich für dieses Moment der Identitätsproblematik die Bindung Nietzsche – Heidegger sehen: Die »höchste Durchsichtigkeit des Seins« lichtet sich im Progredieren selbst dieses Schaffensprozesses. Denn Nietzsche sah in der Kunst und dem Künstler den originären Ort der Produktivität des »Lebens«, das sich n-perspektivisch als sinnliche Gesamtheit des Seienden, der »Optik«, gibt. Und Heidegger nähert sich diesem ganz grundlegenden Gedanken anhand der – hier noch a-künstlerisch gemeinten – Opponenten »Wahrheit« und »Schein« und notiert vorerst ihre gegenseitige Bedingtheit: »Die Wahrheit, d.h. das Wahre als das Beständige, ist eine Art von Schein, der sich als notwendige Bedingung der Lebensbehauptung rechtfertigt.« (Hei NI/217) Diese »Lebensbehauptung« als ästhetisches Jasagen zur Existenz der Welt schließt sich zirkulär mit einer Weise des »Lebens« kurz, die dieses als leiblich und sinnlich basiert erscheinen und wahr sein lässt.28 Und welches ist der Ort, an dem dies Wechselspiel überhaupt erst prozedieren und zum Vorschein kommen kann? – Gefragt wird hier nach dem Modus der Lichtung, der das Sich-Zeigen und Anscheinen allererst einräumt, gleichgültig, ob das Zum-Vorschein-Gekommene nun, im nihilistischen Sinne, »wahr« oder »scheinbar« ist. Heideggers Antwort: »Was ein solches Erscheinen im voraus ermöglicht, ist das Perspektivische selbst. Dieses ist das eigentliche Scheinen,

28. Hierzu auch: (Hei NI/212). 354

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zum sich-zeigen-Bringen.« (Hei NI/217) Nietzsches »große Vernunft«, das Leiblich-Sinnliche, ist bei Heidegger in den Textkörper sprachlich eingelagert – um hörend dem entsprechen zu können, was als Konstellation des identischen »Zusammengehörens« von Mensch und Sein aus dem Er-eignis her sichtbar, hörbar, vernehmbar wird.29 So ist hier Ereignis von Sinnlichkeit ein sinnhaftes Sich-Ereignen des Sinnlichen in Sprache.

Ge-stellte Wirklichkeit »Wo sind wir? In welcher Konstellation von Mensch und Sein?« (Hei SdI/21) Ein »Wo« fragt nach dem Ort. Dieser ist als historisches Ende derjenige, an dem die Philosophie sich scheinbar auflöst und aber eigentlich ihrer »Vollendung« entgegengeht.30 Schon seit Anbeginn der Geschichte der Philosophie gehört zu ihrem Tun, durch ihr Fragen den aus ihrem Gedankenkreis heraustretenden Einzelwissenschaften den jeweiligen bereichsontologischen Raum zu eröffnen (Husserl). Das war der anfängliche Ort der Philosophie. Ihr letzter ist – laut Heidegger – der ihrer eigenen Vollendung. Erstens entfaltet diese Vollendung sich mit der Eigenständigkeit der anderen Wissenschaften von der Philosophie und der daraus resultierenden Einfältelung des Wirklichen von Welt in je andere, z.B. soziologische, psychologische, biologische Bestimmungen und empirische Definitionssysteme. Diese Umwandlung und Umwandung der Philosophie ereignet sich als Typus der wissenschaftlichen Welthabe, dem alles Objekt wird, »was für den Menschen erfahrbarer Gegenstand seiner Technik werden kann, durch die er sich in der Welt einrichtet, indem er sie nach den mannigfaltigen Weisen des Machens und Bildens bearbeitet.« (Hei EdPh/64) Der Mensch als Objekt hierin erscheint nach Maßgabe der präsupponierenden und präpotenten Systemkonfigurationen je neu präludiert. Die Humanismus-Diskussion um die Disposition des Menschen als animal rationale ließe sich hier aufs Neue ansetzen: Zum einen setzt die neue Wissenschaftlichkeit auf das animal rationale und systematisiert den Menschen per definitionem als handelndes und denkendes Subjekt (spezifisch als: homo faber), zum anderen lässt aber gerade die definitorische Performanz des Imponierens selbst

29. Hierzu auch: Günter Wohlfahrt, Der Augenblick. Zeit und ästhetische Erfahrung bei Kant, Nietzsche und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust, Freiburg/München: Alber 1982, bes.: 145-149. 30. (Hei EdPh/63ff.). Auch die nachstehenden Überlegungen folgen diesem Text Heideggers. 355

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den Menschen alles andere sein als das dem System Zugrundeliegende (subiectum). Zweitens manifestiert sich im Ort der »legitime[n] Vollendung« (Hei EdPh/64) die Ausbildung einer neuen Grundlagenwissenschaft, die die anderen Wissenschaften bestimmt, steuert und regelt. Demgemäß lautet ihr Titel: »Kybernetik«. Zur Bestimmung des Menschen genügt hier die Vorstellung eines »handelnd-gesellschaftlichen Wesens« und die Künste werden zu »gesteuert-steuernden Instrumenten der Information.« Die Sprache wird zu einem »Austausch von Informationen« umgebildet. Das ist eine ganz wesentliche Einwirkung, denn so wird auch die (sprachlich-begriffliche) Einschätzung dieser Technik selbst und des Bezugs des Menschen zu ihr wiederum technisch beeinflusst bzw. »gestellt«. Das philosophische Fragen, das bislang zu humanistischen Wahrheitsweisen führte, die neue Fragen (Texte) generierten, wird letztlich umgelenkt zu einer modellhaften Wahrheitsdiagnose, bei der es auf die Operationalität des Dargestellten ankommt.31 Der Nachweis der »Effizienz der Effekte« des Operationalen ist dann »Wahrheit« (Hei EdPh/64f.). »Das Ende der Philosophie zeigt sich als der Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt und der dieser Welt gemäßen Gesellschaftsordnung. Ende der Philosophie heißt: Beginn der im abendländisch-europäischen Denken gegründeten Weltzivilisation.« (Hei EdPh/65) Die beginnende Weltzivilisation in diesem Sinne ist die neue Stellung und das neue Stellen der Welt und ihrer Theoreme, als die sich verzahnenden Wissenschaften. Das Tun und Trachten der Wissenschaften ist das zur Vorstellung-Bringen des Wirklichen der Welt im Nachstellen in Theorie. So wird in der theoretischen Bearbeitung des Wirklichen die Welt sichergestellt. Per se und vom »Wirken« her gedacht, ist unter »Wirklichkeit« zwar »das ins Anwesen hervorgebrachte Vorliegen, das in sich vollendete Anwesen von Sichhervorbringendem« (Hei WuB/45) zu verstehen. Wird das »Erwirkte« (Hei WuB/ 47) der Wirklichkeit aber unter den operationalen Erfolg eines Zwecks gestellt, erscheint eben dies Wirkliche unter dem Wahrheitskriterium von Erfolg/Nicht-Erfolg der causa efficiens. Das Wirkliche wird zu einer Sache – und insofern es bearbeitete Wirklichkeit ist: Tat-Sache. Der »geheimnisvoll[e]« Ursprung der tatsächlichen Bearbeitung der Wirk-

31. Claudius Strube weist auf den Zusammenhang hin, wie die Machenschaft der technischen Welt des Ge-Stells einhergeht mit einer stillstellenden Frag-losigkeit, die ihrerseits bewirkt, dass diese letzte, technisch induzierte Seinsvergessenheit (Seinsverlassenheit?) nicht mehr zur Sprache zu bringen ist. Hierzu: Claudius Strube, »Heideggers seinsgeschichtliche Eschatologie«, in: Die Zukunft der Vernunft aus der Perspektive einer nichtmetaphysischen Philosophie, hg. v. Edmund Braun, Würzburg: Könighausen und Neumann 1993, 301-313, besonders: 307f. 356

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lichkeit liegt in dem »Augenblick«, da das Anwesen des Wirklichen sich wandelt: Von nun an ereignet es sich als die Herausstellung des Gegenständigen als herausgefordert-bestellter Bestand (Hei WuB/53). Die Gesamtheit des so Gegenständigen ist die Welt als Wirklichkeit des Ge-Stells. Dessen Wirkliches kann als ein solches verstanden werden, da die Theorie der modernen Wissenschaft be-trachtend und be-arbeitend in es eingreift. Die Theorie vom Wirklichen wird so zu einem Tun, das dem Wirklichen nach-stellt und es nachstellend – reproduktiv – als Tatsachenbestand sicherstellt. Das Wirkliche muss solcherart sich ereignen (lies: »er-äugen«), da die Theorie einhergehend mit ihrer interdisziplinären Verzahnung (s.o.) sich in die Entsprechung zum Anwesen bringt und dieses auf die Weise ihrer Bestandsbestellung eigens herausstellt und sichert.32 Die Abdichtung der Entsprechung, auf dass sie im tat-sächlichen Sinne wahr sei, erfolgt über den für die Wissenschaften unbedingten »Vorrang der Methode«. Diese rechnet mit der von der causa efficiens gerahmten Wirklichkeit der Welt.33 Heidegger verdichten sich diese Zusammenhänge in der Einsicht: »Die Wissenschaft ist die Theorie des Wirklichen.« (Hei WuB/42) Damit ergibt sich zugleich eine seltsame Verschlingung: Da ist zum einen das Verhältnis von (scheinbar) einerseits »Wirklichkeit« und andererseits dem »Ge-Stell«, das sich formt als technische Arbeit. »Arbeit« ist ihrerseits auch Wirklichkeit. Die ontologische Verschlingung besteht darin, dass die Wirklichkeit des bestellenden Vorgangs der Bestandsentbergung in der »Wirklichkeit« des Ge-Stells statthat. Heidegger löst das so auf: »Im Ge-Stell ereignet sich die Unverborgenheit, der gemäß die Arbeit der modernen Technik das Wirkliche als Bestand entbirgt.« (Hei FT/24) Was im vorangegangenen Kapitel am Verhältnis von Sprache und Technikwesen (Ge-Stell) schon deutlich wurde, spricht sich hier erneut aus: Das Bestellen der Wirklichkeit als technischer Bestand ist eine Weise der Entbergung. Und es ist – laut Heidegger – auf die Geschichte des Menschenwesens gesehen: eine Weise. Ei-

32. Der gesamte heideggersche Text »Wissenschaft und Besinnung« erörtert diese Konstellation. Speziell aber zum Problem der »Entsprechung«, siehe: (Hei WuB/ 51f.). 33. Heidegger zitiert in diesem Zusammenhang Max Planck: »›Wirklich ist, was sich messen läßt.‹« (Hei WuB/54) Wie so oft im Aufbau der heideggerschen Texte, so wächst an dieser Stelle, wo die »Gefahr« auf den einen pervertierten Satz zusammengezogen werden konnte, das »Rettende« auch: Denn es meldet sich die Vermutung, dass, gerade indem Theorie und Wissenschaft die Wirklichkeit auf die besagte Weise bestellen und sicherstellen, sie den ursprünglichen Sachverhalt ihres Wesens genau an dem Ort ihres Fragens verbergen, von dem sie entspringen. Ist das ein dekonstruktiver Gedankengang avant la lettre? 357

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ne andere wäre die der poiesis, wie es z.B. die werkschaffende techné der Kunst kennt, als »Hervorgehenlassen in ein Hervorgebrachtes«34, in ein Werk mithin. Mit der Technik der modernen Industriegesellschaft liegt aber ein anderes Wahrheitswesen des Wirklichen vor. Hier tritt das Wirkliche als Bestand in Erscheinung. Das gilt historisch gesehen schon für die in der Neuzeit sich differenzierende exakte Naturwissenschaft, namentlich der apparativ und experimentell vorgehenden Physik. Ihr Verhältnis zur Natur gestaltet sich so aus, dass diese sich in der Theorie-Wirklichkeit »in irgendeiner rechnerisch feststellbaren Weise meldet und als ein System von Informationen bestellbar bleibt.« (Hei FT/26) Doch dass der Mensch herausgefordert ist, das Wirkliche als Bestand zu bestellen, kommt erst mit der modernen Technik zum »Vorschein« (Hei FT/25). So liegt hier ein Chiasmus von Historie und Geschichtlichem, von Wahrem und Richtigem vor: Setzt die Historie die Entstehung der modernen Technik, dokumentarisch und kalendarisch richtig, später an als die Entwicklung der exakten Wissenschaften (z.B. der Physik), bleibt es doch wahr, dass das Wesen der modernen Technik, d.h. den Menschen herauszufordern, »das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen« (Hei FT/24) (Ge-Stell), geschichtlich das Frühere ist, da es jenseits historischer Zeitmessung (Kalendarik) auch bereits im Tun des neuzeitlichen Physikers waltet (Hei FT/25f.). Das Ge-Stell ist dasjenige herausfordernde Spiel von Sein und Dasein (Mensch), in dem sich das Wirkliche auf die Weise des technischen Bestandes vor-stellt und entbirgt. Das Spiel ist das »Zusammengehören« von Sein und Mensch: Dieser entbirgt auf seine Weise, was jenes als Ge-Schick gewährt. Im Gewähren jedoch liegt, dass der Mensch nicht über eben diese Weise des Unverborgenen subjektivisch zu entscheiden hat. Der Mensch entfaltet das Bestellen des (nun technisch) unverborgenen Seins-Bereiches und ist mithin ins Machen des Bestellens bestellt und gestellt. Niemals aber macht er das Unverborgene selbst zu ebendem – »so wenig wie der Bereich, den der Mensch jederzeit schon durchgeht, wenn er als Subjekt sich auf ein Objekt bezieht« (Hei FT/22). Das Sichentbergende als Wirkliches wird vom Menschen als Bestand bestellt und auf seine im Technikwesen seiende (existierende) Weise entborgen. Die Charakteristika der Weise, das Wirkliche als »Bestand« zu entbergen sind: »[e]rschließen, umformen, speichern, verteilen, umschalten«. Die »Hauptzüge« dieses Tuns bestehen in dessen »Steuerung und Sicherung« (Hei FT/20), was wiederum – evident nach oben Gesagtem – nicht bloß eine kontingente Form von Kontrolle, sondern die Ereignungsweise des Wirklichen betitelt. Der

