Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 41. Band (2000) [1 ed.] 9783428501625, 9783428101627

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 41. Band (2000) [1 ed.]
 9783428501625, 9783428101627

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH N e u e Folge, b e g r ü n d e t v o n H e r m a n n K u n i s c h

IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. T H E O D O R B E R C H E M , PROF. DR. V O L K E R KAPP, PROF. DR. F R A N Z L I N K , PROF. DR. K U R T M Ü L L E R , PROF. DR. R U P R E C H T W I M M E R , PROF. D R . A L O I S W O L F EINUNDVIERZIGSTER B A N D

2000

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wird im Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Prof. Dr. Theodor Berchem, Institut für Romanische Philologie der Universität, Am Hubland, 97074 Würzburg, Prof. Dr. Volker Kapp, Romanisches Seminar der Universität Kiel, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Prof. Dr. Franz Link, Eichrodtstraße 1, 79117 Freiburg i. Br., Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena (federführend), Prof. Dr. Ruprecht Wimmer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt und Prof. Dr. Alois Wolf, Lorettostraße 60, 79100 Freiburg. Redaktionsanschrift: Lehrstuhl für Amerikanistik, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena. Redaktion: Dr. Jutta Zimmermann. Das Liter aturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot GmbH, Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH EINUNDVIERZIGSTER BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET V O N H E R M A N N KUNISCH

I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N T H E O D O R B E R C H E M , V O L K E R KAPP, F R A N Z L I N K KURT MÜLLER, RUPRECHT WIMMER, ALOIS WOLF

EINUNDVIERZIGSTER BAND

2000

D U N C K E R

&

H U M B L O T

- B E R L I N

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 3-428-10162-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©

INHALT

AUFSÄTZE

Barbara S. Dieterich (Zürich/Fribourg), Das venushafte Erscheinungsbild der Orgeluse in Wolframs von Eschenbach >Parzival
Conte du Graal< tritt kein Erzähler auf, der die pucele vor der Zuhörerschaft in Schutz nehmen würde; ganz i m Gegenteil charakterisiert der Erzähler sie als la plus male rien del mont (Perc., V. 7258). Nach bestandenem Abenteuer an der gefährlichen Furt - Ii Guez Perillous (Perc., V. 8495) - unterwirft sich das böse Fräulein Gauvain in der Hoffnung, von ihm getötet zu werden, denn - wie sich nun herausstellt - liegt ihre Verhaltensweise in diesem Todeswunsch begründet. Die gewandelte Verhaltensweise gegenüber Gauvain bedeutet keine grundsätzliche Wandlung der Figur, 2 9 die eine vollständige Rehabilitierung 3 0 und Integration in die höfische Gesellschaft erlauben würde. Der Text liefert keine Anhaltspunkte hinsichtlich einer Annäherung Gauvains an die pucele, die auf eine von Chrétien vorgesehene Liebesbeziehung hinweisen würde. 3 1 Als Gauvain zum ersten Mal in dem am stärksten befestigten Teil einer Burg auf die pucele douce trifft, ist sie dabei, ihr Gesicht und ihren M u n d in einem Spiegel zu betrachten. Der A k t des Sich-im-Spiegel-Betrachtens ist bei Chrétien mit einer Schönheitsbeschreibung verbunden. 3 2 Gewissermaßen als A t t r i but w i r d der pucele der Spiegel zugeordnet. 33 Das M o t i v des Spiegels begegnet 28 Vgl. auch die Verwünschung durch Ygerne: Ce est cele qui mais fus arde (Perc., V. 8312); Guiromelans: Que molt est plaine de deable (Perc., V. 8599) und Li deables cui Diex confonde (Perc., V. 8604). Der Aspekt des Teuflischen in Verbindung mit Venus und Venusberg findet sich in der späteren, deutschen literarischen Tradition, u. a. in der Ballade vom Tannhäuser von 1515; vgl. dazu Jürgen Glocker, ritter - minne - trüwe. Untersuchungen zur >Mörin< Hermanns von Sachsenheim (Münster 1987), 30 f. 29 Der Erzähler bemerkt lapidar: Si a euer et talent changié (Perc., V. 8922). Das Fräulein thematisiert ihre schlechte Verhaltensweise und erklärt sie aus dem Umstand heraus, über den Tod des Geliebten verrückt geworden zu sein. Mais de mon premerain ami, / Quant mors le desevra de mi, / Ai si longuement esté foie / Et de si etolte parole / Et si vilaine et si musarde (Perc.,W. 8947-8951). Ihre Absicht war es, einen Ritter zu finden, der sie aus Wut über ihr Verhalten töten würde. Da sie Gauvain über die gefährliche Furt belogen hat, legt sie es darauf an, von ihm getötet zu werden. Ihr Tod soll »abschreckendes Beispiel« für alle Frauen sein; zum gewandelten »Sinn ihres Todes« vgl. Zimmermann, »Untersuchungen zur Orgeluseepisode«, 129. Zur geänderten Haltung der Orgueilleuse vgl. auch Bumke, Wolfram von Eschenbach, 103 und 111 f. 30 »Eine ausdrückliche Rehabilitierung Orguelleuses gibt der Erzähler auch nach ihrem Sinneswandel nicht. [ . . . ] der Eindruck des Unhöfischen bleibt bestehen.« Zimmermann, »Untersuchungen zur Orgeluseepisode«, 130. 31 Vgl. dazu Zimmermann, »Untersuchungen zur Orgeluseepisode«, 131. 32 Trova une pucele douce, / Qui miroit sa face et sa bouche, / Qui plus estoit blance que nois. / D'un cerchelet estroit d'orfrois / Ot fait entor son chief corone (Perc., V. 66776681).

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erneut, als Gauvain mit dem Pferd aus dem Garten zurückkehrt, nun allerdings gesteigert, da die pucele Mantel und Gebende abgelegt hat und nicht mehr nur Gesicht und Mund, sondern neben ihrem Gesicht auch ihren entblößten Oberkörper betrachtet. 34 Nach François Garnier kann der Spiegel, i n dem die Frau ihre Schönheit lange betrachtet, als gängiges A t t r i b u t sowohl der luxuria als auch der Venus interpretiert werden. 3 5 Den Spiegel »au service du diable« bringt Garnier mit superbia in Zusammenhang. 36 I n Garniers Interpretation der superbia gesellt sich zur Selbstbetrachtung i m Spiegel die Genugtuung, die diese verschafft, und die Versuchung, die sie hervorruft. 3 7 Möglicherweise liegen der pucele bei Chrétien vergleichbare Bildvorstellungen zugrunde, zumal der Beiname der pucele, V Orgueilleuse de Logres (.Perc., 33 In seiner Antwort gegenüber dem grans chevalier im Garten betont Gauvain noch einmal das Motiv des sich im Spiegel betrachtenden Fräuleins, vgl. Perc., V. 6796. Döffinger-Lange interpretiert das Motiv des Spiegels als Anspielung auf den Narcissus-Mythos aus Ovids Metamorphosen; die pucele also als weiblicher Narziß. Die Vorstellungen, die sowohl mit Venus als auch mit Narziß verbunden werden, sind teilweise deckungsgleich: Selbstbezogenheit, Hochmut (orgueil ) und Unnahbarkeit. Vgl. Döffinger-Lange, Der Gauvain-Teil, 211-222, bes. 216 f.; Friedman, » L'iconographie de Vénus«, 73 f. 34

Ou la pucele se miroit, / Qui son mantel laissié avoit / Et sa guimple a terre chaoir / Por che qu'ele poïst veoir / Sa face et son cors a délivré (Perc., V. 6831 - 8835). Da der Kleidung hoher »Öffentlichkeitscharakter« zukommt, ist schon das Ablegen des Mantels, das eine intime Atmosphäre schafft, erotisch konnotiert. Zum Mantel als »Standesabzeichen und Herrschaftssymbol«, der in besonderem Maße zum »gesellschaftlichen Erscheinungsbild der höfischen Dame« gehört, vgl. Elke Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts, Beihefte zum Euphorion, 23 (Heidelberg 1989), 86 und 141. Zum erotischen Moment vgl. Döffinger-Lange, Der Gauvain-Teil, 220. Zum kurzen Mantel der Dido in Vedekes >Eneide< als Mittel der erotischen Verführung vgl. Gabriele Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters, Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 1 (Hildesheim / Zürich / New York 1985), 64 f. 35 François Garnier, Le Langage de l'Image au Moyen Age. Vol. 2: Grammaire des Gestes (Paris 1989), 224. Zum Spiegel als Attribut der Venus, das auf Vanitas und Luxuria verweist, vgl. Friedman, »L'iconographie de Vénus«, 54. 36 Garnier verweist auf einen Holzschnitt aus Sebastian Brants >Narrenschiff< (Basel 1494) als Belegbeispiel. Friedman führt den >Livre pour l'enseignement de ses filles< (1370) des Chevalier de la Tour Landry an; vgl. Garnier, Le Langage de l'Image au Moyen Age, 225, G 318; Friedman, »L'iconographie de Vénus«, 70. Ein früheres Beispiel in der Wiener Bible moralisée (Wien: Österr. Nat. Bibl. cod. 2554, fol. 60, Paris um 1220-30) zeigt eine Reihe von Lastern: luxuria mit Spiegel, superbia, die sich krönen läßt und die Idolatrie. In der Bible moralisée sind die Frauen schlechten Lebenswandels jeweils mit dem Attribut des Spiegels ausgestattet. Vgl. Garnier, Le Langage de l'Image au Moyen Age, 224 und 226, D 317. Auch die pucele weist wie die superbia der Wiener Bible moralisée eine Bekrönung auf, vgl. Perc., V. 6681. 37 Vgl. Garnier, Le Langage de l'Image au Moyen Age, 225.

Die Orgeluse in Wolframs von Eschenbach >Parzival
Mater verborum< des Klosters Scheyern, in der eine Personifikation einer Cupiditas mit nach hinten aufs Haar gelegter Kinnbinde dargestellt ist. Diese Konnotation könnte ihrer Meinung nach bei Wolframs OrgeluseBeschreibung mitschwingen, vgl. Brüggen, Kleidung und Mode, 97; vgl. auch Baisch, »Orgeluse«, 31. 42 Mit der anschließenden ironischen Bemerkung des Erzählers über Orgeluses >Kampf-Bereitschaft< und der aufgeworfenen Frage nach ihrer übrigen Kleidung, die der Erzähler mit dem Hinweis ir liehter blic mich des erlat ausspart, kompensiert Wolfram das fehlende Motiv des abgelegten Mantels auf subtile Art und Weise, vgl. V. 515,4-10. Durch das gelöste Gebende, die Lokalisierung dieser Szene in einem locus amoenus und die ironische Erzählereinmischung bleibt die erotische Aufladung der Szene erhalten. Zum locus amoenus vgl. Anm. 46.

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kegelförmigen Berg, so daß beim turriben die Illusion einer Drehbewegung entsteht. 43 Zudem zeichnet sie sich durch ihre Uneinnehmbarkeit aus. Der Berg selbst w i r d von einem eingezäunten H a i n mit mehreren Baumarten umgeben. 44 Gawan erblickt Orgeluse, die durch die Stilfigur des Oxymorons umschrieben wird: da ersah er niderhalben sin / freude und sins herzen pin (V. 508,15 f.). Innerhalb dieser Stilfigur erfährt das Wort pin eine besondere Hervorhebung. Es erscheint zunächst mit herze als dem näher bezeichneten O r t der Qual. Durch das Possessivpronomen sins erfährt es eine enge Bindung an Gawan; das Wort pin w i r d durch Enjambement und die so erzeugte Endreimstellung ein weiteres Mal auf sin bezogen. Der Erzähler fährt nicht unmittelbar mit der Beschreibung Orgeluses fort, sondern erwähnt einen Quell, der aus dem Felsen entspringt. 45 Quell und Hain verweisen bereits an dieser Stelle auf einen locus amoenus und bereiten i m Sinne einer Steigerung auf den breiter ausgeführten locus amoenus der Warnerszene vor. 4 6 I m Gegenzug zu den erwähnten, abgeschwächten Motiven einer Venushaftigkeit führt Wolfram eine andere Bildvorstellung ein, die in Zusammenhang mit Venus oder verführerischen Frauen auftauchen kann. Es ist dies die Figur des Warners. U m in den offenkundig eingegrenzten boumgarten zu gelangen, muß Gawan einen schmalen Steg passieren. 47 Als Gawan den boumgarten betritt, schlägt 43

V. 508,1 -17. Vgl. Nellmann, Stellenkommentar, 706, V. 508,2. Zu »exotischen Bäumen als Mittel der Stilisierung nach dem Vorbild der Antike und der Bibel« und zum »Mischwald« bzw. »Hain« als »Unterart des >KatalogesRing< y Konstanzer Geschichtsund Rechtsquellen 32 (Sigmaringen 1990), 263-268; Friedman, »L'iconographie de Vénus«, 80 f. Zu Walthers von der Vogelweide Dame aus dem Lied >Si wunderwol gemachtet wîpParzival
Parzival
sich twirhet sin gerich [.. ,]versagtEneide< angespielt; vgl. ebd., 643, V. 399,12 und 14. Es stellt sich die Frage, ob die schnell entfachte »Husarenliebe« Gawans zu Antikonie im VIII. Buch durch diese Anspielung auf Veldeke in Beziehung zum Anfang des zweiten Minneexkurses gesetzt werden kann. Zum Begriff »Husarenliebe« vgl. Ruh, Höfische Epik, 118. Dort wird die durch Venus, Amor oder Cupido mit Pfeil und Fackel verursachte Minne auf manec min meister - womit Veldeke gemeint sein dürfte - zurückgeführt und als ungehiure vom Erzähler abgelehnt (V. 532,1-6). Zur differenzierten Beurteilung von Wolframs Veldeke-Kritik vgl. Schnell, Causa amoris, 187- 224. Zu überprüfen bliebe, ob die Hinweise auf Acroton und Babylon in diesem Zusammenhang negativ konnotiert sind, vgl. Nellmann, Stellenkommentar, 643, V. 399,17 und 18. 95

»Gegenüber den Obilot- und Antikonie-Episoden erreicht sein Engagement im Verhältnis zu Orgeluse einen hohen Steigerungsgrad.« Zimmermann, »Untersuchungen zur Orgeluseepisode«, 139. Der in der Obilot- und Antikonie-Episode angelegte Abstieg Gawans ereicht in der Orgelusehandlung seinen Tiefpunkt, dem ein Aufstieg folgt.

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mer, die vor dem zweiten Minneexkurs ihre Plazierung findet. 9 6 Gawans A b stieg ist eng mit der Minneproblematik verbunden, denn er ist i m X . Buch an die verheerende, keinen Minnelohn gewährende Minne zu Orgeluse gekoppelt. Die Bildvorstellung vom sich neigenden Glücksrad hat warnende Funkt i o n . 9 7 Gawans Abstieg kann als Warnung vor den möglichen Gefahren, die ihm drohen, wenn er an dem Minnedienst für Orgeluse festhält, verstanden werden. Sogar Urjans warnt Gawan (V. 521,23-522,4). Zwar w i r d diese Warnung durch den Diebstahl des Pferdes und den Bericht von seinem Minnevergehen relativiert, aber die Warnung und Verfluchung des grauen Ritters aus der Baumgartenszene sind dem Leser bzw. Hörer noch in guter Erinnerung. I m Kontext der Entdeckung der personalen Liebe in der Literatur des 12. Jahrhunderts hält Walter Haug fest, daß das, was das platonische wie das aristotelische Konzept ausgegrenzt haben, nämlich eine Geist und Sinnlichkeit in gleicher Weise umfassende Erotik, zurückgeholt wird. Und dies bedeutet sowohl die Absage an die platonische Aufspaltung der Liebe in zwei Veneres als auch an eine bestenfalls gemäßigte Liebe im aristotelisch-humanistischen Sinne.98 Für den arthurischen Roman charakterisiert Haug den äventuire-Bereich als Gegenwelt zur höfischen Idealität, als »Ort des Zufälligen schlechthin«, dem »die Formlosigkeit, das Unberechenbare, die Gewalt, das Affektive und auch der Eros« zugewiesen sind. Dies hält er v. a. für das Strukturmodell des Artusromans fest, das nicht ohne weiteres auf Wolframs Gralroman übertragen werden kann. Trotzdem können einige seiner Ergebnisse auf die Gawanhandlung, die nach Ruh dem zweiten Zyklus des arthurischen Romans entspricht, 9 9 übernommen werden. Gawans Weg i n die Gegenwelt ist ebenfalls - wie für den Erec oder Yvain von Haug beispielhaft ausgeführt - »ein Weg in den Tod [ . . . ] , der hier symbolisch als [ . . . ] höchste Gefährdung dargestellt wird«. Die Gegenwelt unterliegt 96 si sprach >füert ir krämgewant / in mime lande veile f / wer gap mir ze teile / einen arzet unde eins kramespflege? / hüet iuch vor zolle ufern wege: / eteslich min zolnare/ iuch sol machen fröuden lare.< (V. 531,12-18). Neilmann verweist hier auf die oben erwähnte Fehleinschätzung Obies (V. 352,16 ff.), vgl. Nellmann, Stellenkommentar, 712, V. 531,12. 97

Schilling verweist im Zusammenhang mit einem Spruch Dietmars des Setzers und der rota Fortunae auf den Aspekt des Warnens: »Ihre Erwähnungen und bildlichen Darstellungen verstehen sich vornehmlich als Erinnerungen an die Möglichkeit raschen und unvorhergesehenen Verlustes von Macht und Ansehen, als Warnungen vor übermuot.« Schilling, »Rota Fortunae«, 296. 98 Walter Haug, »Eros und Fortuna. Der höfische Roman als Spiel von Liebe und Zufall«, in: Walter Haug, Burghart Wachinger (Hg.), Fortuna, Fortuna vitrea 15 (Tübingen 1995), 52-75, hier 59 f. 99 Ruh, Höfische Epik, 104.

Die Orgeluse in Wolframs von Eschenbach >Parzival
Wigalois< oder der >Crone< verfestigt, 1 0 1 sondern das von Wolfram aufgegriffene Schema der rota Fortunae aufgebrochen wird. Gemäß Gisela Zimmermann setzt Gawans Aufstieg mit seinem Sieg über Lischoys e i n . 1 0 2 I m Text w i r d der Umschwung durch den Wiedergewinn Gringuljetes indiziert. Hierbei beruft sich Gawan auf die Allmacht Gottes: dö sprach er >bistuz Gringuljete, [...] ob duz bist, got hat dich wider mir schöne gesendet, der dicke kumber wendete (V. 540,17-24) 103 Anschließend kommentiert der Erzähler Gawans Aufstieg folgendermaßen: hie kom sin trürec güete aber wider in höchgemüete; 100

Haug, »Eros und Fortuna«, 64. Zum Rad der Fortuna als Symbol der Beständigkeit in Wirnts von Gravenberc >Wigalois< vgl. Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts (2. überarb. und erw. Aufl., Darmstadt 1992), 263; Haug, »Eros und Fortuna«, 65. Zur »personifizierten Saelde« mit ihrem Rad in der >Crone< Heinrichs von dem Türlin, die Gawein Sieg und Glück garantiert vgl. Haug, Literaturtheorie, 266 f. Christoph Cormeau beschränkt sich in seinem Aufsatz auf Fortuna »als allegorische Figur, die auf der Handlungsebene über ihre Attribute hereinzitiert wird oder selbst als Personifikation auftritt.« Daraus ergeben sich die Schwerpunkte >Wigalois< und >Diu CröneParzival< verschiedenste Minnemöglichkeiten vorgeführt. Für die Figur des Gawans sind es mit jener zu Orgeluse nicht weniger als drei Minnebeziehungen, die sich für ihn auf seinem Weg auftun: I n der Obilot-Episode ist es ein Mädchen, das Gawans Minnedienst für sich gewinnt. Er erweist sich darin als untadelig, ohne auf den entsprechenden Minnelohn hoffen zu dürfen. Die Begegnung mit Antikonie thematisiert die »rasch entbrannte Minne, die auf Liebesgenuß ausgeht«, ohne daß der dazugehörige Minnedienst geleistet w i r d . 1 0 6 Schon in den ersten beiden Minne-Episoden spielen die Glücksradvorstellung respektive die Fehleinschätzungen über Gawan eine Rolle, wenn auch nur eine untergeordnete. Die verschiedensten Facetten der Minne werden 104 Zur theologischen Rechtfertigung der Glücksgöttin und zur Rückbindung des positiven Bildes der Fortuna im Mittelalter an die Consolado Philosophiae des Boethius vgl. Schilling, »Rota Fortunae«, 296. 105 Zum Meditationsgeflecht vgl. Alois Wolf, »Ein maere wil ich niuwen y daz saget von grözen triuwen: Vom höfischen Roman Chrétiens zum Meditationsgeflecht der Dichtung Wolframs«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch , N. F. 26 (1985), 9-73, hier 11 und 64. Zum Zusammenspiel von Fortuna und Venus bzw. Amor vgl. Erwin Panofsky, Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance (Köln 1980), 162; Schnell, Causa amoris , 410-413. 106

Vgl. Ruh, Höfische Epik , 118.

Die Orgeluse in Wolframs von Eschenbach >Parzival
Rolle< als Venus? Wolfgang Harms konstatiert in seiner Untersuchung zum >Homo viator in biviorechten< Weg, während das Pendant des >linken< Weges fehlt. 1 1 0 Harms betont, daß »man mit wertenden Rückschlüssen vom Weg auf den viator Gawan vorsichtig sein« sollte, da »jede Ausprägung vorbildlich höfischer Lebensform i m >Parzival< ihren eigenen Wert behält.« 1 1 1 Auch hier verläßt Wolfram wieder das eigentlich festgefügte Schema und geht darüber hinaus. 107

Eine der zahlreichen Spielarten von Minnebeziehungen ist die magtuomliche minne (V. 805,1) Sigunes, die über den Tod des Geliebten, Schionatulander, hinausreicht und eine Art Sakralisierung erfährt. Zur »Idee einer religiös verdienstlichen Ehe mit dem Toten« und zum Erlösungsweg, der »offenbar kontrapunktisch zu Parzivals Heilsweg konzipiert ist«, vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach, 92. Daneben treten Minnebeziehungen wie die Jeschutes mit Orilus, Cunnewares mit Clamides, Belakanes mit Isenhart, um nur einige wenige zu nennen. Zu den zahlreichen Minnebeziehungen im >Parzival< vgl. Ruh, Höfische Epik, 124 f. Zu »Jeschute, die antithetisch als weltliches Gegenstück zu Sigune konzipiert ist«, vgl. Wolf, »Ein maere wil ich niuwen«, 61. Neben den meist positiv bewerteten Minnebeziehungen ist auch die ehebrecherische Minne Clinschors zur sizilianischen Königin Iblis mit ihren fatalen Folgen für den ganzen Machtbereich von Schastel marveile anzuführen. Vgl. Anm. 198. 108 Dieser Arbeit liegt v. a. das Kapitel III. 2. der Studie von Harms zugrunde. Harms, Homo viator in bivio, 221 -249, hier 242 f. 109 Harms, Homo viator in bivio, 249. 110 Zum Bedeutungsumfang des Attributs reht im Sinn von »richtig, geradeaus, zielstrebig< in bezug auf Gawans Wege ohne wertende Eigenschaft vgl. Harms, Homo viator in bivio y 247. Der Weg erhält »im Zusammenhang mit der Darstellung epischen Geschehens Bedeutungsfunktionen.« Ebd., 224. 111 Harms, Homo viator in bivio, 245. 3 Literaturwissenschafdiches Jahrbuch, 41. Bd.

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Der schmale, beschwerliche Pfad Parzivals ist der breiten sträze Gawans, die der Öffentlichkeit zugewendet ist, gegenübergestellt, ohne daß dabei eine moralische Wertung i m Sinne von >rechtem< und >linkem< bzw. >richtigem< und >falschem< Weg vorgenommen werden könnte. Eine weitere Absetzung der beiden Wegstrecken kann darin gesehen werden, daß Gawans A b - und Aufstieg auf die Hierarchie der menschlichen Gesellschaft ausgerichtet ist, und Parzivals Orientierung über diese hinausgeht. Die beiden verschiedenen Arten der Wege tragen, ebenso wie beispielsweise der unterschiedliche Umgang mit dem Fragemotiv, zur gegenseitigen Profilierung der Haupthelden bei. Anfangs des X I . Buchs beharrt Gawan gegenüber Plippalinot auf seiner Frage nach Schastel marveile, der für ihn bestimmten äventiure, während Parzival vorher ohne zu fragen an dieser äventiure vorbeiritt. 1 1 2 Die unterschiedliche Charakterisierung der von beiden Helden zurückzulegenden Wegstrecken verweist nicht zuletzt auf ihre unterschiedlichen Ziele: die Erlösung der christlich, religiös orientierten Gralgesellschaft und die Erlösung der höfisch, weltlich orientierten Gesellschaft von Schastel marveile. 1 1 3 Gemäß Harms hatte Wolfram Kenntnis von der durch die biblische Tradition geprägten Bildlichkeit der sich teilenden Wege. Eine Ableitung, beispielsweise aus dem Zweiwege-Bild des Matthäusevangeliums (Mt. 7,13 f.), ist für den >Parzival< zwar nicht »evident nachweisbar«, aber Wolframs Wissen und seine Auseinandersetzung mit in der biblischen Tradition vorgeprägten Schemata darf nicht zu niedrig angesetzt werden. Harms' Folgerung, es handle sich hier nicht »um eine besonders traditionsunabhängige D i c h t u n g « 1 1 4 ist zuzustimmen. Die für diese Arbeit interessante Entscheidungssituation Parzivals zwischen Condwiramurs und Orgeluse hat in Harms' >ParzivalParzival
Rolle< als verführerische, venusähnliche Frau die Entscheidungssituation provozieren. Durch die distanzierte A r t der Vermittlung aber w i r d die bivium-S\X\iaX\on i m H i n b l i c k auf Orgeluse entschärft. Die Niederlagen ihrer Ritter veranlassen Orgeluse, sich an Parzival zu wenden und so die bivium-S\\.\\ax\on herbeizuführen. zwischen Lögroys unde iurm ttrvar, miner ritr im volgeten fünfe dar: die enschumpfierter üf dem plan und gap diu ors dem schifman. 116 Orgeluses Bericht der bivium-Szene geht ihre Rechtfertigungsrede und Klage um Cidegast voran; vgl. unten. 117 Vgl. Nellmann, Stellenkommentar, 719, V. 559,11. 118 Mit der Erwähnung Pelrapeires ist implizit eines der beiden Ziele Parzivals gegeben, nämlich Condwiramurs. Das andere, der Gral, wird explizit als Ziel formuliert: er reit hie vorsehen umben gräl (V. 559,18). Zur Verbindung beider Ziele und der sublimen Form, sie im Zusammenhang mit der Blutstropfenszene gegeneinander abzuwägen, vgl. Harms, Homo viator in bivio, 236 f.

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dö er die mine überstreit , nach dem beide ich selbe reit, ich bot im lant unt minen lip: [...](V. 618,27-619,3). Parzival sieht sich durch Orgeluses Vorschlag vor die Wahl gestellt. Er lehnt die Minne der Orgeluse ab und entscheidet sich für seine Ehefrau Condwiramurs und den Gral. er sprach , er hete ein schoener wip , unt diu im lieber wäre. diu rede was mir swaere: ich vrägete wer diu möhte sin. >von Pelrapeir diu künegin , sus ist genant diu lieht gemäl: so heize ich selbe Parzival. ichn will iwer minne niht: der gräl mir anders kumbers giht.< sus sprach der helt mit zorne: hin reit der üz erkome (V. 619,4-14). Da Parzivals Entscheidung zwar in die Nacherzählung der Orgeluse inseriert ist, aber in direkter Rede wiedergegeben wird, trifft das, was für die Mittelbarkeit der bivium-SituzXion in bezug auf Orgeluse gegolten hat, in umgekehrtem Sinn für Parzival zu. Durch die direkte Rede erhält seine Entscheidung einen unmittelbaren, vergegenwärtigenden Charakter. Der erste Vers seiner fünf Verse umfassenden A n t w o r t stellt Condwiramurs in ihrem Rang als Königin von Pelrapeire voran. I n den beiden nachfolgenden Versen werden Condwiramurs und Parzival durch den Endreim formal aufeinander bezogen, wobei Condwiramurs in ihrem Verhältnis zu Parzival als Ehefrau mit dem Begriff lieht gemäl 119 näher bezeichnet wird. Die letzten beiden durch den Endreim aufeinander zu beziehenden Verse beinhalten die Gegenüberstellung von Orgeluses Minne und Parzivals Ziel, den Gral. Vor dem Hintergrund der Gralhandlung läßt Parzivals Entscheidung Condwiramurs als die richtige Wahl und Orgeluse als die falsche erscheinen. Der Gral und die Frage nach der >falschen< bzw. >richtigen< Minne sind aufs engste miteinander verbunden. Condwiramurs w i r d i m XV. Buch zum Gral berufen und Parzivals Wahl w i r d so nachträglich legitimiert. 1 2 0 Die negative Wertigkeit der Orgeluse findet über die Entscheidungssituation hinaus eine text- und handlungsimmanente Begründung. Nachdem Parzival 119

Zum Begriff gemahele , -mahel mit dem Wortsinn von Braut bzw. Gemahlin vgl. Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch , Bd. 1, Sp. 833 f. 120 Zu den strengen Ehebestimmungen der Gralgemeinschaft vgl. V. 495,1-12. Zur Gralinschrift, in der neben Parzival auch Condwiramurs und Loherangrin zum Gral berufen werden vgl. 781,12-19.

Die Orgeluse in Wolframs von Eschenbach >Parzival
Parzival
Parzival< bezogen, hat auch für den vorliegenden Fall seine Gültigkeit. Die bivium-Situation w i r d durch Orgeluses Frage >[...] han ich dar an missetan y weit ir mich daz wizzen lân y ob ich durch mine herzenôt dem werden rîter minne bôt y sô krenket sich min minne.< (V. 619,15 -19) und Gawans A n t w o r t i m erzählerischen Fluß der Handlung wieder aufgel ö s t . 1 3 9 Dadurch bleibt Orgeluse nicht bis zum Schluß der Handlung mit dem 135 »Bezeichnenderweise ist aber die Spannung zwischen Venus und Maria nirgends fruchtbarer geworden als in den allegorischen Epen.« Vgl. Lutz, Spiritualis fornicatio, 292. Auch in den beiden Bereichen der Lyrik, den erotischen und den geistlichen Liedern, konnten die zwei verschiedenen Frauenbilder aufeinandertreffen. »Wo aber der Widerspruch zwischen geistlichem Anspruch, klerikalen Pflichten und weltlichem Leben (und Dichten) zum Thema der (geistlichen) Lieder wurde, entstand eine Konstellation, in der Maria und Venus aufeinandertreffen konnten.« Ebd., 290. Vgl. auch Wolf, Faszinosum, 20. 136

Wolf stellt für Herzeloyde »Muttergottes-Analogien« fest, vgl. Wolf, »Ein maere wil ich niuwen« y 16. 137 Die Empfindung, die Gawans äventiure an der gefährlichen Furt bei Orgeluse auslöst, vergleicht sie mit jener, die nur ein getriwez wip / umb ir lieben friundes lip (V. 611,29 f.) empfinden kann. Vgl. desweiteren zum jamer und zur triuwe Orgeluses V. 615,30, 616,10, 616,22 ff. und 616,28. 138

Harms, Homo viator in bivio, 241.

Die Orgeluse in Wolframs von Eschenbach >Parzival
Apokalypse< von Angers. Die 64. Szene, die im Bildvordergrund Johannes und einen Engel links und die große Hure an den Wassern rechts zeigt, weist im Hintergrund das in ein Rankenwerk integrierte y-Signum auf, vgl. Lutz, Spiritualis fornicatio, 263-265, Abb. 26. 141 Gawans dienstbariu triuwe (V. 541,6) wird zwischen den beiden Kämpfen mit Lischoys, in die Orgeluse ihn verstrickt hat, erwähnt. Aber auch im Kontext des dritten Minneexkurses wird Gawans triuwe und sein dienstlicbez wachen (V. 584,21) für Orgeluse thematisiert. Hierin könnte eine Rehabilitierung des Minnesangs gesehen werden. Eine andere Variante des Minnethemas wäre jene der Sigune-Episode, die nicht auf den >Parzival< beschränkt bleibt, sondern ihre exzessive Entfaltung in Wolframs >Titurell< findet. 142 Der >ParzivalParzival
Parzival< Göppinger Arbeiten zur Germanistik 591 (Göppingen 1993), 84. 163

164 Das Wort strit bzw. striten erfährt durch seine gehäufte Anwendung in Arnives Rede eine Hervorhebung (V. 593,30-594,13). 165 Zur medizinischen Versorgung Gawans durch Arnive vgl. V. 579,11-580,28; vgl. auch Nellmann, Stellenkommentar, 724, V. 579,30.

y

Die Orgeluse in Wolframs von Eschenbach >Parzival
ir sult mir einen kränz / von eines boumes rise / gewinn, dar umbe ich prise / iwer tat, weit ir michs wem: / so muget ir miner minne gern.< (V. 600,2024). Weitere Stellen zu dem in Aussicht gestellten Minnelohn: V. 599,10-13 und 21 -23; V. 601,27-29. Vgl. Zimmermann, »Untersuchungen zur Orgeluseepisode«, 144 und 136, Anm. 18. Zum vorenthaltenen Minnelohn vgl. ebd., 137. Zur Gefahr einer psychologisierenden Interpretation vgl. Baisch, »Orgeluse«, 15 f. Bumke räumt für die Figur der Orgeluse ein, daß Wolfram »durch die psychologische Motivierung ihrer Handlungsweise selber zu einer solchen Sicht eingeladen« hat; gleichzeitig verweist er auf die sich bei einer 167

48

Barbara S. Dieterich

einer weiteren äventiure , in die sie Gawan verstrickt, den cranz vom Baum des Gramoflanz, der nicht zu den Minnerittern der Orgluse zu zählen ist. A u c h hier begegnet wieder die Verbindung von höher pris und saelde versus not und tot (V. 600,25 - 3 0 ) . 1 7 0 Von Gramoflanz erfährt Gawan die Vorgeschichte: die äventiure mit L i t marveile war für Gramoflanz vorgesehen (V. 605,27-30). Dieser hielt sich an Clinschors vriden und bemühte sich daher nicht um diese äventiure und das wertvolle krämgewant vor Schastel marveile. 1 7 1 Dem vriden mit Clinschor setzt Gramoflanz krieg mit Orgeluse, in dem er ihr den wären minnen sige zuspricht, entgegen. 172 Er hat Cidegast, Orgeluses ersten Mann, erschlagen und sie entführt, u m ihre Minne zu gewinnen. 1 7 3 Gramoflanz' muot zeichnet sich schon zuvor durch höchvart aus, denn er hegt die Marotte, nur gegen zwei Gegner zu kämpfen. 1 7 4 Aus diesem Grund kommt es trotz Gawans Kranzraub nicht zu dem vom Rezipienten erwarteten sofortigen Zweikampf. Gramoflanz ist sich bewußt, daß Gawan i m Minnedienst der Orgeluse steht und ihm den Tod bringen soll. 1 7 5 I m weiteren Verlauf des Gesprächs erhebt Gramoflanz den Vorwurf, König Lot, Gawans Vater, habe seinem Vater, König Irot, gegenüber die triuwe gebrochen und ihn erschlagen. N u n w i r d zwischen beiden ein Zweikampf festgepsychologischen Analyse ergebenden Widersprüche der Figur. Zu Bumkes Sichtweise der Orgelusefigur als vom Erzähler konstruiertem Modell, das bestimmte Phänomene sichtbar machen soll, vgl. Joachim Bumke, »Geschlechterbeziehungen in den Gawanbüchern von Wolframs >ParzivalParzival
tiefes Gefühlherre, solher not als ich hän an iuch gegert , der wart nie min wirde wert. für war mir iwer arbeit füeget sölich herzeleit, diu enpfähen sol getriwez wip umb ir lieben friundes lip.< (V. 611,24-30) Ihre Rechtfertigungsrede und ihre Klage u m Cidegast verdeutlichen ihr gewandeltes Wesen. Orgeluse gesteht ihre nicht über allen Zweifel erhabene Verhaltensweise ein und rechtfertigt diese mit dem Verlust des Cidegast in einer panegyrischen Rede auf i h n . 1 8 6 I n den Versen 613,1-8 betont sie, daß jede/ 181 Vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach , 117-119. Zum äventiure-Bezug zu Artus und der »Chance der Konfliktlösung« vgl. Karg, sin süeze sürez ungemacb, 84. 182 der sprunc mit valle muoste sin. / des weinde iedoch diu herzogin (V. 602,17-18). 183 Zimmermann, »Untersuchungen zur Orgeluseepisode«, 145. 184 daz Gäwän vallen gar vermeit. / zuo zim diu herzoginne reit, [...] gein sinenfuozen sisich bot (V. 611,15-23). 185 »Von nun an wird ihr aber Gawans Liebe zunehmend wichtiger werden als die Rache an Gramoflanz. [ . . . ] Je mehr sie sich mit ihm verbunden fühlt, desto unwichtiger wird ihr die Rache und desto mehr wächst ihre Versöhnungsbereitschaft.« Zimmermann, »Untersuchungen zur Orgeluseepisode«, 145. Vgl. auch Bumke, Wolfram von Eschenbach, 109. 186 >herre, als i'u not gesage, / waz ich der im herzen trage, / so gebt ir jämers mir gewin. / gein swem sich krenket min sin, / der solz durch zuht verkiesen [...]< (V. 612,23 27); vgl. weiter V. 612,28-614,17.

Die Orgeluse in Wolframs von Eschenbach >Parzival
story< painting. I n both painting and literature, the ancient gods >survive< by being transformed into >newheroification< could also turn out to be merely figurative. A few remarks should also be made at this point about the unusual intimacy w i t h which the address is renewed: » M y gentle Shakespeare« (56). Critical readers might well ask whether the intimate tone here w o u l d not prevent the phrase from being interpreted as a form of hymnic address. Part of the problem lies w i t h the w o r d »gentle«. Interpreted as an element of the hymnic rhetoric, it can be seen to function in much the same way as other epithets of praise qualifying the name of an invoked deity. As to what the w o r d means, the hymnic qualities that it possibly represents may become more apparent if it is taken to describe not a personal behavioural trait but a more public quality of nobleness. But the meaning suggested by Ian Donaldson of praising Shakespeare's poetic productivity, especially the easy and ample flow of his ideas and language, seems to best fit the hymnic context. 2 2 A more serious stumbling block is presented by the possessive pronoun qualifying the name. The first critic to comment upon the pronoun here was D o naldson, who points to a similar usage among writers of Latin epigrams. 23 But is this to say that its use in hymnic contexts is impossible? I n Jonson's poem, the possessive pronoun »My« first appears together w i t h the name of the addressee i n line 19, when the speaker assumes the role of necromancer. When the words »My« and »Shakespeare« reappear in line 56, it could be said that the speaker is depicted in the role of the addressee's adviser or teacher - a pretence, for the benefit of readers, to cover the explanatory function of the passage that follows. I f analysts of hymnic forms find the awe that is usually felt by a troubled mortal when asking for divine assistance is missing here, they should be reminded of the very special purpose that is served by the hymnic forms in Jonson's poem, namely, the immortalization or deification of an exceptionally gifted and deserving human being. Another factor to be taken into account is that poets of classical antiquity traditionally took great pride in their power to immortalize their fellow men, although they were actually able to do no more than preserve the memory of a name. I f the figure of the eulogist in Jonson's poem is presented as effectively performing an act of deification by praising Shakespeare in hymnic terms, then the author could be expected to be all the 21

Helmut Papajewski, »Ben Jonsons Laudatio auf Shakespeare: Kategorien des literarischen Urteils in der Renaissance«, Poetica , 1 (1967), 483-507, draws attention to the fact that the lance in Shakespeare's coat of arms puns on the family name (497, note 47). 22

Ian Donaldson, Jonson's Magic Houses: Essays in Interpretation

21. 23

Donaldson, Jonson's Magic Houses, 22.

(Oxford 1997), 20-

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prouder and traces of this pride might be visible in the way the relationship between speaker and addressee is depicted. The present analysis of the section of the prayer hymn usually given to describing the nature and powers of the invoked divinity cannot be concluded without reiterating that the lines equating Shakespeare's achievement w i t h the activities of Apollo and Mercury are somewhat vexing insofar as they lack the religious awe and reverence that are proper to the prayer hymn. The wish to immortalize Shakespeare may seem to have overshot the mark here, even though the comparison of the Bard w i t h Apollo and Mercury has been seen to take its starting point from the conventional element of hymnic rhetoric indicating class or rank. I n order to fully appreciate the enormity of a claim that makes Shakespeare the quasi-divine model not only for all creative artists but for all performing artists and for all teachers of art as well, it is perhaps w o r t h recalling some of the things these mythological figures stand for in classical religion and literature. Apollo occupies a very high place in the hierarchy of the Greek gods. The favourite son of Zeus, who is the king of the gods and the supreme ruler of the world, he alone enjoys Zeus' counsel and he alone is regularly employed by his father to reveal the latter's decisions to the mortals. A n y attempt to explain w h y Shakespeare is equated w i t h Apollo in Jonson's eulogy must, of course, take account of the fact that ancient mythological writers often depicted Apollo entertaining the court of the divine monarch w i t h his singing and harp-playing, and adorning court festivities w i t h his troupe of singing and dancing Muses. 2 4 This ties in w i t h the fact, mentioned towards the end of Jonson's poem, that Shakespeare and his company also provided entertainment for the courts of their o w n monarchs - first Elizabeth and later James. But it should be realized that these facts alone fall far short of explaining the full function of Apollo's name in Jonson's eulogy. Importantly, it should also be remembered that by holding up a mirror to man Shakespeare enables him to fulfil the Apollonian commandment: K n o w thyself! The eulogist's reference to Mercury is arguably even more complex. Most people know Mercury as the divine patron of trade and commerce. I t is commonly believed that when the O l d Italian god Mercury became identified w i t h the Greek god Hermes, the latter's poetic and musical creativity and artfulness were grafted onto Mercury's commercial energy and ingenuity. So it was that Mercury also came to be considered a supreme master of the arts of rhetoric and persuasion. His inventiveness covered a wide field. He is credited w i t h hav24

A fuller description of Apollo's importance, which would have to take particular account of his civilizing influence, cannot be given here. Guides to more extensive information can be found in the entries for Furtwàngler, W., and Wernicke, K., in the Bibliography to Frederick Williams, Callimachus' »Hymn to Apollo«: A Commentary (Oxford 1978). 6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 41. Bd.