34. Martin Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: Holzwege, Frankfurt/Main: Klostermann 1963, 7-68, hier: 49. 358

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JENSEITS VON HUMANISMUS UND TECHNIK (HEIDEGGER)

Anspruch, der den Menschen dazu schicklich anruft und versammelt, trägt den Titel »Ge-stell« (Hei FT/23). Das Lichten, der Entwurf der auf diese Weise offenbar gewordenen, wirklichen Welt, geschieht nach den methodischen Maßgaben kybernetischen Verfahrens. In der so bestellten Welt sind die »rechnende Planung des Menschen und [die] Automatisierung zusammengeschlossen« – und ergeben damit aber doch nicht das »Ganze« (Hei SdI/21). Denn das Ganze erschöpft sich nicht darin, dass es vom planenden Menschen gemacht ist und wird. Es liegt vielmehr im unabgesetzten und technisch unabsetzbaren »Anspruch«, in dem der Mensch und mit ihm alles Seiende steht: der Herausforderung und dem Herausgefordert-Sein, »sich auf das Planen und Berechnen von allem zu verlegen.« (Hei SdI/23) »Ge-Stell« lautet der Name für das Herausfordernde, das Mensch und Sein unmittelbar so versammelt, sich wechselweise als Bestandsbestellung zu stellen und zu entsprechen. Der Titel der Epoche, in der geschieht, dass das Seiende solcherart gesteuert und gesichert und mit ihm gerechnet wird, lautet: »Die Zeit des Weltbildes« (Hei ZW/69) – d.i. eine Zeit, in der die Welt nurmehr als Bild, als Vorstellung sich ereignet: »die Welt als Bild begriffen« wird. »Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, daß es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist.« (Hei ZW/82) Ein solches Seiendes ins Erkennen zu stellen, bedarf es eines einrichtenden Vorgehens im, wissenschaftshistorisch entwickelten, bereichsontologisch-forschend eingepassten Seienden (z.B. Natur, Geschichte), auf dass dieses zur methodisch streng erschlossenen Gegenständlichkeit wird. So protegiert sich die Bewegung zyklisch aus Entbergen und dessen berechnendem Bestellen als technischem Bestand – in Raum und Zeit der Kybernetik (»Cyberspace«). Das ist die Zeit »des Rechnens, das heute überall her an unserem Denken zerrt. Heute errechnet die Denkmaschine in einer Sekunde Tausende von Beziehungen.« (Hei SdI/30) Das Dispositiv dazu lautet »Ge-Stell« und die epistemologische Verhältnisfestigung von Subjekt plus Objekt hat hier ihren Ort. In einem Vortrag in Athen 1967 erörtert Heidegger die »Universalität der Weltzivilisation« (Hei HdK/140), deren wissenschaftliche Machtfülle bislang bereits im Problematisierungskontext des »Wirklichen« hervortrat. Diese Weltzivilisation wird verfasst und eingerichtet durch wissenschaftlich fundierte Technik, d.h. dass es sowohl ein wissenschaftlich-theoretisches Tun gibt, durch das die Welt berechnet wird, als auch eine angewandte Technik im engeren Sinne, durch die die Welt be-stellt wird. Das Bindeglied, das beide ins korrelative Zusammengehören bringt, ist die »Methode«. Denn sie ist als eine spezifische Weise des Entwurfs von Welt zu verstehen, eine Weise, die den Rahmen festlegt, innerhalb dessen Welt erforscht werden kann, ja, die methodische Rahmung lässt zuallererst sehen, was Welt ist. Das Tun 359

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

des methodischen Bestellens von Welt führt die Legitimation seiner Wahrhaftigkeit stets bei sich: Wahr und wirklich ist das, was sich nach maßgebender Methode ihrer Berechenbarkeit fügt. »Der Sieg der Methode entfaltet sich heute in seine äußersten Möglichkeiten als Kybernetik. […] Der kybernetische Weltentwurf unterstellt vorgreifend, daß der Grundzug aller berechenbaren Weltvorgänge die Steuerung sei. Die Steuerung eines Vorgangs durch einen anderen wird vermittelt durch die Übermittlung einer Nachricht, durch die Information. Insofern der gesteuerte Vorgang seinerseits auf den ihn steuernden sich zurückmeldet und ihn so informiert, hat die Steuerung den Charakter der Rückkoppelung der Information.« (Hei HdK/141) Sind die Wechselbeziehungen von Entitäten erst nach Maßgabe des kybernetischen Modells auf die standardisierte Bewegung als »Information« in Regelkreisläufen zusammengezogen, fallen kategoriale Unterscheidungskriterien jenseits dieses Modellstandards, wie z.B. diejenigen der Anthropologie, nicht mehr ins Gewicht. Als hätte Heidegger den Titel von Norbert Wieners 1948 erschienenem Buch »Cybernetics – or Control and Communication in the animal and the machine« im Kopf gehabt, schreibt er: »In der kybernetisch vorgestellten Welt verschwindet der Unterschied zwischen den automatischen Maschinen und den Lebewesen. Er wird neutralisiert auf den unterschiedslosen Vorgang der Information. […] In diese Einförmigkeit […] wird auch der Mensch eingewiesen.« (Hei HdK/142) Seine Einweisung in die Regel- und Steuerungskreisläufe kybernetisch gestellter Wirklichkeiten geschieht auf der Grundlage der Einsicht von Analogiepotenzialen von »Information« transferierenden und verarbeitenden, sowohl organischen als auch technischen Systemen. Um die Analogien als Gemeinsamkeiten erfassen zu können, sind die Begriffe der Kybernetik und ihre Relationsfunktionen nach Möglichkeit abstrakt und mathematisch.35 Abstrakt sind sie, da sie die Strukturbeziehungen des Wirklichen in rein formaler Hinsicht darstellen: Die Funktions- und Wirkweise eines Elementes des für die Betrachtung isolierten Systems ändert sich durch Rückkopplungskreisläufe je nach geregeltem Einfluss (»Information«) auf es. Mathematisch sind sie, da es für das Funktionieren des Wirklichen als eines kybernetischen darauf ankommt, dass die so genannte Information des extrapolierten Systems nach Maßgabe der Methoden aus Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik ausgedrückt, d.h. wiederum: formalisiert werden kann. Die formalen Funktionen des Zirkulären, Referenziellen, Auto-

35. So fasst es Hassenstein zusammen. B. Hassenstein, Artikel »Kybernetik«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 4, Darmstadt: WBG 1976, 1467. 360

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logischen und Regulativen sind die Randbedingungen für das spezifische Erscheinen von »Informationen«, deren Gesamtheit »Wirklichkeit« heißt – und andersherum: das Wirkliche als Welt von Dasein tritt nur noch dann in Erscheinung, wenn es sich gemäß der Funktionen des Kybernetischen in Form bringen lässt. Das ist die Geburtsstunde des Wirklichen im Zeitalter seiner Autoreproduzierbarkeit und Autoproduktivität, mit anderen Worten: der Simulation – der technischen Möglichkeit, nicht mehr reproduktiv auf dargestellte Wirklichkeit zurückgreifen zu müssen, sondern »vorgreifend« (Hei HdK/141) kybernetisch Wirkliches selbstproduktiv (simulativ) in die Präsenz stellen und wiederholen zu können. Mit der so genannten »Turing-Maschine« darf hier an den technischen Ort erinnert werden,36 an dem die moderne Entwicklung von der Reproduzierbarkeit zur Simulation ihre erste Vollendung erfuhr.37

Ins Offene »Kybernetik« benennt nicht nur ein System technischer Funktionsperfektion. Der Name ist ebenso Programm für die perfektionierte Zusammenkunft von Subjekt und Objekt. Im Regelkreis mit einem Objekt

36. Friedrich Kittler war es, der dem geisteswissenschaftlichen Blick für diese Hardware des Denkens, oder auch: als Denken, die Augen geöffnet hat. Aus den zahlreichen Publikationen Kittlers zum Thema seien hier beispielhaft die zwei folgenden hervorgehoben: Friedrich Kittler, Grammophon – Film – Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986; hier besonders der Teil zum »Typewriter«. Und: ders., Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1993. 37. Es lohnte sich, an dieser Stelle einen Exkurs zur Kunst des Navigierens anzuschließen, der von folgender Frage geleitet sein könnte: War Odysseus ein Cyborg? Diese Frage liegt nahe, bedenkt man, dass er der Erste war, der die Steuermannskunst, die kybernetiké téchne, anscheinend perfekt beherrschte. Fand er doch bekanntlich nach vielen Jahren des Kreisens zurück nach Ithaka – und hatte sich zweckgemäß so manches Mal eng mit seinem Medium, dem Schiff, zu verbinden. Von dieser historischen, durch Homer überlieferten Konstellation ausgehend, würde man eine Reise durch die Geschichte der Literatur antreten können, um, in ihr surfend, der Metaphorik des Schiffs – dieser Heterotopie schlechthin, wie Foucault sagt – und des Navigierens zu folgen. Die Reise würde in Häfen höchst aktueller Gefilde münden können, setzt sich Begrifflichkeit und Bedeutung der semantischen Breiten von »Kybernetik« doch von Heideggers Aufnahme der damaligen Diskussion um die neue »Leitwissenschaft« fort bis in die neuen Horizonte des anglizistisch bezeichneten »Cyberspace«. Nahe liegend, hieran Reflexionen zur Matrix des neuerlichen Strukturwandels der Öffentlichkeit anzudocken, ihrer Raum- und Grenzverhältnisse bspw., dem Stadtraum und dessen Virtualisierung. Im Literaturverzeichnis sind Angaben gemacht, die für dieses Thema berücksichtigt werden sollten. 361

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wird das Subjekt erst zum Subjekt, da es ein Objekt vor-stellt, wodurch aber auch allererst das Objekt entsteht – und so fort. Nach Maßgabe kybernetischer Konstellationen ergibt es kaum mehr Sinn davon auszugehen, dass ein Pol des Sachverhaltes Subjekt – Objekt den Anfang des Verhältnisses bilde. Das ist die Endform einer historischen Entwicklung, die durch den Fortschritt neuzeitlicher Wissenschaftlichkeit (Vorrang der Methode) und moderner Technik und deren Zusammengehen in der Weise des Entbergens von Welt als »Ge-Stell« erreicht worden ist. Dieses als Endform einer historischen Entwicklung zu bezeichnende, spezifische Subjekt-Objekt-Verhältnis als Regelkreis ist auch eine Peripetie. Der Umschlag ins Neue, über die bisherigen Grenzverhältnisse von »Subjekt« und »Objekt« hinaus, besteht hier in der Verunsicherung durch das Diffundieren der Bestimmungsmöglichkeiten beider in beide. Das war der Moderne von Beginn an ins Stammbuch geschrieben, da sie mit ihrer Scheidung von der Logik des Schließens der neuzeitlichen Metaphysik ihre eigene Syntax einer Logik der Intentionalität hervorbrachte.38 Auf deren Basis ging mit der Entsubstanzialisierung der Begriffe notwendig auch die des »Subjekts« einher. Was im Denken fortan das Zugrundeliegende sein würde, musste nicht notwendig der »Mensch« sein – und war es auch nicht. Indem Heidegger nun mit der Methodik der Destruktion der Historie gerade die neuzeitlich bis modernen Dispositive des »Subjekts« extrapoliert, kann er auch die Aktualitäten seiner Gegenwart in die Analyse einbinden. Das fundamentum inconcussum »sum cogitans« der cartesianischen »Meditationes de Prima Philosophia« war demnach das Gründungsereignis des neuzeitlichen Verhältnisses von Subjekt und Welt: dass nämlich jenes diese »vor-stellt« und machtvoll und ohne Rest in einer wissenschaftlichen Beschreibung bzw. Feststellung aufgehen lassen kann.39 Seiendes gilt in Hinblick auf die Kategorien »Exis-

38. Hierzu: Scheier, a.a.O., 1996. 39. Zum Zusammenhang von »Vorstellung« in diesem historischen Kontext und »Wirklichkeit«, und dessen Auswirkung auf die nachfolgende Geschichte, schreibt Heidegger zusammenfassend: »Das Vorstellen (percipere, co-agitare, cogitare, repraesentare in uno) ist ein Grundzug allen, auch des nicht erkenntnisartigen Verhaltens des Menschen. Alle Verhaltungen sind, von hier aus gesehen, cogitationes. Dasjenige aber, was während des Vorstellens, das je etwas sich zustellt, ständig dem Vor-stellen schon vorliegt, ist das Vorstellende (ego cogitans) selbst, dem alles Vorgestellte vorgebracht, auf das zu und zurück (re-praesentare) es anwesend wird. Solange das Vorstellen währt, ist auch das vorstellende ego cogito je das eigens schon im Vor-stellen und für dieses Vorliegende. Dem ego cogito cogitatum eignet somit im Umkreis des Wesensbaues der Vorstellung (perceptio) die Auszeichnung des ständig schon Vorliegenden, des subiectum [Herv. T.S.]. Diese Ständigkeit ist die Beständigkeit dessen, worüber in keinem Vorstel362

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tenz« und »Verfügbarkeit« als gesichert. »Die Dimension der Kritik, der theoretischen, der praktischen und der technischen Vernunft ist somit die Ichheit des Ich: die Subjektivität des Subjekts. In der Beziehung auf das Ich als Subjekt hat das im Vorstellen vor das Ich gestellte Seiende den Charakter des Objektes für das Subjekt.«40 Die Universalität dieser Konstellation wird mit der Kybernetik erreicht. Da die Gesamtheit des Wirklichen nach der Weise der technischen Bestandsbestellung entborgen wird, muss sich, kybernetisch interpretiert, die Objektwelt zurückmelden und sich ihrerseits an das vormals handelnde – informierende – Subjekt informativ rückkoppeln. Hier hat ein kulturgeschichtlicher Vorgang seinen Ort, der auch in der Diskussion um die (sloterdijkschen) »Anthropotechniken« und den (neuen?) Humanismus virulent war und ist: Die Ent-Geistigung des Menschen geht mit der Formulierung einer Anthropologie einher, deren Methodik der Forderung nach entwerfbarer Exaktheit (Experiment) und empirischer Berechenbarkeit entsprechen kann bzw. gar darin besteht. 1967 in Athen verdichtet Heidegger die Frageperspektive nach dieser neuen Anthropologie auf die Forschung der humanbiologischen Grundlagen: Das »nach der Maßgabe der Methode maßgebend Lebendige im Leben des Menschen [ist] die Keimzelle. Sie gilt nicht mehr wie früher als die Miniaturausgabe des vollentwickelten Lebewesens. Die Biochemie hat in den Genen der Keimzelle den Lebensplan entdeckt. Er ist die in die Gene eingeschriebene, dort gespeicherte Vorschrift, das Programm der Entwicklung. Die Wissenschaft kennt bereits das Alphabet dieser Vorschrift. Man spricht vom ›Archiv für die genetische Information‹. Auf seine Kenntnis gründet man die sichere Kenntnis, eines Tages die wissenschaftlich-technische Herstellbarkeit und Züchtung des Menschen in den Griff zu bekommen. Der Einbruch in die Genstruktur der menschlichen Keimzelle durch die Biochemie und die Atomzertrümmerung durch die Kernphysik liegen auf der selben Bahn des Sieges der Methode über die Wissenschaft.« (Hei HdK/142f.) Die Antwort auf die Frage »Was ist der Mensch?« unterliegt dem geschichtlichen Wandel. Die Wirklichkeit des Ge-Stells gibt die Antwort auf die Frage durch faktische Einlösung technischen Tuns: der Selbst-Befähigung und -Bemächtigung des Menschen nämlich, sich projektiv und entwerfend als genetische Information darzustellen und

len, und sei dieses selbst von der Art des Zweifels, je ein Zweifel sein kann. […] Die Wirklichkeit ist als Ständigkeit durch die Beständigkeit (das Währen des Vor-stellens) umgrenzt, aber sie ist auch zugleich das Erwirken des Vorstellenden zu einem ens actu. Das Wirken des neuen Wesens der Wirklichkeit dieses ausgezeichneten Wirklichen hat den Grundzug des Vor-stellens. Entsprechend ist die Wirklichkeit dessen, was in allem Vorstellen vor- und beigestellt wird, durch die Vorgestelltheit gekennzeichnet.« (Hei NII/393f.) 40. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen: Neske 1957, 132. 363

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in eins reduktiv eine dem gemäße Selbst-Bestimmung vorzunehmen. Der Regelkreis aus Objektivierung (Projektion, Entwurf) und Subjektivierung (wissenschaftlich-systematische Rationalität) prozediert auch hier lückenlos. Der Prozess der Rückkopplung der methodisch abgefederten Rationalität, die den Menschen animal rationale bleiben lässt, mit der Welt als Bild, bspw. als genetische Information oder ikonischvirtualisiert aus Pixeln, sichert die Wahrheit dieser Wirklichkeit nachhaltig: dass sie Seiendes auf berechenbare Weise ist. Damit gelangen zwei Prozesse, die analytisch darstellbar sind, sachlich zur Kongruenz: Das Bildwerden der Welt und das Subjektwerden des Menschen sind korrelativ aufeinander verwiesen.41 Das Bildwerden der Welt ist ihr Objektwerden durch das vor-stellende Entbergen der Wirklichkeit als herstellbaren Bestand. Und gerade der auf diese Weise ein-gestellte Vorgang der Entbergung ist es ja, der ein ein Dieses schaffendes Subjekt vordringlich hervortreibt. Die Perfektion dieser Autologie oder kybernetischen Wirklichkeit findet ihren Grund in sich als Rückkopplungsbewegung ausgetauschter Informationen.42 Ein Charakteristikum des Ge-Stells ist es, dass seine Wirklichkeit er-wirkt ist und wiederum noch Hervorzutreibendes be-wirkt. Kurz: Das Nutzungsprimat inhäriert. Heideggers »Brief über den Humanismus« setzt mit einer Ablehnung dieser Kausalauffassung des Handelns ein (Hei BrH/313). Diese Distanznahme ist durch eine Bestimmung des Menschenwesens fundiert, die dieses nicht als »Subjektivität« begreift. Vielmehr: »Der Mensch ist nie zunächst diesseits der Welt Mensch als ein ›Subjekt‹, sei dies als ›Ich‹ oder als ›Wir‹ gemeint. Er ist auch nie erst nur Subjekt, das sich zwar immer zugleich auch auf Objekte bezieht, so daß sein Wesen in der Subjekt-Objekt-Beziehung läge. Vielmehr ist der Mensch zuvor in seinem Wesen ek-sistent in die Offenheit des Seins, welches Offene erst das ›Zwischen‹ lichtet, innerhalb dessen eine ›Beziehung‹ vom Subjekt zum Objekt ›sein‹ kann«. (Hei BrH/350) Schon früh – lange bevor an die kritische Erörterung der kybernetisch eingestellten Technik-Welt zu denken war – hatte Heidegger seine eigene, fundamentalontologische Charakterisierung des Menschenwesens entworfen. Mit dieser, die konstitutiv für das eigene, auch spätere Werk war, unterlief er die dichotomische Korrelation von Subjekt plus Objekt. Er las sie in der Philosophie- und Technik-Historie auf, und ließ sie konzeptional hinter sich.

41. Hierzu auch: (Hei ZW/85). 42. Zur Bedeutung Leibniz’ für Heidegger in diesem Zusammenhang, siehe: Hans Köchler, »Heideggers Konzeption des Subjekts auf dem Hintergrund seiner Ontologie«, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 2, Berlin: de Gruyter 1998, hg. v. Reto Luzius Fetz, 1058-1072, bes.: 1063ff. 364

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JENSEITS VON HUMANISMUS UND TECHNIK (HEIDEGGER)

Das Existieren als ein die Wirklichkeit von Welt besorgendes In-der-Welt-Sein führt die Differenz mit sich, dass im Modus des Ontischen das Dasein sich subjektiv als Ich des Besorgens entwirft, vorfindet, versteht, auslegt. Der daseinsanalytische Modus des Ontologischen jedoch entbirgt, dass gerade das Alltägliche des Besorgens in der Abwesenheit des Ich besteht.43 So kann es sein, »daß das Wer des alltäglichen Daseins gerade nicht je ich selbst bin.« (Hei SuZ/115) Die durch die Historiografie des animal rationale in dieses selbst verlegte Kompetenz, als Subjekt erkennend auf ein Objekt zugreifen zu können (adaequatio intellectus et rei), verliert hiermit ihren fundierenden Status. Das Erkennen ist vielmehr ein surplus des ihm im daseinsmäßigen Weltbezug vorgängigen und es bergenden In-der-Welt-Seins (Hei SuZ/62).44 Der abkünftige Status des »Subjekts« wird damit evident: Seiendes begegnet vor-erst im umweltlichen Besorgen – einer Weise des In-derWelt-Seins, das (noch) gar kein »Subjekt« (oder sonstiges Konzept) kennt. Das In-Sein steht dem Dasein nicht zur entscheidbaren Disposition, vielmehr hat In-Sein schon stattgefunden und findet unablässig statt, wenn ein Etwas als »Dieses« zur Disposition steht, bspw. in der Situation des auf ein »Objekt« bezogenen rationalen Entscheidens oder Erkennens durch ein »Subjekt«. Dazu sei kurz die Differenz zu Husserl markiert. Auch wenn eine weiter gehende Darstellung des gedanklichen Verhältnisses der beiden auf den husserlschen Horizont-Begriff zu sprechen kommen müsste, sei für den vorliegenden Kontext die Konzentration auf den Punkt des heideggerschen »In-Seins« gewahrt. Die Differenz zwischen Heideggers In-Sein als Be-Sorge der Welt und Husserls »Intentionalität« ist schärfer als bspw. die zwischen einer theoretisch-gedanklichen Vorgabe des Lehrers und der nachfolgenden Erweiterung dessen durch den Schüler. Im noetisch-noematischen Bewusstseinsstrom kommt es gerade darauf an, ein Objekt zu konkretisieren und zu individuieren, kurz: Erkenntnisevidenz anzustreben. Als ein solches Objekt kann der phänomenologischen Bewusstseinstätigkeit auch das »Ich« erscheinen und clare et distincte präpariert werden. Dass es also ohne intentionale Gerichtetheit keine Welt geben soll, muss die Kritik der Daseinsanalytik auf den Plan rufen. Denn im husserlschen Modell wird gerade die Weltlichkeit der Welt übersprungen – und damit ihre immer und je

43. Hierzu auch: Axel Beelmann, Die Krisis des Subjekts. Cartesianismus, Phänomenologie und Existenzialanalytik unter anthropologischen Aspekten, Bonn: Bouvier 1990, bes.: 327-332. 44. Der gesamte § 13 befasst sich mit der Beziehung von »Erkennen«, »Subjekt« und »In-der-Welt-sein« und führt die »Exemplifizierung des In-Seins an einem fundierten Modus« vor: dem »Welterkennen« (Hei SuZ/59-62). Hierzu auch nochmals die dichte Analyse von Beelmann, a.a.O., 1990, 307-312. 365

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schon vor-gängige Faktizität, in die das Dasein existenzial verfallen ist und Welt be-sorgt.45 Deshalb gilt für Heidegger: »Man kann nicht von einem Subjektbegriff aus etwas über die Intentionalität entscheiden, weil diese die wesenhafte, wenn auch nicht ursprünglichste Struktur des Subjektes selbst ist.«46 Stattdessen: Das, »was mit Intentionalität gemeint ist – das bloße Sichrichten-auf – muß vielmehr noch in die einheitliche Grundstruktur des Sich-vorweg-seins-im-sein-bei zurückverlegt werden. Dieses erst ist das eigentliche Phänomen, das dem entspricht, was uneigentlich und lediglich in einer isolierten Richtung als Intentionalität gemeint ist.«47 Zusammenfassend könnte gelten: Ein »Subjekt« existiert nicht. Doch ist das missverständlich. Warum? Die Aussage baut darauf, das Wort »existieren« heideggerisch zu hören. Tant mieux, denn im Zuge der »existenzialen Bestimmungen« gilt kein Gedanke (mehr) dem »Subjekt«. Stattdessen bilden sich diese »Bestimmungen« aus dem »ursprüngliche[n] Zusammenhang« von »Existenzialität, Faktizität und Verfallensein«. Im existenzialen Netz dieser drei Daseinsmomente verfängt sich »Zeug«, ist zuhanden als »das, womit man es im besorgenden Umgang (praxiz) zu tun hat.« (Hei SuZ/68) Gibt es eine diese drei »Charaktere« des »Sein[s] des Daseins« bergende Einheit, die deren gewebten und verwobenen Sachverhalt ur-sprünglich zusammenhält (Hei SuZ/191)? Der Blick auf das Begegnende des Daseins zeigt sich in der Gesamtheit seiner Räumlichkeit als »Welt«: das »Worin« des InSeins (Hei SuZ/86). Und den Blick entsprechend gewendet, hin auf das Tun dieses In-Seins, ist zu sehen: Die Struktureinheitlichkeit der sich existenzial verstehenden Pragmatik, als die sich Dasein in-seiend als sich selbst »über sich hinaus« entwirft, ist die »Sorge« (Hei SuZ/191ff.).48

45. Eine ausgiebige und instruktive Analyse des Verhältnisses von husserlscher »Intentionalität« und heideggerscher »Sorge« lese man nach in: Aldo Masullo, »›Sorge‹: Heideggers Verwandlung von Husserls Intentionalitätsstruktur«, in: Phänomenologie im Widerstreit, hg. v. Christoph Jamme u. Otto Pöggeler, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, 234-254. 46. Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, in: Gesamtausgabe, Bd. 24, Frankfurt/Main: Klostermann 1975, 91. 47. Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, in: Gesamtausgabe, Bd. 20, Frankfurt/Main: Klostermann 1979, 420. 48. In der Marburger Vorlesung des Wintersemesters 1925/26 – parallel also zur Abfassung von »Sein und Zeit« – heißt es zusammenfassend: »Das Dasein ist in seinem In-der-Welt-sein, in seinem Sein bei der Welt auf sein eigenstes Sein aus, als um welches es ihm geht. Die Grundart von Sein eines Seienden, das so ist, daß es ihm in seinem Sein um dieses selbst geht, bezeichnen wir als Sorge. Sorge ist der Grundmodus von Sein des Daseins, und als solcher bestimmt er jede Seinsart, die der Seinsverfassung 366