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ing discovered the possibility of representing linguistic sounds by means of graphical signs»or letters. He is also said to have made the first lyre and to have taught his half-brother Apollo how to play it. Then he is said to have made another instrument, the flute, which he bartered for a staff owned by Apollo. Mercury became so well-known as a teacher of the art of singing that educationists might well consider adopting him as their divine patron. I n referring to Mercury, Jonson may have implicitly intended to present Shakespeare as an example for other poets to follow. The First Folio text mentions both the »words of Mercury« and »the songs of Apollo« (Love's Labour's Lost, 5. 2. 530-31) w i t h reference to the stage. Friends of the arts of the theatre may well think it fitting that the interplay in drama between illusion and profound truth should be influenced by Mercury's charms and versatility. While the parallels adduced so far do not fully suffice to support the claim that Shakespeare is really equal to two of the most important Olympian gods, there can be no denying the fact that Jonson's eulogist celebrates Shakespeare by making use of the same liturgical rhetoric previously employed by a substantial number of classical and Renaissance poets in their hymnic praise of these two gods. Whatever it is that Shakespeare may have done to deserve deification, Jonson might be said to be completing the process insofar as he uses this particular form in order to equate the Bard w i t h both Apollo and Mercury. The very form of the poem is itself a sign that the unusual claim made in the poem has been fulfilled. For verification of this thesis, let us briefly consider some of the hymns to Apollo that were written in classical antiquity. Perhaps the first that should be mentioned here is the paean by Alcaeus, which in ancient classical Greece was held to be the finest hymn ever written in praise of any of the Greek gods. (Although the text of the original poem has largely been lost, a detailed description of its contents has fortunately survived. 25 Pindar's paeans, by contrast, have not been preserved in any shape or form.) Then there are the two contained in the best-known collection of Greek hymns, the so-called Homeric H y m n s , 2 6 and the one by Callimachus of Alexandria, a Hellenistic poet wellknown for his hymn w r i t i n g . 2 7 Last but by no means least are the two by H o r 25

For the only surviving fragment of the original Greek text, and a summary (plus English translation) of the lost hymn as given in the fourteenth Oration of the sophist Himerius, see Denys Page, Sappho and Alcaeus: An Introduction to the Study of Ancient Lesbian Poetry (Oxford 1955), 244-45. 26 See The Homeric Hymns, ed. Thomas W. Allen, William R. Halliday and Eric E. Sikes (2nd ed., Oxford 1936) for texts (20-42 and 85) and a critical commentary (183266 and 411) respectively. 27

For a Greek text of Callimachus' »Hymn to Apollo«, see Callimachus, ed. Rudolfus Pfeiffer (Oxonii 1953), vol. 2, 5-9. Williams, Callimachus' »Hymn to Apollo«, gives

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ace, one of which even directly relates to the consecration of a newly-built temple for A p o l l o . 2 8 Almost as numerous as the hymns to Apollo are those to Hermes and Mercury. Alcaeus is k n o w n to have written at least one (a fragment of which survives), 29 and the Homeric Hymns contain two, although it should be said that the second of these is probably no more than a repetition, w i t h insignificant variations, of the beginning of the first. 3 0 Finally, there are the two by H o r ace, 31 who elsewhere in his poetry also made frequent allusions to Mercury and the special relationship that he claimed existed between them. This list of hymns by classical authors is by no means exhaustive. Moreover, it could also be extended to include a number of neo-Latin poems by European humanists. 32 These i n turn were followed by other Renaissance hymns in Italian and French. 3 3 There can be little doubt that Jonson was aware of at least some of these poems. I n composing his eulogy of Shakespeare, he was working w i t h i n a long and distinguished tradition of hymn writing - quietly assuming a position that is without any of the supposed envy attributed to him by some Pfeiffer's text (9-13) together with an extensive commentary in English (15-97) but no English translation. 28 In Odes 4.6, Horace celebrates Apollo as a master of the lyre and the leader of the muses as well as the inspiration behind his own poetry. Eduard Fraenkel, Horace (Oxford 1957), 400-07, suggests a connection with the lost paeans of Pindar (401). Odes 1.31, in which Apollo is hymned as a source of protection and inspiration, seems to be a more private prayer, made on the day of the festive opening of a new temple on Mount Palatine. 29 For the fragment of the text that has survived and a reconstruction of the text as a whole, see Page, Sappho and Alcaeus, 253 and 252-58 respectively. 30 The longer of these two hymns has been translated by Percy B. Shelley, among others. Shelley seems to have been particularly attracted to this hymn by the humorous presentation of Hermes, who is depicted as an expert at cheating, thieving and lying almost from birth. For a scholarly text and commentary, see The Homeric Hymns, ed. Allen, Halliday and Sikes, 42-64 and 267-348 respectively. For a text of the shorter hymn, which these editors call »merely an abstract from the longer« (401), see 85. 31

Horace, Odes 1.10 and 3.11. The first of these is considered to have been influenced by Alcaeus* hymn to Hermes; the second emphasizes Mercury's role as a teacher of the arts. See Fraenkel, Horace, 161-66 and 196-97 respectively. 32

See, for example, Marullus' »Soli« in: Michel Marulle: Hymnes Naturels , ed. Jacques Chomarat (Genève 1995), 145-66. In identifying Apollo with Sol, Marullus follows the example of the Orphic hymns, cf. The Orphic Hymns, ed. and trans. Athanassakis, 46-49. Neo-Latin hymns to Apollo were also written by Marc Antonio Flaminio and Hippolytus Capilupus (see Maddison, Apollo and the Nine, 126 and 134 respectively). Neo-Latin hymns to Mercury are definitely more scarce, but there is one by Marullus (see Michel Marulle, ed. Chomarat, 140-51). 33 Hymns to Apollo were written in Italian by Bernando Tasso and Gabriello Chiabrera and in French by Pierre de Ronsard (see Maddison, Apollo and the Nine, 159, 182 and 255-56 respectively). 6*

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critics. Jonson secures his o w n rank as a poet simply by doing what he does. There is no need for him to remind his readers of Horace's proud claim that, great deeds notwithstanding, a hero needs a poet to tell the w o r l d of his achievements; 34 or of Alexander the Great's complaint that, unfortunately for him, no Homer was around to sing his praises, as there had been for Achilles. The structure of the prayer hymn characteristically ends w i t h one or more requests on the part of the speaker. From the worshipper's point of view, it is this prayer that provides the basic reason for the hymn's existence. Writers of secular or literary hymns usually treat this particular structural element in such a way that readers have no difficulty in recognizing its original function. But when a poet uses the prayer hymn to glorify a mortal rather than to petition a god, readers should be prepared for even greater changes to the traditional form. The beginning of the request topos is usually clearly marked by a renewal of the address. This convention is imitated in Jonson's poem toward the beginning of the prayer section (71-80), when the subject of the eulogy is called »Sweet swan of Avon!« (71). Most readers w i l l recognize in these words a conventional circumlocutory reference to Shakespeare, but not everyone w i l l be aware of the fact that this form of address also represents a linguistic formula that is typical of the honorific titles conventionally used in hymns. But the speaker of Jonson's poem does not begin his request w i t h the same sense of extreme urgency that a petitioner in dire need of divine support would normally show. Moreover, there seems to be less expectation on the speaker's part that his request w i l l be fulfilled. The wish itself has at least three different aspects to it. First, the usual »come and help« formula of this part of the prayer h y m n changes, as a result of the poet's longing to see his deceased friend, into the formula »come and let me see you again«. Second, the natural longing felt for an intimate friend and expressed in the words »1 wish I could see you again« changes, under the influence of the hymnic context, into a request for the epiphany of an immortal. (It was originally believed that effective divine support required a god to be present.) Third, the conventional prayer is modulated here into the poet's wish that his immortalized friend reveal himself in all his glory. But once again the bold request is toned down, being replaced by a wish to see Shakespeare's plays performed and admired again as they were in the days of Elizabeth and James. The image of the soaring flight of a bird as an expression of the elation felt by the poet in the act of composition was a literary commonplace of very long standing even by Jonson's day. Pindar, for example, is thought by some critics 34 For the theme of the immortalizing power of poetry, see Odes 4.8. The kind of immortality meant in Horace's poem is described by Fraenkel, Horace, 423, as »a keeping alive of the memory of a great soldier or an eminent statesman«.

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to have likened himself to an eagle i n his second Olympian ode in order to distinguish himself from his unpleasant, crow-like opponents, although it is far from clear whether this is the real meaning of the passage in question. 3 5 More straightforward is Bacchylides' comparison of the activity of the poet to the flight and voice of the eagle. 36 M u c h as the eagle was associated w i t h the sky god Zeus, so the swan came to represent the poet because of its association w i t h Apollo. I n Callimachus' hymn, for instance, the chariot on which Apollo visits Delphi is described as being drawn by swans. 37 The idea of comparing poetic activity to the flight of the swan also seems to have been supported by bestiary lore, according to which the dying swan was endowed w i t h the gift of prophecy. Some critics see a connection between Jonson's use of the swan image in his eulogy of Shakespeare and the final poem of Book Two of Horace's Odes, where the speaker has a vision of himself changing into a swan, ready to soar up into the sky and achieve immortality. 3 8 For others, an even more relevant reference text here is the second poem of Book Four, the so-called Pindar poem. Spencer, for instance, was so convinced of an implied equation between Pindar and Shakespeare in Jonson's poem that he encouraged readers to construe Horace's reference to the great Greek poet as »the Swan-upon-Dirce«, the Dirce being a small river near the Greek poet's birthplace of Thebes. 39 The implied comparison in Jonson's eulogy between the inimitable Pindar and Shakespeare constitutes an additional honour for the Bard. 4 0 When Jonson creates the impression that a swan is really seen by the speaker of his poem, readers are made to feel that this vision answers the speaker's >prayerSchloß und Garten< an der Universität Trier gehalten wurde. Der Duktus des Vortrags wurde beibehalten, der Nachweis der Argumentation und die Auseinandersetzung mit der Forschung ist in die Fußnoten verlegt worden. 2

So Walter Muschg über Mörike, zit. nach Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848, Bd. III: Die Dichter (Stuttgart 1980), 751. 3 Vgl. Mörike an seinen Verleger Cotta, 6. Mai 1855, zit. nach Erläuterungen und Dokumente. Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag, hg. Karl Pörnbacher (Stuttgart 1985), 63. 4 Vgl. die Überlegungen Wolfgang Hildesheimers in seiner literarischen Mozart-Biographie (zuerst 1977, wieder Frankfurt a. M. 1980), 50 ff. 5 Zur Lokalisierung der Schloß- und Gartenkulisse in Mörikes historischer Umwelt vgl. die - interpretatorisch allerdings unergiebigen - Recherchen von Hugo Rokyta, »Das Schloß in Mörikes Novelle Mozart auf der Reise nach Prag«, Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins, 71 (1967), 127-153.

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haltungskultur einbeziehen. Bei dieser Gelegenheit werden dann auch einige Kompositionen Mozarts aufgeführt, so die Rosenarie der Susanna aus der Gartenszene des Figaro, Duett und Chor der ländlichen Hochzeit zwischen Zerlina und Masetto aus Don Giovanni und etliche weitere Nummern der Oper, darunter vor allem die berühmte >Kirchhofszene< (zwischen D o n Giovanni, Leporello und dem Standbild des Komturs) sowie D o n Juans >Nachtmahl< und seine abschließende Höllenfahrt. Als Mozart am nächsten Tag die Gesellschaft wieder verläßt, bleibt der Eindruck seiner schöpferischen Überfülle ebenso zurück wie die sichere Vorahnung seines frühzeitigen Todes: »Es ward ihr«, so läßt der Erzähler durch Eugenie, die junge Nichte des Grafen, wissen, es ward ihr so gewiß, so ganz gewiß, daß dieser Mann sich schnell und unaufhaltsam in seiner eigenen Glut verzehre, daß er nur eine flüchtige Erscheinung auf der Erde sein könne, weil sie den Überfluß, den er verströmen würde, in Wahrheit nicht ertrüge. 6 Trotz des bangen Nachhalls, in dem sich das historische Wissen Mörikes mit Mozarts Lebenszeit und der Handlungszeit der Novelle vermischt, zieht der Leser insgesamt zufrieden Bilanz: Er hat den großen Künstler zugleich als Menschen kennengelernt und in einem seltenen Augenblick der »harmonischen Übereinstimmung« mit sich und seiner gesellschaftlichen Umwelt erlebt. 7 So jedenfalls lautet die herrschende Meinung unter den Interpreten der Erzählung. 8 Daß sich die Hinweise des Textes sehr w o h l auch in eine andere Richtung deuten lassen, zeigt nicht zuletzt der Blick auf die gleichsam architektonische Garten- und Landschaftskomposition der Novelle: Diese bildet eine, wenn man so will, >grüne< Sinnschicht, die einen (bislang unentdeckten) >Schlüssel< zum Verständnis zentraler Aspekte des Mörikeschen Künstlertums

6

Eduard Mörike, Sämtliche Werke, hg. Herbert G. Göpfert (5. Aufl., München 1976), 1080 (alle weiteren Nachweise aus der Novelle nach dieser Ausgabe in Klammern im fortlaufenden Text). 7 Horst Steinmetz, Eduard Mörikes Erzählungen (Stuttgart 1969), 107. 8 Es seien nur die folgenden, gleichwohl repräsentativen Beispiele genannt: Sengle, Biedermeierzeit, 737-742; Jochen Schmidt, »Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag«, in: J. S., Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, (zuerst 1985, Darmstadt 1988), Bd. 2, 57-61; Hanne Holesovsky, »Der Bereich des Schlosses in Mörikes Mozartnovelle«, The German Quarterly, 46 (1973), 185-201; Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann, »Biedermeier und Postmoderne. Zur Melancholie des schöpferischen Augenblicks: Mörikes Novelle Mozart auf der Reise nach Prag und Schaffers Amadeus «, in: Studien zur Literatur des Frührealismus. Festschrift für Ulrich Füllehorn, hg. Günter Blamberger u. a. (Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1991), 306-337. Die Gegenpartei, angeführt von Benno von Wiese - vgl. »Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag«, in: B. v. W, Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen, (Düsseldorf 1956), Bd. 1, 213-237 - gelangt, wie v. a. Sengle in seiner großen Epochendarstellung zu Recht kritisiert hat, zu ihren Ergebnissen nicht selten durch eine anachronistische Isolierung Mörikes aus dem Kontext des Biedermeier.

I m Garten der Zeit

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bereithält. 9 Neben der Mozartschen Musik läuft also eine zweite Grundmelodie mit, die jene mal begleitet, mal kontrapunktiert, eine Melodie, die in den Partituren des Gartens und der Geographie der Erzählung notiert ist. Hält man sich an sie, so w i r d deutlich, daß der Dichter den Zirkel der Schloßgesellschaft auch wieder geöffnet und damit über den Rand des Textes hinausgeschrieben hat. N i c h t was in die Räume der Novelle sich einfügt, verdient i m folgenden gezieltere Aufmerksamkeit, sondern das, was sie aufsprengt und überragt. N i c h t von ungefähr w i r d Mozart mit einem Fauxpas in die Welt von Schloß und Adel eingeführt, die zwar - am Ende des 18. Jahrhunderts und am Vorabend der Revolution - nicht mehr die ganz große Welt ist, aber doch immer noch eine Welt. Bezeichnenderweise handelt es sich bei diesem Fauxpas u m ein »Gartenabenteuer«, wie es vielsagend heißt (1046). Zwar ist der »Zutritt« zum Schloßgarten »anständigen Fremden w o h l gestattet« (der Graf scheint erste zaghafte Anstalten hin zum >Volksgarten< zu vollführen; 1037), Mozarts Auftreten darin kommt jedoch ziemlich bald einem Eklat gegen die Regeln der Dezenz gleich: Das Ohr behaglich dem Geplätscher des Wassers hingegeben, das Aug auf einen Pomeranzenbaum von mittlerer Größe geheftet, der außerhalb der Reihe, einzeln, ganz dicht an seiner Seite auf dem Boden stand und voll der schönsten Früchte hing, ward unser Freund durch diese Anschauung des Südens alsbald auf eine liebliche Erinnerung aus seiner Knabenzeit geführt. (Ibid.) Die einmal in Gang gesetzte Phantasie Mozarts nimmt alsbald musikalische Züge an und führt ihn nicht nur in ferne Gedankenreiche, sondern auch über die Anstandsgrenzen seiner körperlichen Gegenwart hinweg: »Nachdenklich lächelnd reicht er nach der nächsten Frucht, als wie um ihre herrliche Ründe, ihre saftige Kühle in hohler Hand zu fühlen«. Damit nicht genug, er greift gar ein zweites mal zu: »ja so weit geht die künstlerische Geistesabwesenheit«, heißt es weiter, daß er, die duftige Frucht beständig unter der Nase hin und her wirbelnd und bald den Anfang, bald die Mitte einer Weise unhörbar zwischen den Lippen bewegend, zuletzt instinktmäßig ein emailliertes Etui aus der Seitentasche des Rocks hervorbringt, ein kleines Messer mit silbernem Heft daraus nimmt und die gelbe kugelige Masse von oben nach unten langsam durchschneidet. Es mochte ihn dabei entfernt ein dunkles Durstgefühl geleitet haben, jedoch begnügten sich die angeregten Sinne mit Einatmung des köstlichen Geruchs. Er starrt minutenlang die beiden innern Flächen an, fügt sie sachte wieder zusammen, ganz sachte, trennt und vereinigt sie wieder. (1038) 9 Dies auch die Arbeitshypothese der - ungedruckten - Dissertation von Barbara Weber, die sich eines Desiderats annimmt, sich insgesamt jedoch nicht allzu urteilssicher präsentiert: Der literarische Garten im bürgerlichen Zeitalter. Die Motive >Park< und >Garten< in den Prosawerken von Mörike, Storm und Fontane (Diss. Düsseldorf 1991) [Microfiche], hier 139.

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Viel Scharfsinn ist nicht gefragt, um die Anklänge an den biblischen Sündenfall zu vernehmen, die Apfelsine auf den sprichwörtlichen Apfel zu beziehen. Aber auch die rokokohaft gedämpften erotischen Untertöne w i r d man kaum überhören, erst recht nicht, wenn man sich den derart Verführten vor Augen hält, der eben auch ein Verführer ist. Letzteres legen sowohl die (im Text aufscheinenden) Amouren des historischen Mozart (vgl. 1063) als auch der musikalische Fortgang der Novelle nahe. Mörike tut nämlich alles, u m den Schöpfer des Don Giovanni zugleich als ein Spiegelbild seiner Schöpfung und also D o n Giovanni als »unbewußte Selbstinterpretation Mozarts« auszuweisen. 10 Der Leser hat, anders gesagt, Mozarts »Gartenabenteuer« und die erotischen Abenteuer D o n Giovannis wie auch das künstlerische Wagnis der Oper füglich zusammenzudenken. Dann erst w i r d deutlich, wie die Erzählung den Raum- und Gartenkontext als korrespondierende Sinnebene einsetzt, an der dann allerdings auch abzulesen ist, was nur in den musikalischen Einlagen auskomponiert wird. N i c h t zuletzt aber hat man Mozarts Pomeranzenfrevel natürlich als Musterbeispiel einer künstlerischen Inspiration und Initiation zu durchschauen. Die »musikalische Reminiszenz« (1038), die sich in diesem begünstigten Lebensmoment einstellt, ist aber wiederum der noch unfertigen Oper zugehörig. Es handelt sich, wie der Komponist später bekennt, u m das »Tanzliedchen«, das die Hochzeit Masettos und Zerlinas einleiten soll: »Giovinette, ce fatte all'amore, che fatte all'amore [ . . . ] . « (1051 f.) 1 1 A n dieser Stelle w i r d auch zum ersten M a l sichtbar, wie eng der Dichter das Motivgeflecht von Schloß und Garten mit dem Thema der Hochzeit, der Ehe bzw. der Vorlobung, den Sinnbildern der dauerhaften Liebe also, verknüpft. Freilich - die Zeichen, die Musik und Erzählung auf diese Weise setzen, sind trügerisch. Denn: Die Hochzeit, die das bäuerliche Paar in der Oper zu begehen gewillt ist, kommt erst gar nicht zustande - D o n Giovannis wegen. Dieser platzt in die Festgesellschaft wie ein erotischer Meteorit und macht dem armen Masetto die Braut kurzerhand abspenstig, indem er die betörendsten Mittel einlegt, die die Musikgeschichte zu bieten hat: »La ci darem la mano, / La mi dirai di si«. 1 2 U n d Zerlina kann bekanntlich solchem Schönklang nicht lange widerstreben. 10

Schmidt, Geschichte des Genie-Gedankens , 59. Die Parallelführung Mozarts mit Don Giovanni ist, anders als die vermeintliche Identifizierung Mörikes mit Mozart, in der Forschung häufig übersehen worden. 11 Vgl. die Szene 1/7 (Nr. 5) der Oper: Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni. Libretto von Lorenzo da Ponte. Zweisprachige Ausgabe, bearb. Hermann Levi, hg. Horst Günther (Frankfurt a. M. 1989), 42 f. Erstaunlicherweise ist die Oper, obwohl heimliche >Heldin< der Novelle, selten als Quelle des Textes wirklich ernst genommen worden - vgl. dagegen die mustergültige Interpretation von Hans Joachim Kreutzer, »Die Zeit und der Tod. Uber Eduard Mörikes Mozart-Novelle«, in: H. J. K., Obertöne: Literatur und Musik. Neun Abhandlungen über das Zusammenspiel der Künste (Würzburg 1994), 197-216. 12 Vgl. Sz. 1/9 (Nr. 7), 52 ff.

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N i c h t viel anders aber als sein Bühnenvertreter scheint auch Mozart auf die Schloßgesellschaft zu wirken, die sich - wie könnte es anders sein - zur Feier einer »Verlobung« (derjenigen Eugenies) zusammengefunden hat. Kann man die Freizügigkeit, mit der sich Mozart die Küsse einer weiblichen Schönheit abholt, noch auf das Konto spielerischer, anakreontischer Unverbindlichkeit setzen (vgl. 1058) - mit seiner musikalischen Selbststilisierung w i l l das jedenfalls nicht mehr gelingen. Der Kommentar des Grafen (im übrigen ein Inbild jovialer Beschränktheit) ist auf zwei Bedeutungsebenen zu lesen; hinter einer unscheinbaren Geselligkeitsrhetorik verbirgt sich ein semantischer Doppelsinn: »bester Mozart, Sie säen Unkraut zwischen zwei zärtliche Herzen« (1058) - ein Satz, der aufhorchen lassen sollte. M i t seinen Darbietungen aus Don Giovanni zieht Mozart denn auch just die junge Verlobte in seinen Bann und damit aus der sicheren Mitte der Zuhörerschaft zu sich heraus: das Fräulein [saß] regungslos, wie eine Bildsäule, und in die Sache aufgelöst auf einen solchen Grad, daß sie auch in den kurzen Zwischenräumen, wo sich die Teilnahme der übrigen bescheiden äußerte oder die innere Bewegung sich unwillkürlich mit einem Ausruf der Bewunderung Luft machte, die von dem Bräutigam an sie gerichteten Worte immer nur ungenügend zu erwidern vermochte (1074). Den Untergang D o n Giovannis setzt Eugenie darum auch zielsicher mit dem Untergang Mozarts i n Beziehung: Und wenn nun Don Juan, im ungeheuren Eigenwillen den ewigen Ordnungen trotzend, unter dem wachsenden Andrang der höllischen Mächte ratlos ringt, sich sträubt und windet, und endlich untergeht, noch mit dem vollen Ausdruck der Erhabenheit in jeder Gebärde - wem zitterten nicht Herz und Nieren vor Lust und Angst zugleich? [ . . . ] Wir nehmen wider willen gleichsam Partei für diese blinde Größe und teilen knirschend ihren Schmerz im reißenden Verlauf ihrer Selbstvernichtung (1076 f.). 13 Dieses Schicksalsszenario w i r d in Eugenies vorausschauender Phantasie zugleich auf den Komponisten bezogen, kennt dieser doch, ganz wie der rastlose Erotiker, »[g]enießend oder schaffend, [ . . . ] gleich wenig Maß und Ziel« (1029). Daß ihn, Mozart, weder die Fürsorge seiner Frau Constanze noch das Zivilisationsvorbild der aristokratischen Gefühlskontrolle zu mehr »Rücksicht, es sei nun der Klugkeit oder der Pflicht, der Selbsterhaltung wie der Häuslichkeit« anzuhalten vermögen (ibid.), spricht für sich: 1 4 13 Die Metapher vom »Höllenbrand«, auf Don Giovanni gezielt (vgl. 1072), ist nicht nur hier (vgl. das bereits zitierte Bild der sich selbst verzehrenden »Glut«, 1080), sondern auch im Maler Nohen, dort als Kennzeichnung Theobalds (vgl. Sämtliche Werke, 786 u. 792), aber auch in der Ballade vom Feuerreiter als Künstler-Metapher ausgewiesen. 14 Man beachte, daß Mörike der Sphäre der Seelendiätetik und der Triebdisziplin konsequent die Bildlichkeit des Gartens und der Heirat zuordnet: sei es im Hauptteil der Novelle, sei es in den Erzählungen Constanzes, so von Mozarts vorübergehender haus-

9 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 41. Bd.

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Man war versucht zu glauben, es habe anders nicht in seiner [Mozarts] Macht gestanden, und eine völlig veränderte Ordnung nach unsern Begriffen von dem, was allen Menschen ziemt und frommt, ihm irgendwie gewaltsam aufgedrungen, müßte das wunderbare Wesen geradezu selbst aufgehoben haben. (1032)15 Vorgegeben ist dieser Tenor bereits durch das Motto, das Mörike der Erzählung zuerst vorangestellt, später aber wieder ausgesondert hat. Auch hierin, einem Zitat aus der Mozart-Biographie Oulibicheffs, erscheinen die Wesensprofile Mozarts und D o n Giovannis merklich ineinandergeschoben: Wenn Mozart, statt stets für seine Freunde offene Tafel und Börse zu haben, sich eine wohl verschlossene Sparbüchse gehalten hätte, wenn er mit seinen Vertrauten im Tone eines Predigers auf der Kanzel gesprochen, wenn er nur Wasser getrunken und keiner Frau außer der seinigen den Hof gemacht hätte, so würde er sich besser befunden haben und die Seinigen ebenfalls. Wer zweifelt daran? allein von diesem Philister hätte man wohl keinen Don Juan erwarten dürfen, ein so vortrefflicher Familienvater er auch gewesen wäre. 16 Die enggesteckten Grenzen biedermeierlicher Grundordnung können dem Künstler so wenig genügen wie die absolutistische D o k t r i n dem sexuellen I m petus eines D o n Juan. 1 7 Beide, der Musiker und sein Geschöpf, sprengen die Vorstellung des - mal bürgerlichen, mal höfischen - Decorum , und sie bezahlen beide mit ihrem Leben dafür.

väterlicher >Gartenliebhaberei< (vgl. 1067 u. 1071) oder der Salzfaßepisode (vgl. 1066 ff. u. 1072) - Geschichten, die aus der Hegung des gräflichen Gartens (einem »von einem hohen Rebengeländer zur Hälfte umgebenen Hügel«, 1061) heraus erzählt werden. 15 Zur sinn- und ordnungstiftenden Funktion des Erzählers vgl. v. a. Volkmar Sander, »Zur Rolle des Erzählers in Mörikes Mozart-Novelle«, The German Quarterly, 36 (1963), 120-130. Trotz einer gewissen Exteriorität wird man dem auktorialen Erzähler wohl kaum Unzuverlässigkeit oder gar Fragwürdigkeit unterstellen können, wie es Kreutzer in seiner ansonsten vorzüglichen Studie zu tun scheint (»Die Zeit und der Tod«, 206). Die relativierenden Wertungen des Erzählers gehören, das eben scheint mir das Kunstprinzip Mörikes zu sein, gleichermaßen zur >Sache< wie die musikalische Gloriole Don Giovannis. 16 Zit. nach: Erläuterungen und Dokumente , 69, vgl. auch 55. Der erotischen Attitüde Mozarts (dem der Erzählung) hat auch Wolfgang Wittkowski nachgespürt: »Von der alten schönen Zeit. Eichendorffs Cupido und Mörikes Mozart oder Mörikes Mozart-Novelle, gemessen an Kategorien Eichendorffs«, in: Eichendorff und die Spätromantik , hg. HansGeorg Pott (Paderborn/München/Wien/Zürich 1985), 133-154. 17 In dieser Hinsicht steht Mörikes Erzählung der ursprünglichen Gestalt des Don Juan-Stoffes (Tirso de Molinas El Burlador de Sevilla , y comhidado de piedra, uraufgeführt 1624) näher als derjenigen der Oper. Zum Spannungsverhältnis von höfischer Etikette und adliger Libertinage vgl. Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie (zuerst 1969, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1994) sowie zu den Zusammenhängen bei Tirso (einschließlich der Verfasserfrage) - mit bezeichnendem Titel - Friedrich Dieckmann, Die Geschichte Don Giovannis. Werdegang eines erotischen Anarchisten (Frankfurt a. M. / Leipzig 1991), bes. 78 ff.

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Die Ungebührlichkeit seines Betragens erkennt Mozart, der Garten-Eindringling, denn auch nur zu bald. Er sitzt, wie »weiland Adam, nachdem er den Apfel gekostet«, als »Unseliger« i m »Paradiese« (1039), w i r d jedoch nicht hinausgewiesen, sondern bis in dessen innersten Bezirk, das Schloß, vorgelassen und dortselbst als »Wundermann« (1045) auf das schönste geehrt und beschenkt. Die Tore des Gartens, so scheint es, schließen sich noch einmal u m den Künstler herum - an dessen Schwelle allerdings lauert schon die >ZeitNemesisDein Lachen endet vor der Morgenröte!Erz< vorzustellen hat und daß v. a. Mörike eine derartige Assoziation nahe gelegen haben dürfte, zeigen die Abbildungen, besonders die Zeichnung des Mörikeschen Jugendfreundes Rudolf Lohbauer, die den Komtur in seiner Rüstung zeigt (obwohl das Libretto darüber keinerlei Andeutung macht). Der Gärtner erinnert also nicht nur an den Schloßgärtner in Eichendorffs Taugenichts - vgl. Franz H. Mautner, »Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag« (zuerst 1945), in: Die Werkinterpretation, hg. Horst Enders (2. Aufl., Darmstadt 1978), 349-378, hier 370, Anm. 24.

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Abb. 1: Don Juan am Grabmahl des Komturs. Alabasterrelief (Wien 1789). Aus: Friedrich Dieckmann, Die Geschichte Don Giovannis . Werdegang eines erotischen Anarchisten (Frankfurt a. M . 1991). - Für die Darstellung ist eine Anregung durch die Kirchhofsszene der Oper w o h l vorauszusetzen. Die >Gartenelemente< der Friedhofslandschaft - als Chiffre der zeitgenössischen Imagination dieser Szene - werden hier deutlich.

w o r i n w i r heutzutage freilich des wahrhaft Preisenswerten wenig finden können, und das schon eine unheilvolle Zukunft in sich trug, deren welterschütternder Eintritt dem Zeitpunkt unserer harmlosen Erzählung bereits nicht mehr ferne lag. (1055) D i e Französische R e v o l u t i o n t a u c h t also b e d r o h l i c h a m H o r i z o n t auf, u n d sie w i r d die R e p r ä s e n t a n t e n des A l t e n u n d so a u c h unsere S c h l o ß g e m e i n d e auseinandertreiben, ihre Gärten u n d >Komödienwälder< zerstören bzw. endgültig d e m b ü r g e r l i c h e n Z e i t a l t e r ö f f n e n . 1 9 A u c h v o n h i e r aus legen sich f o l g l i c h die 19

Mozarts Inkommensurabilität mit der Welt seiner Gastgeber haben - nach dem frühen Vorstoß v. Wieses, Die deutsche Novelle, 225 ff. - v. a. Siegbert S. Prawer, »The threatened idyll. Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag«, Modern Languages, 44 (1963), 101 — 107 und Michael Perraudin, »Mozart auf der Reise nach Prag , the French Revolution, and 1848«, Monatshefte für deutschen Unterricht , deutsche Sprache und Literatur, 81 (1989), 4 5 - 6 1 erkannt und betont. D e m Kreis von Schloß und Garten angehörig sind dagegen die Neapolitanische Wasser-Pantomime, das »Tanzliedchen«, das daraus entspringt, sowie die Hochzeitsmotivik (nicht jedoch das Revolutionsthema) des Figaro, der bei Mozarts Eintritt bereits aufgeschlagen auf dem Flügel liegt. Keinesfalls aber spiegeln diese Impressio-

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Abb. 2: Rudolf Lohbauer, Leporello lädt die Statue des Komturs zum Abendessen. Illustration zu Mozarts »Don Giovanni«. Lithographierte Umrißzeichnung (Stuttgart 1828). Aus: Dieckmann, Geschichte Don Giovannis. - Der K o m t u r zeigt sich >gerüstet Gartendämmerung< erscheint w i e d e r u m als G ö t t e r d ä m m e r u n g der I d y l l e n k u n s t u n d der l i t e r a r i s c h e n G e n r e m a lerei, deren A u s h ä n g e s c h i l d die M o z a r t - N o v e l l e z u g l e i c h - u n d z u m l e t z t e n M a l - i s t . 2 0 A u s g e l ö s t u n d b e s c h l e u n i g t aber w e r d e n diese V o r g ä n g e d u r c h die poetische E p i p h a n i e M o z a r t s , des K u n s t g e n i e s s c h l e c h t h i n . Sein E i n t r i t t i n die

nen bereits das >ganze Wesen< Mozarts wider, wie es Eugenie (vgl. 1050) und mancher Interpret gerne hätte (vgl. Holesovsky, »Der Bereich des Schlosses«, 196 f.). 20

M i t »kleine dichterische Gemälde« hat Mörike das Fach der »Idylle« umschrieben (in der Enleitung zu den Übersetzungen aus Theokrit; vgl. Sämtliche Werke, 1346), welche Bestimmung mit der Kennzeichnung der Mozart-Novelle als »kleines Charaktergemälde« auffällig zusammenklingt. Z u >IdylleStillebenGenre< usw. im Biedermeier vgl. Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 2, 743-802. Speziell zu Mörike vgl. Helmut J. Schneider, »Dingwelt und Arkadien. Mörikes Idylle vom Bodensee und sein Anschluß an die bukolische Gattungstradition«, Zeitschrift für deutsche Philologie 97 (Sonderheft 1978), 2 4 - 5 1 .

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Sphäre von Schloß und Garten wie auch in die Regionen der Novelle transzendiert diese auf eine noch unenthüllte Zukunft hin. M i t ihm ist das Menetekel der >Zeit< in die Gärten des Rokoko und - auf der Höhe des Dichters - auch der Romantik und des Biedermeiers eingekehrt. 21 I m künstlichen Arkadien des Grafen Schinzberg hat man nämlich die Störfaktoren des Todes und der Vergänglichkeit bedachtsam ausgeblendet (Abb. 3, 4 u. 5, S. 135 ff.). 2 2 Wiederum mag der Pomeranzenbaum als Beweisstück dienen: Sein konservierter Blütenstand zeigt zuverlässig die Überzeitigung des geschichtlich Vergangenen, des Ancien régime an; die »Sorge, ob denn w o h l auch die Früchte, von denen etliche zuletzt den höchsten Grad der Reife erreicht hatten«, noch am Zweige halten würden, diese Sorge entpuppt sich als eine letzte Überlebensanstrengung der alten Kultur (1055). Der Versuch aber, die Zeitigungswirkung der Geschichte aufzuhalten, ist auf dem Hintergrund der »vergangenen ZukunftJungfräulichkeit< beraubt, dann w i l l damit eine irreversible Überschreitung assoziiert sein, in geschlechtlicher wie in künstlerischer H i n sicht: Die Zweisamkeit zwischen Eugenie und ihrem Verlobten, so darf man ohne spekulativen Aufwand sagen, w i r d nach Mozarts Intermezzo nicht mehr dieselbe sein; D o n Giovanni, gemeint ist die Oper, steht von nun an zwischen ihnen: Eugenien, von welcher vorzugsweise hier die Rede ist, weil sie das unschätzbare Erlebnis [die Aufführung Don Giovannis],

tiefer als alle ergriff, ihr, sollte man denken,

21 Wie die Gartenarchitektur des Rokoko das >ZeitBewegung< dagegen auszugrenzen bemüht ist, hat Alfred Anger demonstriert, vgl. »Landschaftsstil des Rokoko«, Euphorion, 51 (1957), 151-191. Zur >Rokokotradition< Mörikes vgl. Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 3, 724 ff. 22 Vgl. E r w i n Panofsky, »Et in Arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen« (zuerst engl. 1936), in: E. P., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Neuauflage K ö l n 1978), 351 - 3 7 7 . Jene semantische Verschiebung, in deren Folge der Tod als >Subjekt< der Aussage »Et in Arcadia ego« in Vergessenheit gerät und für die die Bilderfolge von Guercino bis hin zu Poussins späterer Bearbeitung des Themas signifikant ist, w i r d von Mörike gleichsam nachgebildet und in einen Vekennungs- und Verschuldungszusammenhang übersetzt. Zur Anwendung dieser Kategorien auf Fragestellungen der Literaturwissenschaft vgl. Bernhard Buschendorf, Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der »Wahlverwandtschaften« (Frankfurt a. M . 1986), bes. 108ff. (Die Mörike ja bestens vertrauten Wahlverwandtschaften, ein wesentlicher Inspirationsquell bereits des Nohen, könnten durchaus auch der skeptischen Gartenbehandlung der Mozart-Novelle zum Vorbild gedient haben.) 23

Vgl. Gerhard Storz' - in der Forschung nicht unwidersprochene - Pointierung: Eduard Mörike (Stuttgart 1967), 34.

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Abb. 3: Francesco Barbieri, genannt Guercino, Et in Arcadia Ego (zwischen 1621 und 1623, Rom, Galleria Nazionale d'Arte Antica). Aus: Luigi Salerno, I Dipinti del Guercino (Rom 1988). - Charakteristisch für die Uberspielung des Todesgedankens i m Landschaftsgarten ist die allmähliche, von Guercino hin zu Poussin führende Verdrängung der Todesrequisiten aus der Bildpräsenz.

konnte nichts fehlen, nichts genommen oder getrübt sein; ihr reines Glück in dem wahrhaft geliebten Mann, das erst soeben seine förmliche Bestätigung erhielt, mußte alles andre verschlingen, vielmehr, das Edelste und Schönste, wovon ihr Herz bewegt sein konnte, mußte sich notwendig mit jener seligen Fülle in eines verschmelzen. So wäre es auch w o h l gekommen, hätte sie gestern und heute der bloßen Gegenwart, jetzt nur dem reinen Nachgenuß derselben leben können. Allein am Abend schon, bei den Erzählungen der Frau, war sie von leiser Furcht für ihn, an dessen liebenswertem Bild sie sich ergötzte, geheim beschlichen worden; diese Ahnung wirkte nachher, die ganze Zeit als Mozart spielte, hinter allem unsäglichen Reiz, durch alle das geheimnisvolle Grauen der Musik hindurch, i m Grund ihres Bewußtseins fort [ . . . ] . (1080)

Der Garten, in dem sich Eugenie in der Illusion der Zeitlosigkeit und der Dauerhaftigkeit ihres Liebesglücks gefallen hatte, 2 4 er ist entmystifiziert und

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Abb. 4: Nicolas Poussin, Et in Arcadia Ego (um 1630, Paris, Louvre)

ausgenüchtert w o r d e n z u r ebenso schauerlichen w i e m u s i k a l i s c h faszinierend e n W i r k l i c h k e i t des Todesgartens: ü b e r d e n g r ü n e n F i r n i s hat sich die Silh o u e t t e der » K i r c h h o f s z e n e « des Don

Giovanni

gelegt (1075), die d e n » U n t e r -

gang des H e l d e n « i n der O p e r m o t i v i s c h p r ä f i g u r i e r t . D e r T o d hat sein » E t i n A r c a d i a ego« g e s p r o c h e n , 2 5 u n d es g i l t s o w o h l D o n J u a n w i e Eugenie, M o z a r t 24 Auch »Lorbeer« und »Myrte«, zu zierlichen Bäumchen bzw. zu spielerischen Metaphern zurechtgestutzt (vgl. 1053 u. 1056), zeigen den Zusammenhang anakreontischer D o mestikation an: Der ihnen einwohnende mythologische Geist sexueller Gewaltsamkeit (Apolls gegen Daphne bzw. der Satyrn gegen Aphrodite) ist durch eine unverdächtige Liebes- und Hochzeitssymbolik übertüncht worden. 25 Z u diesem Fazit gelangt auch - allerdings auf anderen Wegen - Kreutzer, »Die Zeit und der Tod«, 203 u. 216. Vgl. auch die perspektivenreiche Deutung von Wolfgang Braungart, »Eduard Mörike. Mozart auf der Reise nach Prag. Ökonomie - Melancholie - Auslegung und Gespräch«, in: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahr-

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w i e M ö r i k e , der R o k o k o k u n s t der Schloßgesellschaft w i e der des Biedermeier. D i e N a m e n H a g e d o r n s , G ö t z ' u n d anderer, die N a m e n der l i t e r a r i s c h e n A n a k r e o n t i k (vgl. 1042), s i n d z u m l e t z t e n M a l i n die S t ä m m e der B ä u m e geschnitt e n w o r d e n ; 2 6 »die reine S c h ö n h e i t « hat sich ebenfalls z u m l e t z t e n M a l , w i e es ü b e r M o z a r t s Figaro-MusWt

h e i ß t , » f r e i w i l l i g i n d e n D i e n s t der Eleganz« bege-

b e n (1044).