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JENSEITS VON HUMANISMUS UND TECHNIK (HEIDEGGER)

»Welt« ist demnach das, was in Sorge erhellt wird, indem die »Sorge« das ist, was in Welt existenzial ist. Indem Heidegger den Nachweis von vorgängigen existenzialontologischen Daseinsstrukturen führt, verfolgt er, zur Formulierung einer zweifachen »Einsicht« zu gelangen. Erstens: »daß für den Ruf ›zur Sache selbst‹ im voraus festliegt, was die Philosophie als ihre Sache angeht« (Hei EdPh/70). Zweitens: dass diese »Sache« – Subjektivität – einer definitorischen Bestimmung zu enthalten sei. Dieses Vorgehen ist die notwendige Bedingung einer fundierten, oder besser: de-fundierenden Kritik des »Willens« (Nietzsche), das Sein einer Verfügbarkeit zuzuführen. Der »Wille« dazu ist das Faktotum vorgestellter Zugestelltheit von Welt an die Technik, die darin besteht, eben jene Welt als Bestand zu besorgen. Durch die Verwandlung des »Willens zur Macht« in den »Willen zum Willen«49 in Heideggers geschichtlichem Blick auf die Formationen von Metaphysik und Nihilismus, kann die nietzscheanische Denkfigur als perfektionierter »Wille« erscheinen, der die Historie auf das Wesen der Vor-Stellung reduzierte. Diese Weise, das geschickte Wirkliche des Seins der Welt als vor-gestellten Bestand zu bestellen, hebt gerade in seiner organisiert-organisierenden »Machenschaft«50 auf das Uneingeschränkte des technischen Entbergens ab. So muss in Heideggers Prospekt Nietzsches notierter »Tod Gottes« gerade als die sich vollendende Verabsolutierung der Kultur des »Setzens« (im Sinne des GeStells) erscheinen. Aber: Im Duell an high noon zwischen »Wahrheit« und »Schein« hatte Nietzsche die gegenseitige Entwindung vom je anderen der Duellanten auf auto-reverse gestellt und zeichnete gerade diese unablässige Schleife aus Entstehen und Vergehen als Schaffensbewegung des »Subjekts« (Wille zur Macht) aus – Heidegger deutet dieses ästhetischproduktive Schaffen als technischen Ermächtigungswillen um, der, so gesehen, die Perfektionierung des metaphysischen Konstellationsprinzips bleibe: eine substanziell als »Subjekt« vorgestellte bzw. bezeichnete Größe bestellt die Wirklichkeit als objekthaft Seiendes. Heideggers Blick – gerahmt von der These der Kontinuität der Geschichte der Me-

des Daseins folgt.« Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 21, Frankfurt/Main: Klostermann 1976, 220. 49. Die in kritischer Absicht wohl vehementesten Ausführungen Heideggers hierzu finden sich zu Beginn des Aufsatzes »Überwindung der Metaphysik«, in: Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Stuttgart: Neske 1997, 67-95, hier: 68. Die Textstelle, der das obige Wort zum Willen entnommen ist, bezieht sich zudem explizit auf Ernst Jüngers »Der Arbeiter«! 50. Hierzu: (Hei NII/13-17). 367

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

taphysik – übersieht, dass der von ihm lancierte »andere Anfang«, den er bei Nietzsche vermisst, bei diesem doch gerade ganz modern gedacht darin liegt, dass das sich stets neu schaffende Subjekt genau so die Produktions-Bewegung des Anderen im Selbst non plus ultra ist. Doch Heidegger bleibt das Subjektive per se eine problematische »Sache« – zumal in Hinblick auf das Technische der modernen Geschichte: Die »Industriegesellschaft [ist] die ins Äußerste hinaufgesteigerte Ichheit, d. h. Subjektivität.« (Hei HdK/144) Es muss nicht befremden und ist auch kein Zufall, wenn man sich hier an den marxschen Gedanken erinnert fühlt. Denn dieser ließ Sinnlichkeit als arbeitsame Produktivität des Lohnarbeiters sehen, die unter modernen Produktionsbedingungen von der »große[n] Maschinerie« abgelöst wird, und das »Subjekt« prozedierte als Zirkulation von Kapital.51 Auch der »Brief über den Humanismus« zeigt beispielhaft, dass Heidegger sich intensiv mit dem marxschen Gedanken vertraut gemacht hat. Die Subjektivität hat in Form der »Industriegesellschaft« ihren äußersten Macht-Willen entfaltet. Heidegger paraphrasiert den von Marx analysierten »Materialismus« (der Welt) als »metaphysische[ ] Bestimmung, dergemäß alles Seiende als das Material der Arbeit erscheint«. Diese Arbeit ist, eingedenk der marxschen Orientierung an Hegels Gedanke: »die Vergegenständlichung des Wirklichen durch den als Subjektivität erfahrenen Menschen.« (Hei BrH/340) Das äußert sich und gelangt zur Darstellung (Hei BrH/318) durch die und in der »Öffentlichkeit«.52 Sie ist die »Einrichtung und Ermächtigung der Offenheit des Seienden und die unbedingte Vergegenständlichung von allem.« (Hei BrH/317) Hiervon ist auch die Sprache betroffen, die nach Maßgabe rationalisierter Strukturen des sozialen Systems des Öffentlichen ihre zweckgebundene Mediatisierung erfährt: Die Sprache gerät »in den Dienst des Vermittelns der Verkehrswege, auf denen sich die

51. Zu weiter gehenden Bezügen und Unterschieden Heideggers und Marxens, die Aspekte berühren, die für das Vorliegende nicht belangvoll sind, siehe: Hans-Martin Gerlach, »Kritik der Metaphysik bei Marx und Heidegger«, in: Martin Heidegger weiterdenken, hg. v. Albert Raffelt, München u. Zürich: Schnell und Steiner 1990, 36-64. Tassos Bougas, »Das Ende der Philosophie bei Marx und Heidegger«, in: Zur philosophischen Aktualität Heideggers, hg. v. Dietrich Papenfuss u. Otto Pöggeler, Frankfurt/Main: Klostermann 1991, 101-117. 52. Zum vom »Öffentlichen« abkünftigen Status des »Privaten« schreibt Heidegger: »Die sogenannte ›private Existenz‹ ist jedoch nicht schon das wesenhafte, nämlich freie Menschsein. Sie versteift sich lediglich zu einer Verneinung des Öffentlichen. Sie bleibt der von ihm abhängige Ableger und nährt sich vom bloßen Rückzug aus dem Öffentlichen. Sie bezeugt so wider den eigenen Willen die Verknechtung an die Öffentlichkeit.« (Hei BrH/317) 368

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JENSEITS VON HUMANISMUS UND TECHNIK (HEIDEGGER)

Vergegenständlichung als die gleichförmige Zugänglichkeit von Allem für Alle unter Mißachtung jeder Grenze ausbreitet.« (Hei BrH/317)53 Das Leitmotiv der ewigen Wiederkehr des oben genannten Macht-»Willens«, das Sein technisch in seine Verfügbarkeit sicherzustellen, ist, gerade aufgrund der kybernetischen Perfektionierungsstrategien des Subjekt-Objekt-Korrelats, die Seinsvergessenheit des Denkens. Demgegenüber öffnet die »Destruktion« (der Geschichte) des »Subjekts« allererst die Möglichkeit der Erörterung des Denkens – in der Matrix der technischen Zivilisation (Ge-Stell). Doch ist das »Öffnen« nur nebenher methodisch zu verstehen. Denn mit der Öffnung der Möglichkeit geht, für das Denken wesentlich, die Möglichkeit des Offenen einher. »Weg«, »Suche«, »Möglichkeit«, »Ereignis« werden nun zu backbones der Topografie eines Denkens, dessen Syntax das Konjunktivische des Wagnisses ist, d.h. stets im Ereignis des Sinnlichen der Sprache und also unterwegs zu ihr, als dem sich ereignenden Offenen. »Vielleicht gibt es ein Denken, das nüchterner ist als das unaufhaltsame Rasen der Rationalisierung und das Fortreißende der Kybernetik. Vermutlich ist gerade dieser Fortriß äußerst irrational.« (Hei EdPh/79)54 Eben: »Vielleicht«. Scheinbar paradox also ergibt sich mit der Gelassenheit historisch tradierter Weltbilder der »Subjektivität« gegenüber, dass das immer und je schon Vor-Liegende (subiectum) das Vor-Weg als die leichte Offenheit – »Lichtung« (Hei EdPh/71ff.)55 – des Denkens ist. Und das Denken macht einen Satz – was doppeldeutig ist. Das Denken ist Satz als Sprache (besser: Schrift) und in dieser Form ist sie: »Überlieferung«, der sich wiederum das Denken zuwendet und in der Zuwendung Schrift, also Medienform, ist (Hei SdI/30). Das Denken macht einen Satz und springt ab. Das geschieht, indem es sich mit einem Satz ab-setzt, vom »Satz vom Grund«. Diesem inhärierte das Modell bzw. die Vor-Stellung des Subjekts namens »animal rationale« als Grund für ein jegliches Objekt (Seiende). Der Absprung hiervon gelangt nicht zur Landung auf der Gegenseite gesicherter Objekthaftigkeit, und er ist auch kein Bungeejumping, das nach

53. Das kann als eine Zustandsbeschreibung mediatisierter (Massen-)Kommunikation gelten, wie sie in ihrer Formierung während der Nachkriegszeit augenfällig geworden sein dürfte. Die These des Gedankengangs im Allgemeinen ist aber auch in den gegenwärtigen Diskussionen zum Zusammenhang von Virtualisierung der Daten- und Finanzströme und der so genannten Globalisierung wieder anzutreffen. 54. Mit der Betonung des Erlebens der Zeitlichkeit der Technik (»Rasen« etc.) taucht hier ein Motiv auf, das bekanntermaßen für den virilioschen Zugriff aufs Thema wesentlich ist. 55. Heidegger definiert »die Lichtung selber« als: »die Wahrheit des Seins« (Hei BrH/331). 369

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

kurzem thrill zurück auf sicheres Terrain führte.56 Dieser Absprung ist vielmehr das Entspringen des Ur-Sprungs in Permanenz, das sich in das unbestimmte Intermediäre von Subjekt und Objekt aufmacht.57 Nämlich dorthin, wo das »Gehören« »erst ein Zueinander von Mensch und Sein und damit die Konstellation beider zu vergeben hat.« (Hei SdI/20) Der Titel der gegenwärtigen Konstellation von Mensch und Sein lautet: »Ge-Stell«.58 Sie ist der »Absprungbereich«59 für den Satz »vom Grund« weg. Der Mensch gelangt, mit dem ihm selbst ent-springenden Absprung vom ihm Zugrundeliegenden (subiectum), das er als »Subjekt« selbst ist – bzw. auf dem Sprung ist, gewesen zu sein –, ins Offene der konstellativen Entsprechung zum Sein. Dass aber das Sein so dem Menschen entspricht, ist nicht human produzierbar.60 Das Ent-Springen des Absprungs wird vielmehr gerade als Geschick (in) der Lichtung gewährt (Hei BrH/337). Erinnert sei nochmals an die zahlreichen theoretischen Orte, an denen eine Befassung Heideggers mit der Sache »Subjekt« begegnete: die Kybernetik, die Sorge-Struktur in »Sein und Zeit«, die Auseinandersetzung mit dem Humanismus, und auch ganz allgemein die zahlreichen methodischen Vorgänge zur Destruktion der Geschichte. Man sieht nun: Heidegger zieht keine definitorische Formulierung von »Subjekt« so zusammen, dass diese bis hin zu einer begrifflichen Terminierung für die eigene theoretische Logistik geführt werden würde. Es ist also wesentlich, dass der Titel »Subjekt« bei Heidegger terminologisch unbestimmt und eine systemische Leerstelle, offen, bleibt. Das ist nicht etwa ein Versehen oder Unzulänglichkeit der Theorie. Das Wissen um die historischen Konstellationen des Terminus (SubjektObjekt-Korrelation; »animal rationale« etc.) und deren metaphysische Implantate führt angesichts der Einsicht in das Rettende des »Offenen«

56. … oder in die Katastrophe. 57. Es lohnte sich, dem ›Sprung ins Ungewisse‹ als Motiv der Medienrespektive Filmgeschichte nachzugehen. Die Basler Theaterwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter hat dies in einem Vortrag am Beispiel des Sprunges von Nijinsky instruktiv vorgeführt. Gabriele Brandstetter, »still/motion. Über Choreographie/Corps et graphie«, Tagung: »Stillstellen«, 06.-09. Juli 2000, Frankfurt/Main. Als jüngere Beispiele könnten Beachtung finden: Thelma & Louise; die Helden aus »The Matrix«; der Springer von Wim Wenders’ »100-Million-Dollar-Hotel«. 58. Dass in einer »Konstellation« immer Korrespondenzen walten, lese man bei Walter Benjamin nach: »Lehre vom Ähnlichen« und »Über das mimetische Vermögen« (B II/204-213). 59. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen: Neske 1957, 157. 60. Das Kapitel zu Sloterdijks Humanismus-Kritik hatte gezeigt, dass man geneigt sein kann, mittlerweile an dieser These zu zweifeln. 370

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JENSEITS VON HUMANISMUS UND TECHNIK (HEIDEGGER)

dazu, dass die systemische Leere auch systematisch-strategisch eine solche bleibt. Der Meinung so mancher Fachliteratur, die welt- und praxisfremde »Technikkritik« Heideggers passe sich ein in die Weltferne seiner späteren Existenz auf der »Hütte«, steht das Wort des Denkers gegenüber: »Zunächst ist zu sagen, daß ich nicht gegen die Technik bin. Ich habe nie gegen die Technik gesprochen, auch nicht gegen das so genannte Dämonische der Technik. Sondern ich versuche, das Wesen der Technik zu verstehen.«61 Dass er bei der vorsichtigen Umschreibung seines Denkens als eines Versuches bleibt, hängt schließlich wieder mit der Metapher des »Weges« zusammen. Dieser ist – wie im »Leben« – auch im Denken immer wieder als ein solcher aufs Neue zu begehen, wodurch das Denken zum Leben werden kann, dieses aber nicht zu jenem werden muss. Ihre derartige Verwandtschaft bedeutet fernerhin, dass – fundamentalontologisch verstanden – das factum brutum des konturierten Weges bedachten Lebens die eigene Ethik solcherart schon mit sich führt.62 Heidegger zum korrelativen Verhältnis von »Leben« und Denken (»Philosophie«): »Philosophie ist ein Grund wie das Leben selbst, so daß sie es eigentlich je wieder-holt, aus dem Abfall zurücknimmt, welche Zurücknahme selbst, als radikales Forschen, Leben ist.«63 Heideggers denkerische – um nicht zu sagen: theoretische – Weisungen ins Offene, die er z.B. mittels der unversetzten Erzählungen

61. Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, hg. v. Günther Neske und Emil Kettering, Pfullingen: Neske 1988, 25. Im Übrigen markiert Heidegger in diesem Gespräch auch seine Distanz zum Marxismus – die keine so deutliche ist hinsichtlich des marxschen Gedankens. Heidegger sagt an dieser Stelle des Gespräches: »[E]s handelt sich darum, das Wesen der Technik und der technischen Welt zu verstehen. Meiner Meinung nach kann das nicht geschehen, solange man sich philosophisch in der Subjekt-ObjektBeziehung bewegt. Das heißt: Vom Marxismus aus kann das Wesen der Technik nicht verstanden werden.« Ebenda, 26. 62. Zu diesem letzten Aspekt, des Verhältnisses von Ontologie und Ethik, siehe: (Hei BrH/352-358). Zum ›blinden Fleck‹ der persönlichen Kartografie Martin Heideggers in dieser Hinsicht, siehe: Jacques Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988. 63. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, in: Gesamtausgabe, Bd. 61, hg. v. Walter Bröcker und Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt/Main: Klostermann 1994, 80. Die zeitgenössische Variante dessen mag das Angebot von Rainald Goetz sein: »Abfall für Alle« – ein Textdokument, das über den Zeitraum eines Jahres im Internet wuchs, dann dort gelöscht und dafür aber gebunden zwischen zwei Buchdeckeln publiziert wurde. Rainald Goetz, Abfall für Alle. Roman eines Jahres, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. 371

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»SUBJEKT« UND »SINNLICHKEIT« IN DER PHILOSOPHIE DER MODERNE

der Kunst erörtert,64 fügen sich dem an: Die Offenlegung der neuzeitlichen und modernen Human-Geschichte als einer Daseinsweise im Ge-Stell ist in eins die Destruktion des Weltbildes vom Menschen als eines, als des »Subjekts«. Der Abzweig vom – verbal gedachten – Wesen des Menschen als des technisch herausgeforderten animal rationale auf den anderen Weg ins anders-anfängliche Andenken des Offenen führt in die Entsprechung zum Sein: dem gelassen-lassenden Existieren im Geviert. Was also hat Heidegger auf seinem Weg dorthin gehört? Die Worte des Dichters, die das »élément d’aventure« (Hei BrH/362) des weltlichen Daseins (be-)wahren und »die Strenge der Besinnung, die Sorgfalt des Sagens, die Sparsamkeit des Wortes« (Hei Brh/364) in ein Zusammengehören verdichten. »Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein weniges heute Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein. Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft. Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit. Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtglaubige zweifeln an einer Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag.«65 So ist Heideggers Denken kein Anti-Humanismus oder eine Befürwortung des »Inhumanen« (Hei BrH/448), sondern ein A-Humanismus66, der mit dem Blick auf das Intermediäre der Beziehung von »Subjekt« und »Objekt« die ankünftige Offenheit der intentionalen Weltlichkeit sieht. Aufgrund der terminologischen Ausdehnung67 seiner Destruktion tradierten philosophischen Denkens bildet dieser A-Humanismus

64. Siehe hierzu auch: Susanne Kaul, Narratio. Hermeneutik nach Heidegger und Ricœur, München: Fink 2003. 65. Friedrich Hölderlin, »Das Gasthaus [Der Gang aufs Land]«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Darmstadt: WBG 1998, Bd. 1, 308. 66. Was später auch auf Foucault zutreffen wird. 67. Man rufe sich eine lexikalische Bestimmung von »Sein« in Erinnerung, um die Ausdehnung des heideggerschen Destruktionsprojektes zu gegenwärtigen. Zum Beispiel diese: »S[ein] bezeichnet […] den Inbegriff alles Seienden (›das Sein‹), das ganze der Welt. Dann ist er 1. Entweder der allumfassende Begriff, d.h. seinem Umfang nach der umfassendste, da er alle einzelne S[ein] umfaßt, seinem Inhalt nach der ärmste, da er kein Merkmal außer ›ist‹ besitzt. 2. Oder mit S[ein] wird der gerade entgegengesetzte Begriff bezeichnet; er umfaßt dann nur ein Ding, die All-Einheit, und sein Inhalt ist dann unendlich; er hat alle nur möglichen Merkmale.« Artikel »Sein«, in: Philosophisches Wörterbuch, hg. v. Georgi Schischkoff, Stuttgart: Kröner 1978, 627-629, hier: 628. 372

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JENSEITS VON HUMANISMUS UND TECHNIK (HEIDEGGER)

die historische Grenze der Moderne in extremis. Die Reflexion auf die Stillstellung an der epochalen »Linie« des technischen Nihilismus – wie sie sich in der Auseinandersetzung mit Ernst Jünger konturiert – führt hier zur Öffnung eines Zeit-Raumes im Innern des nihilistischen Ge-Stells. Er tut sich kund als Bewegungsmodus des Intermediären, »[u]nterwegs zur Sprache« im Offenen des Denkens. »Zeit-Raum nennt jetzt das Offene, das im Einander-sich-reichen von Ankunft, Gewesenheit und Gegenwart sich lichtet. Erst dieses Offene und nur es räumt dem uns gewöhnlich bekannten Raum seine mögliche Ausbreitung ein. Das lichtende Einander-sich-reichen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart ist selber vor-räumlich; nur deshalb kann es Raum einräumen, d.h. geben.«68 Der so gedachte Zeit-Raum des gereichten Augenblicks öffnet, gerade durch die explizierte Leerstelle »Subjekt« und die Einlagerung der Sinnlichkeit in deren, notwendig, imaginäre Mediatisiertheit (hier: Text), die philosophische Denkbewegung der geschichtlich Heidegger Folgenden in die Moderne hinein! Diese Denkbewegung ist die Um- und Einstülpung in das Innere des Eigenen (Moderne) und dessen dortige, diskursive enklavische Überschreitung. Das Andere des Selbst der Moderne wird so zur Sache des Denkens der Moderne selbst. Die wissenschaftstheoretische Grundlegung dieser Quasi-Epoche »Postmoderne« hatte sich zudem mit dem Denken Lyotards gefunden und zog sich auf die Frage zusammen: Wie verortet sich Kultur und Wissen im zeitgenössischen Spiel von Legitimierung und Delegitimierung? Die diversen diskursiven Varianten des Anderen im Selbst (der Moderne) exponieren sich nun – auf der Basis direkter Heidegger-Rezeption, oder nicht – auch (und gerade) in der Perspektive medientheoretischer Paradigmen-Bildung: Echtzeit, Text, Archiv, Simulation. Den theoretischen Anstoß zu deren Erörterung zu finden, ist es sinnvoll, nochmals bei Heidegger anzusetzen: bei der Debatte mit Ernst Jünger über das Verhältnis von Technik und Nihilismus.

68. Martin Heidegger: Zeit und Sein, in: Zur Sache des Denkens, Tübingen: Niemeyer 1988, 1-25, hier: 14f. 373

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Vierter Teil Nachwort

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) T04_00 respekt.p 29190158122

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INS OFFENE DES ÖFFENTLICHEN

Ins Offene des Öffentlichen Am anderen Ende dieses Textes – in der Einleitung – wurden in einer Fußnote einige Anmerkungen zum Begriff des Paradigmas gemacht. Demgemäß gilt für diese Arbeit insgesamt, dass die Paradigmen hier keine strukturrevolutionäre Anzeige-Funktion (Kuhn) haben. Auch wenn also kein Totalisierungsanspruch gehegt wird, bleibt die Frage dennoch virulent, ob Echtzeit, Text, Archiv und Simulation hinreichen, dass sich aus ihren Zusammenhängen ein Raster (eine Matrix) für den medientheoretischen Blick erstellen lässt. Nun, sie bieten, was Wittgenstein für die Funktion von Paradigmen festgehalten hat: Orientierung. Und das heißt auch, dass sie als backbones Anknüpfungspunkte bereithalten sollten, um das Raster weiter gehend zu differenzieren. Deshalb eben wurden im Zweiten Teil keine werkmonografischen Darstellungen gegeben. Und das »Legendenwesen« (Heinz) der Fußnoten hat Möglichkeiten zu lesen angeboten, wie auf der Grundlage von Echtzeit, Text, Archiv und Simulation weitere, differenzierende Vernetzungen zu den zahlreichen medientheoretischen Belangen erstellt werden können. Wer aufmerksam gelesen hat, wird zu ästhetischen, formalen und historischen Medienfragen theoretische Angebote gefunden haben. Aber aufmerksam lesen musste man, denn weitgehend ausgeführt wurden diese Themen nicht, da sie schlicht nicht in der Absicht des vorliegenden Textes lagen. Und dennoch: Es bleibt eine Frage offen, die indes von den extrapolierten Paradigmen selbst naturgemäß nicht beantwortet werden kann, und die obendrein – Effekt des Paradigmatischen? – metaphorisch gestellt sein will. Michel de Certeau berichtet von dem – für Nicht-Griechen – überraschenden Umstand, dass im heutigen Athen die kommunalen Verkehrsmittel »metaphorai« genannt werden.1 Die (fahrplanmäßig) angekündigte, metaphorische Frage (Welche ist das nicht?) lautet also: Welcher (paradigmatische?) Ort liegt auf dem Weg zwischen den medientheoretischen Paradigmen Echtzeit, Text, Archiv

1. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988, 215. 377

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NACHWORT

und Simulation? Welcher Ort ist in ihrem Strecken-Netz zwar eingetragen, wird aber als Haltestelle nicht bedient? Der folgende Antwortversuch soll vorerst nicht anders als erstens kurz, zweitens hypothetisch sein. Damit steht zu hoffen, dass es sich bei dem in der Antwort Angesteuerten also – um bei der Stadt-Bild-Metapher zu bleiben – um ein heterotopes Paradigma handelt, um einen Raum, der zur Zeit als solcher nicht viel beachtet, aber doch ausgiebigst wie zur rush hour über- und durchquert wird.

Öffentlichkeit – ein neues altes Paradigma? Schon die moderne Philosophie seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist durch einen Wahrheitsrelativismus bewegt und geprägt, der in der gegenwärtigen medientheoretischen Debatte seine extremen Zuspitzungen und Ausläufer in Modellen findet, die zwar die Grenzziehung zwischen »wahrer« und »virtueller« Welt – so krumm diese Gegenüberstellung auch sein mag, wie Esposito gezeigt hat2 – noch nicht aus ihrem Vokabular verbannt haben, in der Anwendung dieser wirklichkeitsrelevanten Unterscheidung aber keinen Sinn mehr sehen. Diese Grenze, über die in der Moderne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch als mögliches Übergangsphänomen diskutiert wurde, gilt den topoibildenden Medientheoretikern unserer Tage als geschlossen. Die Welt wird (in der Theorie) Phantomatik, Virtualität, Hyperrealität, Simulation oder auch durch technische Aufschreibesysteme zur medialen Endlosschleife. Medientheoretische Reflexionen, die auf der Existenz eines »Diesseits der Medien«3 beharren, sehen sich durch das moderne Erbe also mit der epistemologischen und erkenntnistheoretischen Aporie konfrontiert, die Wahrnehmbarkeit und Erfahrbarkeit dieses Diesseits der Grenze auch theoretisch wieder er-sichtlich zu machen, ohne lediglich dessen Existenz zu beteuern – was für die Beteuerung ihrer Nicht-Existenz durch die ›Gegenseite‹ ebenso gilt (z.B. Baudrillard). Marshall McLuhans These vom globalen Dorf, vor fast vierzig Jahren formuliert, beschwor das Ende der Fragmentierung, das Überwinden sämtlicher Barrieren zwischen Menschen und Kulturen. Mit den neueren Medienentwicklungen wie dem Internet, scheint diese Vision verwirklicht, in der sich die netizens zu privativen Öffentlichkeiten zusammenschließen. Die veränderten Raum- und Zeitstrukturen und

2. Elena Esposito, a.a.O., 1998. 3. Hans Magnus Enzensberger, »Das digitale Evangelium«, in: Der Spiegel, 10. Januar 2000. 378