Abb. 5: Poussin, Et in Arcadia Ego (1640-45 / 1655, Chatsworth, Devonshire Collection). Aus: Treasurers from Chatsworth (1979-80).

hunderts, Bd. 2 (Stuttgart 1990), 133-202, hier 167 f., die sich in mancher Hinsicht mit den hier vorgetragenen Überlegungen berührt und sie bestätigt. Braungarts These von der »Geselligkeits-Utopie« der Mozart-Erzählung jedoch leuchtet, trotz aller Einschränkungen, die der Interpret geltend macht, letztlich nicht ein (vgl. 199 u.ö.). 26

Vgl. auch Mörikes Gedichte An eine Lieblingsbuche meines Gartens in deren Stamm ich Höltys Namen schnitt (Sämtliche Werke, 76 f.) und Die schöne Buche (74 f.). V. a. letzteres w i r d immer wieder als Beleg für Mörikes (und sei es auch >programmatischeUtopiaAbschiedZeit< und des >Schicksals< in Eduard Mörikes Maler Nölten« (zuerst 1956), in: Eduard Mörike , hg. Victor G. Doerksen (Darmstadt 1975), 129-160, der freilich hinsichtlich des »phantasmagorischen Zwischenspiels« zu anderen Ergebnissen kommt. Tarraba sieht hier eine »Erlösung von der Zeit< gestaltet (147), nicht also ein »Erlösung durch die ZeitZeitAufblitzen< ist auch die Erzählung selbst: 30 Die Zeichen der Natur und des Gartens sind zugleich zu Zeichen der Vergänglichkeit des Menschen geworden, »Wald«, »Garten« und »Wiese« münden ein in eine Teleologie des »Grabes«, so jedoch, daß der Augenblick des Hier und Jetzt, der poetischen Gegenwart noch einmal hell illuminiert erscheint. Man kann Gedicht und Novelle wie ein >emblematisches< Sinnbild lesen: mit den erzählten Gartenszenen als >picturainscriptio< und dem lyrischen Finale als einer >subscriptiosubscriptio< nicht ohne die >picturaReise< nur i m Standbild und Moratorium der Rast darbietet. Mörikes Gartendichtung ist entschieden eine solche der >ModerneVerzeitlichungBlitzens< und >Blinkens< vgl. auch An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang, in: Sämtliche Werke, 10 und Erinna an Sappho, 86. 31 Die Emblem-Struktur der biedermeierlichen >Bilder< und >Skizzen< betont etwa Sengle, Biedermeierzeit, 792 f. Allgemein zum Thema vgl. Albrecht Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock (zuerst 1964, 2. Aufl., München 1968). Erst recht gilt natürlich für Mörike, was Schöne schon für das Barock glaubte konstatieren zu können: »Diese emblematische Verweisungs-, Entsprechungs- und Lebenslehre ist w o h l nicht mehr Zeugnis eines unangefochtenen Vertrauens in die kosmische Ordnung, sondern eher ein Ausdruck des menschlichen Versuchs am Beginn der Neuzeit, sich zu behaupten gegen eine undurchschaubar werdende, chaotische Welt« (50). 32 Mörikes Begriff des >Augenblicks< w i r d in der Forschung kontrovers diskutiert (mal mit, mal gegen Goethe) - vgl. Werner Kohlschmidt, »Wehmut, Erninnerung, Sehnsucht in Mörikes Gedicht. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des romantischen Zeitbewußtseins«, Wirkendes Wort., 1 (1950/51), 229-238, bes. 232f. u. 237; A d o l f Beck, »Mörikes Gedicht An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang. M i t einem Anhang über die Gedichte Nachts und An eine Äolsharfe«, Euphorion, 46 (1952), 370-393; Tarraba, »Eduard Mörike: Denk es, o Seele!«, in: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen. Von der Spätromantik bis zur Gegenwart, hg. Benno von Wiese (Düsseldorf 1956), 9 1 - 9 7 . 33

Vgl. die umsichtigen Darlegungen von Heinz-Dieter Weber, »Die Verzeitlichung der Natur i m 18. Jahrhundert«, in: Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, hg. H . - D . W.

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Johannes Endres

I n der » L a u b e b e i m B r u n n e n « , i n der M o z a r t seine m u s i k a l i s c h e V i s i o n e m p fängt (1051), fließen die L i n i e n der E r z ä h l u n g m i t der L e b e n s - u n d L i e b e s geschichte des D i c h t e r s z u s a m m e n . U n v e r k e n n b a r v e r d a n k t der Schauplatz sein K o l o r i t e i n e m a u t o b i o g r a p h i s c h e n G a r t e n t h e m a M ö r i k e s . V o n der E x k u r s i o n z u einer »Taxisschen B e s i t z u n g « b e r i c h t e t er seiner B r a u t L u i s e R a u b r i e f lich w i e folgt: Vor dem Abendessen spazierten w i r noch in den Garten. Man kann sich eigentlich darin verirren: Der eine Theil ist englisch, der andere i m altfranzösischen Geschmack, alles aufs reinlichste vom Gärtner unterhalten. [ . . . ] ; ich stahl mich bald bey Seite, um in den Schauern dieser fürstlichen Einsamkeit zwischen hohen Tannen und blühendem Jasmin der Muse wieder zu begegnen, der ich vor dreyen Jahren auf demselben Platz ein klein Sonett [ . . . ] verdankt hatte; doch forderte ich ihr diesmal nichts ab. [ . . . ] Wie weckte dies alles die Sehnsucht nach D i r ! - I n einigen Bosquetts erging ich mich w o h l eine halbe Stunde ganz mit den Empfindungen eines Parisers aus dem Zeitalter Ludwigs des X I V ; da sind die dichten Laubwände glatt nach dem Scheerenschnitt gewachsen und man geht wie durch lauter saubere Gemächer die in höchster Symmetrie einander correspondiren. Dazwischen sind Blumenrondels, aus denen ich beiliegendes Blättchen mit dem lebhaftesten Gedanken an die Geliebte pflückte; es muß noch duften wenn es zu D i r k o m m t . 3 4 Statt der P o m e r a n z e also e i n B l u m e n b l ä t t c h e n , statt d e r m u s i k a l i s c h e n A d h o c - I n s p i r a t i o n f r e i l i c h a u c h das S c h w e i g e n der D i c h t e r m u s e (es sei d e n n , m a n w i l l die M o z a r t - N o v e l l e f ü r e i n späteres P r o d u k t dieser L e b e n s s t u n d e n e h m e n ) . 3 5 A b e r a u c h das V e r l o b u n g s m o t i v der E r z ä h l u n g begegnet uns i n M ö r i kes B r i e f w i e d e r , d e r T e i l der sogenannten >Brautbriefe< an die D i c h t e r g e l i e b t e ist, einer K o r r e s p o n d e n z , i n der das G a r t e n t h e m a auffallend h ä u f i g angeschla-

(Konstanz 1988), 9 7 - 1 3 1 (ohne Erwähnung Mörikes). Wie der »Ausschnitt« auf das »Ganze«, oder anders gesagt: die »Repräsentation des Raumes< auf einen anders nicht darstellbaren >Zeit-Sinn< verweisen kann, hat Wolfgang Frühwald vorgeführt: »Fremde und Vertrautheit. Z u m Naturverständnis in der deutschsprachigen Literatur seit dem 18. Jahrhundert«, in: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700-1848). Festschrift für Wolfgang Martens, , hg. W. F. und Alberto Martino (Tübingen 1989), 451-463, bes. 454f. (am Beispiel Eichendorffs). 34 A n Luise Rau, 17. Juli 1831, in: Werke und Briefe , 208 f. Der >Stilpluralismus< der Mörikeschen Gärten (auch der dichterischen) unterstreicht zudem, daß die »Gartenstilkontroverse, die von der Dichtung des 18. Jahrhunderts wesentliche Impulse erhielt, [ . . . ] für die Literatur des bürgerlichen Zeitalters nahezu bedeutungslos geworden« ist (Weber, Der literarische Garten , 318). 35 Zur hinlänglich bekannten musikalischen Inspirationsgeschichte der Novelle - und zum M o t i v der »NOLIMETANGERE-Vergangenheit« - vgl. Mörikes Brief an Hartlaub vom 20. März 1843 und die klassische Interpretation von Raymond Immerwahr, »Apokalyptische Posaunen: Die Entstehungsgeschichte von Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag« (zuerst 1955), in: Eduard Mörike , 399-425 (auch hier spielt das Thema der >reißenden< bzw. der atmosphärisch angehaltenen >Zeit< eine zentrale Rolle).

I m Garten der Zeit

141

gen w i r d . 3 6 Was für Mozart der Garten des Grafen von Schinzberg, das ist für den schwäbischen Vikar M ö r i k e allerdings die Kleinwelt des Pfarrgartens (Abb. 6 u. 7, S. 142). I n ihr hat sich der Dichter gezielt eine Gegenfiktion der Häuslichkeit u n d Sittlichkeit, der Überschaubarkeit u n d Solidität geschaffen, die gegen die großen Stürme abgeschirmt bleiben soll, Stürme, die M ö r i k e vor allem in der verstörenden Liebe zu Maria Meyer kennengelernt hatte. 3 7

Abb. 6: Mörike, Kirche und Pfarrhaus in Ochsenwang. Federzeichnung. Aus: Hans Egon Holthusen, Eduard Mörike (Reinbek bei Hamburg 1991). - Zu beachten ist hier und in den beiden folgenden Zeichnungen die starke bildräumliche Betonung der Abgegrenztheit und der nützlichen Domestikation der Gartennatur durch Mörike.

D i e >ZigeunerinSchlupfwinkel K i r c h hofsKirchhofs< a n . 4 1 A u c h die k u n s t v o l l s t e n Versuche, sich dieser K o n s t e l l a t i o n z u entschlagen, s i n d z u m Scheitern v e r u r t e i l t . I n d e r M o z a r t - N o v e l l e aber hat M ö r i k e diesen Z u s a m m e n h ä n g e n e i n ebenso diskretes w i e entschiedenes M o n i t u m n a c h g e r u f e n . 4 2

39 Zit. w i r d nach der Übersetzung Friedrich Hölderlins, Sämtliche Werke. garter Ausgabe, hg. Friedrich Beißner, (Stuttgart 1952), Bd. 5, 325.

Große Stutt-

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Mörike hat (dies nur am Rande) die Verlobung mit Luise Rau nach vier Jahren wieder gelöst, mit seiner späteren Frau, Margarethe Speeth, hat er sich, nach langer Trennung, erst auf dem Sterbebett versöhnt. 41 Vgl. Maler Nolten , 644 und 668; zum Gartenmotiv vgl. bes. 495 ff. (»Orangerie«), 763 ff. (»altfranzösische Gartenkunst«): stets handelt es sich auch hier um »Wundergärten der Einbildungskraft« (768), die nach dem Prinzip der »Zaubertapete« funktionieren (645 f.) und vom Einbruch der >Zeit< wieder hinweggerissen werden. 42

Die von den Thesen Joachim Ritters beherrschte >LandschaftsVergegenwärtigung< der Natur geht es da gerade nicht mehr, w o die Gegenwart i m Zuge der >Historisierung der Zeit< ihrerseits eine problematische Kategorie geworden ist - vgl. Joachim Ritter, »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft« (zuerst 1963), in: J. R., Subjektivität. 6 Aufsätze (Frankfurt a. M . 1989), 141 - 1 6 3 , 172-190; außerdem Rainer Piepmeier, »Landschaft: Der ästhetisch-philosophische Begriff«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie , hg. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, (Basel / Stuttgart 1980), Bd. 5, Sp. 15-28.

Le mythe de Pygmalion et le concept de la »création« littéraire ou artistique dans Mademoiselle de Maupin de Gautier Par Volker Kapp

La créativité passait pendant la première moitié de notre siècle pour un concept qui désigne le don spécifique par lequel quelqu'un devient poète, romancier, peintre ou sculpteur. Elle correspondait à peu près à ce que le langage d'autrefois appelait le génie d'un homme. La remise en valeur de la rhétorique traditionnelle a entraîné une révision de ce concept au moment où elle a opposé l'esthétique humaniste à l'esthétique consacrée par le romantisme. L'esthétique humaniste met le génie (ingenium) y le tempérament naturel qui détermine le choix des modèles et des procédés nécessaires à la composition de l'œuvre, en corrélation avec le jugement (iudicium ), la faculté de rattacher cette nouvelle œuvre au modèle imité et de l'examiner grâce aux connaissances acquises par le commerce assidu des litterae , des textes consacrés par la tradition. La nouvelle esthétique qui s'impose avec le romantisme utilise le terme de création dans un sens métonymique qui renvoie au mythe de la création du monde par Dieu tel qu'il est raconté dans l'Ancien Testament. L'utilisation métonymique du terme théologique de création nécessite une réflexion approfondie sur le statut que possèdent les œuvres produites par l'imagination humaine. Le concept esthétique de création modifie celui de l'imitation en accentuant l'imitation de la nature au dépens des relations intertextuelles. La ressemblance de ce qui est imaginé par le poète, le romancier, le peintre ou le sculpteur avec la réalité devient un problème crucial dès qu'elle est censée établir un rapport direct entre imagination et nature. La doctrine esthétique tend à occulter la part que les modalités imposées à la réalité par et dans les œuvres déjà existantes jouent dans la fabrication de l'œuvre nouvelle. Le mythe de Pygmalion se prête particulièrement à la réduction de cette problématique en un symbolisme dans lequel on peut projeter les préoccupations des artisans de l'esthétique de la création. Rien d'étonnant dès lors qu'il fascine les auteurs qui participent au débat sur cette nouvelle esthétique tant au X V I I I e qu'au X I X e siècle. Nous n'avons pas l'ambition d'esquisser ici l'ampleur du débat sur ce sujet 1 1

Voir Hermann Schlüter, Das Pygmalion-Symbol bei Rousseau, Hamann, Schiller (Zürich 1968) et Hans Sckommodau, Pygmalion bei Franzosen und Deutschen im 18. Jahr10 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 41. Bd.

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Volker Kapp

mais nous voudrions simplement attirer l'attention sur la complexité que le mythe de Pygmalion acquiert dans l'esthétique romantique, spécialement chez Théophile Gautier. Gautier se réfère à plusieurs reprises au mythe de Pygmalion. I l aborde les problèmes de l'esthétique quand il écrit dans son roman Mademoiselle de Maupin: » [ . . . ] i l y a quelque chose de grand et de beau à aimer une statue, c'est que l'amour est parfaitement désintéressé, qu'on n'a à craindre ni la satiété ni le dégoût de la victoire, et qu'on ne peut espérer raisonnablement un second prodige pareil à l'histoire de Pygmalion.« 2 Ces lignes sont attribuées par l'auteur à d ' A l bert, le protagoniste de son roman, qui pense expliquer son désir amoureux par un recours au mythe raconté par les Métamorphoses d'Ovide. Ce mythe a préoccupé Gautier à un tel point que Ross Chambers parle du »complexe de Pygmalion«. 3 Nous voudrions aborder la problématique traitée par Chambers dans une perspective un peu différente en opposant les spéculations de Gautier sur la statue en tant que symbole de la femme aux réflexions des philosophes du siècle précédent sur la statue en tant que symbole de l'être humain. Les auteurs du X I X e siècle ont hérité du siècle des Lumières une prédilection pour le mythe de Pygmalion qui est entré en faveur chez les philosophes lorsqu'ils cherchent à décrire l'organisation du corps humain et de ses perceptions. Fontenelle avait encore considéré ce mythe comme une folie. Sa comédie Pigmalion, prince de Tyr (1690-1695) développe une action où l'Amour, l ' H y m e née et la Gloire vont chez la Folie qui promet de les venger du refus de Pigmalion de se soumettre à eux. La Folie appelle ce mythe »la plus grotesque invention«. 4 La dépréciation du mythe par Fontenelle est corrigée en 1762 par Rousseau dont la scène lyrique Pygmalion représente le sculpteur au moment où il s'angoisse du manque de qualité esthétique de son ouvrage et découvre que sa sculpture s'est animée. Rousseau ne taxe plus de chimérique l'idée qu'une statue de femme, grâce à sa parfaite beauté, se métamorphose de pierre en chair. I l juge tout au contraire vraisemblable qu'une œuvre d'art parfaite ressemble à la nature et passe par conséquent de la matière inanimée à la vie. Aussi met-il en scène les hésitations de Pygmalion jusqu'à ce qu'il ait acquis la certitude de son coup de génie. hundert (Wiesbaden 1970) et Annegret Dinter, Der Pygmalion-Stoff Literatur. Rezeption einer Ovid-Fabel (Heidelberg 1979).

in der europäischen

2 Théophile Gautier, Mademoiselle de Maupin, éd. par Adolphe Boschot (Paris 1966), ici p. 140. 3 Dans son article »Gautier et le complexe de Pygmalion«, dans Revue d yhistoire littéraire de la France, 72 (1972), pp. 641-658. 4

Fontenelle, Œuvres complètes , t. I V Théâtre (Paris 1992), p. 350.

Le mythe de Pygmalion

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L'invention que Fontenelle appelait grotesque passe dans la pièce de Rousseau pour ingénieuse et les points d'accusation contre le mythe servent chez lui de prétextes pour illustrer l'insuffisance de la réflexion critique sur l'art par rapport à l'émotion de l'artiste créateur. Pygmalion voudrait lever le voile, qui cache son œuvre, et avoue éprouver: »Je ne sais quelle émotion [ . . . ] en touchant ce voile; une frayeur me saisit; je crois toucher au sanctuaire de quelque Divinité.« 5 Le frisson qui le saisit vient de l'approche du divin, attribut qui désigne tant le point culminant de l'œuvre d'art la plus parfaite que la qualité de démiurge dont le sculpteur fait preuve. Rousseau imagine donc une version du mythe où l'amour du beau saisit l'artiste et lui inspire un chef-d'œuvre grâce auquel il se dépasse et investit tout son être dans la femme qu'il se crée. Cette femme le transforme en »homme à visions« (ibid., p. 1230) et lui procure une »extase« (ibid.) par laquelle il s'épanouit dans la soumission à l'objet aimé. Aussi la pièce se termine-t-elle par la promesse d'un avenir meilleur dû à un acte de soumission: »Je ne vivrai plus que par toi.« (ibid., p. 1231) L'amour du beau permet d'accéder à une surabondance qui symbolise l'assouvissement du désir humain de surmonter ses imperfections par l'amour d'une femme. Rousseau interprète le mythe de Pygmalion à la lumière de la doctrine d'amour dans le Banquet de Platon. Son Pygmalion s'ingénie à pouvoir créer une sculpture de femme où les perfections divines de l'art incarnent en même temps les aspirations les plus éminentes de l'être humain. Tout se passe comme si les désirs terrestres coïncidaient avec les promesses célestes. Le don de soi le plus complet possible permettrait alors de se récupérer soi-même à un niveau supérieur dès qu'on vit dans l'autre. L'union de l'homme et de la femme produit l'homme complet qui n'a plus besoin de cette autre moitié qui, selon le mythe d'androgyne du Banquet, fut perdue à l'origine et cherchée depuis. La scène lyrique Pygmalion est toute imbue des mythes de Platon et elle serait une parabole symbolique des deux grands mythes racontés dans ce dialogue du philosophe d'Athènes si la femme sculptée par Pygmalion ne portait le nom de Galathée. Ce personnage de la mythologie représente évidemment la beauté féminine, mais elle reste dans cette pièce un personnage sans contours précis. Elle ne dit que: »Moi.« (ibid., p. 1230), puis: »C'est moi.« (ibid.) et finalement avec un soupir: »Ah! Encore moi.« (ibid., p. 1231) La suite de ces trois interventions reflète bien l'accès de la statue à la vie, mais elle ne nous apprend rien sur les sentiments de la sculpture et sur ses rapports possibles avec le sculpteur. 6 Le 5 Rousseau, Œuvres complètes, t. I I , éd. publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond (Paris 1964), p. 1226. 6 »Le dernier dialogue entre Galathée et Pygmalion répète la situation du passage central où Pygmalion recule devant une identification absolue avec la forme la plus généralisée du moi.« (Paul de Man, Allégories de la lecture [Paris 1989], p. 227) Voir également Jean Starobinski, Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l yobstacle y suivi de sept essais sur

10*

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problème de la Galathée dans la mythologie, à savoir la convoitise de l'homme qui désire la femme, n'affleure donc d'aucune manière. L'émerveillement du sculpteur couronné de succès obscurcit la vie intérieure de sa bien-aimée et fait oublier par là l'élément par lequel la lecture du mythe de Pygmalion à la lumière des mythes du Banquet de Platon pouvait descendre de l'univers des idées platoniciennes sur la terre et concerner la sexualité de l'homme. Rousseau fait semblant de rattacher la doctrine esthétique à l'expérience sexuelle de l'être humain, mais il s'arrête au seuil du domaine à explorer sans y entrer. La femme créée par le sculpteur devient un être vivant, mais elle ne s'incarne pas dans la chair. Pygmalion donne vie à une statue confinée dans le ciel des idées platoniciennes où elle devient la Muse du sculpteur. L'idée qui imprègne l'oeuvre et lui donne sa forme est en même temps le guide secret de l'artiste. Elle est à la fois la Muse qui l'inspire et la partie de lui-même qui garantit sa créativité. L'altérité de l'inspiration s'affirme dans l'altérité de l'œuvre, mais elle présuppose l'identité du créateur qui affirme sa créativité dans l'œuvre projetée et qui la reconnaît dans l'œuvre achevée. La création littéraire ou artistique se révèle ainsi comme une possibilité d'accéder à la réalité et de vivre sa vie. Rousseau explique le mythe de Pygmalion dans la perspective du merveilleux que la théorie esthétique discute, dès le X V I I e siècle, par rapport à la concurrence entre les beaux arts et la littérature. Comme les poètes briguent la gloire de produire des peintures parlantes, ainsi les peintres et les sculpteurs misent sur la muta eloquentia, la force expressive de leur représentation du réel. La matière n'évoque pas seulement l'image du réel, elle obtient également le privilège d'entrer en concurrence avec la poésie, car les personnages représentés en peinture et les sculptures commencent à parler. 7 Dans la discussion de ce problème on se penche alors sur la question de savoir si l'amour d'une statue permet d'accéder à l'univers des idées platoniciennes ou s'il se révèle illusoire. Carlo Gozzi plaide pour cette dernière solution dans la fiaba teatrale intitulée UAugellino belverde (1765). Renzo, fils de roi qui ignore sa descendance et son identité véritable, est puni de son adhésion à la philosophie des Lumières et à l'idéologie bourgeoise. Par un effet magique, il tombe amoureux d'une statue de femme et tombe dans l'illusion de pouvoir réaliser ses rêves par l'union charnelle avec une sculpture de pierre. La parabole théâtrale ne se contente pourtant pas d'une critique des philosophes, mais elle s'efforce de montrer une autre solution. Le charme dont Renzo est victime a la fonction de lui apprendre

Rousseau (Paris 1971); et Rainer Warning, »Rousseaus Pygmalion als Szenario des Imaginären«, dans Pygmalion . Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, ; ed. par Mathias Mayer et Gerhard Neumann (Freiburg 1997), pp. 225-252. 7 Voir notre article »Vom Bild als Vergegenwärtigung zum Bild als Simulation und Verrätselung der Welt«, dans Bilderwelten als Vergegenwärtigung und Verrätselung der Welt , ed. par Volker Kapp, H e l m u t h Kiesel, Klaus Lubbers (Berlin 1997), pp. 9 - 2 9 .

Le mythe de Pygmalion

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l'amour désintéressé, le seul qui permet d'accéder à la vérité. La beauté reste illusoire tant qu'elle ne se combine avec la bonté. L'esthétique et l'éthique vont ensemble. Le domaine de la beauté comporte aux yeux de Gozzi la chance de se surmonter par l'enthousiasme et d'accéder à la sphère de l'authenticité. L'amour généreux peut être inspiré par une oeuvre d'art parce que l'art possède une dimension divine et procure une expérience de la grâce désintéressée. Tant chez Rousseau que chez Gozzi le mythe de Pygmalion véhicule un dépassement des limites du moi et par conséquent un processus d'exploration du monde grâce à l'amour de la femme et de l'œuvre d'art qui la représente. Les deux auteurs mettent le plan idéal et spirituel de l'art au-dessus du plan réel et charnel de la femme vivante. Théophile Gautier aborde cette thématique dans une direction tout à fait opposée. I l provoque le lecteur en faisant affirmer par son protagoniste: »J'ai pour les femmes le regard d'un sculpteur et non celui d'un amant.« 8 D ' A l b e r t s'en tient à l'extérieur de la femme et n'admet pas que l'amour le rende aveugle. I l ne s'élève pas jusqu'au ciel des idées platoniciennes parce qu'il préfère le plan matériel à celui des idées. Aussi affirme-t-il: » [ . . . ] j'aime à toucher du doigt ce que j'ai vu et à poursuivre la rondeur des contours jusque dans ses replis les plus fuyants.« (ibid., p. 191) Est-ce que cet énoncé contredit l'interprétation qui voudrait faire entrer l'action du roman dans le cadre du mythe de Pygmalion? Nous ne le pensons pas. D ' A l b e r t traite l'amour comme une métonymie quand i l prétend: »J'ai regardé l'amour à la lumière antique et comme un morceau de sculpture plus ou moins parfait.« (ibid., p. 191) L'amour désigne ici la femme aimée, car le développement devient ensuite plus concret lorsque le personnage change de registre et commence un jeu de questions et de réponses. I l passe d'un membre du corps féminin à l'autre en portant un jugement esthétique sur sa forme: Comment est le bras? Assez bien. - Les mains ne manquent pas de délicatesse. - Que pensez-vous de ce pied? Je pense que la cheville n'a pas de noblesse, et que le talon est commun. Mais la gorge est bien placée et d'une bonne forme, la ligne serpentine est assez ondoyante, les épaules sont grasses et d'un beau caractère, (ibid., p. 191)

L'homme affiche ici l'attitude du connaisseur d'art qui dissèque le corps de la femme en l'analysant comme si elle était une sculpture et non pas un être vivant. Le protagoniste ne prétend pas avoir créé cette sculpture, il se contente du plaisir qu'elle lui procure et pourchasse sa jouissance. Le mythe de Pygmalion se présente dans Mademoiselle de Maupin comme une parabole de l'érotisme masculin. Cette interprétation du mythe se charge d'une haute valeur polémique contre l'esprit de renoncement et propage une mise en évidence du plaisir sexuel. Cet état d'esprit s'annonce dès le deuxième Gautier, Mademoiselle de Maupin, p. 1 9 .

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chapitre du roman où Gautier fait dialoguer d'Albert avec un »fin connaisseur en femmes« 9 qui l'initie aux ruses féminines, aux déguisements et à la dissimulation. Les descriptions cyniques de ce chapitre ont leur écho dans le récit désabusé que d'Albert donne, au troisième chapitre, de sa liaison avec Rosette. Cette partie du texte pourrait figurer dans un roman libertin du siècle des L u mières. Quelle est sa fonction à l'intérieur du texte? Est-ce une reprise de la provocation des bien pensants bourgeois qui font essentiellement les frais de la virulente polémique à laquelle se livre l'auteur dans la célèbre préface du roman? Une telle unité d'intention ne peut pas être exclue, mais elle ne représente certainement pas le but exclusif ou primordial des deux chapitres. Leur thématique s'intègre dans le projet de faire descendre le mythe de Pygmalion du ciel des idées désincarnées d'un idéalisme moralisateur. Gautier prend - plutôt inconsciemment qu'intentionnellement - le contre-pied de Rousseau. Sa lecture du mythe se distancie de la lecture idéalisante aussi clairement que la préface du roman repousse l'utilitarisme bourgeois. 10 L'érotisme, que les personnages principaux du roman cultivent, sert d'antidote contre les tentations d'idéalisme dans l'explication du mythe. I l frôle le mythe de D o n Juan. Tout se passe comme si Gautier voulait reconstruire la jeunesse de D o n Juan, c'est-à-dire focaliser le début du roman sur l'insatisfaction du protagoniste et sur son espérance de fuir cet état d'âme par la conquête de femmes. Les premiers chapitres passent en revue les thèmes chers au libertinage des mœurs, mais les obsessions sexuelles du protagoniste semblent diverger de ses préoccupations esthétiques. D ' A l b e r t est tiraillé entre l'introspection qui cultive le vague des passions à la manière des héros de Chateaubriand et la recherche du plaisir sexuel. Sa sensibilité pourrait relever, à cette étape de l'intrigue, autant du cliché romantique que du libertinage. O n s'imagine mal que l'érotisme et l'esthétique s'intégreront et se commenteront mutuellement au cours des chapitres pour aboutir à une interprétation nouvelle du mythe de Pygmalion. L'évocation des clichés du roman libertin s'accorde pourtant bien avec l'intégration du mythe de Pygmalion dans un programme philosophique d'éducation esthétique de l'homme. Si Gautier se détourne délibérément du moralisme avec lequel Rousseau avait confiné ce mythe dans le ciel des idées, son projet n'est pas moins ambitieux tant du point de vue philosophique que du point de vue 9 10

La morte amoureuse , dans Théophile Gautier, Nouvelles (Paris / Genève 1979), p. 261.

O n pourrait alléguer ici l'exemple de Flaubert qui polémique également contre la pensée des Lumières quand i l ridiculise l'apothicaire Homais dans Madame Bovary. U l rich Schulz-Buschhaus a analysé cet aspect du roman avec beaucoup de finesse {Flaubert Die Rhetorik des Schweigens und die Poetik des Zitats [Münster 1995], pp. 12-25). L'attitude de Gautier s'apparente à celle de Flaubert parce qu'il rejette également la réception des philosophes par la bourgeoisie de son époque.

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Le mythe de Pygmalion

esthétique. Les beaux sentiments lui importent peu par rapport à la chair qui incarne à ses yeux la source de toute jouissance véritable, qu'elle soit sexuelle ou esthétique. L'idéalisme cède à un certain matérialisme, qui ne représente pourtant que le corollaire d'un autre type d'esthétisme. S'il fait descendre sur la terre la femme créée par le démiurge humain, c'est afin de pouvoir circonscrire les conditions sous lesquelles une union des deux parties de l'homme complet peut se réaliser et procurer le bonheur, l'homme complet, qui, selon le mythe d'androgyne raconté par Platon dans le Banquet, existait avant la division en une partie masculine et une partie féminine. 1 1 Le mythe de l'androgyne ne tient pas une place moins importante dans le roman que le mythe de Pygmalion. Pierre A l b o u y y voit à l'oeuvre tout un ensemble d'influences, qui imprègnent l'esthétique de Gautier et conditionnent sa lecture de mythes; Winckelmann est lu dans la perspective de Victor Cousin, »lequel combinait lui-même Kant et Platon«. La pensée platonicienne joue un plus grand rôle qu'Albouy ne le soupçonne. Ce critique constate également la combinaison de l'esthétisme avec l'érotisme et se heurte à la contradiction »entre la doctrine qui situe le Beau dans l'Idéal et une esthétique qui se proclame >païennedetail< der Parfümerie zur großangelegten Produktion [ . . . ] überzugehen und sich zugleich in der Spekulation u m Boden und Bauten zu versuchen«. 5 Sein Scheitern wäre demnach als Tragödie eines am Fortschreiten der kapitalistischen Gesellschaft zerbrechenden Menschen zu lesen. I m Roman scheinen nur noch zwei Klassen in der Lage zu sein, den verschärften Konkurrenzkampf in der sich immer weiter ausdifferenzierenden Ökonomie erfolgreich zu bestehen: das Bankkapital und das Industriekapital. Als zukunftsfähig stellen sich, in Ubereinstimmung mit der Entwicklungstendenz des modernen Industriekapitalismus, nur die an Popinot übertragene industrielle Konsumwarenproduktion und das kapitalistische Bankwesen heraus: N u r Popinot gelingt es, du Tillet eine empfindliche Niederlage beizubringen (295 f.). Birotteaus Sturz erscheint aus dieser Perspektive auch als die Tragödie eines Geschäftsmannes, der von der Ausdifferenzierung der bürgerlichen Ö k o nomie zerrissen wird, weil er sich nicht eindeutig für einen Wirtschaftszweig die Warenproduktion oder die Spekulationsökonomie - entscheidet. Weiter ist zu erkennen, daß der Roman den Protagonisten einer klar definierten sozialen Schicht zuordnet. Birotteau verkörpert die der frühkapitalistischen Wirtschaftsmentalität verbundene Pariser Bourgeoisie d 3Anden Regime. 6 Er versucht, sein Kapital dynamisch zu vermehren, u m den Beginn seines Rentnerda-

3

Balzac greift hier - bewußt oder unbewußt - einen Gedanken von Voltaire auf. Dieser hatte bereits i n seiner Lettre sur les présbytériens (1734) auf die in der bürgerlichen Marktgesellschaft begründete Tendenz zum Ausschluß der Bankrotteure hingewiesen; vgl. Voltaire, Lettres philosophiques (Paris 1964), 47. 4 Die folgenden, i m Text in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe Honoré de Balzac, La Comédie humaine , 12 Bde (Paris 1977), Bd. 6. 5 U l r i c h Schulz-Buschhaus, »Stendhal, Balzac, Flaubert«, in: Peter Brockmeier (Hg.), Französische Literatur in Einzeldarstellungen (Stuttgart 1982), 7 - 7 1 , hier 45. 6 Heinz-Gerhard Haupt, Nationalismus und Demokratie: geoisie im Frankreich der Restauration (Frankfurt 1974), 101.

Zur Geschichte der Bour-

Honoré de Balzac, César Birotteau (1837)

163

seins zu beschleunigen (44, 46). I m Anschluß an die sozialgeschichtlichen Studien von Heinz-Gerhard Haupt könnte davon ausgegangen werden, daß ihm zum Verhängnis wird, sein Vermögen nach einem frühkapitalistischen Karrieremuster akkumulieren zu wollen. Dieses beinhaltet nach Haupt, »daß man in der Jugend und i m Mannesalter wirtschaftlichen oder freien Berufen nachging, u m alsbald von dem in Grundbesitz oder Personalkredit angelegten Kapital sich der Muße des Alters hingeben zu können«. 7 Ein zentrales M o t i v des Romans ist das Schwanken Birotteaus zwischen zwei Wirtschaftsmentalitäten: zwischen der frühkapitalistischen Mentalität der Bourgeoisie d 3Anden Regime und der streng rationalen und kapitalistischen Mentalität des modernen industriellen Bürgertums. Als fatal hat sich für ihn die Regression auf ein anachronistisch gewordenes Verhalten ausgewirkt. So ist es auch Birotteaus vorkapitalistisches Interesse am Zur-Schau-Stellen seiner neu gewonnenen sozialen Machtstellung, das ihn zu den hohen Ausgaben für den Ball verführt, welche seinen Untergang einleiten. Es scheint so, als sei Birotteau gescheitert, weil er die für das Uberleben in der bürgerlichen Geschäftswelt notwendige Tugend einer rationalen Haushaltsführung aufgegeben hat. Andreas Dörner und Ludgera Vogt haben in ihrer Deutung des Romans versucht, diesen Aspekt mit Hilfe einer soziologischen Kategorie von Pierre Bourdieu zu beschreiben: Der an den Werten des Ancien Regime orientierte Habitus von Birotteau stehe dem Erwerb von ökonomischem Kapital entgegen.8 Die Stelle des Romans, die als Wendepunkt in Birotteaus Leben ausgemacht werden kann, eröffnet eine weitere Deutung des Romangeschehens. Der Architekt Grindot und die anderen Bauunternehmer betreiben seinen Ruin von dem Moment an, da sie merken, daß Birotteau nicht an einer produktiven Nutzung des Baulandes interessiert ist, sondern nur ein spekulatives Interesses an den Immobilien hat (185). Ihre überhöhten Honorarforderungen könnten als Rache des produktiven Bürger-

7 8

Heinz-Gerhard Haupt, Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789 (Frankfurt 1989), 136.

Andreas Dörner / Ludgera Vogt, Literatursoziologie. Literatur,; Gesellschaft, politische Kultur (Opladen 1994): I m Unterschied zu du Tillet, der wie er das Ziel »sozialer A u f stieg« verfolge, bediene sich Birotteau eines anachronistischen Habitus. Für ihn hat die Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion die Bedeutung einer Verleihung von »symbolischem Kapital«. Birotteau glaube, daß er in der bürgerlichen Gesellschaft auf die Ordensverleihung wie auf eine »harte Währung« (72) bauen könne: »Wie ein mittelalterlicher Adliger scheint er zu glauben, daß sein symbolisches Kapital, der Orden, direkt konvertierbar ist in ökonomisches Kapital und sozialen Aufstieg, während der Staat den inflationär verteilten Orden als »billiges Zahlungsmittel nur strategisch einsetzt.« (72) D u r c h seinen Ball befriedige er adelige Repräsentationswünsche und verletze so den Grundsatz, daß das eigene Sozialverhalten der eigenen sozialen Stellung adäquat sein muß: »Eine symbolische Repräsentation muß in einem adäquaten Verhältnis zur sozialen Stellung und auch zu den ökonomischen Ressourcen stehen. Die bürgerlichen Formen der symbolischen Investitionen hat Birotteau dagegen vernachlässigt: sein Name ist i m Kreditgeschäft nicht bekannt.« (73). 1*

164

Achim Schröder

tums an Birotteau interpretiert werden, der in ihren Augen ein unproduktiver Geldkapitalist ist. M i t der von dem Spekulanten du Tillet organisierten Intrige ist i m Roman die nächste mögliche Begründung für Birotteaus sozialen Abstieg angelegt. Es erweist sich, daß du Tillet das Spekulationsgeschäft nur inszeniert hat, u m sich Birotteaus Vermögen anzueignen (90 ff.). D u Tillet war von ihm zu einem früheren Zeitpunkt gedemütigt worden (75 f.). Birotteau könnte also zum Opfer einer nur persönlich motivierten Intrige geworden sein. Einige dieser Deutungen hat Balzac von Romanfiguren aussprechen lassen: Der an der Intrige beteiligte Bankier Claparon behauptet, Birotteau hätte nicht den ihm wohlbekannten ökonomischen Bereich des Parfümwarenhandels verlassen dürfen. Der Untergang strafe »ceux qui sortent de leur spécialité« (264). Andere Figuren werfen Birotteau vor, durch verschwenderische Ausgaben seinen Ruin selbst verschuldet zu haben (263, 266). Erst der weitere Verlauf der Romanhandlung ermöglicht es dem Leser zu entscheiden, welche der i m Roman angebotenen Deutungen zutreffend sind. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat die Vielzahl dieser Deutungsangebote zumeist zugunsten von methodologisch vorgeprägten und somit verkürzten Interpretationen unberücksichtigt gelassen.9 Jean-Hervé Donnard interpretiert die Rückzahlungen der Bankrottschulden durch César Birotteau als literarische Objektivierung der gesellschaftlichen Realität und verweist auf die in der zeitgenössischen Presse zu findenden Berichte über ehrenhafte Geschäftsleute. 10 Maurice Bouvier-Ajam stellt hingegen fest, Balzac ignoriere in César Birotteau die ersten Organisationsversuche eines modernen Handelsbankwesens, das den kurzfristigen Handelskredit zu rationalisieren versuche. Dies sei aber zu entschuldigen, da diese Versuche selten gewesen seien. 11 Von beiden Autoren w i r d unterstellt, Balzac sei es um die Schaffung eines exakten Abbildes der Gesellschaft gegangen. Anthony Pugh fragt hingegen nach dem Spannungsverhältnis zwischen historischer Realität und literarischem Abbild. A u f die Frage, ob das Bild der den Handel erwürgenden Bank »authentic« sei, antwortet er:

9 Differenziert argumentieren hingegen die Studien zur Textgeschichte und zum Rezeptionskontext von Pierre Laubriet, »Introduction«, in: Honoré de Balzac, César Birotteau (Paris: Garnier, 1964), X I I I - C L X X V , und Guise, »Introduction«, sowie Heinz Schlaffer, Faust , Zweiter Teil: die Allegorie des 19. Jahrhunderts (Stuttgart 1981), 179-185, der den Roman als Illustration der immer abstrakter werdenden Herrschaftsstrukturen i n der bürgerlichen Gesellschaft deutet. 10 Jean-Hervé Donnard, Balzac: Les réalités économiques et sociales dans La Comédie Humaine (Paris 1961), 295. 11

Maurice Bouvier-Ajam, »Les opérations financières de la Maison Nucingen«, Europe, 429-430 (1965), 2 8 - 5 3 , hier 35.