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INS OFFENE DES ÖFFENTLICHEN

-bedingungen bieten scheinbar unendliche Möglichkeiten der SelbstErfahrung im Anderen und der Erfahrung des Anderen im Selbst (Hybridisierung). In positiven Prognosen steht die zunehmende Konvergenz medialer Formen noch immer für Dezentralisierung und der damit einhergehenden Demokratisierung der Gesellschaft. Die Fragmentierung und Vereinzelung des Menschen wird durch die allzeit mögliche Interaktivität überwunden, die ihrerseits für die heile Welt transnationalen Daseins sorgt. Doch fehlen in dieser und für diese brave new world auch andere Entwürfe nicht. Ob der Einzelne einer neuartigen Isolierung durch die Virtualisierung ausgesetzt wird, hängt davon ab, ob der Zugang des Einzelnen zur digitalen Welt mit ihren elektronischen Räumen gelingt. Dieser Zugang aber ist notwendig in sozialer, technischer und ökonomischer Hinsicht und die Fähigkeit der Entwicklung nötiger Kompetenzen betreffend. Man sieht, in dieser Perspektive sind es die Strukturen und Bedingungen der Medienvernetzungen, die über den Verbleib des Individuums in den unvertrauten, un-heimlichen Mustern unseres Soziallebens, der Arbeitswelt und des Konsums entscheiden. Beide gesellschaftlichen Einschätzungen, ob optimistisch oder pessimistisch, greifen in ihren Modellen auf mediale ModifikationsPhänomene zurück, die nicht erst mit dem Computer eingesetzt haben. Gleichwohl bringen die gegenwärtigen Entwicklungen der Informations- und Kommunikationstechnologien ein weiteres Mal eine wesentliche Veränderung der Medialität unseres Welt-Bildes und dessen dispositiver Strukturierung hervor. Durch das Zusammenwirken von technischer Entwicklung (Naturbeherrschung) und fortschreitender Abstraktion des ökonomischen Prozesses, spürbar als Rationalisierung von Sozial- und Arbeitsleben, befinden wir uns gegenwärtig in einer unsere vertrauten Entwürfe der Selbst- und Fremdwahrnehmung und Bewertung nachhaltig verändernden De- und Re-TerritorialisierungsDynamik (Deleuze/Guattari). Der historisch oft als »künstlerisch« verstandene Entwurf des Selbst (z.B. bei Nietzsche) und seines Dissidenz- bzw. Alteritätspotenzials gegenüber kollektiv-normativer Identitätsbildung, wird heute vor allem an der – begrifflich paradoxen – Medialität des Selbst diskursiv. Die Historizität der Entwurfs-Prozesse betrifft nun deren Simulationsmodi in neuen, elektronischen Räumen. Hier scheinen technischmedial neue Dispositionen von Sinnlichkeit und Zeiterfahrung vorgegeben zu sein, als Bedingungen für Entwürfe eines Selbst, das stets vorläufig bleibt, da der für Identitätsbildung nötige Rekurs auf einen ›eigenen‹ Ursprung wiederum nun durch simulative Medien geformt und bedingt ist. Die distinkte Grenzziehung von Subjekt und Objekt, Eigenem und Anderem oder Fremdem, wird angesichts der sich perfektionierenden Simulierbarkeit von Welt(en) wesentlich verunsichert. 379

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NACHWORT

Der epistemische, aisthetische und kulturelle Raum, in dem der Kontakt von Selbst und Anderem sich mediatisiert ereignet, muss demnach unablässig aktualisiert und neu entworfen werden, da die Virtualität seine ›Realität‹ ebenso zweifelhaft, wie die gewohnten sinnlichen Erfahrungen vom Anderen, der auch ein erinnertes Selbst sein kann, flüchtig werden lässt. Die Bezeichnung für den Raum der Begegnung mit dem Anderen lautet traditionellerweise »Öffentlichkeit«. Hiervon ist gemeinhin der Bereich des »Privaten« abgesetzt. Die Grundsätzlichkeit und Gründlichkeit der berühmten Studien zur Öffentlichkeit haben hiervon beredtes Zeugnis abgelegt.4 Gleichwohl hat sich mit der Virtualisierung der Gesellschaft eine neue Kartografie der Grenzen und Möglichkeiten von Öffentlichkeit angekündigt.5 Hierzu liegen bislang Untersuchungs-Ansätze vor, die entweder vage bleiben6 oder die Entstehung der »Informationsgesellschaft« zwar noch berücksichtigen, aber dies hinsichtlich ihrer politischen Rahmenbedingungen oder anhand technischer Perspektiven7. Der neuerliche »Strukturwandel der Öffentlichkeit« sollte weder nur angesichts einer Neubestimmung des Grenzverhältnisses »öffentlich/privat« problematisiert werden, noch in Hinblick auf Gefährdungen oder Chancen des normativen Selbstverständnisses so-

4. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, übers. v. Reinhard Kaiser, Frankfurt/Main: Fischer 1990. Und: Oskar Negt u. Alexander Kluge, Erfahrung und Öffentlichkeit. Zur Organisationsanalyse bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972. John Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, Bodenheim: Philo 1996. Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, übers. v. Martin Richter, Berlin: Berlin Verlag 1998. 5. Manfred Faßler u. W. R. Halbach, Cyberspace. Gemeinschaften, Virtuelle Kolonien, Öffentlichkeiten, München: Fink 1994. Howard Rheingold, Virtuelle Welten. Reisen im Cyberspace, übers. v. Hainer Kober, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995. Manfred Faßler, Mediale Interaktion. Speicher-Individualität-Öffentlichkeit, München: Fink 1996. Achim Bühl, Die virtuelle Gesellschaft. Ökonomie, Politik und Kultur im Zeichen des Cyberspace, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997 (neu: 2000). Esposito, a.a.O., 1998. 6. Noch 1990 schreibt z.B. Habermas: »Vieles spricht dafür, daß das demokratische Potential einer Öffentlichkeit, deren Infrastruktur von den wachsenden Selektionszwängen der elektronischen Massenkommunikation geprägt ist, ambivalent ist.« Habermas, a.a.O., 1990, 49. 7. Bspw.: Otfried Jarren, Öffentlichkeit unter Viel-Kanal-Bedingungen, BadenBaden: Nomos 1998. Wolfgang Wunden (Hg.), Öffentlichkeit und Kommunikationskultur, Hamburg: Steinkopf 1994. »Aus Politik und Zeitgeschichte« B 40/98. 380

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INS OFFENE DES ÖFFENTLICHEN

zialstaatlicher Massendemokration. Natürlich ist die Koexistenz dieser und anderer Fokussierungen notwendig, doch könnte über eine andere heuristische Struktur nachgedacht werden. Diese müsste, unter Berücksichtigung der relevanten Medientechnik- und ästhetischen Bild-Geschichte, eine historisch-kritische Revision und Rückvergewisserung des Öffentlichkeits-Paradigmas vornehmen und ein neues Begriffs-Modell von »Öffentlichkeit« entwickeln. Denn mit Etablierung der so genannten »Informationsgesellschaft« im Zuge der Digitalisierung von Daten und der Konvergenz medialer Formen, hat sich ein neuerlicher »Strukturwandel der Öffentlichkeit« abzuzeichnen begonnen. Die Theoriebildung steht diesem Phänomen bislang eher (ver-)suchend gegenüber. Denn die zur Verfügung stehenden, z.B. staatspolitisch (Habermas)8 oder sozial-historisch (Sennett)9 betonten Modelle werden den aktuell sich ausdifferenzierenden medientechnisch-infrastrukturellen, identitätsdifferenten und imaginär-aisthetischen Belangen nicht (mehr) gerecht. Gleichwohl ist zu beobachten, dass der fachspezifische Diskurs auf der Suche nach Antworten ist.10 Zu bedenken wären also die Bedingungen und Konstituierungsprozesse jener medialisierten Räume, in denen Identitäts-Entwürfe und Alteritäts-Erfahrungen sich sowohl zeitigen und bildhaft werden als auch wiederum zu Transgressionen ansetzen und neue Räume allererst bilden. Denn: Räume des Anderen sind immer auch andere (kulturelle) Räume, die eine Zeit-Erfahrung radikaler Alterität mit sich führen. Die Grenz- und Kontakterfahrung zum Anderen ist notwendig eine Erfahrung aus Zeit, die sich in einem Verhältnis ausdrückt, das nicht zeitlos überstiegen werden kann – dem Verhältnis von wahrgenommener Zeit und der Zeit der Wahrnehmung. Die »Gegenwart wird zur Schnittfläche unterschiedlichster Temporalitäten«.11 Wie also werden Kontaktphänomene zum Anderen des Selbst und zum Selbst als Anderer in Zeiterfahrung(en) zum Ausdruck gebracht? Schon Lévinas gab zu bedenken, »daß die Zeit nicht das Faktum eines isolierten und einsamen Subjektes, sondern das Verhältnis des Subjektes zum Anderen ist.« Zeit wird hier als die Öffnung zum leiblich Anderen [l’autrui] und zum

8. Habermas, a.a.O., 1990. 9. Sennett, a.a.O., 1990. 10. Hierfür können die neueren Publikationen von Florian Rötzer, Hans Ulrich Reck, Manfred Faßler und auch Sherry Turkle als exemplarisch gelten. 11. Götz Großklaus, Medien-Zeit Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, 9. 381

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NACHWORT

Anderen [l’autre] verstanden.12 Ein potenziell starkes Konzept von Identität erscheint damit grundsätzlich in Frage gestellt, ja, die Rede vom Selbst oder von konsistenter Identität tritt als aporetisch hervor. Stattdessen scheinen Identitäten als Schwellen-Phänomene einer hoch differenzierten und differenten Entwurfs- und Aneignungs-Kultur aufzutreten und sich je in der Rahmung ihres medialen Erscheinungs-Ortes zu beschreiben. Die persönlichkeits-stabilisierende Vermeintlichkeit einer in-dividualen Möglichkeit des Entwurfs ist, so gesehen, nie möglich gewesen, sondern ist bereits in ihrem Beginn ein imaginäres, erzählkonstruktives Gedächtnis bzw. Bild, das in seiner Produktivität zudem von seiner eigenen Medialität abhängig ist. Ein Selbst steht immer im AnSpruch des Anderen und antwortet auf ihn als Vorgang der Identitätsbildung, die wiederum wegen der medial-imaginären Vorgängigkeit des Anderen nicht zum Abschluss gelangt.13 Aber: Konturiert sich hier eine Kultur des Widerstreits, die sich von anderen, identitätsstiftenden oder -betonenden Entwürfen des kulturellen Gedächtnisses absetzt (Ökonomie, Familie, Medizin etc.) und diese möglicherweise subversiv nutzt, oder liegen hier vielmehr Abhängigkeiten und Bedingtheiten von jenen rationalen Diskursen vor? Wie dem auch sei: Immer scheint diese Kulturalität der Figuren von Identitäts-Schwellen von ihnen spezifischen Zeit-Modi und -Erfahrungen begleitet zu sein, »wo das Selbe bezüglich des Anderen nicht-indifferent ist, ohne es in irgendeiner Weise einzuschließen – nicht einmal durch eine im höchsten Maße formale Übereinstimmung innerhalb einer schlichten Gleichzeitigkeit«.14 Solche Modi der Zeiterfahrung sind bspw. die der Simultaneität, der Beschleunigung, des Hyperbolischen, des Stillstands, des Zeit-Risses, der Eigenzeit, des Augenblicklichen, des Offenen. Die Überlegungen bis hierher basieren ja auf den Erörterungen des Zusammenhangs der Paradigmen Echtzeit, Text, Archiv und Simulation und deren historischer Rückvergewisserung in die Philosophie der Moderne unter besonderer Berücksichtigung der Größen »Subjekt« und »Sinnlichkeit«. Hiervon ausgehend wird, das haben die vergangenen Seiten angedeutet, im Horizont des Phänomens »Öffentlichkeit« besonders die Frage nach den Bedingungen transkultureller Alterität in

12. Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere, übers. v. L. Wenzler, Hamburg 1984, 7. 13. Hierzu ist die differenzierte ›phänomenologische‹ Literatur zu berücksichtigen, also bspw. Emmanuel Lévinas, Maurice Merleau-Ponty, Jacques Derrida, Bernhard Waldenfels, Gottfried Boehm, Iris Därmann u.a. 14. Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches, übers. v. Dorothea Schmidt, Wien: Passagen 1996, 42. 382

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einer medialisierten und fortschreitend virtualisierten gesellschaftlichen Ordnung virulent. Wie gestalten sich die Rahmenbedingungen des Verhältnisses von Anderem und Selbst neu aus? Die Erfahrung von Alteritäten geschieht immer im Raum eines Mediums der Darstellung. Gesellschaftlich repräsentiert dieser sich als Öffentlichkeit. Hier ist es, wo »Identität« heißt, eine Erfahrung des Anderen im Selbst und des Selbst als Anderer zu machen. Der Entwurf des Selbst besteht in Formen der Alteritätserfahrung des Selbst im öffentlichen, d.h. heute eben immer medialisierten, mithin elektronischen und virtuellen Raum. »Öffentlichkeit« – dies könnte ein hypothetischer Ausgangspunkt sein – beschreibt mithin folgende Konstellation: Die Gesamtheit der interdependenten Grenzbeziehungen von entworfener Imaginär-Identität einerseits und dem ›Raum des Anderen‹ als Infragestellung und zugleich Movens jener ›Identität‹ andererseits. Wo also ist der Raum der Erfahrung dieses Anderen heute, wie ist er beschaffen und was sind die maßgeblichen Momente seiner Medialisiertheit für die imaginären Konstituierungs- und EntwurfsProzesse und -Dynamiken zwischen Selbst und Anderem? Kann das Imaginäre als Matrix gelten, die Bedingungen des Strukturwandels medialisierter Räume des Sozialen zu analysieren und den Wandel ihrer Struktur darstellbar zu machen? In welcher Relation steht die korrelative Dynamik von Alterität und Selbst zum Imaginären und zur Medialität? Dies könnte eine zentrale Fragen sein, da die genannte Relation das begriffliche Dispositiv neuer Öffentlichkeit(en) bildet. Es steht entsprechend zu vermuten, dass Bild und Medium als Movens in Form der mise en abyme der Entwurfs-Bewegung eines projektiven Selbst eingelagert sind und damit sich als ›Technik‹ des anthropologisch unabdingbaren Imaginären erweisen. Dieses unterhält kulturell und sozial konkretisierte Formen von Zeit-Erfahrungen, deren Status und Modi, in den Räumen von Bild und Medium wiederum, das Verhältnis von Selbst und Anderem öffnen.

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LITERATUR

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LITERATUR

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ECHTZEIT – TEXT – ARCHIV – SIMULATION

— Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin: Merve 2002.

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LITERATUR



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— »Über die Archäologie der Wissenschaften. Antworten auf den Cercle d’épistémologie«, übers. v. Hermann Kocyba, in: Schriften in vier Bänden, Bd. I, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2001, 887-931. Frz.: »Sur l’archéologie des sciences. Réponse au Cercle d’épistémologie«, in: Dits et Écrits, Bd. I, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Paris: Gallimard 1994, 696731. — »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, übers. v. Walter Seitter, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/Main: Fischer 1993, 69-90. Frz.: »Nietzsche, la généalogie, l’histoire« in: Dits et Écrits, Bd. II, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Paris: Gallimard 1994, 136-156. — »Entretien avec Michel Foucault«, in: Dits et Écrits, Bd. III, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Paris: Gallimard 1994, 140ff. — »Entretien avec Michel Foucault«, in: Dits et Écrits, Bd. IV, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Paris: Gallimard 1994, 41-95. — »Le retour de la morale«, in: Dits et Écrits, Bd. IV, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Paris: Gallimard 1994, 696-707 — »Andere Räume«, übers. v. Walter Seitter, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1990, 34-46. Frz.: »Des espaces autres« in: Dits et Écrits, Bd. IV, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Paris: Gallimard 1994, 752762. Michel Foucault. Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien, hg. v. Jan Engelmann, Stuttgart: DVA 1999 Michel Foucault u. Walter Seitter, Das Spektrum der Genealogie, Bodenheim: Philo Verlagsgesellschaft o.J. Manfred Frank, »Geschweife und Geschwefel. Ein offener Brief«, in: DIE ZEIT, Nr. 39, 23. September 1999, 33f. Französische Philosophen im Gespräch, hg. v. Florian Rötzer, München: Boer 1986. Gottlob Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994. Sigmund Freud, »Fetischismus«, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, hg. v. Anna Freud et al., Frankfurt/Main: Fischer 1999, 309-317. Shaun Gallagher, »Hyletic experience and lived body«, in: Husserl Studies 3, Dordrecht: Martinus Nijhoff 1986, 131-166. Mike Gane, Baudrillard’s Bestiary. Baudrillard and Culture, London u. New York: Routledge 1991. Hans-Jürgen Gawoll, Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger, Stuttgart/Bad Cannstatt: fromann-holzboog 1989. Arnold Gehlen, »Über kulturelle Kristallisation«, in: Wege aus der Moderne, hg. v. Wolfgang Welsch, Weinheim: VCH Verlag 1987, 133-143.

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ECHTZEIT – TEXT – ARCHIV – SIMULATION

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— »Hot Memories«, in: Baudrillard. Simulation und Verführung, hg. v. Ralf Bohn u. Dieter Fuder, München: Fink 1994, 203-215.

— Somnium Novum. Zur Kritik der psychoanalytischen Traumtheorie, 2 Bde., Wien: Passagen 1994.

Johannes Erich Heyde, »Kybernetes = ›Lotse‹? Ein terminologischer Beitrag zur Kybernetik«, in: Sprache im technischen Zeitalter, hg. v. Walter Höllerer, Heft 15, Stuttgart: Kohlhammer 1965, 1274-1286. Hans H. Hiebel, Kleine Medienchronik. Von den ersten Schriftzeichen zum Mikrochip, München: Beck 1997. Alfred Hirsch, Der Dialog der Sprachen. Studien zum Sprach- und Übersetzungsdenken Walter Benjamins und Jacques Derridas, München: Fink 1995. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, hg. v. Günter Mieth, München: Hanser 1970. — Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, Darmstadt: WBG 1998. Homer, Odyssee, übers. v. Roland Hampe, Stuttgart: Reclam 1996. Wolfgang Huber, »Das artifizielle Subjekt«, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 2, hg. v. Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle u. Peter Schulz, Berlin u. New York: de Gruyter 1998, 1291-1316. Wilhelm von Humboldt, Briefe an Christian Gottfried Körner, hg. v. Albert Leitzmann, Berlin: Ebering 1940. Annette Hünnekens, Der bewegte Betrachter. Theorien interaktiver Medienkunst, Köln: Wienand 1997. Edmund Husserl, Die Pariser Vorträge, in: Husserliana, Bd. I, hg. v. S. Strasser, Den Haag: Martinus Nijhoff 1950. — Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, in: Husserliana, Bd. IV, hg. v. Marly Biemel, Den Haag: Martinus Nijhoff 1952. — Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch. Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften, in: Husserliana, Bd. V, hg. v. Marly Biemel, Den Haag: Martinus Nijhoff 1952. — Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Husserliana, Bd. XXV, hg. v. Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Dordrecht: Martinus Nijhoff 1987, 3-62. — Texte zur inneren Phänomenologie des Zeitbewußtseins (1893-1917), hg. v. Rudolf Bernet, Hamburg: Meiner 1985. — Gesammelte Schriften, hg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg: Meiner 1992.

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ECHTZEIT – TEXT – ARCHIV – SIMULATION

Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, hg. v. Wolfgang Müller-Funk u. Hans Ulrich Reck, Wien u. New York: Springer 1996. Individuum. Probleme der Individualität in Kunst, Philosophie und Wissenschaft, hg. v. Gottfried Boehm, Stuttgart: Klett-Cotta 1994. Thomas Irlbeck, Computer-Lexikon. Das Nachschlagewerk zum Thema EDV, hg. v. Andreas Patschorke und Christian Spitzner, München: dtv 1998. Michael Jakob, Aussichten des Denkens, München: Fink 1994. William James, The Principles of Psychology, New York 1950. Otfried Jarren, Öffentlichkeit unter Viel-Kanal-Bedingungen, Baden-Baden: Nomos 1998. — »Internet – neue Chancen für die politische Kommunikation?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B40/98. Hans Robert Jauss, »Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹«, 8-64. Thomas Jung, Vom Ende der Geschichte. Rekonstruktionen zum Posthistoire in kritischer Absicht, Münster u. New York: Waxmann. Ernst Jünger, »Über die Linie«, in: Anteile. Martin Heidegger zum 60. Geburtstag, Frankfurt/Main: Klostermann 1950. — Gärten und Straßen, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Stuttgart: KlettCotta 1979. — Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, Stuttgart: Klett-Cotta 1979. — Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung, in: Sämtliche Werke, Bd. 9, Stuttgart: Klett-Cotta 1979. — »Über die Linie«, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, Stuttgart: Klett-Cotta 1980. — Eumeswil, in: Sämtliche Werke, Bd. 17, Stuttgart: Klett-Cotta 1980. — An der Zeitmauer, in: Sämtliche Werke, Bd. 8, Stuttgart: Klett-Cotta 1981. — Siebzig verweht II, Stuttgart: Klett-Cotta 1981. — Der Arbeiter, Stuttgart: Klett-Cotta 1982. Christian Jürgens, »Keanu im Wunderland«, in: DIE ZEIT, 17. Juni 1999, Nr. 25, 36. Franz Kafka, Schriften. Tagebücher. Briefe. Kritische Ausgabe, hg. v. J. Born et al., Frankfurt/Main: Fischer 1990. Christof Kalb, Desintegration. Studien zu Friedrich Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000. Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, Hamburg: Meiner 1975. — Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Meiner 1993. — Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg: Meiner 1993. — Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Werkausgabe, Bd. XI, hg. v. Wilhem Weischedel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993. 398

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LITERATUR

Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik, Braunschweig: Westermann 1877.

Christa Karpenstein-Eßbach, »Zum Unterschied von Diskursanalysen und Dekonstruktion«, in: Flaschenpost und Postkarte. Korrespondenzen zwischen kritischer Theorie und Poststrukturalismus, hg. v. Sigrid Weigel, Köln: Bohlau 1995, 127-138. Thomas Kielinger, »Der schlafende Logiker. Ernst Jünger und der europäische Surrealismus«, in: Über Ernst Jünger, Stuttgart: Klett-Cotta, 137-163. Søren Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Zweiter Teil, übers. v. Hans Martin Junghans, in: Gesammelte Werke, Düsseldorf und Köln: Diederichs 1958, Bd. 7. — Philosophische Brocken, übers. v. Liselotte Richter, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992. Kay Kirchmann, Blicke aus dem Bunker. Paul Virilios Zeit- und Medientheorie aus der Sicht einer Philosophie des Unbewußten, Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse 1998. — Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theorie der Interdependenzen von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeitlichen Zivilisatiosprozeß, Opladen: Leske + Budrich 1998. Friedrich Kittler, Grammophon – Film – Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986. — »Das Subjekt als Beamter«, in: Die Frage nach dem Subjekt, hg. v. Manfred Frank, Gérard Raulet u. Willem van Reijen, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1988, 401-420. — »Fiktion und Simulation«, in: Philosophien der neuen Technologie, Berlin: Merve 1989, 57-80. — »Real Time Analysis, Time Axis Manipulation«, in: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1993, 182-207 — Aufschreibesysteme 1800 – 1900, München: Fink 1995. — »Computeranalphabetismus«, in: Literatur im Informationszeitalter, hg. v. Dirk Matejovski u. Friedrich Kittler, Frankfurt/Main u. New York 1996, 237-251. — »Zeitsprünge« (Interview), in: Dauer – Simultaneität – Echtzeit, Kunstforum International, Bd. 151, Juli 2000, 100-105. — »Schrift und Bild in Bewegung«, in: Neue Zürcher Zeitung, 09./10. Oktober 2000, Nr. 288, 51f. Daniela Kloock, Von der Schrift zur Bild(schirm)kultur: Analyse aktueller Medientheorien, Berlin: Spiess 1995. — Medientheorien. Eine Einführung, München: Fink 1997. Alfons Knauth, »›Planken, die die Welt bedeuten‹. Zum Zusammenspiel von Schiffahrt und Schauspiel« (Sonderdruck), hg. v. Rudolf Behrens u. Udo L. Figge, Würzburg: Könighausen und Neumann 1992.

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ECHTZEIT – TEXT – ARCHIV – SIMULATION

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2003-08-16 10-39-05 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 010329342890698|(S. 385-412) T05_00 literatur.p 29342890706

LITERATUR

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ECHTZEIT – TEXT – ARCHIV – SIMULATION

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ECHTZEIT – TEXT – ARCHIV – SIMULATION

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Timo Skrandies, »›Verlust der Mitte‹?«, in: »Flächenland«. Die abstrakte Malerei im frühen Nachkriegsdeutschland und in der jungen Bundesrepublik, hg. v. Hans Körner, Tübingen u. Basel: Francke 1996, 2051. — »Vom Igel in vorläufiger gegenwart«, in: Undarstellbares im Dialog. Facetten einer deutsch-französischen Auseinandersetzung, hg. v. Thomas Bedorf, Georg Bertram, Nicolas Gaillard u. Timo Skrandies, Amsterdam u. Atlanta: Rodopi 1997, 223-234. — »Ein Hauch von Aura. Krisenbilder in Zeiten von Bilderkrisen«, in: Bilderzählungen. Zeitlichkeit im Bild, hg. v. Andrea von Hülsen-Esch, Hans Körner, Guido Reuter, Köln/Weimar: Böhlau 2003. Peter Sloterdijk, Der starke Grund, zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes, Frankfurt/Main.: Suhrkamp 1998. — »Die Kritische Theorie ist tot«, in: DIE ZEIT, Nr. 37, 9. September 1999, 35f. — »Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismusbrief«, in: DIE ZEIT, Nr. 38, 16. September 1999, 15 u. 18-21. — »Meine Arbeit dreht sich um das Zur-Welt-Kommen« (Interview), in: DIE WELT, 6. Oktober 1999, 35. — Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. Alan Sokal u. Jean Bricmont, Impostures intellectuelles, Paris: Éditions Odile Jacob 1997. Klaus Spiekermann, Naturwissenschaft als subjektlose Macht. Nietzsches Kritik physikalischer Grundkonzepte, Berlin u. New York: de Gruyter 1992. George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, übers. v. Jörg Trobitius, München: Hanser 1990. Stendhal, Souvenirs d’égotisme, Paris: Gallimard 1983. Bernard Stiegler, La technique et le temps, 2 Bde., Paris: Galilée 1994 u. 1996. Eva Strobel, Nietzsches Philosophie der Bejahung, Tübingen: Attempto 2000. Claudius Strube, »Heideggers seinsgeschichtliche Eschatologie«, in: Die Zukunft der Vernunft aus der Perspektive einer nichtmetaphysischen Philosophie, hg. v. Edmund Braun, Würzburg: Könighausen und Neumann 1993, 301-313. Klaus Theweleit, Männerphantasien, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989. Detlef Thiel, Über die Genese philosophischer Texte, Freiburg u. München: Alber 1990. Georg Christoph Tholen, Wunsch-Denken. Versuch über den Diskurs der Differenz, Kassel: Kasseler Philosophische Schriften 1986.