165

Honoré de Balzac, César Birotteau (1837)

As w i t h other frescos of Balzac, he may be telescoping a little and allowing things to happen in 1818 which historically were consequences of trends i n evidence but not yet fully developed at the time. Thus the novel is a symbolic interpretation of the new system, more than a realistic portrayal. 1 2 R a i n e r W a r n i n g u n t e r s u c h t die i n d e m R o m a n enthaltene W e r t u n g der z e i t genössischen R e a l i t ä t u n d v e r w e i s t auf die » i d e o l o g i s c h e n I m p l i k a t e der latent e n H a r m o n i e p r ä m i s s e « i m R o m a n , d e n er v o m T o n einer » m ä r c h e n h a f t e [ n ] E r b a u l i c h k e i t « geprägt s i e h t . 1 3 U n t e r d e n m a r x i s t i s c h a r g u m e n t i e r e n d e n A r b e i t e n z u César Birotteau

14

s t i c h t die Studie v o n J ü r g e n S c h r a m k e hervor. S c h r a m -

ke v e r s u c h t ebenfalls, die i m R o m a n ästhetisch g e f o r m t e n i d e o l o g i s c h e n W e r t u n g e n der geschilderten V o r g ä n g e z u b e s t i m m e n . D e r A u t o r R o m a n h a n d l u n g i n d e n h i s t o r i s c h e n K o n t e x t des s t r u k t u r e l l e n

situiert

die

Interessen-

gegensatzes z w i s c h e n I n d u s t r i e - , H a n d e l s - u n d F i n a n z b o u r g e o i s i e . D e r G e g e n satz z w i s c h e n diesen F r a k t i o n e n des B ü r g e r t u m s w e r d e i m R o m a n aufgehoben, i n d e m Balzac aufzeige, daß beide notwendige Teile der Bourgeoisie sind, [die] aufeinander angewiesen bleiben. [ . . . ] Dabei kann sich der schwächere Partner nicht einfach von den gefährlichen Regionen der Finanz fernhalten, denn der notwendige Übergang von handwerklichen zu kapitalistischen Betriebsformen ist auf die Dauer ohne das Kreditwesen nicht möglich. 1 5 S c h r a m k e b e s t i m m t Balzacs w i r k u n g s ä s t h e t i s c h e I n t e n t i o n auf d e r Basis einer ökonomisch-strukturellen

Gesellschaftsanalyse.

Ebensowenig vermag

Pierre

Barbéris d e n b e s o n d e r e n k o m m u n i k a t i v e n G e h a l t des R o m a n s z u r e k o n s t r u i e ren. W e n n er ü b e r B i r o t t e a u schreibt: »c'est dans Penfer de l ' a r g e n t 12 Anthony Pugh, »The ambiguity of César Birotteau«, Nineteenth Studies , 8 (1980), 173-189, hier 187.

qu'il

Century French

13 Rainer Warning, »Chaos und Kosmos: Kontingenzbewältigung in der Comédie H u maine«, in: Hans-Ulrich Gumbrecht / Karlheinz Stierle / Rainer Warning (Hg.), Honoré de Balzac (München 1980), 9 - 5 6 , hier 29. Warning wendet sich zu Recht gegen eine Deutung, die in der Tradition von Friedrich Engels die Rolle des Autors bei der Bestimmung der ideologischen Implikate seiner Romane vernachlässigt. Problematisch an Warnings Interpretation ist allerdings, daß er daran festhält, Balzac vor allem als christlichen Legitimisten zu bezeichnen (30). I n Wirklichkeit ist Balzac in den dreißiger Jahren weniger Legitimist denn ein bürgerlicher Bonapartist, der sich i n erster Linie u m den zielstrebigen Ausbau des französischen Kapitalismus und u m die Repression der Arbeiterbewegung zum Schutz des bürgerlichen Eigentums sorgt; vgl. Ekkehart Krippendorff, »Balzac und die bürgerliche Gesellschaft«, in: ders., Politische Interpretationen. Shakespeare, Stendhal, Balzac, Wagner, Hasek, Kafka, Kraus (Frankfurt 1990), 5 0 - 7 1 , und Raimund R ü t t e n / Gerhard Schneider, »Balzacs Realismus - ein >cäsaristisches< Programm der sozialen Befriedung«, in: Jan Myrdal, Balzac und der Realismus (Berlin 1978), 123 - 1 6 7 . 14 Vgl. die auf einer marxistischen Kapitalismuskritik basierenden Einleitungen in den Roman von Pierre Barbéris (Paris: Livre de poche, 1984), 5 - 1 9 , und André Wurmser (Paris: Gallimard-Folio, 1975), 7 - 3 1 . 15

Schramke, »César Birotteau: das Schicksal und die Ökonomie«, 92.

166

Achim Schröder

périt«, 1 6 bleibt zu fragen, welche historische Form des Geldes und des Kapitalismus für Birotteaus Scheitern verantwortlich ist. 1 7 Vor dem Hintergrund der bislang von der Literaturwissenschaft erarbeiteten Erkenntnisse über die Verschränkung von Balzacs politischen Ideen mit der Comédie humaine kann hingegen als plausibel angenommen werden, 1 8 daß sich Balzac auch mit seinem Roman nicht als Beobachter am Rande, sondern i m Zentrum der von ihm beschriebenen Machtkämpfe bewegt. Balzac gestaltet in seinen Romanen von 1830 bis 1835 eine Reihe von Typen des Umgangs mit dem Geld, die sich i m Kontext der politisch-ökonomischen Situation i m Frankreich der Restauration und der Julimonarchie als operative ästhetische Lehrstücke lesen lassen. Eine Situierung des Romans i n die ideologischen Debatten um den industriellen Fortschritt und die Funktion des Geldwesens - durch die der strukturelle Interessengegensatz zwischen Industrie-, Handelsund Finanzbourgeoisie ja erst in das öffentliche Bewußtsein dringt - bleibt noch zu leisten. César Birotteau y so die den folgenden Ausführungen zugrundeliegende Arbeitsthese, zielt auf die literarische Abbildung und Lösung von zeitgenössischen politisch-ökonomischen Problemstrukturen. Die Mittel, die Balzac einsetzt, u m zur Lösung der erörterten Probleme beizutragen, sind Ideologiekritik und politische Appelle.

I I . Die ideologiekritischen Elemente Balzac hat verschiedene Erklärungen für das Scheitern von Birotteau in den Roman montiert. Durch den Handlungsverlauf w i r d deutlich, daß einige von ihnen auf ideologischen Wertungen beruhen und andere Deutungen den Geschehnissen eher gerecht werden. Die Erklärung, nach der Birotteau scheitert, weil er - gelenkt von einer anachronistischen Wirtschaftsmentalität und unter Vernachlässigung des bürgerlich-protestantischen Prinzips der rationalen Lebensführung 19 - über seine Ver16

Pierre Barbéris, Balzac, une mythologie réaliste (Paris 1972), 196.

17

Die neuere Forschung unterscheidet sinnvollerweise zwischen einer Vielzahl von rasch aufeinanderfolgenden historischen Blöcken, in denen die kapitalistische Vergesellschaftung jeweils andere Formen angenommen hat; vgl. u. a. die Arbeiten von Robert Boyer, La théorie de la régulation: une analyse critique (Paris 1986), Bob Jessop, Regulation theories in Retrospect and Prospect (Essex 1988) und Joachim Hirsch / Roland Roth, Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Postfordismus (Hamburg 1986). 18 Vgl. die Arbeiten von Ernst Robert Curtius, Balzac (Neuauflage, Frankfurt 1985), 82; Bernard Guyon, La pensée politique et sociale de Balzac (2. Aufl., Paris 1961); Pierre Barbéris, Balzac et le mal du siècle, 2 Bde (Paris 1970); ders., Balzac, une mythologie réaliste, 160 ff.; Krippendorff, »Balzac und die bürgerliche Gesellschaft«, 56, und Rütten/ Schneider, »Balzacs Realismus - ein >cäsaristisches< Programm«.

Honoré de Balzac, César Birotteau (1837)

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hältnisse gelebt hat, vermag einer kritischen Lektüre des Romans nicht standzuhalten. Die Gefahr, jederzeit Opfer einer faillite werden zu können, bestimmt den Roman von Beginn an, wie der Alptraum von Constance Birotteau belegt ( 3 7 - 4 0 ) . 2 0 Diese Grundstimmung ist zugleich ein erster Anlaß, den Leser zweifeln zu lassen, ob wirklich Intrigen und persönliche Verfehlungen der Grund für Birotteaus Untergang gewesen sein können. Die personalisierende Sicht auf den Bankrott von Birotteau hat Balzac zwar an verschiedenen Stellen i n den Roman montiert. So verweist der Handelsrichter Lourdois auf den Ball als Auslöser von Birotteaus Untergang: »Ii a fait comme tous les autres [ . . . ] il a donné des fêtes« (263), und auch die Marktfrau M m e Mandou sieht in der eleganten Garderobe von Constance Birotteau die Ursache für die Zahlungsunfähigkeit der Familie: »mes écus ramassés à la sueur de mon front servent à donner vos bals. Enfin, vous allez vêtue comme une reine de France avec la laine que vous prenez à des pauvres ignaux comme moi!« (266) Diese Deutungen lassen sich aber ebensowenig mit dem Handlungsgeschehen vereinbaren wie diejenige, die der Erzähler an einer anderen Stelle formuliert. I n einem längeren Erzählerkommentar w i r d der Niedergang von Birotteau i n scheinbar allgemeingültigen geschichtsphilosophischen Kategorien gedeutet. Birotteau habe den exakten Punkt verpaßt, an dem er in seiner Arbeitsanstrengung auf dem erreichten Niveau ökonomischer Prosperität hätte innehalten sollen. Der Erzähler fragt, warum Birotteau nicht aus der Geschichte der untergegangenen Geschäftshäuser und Kulturnationen gelernt habe: L'Histoire, en redisant les causes de la grandeur et de la décadence de tout ce qui fut icibas, pourrait avertir l'homme du moment où i l doit arrêter le jeu de toutes ses facultés; mais ni les conquérants, ni les acteurs, ni les femmes, ni les auteurs n'en écoutent la voix salutaire. César Birotteau, qui devait se considérer comme étant à l'apogée de sa fortune, prenait ce temps d'arrêt comme u n nouveau point de départ. [ . . . ] tant de maisons souveraines ou commerciales offrent de si grands exemples. Pourquoi de nouvelles pyramides ne rappelleraient-elles pas incessamment ce principe qui doit dominer la politique des nations aussi bien que celle des particuliers: Quand l'effet rapport direct ni en proportion

produit n'est plus en

égale avec sa cause, la désorganisation commence ? (81)

Jürgen Schramke kritisiert diese »gegenaufklärerische« 21 Passage und stellt ihr eine korrigierende Deutung entgegen. Unverkennbar bleibe, daß

19 Vgl. Max Weber, »Die protestantische Ethik und der >Geist< des Kapitalismus«, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 20 (1905), 1 - 5 4 , und 21 (1905), 1 - 1 1 0 . 20

Anders als der landbesitzende Adel muß das auf die Geldzirkulation angewiesene Bürgertum stets fürchten, vom Geld als Quelle seiner sozialen Machtstellung abgeschnitten zu werden. 21 Georg Kaiser, »Ökonomische Thematik und Gattungsanleihen bei Balzac, Thackeray und Keller«, in: Eberhard Lämmert (Hg.), Erzählforschung (Stuttgart 1982), 4 3 5 456, hier 442.

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die Berufung auf das Schicksal alles Irdischen, auf die allzeit gültige condition

humaine ,

auf die >caprice de l'indomptable Destin< keine zureichende Erklärung für das Mißgeschick unseres bürgerlichen Helden liefern kann. A n die Stelle des Schicksals sind ökonomische Gesetzmäßigkeiten getreten. Birotteau unterliegt i m kapitalistischen Konkurrenzkampf, w o es nur die Alternative A u f oder A b , aber keinen Stillstand gibt. Balzacs Empfehlung, i m richtigen Moment einzuhalten, ist illusorisch. 2 2

Wie Juliette Frölich und Rainer Warning 2 3 geht Jürgen Schramke davon aus, daß die Position des Erzählers gleichbedeutend mit der Aussageintention des Romans sei. Diese Annahme vermag jedoch nicht zu überzeugen. Es bedarf keiner Korrektur dieser Sicht von außen durch die Literaturwissenschaft, u m zu der von Schramke formulierten Erkenntnis zu gelangen. I m Roman selbst ist ein Widerspruch zwischen dem Denken der auftretenden Figuren und den realen Geschehnissen angelegt. N u r vordergründig scheint es so, als ob Balzac die Konzeption einer genügsamen kleinbürgerlichen und vorkapitalistischen Moral verteidige. Betrachtet man das Schicksal der Familie Ragon - »de braves gens dans la peine« (122) - näher, w i r d deutlich, daß »bloße Stagnation zum Niedergang führen muß«, 2 4 weil die Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft kein Innehalten ermöglicht. O b w o h l sie sich aus dem Geschäft zurückgezogen haben, u m weiterhin auf Rentenbasis ein bescheidenes Leben zu führen, werden sie zum Opfer des modernen Aktienkapitalismus (93). A u c h Pillerault, der sich früh aus dem ökonomischen Leben zurückgezogen hatte, gelingt es nicht, sein Lebensende in Wohlstand zu genießen. Seine Lebensweise w i r d als spartanisch beschrieben und w i r k t kaum identifikationsstiftend: Commis jusqu'à trente ans, ses fonds étaient engagés dans son commerce au moment où César employait ses économies en rentes; enfin, i l avait subi la loi du maximum, ses pioches et ses fers avaient été mis en réquisition. [ . . . ] I l préférait des gains minimes et sûrs à ces coups audacieux qui mettaient en question de grosses sommes. [ . . . ] I l n'avait jamais surfait, ni jamais couru après les affaires. [ . . . ] Pendant trente ans, en faisant annuellement pour cent mille francs d'affaires, i l avait gagné sept pour cent de cette somme, et sa vie absorbait la moitié de ses gains. Tel fut son bilan. [ . . . ] i l continua son genre d'existence et anima sa vieillesse par ses convictions politiques qui, disons-le, étaient celles de l'extrême gauche. [ . . . ] i l avait pris rue des Bourdonnais un petit appartement de trois pièces au quatrième dans une vieille maison. [ . . . ] A u x dimensions près, c'était la cellule du chartreux. (118 ff.)

Pillerauts Lebensbedingungen, die Balzac mit denen eines asketischen Karteusermönches vergleicht, entfalten keine Vorbildwirkung für den Leser. Balzac entwirft keine Idylle eines Lebens in bescheidenem Wohlstand als ideales Ge22

Schramke, »César Birotteau: das Schicksal und die Ökonomie«, 97.

23

Juliette Frölich, »L'effet Birotteau: grandeur et décandence«, in: L'Année cienne , 11 (1990), 389-402, und Warning, »Chaos und Kosmos«, 29. 24

Schramke, »César Birotteau: das Schicksal und die Ökonomie«, 97.

Balza-

Honoré de Balzac, César Birotteau (1837)

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genmodell zu Birotteaus Schicksal. 25 Das Handlungsgeschehen und die sozialen Bilder der kleinbürgerlichen Existenz i m modernen Paris entlarven die auf allgemeingültigen geschichtsphilosophischen Gesetzen gegründete Deutung des Erzählers als unzureichende Interpretation des Handlungsgeschehens. Dem Roman ist deutlich zu entnehmen, daß einige Deutungen ideologischen Ursprungs sind. Es ist die gegen den Großhändler und bourgeois industriel verschworene Pariser haute banque, die Birotteaus Bankrott als das Ergebnis seines Aufstiegsstrebens interpretiert. Sie deutet seinen Untergang als Strafe für den Entschluß, als Spekulant außerhalb seines Metiers tätig geworden zu sein. Der Bankier Claparon urteilt: I l lui arrive ce qui arrivera toujours à ceux qui sortent de leur spécialité [ . . . ] . S'il avait monté lui-même son H u i l e céphalique au lieu de venir nous renchérir les terrains dans Paris en se jetant dessus, i l aurait perdu ses cent mille francs chez Rougin, mais i l n'aurait pas failli. (264)

Auffällig ist, daß sich die von dem Bankier gebrauchte Begrifflichkeit mit traditionellen Vorstellungen einer Ständegesellschaft deckt. Die Pariser haute banque argumentiert als Geldaristokratie. Ihre Deutung der Vorgänge w i r d i m Roman als Ideologie enthüllt, die von der rückständigen Entwicklung des Bankwesens ablenkt. Der Republikaner Pillerault erkennt dies hellsichtig. Die Verurteilung der Bank durch Pilleraut: »Souviens-toi toujours de cette courte séance Anselm! Tu viens de voir la Banque sans la mascerade de ses formes agréables [ . . . ] . Voilà la Banque: ny recours jamais« (259), legt einen Aspekt der Wirkungsintention des Romans offen. Birotteaus tragisches Schicksal soll die Leser vor den Geschäftspraktiken i m Finanzwesen warnen. Eine Figur i m Roman ahnt, daß sich hinter dem Sturz Birotteaus eine Intrige von Bankiers verbirgt: »Ii est impossible, en effet, dit Mongenod, d'expliquer ce qui arrive, à moins de croire qu'il y ait, caché derrière Gigonnet, des banquiers qui veulent tuer l'affaire de la Madelaine.« (264) Was Mongenod nur als Vermutung formulieren kann, ist dem Leser, der an dieser Stelle des Romans bereits über alle Informationen verfügt, zur Gewißheit geworden. 25 Laubriet, »Introduction«, vermutet, i n César Birotteau stehe das Bild einer frühbürgerlichen Handwerkergesellschaft als Gegenentwurf zu den Intrigen innerhalb der weiter entwickelten kapitalistischen Gesellschaft: »C'est donc une philosophie et une morale sociale que propose Balzac, et qui semblent s'orienter vers une condamnation du capitalisme naissant et un regret de l'ancienne société artisanale et corporative.« ( C X L I ) Diese Wertung vertritt i m Roman die Heldin Constance Birotteau. Zugleich aber hat Laubriet diese These selbstkritisch eingeschränkt: Unübersehbar sei, daß das Verhalten des naiv-dümmlichen Birotteau gegenüber den intelligenten Finanziers nicht als positives Handlungsmuster überzeugen könne. Der Schwerpunkt von Balzacs Roman liege i m »ton philosophique sérieux quand il s'agit de l'analyse des phénomènes sociaux« ( C X L I I ) , genauer: »les désastreux effets dans toute la société. L'abus de la pensée, sous la forme de l'appétit de puissance et de jouissance, amène la mort d'une société [ . . . ].« ( C X L I ) .

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Achim Schröder

Die ideologiekritische Enthüllung falschen Bewußtseins, und nicht der Entwurf eines Lebensideals, kann somit als ein Aspekt der Wirkungsabsicht des Romans bestimmt werden. Dieses Ziel w i r d deutlich, wenn der Kleinspekulant Claparon eingesteht, daß die Finanzaristokratie von der Unkenntnis der Öffentlichkeit profitiert: »La Spéculation? [ . . . ] c'est [ . . . ] un commerce qui restera secret pendant une dizaine d'années encore.« (241) Sie ist dem gewerbeund handeltreibenden Bürgertum überlegen, weil niemand die Mechanismen ihrer betrügerischen Machenschaften durchschaut. M i t seinem Roman César Birotteau und der zeitgleich erscheinenden Erzählung La Maison Nucingen lenkt Balzac die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese Vorgänge. Indem er die bislang undurchschaubaren Möglichkeiten der Wertschöpfung durch Spekulation enthüllt, widerspricht Balzac der bürgerlichen Legitimationsideologie der Autoren, die die individuelle Arbeit als das alleinige Mittel beschreiben, das den sozialen Aufstieg und die moralische Emanzipation des Menschen ermöglicht. 2 6 So geht Charles Dunoyer davon aus, daß die moderne Gesellschaft sich auf einen Zustand hinbewege, »où ce n'est plus la passion du pouvoir qui règne, mais la passion du travail [ . . . ] où le travail est le seul moyen avoué de s'enrichir«. 27 I n seiner satirischen Monatsschrift Les guêpes legitimiert der Publizist Alphonse Karr sogar das ökonomische M o n o p o l als die Frucht individueller Arbeit: » - Le monopole des capitaux, - ouf! voilà le gros mot lâché. Mais Messieurs, l'argent est le fruit du travail, ceux qui ont ce que vous appelez le monopole des capitaux ont aussi le monopole de la fatigue, des veilles, des soucis, ils ont le monopole de l'ordre, de l'économie.« 2 8 Der Handlungsverlauf des Romans enthüllt, daß eine Deutung des Eigentums als Resultat individueller Arbeitsleistung auf einer ideologischen Weltsicht beruht. Der Niedergang von Birotteau vollzieht sich gleichzeitig mit dem Aufstieg von Popinot, du Tillet und Crevel. Der Leser kann erkennen, daß die frühbürgerliche Gesellschaft, in der ein sozialer Aufstieg durch individuelle Arbeit noch zu erkämpfen war, ihrem Ende zugeht. Die modernen Mittel, die dauerhaften Reichtum erzeugen, sind der Einsatz von Lohnarbeit und die Warenspekulation. Hiervon, so zeigt der Roman, bleibt jedoch ein Großteil der Gesellschaft ausgeschlossen. Der in Dunoyers Epigraph zu seiner Studie Nouveau traité d'économie sociale (1830) formulierte utopisch-moralische Anspruch an den Geschichtsverlauf: »Nous ne devenons libres qu'en devenant industrieux et 26 Vgl. Charles Dunoyer, Nouveau traité d'économie sociale (Paris 1830); ders., Liberté du travail (Paris 1845); Léon Halévy, »Le travail et la paix ces deux grands moyens de bonheur et de liberté«, in: Le Producteur.\ prospectus (Juin 1825); Adolphe Thiers, De la propriété (Paris 1848), und Alphonse Karr, Les guêpes (Paris 1839-1849). 27

Zit. nach Fernand Rude, Stendhal et la pensée sociale de son temps (Paris 1967),

105 ff. 28

Alphonse Karr, Les guêpes (Janvier 1840), 42.

Honoré de Balzac, César Birotteau (1837)

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moraux«, w i r d in César Birotteau ideologiekritisch gebrochen. Der Roman erhält auf diese Weise den Charakter eines Lehrstücks über das Verhältnis von Arbeit und Geld. Als ästhetisch geformte Erfahrung vermittelt er die Erkenntnis, daß in der modernen Gesellschaft nicht mehr individuelle Arbeit, sondern nur noch das Zusammenwirken von Arbeit und Kapital der Garant für sozialen und gesellschaftlichen Erfolg ist. Félicien Marceau hat als eines der Leitthemen der Comédie humaine das M o t i v des zufälligen geschäftlichen Erfolges oder Mißerfolges bestimmt: Crevel nous apparaît entre Birotteau, son patron, et H u l o t , son compère. L'un est vertueux mais bête, l'autre est intelligent mais débauché. La bêtise de l'un, la luxure de l'autre les mènent à la ruine. Et Crevel qui rassemble les défauts des deux, qui est bête comme Birotteau et débauché comme H u l o t , Crevel n'a aucune de leurs qualités, Crevel réussit. 29

Die bislang gewonnenen Erkenntisse über das ideologiekritische Verfahren als ein ästhetisches Element von César Birotteau erlauben, die Beobachtung von Marceau präziser zu fassen und auf die Interpretation des Romans anzuwenden. Die Erzählstrategie zielt darauf, die Deutung, Birotteau sei selbst schuld an seinem Untergang gewesen, als Vorurteil zu widerlegen. Deutlich w i r d statt dessen die sich dem Handeln der Individuen entziehende Dynamik, die der modernen geldgesteuerten Gesellschaft innewohnt. Der Roman vermittelt diese Erkenntnis nicht nur durch das Handlungsgeschehen. Die im Roman gestaltete Differenz zwischen dem Handlungsverlauf und den Deutungen ihres Schicksals, die die Romanfiguren formulieren, vermittelt die Einsicht, daß i n den sozialen Beziehungen in der Gesellschaft eine Begründung für die Vorstellungen der Menschen von der Welt zu finden ist. Damit steht César Birotteau in der Tradition des ideologiekritischen Materialismus der Aufklärung und Ludwig Feuerbachs Religionskritik. 3 0 Balzacs Roman unterscheidet sich grundlegend von der moralisierenden Erörterung des Spannungsverhältnisses von Geld und Arbeit, wie sie das zeitgenössische Denken über die Ökonomie dominiert. So belehrt ein Handelslehrer der Pariser École spéciale du Commerce et de Vlndustrie i m Jahr 1828 seine frisch diplomierten Schüler über die Pflichten des gewerbetreibenden Bürgers. Der Redner empfiehlt, jede Gelegenheit zu nutzen, u m sich einen möglichen Profit zu sichern: 29 30

Félicien Marceau, Balzac et son Monde (Paris 1955), 446.

K u r t Lenk, »Problemgeschichtliche Einleitung«, in: ders., Ideologie (Neuwied 1971), 1 5 - 5 9 ; Rolf Geißler, «Die Erschließung neuer Wirklichkeitsbereiche und ihre bewußtseinsbildende Funktion i m Roman der Frühaufklärung», in: Französische Aufklärung. Bürgerliche Emanzipation, Literatur und Bewußtseinsbildung (Leipzig 1979), 484-532, und Alfred Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus (München 1988), 8 1 - 9 0 .

172

Achim Schröder

ne croyez pas que le négociant ne puisse jamais s'abandonner à l'impulsion de son génie, et qu'un sévère examen doive toujours précéder ses déterminations. N o n , Messieurs, i l est des circonstances qui ne permettent pas de délibérer, et dans lesquelles i l faut, pour ainsi dire, surprendre la fortune. Hésitez un instant, et déjà loin de vous celle se rit de vos inutiles efforts. Z u g l e i c h w e i s t er auf die G e f a h r e n h i n , die d e m H ä n d l e r i n d e r b ü r g e r l i c h e n M a r k t g e s e l l s c h a f t d r o h e n : » G a r d e z - v o u s cependant de hasarder ainsi des capit a u x indispensables à v o t r e existence c o m m e r c i a l e ; l'audace réussit q u e l q u e f o i s , mais c o m b i e n de fois aussi n ' a - t - e l l e pas causé la r u i n e des maisons les p l u s florissantes!« U n d er e r m a h n t die j u n g e n Geschäftsleute, i h r e

Zahlungsver-

pflichtungen unbedingt einzuhalten: La parole d'un négociant doit être sacrée; i l doit être esclave de ses promesses, et accomplir, quelles qu'en soient les suites, les engagements qu'il a contractés; c'est ainsi que son nom sera partout respecté et donnera des ordres dans les contrées les plus reculées. 31 Balzacs R o m a n h i n g e g e n belegt die u n ü b e r w i n d b a r e n S c h w i e r i g k e i t e n , die das I n d i v i d u u m i n der g e l d g e l e n k t e n b ü r g e r l i c h e n M a r k t g e s e l l s c h a f t

bewälti-

gen m u ß , u m seine soziale S t e l l u n g z u sichern. E r e n t h ü l l t d e n m o r a l i s i e r e n d e n D i s k u r s ü b e r die P f l i c h t e n des g e w e r b e t r e i b e n d e n I n d i v i d u u m s als u n e r f ü l l b a r e ideologische

Handlungsmaxime.

Diesen

moralischen

Wertsetzungen

kann

B i r o t t e a u i n der bestehenden Gesellschaft n u r folgen, i n d e m er sein L e b e n opfert. Balzac s t ü t z t die V e r m i t t l u n g d e r b i s l a n g r e k o n s t r u i e r t e n E r k e n n t n i s s e d u r c h die ästhetische F o r m des R o m a n s , d u r c h die tragischen u n d m e l o d r a m a t i s c h e n E l e m e n t e . E i n tragisches M o m e n t m i t p a t h e t i s c h e r W i r k u n g i m Sinne v o n A r i stoteles als R e s u l t a t einer V e r b i n d u n g v o n Peripetie

u n d Anagnoris 32

entfaltet

31 Discours prononcés ä la quatrième séance du conseil de perfectionnement de l'école spéciale du Commerce et de l'Industrie , sous la présidence de M. le Comte Chaptal y Pair de France, membre de l'Institut, Librairie du Commerce (Paris 1828) [Bibliothèque Nationale de France: 8-V-11765], 47, 47, 51. 32 Versteht man mit Friedrich Schiller die Tragödie als »dichterische Nachahmung einer zusammenhängenden Reihe von Begebenheiten, welche Menschen in einem Zustand des Leidens zeigt und zur Absicht hat, unser Mitleid zu erregen« (Über die tragische Kunst: Werke in vier Bänden [Salzburg 1986], Bd. 1, 359), dann besteht der tragische Gehalt der Handlung i m Umschlag vom sozialen Aufstieg zum Abstieg des Protagonisten. I n der Begrifflichkeit der Definition in Aristoteles, Poetik, hg. M . Fuhrmann (Stuttgart 1982), 11. Kapitel, kann der tragische Gehalt noch genauer gefaßt werden. Der Umschlag muß nach Aristoteles auf zwei Ebenen erfolgen: auf der Handlungsebene als Peripetie und auf der Erkenntnisebene als Anagnoris. Als besonders gelungen bezeichnet Aristoteles die Verbindung der beiden Ebenen, d. h. wenn die Folgen des Irrtums ein Pathos entstehen lassen; vgl. Literaturwissenschaftliches Wörterbuch für Romanisten, hg. Rainer Hess u. a. (3. Aufl., Tübingen 1989), 457 ff.

Honoré de Balzac, César Birotteau (1837)

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der Roman dadurch, daß Birotteau nach dem Eingeständnis seiner Zahlungsunfähigkeit einer Verurteilung unterworfen wird, die er selbst kurz zuvor ausgesprochen hatte. Wenige Tage vor seinem eigenen Bankrott erläutert Birotteau, wie seiner Meinung nach all die behandelt werden sollten, die durch einen Bankrott das Eigentum anderer veruntreut haben: Je voudrais, dit le parfumeur, un tribunal de juges inamovibles avec un ministère public jugeant au criminel. Après une instruction, pendant laquelle un juge remplirait immédiatement les fonctions actuelles des agents, syndics et juge-commissaire, le négociant serait déclaré failli réhabitable ou banqueroutier. Failli réhabitable, i l serait tenu de tout payer; i l serait alors le gardien de ses biens, de ceux de sa femme; car ses droits, ses héritages, tout appartiendrait à ses créanciers; i l gérerait pour leur compte et sous une surveillance; enfin, i l continuirait les affaires en signant toutefois: un tel, failli,

jusqu'au

parfait remboursement. Banqueroutier, i l serait condamné, comme autrefois, au pilori dans la salle de la Bourse, exposé pendant deux heures, coiffé du bonnet vert, ses biens, ceux de sa femme et ses droits seraient acquis aux créanciers, et i l serait banni du royaume. (183 f.)

Aus der Perspektive eines erfolgreichen und von Krisen unberührten Händlers verurteilt Birotteau unbarmherzig jeden Geschäftsmann, der Bankrott begeht. Den Makel, zahlungsunfähig geworden zu sein, müsse dieser bis zum Tag seiner erneut bewiesenen Geschäftstüchtigkeit öffentlich zur Schau stellen. Nach seinem eigenen Bankrott muß Birotteau einsehen, daß die persönliche Verantwortung eines Geschäftsmannes enge Grenzen hat. Birotteau artikuliert diese Erkenntnis stellvertretend für das in der Lektüre mit seinem tragischen Schicksal sich identifizierende bürgerliche Lesepublikum. A m Ende erkennt er seine Abhängigkeit von der Geldzirkulation, die sich selbst der Verfügungsgewalt erfolgreicher Großhändler und prosperierender Produzenten entzieht. »Que suis-je au milieu de cette machine« (207) fragt Birotteau verzweifelt, als er i m Vorzimmer des Bankiers Keller auf einen rettenden Kredit wartet. Der Lehrgehalt der tragischen Struktur des Romans besteht in der Einsicht in die Verletzlichkeit jeder noch so etabliert scheinenden bürgerlichen Existenz. Ein Blick auf andere Medien der politisch-literarischen Öffentlichkeit belegt, daß Balzac in seinen Roman Elemente des Melodramas integriert hat. 3 3 Zeitgleich zu César Birotteau macht auch das Boulevardtheater den Bankrotteur und den Bankier zu Motiven eines ästhetisch geformten gesellschaftskritischen Diskurses. M i t dem Melodrama Robert Macaire (1834) 34 w i r d ein Topos i n der 33 Die Anregung, den Roman i m Kontext des Boulevardtheaters zu lesen, verdanke ich Raimund Rütten, »Das Theater der Romantik: zum Beispiel >Chatterton< von Alfred de Vigny und >Lorenzaccio< von Alfred de Musset« (unveröffentlichtes Manuskript). 34

Jean Lacoste/Benjamin Antier / Maurice Alhoy, Robert Macaire, théâtre des folies dramatiques (Paris 1834).

174

Achim Schröder

Öffentlichkeit verankert, der die K r i t i k an den politisch und ökonomisch herrschenden Eliten bündelt. Robert Macaire, »industriel de haute volée, escroc de la finance, de Pagiotage, des grandes affaires«, 35 w i r d i n der Folgezeit zum Protagonisten anderer Theaterstücke, Lieder und Bildsatiren, 36 die die soziale Elite der Julimonarchie scharf angreifen: De 1838 à 1840, Robert Macaire s'introduit dans le monde de la Bourse. Ce n'était plus un vulgaire brigand, un bagnard criminel, mais un >Milord PArsouille< de la grande finance; il devint un agioteur tout puissant. La critique de la banque et du monde de l'argent était alors à la mode. 3 7

I n der Figur des durch ökonomische Verbrechen aufsteigenden Spekulanten du Tillet hat Balzac zentrale Merkmale des Topos Robert Macaire vereint. Welche politische Bedeutung dies hat, belegt die Tatsache, daß in den späten dreißiger Jahren der Julimonarchie alle Theaterstücke zensiert werden, in denen die Verbindung von sozialem Aufstieg und Kriminalität thematisiert wird: »Toute pièce qui présentait un dandy malfaiteur [ . . . ] et [ . . . ] citait nommément des événements réels, des entreprises qui existaient dans le commerce [ . . . ] , fut censurée, même si le message était moral.« 3 8 Interessant ist die von der staatlichen Behörde formulierte Zensurbegründung. Die Verbote werden ausgesprochen, »[à cause] d'un grand nombre de détails qu'elle [la pièce de théâtre, d. Verf.] emprunte à la société actuelle. La plupart des entreprises qu'elle signale sont réelles et existent dans le commerce«. Verboten w i r d auch Balzacs Vautrin (März 1840): »Ce fut la fin des réincarnations de Robert Macaire, la fin également des pièces contre l'agiotage, si nombreuses encore en 1840, dont la mode devait passer peu après.« 39 Literatur ist hier Opfer einer politischen Zensur, weil sie sich zu nahe an der zeitgenössischen Wirklichkeit bewegt. Die ästhetisch-narrative Gestaltung von César Birotteau weist Parallelen zur typischen Handlungsstruktur des Melodramas auf. Die Eigenschaften des sozialkonservativen Melodramas der Restaurationsepoche hat Julia Przybos wie folgt beschrieben:

35

Odile Krakovitch, »Robert Macaire ou la grande peur des censeurs«, in: Europe , 703 (1987), 4 9 - 6 0 , hier 52. 36 Vgl. Bernd Wilczek, »Mediale Vielfalt i m Zusammenspiel des satirischen Bildjournalismus und des Boulevardtheaters, Robert Macaire - Konstanz und Wandel eines Topos«, in: kultuRRevolution, 34 (1996), 4 2 - 5 3 , hier 45 ff., 53 und Fußnote 17. 37

Odile Krakovitch, Hugo censuré (Paris 1985), 146.

38

Dieses und das folgende Zitat: Krakovich, »Robert Macaire ou la grande peur des censeurs«, 56. Die A u t o r i n verweist auf die Stücke »Un voleur du grand monde, drame de Dumersan, présenté en 1837, dans le petit théâtre du Lazary [ . . . ] La Bourse fut présentée par un théâtre plus important, les Variétés, en 1838«. 39

Krakovicz, Hugo censuré , 146.

Honoré de Balzac, César Birotteau (1837)

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A u début de la pièce, les auteurs offrent au public le rêve d'une communauté où règne un bonheur parfait. Bientôt cependant, ce rêve tourne au cauchemar. A l'image idyllique d'une société succède le tableau d'un univers où les forfaits sont impunis et où les scélérats triomphent. La présentation des malheurs et des catastrophes naturelles volontairement élaborée et spectaculaire, constitue bien une mise en garde. Reprenant à leur compte la célèbre formule »hors l'Église point de salut«, les auteurs suggèrent que hors de la hiérarchie i l n'est point de paix sociale. 40

Auch in César Birotteau w i r d das Bild eines harmonischen Zustandes - der prosperierende Haushalt Birotteau - schrittweise aufgelöst in einen Zustand sozialer Unordnung, in der das Böse (die Bankiers) triumphiert und das rechtschaffene Individuum (Birotteau) sich nur durch eine Rückkehr in die traditionellen Institutionen (Religion / Monarchie / Familie) retten kann. Der Roman vermittelt jedoch andere politische Wertsetzungen als das melodramatische Theater. Die Gesellschaftskritik des sozialkonservativen Melodramas hat enge Grenzen: »Doté d'un contenu moral et idéologique [ . . . ] . I l est en effet ecclésiastique.« 41 Das Melodrama der Restauration eröffnet seinem Publik u m die Möglichkeit, die traumatischen Erfahrungen der nachrevolutionären Gesellschaft zu verarbeiten. A m Ende des therapeutischen Prozesses steht die Regression des Publikums auf historisch bereits überholte traditionelle Wertsetzungen. Das sozialkritische Melodrama der Julimonarchie - allen voran sind hier Félix Pyats Le Brigand et le Philosophe (1834) und Paul Fouchets / Élie Berthets Pacte de la famine (1839) zu nennen - stilisiert den Gegensatz von Gut und Böse zum Antagonismus zwischen A r m und Reich. Es zielt darauf, die soziale Spaltung der Gesellschaft anzuklagen und das Publikum politisch zugunsten der republikanischen Bewegung zu mobilisieren. 4 2 Balzac versucht das melodramatische Verfahren in eine andere Richtung politisch-strategisch nutzbar zu machen. Er übernimmt die melodramatische Form, verleiht dem Handlungsgeschehen seines Romans jedoch eine neue ideologiekritische Funktion. César Birotteau gelingt es i m Verlauf des Romans, die Erfahrung seines Bankrotts in Erkenntnisse umzusetzen, welche die ideologischen Deutungen des Romangeschehens widerlegen und neue Einsichten in die Gesellschaftsstrukturen ermöglichen. Die von Birotteau gewonnenen Erkenntnisse verdeutlichen dem Publikum konkrete Reformperspektiven, die sich auf zwei zu differenzierende soziale Bereiche konzentrieren.

40 Julia Przybos, L'entreprise mélodramatique (Paris 1987), 82; s. a. Peter Brooks, The Melodramatic Imagination (New H a v e n / L o n d o n 1976) und Jean-Marie Thomasseau, Le Mélodrame (Paris 1984). 41 42

Przybos, L'entreprise

mélodramatique , 80.

Philippe Vigier, »Le mélodrame social dans les années 1840«, in: Europe , 703-704 (1987), 7 1 - 8 1 , und Wilczek, »Mediale Vielfalt«.

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I I I . Die politisch-appellativen Elemente I m Fortgang der Romanhandlung stellt sich heraus, daß Birotteaus Bankrott das Ergebnis einer von du Tillet ersonnenen Verschwörung ist. Dieser hat das Immobiliengeschäft inszeniert, u m sich Birotteaus Vermögen anzueignen. Die Deutung jedoch, Birotteau sei nur das Opfer einer von einer Einzelperson ersonnenen Intrige geworden, trifft nicht zu. Auch die Deutung, nach der die liberalen Bankiers Birotteaus Traum von einer politischen Karriere durch eine politisch motivierte Intrige zerstören, erweist sich als falsch. 43 Die Figur du Tillet ist weder als ein vereinzelter Repräsentant des Bösen, noch als politisch handelnder Mensch gestaltet. Vielmehr zerbricht Birotteau an der verflochtenen Gemeinschaft aller auftretenden Bankiers, bei denen er trotz hervorragender Garantien keinen Kredit erhält. Das Interesse der Finanzwelt an einer sicheren Verwertung ihres Geldkapitals ist größer als ihr Verantwortungssinn für die Entwicklung von Handel und Industrie. A n der entscheidenden Stelle des Romans heißt es: Mais, dit Adolphe Keller, la Banque ne fera jamais u n escompte qu'un simple banquier refuse. [ . . . ] Si la Banque se mêlât de commanditer les gens embarrassés sur la place la plus friponne et la plus glissante du monde financier, elle déposerait son bilan au bout d'un an. Elle a déjà beaucoup de peine à se défendre contre les circulations et les fausses valeurs, que serait-ce s'il fallait étudier les affaires de ceux qui voudraient se faire aider par elle! (216)

U n d der Erzähler bemerkt hierzu: »les Keller avaient demandé des renseignements à Claparon qui, s'en référant à du Tillet, avait démoli la vieille réputation du parfumeur.« (216) Die Pariser haute banque, so der enthüllende Inhalt des Zusammenschnitts von Adolphe Kellers Monolog mit dem Erzählerkommentar, erscheint als verflochtene Gemeinschaft, die der bankinternen Solidarität Vorrang gegenüber dem Studium der ökonomischen Realität in Handel und Produktion einräumt. Wie der Handlungsverlauf belegt, hätten die Investitionen in die Haarölproduktion es Birotteau ermöglicht, seine Schulden bereits nach kurzer Zeit zurückzuzahlen (287). Entscheidend für Birotteaus Scheitern ist tatsächlich, daß ihm, obwohl er auf seine zukünftigen Gewinne verweisen kann, langfristige Kredite versperrt bleiben. Die i m Roman durch die Gestalt des Bankiers Keller symbolisierte besondere Organisationsform der Geldzirkulation unter der Julimonarchie - das Fehlen einer industriellen Kreditbank hindert Birotteau daran, die von ihm verschuldeten Geldforderungen zu erfüllen. D u Tillets Intrige kann nur gelingen, weil sich alle Bankiers dem Partiku43 O b w o h l es naheliegend ist, eine Verbindung zwischen Politik und ökonomischen Kämpfen anzunehmen, gibt es keine Hinweise, die diese Deutung bestätigen würden. Der Sturz Birotteaus erregt zwar die Aufmerksamkeit und Freude der Liberalen (215, 263). Sie sind aber nicht an der Intrige beteiligt.