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2003-08-14 16-15-00 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S. 385-412) T05_00 literatur.p 29190158338

LITERATUR

— »Ende des Menschen? Nächtliche Assoziationen zum ARTE-Gespräch zwischen Paul Virilio und Friedrich Kittler«, www.unikassel.de/wz2/mitglieder/tholen/dateien.htm. — »Der blinde Fleck des Sehens: Über das raumzeitliche Geflecht des Sehens«, in: Konstruktionen Sichtbarkeiten, hg. v. Jörg Huber u. Martin Heller, Wien u. New York: Springer 1999, 191-214. — »Geschwindigkeit als Dispositiv. Zum Horizont der Dromologie im Werk Paul Virilios«, in: Von Michel Serres bis Julia Kristeva, hg. v. Joseph Jurt, Freiburg: Rombach 1999, 135-162. — »Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität«, in: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, hg. v. Sigrid Schade u. Georg Christoph Tholen, München: Fink 1999, 15-34. — »Metaphorologie der Medien«, in: zaesuren. Ökonomien der Differenz, November 2000, 134-168. — Die Zäsur der Medien. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002. Hartmut Tietjen, Fichte und Husserl. Letztbegründung, Subjektivität und praktische Vernunft im transzendentalen Idealismus, Frankfurt/Main: Klostermann 1980. Ernst Tugendhat, »Es gibt keine Gene für die Moral«, in: DIE ZEIT, Nr. 39, 23. September 1999, 31f. Sherry Turkle, Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, übers. v. Thomas Schmidt, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999. Übersetzung und Dekonstruktion, hg. v. Alfred Hirsch, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. Undarstellbares im Dialog, hg. v. Thomas Bedorf, Georg Bertram, Nicolas Gaillard u. Timo Skrandies, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1997. Jochen Venus, Referenzlose Simulation? Argumentationsstrukturen postmoderner Medientheorie am Beispiel von Jean Baudrillard, Würzburg: Königshausen und Neumann 1997. Paul Virilio, Ästhetik des Verschwindens, übers. v. Marianne Karbe u. Gustav Roßler, Berlin: Merve 1986. Frz.: Esthétique de la disparition, Paris: Éditions Balland 1980. — Der reine Krieg, übers. v. Marianne Karbe u. Gustav Roßler, Berlin: Merve 1984. — Der negative Horizont, übers. v. Brigitte Weidmann, Frankfurt/Main: Fischer 1995. Frz.: L’horizon négatif, Paris: Galilée 1984. — Die Sehmaschine, übers. v. Gabrielle Ricke u. Ronald Voullié, Berlin: Merve 1989. Frz.: La machine de vision, Paris: Galilée 1988. — »Das öffentliche Bild«, in: Ästhetik des Immateriellen? Das Verhältnis von Kunst und Neuen Technologien, Teil II, Kunstforum International, Bd. 98, Januar/Februar 1989, 106-107. — Rasender Stillstand, übers. v. Bernd Wilczek, Frankfurt/Main: Fischer 1997. Frz.: L’inertie polaire, Paris: Christian Bourgois Éditeur 1990.

409

2003-08-14 16-15-00 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S. 385-412) T05_00 literatur.p 29190158338

ECHTZEIT – TEXT – ARCHIV – SIMULATION

— Interview, in: Kunstforum International, Bd. 108, Juni/Juli 1990, 8993.

— Krieg und Fernsehen, übers. v. Bernd Wilczek, Frankfurt/Main: Fischer1997. Frz.: L’Écran du desert. Chroniques de guerre, Paris: Galilée 1991. — »Gespräch zwischen Paul Virilio und Hans-Ulrich Obrist«, in: Der öffentliche Blick, Jahresring 38, hg. v. Bernhard von Loeffelholz u. Brigitte Oetker, München: Silke Schreiber 1991, 346-354. — Das öffentliche Bild, Bern: Benteli 1992. — Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen, übers. v. Bernd Wilczek, Frankfurt/Main: Fischer 1996. Frz.: L’art du moteur, Paris: Galilée 1993. — Fluchtgeschwindigkeit, übers. v. Bernd Wilczek, München: Hanser 1996. Frz.: La vitesse de libération, Paris: Galilée 1995. — Cybermonde, la politique du pire, Paris: Les éditions Textuel 1996. — Information und Apokalypse – Die Strategie der Täuschung, übers. v. Bernd Wilczek, München: Hanser 2000. Rudi Visker, »Foucaults Anführungszeichen. Eine Gegenwissenschaft?«, in: Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, 298-319. Antje Vollmer, »Ritter der Übermoral. Wird Sloterdijk siegen?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. September 1999. Ernst Vollrath, »Die Kategorie der Sinnlichkeit bei Marx«, in: Philosophisches Jahrbuch, hg. v. Hermann Krings et al., Freiburg u. München: Alber 1978, 306-322. Hent de Vries, »Anti-Babel: The ›Mystical Postulate‹ in Benjamin, de Certeau and Derrida«, in: MLN, 107, 1992. Richard Wagner, Modern, in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 10, Leipzig: Siegel 1907. — Die Kunst und die Revolution, in: Dichtungen und Schriften, Bd. 5, Frankfurt/Main: Insel 1983, 273-311. Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. — Antwortregister, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994. — Sinnesschwellen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. Rudolf Walther, »Mann, Passagier der Frau«, in: Süddeutsche Zeitung, 12.Mai 1998, Nr.108, 13. Roger de Weck, »Der Kulturkampf. Günter Grass, Jürgen Habermas – und ihre Widersacher«, in: DIE ZEIT, Nr. 41, 7. Oktober 1999, 1. Peter Weibel, »Endo-Universen von Simulacron III bis Matrix«, Symposion »Inside THE MATRIX. Zur Kritik der zynischen Virtualität«, ZKM Karlsruhe, 28. Oktober 1999, www.zkm.de. Sigrid Weigel, »Spuren der Abwesenheit. Zum Liebesdiskurs an der Schwelle zwischen ›postalischer Epoche‹ und post-postalischen Medien«, in: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, hg. v. 410

2003-08-14 16-15-00 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S. 385-412) T05_00 literatur.p 29190158338

LITERATUR

Sigrid Schade u. Georg Christoph Tholen, München: Fink 1999, 8093. Uwe Justus Wenzel, »Unterwegs in die Mobilzone? Streit um Peter Sloterdijk«, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 212, 13. September 1999, 23. Christoph H. Werth, »Die Herausforderung des Staates in der Informationsgesellschaft«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B40/98. Michael Wetzel, »Paradoxe Interventioenen. Jean Baudrillard und Paul Virilio: Zwei Apokalyptiker der neuen Medien«, in: Baudrillard. Simulation und Verführung, hg. v. Ralf Bohn u. Dieter Fuder, München: Fink 1994, 139-154. Reiner Wiehl, »Über den Sinn der sinnlichen Gewißheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«, in: Hegel-Studien, Beiheft 3, hg. v. Friedhelm Nicolin u. Otto Pöggeler, Bonn: Bouvier 1966, 103-143. Wolfgang Wieland, »Hegels Dialektik der sinnlichen Gewißheit«, in: Materialien zu Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, hg. v. Hans Dietrich Fulda u. Dieter Henrich, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, 6782. Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf u. Wien: Econ 1992. David Wills, »Dem Buchstaben nach geben« übers. v. Lisa Müller, in: Ethik der Gabe, hg. v. Michael Wetzel u. Jean-Michel Rabaté, Berlin: Akademie-Verlag 1993, 285-300. Hartmut Winkler, Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München: Boer 1997. Uwe Wirth, »Literatur im Internet. Oder: Wen kümmert’s, wer liest?«, in: Mythos Internet, hg. v. Stefan Münker u. Alexander Roesler, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, 319-337. Thomas Wirtz, »Schöner Sterben. Triumph der Elektronenmännchen: Wovon der Cyberfilm lebt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Wirklichkeitsmaschinen. Cyberspace und die Folgen, hg. v. Karlheinz Steinmüller, Weinheim u. Basel: Beltz 1993, 7-10. Bernd Witte, »Die gespaltene Moderne«, in: Die Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte, Januar 1998, 64-72. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. I, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. Günter Wohlfahrt, Der Augenblick. Zeit und ästhetische Erfahrung bei Kant, Nietzsche und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust, Freiburg u. München: Alber 1982. zaesuren. eJournal für Philosophie, Kunst, Medien und Politik, hg. v. Hans-Joachim Lenger, Jörg Sasse u. Georg Christoph Tholen, www.zaesuren.de. Jutta Zaremba, »Urbane Mo(nu)mente: Rom, New York und Tokio als Medienkunstwerke«, in: Kunstforum International, Bd. 151, 130136.

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2003-08-14 16-15-00 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S. 385-412) T05_00 literatur.p 29190158338

ECHTZEIT – TEXT – ARCHIV – SIMULATION

Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, hg. v. Georg Christoph Tholen u. Michael O. Scholl, Weinheim: VCH 1990. Siegfried Zielinski, Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989. Walther Ch. Zimmerli, »Die Evolution in eigener Regie«, in: DIE ZEIT, Nr. 40, 30. September 1999. Slavoj Zˇizˇek, Interview, in: Neue Zürcher Zeitung, 07. April 2001. — »The Matrix, or, the two sides of perversion«, Symposion »Inside THE MATRIX. Zur Kritik der zynischen Virtualität«, ZKM Karlsruhe, 28. Oktober 1999, www.zkm.de. Emil Zopfi, »War Bill Gates ein guter Programmierer?«, in: Neue Zürcher Zeitung, 08. Juni 2001, Nr. 130, 53. Konrad Zuse, Rechnender Raum. Schriften zur Datenverarbeitung, Bd. 1, Braunschweig: Vieweg 1969.

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2003-08-14 16-15-00 --- Projekt: transcript.kumedi.skrandies / Dokument: FAX ID 019529190153762|(S. 385-412) T05_00 literatur.p 29190158338

transcript Kultur- und Medientheorie

Annette Keck,

Torsten Meyer

Nicolas Pethes (Hg.)

Interfaces, Medien, Bildung

Mediale Anatomien

Paradigmen einer pädagogi-

Menschenbilder als Medien-

schen Medientheorie

projektionen

Oktober 2002, 266 Seiten,

2001, 456 Seiten,

kart., zahlr. SW-Abb., inkl.

kart., 25,80 €,

Begleit-CD-ROM, 26,80 €,

ISBN: 3-933127-76-9

ISBN: 3-89942-110-8

Hans-Joachim Lenger

Wolfgang Kabatek

Vom Abschied

Imagerie des Anderen im

Ein Essay zur Differenz

Weimarer Kino

2001, 242 Seiten,

April 2003, 226 Seiten,

kart., 25,80 €,

kart., zahlr. SW-Abb., 25,80 €,

ISBN: 3-933127-75-0

ISBN: 3-89942-116-7

Susanne Gottlob

Christian Bielefeldt

Stimme und Blick

Hans Werner Henze und

Zwischen Aufschub des Todes

Ingeborg Bachmann: Die

und Zeichen der Hingabe:

gemeinsamen Werke

Hölderlin – Carpaccio – Heiner

Beobachtungen zur Inter-

Müller – Fra Angelico

medialität von Musik und

September 2002, 252 Seiten,

Dichtung

kart., 25,80 €,

April 2003, 308 Seiten,

ISBN: 3-933127-97-1

kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-136-1

Manfred Riepe Bildgeschwüre

Georg Jongmanns

Körper und Fremdkörper im

Bildkommunikation

Kino David Cronenbergs.

Ansichten der Systemtheorie

Psychoanalytische Filmlektüren

August 2003, 268 Seiten,

nach Freud und Lacan

kart., 26,80 €,

Oktober 2002, 224 Seiten,

ISBN: 3-89942-162-0

kart., zahlr. SW-Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-104-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

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transcript Kultur- und Medientheorie Tanja Nusser,

Nikolaus Müller-Schöll (Hg.)

Elisabeth Strowick (Hg.)

Ereignis

Rasterfahndungen

Eine fundamentale Kategorie

Darstellungstechniken –

der Zeiterfahrung

Normierungsverfahren –

Anspruch und Aporien

Wahrnehmungskonstitution

Oktober 2003, 300 Seiten,

September 2003, 322 Seiten,

kart., 26,80 €,

kart., farb. Abb., 26,80 €

ISBN: 3-89942-169-8

ISBN 3-89942-154-X

Christoph Engemann Marianne Schuller,

Electronic Government – vom

Gunnar Schmidt

User zum Bürger

Mikrologien

Zur kritischen Theorie des

Literarische und philosophi-

Internet

sche Figuren des Kleinen

Oktober 2003, 130 Seiten,

September 2003, 182 Seiten,

kart., 13,80 €,

kart., 24,80 €,

ISBN: 3-89942-147-7

ISBN: 3-89942-168-X

Christoph Ernst, Petra Gropp, Claudia Lemke, Stephan

Karl Anton Sprengard (Hg.)

Münte-Goussar, Torsten Meyer,

Perspektiven interdisziplinä-

Karl-Josef Pazzini, Landesver-

rer Medienphilosophie

band der Kunstschulen

Oktober 2003, 334 Seiten,

Niedersachsen (Hg.)

kart., 25,80 €,

sense & cyber

ISBN: 3-89942-159-0

Kunst, Medien, Pädagogik September 2003, 332 Seiten,

Saskia Reither

kart., zahlr. Abb., inkl. Begleit-DVD,

Computerpoesie

23,80 €,

Studien zur Modifikation

ISBN: 3-89942-156-6

poetischer Texte durch den Computer September 2003, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN: 3-89942-160-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

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