Honoré de Balzac, César Birotteau (1837)

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larinteresse der Geldbourgeoisie mehr verpflichtet fühlen als dem Allgemeininteresse an einem funktionierenden Wirtschaftskreislauf. Balzacs Sicht auf das Geldwesen hat sich seit den frühen dreißiger Jahren ins Negative verkehrt. Während die Geldhändler i n der sozialutopischen Erzählung Les dangers de Vinconduite (1830) noch bereit sind, alle Kreditbegehren kritisch zu prüfen, sind die großen Pariser Bankhäuser in César Birotteau an einer so mühsamen Tätigkeit nicht mehr interessiert. 44 Auch der >Geldphilosoph< Gobseck aus Les dangers de Vinconduite hat sich i n César Birotteau in einen »bourreau de Paris« (243) und in eine »guillotine financière« (243) verwandelt. Der Geldhandel trägt in César Birotteau nicht länger zur Rationalisierung der gesellschaftlichen Produktion bei, sondern vernichtet den Warenhandel: »À la Halle, nul pouvoir n'est plus respecté que celui de l'homme qui fait le cours de l'argent. [ . . . ] l'Usure [ . . . ] [c'est] le bourreau de ce commerce.« (264) Was hier als außerliterarisches Material i m Roman durchscheint, ist der sieben Jahre nach der Julirevolution noch immer herrschende Interessengegensatz zwischen Industrie- und Geldbürgertum. Balzac resigniert jedoch keineswegs vor der Problematik, daß die Geldbourgeoisie in der Julimonarchie noch immer als sterile Klasse agiert. M i t seinem Roman zielt er darauf, Erkenntnisse zu vermitteln, die die politische Identitätsbildung seines Publikums beeinflussen sollen. Als Objekt mitleidsvoller Anteilnahme vollzieht Birotteau vor den Augen der Leser einen Lernprozeß, der durch die Identifikation des Publikums mit dem Romanhelden zu einem kollektiven Lernprozeß werden soll. Birotteau hat zu Beginn des Romans noch keinerlei Vorstellungen vom Bankwesen. »Le parfumeur«, so heißt es an einer Stelle des Romans, »comme tous les gens du petit commerce parisien, ignorait les moeurs et les hommes de la haute banque« (207). Erst durch seine Erfahrungen mit der Geldaristokratie kann er sich eine eigene Meinung über die Bank bilden: La Banque [ . . . ] m'a toujours paru manquer à sa destination quand elle s'applaudit, en présentant le compte de ses bénéfices, de n'avoir perdu que cent ou deux cent mille francs avec le commerce parisien, elle en est la tutrice. (215)

I n Anknüpfung an die von einem breiten Kreis der bürgerlichen Öffentlichkeit vertretene utopische Funktionsbestimmung der Bank definiert Birotteau hier normativ die zukünftige soziale Funktion des Bankwesens: Die Bank soll als eine der bürgerlichen Gesellschaft und den konkurrierenden Warenbesitzern übergeordnete Instanz Kontroll- und Leitungsaufgaben übernehmen. Die von Balzac unter der Uberschrift »La haute banque« karikierten Bankiers verwei44

Vgl. meine Studie »Geld und Gesellschaft in Balzacs Erzählung Gobseck«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 2 (1999), 161 - 1 9 0 . 12 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 41. Bd.

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gern sich jedoch der Forderung von Birotteau, als Vormund des Handelsbürgertums zu wirken. Adolphe Keller vertritt eine Position, die dieser Forderung zuwiderläuft (216). Wenig plausibel scheint aus diesem Grunde die Annahme von Jürgen Schramke, bei Keller handle es sich u m den literarischen Repräsentanten des Bankiers Jacques Laffitte. Gerade Laffitte setzt sich für eine Modernisierung des Bankwesens ein, dessen Unterentwicklung die französischen Produktionsverhältnisse fesselt. Zeitgleich mit der Fertigstellung des Romans i m Juli 1837 gründet Laffitte, unterstützt durch eine große Anzeigenkampagne, 45 die erste Pariser Kreditbank (Caisse générale du Commerce et de l'Industrie), welche sich als vorrangige Aufgabe die Förderung des Handels stellt: »[d]'amener sur le marché le concours régulier de capitaux nouveaux destinés à aider au développement du crédit public et du crédit industriel.« 4 6 Laffittes Engagement für die Interessen des städtischen gewerbetreibenden Bürgertums verschafft ihm große Popularität: » N u l personnage n'est plus populaire dans la bourgeoisie parisienne que l'étonnant brasseur d'affaires Jacques Laffitte, image du self-made man de ce temps, avec son sens de courants nouveaux.« 47 Eine 1837 unter dem Titel À J. Lafitte 48 in Bayonne verfaßte Hymne auf die Verdienste des Bankiers belegt das Ausmaß, das die Verehrung Laffittes in bürgerlichen Kreisen zu diesem Zeitpunkt angenommen hat. Ein Blick auf die Diskussionen in der politisch-ökonomischen Fachöffentlichkeit während der Wirtschaftskrise von 1835 bis 1838 ermöglicht es, einen Aspekt der Wirkungsintention des Romans näher zu bestimmen. I n den Diskussionen i n verschiedenen Wirtschafts Zeitungen w i r d in zunehmenden Maße der Mangel an zirkulierendem Geld auf dem Warenmarkt für den Ausbruch und das Andauern der Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht. 49 Während die Zeitungen Moniteur industriel , L'Europe industrielle und Le journal du com45

Vgl. Guise, »Introduction«, 18.

46

Zit. nach Bertrand Gille, La banque en France au XIXe siècle (Genève 1970), 135; vgl. auch David H . Pinkney, Deceisive Years in France ( 1840-1848) (Princeton 1986), 19; Philippe Vigier, La Monarchie de Juillet (Paris 1962) 45 und 51 f.; und Guy P. Palmade, French capitalism in the Nineteenth Century ( N e w York 1972), 67 ff. 47

André Jardin/ André Jean Tudesq, La France des notables , 2 Bde (Paris 1973), Bd. 2,

213. 48

Saint-Guilhem, À Jacques Laffitte , impr. de G. Bonnebaigt (Paris 1837), [Bibliothèque Nationale de France: Ye 4305]. Der Catalogue de l'histoire de France vermerkt über den Autor: »ingénieur en chef de la 1er section du canal latéral à la Garonne en 1851«. 49 Vgl. Bertrand Gille, »Les Crises vues par la presse économique et financière (1815 — 1848)«, in: Revue d'Histoire Moderne Contemporaine (Janvier-Mars 1964), 5 - 3 0 , hier 14, der angibt, daß erst i m Zeitraum von 1835-1837 eine auf ökonomische Fragen spezialisierte Öffentlichkeit in nennenswertem Umfang entsteht. Die folgenden Zitate und Verweise verdanke ich dieser Studie.

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merce die Krise noch aus außerökonomischen Faktoren ableiten (»les événements politiques et les fausses spéculations« 50 ), kritisiert L'Actionnaire die »insuffisance du numéraire en face du papier commercial en circulation« (20. Dezember 1836), die eine reibungslose Warenzirkulation verhindere. 51 I m Zentrum der in der Fachöffentlichkeit vorgeschlagenen unterschiedlichen Gegenkonzepte steht die K r i t i k an der Geldpolitik der Banque de France. So wirft die Zeitung Le Commerce der Bank i m A p r i l 1839 vor, »d'avoir sinon provoqué, du moins aggravé la crise par une politique de timidité et de restriction«. I n der kontroversen Diskussion zwischen den Wirtschaftstheoretikern Adolphe Blanqui und Charles D u p i n setzt sich die Auffassung durch, daß die rückständigen Strukturen des französischen Bankwesens für die Krise verantwortlich seien. Damit wendet sich die politisch-ökonomische Fachöffentlichk e i t 5 2 von der Position Jean-Baptiste Says ab, der in seinen ökonomischen Schriften stets eine vorsichtige Emissionspolitik der Bank empfohlen hatte. Von nun an dominiert die Forderung nach einer vermehrten Ausgabe von Geldwerten und nach einer großzügigeren Kreditvergabe durch die Banque de France die Debatten. Die Wirtschaftsmentalität der Pariser haute banque w i r d auch in César Birotteau einer scharfen K r i t i k unterzogen. Birotteau weist die Richtung einer Befreiung der Gesellschaft von ihren defizitären sozial-ökonomischen Strukturen: Er w i l l die Bank in eine »tutrice [du commerce]« (215) verwandelt wissen. Der Leidensweg des Helden Birotteau regt den Leser dazu an, gegen die bestehenden Verhältnisse des Bankwesens Partei zu ergreifen. Balzac knüpft an das tragische Schicksal des durch die rückständigen Bankstrukturen in Existenzschwierigkeiten geratenen Händlers einen Appell an die bürgerliche Öffentlichkeit. Der Inhalt dieses Appells stimmt mit dem Ergebnis des i m Verlauf der Krise von 1836-1839 vollzogenen Lernprozesses der wirtschaftswissenschaftlichen Fachöffentlichkeit überein. Ein weiterer politische Identität stiftender Bezugspunkt des Romans ist Birotteaus K r i t i k an der Bankrottgesetzgebung. Wie Charles Philipons und Honoré Daumiers Bildserie Caricaturana } die zur gleichen Zeit i n der Satirezeitschrift Le Charivari erscheint, thematisiert Balzac die Problematik des Bankrottbetruges: I m Kapitel »Histoire générale des faillites« schildert der Erzähler die Vorgehensweise beim Konkursverfahren, die den gesetzlichen Rege50

Moniteur industriel, 9. 8.1836.

51

L'Actionnaire ist Gille, »Les Crises«, zufolge die erste Zeitung, die die bürgerliche Ökonomie als regelmäßig wiederkehrenden Krisen unterworfen beschreibt. A m 20. Dezember 1836 heißt es hier: »On a pu remarquer que les crises se renouvellent avec une sorte de périodicité.« 52

Le Commerce , 28. A p r i l 1838; Moniteur 7. Februar 1838. 12*

industriel , 15. und 30. August; und Egide ,

180

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lungen von 1807 entspricht. Der Erzähler mißbilligt die »mauvaises intentions de la loi relativement aux faillis« (271). Die herrschende Form der Bankrottabwicklung ist für ihn »une des plus monstrueuses plaisanteries légales« (272). Befremdend w i r k t die langatmige Ausführung der Passage, die sich wie ein Auszug aus einem Lehrbuch über Wirtschaftsrecht liest. Gerhard Kaiser hat darauf hingewiesen, daß es sich bei diesem Exkurs um eine Montage außerliterarischer Dokumente handelt. 5 3 Barbara Lichtenthäler hat belegt, daß Balzac »sämtliche Punkte des mangelnden Gläubigerschutzes aufgreift, die i m neugefaßten Dritten Buch des Code de Commerce von 1838 durch den Gesetzgeber wesentlich geändert worden sind«. 5 4 Ulrich Schulz-Buschhaus hat in seiner Romandeutung die hier angewandte Montagetechnik wirkungsästhetisch interpretiert: Balzac setze dieses Verfahren ein, u m die »Unansehnlichkeit der bürgerlich-kapitalistischen Realität« zu vermitteln. Notwendig sei das Verfahren, weil »Vorgänge wegen ihrer langwierigen Prozeßhaftigkeit und der aus ihrem berufsmäßig spezialistischen Charakter resultierenden Kommentarbedürftigkeit nur noch essayistisch-traktathaft darstellbar erscheinen«. 55 Eine nähere Betrachtung des zeitgeschichtlichen Kontextes erlaubt es, eine andere i m Roman angelegte Wirkungsintention genauer zu bestimmen: Balzacs K r i t i k an der Bankrottgesetzgebung deckt sich mit den Reformansätzen zu einer Neuregelung des Konkursrechts, die zeitgleich mit der Veröffentlichung des Romans i m Parlament und in der Pairskammer diskutiert werden. 5 6 Die Reformbestrebungen reagieren auf die vermehrte Gründung von Aktiengesellschaften seit Mitte der dreißiger Jahre, die zu einer Welle betrügerischer Bankrotte führt. 5 7 Die Anlagebetrüger können eine Lücke in der Bankrottgesetzgebung nutzen, die es ihnen ermöglicht, in kurzer Zeit hohe Profite zu erwirtschaften. 58 Die Regelung des Code de commerce von 1807 erleichtert die Her53

Kaiser, »Ökonomische Thematik«, 456, Fußnote 46.

54

Barbara Lichtenthäler, Balzac als Jurist. Das Recht - Strukturelement der Comédie humaine (Bonn 1988), 68; in ihrer Studie w i r d nicht deutlich, welche Intention Balzac durch dieses ästhetische Verfahren verfolgt. Siehe hierzu auch Emmanuel Failletaz, Balzac et le monde des affaires (Lausanne 1932), 17. 55 Ulrich Schulz-Buschhaus, »Die Normalität des Berufsbürgers und das heroischkomische Register i m realistischen Roman - Z u Balzacs >César Birotteaudie ewige Wiederkehre - Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das »Sinnlose«) ewig!« (Kritische Gesamtausgabe [Anm. 11], V I I I . Abteilung, Bd. 1,217). 23 Vgl. die Reaktion auf die zweite Anagnorisis: »So ist das Ende da! / U n d welch ein Ende! Eins, das auch den Anfang / Verschlingt und Alles! Die Vergangenheit / Lös't, wie die Zukunft, sich in Nichts mir auf! / Ich hatte Nichts, ich habe Nichts, ich werde / Nichts haben!« (V. 2139ff.) 24

Vgl. Brief an E m i l Kuh, 29. 3. 1857 (Anm. 18) und i m Drama V. 3071 ff.

232

Hartmut Reinhardt

für seinen entschiedenen Rekurs auf die alleinige Relevanz der Individualgeschichte, den er i m Januar 1847 in seinem Tagebuch vorgenommen hat. 2 5 Schopenhauers Polemik gegen die »Konstruktionsgeschichten« läuft auf das gleiche Argument hinaus (II, 568) und mußte den Dichter in seiner Skepsis bestärken. Geradezu höhnisch insistiert er gegen die Verheißung der spekulativen Geschichtsphilosophien, daß das Gute in der Zukunft komme, auf dem Argument, daß »das armselige Erdenglück [ . . . ] ein hohles, täuschendes, hinfälliges und trauriges D i n g ist, aus welchem weder Konstitutionen und Gesetzgebungen noch Dampfmaschinen und Telegraphen jemals etwas wesentlich Besseres machen können« (II, 569). Bis hierher kann Hebbels >Begegnung< mit Schopenhauer als Fall von Koinzidenz beschrieben werden. Was geschieht aber, wenn die persönliche Skepsis, in der ihn die Schriften des Philosophen bestärkt haben mochten, auch in seiner Arbeit als Dramatiker vordringt? Dann muß ein signifikantes Strukturierungsproblem entstehen - und ein solches zeigt sich i m Demetrius, Hebbels letztem großem Projekt, an dessen Vollendung ihn der Tod (am 13. Dezember 1863) gehindert hat. A n diesem Scheitern sind auch werkinterne Schwierigkeiten ablesbar, und diese entstehen offensichtlich daraus, daß der Dramatiker das zuvor - auch in Gyges und sein Ring und in den Nibelungen - noch erfolgreich exekutierte Wendepunkt-Schema mit seiner hegelianischen Fortschritts-Suggestion nicht mehr glaubwürdig finden oder nicht mehr dramaturgisch realisieren kann. Der aus der Schiller-Nachfolge bezogene Stoff bot eine solche Möglichkeit durchaus an, weil die Geschichte vom Moskau-Zug und Sturz des falschen Thronprätendenten mit dem Aufstieg der Romanow-Ära hätte verschränkt werden können. Doch in der Arbeit am historischen Material setzt sich eine Geschichtserfahrung durch, die keinen Fortschrittsglauben mehr trägt, keine Sinnzuschreibung mehr ermöglicht. 2 6 Wenn es überhaupt noch ein Relikt von Gesetzlichkeit gibt, dann ist es die ewige Wiederkehr des Schlechten. Mariamne hat mit ihrer rigorosen Verneinung des Weltgetriebes eine persönliche Konsequenz gezogen. Ihre »Resignation«, so zeigt der Demetrius, hat am Ende die dramatische Organisation der Geschichtstragödie zerbrochen. Die Lektüre Schopenhauers ist dabei zweifellos mit i m Spiel. Bei Hebbel zeigt sich eine charakteristische Form der Auswirkung Schopenhauers auf die geistige Orientierung eines Autors mit literarisch-ästhetischen 25 Tagebuch-Notat Nr. 3914 (Sämtliche Werke [Anm. 17], I I . Abteilung: Tagebücher,; Bd. III). - Es ist andererseits bezeichnend für Hebbels problematische literarische Situation, daß er sich trotz der dezidierten Wendung gegen »Herder-Hegelsche Constructionen des sogenannten welthistorischen Processes« einen Monat später an die Ausarbeitung einer Geschichtstragödie - eben Herodes und Mariamne - macht, die hegelianisch strukturiert wird. 26

Z u Einzelheiten vgl. Vf. (Anm. 20), 404 ff.

Die Rezeption Schopenhauers i m Theater

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Folgen. Die in eine Krise treibende Koinzidenz Hebbels mit dem Philosophen führt uns vor Augen, wie verbreitet die Bewußtseinslage und die Problemkonstellation ist, die Schopenhauer auf den Begriff bringt, so daß sein Denken auf die Zeitgenossen wie ein aufklärender Spiegel wirken kann. Wie Hebbel hätte auch Richard Wagner, 1854 i m Züricher Exil als musikdramatischer Gestalter gerade mit einem großen Ausbruch von Willensverneinung - Wotans, der Zentralgestalt der Ring-Tetralogie - befaßt, als er an Schopenhauers philosophische Lehre derselben gerät, 27 oder Wilhelm Raabe, dessen Schopenhauer-Lektüre die Entstehung des Schüdderump (1867-69) begleitet, oder mancher andere spontan oder sogar dankbar ausrufen können: »der Mann hat ganz recht!« II. Konvergenz. - Ein Mann sitzt i n seinem Landhaus, möchte den lieben langen Tag offenbar beschaulich vorüberziehen lassen, empfängt einen Boten nicht, der ihm die unangenehme, doch nach Lage der Dinge nicht ganz unwichtige Nachricht vom Einmarsch eines großen feindlichen Heeres überbringen w i l l , verschwendet keinen Gedanken an Gegenwehr, sondern scheint ausschließlich an seinem Frühstück interessiert - und an der Hühnerzucht, denn die Legeleistung seiner Hennen läßt er sich en détail schildern. Diese Hühner tragen berühmte Namen wie Augustus, Tiberius oder Marc Aurel. Auch der Hühnerzüchter selbst führt einen römischen Kaisernamen: es handelt sich u m Romulus Augustus, den letzten weströmischen Kaiser. I n seiner heruntergekommenen Villa in Campanien erwartet er - i m Jahre 476 - den feindlichen germanischen Fürsten Odoaker. Als die beiden dann schließlich zusammentreffen, gehen sie nicht etwa mit dem Schwert kriegerisch aufeinander los, sondern führen ein freundschaftliches, auch von Sorgen erfülltes Gespräch mit - sozusagen - besonderer Berücksichtigung der Hühnerzucht, denn auch der Germane betreibt sie mit Leidenschaft. Friedrich Dürrenmatts »ungeschichtliche historische Komödie« (so der U n tertitel) Romulus der Große w i r d als Farce eröffnet, in der ein Kaiser - nach dem bösen D i k t u m seiner Ehefrau - »den ewig verfressenen Hanswurst« gibt (77) 2 8 und auf eine komische, wenn nicht schon schändliche A r t unterläßt, was 27 Vgl. zu dieser Rezeption skizzenhaft Vf., »Richard Wagner und Schopenhauer«, in: Richard-Wagner-Handbuch, hg. U l r i c h Müller und Peter Wapnewski (Stuttgart 1986), 101-113. - Aus der Luft gegriffen erscheint die Behauptung von Wolfgang Breidert: »Trotzdem war Wagner letztlich v o m Gesamtsystem dieser Philosophie enttäuscht, denn er mußte feststellen, daß es keine Philosophie für politische und soziale Agitation, keine Philosophie für revolutionäre oder missionarische Weltverbesserer ist.« W. Breidert, »Arthur Schopenhauer (1788-1860)«, in: Klassiker der Philosophie, hg. Otfried Höffe (München 1981), Bd. I I , 115-131,127. 28 Dürrenmatt w i r d zitiert nach der Werkausgabe in 30 Bänden, hg. in Zusammenarbeit mit dem A u t o r (Zürich 1980); Zitate aus Romulus der Große (in der Fassung letzter H a n d [1980]) werden i m fortlaufenden Text durch Angabe der Seitenzahl nach Bd. I I , 9 - 1 1 5 , nachgewiesen. I m folgenden sind nicht alle Handlungslinien und Stilphänomene wie die

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seine politische Pflicht wäre: Maßnahmen zur Gegenwehr, die Mobilisierung des Heeres, die Verteidigung seines bedrohten Landes. Die beiden ersten Akte enden mit vernichtenden Urteilssprüchen über Romulus: »Rom hat einen schändlichen Kaiser!« (46) - »Dieser Kaiser muß weg!« (69) Dann aber stellt sich heraus, daß hinter alledem ein Plan steht, der auf nichts Geringeres abzielt als die Liquidation des römischen Weltreiches. Der den Narren gespielt hat, erklärt sich als »Roms Richter« (78). Der römische Staat - so zieht Romulus Bilanz - »ist ein Weltreich geworden und damit eine Einrichtung, die öffentlich Mord, Plünderung, Unterdrückung und Brandschatzung auf Kosten der anderen Völker« betrieben hat (77). Dieser Macht- und Gewaltstaat besteht nicht zu Recht. Wenn es nach dem Recht geht, muß er abgeschafft werden. U m ihn abschaffen zu können, mußte sich sein »Richter« an die vorgegebene Machtstruktur anpassen und also selbst Kaiser werden. Dann ließ er die Dinge treiben, bis die Germanen ante portas stehen - damit kann das Urteil über das römische Reich vollstreckt werden. Das politische Nichtstun des Romulus, seine »Faulenzerei«, gewinnt damit ihren »Sinn« (76). Eine moralisch begründete Verneinung von etwas, das besser nicht bestünde, führt konsequent zu seiner Abschaffung, und in dieser Abschaffung steckt die Sinngebung. Eine Denkstruktur zeichnet sich ab, die uns vertraut vorkommt - vertraut von Schopenhauer. Dürrenmatts Stück ist in mehreren Versionen überliefert, je nach Zählweise in vier oder fünf von der Basler Uraufführung (1949) bis zur »Neufassung« von 1980, die eigentlich nur eine neue Redaktion der Züricher Fassung (1957) bietet. 2 9 Die Textgeschichte belegt, daß dem A u t o r offenbar der vierte A k t zu schaffen machte, denn nur hier differieren - von Marginalien abgesehen - die einzelnen Fassungen (mit der entscheidenden Zäsur 1957). Offenbar gab es Schwierigkeiten, eine dramaturgisch schlüssige Konfiguration der Geschichtsverneinung zu finden und die »Komödie« auf den Reflexionsstand des Essays Theaterprobleme (1954) zu bringen. I n dieser vielzitierten arspoetica in eigener bewußt eingesetzten Anachronismen (»die totale Mobilmachung«, »Endsieg« u. a.) aufgenommen. Vgl. zur Diskussion von Dürrenmatts Stück Hans-Jürgen Syberberg, »Friedrich Dürrenmatt. Romulus der Große«, in: Das deutsche Drama vom Expressionismus bis zur Gegenwart. Interpretationen, hg. Manfred Brauneck (2. Aufl., Bamberg 1972), 203-219; Herbert Kaiser, »Geschichtliches Handeln zwischen Friedensidee und Gewalt«, in: Literatur für Leser; 1 (1978), 3 5 - 7 4 (im Vergleich mit Shakespeare, Goethe, Schiller und Grillparzer auf die Divergenz von Geschichte und Ethik bei Dürrenmatt aus); Günter Scholdt, »Romulus der Große? Dramaturgische Konsequenzen einer Komödien-Umarbeitung«, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie, 97 (1978), 270-287; U l r i c h Profitlich, »Geschichte als Komödie - Dürrenmatts Romulus der Große«, in: Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen, hg. Walter H i n c k (Frankfurt a. M a i n 1981), 254-269. 29

Vgl. Scholdt (Anm. 28), 271, und ergänzend Gerhard P. Knapp, Friedrich matt, Sammlung Metzler, 196 (2. Aufl., Stuttgart/Weimar 1993), 59 f.

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Sache legt Dürrenmatt bekanntlich dar, daß angesichts der Defizienz der Weltläufe i m 20. Jahrhundert die »Tragödie« (wie sie Hebbel noch erzwungen hat) unmöglich und die »Komödie« unausweichlich geworden ist. 3 0 Die A r t , wie die - gemäß traditioneller poetologischer Hierarchie - untergeordnete dramatische Gattung ins Spiel gebracht wird, sagt einiges aus über das Niveau der geschichtlichen Vorgänge und über die Geringschätzung der individuellen Handlungskapazität. Wo sich noch Größe zeigen mag wie bei Hitler und Stalin, da haftet sie Verbrechern (»Weltmetzgern«) an, die nicht für die Tragödie taugen. 31 Der »Komödie«, wie sie der A u t o r als Schwundstufe der Weltdarstellung konzipiert, w i r d einiges aufgepackt: sie soll das Tragische in sich aufnehmen und, einen »Einfall« in die schlimmstmögliche Wendung treibend, das Groteske und Paradoxe der Wirklichkeit durchschaubar machen, »das Gesicht einer gesichtslosen Welt« zeigen. 32 Stücke wie Der Besuch der alten Dame (1956) und Die Physiker (1962) folgen dieser Konzeption konsequent und mit Gelingen. A u f diesen Standard wollte Dürrenmatt auch seine ältere Geschichtskomödie um den letzten römischen Kaiser Romulus bringen, der i n der Maske des Narren ein weises Werk der Negation betreibt, bei dem ihm - oder seinem A u t o r zunächst noch allzu viele billige Späße unterlaufen sind. Die erste Version des Finalaktes, die Aufführungen 1949 zugrunde gelegen hat, führt vor, wie Romulus die eindringenden Germanen allesamt mit römischen Ämtern und Titeln ausstattet und durch geschickte Berufungspolitik sein militärisch verlorenes Reich in fünf Minuten zurückerobert. Der Germanenfürst Odoaker, in ein Eisbärenfell gekleidet, kündigt an: »Ich kehre mit meinen hunderttausend Soldaten i m Trauermarsch nach Germanien zurück und klettere mit meinem ganzen Volk wieder auf die Bäume.« Die Anspielwitze werden arg flach und bleiben es, wenn Romulus replizierend von der wünschenswerten Rassenmischung spricht und Odoaker bei der Aussicht, daß Romulus zum »Kaiser von Germanien« ernannt werde, »überwältigt« niederkniet: »Wenn w i r nicht die Nation der Dichter und Denker werden, gehe ich zum Zirkus!« 3 3 Als Odoaker dann erfährt, daß es Romulus ernst ist mit der Abschaffung des römischen Imperiums und »die Germanen [ . . . ] an der Reihe« sind, da quittiert er den Vorgang mit dem berühmten Schlußsatz von Hebbels Meister A n t o n (im bürgerlichen Trauerspiel Maria Magdalena): »Ich verstehe die Welt nicht 30

Werkausgabe (Anm. 28), Bd. X X I V , 62. - Z u m Zusammenhang vgl. Jan Knopf, Friedrich Dürrenmatt, Beck'sche Reihe, Autorenbücher 611, (4. Aufl., München 1988), 84 ff., und Vera Schulte, Das Gesicht einer gesichtslosen Welt. Zu Paradoxie und Groteske in Friedrich Dürrenmatts dramatischem Werk (Frankfurt a. Main / Bern / N e w York/Paris 1987). 31

Werkausgabe (Anm. 28), Bd. X X I V , 59.

32

Werkausgabe (Anm. 28), Bd. X X I V , 62.

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Werkausgabe (Anm. 28), Bd. X X I V , 138.

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mehr.« 3 4 Romulus tritt ab, und sein Imperium besteht nicht mehr - sein A b schaffungsplan ist aufgegangen. Die zweite Lösung, für eine Züricher Neuaufführung 1957 ausgearbeitet, führt Romulus und Odoaker zu dem schon geschilderten friedlichen Gespräch über die Weltläufe und die Hühnerzucht zusammen. Vom historischen Stoff her hätte sich das alte Wendepunkt-Schema angeboten, das den Aufgang der germanisch-christlichen Epoche aus den heruntergekommenen Resten der römischen Welt mit einer Fortschrittsemphase versehen könnte. Doch Faktentreue interessiert den A u t o r 3 5 ebensowenig wie fast alle Geschichtsdramatiker vor ihm, und das Angebot einer Sinnstiftung durch Geschichtsinnovation w i r d von den Disputanten nicht einmal einer Erörterung und in ihr einer ausdrücklichen Ablehnung für wert gehalten. Ein »Gespräch über Hühnerzucht« (105) ist allemal interessanter als Politik und Historie. U n d doch werden der Römer und der Germane von einer politischen Sorge heimgesucht: Odoaker, eigentlich ein friedlicher Bauer, weiß genau, was angesichts seiner sich schon ankündigenden Umtriebigkeit vom Neffen Theoderich zu erwarten ist. I n ihm, der von der »Weltherrschaft« träumt (107), kündigt sich i m geschichtlichen Prospekt eine neue Gewaltherrschaft an. Die Geschichte w i r d sich wiederholen, und die richterliche Machtliquidierung des Romulus verliert ihren Sinn. Die beiden friedlichen Hühnerzüchter trauen sich nicht die Fähigkeit zu, Theoderich zu verhindern: » [ . . . ] ein zweites Rom w i r d entstehen, ein germanisches Weltreich, ebenso vergänglich wie das römische, ebenso blutig.« (109) Romulus und Odoaker können nur versuchen, die neue Gewaltherrschaft ein wenig zu verzögern. Erst in dieser Fassung erreicht Dürrenmatts Stück jene groteske K o m i k , die dem Theoretiker der Theaterprobleme als literarische Konsequenz seiner geschichtlichen Erfahrung vorgeschwebt hat. 3 6 Den »Gymnasiastenscherzen« vom Schlage der germanischen Baumbewohner, die Max Frisch nach der Lek34

Werkausgabe (Anm. 28), Bd. X X I V , 141.

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Vgl. Dürrenmatts »Anmerkung I I zu >Romulus der GroßeGroßeneine< Gedanke Schopenhauers als so »selbstverständlich«, daß er ganz i n die Prämissen eingewandert ist? Das Geschäft der Bernhard-Philologie, ohnehin kein leichtes, gerät auch bei der Aufschlüsselung der Schopenhauer-Reflexe in Schwierigkeiten, angesichts derer interpretatorische Kühnheit zwar gefragt, aber auch riskant sein muß. I n Verstörung (1967) berichtet der alte Fürst Saurau, daß sein Vater kurz vor dem Selbstmord aus seinen früheren »Lieblingsbüchern« - darunter Die Welt als Wille und Vorstellung - »die entscheidenden Seiten herausgerissen« und dann »aufgegessen« habe. »Schopenhauer ist für mich immer die allerbeste Nahrung gewesen«, habe der Vater notiert. 4 8 I m Prosatext Ja (1978) - das Titelwort stellt sich als eine Affirmation des Selbstmordes heraus, den Schopenhauer bekanntlich nicht rechtfertigt - findet sich die höchste Schopenhauer-Panegyrik in Bernhards Texten. 4 9 D e m Ich-Erzähler gilt Die Welt als Wille und Vorstellung »schon von frühester Jugend an« als »das wichtigste aller philosophischen Bücher«, und seine verläßliche Wirkung sei stets »die vollkommene Erfrischung meines Kopfes« gewesen. So könnte man fortzitieren. Es heißt, daß der Ich-Erzähler das Buch »aus der Bibliothek [s]eines Großvaters mütterlicherseits geerbt habe«. Die A u t o renreferenz prägt sich derart deutlich aus, daß sich der Leser zu einem methodisch eigentlich verbotenen Schritt versucht sehen und die Schilderung der Schopenhauer-Lektüre Bernhard selbst zuschreiben möchte. Bei aller begründeten Reserve gegenüber Systematisierungen i n Sachen Bernhard w i r d man feststellen können, daß sich die Schopenhauer-Nennungen in zwei Richtungen verzweigen: in die tragische mit den Assoziationshöfen des 47 Vgl. Huber (Anm. 43), 17 ff. - I n dieser Arbeit, die das Thema aus der i n der Tat fruchtlosen »Abhängigkeitsdiskussion« herauszuführen versucht, findet man auch eine kritische Sichtung der inzwischen wie die gesamte Bernhard-Literatur stattlich angewachsenen Spezialforschung (27 ff.). Die Untersuchung der Schopenhauer-Beziehung beginnt nicht gerade verheißungsvoll mit Gerald Jurdzinski, Leiden an der »Natur«. Thomas Bernhards metaphysische Weltdeutung im Spiegel der Philosophie Schopenhauers (Frankfurt a. M a i n / Bern / N e w Y o r k / N a n c y 1984), (vgl. meine kritische Rezension i m Schopenhauer-Jahrbuch, 68 [1987], 223-226, sowie Huber [Anm. 43], 31 ff.). Die anspruchsvollste Untersuchung des Bernhard-Theaters bietet, ohne Akzentuierung Schopenhauers, Christian Klug, Thomas Bernhards Theaterstücke (Stuttgart 1991). 48

Thomas Bernhard, Verstörung (1967), zitiert nach der Ausgabe Frankfurt a. M a i n 1972, 155. - G. Jurdzinski meint »die entscheidenden Seiten« bei Schopenhauer als dessen Ethik identifizieren zu können und schließt auf »die Verwerfung von dessen Philosophie« (S. 163). Das eine ist nicht zu beweisen und das andere schlicht falsch: Die Aufnahme von »Nahrung« (der allerbesten sogar!) bringt niemals eine »Verwerfung« zum Ausdruck wenn es sich u m Buchseiten handelt, allenfalls eine sich jeder Deutung widersetzende Verrücktheit. 49

Thomas Bernhard, Ja (Frankfurt a. M a i n 1978), 65 ff.

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Untergangs, der Verzweiflung, der Sinnlosigkeit und in die komische, das Reich des Lächerlichen. Für einen Verzweifelnden wie den Musikphilosophen Reger kann Schopenhauer zum »Uberlebensmedikament« werden, »das er in W i r k lichkeit ja gar nicht ist«. 5 0 Damit läßt sich eine Konstatierung des Protagonisten Roithamer (aus Korrektur; 1975) in Verbindung bringen: es sei »möglich und sehr wahrscheinlich, i n der sogenannten Erkenntnis des Schmerzes glücklich zu sein [ . . . ] . Wie zum Beispiel Aufschreiben von höchstem Unglück höchstes Glück sein kann [ . . . ] . « 5 1 Man kann an Schopenhauers Glücksfall der ästhetischen Weltbeziehung denken, w i r d aber auch bedenken müssen, daß dieses Glück nach Schopenhauer transitorisch ist und daß es sich bei Bernhard abermals u m eine Selbstmordgeschichte handelt. Auch in Auslöschung (1986), Thomas Bernhards umfangreichstem und - in der Chronologie der Publikationen - letztem Prosawerk, ist Schopenhauers Name mit der Reminiszenz an seine »philosophischen Anstrengungen« so akzentuiert eingesetzt, daß sich der interpretierende Nachgang l o h n t , 5 2 findet sich allerdings auch eine Witzelei über den »Hund des Philosophen«, 53 mit der der Autor auch schon in Beton (1982) aufgewartet hat. 5 4 Die eher komischen Schopenhauer-Allusionen folgen einem »philosophischen Lachprogramm«, das Thomas Bernhard 1981 in eine Fernsehkamera hineingesprochen hat. 5 5 Zwar sei eine trockene, nur ernste Philosophie [ . . . ] nicht zum Lachen [ . . . ] Aber beim Schopenhauer kann ich auch lachen; je verbissener er ist, desto mehr ist er zum Lachen. N u r nehmen die Leut' das alles tragisch ernst. Nur, wie kann man jemanden ernst nehmen,

der mit einem Pudel verheiratet ist? Der Pudel des Philosophen hat es ihm nun einmal angetan. Möglich, daß sich Bernhard auch von den Ausführungen Schopenhauers »Zur Theorie des Lächerlichen« (II, 121 ff.) hat inspirieren lassen und nun diese Theorie auf ihren Urheber und seine Lebensgewohnheiten zurückwendet. Doch eigentlich w i l l Bernhard mit seiner despektierlichen Benennung (»Lach-Philosoph«) auf seine vertrackte A r t eine Auszeichnung vornehmen: »Das sind die großen Spaß50 Thomas Bernhard, Alte Meister. Komödie [in Erzählform] (Frankfurt a. Main 1985), 287. - Vgl. Bernhard Sorg, »Überlebenskunst. Zur Schopenhauer-Rezeption bei Thomas Bernhard und A r n o Schmidt«, in: Schopenhauer-Jahrbuch, 74 (1993), 137-150,138 f. 51

Thomas Bernhard, Korrektur.

Roman (Frankfurt a. M a i n 1975), 245.

52

Thomas Bernhard, Auslöschung. Ein Zerfall (Frankfurt a. Main 1986), 8 f., 218 u. ö. Vgl. dazu jetzt Wellbery (Anm. 15), 61 f. 53

Auslöschung (Anm. 52), 213.

54

Thomas Bernhard, Beton (Frankfurt a. M a i n 1982), 75 ff. (eine quasi-musikalische Durchführung des Hundethemas). 55 Zitiert nach: »Monologe auf Mallorca. Thomas Bernhard - eine Herausforderung. Gestaltung: Krista Fleischmann und Wolfgang Koch«, in: ORF-Nachlese, 4 (1981), 3 f.

16 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 41. Bd.

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macher in der Geschichte: Schopenhauer, Kant, also die Allerernstesten i m Grund; da gehört der Pascal auch dazu auf seine katholisch-mysteriös-religiöse Art: das sind eigentlich die großen Lach-Philosophen.« Das besondere Genre von Theaterstücken, das diesem Konzept folgt, w i r d eröffnet durch Immanuel Kant (1978) und führt über Der Weltverbesserer (1978 veröffentlicht, 1980 uraufgeführt mit dem unvergeßlichen Bernhard Minetti) zu Ritter; Dene, Voss (1984), wobei sich hinter den Schauspieler-Namen ein Wittgenstein-Stück verbirgt. Unter diesen Philosophenkomödien bietet sich vor allem der Weltverbesserer für eine nähere Untersuchung an, weil hier der Schopenhauer-Reflex am deutlichsten ausgeprägt scheint. 56 Ein glatzköpfiger alter Mann räsonniert endlos über Welt und Menschen. Er drangsaliert eine Frau, die seine Lebensgefährtin oder seine Haushälterin sein könnte - sie bedient und umsorgt ihn, meist schweigend, als hätte sie kein Rederecht. Ein Strindberg-Nachspiel w i r d erkennbar mit den vertrauten A n i mositäten des >Geschlechterkampfestragischen< als auch >komischen< Assoziationen versehen sind: das Reisen (mit Krankheit verbunden), das Denken (ohnehin!), die Krankheit, das Altern usw. Doch hauptsächlich geht es bei allem zur pauschalen Absage drängenden Weltleiden u m das Essen - und dieses Thema kommt in den Tiraden des Weltverbesserers mit spürbarer Emotion, in ungebrochener Freude zum Vorschein. Frühstück und Mittagessen geben dem Stück seinen Zeitrahmen, und immer wieder hört man den leidend-schimpfenden Alten auf seinem Thronsessel Mahlzeiten planen und fast zwanghaft auf die bevorstehenden Freuden (»Vielleicht doch Nudeln«) einschwingen. Er ißt, also ist er, trotz allem anderen. Vielleicht spielt auch diese Eßlust auf Schopenhauer an, der eine solche Neigung durch den keineswegs seltenen Einsatz kulinarischer Metaphern verrät. Bekanntlich hat er die Musik vor allen anderen Künsten emphatisch gefeiert und metaphysisch ausgezeichnet. Doch wie macht er den Vorrang der »Melodie« vor der »Harmonie« plausibel? Durch den Vergleich mit »Braten und Sauce« (V, 509).

66 67

Vgl. Horkheimer (Anm. 39), 258.

Vgl. zu dieser - erfolgreich auf Kleist angewendeten - Theorie des Komischen Johannes Endres, Das »depotenzierte« Subjekt. Zu Geschichte und Funktion des Komischen bei Kleist (Würzburg 1996), zu Schopenhauer 5 9 - 6 1 .

Das Opfer, der Dichter und die nationale Identität Irischer Mythos in Gedichten von Yeats, Heaney und Muldoon Von Peter Hiihn

Lyrik dient seit Beginn der Neuzeit als ein bevorzugtes Medium für die Selbstkonstitution und Selbstvergewisserung des modernen Individuums. Dabei orientiert sich das individuelle Bewußtsein, wie es sich in Gedichten monologisch und zumeist einsam artikuliert, an spezifischen Sinnmustern und Instanzen, u m sich seiner Identität zu versichern und sich zu stabilisieren, wie der Intimbeziehung zu einem anderen Individuum (in der Liebe), dem Bezug auf seinen ontologischen Ursprung in Gott (in der Religion), der eigenen Kreativität als Dichter oder der weltschöpfenden Kraft der eigenen Subjektivität (seit der Romantik). Neben individuellen Identitätsdefinitionen gibt es aber auch, unter bestimmten kulturellen und sozialen Umständen, Selbstkonzeptualisierungen über den Bezug auf ein Kollektiv wie die eigene N a t i o n oder Klasse. Ein interessanter Fall dieser A r t liegt in der irischen Lyrik des 20. Jahrhunderts vor, bedingt durch den besonderen Prozeß, in dem Irland seit dem 19. Jahrhundert i m Widerstand gegen die englische Kolonialherrschaft seine eigenständige Kultur teils wiederentdeckte, teils allererst neu erfand und sich als N a t i o n herausbildete. 1 Die irische Selbstbefreiung von der kulturellen, ökonomischen und politischen Unterdrückung durch England basierte darauf, daß die Iren sich ein positives kollektives Selbstbild schufen, indem sie ihre Verunglimpfung durch die Engländer als primitiv, barbarisch und zurückgeblieben umwerteten. M i t dieser verunglimpfenden Einschätzung rechtfertigte England seinen imperialen Anspruch, als Verkörperung der fortschrittlichen aufgeklärten Zivilisation die kolonisierten Völker, wie eben auch die Iren, zu beherrschen, u m sie zu zivilisieren. Dieses neue positive kollektive Selbstbild wurde vor allem von irischen Literaten, i m Celtic Revival, darunter von Lyrikern wie W. B. Yeats, geschaffen 1 Siehe die ausführlichen Darstellungen, mit Betonung des Moments der Erfindung, bei Declan Kiberd, Inventing Ireland: The Literature of the Modern Nation (London 1996) und David Cairns/Shaun Richards, Writing Ireland: Colonialisation, Nationalism and Ctilture (Manchester 1988).

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und w i r k t bis heute nach. Es stützt sich wesentlich auf reaktivierte und idealisierte keltische Mythen. Mythen in diesem allgemeinen Sinne sind (rudimentäre) Erzählungen, die als durch Tradition oder Religion sanktionierte Erklärungs- und Rechtfertigungsmuster für Handlungen und Vorgänge dienen. 2 Ein besonders einflußreiches Konzept dieser A r t ist der Opfer- oder Märtyrermythos, wie er sich etwa in der Gestalt von Cuchulain , dem exemplarischen Krieger, der heroisch kämpft und untergeht, oder der von Kathleen Ni Houlihan manifestiert, der weiblichen Symbolfigur eines mythischen Irland, die Männer in den Kampf und damit in den Tod für die Wiedergeburt und Freiheit des Landes schickt 3 - ein Mythos, der auch praktisch die Unabhängigkeit Irlands herbeiführen half. Denn die irischen Nationalisten, die den Osteraufstand von 1916 organisierten, wurden durch sein (bewußt einkalkuliertes) Scheitern und ihre Hinrichtung zu Märtyrern, gaben damit der irischen Unabhängigkeitsbewegung neue Impulse und trugen so zur Entstehung des Irish Free State i m Jahre 1922 bei. Die Gründung der kollektiven Identität auf einen derartigen archaischen Mythos und speziell einen (Selbst-)Opfermythos als Gegenkonzept zu der durch England repräsentierten politisch-wirtschaftlichtechnischen Modernisierung ist allerdings problematisch. Einerseits gewährt der Mythos das Gefühl kultureller Eigenständigkeit und ethnischer Zugehörigkeit, das sonst in der modernen Welt verloren zu gehen droht, andererseits legt der Mythos das eigene Selbstbild auf die Ablehnung von Moderne und Rationalisierung fest und bedeutet daher Abkoppelung von der allgemeinen historischen Entwicklung. Die Identitätskonstitution über den Mythos umfaßt also interne Widersprüche zwischen historisch vorwärts- und rückwärtsgewandten Tendenzen. Zudem übernimmt der mythisch definierte Nationalismus , da als Gegenkonzept zum Imperialismus entworfen, dessen totalisierende und totalitäre Tendenz, nämlich den Zwang zu radikalem Einheitsstreben, zur Ausgrenzung abweichender Auffassungen und zur Funktionalisierung von Gewalt, sow o h l in Form des Selbstopfers als auch letztlich des Opferns anderer - eine Tendenz, die sich kraß in den terroristischen Aktivitäten der I R A manifestiert. 4 2 Zur Bestimmung von Narrativität und Sinnzuschreibung als Grundmomente des Mythos vgl. z. B. Laurence Coupe, Myth (London 1997), 1 ff.; D o n Cupitt, The World to Come (London 1982), 29; William Righter, Myth and Literature (London 1975), 5, 38, 41, 122; Manfred Fuhrmann (Ed.), Terror und Spiel: Problem der Mythenrezeption (München 1971), 9, sowie (mit Bezug auf die Moderne) Michael Bell, Literature , Modernism and Myth: Belief and Responsibility in the Twentieth Century (Cambridge 1997), 1 ff. 3

Zur Funktionalisierung dieses Mythos speziell i m irischen Drama vgl. Claudia W. Harris, »The Martyr-Wish i n Contemporary Irish Dramatic Literature«, in: Michael Kenneally (Ed.), Cultural Contexts and Literary Idioms in Contemporary Irish Literature (Gerrards Cross 1988), 251-268. 4 Die paradoxe, intern selbst-widersprüchliche Konstellation des kulturellen Nationalismus in Irland (und i n anderen postkolonialen Ländern) w i r d sehr prägnant von Seamus

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Aufgrund seiner zentralen kollektiv identitätsstiftenden Funktion und der mit ihr verbundenen politisch-kulturellen Problematik und Ambivalenz ist die Auseinandersetzung mit dem irischen Mythos denn auch zu einem durchgängigen Thema der (nord-)irischen Lyrik dieses Jahrhunderts geworden, von W. B. Yeats und Austin Clarke über Thomas Kinsella und Seamus Heaney bis zu Ciaran Carson, Paul Durcan und Paul M u l d o o n - anfangs vor allem i m Sinne der eigenen Identitätssicherung, später vielfach i m Streben nach kritischer Distanzierung. 5 Vor diesem Problemhorizont sollen i m folgenden einige Gedichte von Yeats, Heaney und M u l d o o n unter einer doppelten Fragestellung untersucht werden, zum einen darauf hin, wie der Mythos - i m Widerstreit zwischen Tradition und Moderne, zwischen kollektiven und individuellen Bezügen - für die Konstitution von Identität verwendet oder i n dieser Hinsicht problematisiert w i r d und wieweit sich diese Identifizierung mit der Selbstreflexion der Dichterrolle verbindet, zum anderen, inwiefern die Gedichte die narrative Qualität des Mythos ausnutzen und selbst mit erzählerischen Techniken operieren, da Erzählen als fundamentales Verfahren zur Sinnerzeugung und speziell zur Identitätsdefinition auch, wie ich meine, in der Lyrik eingesetzt w i r d (wenngleich meist nicht mit diesen Begriffen beschrieben). Die Gedichte vermitteln Subjektivität, indem sie auf den Mythos als stabilisierenden Referenzrahmen in Form einer rudimentären »Erzählung« (einer erzählten Veränderung oder Entwicklung) für die eigene Verortung zurückgreifen bzw. diesen Bezug problematisieren oder ganz verwerfen. Auch wenn bei jüngeren Autoren die Vorbehalte gegen mythische Bezüge zunehmen oder sich gar bis zur Ablehnung steigern, bleiben die Gedichte vielfach ambivalent i n ihrer Einstellung. Offenbar fällt den irischen Lyrikern die Loslösung vom Mythos deswegen nicht leicht, weil ihr historisches Selbstbild darauf basiert und sie mit ihm zugleich eine Möglichkeit der Formulierung einer kulturell spezifischen Identität aufgeben würden. W. B. Yeats' »Easter, 1916«6 veranschaulicht nahezu idealtypisch, wie der Mythos poetisch geschaffen und zur (auch dichterischen) Selbst-Identifikation Deane beschrieben i n »Imperialism/Nationalism«, in: Frank Lentricchia / Thomas McLaughlin (Eds), Critical Terms for Literary Study (Chicago 2 1995), 354-368. Z u m historischen Hintergrund dieser Konstellation vgl. Seamus Deane, Strange Country: Modernity and Nationbood in Irish Writing since 1790 (Oxford 1997). 5

Richard Kearney bietet in Postnationalist Ireland: Politics, Culture , Philosophy (London 1997) eine präzise Analyse der ^politischen Problematik der Funktionalisierung des Mythos (57 ff.) wie auch der Schwierigkeiten der Auseinandersetzung mit i h m (115 ff.). Vgl. ferner den Uberblick über diese Kontroverse i m Kontrast zwischen Yeats und Joyce bei Terence Brown, »Yeats, Joyce and the Current Irish Debate«, in Kenneally (Ed.), Cultural ContextSy 113 - 1 2 3 . 6 Michael Roberts and the Dancer (1921), W. B. Yeats. The Poems: A New Edition, ed. Richard J. Finneran ( N e w York 1983), 180-183.

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des Sprechers eingesetzt wird. Das Gedicht bezieht sich auf den erwähnten Osteraufstand irischer Nationalisten, den die Engländer wegen mangelnder Unterstützung in der Bevölkerung rasch niederschlagen konnten und dessen Anführer sie unmittelbar danach erschossen, und gibt diesem historischen Ereignis eine mythisierende Deutung. Der Sprecher nimmt nacheinander zwei Subjektpositionen mit je unterschiedlichen Sinnperspektiven ein, die alltagsweltliche, bürgerliche oder aristokratische 7 Sicht vor sowie die mythisierendpoetische Sicht nach dem Aufstand, und das Gedicht transformiert in seinem Ablauf die eine Position in die andere: Es erzählt diese Transformation. Die erste Position ist die des privaten Bürgers der modernen Großstadtwelt, der auch die Rebellen ursprünglich angehörten und die durch Oberflächlichkeit und Stagnation, durch das Fehlen eines übergreifenden Ordnung- und zielgebenden Sinnsystems charakterisiert wird, wie das leitmotivisch wiederholte Adjektiv »meaningless« unterstreicht. Dies Leben erscheint als »Komödie« (»thought [ . . . ] O f a mocking tale or a gibe«, 9 f.; »but lived where motley is worn«, 14; »the casual comedy«, 37), was die moderne bürgerliche Existenz als nicht-ernsthaftes bloßes Rollenspiel definiert, als Streben nach Zerstreuung ohne eine existentiell-engagierte Identität. Der Umschlag von der alltagsweltlichen Subjektperspektive des Bürgers in die des myth isierenden Dichters w i r d unmittelbar mit der radikalen Umwertung der Rebellen parallelisiert, mit ihrer Verwandlung von modernen bürgerlichen Individuen mit unterschiedlichen (vom Sprecher positiv oder negativ bewerteten) Charaktermerkmalen in mythische Figuren. Dies w i r d gerade an John MacBride exemplifiziert, einer Yeats besonders verhaßten Person (wegen MacBrides kränkender Behandlung seiner Frau Maud Gönne, der Yeats' lebenslang unerfüllte Liebe galt): »Yet I number him in the song; / He, too, has resigned his part / I n the casual comedy; / He, too, has been changed in his turn, / Transformed utterly« (35 ff.). Der Schluß des Gedichtes besiegelt dann die Verwandlung der Rebellen in mythische Embleme des regenerierten Irland, deutlich i m Hinweis auf die symbolische Farbe G r ü n 8 und darin, daß sie erst damit ihre wahre Identität erhalten haben, wie die beschwörende Aufzählung der Namen bekräftigt: »I write it out in a verse - / MacDonagh and MacBride / A n d Connolly and Pearse / N o w and in time to be, / Wherever green is worn, / Are changed, changed utterly« (74 ff.). Der neugeschaffene Mythos transzendiert Zeit und Raum (»now and in time to be«, »wherever green is worn«) und w i r d damit über-historisch.

7 Dies deutet der Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einem Club an: »thought [ . . . ] / O f a mocking tale or a gibe / To please a companion / Around the fire at the club« ( 9 - 1 2 ) . 8

Sowie symbolisch eventuell i m Hinweis auf die Mutter (62), in der man eine Anspielung auf die mythische Figur der Mutter Irland sehen kann.

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251

Zwischen diesen beiden personen-bezogenen Passagen vollzieht sich die mythische Verwandlung ein zweites Mal auf der Ebene von unpersönlichen Bildern der irischen Landschaft. Der Kontrast zwischen der Starrheit eines Steins und der vitalen Veränderlichkeit der Bäche, Tiere und Wolken steht metaphorisch für den Widerstreit zwischen der monomanischen Fixiertheit der Rebellen auf ihr eines politisches Ziel und dem sich ständig wandelnden Leben ihrer Umgebung, das sie mit ihrer starren Obsession stören: »Hearts w i t h one purpose alone / Through summer and winter seem / Enchanted to a stone / To trouble the living stream« (41 ff.). Die mythische Transformation der Rebellen spiegelt sich in der Relation der versteinerten Herzen zur vitalen Umwelt, i m Umschlag vom Störfaktor i m Lebensstrom zu seinem Zentrum: »the stone's in the midst of all« (56). Zugleich w i r d die Versteinerung qualitativ umgedeutet von einer Verzauberung zu einem Selbstopfer (»sacrifice«): »Too long a sacrifice / Can make a stone of the heart« (57 f.). Damit vollendet sich die Mythisierung des politischen Ereignisses und der Rebellen. 9 Wie sehr die mythisierende Deutung am Schluß verfestigt und verabsolutiert ist, verrät sich darin, daß der Sprecher kritische Zweifel am Sinn des Opfers (»Was it needless death [ . . . ] « , »what if excess of love [ . . . ] « , 67f., 72f.) durch Verweis auf die Faktizität des Todes zurückweist und damit den Mythos gegen rationale Infragestellung immunisiert: »We know their dream; enough / To know they dreamed and are dead« (70 f.). Daß diese Fragen aber überhaupt artikuliert werden, macht eine unterschwellige Ambivalenz in der Haltung zum Mythos spürbar. Das Gedicht erzählt also nicht den Gang der historischen Ereignisse, sondern inszeniert die Mythenbildung selbst als narrativen Prozeß. Dieser Prozeß erhält eine literarische Qualität: die Verwandlung der Komödie in eine Tragödie. Thematisch bedeutet dies, daß die sterile Stagnation der bürgerlichen A l l tagsroutine durch die unvorhersehbare Ankunft von etwas Überpersönlichem, etwas Ungeheurem überwunden und mit neuem Leben erfüllt wird, das von jenseits des Horizontes menschlicher Aktionen und Erwartungen hereinbricht. 1 0 Daß die Transformation als »Geburt« des Neuen konzeptualisiert w i r d (»born«), verknüpft die implizierte mythische Grundstrukturr mit dem vorgeschichtlichen Vegetationsritus (wie er z. B. auch von T. S. Eliot in The Waste Land zitiert wird). Es handelt sich u m die archaische Vorstellung, daß 9 A u c h der Titel »Easter« mit seiner Implikation von Selbstopfer und Neuanfang läßt sich semantisch mit diesem Mythisierungsprozeß i m Gedicht assoziieren. 10

Diese Veränderung überstieg übrigens auch Yeats' Erwartungen, der einen derartigen Impuls am wenigsten von der katholischen irischen Mittelklasse erwartete. I n der Elegie auf den Tod des Nationalisten O'Leary, »September 1913«, auf das »Easter, 1916« (wie durch die Parallelität der Titel signalisiert) repliziert, hatte Yeats bedauert, daß der Opfermut früherer romantischer Rebellen nie wiederkehren würde: »But let them [die Aufständischen früherer Epochen] be, they're dead and gone, / They're w i t h O'Leary in the grave« (31-32) (The Poems, 108-109).

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die Regeneration des vegetativen Lebens nach dem sterilen Winter i m kommenden Frühjahr durch den Ritus eines Opfertodes gesichert werden muß. Dasselbe mythische Deutungsmuster schreibt Yeats i n dem Gedicht »The Rose Tree« 11 explizit dem Bewußtsein der Oster-Rebellen zu, wenn diese ihren Aufstand als bewußtes Selbstopfer für die Wiederbelebung Irlands (im Bilde des Rosenbaums) begründen: »There's nothing but our o w n red blood / Can make a right Rose Tree« (17 f.). Die über-individuelle Macht der mythischen Verwandlung zeigt sich außer in der Geburtsmetapher i n der Koppelung von Schönheit und Schrecken. Das Neue, das aus dem Opfertod der Rebellen hervorgeht, bedeutet einerseits die Vernichtung des Vertrauten und ist deswegen nur mit Schrecken vorstellbar, andererseits verspricht es aber die Überwindung der herrschenden Stagnation und Oberflächlichkeit in einer neuen Ordnung und erscheint deswegen als Schönheit. 12 Dieser Begriff unterstreicht nochmals die literarisch-künstlerische Begrifflichkeit, mit der der Osteraufstand mythisiert wird. Der mythische Verwandlungsprozeß der Rebellen geht einher mit dem U m schlag der Sprecherperspektive von der persönlich begrenzten Sicht am Anfang (für die die späteren Märtyrer unverständlich bleiben) zur übergreifend prophetischen Vision am Schluß. Das redende Ich definiert sich jetzt in seiner Rolle als offizieller Sprecher für Irland sowie selbst-referentiell als Verfasser des vorliegenden Gedichtes und generell als Dichter: »I number him i n the song« (35), »I write it out in a verse« (74). Mythos und Dichter entstehen gleichzeitig (und zusammen mit diesem Gedicht). Dabei kann der Sprecher in seiner Dichterrolle die einengende sinnleere Atmosphäre der modernen Welt transzendieren und sie mit neuer Ordnung strukturieren. 1 3 Über diese Rolle gewinnt der Sprecher eine neue, wesentlich kollektiv definierte Identität. 1 4 11

The Poems, 183.

12

Edward Larrissy, Yeats the Poet: The Measures of Difference (Hemel Hempstead 1994), 132-137, deutet »terrible beauty« als Anspielung auf die mythische irische Göttin, die Opfer von ihren Verehrern verlangt, und verweist zum Beleg auf die entsprechende Verwendung dieses Ausdrucks in Sheridan le Fanus Gedicht »Duan na Glave«. D o c h der i m Gedicht erzählte Vorgang widerspricht dieser Deutung: Sie würde strenggenommen implizieren, daß die G ö t t i n durch das Selbstopfer erst geboren wird! 13 Die meisten Interpretationen dieses Gedichtes gehen nicht spezifisch oder zentral auf die Funktionalisierung des Mythos für die kollektive (poetische) Identitätskonstitution ein. Vgl. z. B. Dudley Young, Out of Ireland: A Reading of Yeats's Poetry (Cheadle 1975), 4 1 - 4 6 ; H u g h Underhill, The Problem of Consciousness in Modern Poetry (Cambridge 1992), 135-138; Robert Welch, Changing States: Transformations in Modern Irish Writing (London 1993), 5 5 - 7 9 ; Phillip L. Markus, Yeats and Artistic Power (Basingstoke 1992), 12 ff.; sowie bes. Bell, Literature , Modernism and Myth , 4 1 - 6 7 , spez. 4 6 - 5 2 . Vgl. ferner die generell kritische Darstellung von Yeats' »cultural nationalism« und von dessen inneren Widersprüchen bei Michael N o r t h , The Political Aesthetic of Yeats, Eliot, and Pound (Cambridge 1991), 2 1 - 7 3 .

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Daß diese mythisch definierte kollektive Identitätskonzeption der Iren sich direkt von der Moderne und der sich modernisierenden westlichen Welt absetzt, drückt Yeats programmatisch in »The Statues« 15 von 1938 aus. Dies Gedicht entwickelt eine Theorie der kulturellen Identitätsbildung auf der Basis künstlerischer Leitbilder, z. B. in Form von Statuen (daher der Titel), und wendet dieses Konzept auf Irland an. Den Iren sei in der Moderne ihre wahre archaische Identität verlorengegangen, und es komme nun darauf an, sie durch Rückbezug auf die mythischen Urbilder wiederzugewinnen: »We Irish, born into that ancient sect / But thrown upon this filthy modern tide / A n d by its formless fury wrecked, / Climb to our proper dark, that we may trace / The lineaments of a plummet-measured face« (28-32). M i t diesen »Zügen eines senkblei-vermessenen Gesichtes« sind die Statuen gemeint, also die künstlerisch geschaffenen mythischen Leitbilder für die Identität, wie Yeats sie in »Easter, 1916« oder auch in »The Statues« beschwört, hier in Form des heroischen Kämpfers Cuchulain, der den Oster-Aufständischen als Bezugskonzept diente. Yeats' Rückgriff auf den Mythos und seine Mythisierung des Opfertodes sind generell i m historischen Kontext und in ihrer Funktion für die Ausbildung eines irischen Nationalbewußtseins zu beurteilen, da er der Gründergeneration angehörte, die die kulturell-politische Eigenständigkeit Irlands erst gegen W i derstände in England und auch in Irland durchsetzen half. Darüber hinaus ist Yeats' Position spezifisch durch seinen Status als Anglo-Ire, als Angehöriger der »Protestant Ascendency«, der englisch-stämmigen (ehemaligen) Oberschicht, bestimmt. Aufgrund dieser Herkunft (sowie seiner Ablehnung einer militanten anti-britischen Politik) war er den Verdächtigungen und Anfeindungen vieler katholischer Nationalisten ausgesetzt, die ihm den Anspruch auf die Dichterrolle für die irische Nation verwehrten. 1 6 Vor diesem Hintergrund ist die mit autoritativem Gestus vorgetragene Mythisierung des Osteraufstandes

14

Zur Relevanz der Dichterrolle (sowie von Heimat und Sprache) als Identifikationsmoment für irische Patrioten und die N a t i o n vgl. Gerald Dawe, »A Question of Imagination - Poetry in Ireland Today«, in: Kenneally (Ed.), Cultural Contexts , 186-196. 15 16

The Poems, 336-337.

Z u berücksichtigen ist zudem Yeats' Bemühen, die anglo-irische Tradition (Swift, Burke, Goldsmith etc.) als zentral für die Kultur Gesamt-Irlands zu etablieren. Zur Yeats' Position als Anglo-Ire und den Konsequenzen für sein dichterisches Selbstkonzept vgl. Robert Tracy, »Long Division in the Long Schoolroom: Yeats's > A m o n g School ChildrenPap for the Dispossessedc Seamus Heaney and the Poetics of Identity« sowie Seamus Deane, »Seamus Heaney: The Timorous and the Bold«, beide in: Seamus Heaney. New Casebooks , ed. Michael Allen (Basingstoke 1997), 155-184 bzw. 6 4 - 7 7 . Demgegenüber betont Richard Kirkland - Literature and Culture in Northern Ireland Since 1965: Moments of Danger (London 1996), bes. 149 ff. das »paradigmatische« Bemühen u m Versöhnung der Gegensätze in der Dichtung. 18

North (London 1975), 49 f. bzw. 46 f.

19

Door into the Dark (London 1969), 24.

20

Door into the Dark , 55 f.

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nachgiebigen Moores und damit den Verzicht auf Härte und Widerstand propagiert: »The wet centre is bottomless«. 21 Wie Heaneys Verhältnis zum Mythos, gerade auch zum Opfermythos, als Selbstdefinitionsstruktur zunehmend ambivalent wird, läßt sich anschaulich an »The Tollund Man« und zwei späteren Revisionsversuchen beobachten. »The Tollund Man« (1972) 22 gehört zu den sogenannten bog poems,23 in denen Heaney das Bild der Moorleichen, d. h. von i m Moorboden konservierten Leichen aus prähistorischer Zeit (besonders in Dänemark) benutzt, u m die in N o r d irland wieder aufgeflammte Gewalt i n ihren historischen Wurzeln darzustellen. Das Gedicht interpretiert die Moorleiche aus Tollund in Jütland i m Rahmen des vorgeschichtlichen Vegetationsmythos und -ritus, wie ihn schon Yeats in Anspruch genommen hatte, also gemäß der Vorstellung, durch ein Menschenopfer, das rituelle Erdrosseln und Versenken eines Mannes i m Moor, die Regeneration der Erde i m Frühling nach der Unfruchtbarkeit des Winters begünstigen und so die Kontinuität des Lebens der Gemeinschaft sichern zu können (»His last gruel of winter seeds«, 7). Der Mythos erhält hier die besondere Form der mythischen Vermählung von männlichem Opfer und weiblicher Erdgottheit 2 4 und setzt damit Tötung und Kopulation in eins als Voraussetzung für die Erzeugung neuen Lebens: »Bridegroom to the goddess, / he tightened her tore on him / A n d opened her fen, / Those dark juices working / H i m to a saint's kept body, / Trove of the turf cutters' / Honeycombed workings« (12 ff.). I n seinen drei Teilen erzählt das Gedicht diesen mythischen Prozeß aus wechselnden Perspektiven. Der erste Teil verschränkt zwei Erzählungen miteinander, den rekonstruierten Vorgang der vorgeschichtlichen Tötung und die zukünftige Reise zur Ausstellung des ausgegrabenen Kopfes i m Museum von Aarhus, und verknüpft beide über die Kategorie des Religiösen (z. T. mit katholischen Begriffen): Der Sprecher beschreibt die Opferung als sakralen Vorgang und die Reise als Pilgerfahrt zu einem Heiligenschrein (»a saint's kept body«, 16). Der zweite Teil propagiert, weiterhin in religiösen Begriffen, die Übertragung dieses archaischen Fruchtbarkeitsmythos auf die moderne irische Situation mit ihren politischen Morden: »consecrate the cauldron bog [d.i. Irland] / O u r holy ground«, 22 f.). Wiederum in Koppelung von quasikatholischer Fürbitte (an den Heiligen) und heidnischem Glauben an den 21 Zur spannungsvollen Mythenbehandlung bei Heaney vgl. z. B. Cairns / Richards, Writing Ireland , 143 ff.; Johnston, Irish Poetry after Joyce, 148 ff. 22

Wintering Out (London 1972), 47 f.

23

Dazu zählen i. e. S. ferner »Punishment«, »The Grabaulle Man«, »The Bog Queen« und »Strange Fruit« aus North (London 1975). 24

Das unmittelbar folgende Gedicht »Nerthus« (Wintering Out, 49) identifiziert diese Gottheit als Nerthus.

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Fruchtbarkeitsritus (»holy ground«, 24) spekuliert der Sprecher darüber, daß die Opfer der Gewalt neues Leben produzieren können (»make germinate«), und macht damit die Tötung versuchsweise sinnhaft und fruchtbar für die Erneuerung der nationalen Existenz. Wie i m ersten Teil verschiebt sich die Aufmerksamkeit abschließend auf den unansehnlichen Zustand der Körper der Opfer (»stained face«, 19; »Tell-tale skin and teeth [ . . . ] « , 29ff.). Es handelt sich u m vier katholische Brüder, die nach ihrer Ermordung über die Schwellen einer Eisenbahnlinie geschleift und verstümmelt auf einem Bauernhof »ausgestellt« wurden. I m dritten Teil versetzt sich der Sprecher in die Perspektive des Opfers auf seiner Fahrt zur Hinrichtung und identifiziert diese Fahrt imaginativ mit seiner geplanten Reise nach Jütland. Gemeinsam ist beiden die Erfahrung von aufgezwungener Isolation und Ausgeschlossenheit, die das Gefühl von »sad freedom« auslösen (33). 2 5 Diese doppelte Distanz als Opfer und Fremder ermöglicht dem Sprecher schließlich die präzise Beschreibung der widersprüchlichen Lebensbedingungen i m zeitgenössischen Nordirland: »I w i l l feel lost, / Unhappy and at home« (43 f.). »The Tollund Man« vermittelt eine widersprüchliche Einstellung zum M y thos. Zwar ist die mythische Struktur der von »Easter, 1916« vergleichbar, und der Sprecher nimmt eine ähnlich autoritative Haltung wie Yeats ein, wenn er i m feierlichen Ton den Opfervorgang beschreibt und die Übertragbarkeit auf Irland verkündet. D o c h schränkt der Text diese Einstellung indirekt wieder ein. N i c h t nur bleibt die mythisierende Interpretation der politischen Morde hypothetisch, sondern die (in jedem Teil) wiederholte Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Sprecher auf die Körper der Opfer und die schließliche Einfühlung in die Perspektive des Opfers erschweren eine glatte mythische Funktionalisierung der Gewalt. Einschränkend w i r k t ferner der historisierende Rückbezug des Mythos auf seine vorgeschichtlichen Ursprünge. Anders als Yeats, der das mythische Schema unterschwellig als Deutungsansatz suggeriert, thematisiert Heaney seine historische Herkunft und legt damit den Interpretationsmechanismus offen. Dadurch stellt sich auch die Frage nach der Angemessenheit einer Übertragung des Mythos auf die Gegenwart. Entsprechend kann man den Ausdruck »blasphemy« (21) nicht nur auf katholische Einwände gegen heidnische Riten beziehen, sondern primär als Zweifel an der Zulässigkeit einer Anwendung des prähistorischen Mythos auf die moderne säkularisierte Gesellschaft verstehen. Versteckt w i r d die Anwendbarkeit zudem dadurch in Frage gestellt, daß die Tötung heute hinterhältig und nicht in einem öffentlich 25 Die Identifizierung des Sprechers mit dem Opfer w i r d zusätzlich durch die Syntax in der zweiten und dritten Strophe des ersten Teils suggeriert. Aufgrund der ungewöhnlichen Endstellung des Hauptsatzes »I w i l l stand a long time« (11) kann man den folgenden Anfang des Satzes über den Tollund M a n - »Bridegroom to the goddess« - praktisch als Apposition zu »I« auffassen.

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akzeptierten Ritus geschieht (»ambushed«, 25) und die Leichen der heutigen Opfer - anders als die Moorleiche - nicht unversehrt bewahrt (vgl. »a saint's kept body«, 16), vielmehr brutal zerschunden werden (»Tell-tale skin and teeth / Flecking the sleepers«, 29 f.). 2 6 Das Gedicht endet dann auch mit dem Gestus der Resignation und ohne Andeutung einer mythischen Lösung (»I w i l l feel lost«). Zusätzlich w i r d der mythische Erklärungsansatz in der fortschreitenden Zurücknahme religiöser Terminologie i m Laufe des Gedichtes subtil relativiert. Jeder der drei Teile verschiebt, wie angedeutet, in sich die Perspektive vom Sprecher auf das Opfer, seinen Körper oder sein Leiden, wobei dessen Deutung zunehmend ent-mythisiert w i r d - von der Bezeichnung »a saint's kept body« (I) über die bloße Beschreibung der zerstückelten Leiber (II) bis zur Nachempfindung von Verlust und Unglücklichsein ohne Erwartung einer Erlösung (III). A n die Stelle des Mythos als Sinnmuster tritt die bloße Erfahrung, und darin erfolgt ein Ubergang von kollektiv zu individuell orientierter Identität. Letztlich verrät »The Tollund Man« somit eine tiefe Ambivalenz zwischen dem direkten Versuch einer mythischen Funktionalisierung der Opfer politischer Gewalt und der indirekten Zurücknahme mythisierender Implikationen. 2 7 Diese beiden konträren Einstellungen sind auf zwei verschiedenen Bewußtseinsebenen oder Subjektdimensionen angesiedelt. Während der mythisierende Erklärungsansatz dem Sprecher als bewußtes Konzept zuzurechnen ist, vollzieht sich die Zurücknahme ihm unbemerkt, sozusagen hinter seinem Rücken und jenseits seiner bewußten Absicht, jedenfalls ohne daß er sie explizit artikuliert, und sie ist daher der verbal-rhetorischen Dimension des Textes, dem Textsubjekt zuschreibbar, 28 der Organisation des Textes, die die vom Sprecher verdrängten oder ignorierten Problemaspekte der Mythisierung von Gewalt unversehens zum Ausdruck kommen läßt. Heaney scheint zur Zeit der Abfassung des Gedichtes die Bewußtseinshaltung des Sprechers gegenüber dem Mythos persönlich geteilt zu haben. I n einer Erläuterung zu »The Tollund Man« deutet er an, daß er damals wenigstens partiell an die Relevanz des archaischen Mythos für die zeitgenössische Situation glaubte: »When I wrote this poem, I had a completely new sensation, one of fear. I t was a vow to go on 26

Vgl. Michael Parker, Seamus Heaney: The Making 105-109.

of the Poet (Basingstoke 1993),

27 Diese Ambivalenz, wiederum mit stärkerer Betonung der mythisierenden Tendenz, findet sich in weiteren Gedichten aus North, besonders in »Kinship« (40-45). 28

Siehe die Begründung und Veranschaulichung einer derartigen Unterscheidung zweier Perspektiven und Beobachtungsinstanzen für die Lyrikanalyse in Peter H ü h n , Geschichte der englischen Lyrik (Tübingen 1995), Bd. 1 und 2, jeweils 9 - 1 9 . Vgl. ferner A n t o n y Easthopes Unterscheidung zwischen »subject of the enounced« und »subject of enunciation« in Poetry as Discourse (London 1983), 3 0 - 4 7 . 17 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 41. Bd.

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pilgrimage and I feit [ . . . ] that unless I was deeply in earnest about what I was saying, I was simply invoking dangers for myself«. 29 Dieser Selbstkommentar spricht explizit aus, was auch das Gedicht in seiner komplexen Struktur verrät: Heaneys tief-eingewurzelte quasi-religiöse Neigung zum Rückgriff auf das mythische Erklärungs- und Sinnkonstitutionsmuster. 30 Die in »The Tollund Man« nur untergründige K r i t i k am Mythos als Bezugsrahmen für die Identität w i r d von Heaney i n zwei späteren Gedichten unterschiedlich radikal bewußt gemacht und weitergetrieben. »Tollund« (1996) 31 ist eine Replik auf »The Tollund Man« und revidiert dessen Ansatz auf der Basis der tatsächlichen Reise nach Tollund und zugleich vor der Instanz der konkreten Erfahrung. Die praktische Ausführung des geplanten Besuchs weicht entscheidend von den früheren Erwartungen ab. Bereits die Verschiebung des Fokus vom Opfer auf den Ausgrabungsort , von der imaginativ wiederbelebten Figur aus der Vergangenheit auf die Tatsächlichkeit der gegenwärtigen Landschaft signalisiert die ent-mythisierende Tendenz. Die Figur des Opfers als Bezugspunkt für den Mythos bleibt ebenso unerwähnt wie der Besuch i m Museum. Diese Tendenz schlägt sich auch in der veränderten Sprechhaltung nieder: Die autoritative Stimme des visionären Individuums w i r d durch das kollektive »we« ersetzt, für den Sprecher und einen Begleiter, offenbar i m Kontext einer Touristenreise, wie der berichtsmäßige Eröffnungssatz andeutet: »That Sunday morning we had travelled far«. Die in »Tollund« erzählte Geschichte des Besuchs bezieht sich durch wörtliche Anspielungen auf »The Tollund Man« zurück, u m die Prinzipien der früheren Erzählung radikal zu revidieren. Alle angeführten Einzelheiten werden der damaligen hintergründig mythischen Bedeutung entkleidet und meinen nur noch das tatsächlich Sichtbare, wie etwa bei dem »farmyard«, der sorgfältig gepflegt ist (»swept and gated«) und in dem nur »bog-fir grags« liegen (6 f.), statt der verstümmelten Leichen der Brüder von »The Tollund Man«. Zugleich 29

»Feeling into Words« [1974], in: Preoccupations: Selected Prose, 1968-1978 (London 1980), 4 1 - 6 0 , hier 58. Nach der Lektüre eines Buches über die Religion der Kelten erkennt er nachträglich, wie sehr seine damalige Haltung noch i n dieser Tradition stand: »My sense of occasion and almost awe as I vowed to go to pray to the Tollund M a n and assist at his enshrined head had a longer ancestry than I had at the time realized« (59). 30 Vgl. z. B. N e i l Corcoran, The Poetry of Seamus Heaney: A Critical Study (London 1998), 3 3 - 3 7 ; Andrew Waterman, »The best way out is always through«, in: Elmer A n drews (Ed.), Seamus Heaney: A Collection of Critical Essays (Basingstoke 1992), 1 1 - 3 8 , hier 16-18. Einige Kritiker verweisen auf die latente Ambivalenz der Mythendarstellung in diesem Gedicht, z. B. Molino, Questioning Tradition , 8 8 - 9 2 ; Maurice Harmon, »>We pine for ceremonyc Ritual and Reality i n the Poetry of Seamus Heaney, 1965-75«, in: A n drews (Ed.), Seamus Heaney, 6 7 - 8 6 , hier 74 f.; Elmar Andrews, The Poetry of Seamus Heaney: All the Realms of Whisper (Basingstoke 1988), 6 4 - 6 6 . 2

31

The Spirit Level (London 1996), 69.

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treten die ausgegrabenen Stümpfe (»grags«) praktisch an die Stelle der ausgegrabenen Moorleiche, wobei das beiläufige Wort »bog« keinerlei geheimnisvolle Implikationen mehr enthält. Die ent-mythisierende Beschränkung der Details auf ihre Alltagsbedeutung w i r d durch Hinweise auf moderne Phänomene verstärkt, wie »traffic sounds« (5), »satellite dish« (12 f.) und besonders »a Standing stone / H a d been resituated and landscaped, / W i t h tourist signs i n futhark runic script / I n Danish and in English« (13 ff.). Hier ist klar beobachtbar, daß die prähistorischen Relikte effektvoll manipuliert, mit schein-authentischen Signalen beschriftet zur Schau gestellt werden und die mythische Vergangenheit somit aus kommerziellen Motiven für Touristen erfunden wird: »user-friendly outback« (19). Zusätzlich w i r k t die heterogene Nebeneinderplazierung des trivial Neuen und der historischen Reste, wie z. B. der Satellitenschüssel neben dem Monolith, einer mythischen Deutung entgegen. Die einzigen Erwähnungen übersinnlicher Vorstellungen (»hallucinatory«, 4; »dream farms«, 10) sind abwertend. Die Analogie zwischen Jütland und Irland, die in dem früheren Gedicht die Ubertragbarkeit der mythischen Bedeutung begründet hatte, ist hier auf oberflächliche geographische und kommerzielle Ähnlichkeiten reduziert (17). Zusammenfassend w i r d die Abkehr von der Vergangenheit durch die eingetretenen positiven Veränderungen, also durch Fortschritt in Richtung Zukunft, gerechtfertigt: »Things had moved on« (16). Wie in »The Tollund Man« endet die Erzählung in der intensivierten Selbstwahrnehmung des Sprechers hinsichtlich Lebensbedingung und Identität. Aber statt in einer ausweglos unglücklichen Situation gefangen zu sein (»lost, / U n happy and at home«), interpretiert der Sprecher die relative Ausgesetztheit als Besucher in einem fremden Land (»footloose«) positiv als Freiheit: Befreiung aus den kulturellen Zwängen des irischen Dilemmas als Voraussetzung für Selbst-Erfüllung und Selbst-Akzeptanz: »at home beyond the tribe« (20). Der Sprecher und sein Begleiter gehen den Neuanfang (»a new beginning«, 22) mit der emphatischen Entschlossenheit an, ihn praktisch umzusetzen (»to make a go of it«, 23), wenngleich sie sich einstweilen erst tastend in der neuen Freiheit umschauen, als »scouts« und »ghosts« (21). Die neue Erfahrung von Freiheit und Lebendigkeit als Kontext für Identität (»free-willed«, »alive«, »ourselves«, 23 f.) w i r d als Wiedergewinnung eines früheren ursprünglichen Zustandes erlebt, wie er vor den einengenden Bedingungen des irischen Dilemmas bestanden hatte (»again«). Diese Wiedergewinnung ermöglicht nicht nur die Uberwindung von Mythos und Tradition, sondern auch die von moralischen, religiösen und ideologischen Restriktionen: »alive and sinning« (23) und »not bad« (24). Entscheidend ist, daß diese Identität nicht kollektiv auf die Nation (»the tribe«), sondern auf eine persönliche Beziehung bezogen ist - es ist ein privat und kein öffentlich definiertes Wir, das sich hier manifestiert und sich seiner Identität vergewissert. 17*

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Das angefügte Kompositionsdatum konkretisiert den historischen Zeitpunkt für die emphatische Abwendung vom irischen Märtyrer- und Gewaltmythos i m Hinweis auf die sogenannte »Downing Street Declaration« vom September 1994, die offizielle Bereitschaftserklärung der I R A , auf Gewalt verzichten und eine politische Lösung anstreben zu wollen (der sich die protestantischen Extremisten kurz darauf anschlossen). Die Aufgabe der mythischen Identitätsdefinition w i r d somit erst durch günstige politische Umstände ermöglicht, wie bereits die Entstehung des Mythos durch den besonderen politischen Kontext (die Kolonisierung) bedingt war. O b sich dies Versprechen tatsächlich erfüllt, bleibt offen, wie nicht nur die tentative Formulierung der letzten Strophe andeutet, sondern ebenfalls die Umschreibung der Friedlichkeit mit dem Begriff »Townland of Peace«: »that poem of dream farms / Outside all contention« (10 f.), w o h l eine Anspielung auf das frühe YeatsGedicht »The Happy Townland« 3 2 mit seiner bewußt idyllischen Paradiesesphantasie. 33 I n seinem intertextuellen Bezug auf »The Tollund Man« thematisiert »Tollund« eine Abwesenheit - das Gedicht erzählt dezidiert eine Geschichte nicht: die der Mythisierung des Opfers anhand eines prähistorischen Ereignisses als Rahmen für die kollektive Identifikation. Diese nicht-erzählte Geschichte ersetzt es jedoch durch eine andere Erzählung - die der Befreiung des Sprechers von den traditionellen Zwängen der ethnischen Vergangenheit und der Wiedergewinnung einer ursprünglichen freien Identität jenseits des nationalen Definitionskontextes. Damit w i r d gewissermaßen ein alternativer Mythos geschaffen, der mit dem Pathos größerer Erfahrungsnähe auftritt: der einer natürlichen transkulturell definierten Identität. Zusammen damit nimmt der Sprecher dann unversehens doch wieder faktisch die Rolle eines Vertreters der Gemeinschaft an. Angesichts der veränderten politischen Situation definiert er sein neues, mehr privates Selbstbild als generelle neue Erfahrung , allerdings nicht mehr mit der autoritativen Stimme von »The Tollund Man«, sondern in nüchternem Tonfall und pragmatischer Haltung. 3 4 Eine alternative Form der Auseinandersetzung mit dem Mythos bietet »The M u d Vision« (1987). 35 Während »Tollund« mythische Erklärungs- und Identifikationsmuster von der Position der praktischen Erfahrung aus zurückweist, greift »The M u d Vision« die Macht der mythischen Erzählung von innen heraus an, mittels Parodie und Satire. Das Gedicht erzählt das unerklärliche 32

The Poems, 8 5 - 8 6 (1904).

33

Vgl. Corcoran, The Poetry of Seamus Heaney, 204-205.

34

Vgl. die Hinweise auf diese Gedichte bei N e i l Corcoran, After Reading Modern Irish Literature (Oxford 1997), 145 ff., 173. 35

The Haw Lantern (London 1987), 48 f.

Yeats and Joyce:

Das Opfer, der Dichter und die nationale Identität

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Auftauchen, Wirken und Verschwinden eines Mythos, der »Schlamm-Vision«, i n der modernen Welt. Heaney benutzt die satirische Allegorie einer grotesken Vision, u m das Funktionieren des Mythos unter den Bedingungen der Moderne zu erkunden, wobei es sich nicht speziell u m den Opfermythos, sondern allgemeiner um das Sinn-Konzept des Mythischen als solches handelt. Die erste Strophe zeichnet die Lebensumstände der modernen Gesellschaft als spezifischen Problem- und Krisenhorizont, für den der Mythos, wenn er dann in der zweiten Strophe plötzlich entsteht, als Lösung fungieren kann. I n der Nebeneinanderstellung inkongruenter Elemente erscheint die moderne Welt heterogen, fragmentarisch und inkohärent: Christus-Figuren mit entblößtem Herzen und Stacheldrahtkronen, Hasen neben Düsenmaschinen, Speisekartenverfasser und Graffiti-Sprüher, Satellitenschüsseln und päpstliche Segenssprüche, Hubschraubertransporte für Medienstars und für Unfallopfer. Die unvermittelte Mischung von Tradition und Moderne, Technik und Natur, Religion und Unterhaltungsindustrie beraubt die Menschen der sicheren Orientierung und zwingt sie zu einem prekären Drahtseilakt zwischen extremen Alternativen, zwischen »panic« und »formulae« (9), d. h. zwischen panischer Kopflosigkeit und mechanischer Starrheit, zwischen »our first native models« und »the last of the mummers« (10), d. h. zwischen traditionellen Leitfiguren und neuesten Medienstars als Modell. Das Ergebnis ist Lähmung und Spaltung: Selbst-Distanzierung und ständiger Aufschub (»a man on a springboard / W h o keeps limbering up because the man cannot dive«, 12 f.), also Unfähigkeit, engagiert zu handeln und zu leben - eine vom Sprecher als kollektive Erfahrung formulierte Bedingung (»we«). Die »mud visionOne ArtOne ArtFortschritt< erzählt werden (wie die Akkumulation von Wissen) noch als >Schicksal< eines Kollektivsubjekts noch als Entfaltung organischer Substanz.« 4 * Ich danke den Mitgliedern der Gießener Arbeitsgruppe »Cultural and historical narratologys vor allem Sandra Heinen, Carola Surkamp und Bruno Zerweck, und besonders Ansgar N ü n n i n g für zahlreiche wertvolle Hinweise und Kommentare bei der Konzeption und Überarbeitung dieses Beitrags. 1

Hans-Robert Jauß, Literaturgeschichte

2

Ebd.

als Provokation

(Frankfurt 1970), 144.

3 Ansgar Nünning, »Kanonisierung, Periodisierung und der Konstruktcharakter von Literaturgeschichten: Grundbegriffe und Prämissen theoriegeleiteter Literaturgeschichtsschreibung«, in: Ders. (Hg.), Eine andere Geschichte der englischen Literatur: Epochen, Gattungen und Teilgebiete im Überblick (Trier 1996), 1 - 2 4 , hier 15. 4 Jan-Dirk Müller, »Literaturgeschichte/Literaturgeschichtsschreibung«, in: Dietrich Harth, Peter Gebhardt (Hg.), Erkenntnis der Literatur: Theorien, Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaft (Stuttgart 1989), 195-227, hier 218.

320

Roy Sommer

Unterschiedliche historiographische Ansätze vom New Historicism bis zur systemtheoretisch fundierten Diskursanalyse 5 haben die Prämissen und Prinzipien der Literaturgeschichtsschreibung in wesentlichen Punkten modifiziert. Als Folge w i r d heute allgemein davon ausgegangen, daß ihre zentralen Kategorien, nämlich das System der Gattungen und die Abfolge der Epochen, nicht den historischen >Tatsachen< entsprechende überzeitliche >WahrheitenErfindungsreichtum< und den methodischen Pluralismus der historisch interessierten Literaturwissenschaft dokumentiert, findet sich bei Nünning, »Kanonisierung, Periodisierung und der Konstruktcharakter von Literaturgeschichten«, 8. 6 Der Begriff Konstrukt w i r d ähnlich wie der der >Erfindung< (im Sinne von Benedict Anderson, Imagined Communities [London 1983]) hier nicht i n (ab)wertender Weise verwendet. Er stellt nicht das Erklärungspotential und damit die Brauchbarkeit literaturwissenschaftlicher Konzepte in Frage, sondern betont lediglich ihren Modellcharakter: Literarhistorische >Fakten< wie die Ausdifferenzierung des Gattungssystems sind >Gemachtess nicht >GegebenesFunktion< i m Sinne von >Wirkung< oder >EffektVerbal Fictions?< Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur«, in: Literaturwissenscbaftlicbes Jahrbuch, 40 (1999), 351-380, hier 380. 11

Ansgar Nünning, Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung. Die Funktionen der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots (Trier 1989). 12 Vgl. z. B. Andreas Höfele, Parodie und literarischer Wandel: Studien zur Funktion einer Schreibweise in der englischen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Heidelberg 1986) oder Klaus Schwind, Satire in funktionalen Kontexten (Tübingen 1988). 13 Vgl. z. B. Rolf Eckard, Die Funktionen 1993). 14

der Gebrauchstextsorten

Vgl. z. B. U l r i c h Broich, Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität: nen, anglistische Fallstudien (Tübingen 1985).

( B e r l i n / N e w York Formen, Funktio-

15

Dieter Henrich, Wolfgang Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven (München 1983).

16

Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft (Frankfurt 1998).

17 Vgl. z. B. D i c k H . Schräm, »Funktion und Relevanz der Literatur und der Literaturwissenschaft unter hermeneutischer und empirischer Perspektive«, in: Elrud Ibsch, D i c k H . Schräm (Hg.), Rezeptionsforschung zwischen Hermeneutik und Empirik (Amsterdam 1987), 185-227.

21 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 41. Bd.

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Roy Sommer

Der vorliegende Beitrag setzt sich daher zunächst z u m Ziel, i n der Auseinandersetzung m i t Winfried Flucks revisionistischer Geschichte des amerikanischen Romans, die eine differenzierte Betrachtung der Funktionsvielfalt und des Funktionswandels dieser Gattung zwischen 1790 und 1900 anstrebt, 1 8 die Vorzüge, aber auch die Schwächen des dort zugrunde gelegten Funktionsbegriffs aufzuzeigen (II.). I n einem zweiten Schritt w i r d auf der Grundlage erzähltheoretischer sowie wirkungs- und rezeptionsästhetischer Ansätze eine begriffliche Trennung zwischen auktorialer Wirkungsabsicht, textuellem Wirkungspotential und historischer W i r k u n g literarischer Texte sowie dem ihnen zugeschriebenen Funktionspotential entwickelt (III.). Daran schließen sich i m H i n b l i c k auf systemtheoretische und literaturanthropologische

Funktions-

bestimmungen weiterführende Überlegungen zum argumentativen Status des Funktionsbegriffs i n der Literaturgeschichtsschreibung an (IV.). Der abschließende Teil dieses Beitrags fragt nach dem N u t z e n der vorgeschlagenen theoretischen Differenzierung des Funktionsbegriffs und gibt einen Ausblick auf die Konsequenzen für die weitere literaturwissenschaftliche Modellbildung (V.).

I I . D e r Begriff der Funktion in Winfried Flucks Das kulturelle

Imaginäre

Winfried Flucks Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans ist schon bald nach ihrem Erscheinen zu Recht als »ein grundlegendes und bedeutendes Buch« gewürdigt worden, dem es gelingt, »die enorme Wirkungsmächtigkeit und kulturgeschichtliche Relevanz der Literatur auf eine nicht bloß emphatisch-spekulative, sondern sachlich-deskriptive und damit umso nachhaltigere Weise zu demonstrieren«. 1 9 Die Studie zeichnet sich nicht nur durch den weitgehenden Verzicht auf die für die Literaturgeschichtsschreibung so verlockende teleologische Darstellung aus, sondern auch durch ihre theoriegeleitete Vorgehensweise, deren Prämissen und Zielsetzungen Fluck i n der Einleitung präzise und nachvollziehbar erläutert. Flucks revisionistisches Projekt geht erstens i m Gegensatz zu anderen Arbeiten, die »Literaturgeschichte wie selbstverständlich als Genealogie der Ästhetik der Moderne« (KI, 7) konzipieren, nicht v o n einer dominanten F u n k t i o n des Romans aus, die sich i m Laufe der Gattungsgeschichte herausgebildet hat, sondern von einem Funktionspotential. A u f diese Weise soll ein »hervorstechendes Merkmal bisheriger Literaturgeschichtsschreibung« revidiert werden: 18 19

Fluck, KI, 7.

Vgl. die äußerst differenzierte und sachkundige Rezension von Hubert Zapf in Amerikastudien / American Studies, 44:1 (1999), 190-194, hier 190,191.

Funktionsgeschichten

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Denn von dieser kann gesagt werden, daß Darstellungen des amerikanischen Romans in der Regel ein einziges Funktionspotential von Literatur dominant gesetzt haben - sei es das nationaler Identitätsbildung oder das ästhetischer Innova-tion - , das auf diese Weise wie selbstverständlich zur Basis einer literaturgeschichtlichen Teleologie wird, (ebd.)

Damit trägt Fluck der i m diachronen Teil seiner Studie immer wieder belegten Beobachtung Rechnung, daß insbesondere in der Entstehungs- und Verbreitungsphase der neuen Gattung auch i m Hinblick auf ein Einzelwerk häufig ein Nebeneinander verschiedener Funktionsaspekte zu konstatieren ist. 2 0 Zweitens hebt Fluck hervor, daß sich Funktionen nicht unabhängig vom Text postulieren lassen, da die soziale Funktion nur über eine ästhetische Wirkungsstruktur realisiert werden könne (KI, 10). Daher strebt er die Verbindung von »Thesen zur sozialen Funktion mit einer Theorie literarischer Wirkung« (ebd.) an und entwickelt so eine Alternative zur »geläufige[n], in ihrem Schematismus jedoch oberflächliche[n] und interpretatorisch wenig ertragreichefn] Frage nach der politisch affirmativen oder subversiven Funktion von Literatur« (KI, 11). Der Fokus der Studie liegt also auf dem Zusammenspiel von literarischer Wirkungsstruktur und kultureller Selbstdeutung, aus dessen Analyse sich Funktionshypothesen ableiten lassen (KI, 12). Damit ist die dritte zentrale Prämisse der Studie angesprochen: Die gesellschaftlichen Funktionen literarischer Texte sind nicht empirisch >exakt< zu ermitteln. Fluck weist das Programm marxistisch orientierter literatursoziologischer Untersuchungen der 70er Jahre 21 als simplifizierend zurück: »Im strengen Sinn einer empirisch nachprüfbaren gesellschaftlichen Wirkung scheint der Begriff Funktion auf die Literatur überhaupt nicht anwendbar zu sein.« (ebd.) Er gibt allerdings auch zu bedenken, »daß eine primär heuristische Verwendung des Funktionsbegriffs ein Problem noch verstärken könnte, das grundsätzlich mit dessen Gebrauch verbunden ist, nämlich das, alle Textaspekte jeweils auf eine implizite Funktion hin passend bzw. >funktional< zu machen.« (KI, 14) Trotzdem läßt sich der Funktionsbegriff nicht umgehen, denn »[w]ann immer w i r über Literatur reden, implizieren w i r [ . . . ] auch Funktionen.« (ebd.) Aus diesem Grund ist eine theoretische Klärung der Verwendungszusammenhänge und -zwecke des Funktionsbegriffs unumgänglich. 20

So erscheint z. B. die »Interaktion der beiden Funktionspotentiale Vormundschaft und Verführung« als konstitutiv für den sentimentalen Roman (KI, 64). 21 Vgl. z. B. die von U l r i c h Sommer et al. 1978 herausgegebene, positivistisch-empiristische Studie Funktion und Wirkung. Soziologische Untersuchungen zur Literatur und Kunst (Berlin/ Weimar 1978), hier 5. Diese geht »von einer Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion« der Künste aus und versucht, »die sozial differenzierten und die ideologischen Bedingungen, Faktoren und Triebkräfte darzustellen, die Kunstwirkungen hervorbringen, beeinflussen und modifizieren«.

21*

324

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Bei Funktionen handelt es sich Fluck zufolge u m für das Verständnis fiktionaler Texte notwendige Hypothesen zum Zusammenhang ihrer einzelnen Elemente einerseits und zu ihrem Realitätsbezug andererseits. Wenn sich nämlich, wie er (KI, 13) unter Berufung auf Wolfang Iser und Dieter Henrich feststellt, das >Wesen< der Fiktion ausschließlich über ihren Gebrauchszusammenhang bestimmen läßt, werden Funktionshypothesen zum Ausgangspunkt jeder Analyse des Fiktiven: »Die Annahme einer Funktion ist somit der Punkt, von dem aus es überhaupt erst möglich wird, sinnvoll über einen fiktionalen Text zu sprechen.« (13 f.) Flucks A n t w o r t auf die Frage nach der Funktion von Literatur besteht also in einer Pluralisierung, Textualisierung und Entontologisierung des Funktionsbegriffs: Seine Funktionsgeschichte geht von konkurrierenden Funktionspotentialen des Romans aus, die sich einerseits nicht abgelöst von der Wirkungsstruktur der Texte betrachten, andererseits aber auch nicht i m Text selbst nachweisen lassen, denn Funktionen sind eigentlich Funktionshypothesen. Damit stimmen seine Prämissen mit der eingangs skizzierten Auffassung vom Konstruktcharakter der Literaturgeschichte überein. Allerdings w i r d die in der Einleitung der Studie erreichte theoretische Präzision i m historischen Teil nicht durchgehend beibehalten, wie die folgende Analyse von Flucks Verwendung der Begriffe Funktion und Wirkung sowie ihrer Komposita zeigt. I n mindestens drei unterschiedlichen Kontexten ist dort von Funktionen die Rede: erstens i n Bezug auf die Gattung Roman insgesamt bzw. bestimmte Subgattungen wie den historischen Roman (vgl. KI, 104), zweitens in Bezug auf Einzelwerke 2 2 und drittens i n Bezug auf textinterne Darstellungsverfahren, etwa auf der sprachlichen Ebene der Metaphorik oder der strukturellen Handlungsebene. 23 Darüber hinaus w i r d der Begriff nicht durchgehend deskriptiv verwendet. So heißt es etwa i m Zusammenhang mit der Literatur der amerikanischen Pionierphase: »Für den Roman ist damit die Herausforderung verbunden, zu diesem Zivilisierungsprozeß beizutragen; er hätte somit seine Aufgabe darin, 22 Vgl. etwa folgende Formulierung: »Damit verändert sich aber auch zugleich die Funktion des Romans [gemeint ist James Fenimore Coopers The Pioneers - RS.], denn diesem fällt nunmehr die Rolle zu, den von der zivilisatorischen Ordnung disziplinierten imaginären Elementen eine alternative Entfaltungsmöglichkeit zu geben.« (KI, 112) The Pioneers w i r d zudem in nicht ganz nachvollziehbarer Weise »als Beispiel für einen Funktionswandelim Text selbst« (KI, 111) bezeichnet. (Hervorhebungen RS.) 23 So resümiert Fluck nach der Beschreibung der für den sentimentalen Roman charakteristischen Überhöhung von Familie, Freundschaft und Ehe: »Wo die moralische und wirkungsästhetische Funktion dieser Darstellungsform vergessen w i r d und die gewählten Metaphern nicht mehr überzeugen, muß dieses Verfahren [ . . . ] als Darstellungsschwäche erscheinen.« (KI, 59; Hervorhebung R.S.)

Funktionsgeschichten

325

als literarische Zivilisierungsinstanz zu fungieren. Es stellt sich dann die Frage, wie diese Funktion am besten eingelöst werden kann.« (KI, 107) Die Progression von der >Herausforderung< über die >Aufgabe< hin zur Frage nach der >besten Lösung< trägt normativ-wertende Züge, und das retrospektive Konstrukt >Roman als Zivilisierungsinstanz< w i r d zumindest implizit mit der Wirkungsabsicht amerikanischer Autorinnen und Autoren gleichgesetzt. 24 O b w o h l Fluck in der Einleitung die >Funktion< explizit als eine i m Nachhinein erfolgte literaturwissenschaftliche Zuschreibung konzipiert, 2 5 implizieren manche Formulierungen i m diachronen Teil der Studie, daß der Text selbst eine Funktion auszuüben bzw. einzulösen vermag. Selbst dem A u t o r w i r d gelegentlich >Zugriff< auf die Funktion des Romans eingeräumt: Er kann, wie Charles Brockden Brown, eine »Legitimationsstrategie« verfolgen, »in der dem Roman die Funktion zugesprochen wird, verborgene Motive des menschlichen Handelns zu erhellen« (KI, 70), oder sogar eine >MarketingstrategieWirkung< bei, der mit seinen Komposita weitgehend synonym zu >Funktion< und ebenso heterogen verwendet wird. So ist bezogen auf die Produktionsseite die Rede von »WirkungsOptimierung« (KI, 72) bzw. von der »Optimierung des Wirkungspotentials durch wirkungsästhetisch kalkulierte Illusionsbildung« (KI, 76). Hier scheint Wirkung gleichbedeutend mit der intendierten Wirkung, also der auktorialen Wirkungs absieht zu sein. Dagegen beziehen sich die Begriffe Wirkungspotential, meist synonym zu >Funktionspotential< verwendet, Wirkungssteigerung (KI, 79), Wirkungskalkül (KI, 78, 129) und Wirkungsstruktur (KI, 117, 127) auf die vom Text ausgehende Wirkung. Insgesamt führen diese Mehrdeutigkeiten und Ungenauigkeiten dazu, daß der Funktionsbegriff an Trennschärfe verliert. Die i m folgenden angestrebte Präzisierung und Differenzierung muß vor allem zwei Aspekte berücksichtigen. Erstens gilt es die Begriffe Wirkung und Funktion auf theoretischer Ebene nachvollziehbar abzugrenzen. Zweitens sind die Handlungsbereiche innerhalb des Literatursystems explizit auseinanderzuhalten, so daß die wichtige Unterscheidung zwischen den Autorintentionen, dem textuellen Wirkungspotential, den Annahmen des zeitgenössischen Lesepublikums sowie den retrospektiven Funktionszuweisungen durch die Literaturgeschichtsschreibung nicht aus dem Blick gerät.

I I I . Funktionszuschreibungen als Hypothesen über den Zusammenhang von Intention, Wirkungspotential und Rezeption Die Schwierigkeiten, die sich aus der Mehrdeutigkeit des Funktionsbegriffs ergeben, sind auf grundlegende terminologische und theoretische Probleme funktionsgeschichtlicher Literaturgeschichtsschreibung zurückzuführen. 2 8 Dar27 Vgl. KI, 38: »In gewisser Weise werden die Wächter kultureller Prinzipien [ . . . ] zum Opfer ihrer eigenen Wirkungstheorie.« 28

Vgl. Silke Stratmann, »Funktionsgeschichtliche Ansätze«, in: Ansgar N ü n n i n g (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (Stuttgart 1998), 169-170, hier 169.

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Funktionsgeschichten

unter fallen die Kollision von fach- und alltagssprachlichem Gebrauch der Begriffe Wirkung und Funktion und der von ihnen abgeleiteten Verben, die unterschiedlichen Verwendungszusammenhänge dieser Begriffe etwa in rezeptionsästhetischen und erzähltheoretischen Ansätzen sowie die Tatsache, daß gerade i m Hinblick auf literarische Texte aufgrund der zentralen Rolle der Rezipientinnen i m Sinnbildungsprozeß nie von einer eindeutigen Korrespondenz von Form und Funktion die Rede sein kann. Wenn i m folgenden trotzdem versucht wird, die zentralen Begriffe zu benennen und voneinander möglichst genau und nachvollziehbar abzugrenzen, w i r d damit keine >randscharfe Definition< oder abschließende Lösung der genannten Probleme angestrebt. 29 Die folgende Unterscheidung zwischen der Wirkungsabsicht bzw. Intention (der Autorinnen und Autoren) und dem Wirkungspotential des Textes sowie seiner Rezeption durch das zeitgenössische Lesepublikum soll lediglich dazu dienen, drei zentrale Aspekte des Funktionsbegriffs hervorzuheben. I n einem weiteren Schritt werden dann die retrospektiven Funktionszuschreibungen selbst analysiert. Der erste Aspekt ist also die Wirkungsabsicht bzw. Intention der A u t o r i n oder des Autors, die Voßkamp präzise als den »postulierten Endzweck< 30 eines Romans bezeichnet. Die Kategorie der Intention ist bekanntlich infolge des nachlassenden Interesses an biographischen Ansätzen und der provokativ-programmatischen Verkündung des Todes des Autors durch Roland Barthes und Michel Foucault in der literaturwissenschaftlichen Diskussion weitgehend diskursanalytischen bzw. strukturalistischen oder pragmatischen Betrachtungsweisen gewichen. Diese konzipieren den Text als geschlossenes >Regelwerk< oder offenes Kunstwerk und richten so die Aufmerksamkeit auf narrative Strukturen oder die Interaktion zwischen Text und Lesern. 31 Da derzeit einige >Wiederbelebungsversuche< der Autorintention als literaturwissenschaftlicher Kategorie zu verzeichnen sind, die von der ungebrochenen Anziehungskraft des Autors als 29

Eine konsensuelle Lösung dieser Probleme ist i n absehbarer Zukunft nicht in Sicht, wenn man Jürgen Fohrmann Glauben schenken darf: »Nichts ist vielleicht in der Disziplin strittiger als die Bestimmung und dann Relationierung von Gattungen oder Epochen; nie ist etwa ein wirklicher Konsens über den historischen Gegenstand der Wissenschaft erzielt worden, nie hat das Fach als Ganzes sein Objekt als w i r k l i c h randscharf definiert; und nur für sehr begrenzte Zeit (wenn überhaupt) ist eine einheitliche Bewertung der Gegenstände gelungen.« Vgl. Jürgen Fohrmann, »Über das Schreiben von Literaturgeschichte«, in: Peter J. Brenner (Hg.), Geist, Geld und Wissenschaft (Frankfurt 1993), 175-202, hier 197. 30 Vgl. Wilhelm Voßkamp, Romantheorie rich von Blanckenburg (Stuttgart 1973), 3.

in Deutschland.

Von Martin

Opitz bis Fried-

31 Z u subjektivistischen Ansätzen des reader-response criticism und pragmatischen Alternativen vgl. den äußerst anregenden Aufsatz von Lothar Bredeila, » H o w to Read and Teach Literary Texts: The Challenge of Neo-Pragmatism«, in: Winfried Fluck (Hg.), Pragmatism and Literary Studies (Tübingen 1999), 181 - 2 0 3 .

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Roy Sommer

Orientierungsinstanz zeugen, 32 scheint trotzdem eine kurze Anmerkung zur Wirkungsabsicht und ihrer Abgrenzung vom Wirkungspotential angebracht. I m Hinblick auf die angestrebte Präzisierung des Funktionsbegriffs erweist sich Umberto Ecos Unterscheidung zwischen dem empirischen A u t o r und dem sog. Modell-Autor äußerst hilfreich. Eco geht davon aus, daß der empirische Autor einen Modell-Leser als impliziten Adressaten konstruiert und daß diese Hypothesenbildung i m Rezeptionsprozeß ihre Entsprechung findet: »[A]uf der anderen Seite muß auch der empirische Leser - als konkretes Subjekt der verschiedenen Akte der Mitarbeit - einen hypothetischen A u t o r entwerfen, den er aus eben den Daten der Textstrategie deduziert.« 33 Dieser Modell-Autor erscheint dann als »Interpretationshypothese«, deren Grundlage der Text, nicht aber die Wirkungsabsicht des empirischen Autors ist. Vom Text ausgehend erschließt sich also nicht die Intention des empirischen Autors, 3 4 sondern lediglich der Standpunkt des Modell-Autors, während umgekehrt die Kenntnis der auktorialen Motivation und Intention keine fundierte Aussage über das Wirkungspotential des Textes ermöglicht. Die klassische Gleichsetzung von Funktionen literarischer Texte mit der Wirkungsabsicht ihrer A u t o rinnen und Autoren, die auf die These von der intendierten Erbauungs- und Belehrungsfunktion von Literatur zurückgeht, 3 5 w i r d damit verabschiedet. Der zweite Aspekt des Funktionsbegriffs ist das Wirkungspotential. I m Gegensatz zur Wirkungsabsicht handelt es sich hierbei u m eine vom Text her begründbare Annahme über die möglichen Effekte der narrativen Strategien, die den nacherzählbaren Inhalt eines literarischen Textes strukturieren und organisieren und damit für den Sinn entscheidend sind. 3 6 Wie bedeutend der

32

Vgl. Patrick Swinden, Literature and the Philosophy of Intention (Basingstoke 1999) sowie Fotis Jannidis et al. (Hg.), Die Rückkehr des Autors (Tübingen 999). 33

Vgl. Umberto Eco, Lector in Fabula (München 1987), 76 f.

34

Dem empirischen A u t o r entspricht die Kategorie des >historical author< bzw. >writerFundgruben< verwiesen, aus denen sich die zur Präzisierung des Funktionsbegriffs nötigen terminologischen und konzeptuellen >Werkzeuge< entnehmen lassen. Dabei handelt es sich u m die Narratologie mit ihrem Angebot an Modellen und Kategorien der Erzähltextanalyse und die Empirische Theorie der Literatur mit ihrer Unterscheidung von Handlungsbereichen innerhalb des Literatursy stems. Dieser Beitrag hat ein weiteres Ziel erreicht, wenn er überzeugend darlegen kann, daß die Funktionen von Literatur neben den Epochenbezeichnungen und Gattungsbegriffen in die Reihe der retrospektiven Konstrukte aufzunehmen sind. Die Konstruktion der Funktionen ist ein langfristiges Projekt, zu dem beinahe alle literaturwissenschaftlichen Ansätze etwas beizutragen haben. Daran beteiligt sind die empirische und historische Rezeptionsforschung, die Wirkungs- und Rezeptionsästhetik, Diskursanalyse sowie narratologische und hermeneutische Ansätze zur Textanalyse und -interpretation. Wenn dieser Methodenpluralismus nicht auf ein Nebeneinander oder gar Durcheinander, sondern ein konstruktives Miteinander hinauslaufen soll, ist Transparenz anzustreben: »Die methodologische Vielfalt hat [ . . . ] dann nachteilige Konsequenzen, wenn zwischen den verschiedenen Subdiskursen keine Vermittlung stattfindet.« 7 9 Z u einer solchen Vermittlung beizutragen ist schließlich das dritte Ziel dieses Beitrags. Ein erster Schritt ist die Offenlegung der jeweiligen Voraussetzungen der einzelnen Ansätze, die meist nur implizit mitgedacht, aber nicht explizit dargelegt werden. M i t der Systemtheorie und der literarischen Anthropologie sind hier zwei sehr einflußreiche Theorien angesprochen worden, auf die zahlreiche kultur- und funktionsgeschichtliche Studien zurückgreifen. Da beide von völlig unterschiedlichen Literatur- und Funktionsbegriffen ausgehen und damit den Fokus i n entscheidender Weise prägen, ist eine Reflexion über den jeweils spezifischen Sprachgebrauch und die zentralen Prämissen erforderlich, also letztlich darüber, »wie es u m die gesamte >Argumentationsweise< literaturwissenschaftlicher Arbeiten steht«. 80 Die sich aus diesem Denkanstoß und Vermittlungsvorschlag ergebenden Konsequenzen sollen abschließend am Beispiel der Literaturgeschichtsschreibung kurz skizziert werden. Die durch revisionistische Literaturgeschichten offenbarte Voraussetzungshaftigkeit von Funktionshypothesen bestätigt die eingangs dargelegten theoretischen Überlegungen zum Konstruktcharakter 79 David E. Wellbery, zitiert nach Harald Fricke, »Methoden? Prämissen? Argumentationsweisen! Überlegungen zur Konkurrenz wissenschaftlicher Standards in der Literaturwissenschaft«, in: L u t z Dannenberg, Friedrich Vollhardt (Hg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte (Stuttgart 1992), 211-225, hier 214. 80

Fricke, »Methoden? Prämissen? Argumentations weisen!«, hier 216.

Funktionsgeschichten

341

von Literaturgeschichtsschreibung. Die Folge kann selbstverständlich nicht die Abkehr von diesem wichtigen Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft sein. Die Rede vom retrospektiven Konstrukt ist vielmehr als Anregung zu verstehen, Voraussetzungen zu benennnen und Selbstreflexion und wissenschaftsgeschichtliche Überlegungen i n neue >GeschichtenLiteraturgeschichte< zu verabschieden, es kann lediglich darum gehen, sich anders zu seinem konstruktiven Status zu verhalten.« 81 I n Abwandlung von Harald Weinrichs Plädoyer für eine Literaturgeschichte des Lesers 82 wäre also nach einer Literaturgeschichte der Kritikerinnen und Kritiker zu fragen, die zu verschiedenden Zeiten an verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Prämissen Modelle zur Beschreibung der Genese literarischer Gattungen entwickelt und unterschiedliche Funktionszuschreibungen vorgenommen haben. Dabei dürfte sich der literaturwissenschaftliche Drang nach retrospektiver Sinnstiftung als weiteres menschliches Grundbedürfnis neben dem Fingieren und Imaginieren und damit als zentraler Gegenstand einer Anthropologie der Literatur erweisen.

81 82

Fohrmann, »Über das Schreiben von Literaturgeschichte«, 195.

Harald Weinrich, »Für eine Literaturgeschichte des Lesers«, in: Ders., Literatur Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft (Stuttgart et al. 1971), 2 3 - 3 4 .

für

KLEINER BEITRAG

Zwischen »réalisme géométral« und »réalisme restreint« Zu Philippe Dufours Studie über Poetiken des Realismus im Dix-Neuvième1 Von Ulrich Schulz-Buschhaus

Von Philippe Dufour ist eine ungewöhnliche Einführung in die französische Romanliteratur des 19. Jahrhunderts, die sich dem >Realismus< verschrieben hat, erschienen. Sie ergibt ein Buch, das sich aus mehreren Gründen mit Nachdruck empfehlen läßt: wegen seiner literarhistorischen Zuverlässigkeit, wegen der außerordentlichen Finesse seiner Stilanalysen und nicht zuletzt wegen dem Elan einer geistesgeschichtlichen Deutungslust, die den Leser i m Detail solcher Textinterpretationen ebenso zu fesseln weiß wie durch die gesamte Organisation des bekanntermaßen kaum einzugrenzenden Stoffs. Dabei hat Dufour es sich gerade unter dem letztgenannten Aspekt nicht leicht gemacht. Z u den Zügen, die der Darstellung i n Anbetracht ihres oft behandelten Themas bemerkenswerte Originalität verleihen, gehört nämlich neben den Seitenblicken, mit denen hier außer dem Roman auch die semiotisch benachbarte Geschichte der Malerei bedacht wird, vor allem eine nicht ganz selbstverständliche Ausweitung des Kanons der großen Realisten. Zwar möchte Dufour den »réalisme« keineswegs i m Sinn einer literarischen >Schuledisconfirmation< und >double bind< oder »komplementär e< vs. »symmetrische K o m m u n i k a t i o n für die Textanalyse führt zu überzeugenden Beziehungsinterpretationen. Wenn etwa das Verhältnis zwischen Benedick und Beatrice in Much Ado analysiert wird, kommt klar zum Vorschein, daß ein Großteil des komischen Effekts aus ihrer spezifischen, immer weiter eskalierenden symmetrischen Kommunikationsweise entsteht. Keine der beiden Figuren ist bereit oder in der Lage, einzulenken und sich der anderen unterzuordnen, so daß es zu grotesken Übersteigerungen entsprechend der Redensart »Auge u m Auge, Zahn um Zahn« kommt, die nur durch ein Eingreifen von außen einzudämmen sind. U n d das Drama The Merchant of Venice erfährt eine interessante Deutung, wenn es als sorgsam komponiertes Stück über eine Dreiecksbeziehung zwischen Antonio, Portia und Bassanio gelesen wird, in dem die Figuren mit Hilfe von ¿o»We-&*W-Strategien versuchen, das jeweilige Objekt ihrer Zuneigung i m zweifachen Wortsinn für sich zu gewinnen. Insgesamt bestätigen die Ergebnisse von Hesses Dissertation die Nützlichkeit kommunikationstheoretischer Analysemethoden für die Literaturwissenschaft. Allerdings leidet die Arbeit an der tendenziellen Vernachlässigung der intentionalen >Gemachtheit< der untersuchten Texte, der Tatsache also, daß Dramen als literarische Kunstprodukte eben nicht nur ein inneres, sondern auch ein äußeres Kommunikationssystem aufweisen. Damit verbunden ist ein häufig unzulässig spekulativ erscheinender Umgang mit den Textinformationen. Neben der problematischen Gliederung fällt eine für eine ShakespeareStudie erstaunliche Beschränkung i n der Einbeziehung von Sekundärliteratur auf. Ärgerlich sind Verweise auf nichtexistente Fußnotennummern sowie mehrfach fehlende Seitenangaben i m Literaturverzeichnis. Wettgemacht w i r d dies aber durch einen meist gut verständlichen, klaren Stil. Jens Mittelbach, Jena

Buchbesprechungen

Stefan Germer, Kunst - Macht - Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis X I V . München: Fink-Verlag, 1997. 631 S. Es gibt Autoren, deren Schaffen dem Prozeß der Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen aus dem literarischen Schrifttum zum Opfer gefallen ist und spätestens seit dem 19. Jahrhundert von der Forschung deshalb vernachlässigt wurde, weil es infolge der Aufteilung der wissenschaftlichen Disziplinen i m Grenzgebiet verschiedener Fachrichtungen angesiedelt ist und sich folglich niemand so recht dafür zuständig fühlt. Einer der prominentesten unter diesen Leidtragenden der Aufsplitterung der Fächer ist André Félibien, der zu seiner Zeit hoch angesehene Historiograph der für den Sonnenkönig geschaffenen Bauten und Kunstwerke. Gehört er i n die Kunstgeschichte wie Vasari, dessen Werkverzeichnisse und Faktenwissen allerdings häufig auf Kosten der literarischen Form seiner Darstellung überbewertet werden? Ist er gar lediglich ein Gelehrter, der sich ins Feld der Literatur vorgewagt hat, weil er seinem Dienstherrn zu Gefallen sein wollte? Bei ihm kommt i n der Tat erschwerend hinzu, daß er ein Panegyriker seines Königs war und deshalb für die nachfolgenden Generationen in doppelter Hinsicht unverständlich wurde. Z u m einen wurden solche Schriften ideologisch spätestens seit der Französischen Revolution von Seiten der republikanisch gesinnten Gelehrten der kriecherischen Schmeichelei und inneren Hohlheit verdächtigt, zum anderen wurden sie durch den Niedergang der Rhetorik literarästhetisch marginalisiert und angesichts des Prinzips einer autonomen Literatur schlichtweg unverständlich. Erst mit dem Hinterfragen dieses Wissenschafts- und Literaturbegriffs durch die neueren Ansätze von Strukturalismus und Semiotik bis hin zur Kultursoziologie und Rhetorik wurde das Interesse an Gestalten wie Félibien neu geweckt und die Voraussetzung dafür geschaffen, daß der hohe Rang ihrer Schriften neu entdeckt werden konnte. René Démoris hat Ende der achtziger Jahre mit seiner Ausgabe der Entretiens sur les vies et les ouvrages des plus excellents peintres anciens et modernes Félibien für ein breiteres Publikum zugänglich gemacht. Stefan Germer rekonstruiert i n der hier zu besprechenden Studie nun den historischen Rahmen, in dem Félibiens Karriere, seine überragende intellektuelle und literarische Leistung und die Bedeutung seines Wirkens für unser Bild vom Frankreich Ludwigs XIV. ihr angemessenes Profil erhalten. Germer ist Kunsthistoriker und rechtfertigt ausführlich, warum seine Studie in die Zuständigkeit seines Faches fällt. Ich erkenne als Literaturwissenschaftler die Stichhaltigkeit seiner Argumentation an, fühle mich aber durchaus berechtigt, eine Rezension aus der Sicht meines Faches vorzulegen, weil einer der Vorzüge dieses Buches gerade darin besteht, daß es für Literaturwissenschaftler, ja für die Kulturwissenschaften ganz allgemein, von größtem Interesse ist. Diese Qualität des Werkes rührt u. a. daher, daß sein Verfasser in bemerkenswerter

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Vielseitigkeit die wichtigsten Impulse einschlägiger Forschungen aus den verschiedenen Disziplinen für seine Überlegungen zu nutzen und in seinen Gedankengang so einzubauen weiß, daß jeweils ein differenziertes Bild des analysierten Problems zustande kommt. So steht in den Kapiteln 1 - 4 die kultur- und literatursoziologische, in den Kapiteln 5 - 6 hingegen die rhetorische und gattungsgeschichtliche Fragestellung i m Vordergrund, bis dann in den Kapiteln 7 - 9 eindeutig die Kunsttheorie ins Zentrum rückt. D o c h lassen sich die verschiedenen Ansätze keineswegs säuberlich auseinanderdividieren. Das zeigt sich besonders i m 4. Kapitel bei der Untersuchung der Faktoren, die Felibiens intellektuelle Karriere i m Spannungsfeld von Kunst und Politik bestimmen. Felibien hat nach seiner Rückkehr aus Rom zunächst w o h l eine politische Karriere ins Auge gefaßt und deshalb vor dem Problem gestanden, wie er seine dort gemachten Aufzeichnungen verwerten sollte, die dann die Grundlage seiner kunsttheoretischen Schriften, besonders der Entretiens , wurden. Germer macht deutlich, daß Felibiens Beschäftigung mit der Kunst in Rom »bestenfalls Zeitvertreib gewesen war« (S. 91). Als Sekretär des Marquis de FontenayMareuil hatte er die dessen Romaufenthalt betreffenden Unterlagen zu betreuen und seine Korrespondenz zu beantworten. Seine eigenen Notizen hätten als diplomatischer Bericht gut i n diesen Kontext gepaßt, wenn eine derartige Berichterstattung nicht durch die Veränderung der politischen Konstellation i m Rahmen der Fronde inopportun geworden wäre. Deshalb wertete Felibien, so vermutet Germer, »die Anekdoten, die Notizen zu Kunstwerken und Begegnungen mit Künstlern« (S. 112) auf, u m in den Entretiens der »Geschichte der Großen die Vielzahl der Künstlergeschichten« entgegenzusetzen (S. 112) und sich einen Namen als Fachmann für Kunst bzw. Kunsttheorie zu erwerben. Er machte sich an die Übersetzung von Leonardos kunsttheoretischen Schriften und ließ sich dabei von Abraham Bosse beraten, bei dem er Unterricht genommen hatte. Damit gerät er in die Auseinandersetzungen unter den Künstlern zwischen einer mehr handwerklichen bzw. geometrisch fundierten und einer sich vom Handwerk absetzenden, genuin künstlerische Momente betonenden Kunstauffassung. Germer zeigt, wie sich Felibiens Leonardo-Übersetzung in die inneren Zwistigkeiten i n der Kunstakademie einfügt, letztlich zur Niederlage Bosses beiträgt, dabei jedoch die Grundlage für Felibiens Wertschätzung als Kunstkenner liefert. Er verknüpft bei dieser Analyse soziologische, politische und institutionsgeschichtliche Aspekte mit kunstwissenschaftlichen Fragestellungen, die bei ihm auf Grund dieser Verbindung der unterschiedlichen Forschungsansätze überzeugender als bei seinen Vorgängern abgehandelt werden. Germer muß bei einzelnen Texten Felibiens wie z. B. bei seiner Beschreibung von Versailles tief i n die literarhistorischen Probleme eindringen, u m den Kontext zu erhellen, innerhalb dessen die Schrift seines Autors zu interpretieren ist.

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Félibiens Besonderheit besteht gegenüber seinen bedeutenden Konkurrenten wie La Fontaine und Mademoiselle de Scudéry in der Verwendung der Ikonographie als Ordnungssystem, »das ihm ermöglichte, die vereinzelnde, aufs Materielle gerichtete Interpretation der Dekoration zu überwinden und diese statt dessen als einen hierarchisch gegliederten Sinnzusammenhang zu begreifen, welcher sich von der Devise des Königs ausgehend deuten ließ« (S. 251). Félibiens Lektüre ist kunstwissenschaftlich professioneller als die der übrigen, hat aber gleichzeitig auch die wichtige politische Funktion, »das allegorische Programm des Schlosses als kohärente[n], figurai gefaßte[n] Text lesbar« (S. 251) zu machen. Analog ist auch die Beschreibung des Parks von Versailles angelegt. Germer widersteht jedoch der Versuchung, Félibien zu überschätzen, wenn er zu dieser Beschreibung kritisch anmerkt: »Ein Meistertext, der eine vollständige Interpretation des Ensembles geliefert hätte, war sie freilich nicht.« (S. 254) Es gehört zu den besonderen Leistungen von Germers Studie, auf der einen Seite analytisch das Funktionieren von Institutionen, die Indienstnahme von Vorstellungen und den Kampf von Interessengruppen sichtbar zu machen, auf der anderen Seite aber gleichzeitig auch Verständnis für die Eigengesetzlichkeiten von Kunstliteratur wie für das Funktionieren von Kommunikationsstrukturen und ästhetisch-rhetorischen Verfahren zu wecken. So zeigt er z. B. überzeugend die Rolle der Hyperbolik in der Panegyrik. Die für den König verfaßten Texte sollen den Leser »überwältigen« (S. 271). Bei Beschreibungen von Festen oder auch des Schlosses von Versailles w i r d diese Überwältigung des Lesers dadurch erreicht, »daß sie ihm die unermeßliche Vielfalt des zu Sehenden nicht bloß aufzählten, sondern ihn selbst zum Teilnehmer der Feste oder zum Besucher des Schlo[sses] werden ließen und ihn so dazu brachten, die Größe des Königs aus eigenem Urteil zu bestätigen« (S. 271). Was Germer zur epideiktischen Rede, zur kollektiven Textproduktion oder zur Arbeit der Académie des Inscriptions schreibt, ist für den Literaturwissenschaftler ebenso erhellend wie seine Bemerkungen zur Geschichtsschreibung. Er konfrontiert nämlich Félibiens Entretiens mit der Aufwertung der Alltagsgeschichte durch Sorel bzw. Saint-Réal und interpretiert dieses Werk als eine aus den französischen Verhältnissen hervorgegangene Aktualisierung der Tradition der Vitenliteratur. Félibien verbindet dort »die Historisierung des Privaten mit einer Privatisierung des Historischen« (S. 476). Er lobt »bei der Beschreibung der unterschiedlichen Beziehungen zwischen Kunst und Macht die Künstler [ . . . ] , die sich auf Grund ihres Schaffens Autonomie bewahrt hatten« (S. 476). Aber auch auf sprachkünstlerischer Ebene sind seine Entretiens durch »die Verwandlung von Deskription in Erzählung« (S. 479) eigenständig. Germers fundamentale Studie rückt Félibien in ein völlig neues Licht. Sie ist für alle Spezialisten des französischen 17. Jahrhunderts von höchstem Interesse,

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weil sie nicht nur tiefe Einblicke in Fragen der Kunstwissenschaft, sondern auch in die der Literatur- und Kulturgeschichte jener Epoche vermittelt. Volker Kapp, Kiel

Œuvres & Critiques, X X I V , 1, »Présences de Racine«. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1999.316 p. Réuni et présenté par Volker Schröder, ce panorama très dense et complet des »présences« diverses de Racine, celles d'aujourd'hui comme celles d'hier, nous semble appelé à faire date, en dépit de son refus légitime de tout esprit commémoratif. Sans viser une impossible exhaustivité, et loin de tout a priori méthodologique, il aborde dans une large diversité d'optique les multiples visages de l'auteur de Phèdre pour la critique actuelle, et analyse la réception européenne, depuis les origines, de cette oeuvre emblématique. A u terme d'une quinzaine de contributions venant des deux côtés de l'Atlantique et qui sont autant de chantiers ouverts, destinés à activer la recherche, le lecteur garde l'image stimulante et inconfortable d'un Racine à la fois mieux connu et toujours opaque, jaloux de son secret, d'un »classique« aussi, desservi par l'image intéressée qu'en ont donnée l'école en France, ou en Europe un certain usage social des élites, mais toujours (heureusement pour lui!) insaisissable et fascinant, sujet à constantes réinterprétations, riche aussi dans la création vivante de fécondités imprévisibles. Une première preuve, placée en exergue et non sans humour par l'éditeur, en est fournie par les deux textes »oulipiens« de Jacques Roubaud (Codécimation de »Phèdre «) et Michelle Grangaud (L'interjection dans »Britanniens«): outre leur intérêt propre, ces compressions iconoclastes de textes révérés par la tradition attestent que Phèdre ou Britanniens demeurent avant tout des réserves inépuisables de réflexions sur le langage et la poésie, des défis permanents pour la création littéraire. Avec l'article d'une grande richesse d ' E . Bury (Les Antiquités de Racine) se trouve posée en termes renouvelés et élargis - on entre ici dans la critique universitaire - la question traditionnellement trop vite résolue de l'imitation par Racine des sources antiques: l'auteur souligne combien la création racinienne procède moins par imitation directe de textes, comme pourraient le laisser penser les fameuses annotations laissées par le dramaturge sur ses lectures grecques et latines (au demeurant inégalement exploitées par la critique), que par innutrition globale à toutes les étapes de sa création, contamination de sources différentes, recours à une alchimie mémorielle »sans couture«, entièrement réglée sur l'efficacité dramatique d'un texte. Si Racine adapte pour son temps des sujets antiques, c'est au terme d'une synthèse esthétique infiniment plus riche qu'on ne l'a dit, brassant les époques, et où les composantes latine (Ovide surtout) et italienne appellent une profonde réévaluation; de là cette plasticité qui fait échapper les tragédies aux circonstan-

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ces historiques de leur création. Michael Hawcroft propose ensuite des pistes neuves pour mieux approcher la question redoutable du style de Racine (Le langage racinien), et procède par comparaison de deux tirades significatives, l'une de Phèdre et Hippolyte,

de Pradon, l'autre de Bajazet. I l montre dans ce

dernier cas la combinaison toujours cohérente, peu voyante mais efficace dramatiquement, de plusieurs procédés: une rhétorique des figures, discrètes mais toujours passionnées, alliée à un constant dynamisme persuasif, la présence de réseaux sémantiques qui donnent à un vocabulaire plus varié qu'on ne le dit une puissance poétique et suggestive intense, la souplesse enfin d'une versification qui frôle la prose, tout en recherchant une harmonie musicale dont nous sont proposés quelques effets. Autant d'éléments distincts clairement isolés dans une même tirade, autant de beaux sujets de monographies . . . Les trois contributions suivantes abordent le thème du tragique racinien. Franziska Sick (Dramaturgie

et amour dans le théâtre de Racine) souligne la rupture que re-

présente la dramaturgie racinienne: là où l'amour, au sein d'un dialogue cornélien entièrement rhétorique, se faisait encore discours, il est à présent pur affect, affrontement de subjectivités dans l'urgence; là où la faute se définissait par rapport à une norme, elle est chez Racine devenue constitutive du rapport à l'autre. Sans doute, comme i l est normal, ces vues suggestives prêtent-elles à discussion. Jean Emelina (Les tragédies de Racine et le mat) s'interroge sur le p'aradoxe d'une œuvre trop longtemps noircie par la critique: à tout prendre, remarque-til, seules cinq tragédies illustrent pleinement en leur dénouement le tragique du mal souverain, lequel de Britannicus à Phèdre prend en outre des visages différents. En fait le tragique racinien, comme tout tragique, renvoie à une demande beaucoup plus fondamentale et intemporelle de la sensibilité humaine, celle du paroxysme des sensations, de l'ivresse du mal et de la folie, indépendante de toute explication rassurante de l'univers, dimension que la critique racinienne récente, érudite et esthétisante, tend fâcheusement à oublier; et l'auteur d'appeler de ses voeux le retour à une réflexion plus fondamentale sur un théâtre spectacle avant d'être texte, moins éloigné qu'il ne paraît des fureurs de notre époque. A sa suite, Solange Guénoun (La passion Racine - sous le lierre de la psychologie et la résistance à la psychanalyse) s'indigne de l'indifférence de la critique actuelle à l'égard des passions raciniennes: elle propose une nouvelle problématique dans la logique de la psychanalyse, où le dramaturgique, le psychique et le politique ne soient plus dissociés, où le corps surtout retrouve sa place centrale, cela en des lignes parfois difficiles mais qu'une vaste annotation vient utilement éclairer. Pierre Ronzeaud livre une utile et précise synthèse dont le titre dit tout (Racine et la politique:

la perplexité du critique): analysant avec

minutie les données de la biographie et dressant un bilan critique de l'œuvre entière, tragédies et prose, il en conclut à l'omniprésence sous des formes diverses d'une soumission à l'absolutisme, où i l demeure malaisé d'évaluer le degré

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d'adhésion personnelle du dramaturge. Bernard Chédozeau (La dimension religieuse dans quelques tragédies de Racine: »Où fuir?«)

aborde en termes très

neufs l'atmosphère religieuse de ce théâtre en distinguant, à la suite de Rudolf Otto, le sacré (frisson d'épouvante devant le divin) du religieux (sentiment socialisé, et historiquement évolutif). C'est le premier, fascination et répulsion mêlées (si éloigné de notre âge désacralisé) qui pénètre d'abord le tragique de Racine et son cosmos peuplé de signes, étranger au Dieu-Personne. Avec Phèdre et les tragédies religieuses, ce sacré se civilise, prend progressivement un sens chrétien (donc religieux) en accord avec le Dieu augustinien; et l'analyse passionnante de B. Chédozeau conclut à la parenté persistante de ce théâtre avec l'univers baroque, loin de l'évolution laïcisante de la fin du siècle. Catherine J. Spencer (Impasse du discours: Racine, Port-Royal et les signes) développe, à partir de l'exemple de Bajazet, et à la lumière de la réflexion linguistique de Port-Royal, une autre piste de recherche, celle de l'analyse de la tragédie entière comme mise en scène du langage, mise en abyme (et en question), de son pouvoir de représentation. Marie-Odile Sweetser (Les femmes dans la vie et l'œuvre de Racine) détaille une constante affinité chez l'homme, »traduite« dans l'oeuvre par une galerie très diverse et contrastée de personnages féminins pathétiques, chez qui elle note la prééminence des rapports de filiation. Fin connaisseur de la comédie classique, Charles Mazouer fait le point sur Les Plaideurs (Racine et la comédie), leur originalité rarement soulignée (montrer, à la suite d'Aristophane, la folie d'un juge), leur habileté dramaturgique, où se perçoit un écho du théâtre des Italiens, la distance qui les sépare de l'humanité autrement profonde des créations moliéresques. Viennent ensuite trois études de réception du dramaturge en Europe (Cecilia Rizza, Fortune et infortunes de Racine en Italie, Peter France, Racine Britannicus, Fritz Nies, Prolégomènes à un Racine allemand), extrêmement fouillées et nuancées, et qui reflètent les trajectoires contrastées de la même œuvre: ces trois spécialistes relatent l'histoire des traductions d'un dramaturge réputé intraduisible, la place de Racine sur les scènes respectives (modeste sans être inexistante) ainsi que dans l'enseignement, la fécondité irremplaçable enfin des études raciniennes dans ces pays, novatrices et trop souvent méconnues en France (ainsi, entre beaucoup d'autres, Francesco Orlando, Michael Hawcroft, Ludwig Karl, adepte d'une lecture psychanalytique dès 1937 . . . ) . Libres envers le respect »patrimonial« que les Français conservent pour le dramaturge, héritiers d'une image de Racine propre à leur culture nationale, ces critiques sont à l'origine d'avancées décisives et témoignent, tout comme les metteurs en scène en apparence iconoclastes, de la vitalité et de la polysémie d'une oeuvre capable d'affronter le prochain millénaire (F. Nies). Michel P. Schmitt (L'hyperclassique,

Racine à l'école) jauge à partir

d'enquêtes récentes la présence et la fragilité d'un auteur canonique dans l'enseignement français (notamment la séduction plus grande qu'il exerce sur les

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jeunes filles . . . ), la menace surtout des inévitables clichés pédagogiques qui l'emprisonnent selon lui dans un nouvel académisme; sans doute y aurait-il à dire sur pareille vision du Racine scolaire. François Lagarde, enfin (1939, année racinienne ) jette un regard critique sur les célébrations du dernier Tricentenaire, leur ferveur manifestement hagiographique et nationaliste, si éloignée du climat actuel de la recherche, et minée de contradictions. O n mesure mieux rétrospectivement la libération intellectuelle dont ont bénéficié depuis un demi-siècle, au delà de l'exemple de Racine, toutes les études sur le classicisme. A u terme de ce riche parcours, un sottisier dû à V. Schröder (Racine-cliché: petit dictionnaire des idées reçues ) vient à point nommé interroger en secret la bonne conscience du lecteur, suscitant en lui une salubre inquiétude . . . Nulle paresse critique en tout cas dans le riche »laboratoire« que représente ce numéro d* Œuvres & Critiques. Tout au plus peut-on regretter, avec V. Schröder lui-même, une synthèse sur les diverses fortunes en France de Racine à la scène, ou sur l'histoire récente de son édition. Tel qu'il est, ce recueil de référence sur un dramaturge toujours classique, c'est-à-dire »multiple, susceptible d'éveiller l'intérêt de groupes très divers de médiateurs, de lecteurs, de spectateurs« (F. Nies) a gagné à l'évidence sa place sa place dans la bibliothèque de tous les raciniens. Jean Garapon , Brest Paul Geyer, M o d e r n i t ä t wider Willen. Chateaubriands F r ü h w e r k . Frankfurt am Main: Peter Lang, 1998. 157 p. L'étude consacrée par Paul Geyer à la première partie de l'oeuvre de Chateaubriand s'intégre dans un ensemble de recherches qui s'efforcent de définir la nature d'un discours poétique se trouvant situé entre la »logique cartésienne« et 1'»abstraction lyrique«. L'essentiel est alors, pour Paul Geyer, de mettre en valeur le début d'une évolution du discours qui doit marquer le passage à la modernité. Le point de départ de cette réflexion est la nécessité de »la reconstruction d'un horizon de connaissance homogène« (p. 9) et c'est en fait toute une analyse théorique du passage de la »logique organique« (p. 11), notion qui trouve sa justification dans la conception développée par Judith Schlanger dans Les métamorphoses de l'organisme (1971), à la »modernité« (p. 11). Replacée dans ce cadre, l'analyse de ce qui est la »recentration du moi« (p. 15) paraît essentielle et il devient alors clair que l'intention de l'auteur est bien d'aller du »mythe de la transparence« propre au romantisme (p. 22) à cette modernité comme discours qui met en concurrence les diverses sciences. D ' o ù la nécessité d'un langage »nouveau« tel que le prône Rousseau dans ses Confessions. L'intention de Paul Geyer est donc bien de construire un système d'analyse du discours qui partira du romantisme ou plutôt de la fin du dix-huitième siècle français pour

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déboucher sur l'époque actuelle et même le surréalisme (p. 21). I l est alors normal que les idées tant de Foucault que de Barthes trouvent souvent une place de choix dans cet effort pour établir une sorte d'histoire du discours dans lequel la mise en valeur de processus historiques s'accompagne d'une étude des principes qui guident Chateaubriand. Ainsi la définition de la »nouvelle mythologie« romantique débouche sur un examen des efforts de Chateaubriand dans Le Génie du christianisme pour ouvrir la religion chrétienne à »l'esprit du temps« et ainsi se dissoudre en lui (p. 36). Paul Geyer interprète cette stratégie comme »une première réalisation d'un mode de discours poético-réflexif« (p. 36), tout en ne perdant pas de vue son but initial qui est toujours de dessiner une évolution débouchant sur une vision moderne du discours qui empreinte à Barthes ses règles principales (p. 37). La question qui devient essentielle est bien celle de la définition d'une certaine »modernité« (p. 39) passant par des changements qui peuvent apparaître comme une »phase de transition anormale entre deux équilibres faits de normalité« (p. 39). Que Chateaubriand serve d'exemple dans cette réflexion sur un modèle dont Barbéris est l'un des inspirateurs (p. 46) n'a rien d'étonnant, même si Barbéris semble, pour Geyer, être passé à côté de l'essentiel, c'est-à-dire de la »dialectique de l'écriture«. L'oeuvre de Chateaubriand et plus spécialement L'Essai sur les révolutions se trouvent ainsi au centre d'une discussion sur »l'esprit de système« (p. 55) qui, et cela apparaît important pour l'auteur de cette étude (p. 57), s'en tient à »l'utilisation des rapports de causalité« sur le plan de la vie intellectuelle. Paul Geyer emprunte ici à Hegel et à sa Wissenschaft der Logik, une analyse qui lui permet justement de mettre en valeur chez Chateaubriand le »processus d'unification« des diverses histoires nationales au sein de l'histoire universelle, ce qui débouche sur une »nouvelle structure du public« dans laquelle l'homme devient un être »politique« au sens moderne du mot (p. 61). Paul Geyer souligne qu'en fin de compte Chateaubriand est bien obligé d'admettre l'échec de toute entreprise de rapprochement des structures historiques (p. 65). Et cette situation amène Chateaubriand tout naturellement à ne pouvoir construire son discours que sur lui-même. En effet, i l a perdu toute »orientation historique concrète« (p. 65) et se réfugie dans »le sentiment diffus du sublime« (p. 75). Et c'est toujours à partir de la définition de la modernité que Paul Geyer s'efforce de décrire ce qu'il appelle »les débuts de la poésie abstraite dans l'Essai sur les révolutions« (p. 79). En choisissant les »Nuages des tropiques« de Bernardin de Saint-Pierre et la »Nuit américaine« de Chateaubriand, Paul Geyer veut démontrer que Bernardin de Saint-Pierre est, sur le plan de la théorie, un précurseur de la poésie moderne, alors que Chateaubriand mène à son terme, dans le concret, cette évolution. Notons que Paul Geyer prend soin de fournir à ses lecteurs des tableaux qui permettent, à propos des deux textes présentés, d'avoir à la fois une description des images mises en valeur et une comparaison

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quantitative des termes, qui, eux, structurent les deux textes (pp. 91-107). La conclusion qu'il tire de cette étude montre, sur le plan de la »descriptio naturae«, que Chateaubriand est capable de rompre avec »la certitude native de l'objet« propre au discours classique prôné au dix-huitième siècle (p. 127) et de créer, à travers ses inventions verbales, un »espace limité« pour des tentatives d'expérimentation (p. 129) qui résultent essentiellement de »relations métaphoriques multiples entre des champs sémantiques« (p. 130). En résumé et si l'on fait abstraction de quelques fautes de frappe notamment dans la transcription de textes en français (p. 21), il faut constater que le travail de Paul Geyer est une tentative originale pour tracer, à partir d'instruments d'analyse puisés dans les ouvrages de nombreux théoriciens tant français qu'allemands, un vaste tableau des transformations connues par le discours poétique depuis le dix-huitième siècle jusqu'à Chateaubriand et son Essai sur les révolutions. La méthode employée s'efforce de prendre en considération un processus qui tient essentiellement compte d'évolutions connues sur le plan du langage tout en ne perdant pas de vue le cadre historique. I l est évident que les moyens mis en oeuvre sont divers et que notamment l'intérêt accordé à la «nouvelle mythologie» romantique met en valeur les réflexions philosophiques qui peuvent accompagner l'étude du »meta-langage« mythique. Cette entreprise, dans son ensemble, ne peut se concevoir que dans un cadre plus vaste qui est d'ailleurs celui choisi par Paul Geyer. Car l'intérêt profond de cette recherche est finalement le rapport qui s'établit entre les efforts littéraires de Chateaubriand et ceux de Valéry passant, sur le plan de la langue, d'une »marche prosaïque, fixée sur un but, à une figure de danse poétique et intransitive« (p. 130). Claude Foucart , Lyon

Barbara Bauer u n d Wolfgang G. M ü l l e r (Hg.), Staatstheoretische Diskurse i m Spiegel der Nationalliteraturen v o n 1500 bis 1800 [Wolfenbütteler Forschungen 79], Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 1998. 519 S. 18 Beiträge haben die Herausgeber für die Dokumentation einer Wolfenbütteler Tagung von 1995 in diesem Band versammelt. Frau Bauer als einer der beiden Herausgeber bringt gleich zwei Beiträge ein und füllt damit bereits ein Fünftel dieser stattlichen Dokumentation. A u f hohem wissenschaftlichen Niveau geht es in allen Beiträgen u m die Auswirkungen des höfischen Absolutismus auf die Erörterung von Machtverhältnissen und Staatsideen i m Schrifttum des 16. bis 19. Jahrhunderts. Eine Ausnahme von dieser zeitlichen Begrenzung bildet lediglich der erste Beitrag von Wolf gang Bernard über Piatons Politeia. Das Schwergewicht der übrigen Beiträge liegt auf der deutschen und englischen Literatur: Lediglich ein einziger Beitrag befaßt sich mit der spanischen und zwei weitere mit der französischen Literatur. 24 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 41. Bd.

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Die Einleitung beschreibt die Prämissen und die Fragestellung, unter denen die Tagung bzw. das interdisziplinäre Arbeitsgespräch stattfand. Es ging u m die Frage, »in welchem Maße und i n welchen Gattungen und Formen die Literatur der frühen Neuzeit gesellschaftskritische und staatstheoretische Probleme aufgreift, die i m politischen, juristischen und historischen Schrifttum der Zeit erörtert werden«. (S. 7) Damit ist bewußt ein sehr weitgefächerter Kanon von Werken in die Untersuchung einbezogen, aber auch die solchermaßen umschriebene Thematik deckt ein weites Problemfeld ab. A u f literarischem Gebiet i m engeren Sinne w i r d das Vorherrschen der Gelegenheitsdichtung betont und die staatstragende Funktion bzw. der affirmative Grundzug der Dichtung dieser Zeit herausgestellt. Die Vorbildfunktion der Antike hat nachhaltig auch auf die Staatstheorie eingewirkt. Hier liegt die Legitimation für Wolf gang Bernards Befassung mit Piatons Konzeption eines »Optimalstaats« als Eröffnungsreferat der Tagung wie des vorliegenden Bandes. Barbara Bauer folgt thematisch überleitend mit einer Analyse der Einschätzung griechischer Staatsführer - Lykurg, Solon, Leonidas und Perikles - durch die deutsche Literatur von 1750 bis 1815: »In den Kontroversen der Staatstheoretiker und Historiker und in dichterischen Werken erschienen die legendären Führergestalten Athens und Spartas in verschiedenem Licht, je nach dem, welchem Landesherrn der Spiegel vorgehalten werden sollte, welche Führungsqualitäten angesichts äußerer Feinde und Rivalen gefragt waren und wer als Hoffnungsträger der Unterdrückten und Benachteiligten in Frage kam.« (S. 42) Diese ambivalente Einschätzung der großen Vorbilder soll nicht auf ihre historische Korrektheit, sondern auf ihren publizistischen und propagandistischen Wert hin befragt werden. Drei Punkte möchte die Verf.in besonders herausstellen, wobei nicht nur die sogenannte >GriechenliteraturRömerliteratur< mit einbezogen wird: 1. »Erziehung zum Patriotismus« ist der Titel für die Sichtung und Befassung mit den an die drei Werke von Gottsched, Lessing und Glover sich anschließenden Kontroversen in den Zeitschriften und Pamphleten. I n England löste bereits Addisons Cato (1713) heftige Meinungsdifferenzen aus, und auch in Frankreich war Deschamps Cato umstritten. Gottscheds Adaption (1732) dieser beiden Dramen trug diese Diskussion dann nach Deutschland. M i t Philotas (1758) w i r d die Diskussion über den patriotisch motivierten Selbstmord (S. 48) neu entfacht. U n d mit Johann A r n o l d Eberts Übersetzung (1748) von Richard Glovers Gedicht Leonides (1737) w i r d die Diskussion über »den Verfall der öffentlichen Moral i m England Walpoles« (S. 56) in ähnlicher Form auch in Deutschland eingeleitet. Verf.in betont die Verbindung zu Schiller: »Das Beispiel des Leonides diente Friedrich Schiller dazu, die Theorie des Erhabenen als Teil seines ästhetischen Erziehungsprogramms vorzustellen.« (S. 58)

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2. I m Kontext dieser >RömerGriechende relire l'histoire de l'Europe, et notamment celle d'Italie, comme une aventure de la paroles A u coeur de cette aventure se trouvent les Jésuites pour qui l'homme est né pour la parole, jusqu'au point où l'orientation pédagogique de la Société dans ses collèges se résume dans l'enseignement d'une rhétorique qui inclut le théâtre comme un de ses éléments constitutifs. Et ceci pour promouvoir dont le but est l'imitation du Christ dans la dissémination d'une foi ancrée dans l'action et non pas dans les livres. De surcroît, cet enseignement conduit à une aisance dans la parole qui se fait entendre à travers la poésie improvisée d'un poète du X V I I I e siècle, Bernadino Perfetti, qui, dans l'Europe des Lumières, s'avère signe de continuité avec l'Antiquité et le catholicisme tridentin. Ce n'est pourtant pas n'importe quelle rhétorique qui convienne à la tâche de la transformation des esprits et des âmes. Déjà Pétrarque part à la découverte d'une voie médiane qui crée un langage >entre parole savante et sacréemédiocre< se veut beaucoup plus qu'une fuite des extrêmes: elle pourvoit la synthèse des lettres humaines et des lettres chrétiennes qui constituera »l'ouverture sur le mondes le monde demeurant le terrain d'élection, pour ainsi dire, de l'action de la part de l'Eglise militante. Encore ici l'art oratoire joue-t-il efficacement son rôle, car, devenu seconde nature en latin, il s'établit pleinement dans la langue vulgaire. Et nous avons là l'un des grands axes des thèses de M . Fumaroli, la promotion d'une socialisation de la foi et de la pensée chrétiennes qui sait s'adapter aux lieux et aux circonstances d'une communauté de fidèles toujours en évolution. Ceci est surtout évident

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dans la célébration de la foi, pour laquelle on recrutera même un théâtre public transformé par le théâtre christianisé de l'école. Cette ouverture sur le monde se fait aussi à travers un nouveau groupe de >clercs< composé des intenditore d'arte qui, selon leur jugement, guide intérieur de l'esprit, saura, dans la question des formes de l'art, déterminer les conditions les plus favorables à la rencontre entre peintre, spectateurs et Eglise. Et voilà que Marc Fumaroli renouvelle la signification d'un autre élément important de la place de Rome dans la civilisation européenne jusqu'à la fin du X V I I I e siècle, l'incorporation du meilleur de l'Antiquité pour le transformer en culture chrétienne vivante, surtout à travers la mémoire qui servira de discipline, en rhétorique et en art, afin de couper court à l'innovation destructrice et la dissidence. Rome, site exemplaire à la fois physique et virtuel de cette rencontre de deux cultures, s'érige en critère de toute évolution à l'échelle de l'histoire humaine, comme M . Fumaroli l'explique brillamment dans sa préface, reproduite dans ce volume, du livre de Françoise Waquet sur Bernadino Perfetti, dont la poésie improvisée trouverait sa source, au Siècle des Lumières, dans la réflexion portée par la pédagogie de l'époque post-tridentine sur celle de l ' A n t i quité. Dans le domaine de la peinture aussi, l'oeuvre archéologisante d'un Bosio vise à l'édification et à la maturation du goût du spectateur chrétien de l'ère moderne. L'antiquariat forme le pont entre les artistes et les lettrés, ceux-ci plutôt que ceux-là assumant le rôle de guides dans la production d'images qui mettra en avant l'orthodoxie face à l'hérésie foncièrement iconophobe, sinon nettement iconoclaste. Enfin, quelle a été la réaction française devant la centralité de Rome dans le rayonnement de cette synthèse unificatrice des deux Antiquités? M . Fumaroli nous donne, sur le plan de la politique nationale, le portrait d'une volonté d'universalisme transformé en particularité voulue, mais sur la base des mêmes éléments de construction. Après un certain retard par rapport aux études grecqes, Guillaume Budé part à la construction d'un hellénisme français et à la reconstitution d'un Studium inséparable de l'autorité du roi. La leçon de Rome, dont la renaissance après le sac de 1527 reste exemplaire aux yeux de Richelieu, donnera lieu en France aux normes de style et de langage visant à établir un point de rassemblement social et politique autour du pouvoir royal. Est-il possible de détecter chez M . Fumaroli une certaine mesure de déception par rapport à ce qu'il considère la recherche d'une modernité française dans le désir de trouver pour la culture mondaine des racines non-gréco-romaines ou dans l'exigence de distinction et d'hégémonie de la part de la couronne, surtout sous Louis X I V ? Pour lui, >Rome phénix< représenterait Rome l'éternelle, source de modèles pour >de nombreuses autres Romesun autre état du même génieFeminisierung< des Romans der Zeit, die sich in einem großen Zuwachs an Autorinnen und Leserinnen bekundet, w i r d hier erstmals aus umfassender kulturwissenschaftlicher und gattungskritischer Perspektive in den Blick genommen. Als Hauptmerkmal weiblicher Literaturproduktion in dem betreffenden Zeitraum erkennt Vf.in die Teilhabe von Frauen »am aufklärerisch-bürgerlichen Diskurs, insoweit er das Problem der Frauenerziehung berührt« (S. 6). Als Zeugnisse dieses kulturellen Sachverhalts gelten von Frauen und für Frauen geschriebene Erziehungshandbücher (conduct books) und eine entsprechende von Frauen für Frauen geschaffene Romanproduktion, in deren Zentrum das Thema der weiblichen Erziehung steht. Als Gattung, die i n der gesamten Erzählprosa des Zeitraums prominent hervortritt, w i r d der »weibliche Erziehungsroman« bestimmt, der sich, wie Vf.in postuliert, bei so unterschiedlichen Autorinnen wie Maria Edgeworth, A n n Radcliffe, Fanny Burney und Jane Austen findet und bei einer Fülle weniger bekannter Romanschriftstellerinnen wie etwa Charlotte Smith, Mary Hays, Mary Wollstonecraft, Hannah More und Mary Hamilton. Literarhistorisch ist in dem Versuch, eine Epoche der Romangeschichte über eine »weibliche« Gattung zu definieren, ein entschieden feministischer Ansatz zu erkennen, der sich freilich in den Einzelanalysen nicht wiederfindet, die nirgends ein feministisch-subversives Potential der Texte ausmachen und feministische Theorie so gut wie nicht heranziehen. Eine erste Leistung der Untersuchung ist i n der Darstellung der Diskussion über die Frauenerziehung um 1800 und in der kritischen Sichtung und Analyse

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der von und für Frauen geschriebenen Erziehungshandbücher der Zeit zu sehen, wobei mit viel Umsicht zwischen konservativeren und progressiveren conduct books unterschieden w i r d (z. B. 57-58). Uber die Erörterung zweier semifiktionaler Erziehungsbücher (Wollstonecrafts Original Stories und Edgeworths The Good French Governess) nähert sich die Monographie dem Roman. Dabei setzt sich die Arbeit zunächst grundsätzlich mit der Forschung zum Roman u m 1800 auseinander und mit der vertrackten Subgenre-Diskussion. Als Kardinalproblem der Gattung w i r d das Didaktizismusproblem erkannt, w o m i t die Brücke von den Erziehungsbüchern zum Erziehungsroman geschlagen wird, ohne daß freilich der >Erziehungsroman< vereinfachend als Umsetzung der conduct book-Literatur ins Fiktionale mißgedeutet würde. I n diesen Zusammenhang w i r d auch die herausragende Einzelautorin Jane Austen gestellt, wozu Stellung zu beziehen sein wird. Die Romananalysen arbeiten »Strategien der Leser- und Heldinnenerziehung i m weiblichen Erziehungsroman« (S. 119) heraus, wobei den Erzählerfiguren, der Erzählstruktur und den ideologisch bedeutsamen »Mentorfiguren« besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Eine spezielle Fragestellung, der sich die Arbeit widmet, ist die der literarischen und ästhetischen Erziehung. I m Kontext der Erziehungsthematik zweier Romane (Mary Hays, Emma Courtney , Jane Austen, Sense and Sensibility) w i r d der für die Epoche wichtige sensibility-Be^riH i m Zusammenhang mit der Erziehungsproblematik erörtert, und am Beispiel von Romanen von Mary Wollstonecraft und Hannah More werden grundsätzliche Positionen des Frauenbildes der Zeit diskutiert. Große Beachtung erfährt Fanny Burney, deren vier Romane i m Schlußteil der Arbeit als weibliche Erziehungsromane interpretiert werden. Die Untersuchung wirft trotz ihrer über weite Strecken beachtlichen analytischen Qualitäten und trotz zahlreicher Einzeleinsichten Probleme auf, die teilweise grundsätzlicher A r t sind. Es ist zu begrüßen, daß Vf.in einen deutlichen Unterschied zwischen der nichtfiktionalen Gattung des conduct book und der fiktionalen Gattung des Romans macht. Immer wieder finden sich Hinweise darauf, »daß ein fiktionaler Text, anders als ein nichtfiktionaler, keinen eindeutigen Wertungs- und Wahrheitsanspruch erheben« könne (S. 7). Bei der Erörterung semifiktionaler conduct books w i r d auf deren eingeschränktes didaktisches Potential hingewiesen (S. 79), und mehrfach ist die Rede von der »grundsätzlichen moralischen Ambiguität des fiktionalen Textes« (S. 101, 159) oder gar von Subversivität (S. 160). Vf.in stellt nun die Forderung nach einer »Erweiterung des Didaktizismusbegriffs« auf (S. 101), die auch die Subsumierung offener, vieldeutiger, komplexer und subversiver Texte unter den Terminus des ausdrücklich als didaktisch bestimmten weiblichen Erziehungsromans ermöglichen soll (S. 160). I n Vf.ins Plädoyer für einen »Didaktizismusbegriff, der der genrebedingten moralischen Ambiguität eines weiblichen Erziehungs-

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romans Rechnung trägt« (S. 160), ist ein Widerspruch beschlossen, den die Arbeit nicht auflösen kann. Hier zeigt sich die prinzipielle Problematik der Annahme einer didaktischen Gattung der Erzählliteratur - des weiblichen Erziehungsromans der so gut wie alle von Frauen geschriebenen Romane des in Rede stehenden Zeitraums angehören sollen. Die unbestrittene Prominenz des Themas der Erziehung in der betreffenden Erzählliteratur rechtfertigt nicht das Postulat einer generellen Präsenz der Gattung des Erziehungsromans. Einen Schauerroman wie A n n Radcliffes The Mysteries of Udolpho kann man etwa wegen i m übrigen gut erläuterter moraldidaktischer Momente in der Natur- und Landschaftsdarstellung (S. 213) allein nicht als weiblichen Erziehungsroman bezeichnen. Dasselbe gilt für die improvement-Diskxassion in Jane Austens Mansfield Park (S. 223). Auch >burleske< Romane wie Charlotte Lennox' The Female Quixote oder Austens Northanger Ahbey , in denen es u m den Umgang der jeweiligen Heldinnen mit der literarischen Gattung der romances geht, lassen sich nicht als Erziehungsromane bezeichnen. Die K o m i k des Verhaltens der durch unkritische Lektüre geistig verwirrten Heldinnen ist nicht restlos didaktisch funktionalisiert. Darüber hinaus hat die psychologische Komponente, die Darstellung von durch Lektüre induzierten Bewußtseinszuständen und -prozessen, auch einen eigenen gestalterischen Wert. Problematisch ist es, von Jane Austens Romanen anzunehmen, sie seien als »weibliche Erziehungsromane« konzipiert und hinsichtlich ihrer Heldinnen und Leserinnen auf ein eindeutiges Erziehungsziel hin ausgerichtet, zu vielfältig und vielfach ironisch gebrochen sind doch i n diesem Fall die in den Heldinnen und Lesern und Leserinnen ausgelösten Kognitionserfahrungen. Jane Austens berühmte »Verteidigung des Romans< in Northanger Ahhey - »works in which the greatest powers of the human mind are displayed« (zitiert S. 199-200) - läßt nicht erkennen, daß die A u t o r i n primär ein Erziehungsziel verfolgt habe. Problematisch wäre auch i m H i n b l i c k auf Jane Austen die für die Gattung des weiblichen Erziehungsromans von Vf.in verabsolutierte weibliche AutorinLeserin-Beziehung. Wie wollte man i m Fall von Jane Austen oder anderen Autorinnen des behandelten Zeitraums eine verallgemeinerte weibliche K o m munikationssituation (von A u t o r i n und Rezipientinnen) beweisen können. Als ein »idealer« Leser w i r d in Northanger Ahhey ausdrücklich ein Mann - Henry Tilney - bezeichnet, der von männlichen und weiblichen Lesern (»be it gentleman or lady«) spricht und bekennt, daß er alle Romane von A n n Radcliffe »and most of them w i t h great pleasure« (zit. S. 198) - gelesen hat. Daß die mit der Gattungsdefinition eines weiblichen Erziehungsromans gegebene rein weibliche Autor-Leser-Beziehung nicht der Wirklichkeit entspricht, erkennt Vf.in selbst, wenn sie sagt, »daß das moraldidaktische Projekt des weiblichen Erziehungsromans so lange zum Scheitern verurteilt sein muß, wie er sich auf

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ein ausschließlich oder vorwiegend weibliches Publikum beschränkt« (S. 145). Der Ausschluß der >männlichen< Leser als Rezipienten des Erziehungsromans paßt auch nicht zu einem »Tugendideal« bei Charlotte Smith oder Fanny Burney, das »androgyn« oder gar »gynandrisch« ist und »Männer zu Empfindsamkeit und Zärtlichkeit« und »Frauen zu Vernunft und Selbstbeherrschung anleiten will« (S. 299). Deutlicher als bei Jane Austen tritt die Erziehungsthematik in Fanny Burneys Romanen hervor, die i m letzten Kapitel des Buchs interpretiert werden. Daß diese aber nach dem von Vf.in skizzierten »Muster des weiblichen Erziehungsromans« konzipiert sein sollen (S. 275), w i l l nicht recht einleuchten. Ein besserer Gattungsname wäre für Burneys Romane novéis of Initiation (»Initiationsromane«), ein Name, der durch den Untertitel von Evelina - History of a Young Lady's Entrance into tloe World - quasi vorgegeben ist. Insgesamt verfährt Vf.in in der Verwendung von Gattungsbezeichnungen starr und schematisch. So ist es absurd, Richardsons Clarissa als »einen Prototypen des weiblichen Erziehungsromans« zu bezeichnen (S. 109). Oder es ist nicht einzusehen, wieso ein politischer Traktat wie Wollstonecrafts A Vindication of the Rights of Woman als conduct book gelesen w i r d (S. 5 8 - 6 5 ) und The Wrongs of Woman derselben A u t o r i n als Erziehungsroman (S. 243-250). Vf.in hat i n ihrem Werk ausgezeichnete Untersuchungen zur Erziehungsdiskussion i m ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, zu den weiblichen Erziehungsbüchern des Zeitraums und zum Thema der Erziehung i m englischen Roman um 1800 vorgelegt, ihr Postulat eines die Erzählliteratur der Zeit bestimmenden weiblichen Erziehungsromans und ihre gattungskritischen Distinktionen sind jedoch weitgehend verfehlt. M i t gutem Grund erscheint der Begriff des weiblichen Erziehungsromans nicht i m Titel dieser Monographie. Wolf gang G. Müller ; Jena

I r m g a r d Scheitler, G a t t u n g u n d Geschlecht. Reisebeschreibungen deutscher Frauen 1780-1850 [Studien und Texte zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur 67], Tübingen: Niemeyer, 1999. I X , 312 S. Arbeiten zur Frauenreisekultur haben in der Germanistik und den benachbarten Disziplien seit vielen Jahren eine solche Konjunktur, daß dieses Gebiet in manchem Bereich bereits als überforscht gelten darf. 1 Allerdings verdankt sich diese Konjunktur in der Regel einem sekundären Motiv: Sie ist ein wind1 Vgl. den Forschungsbericht von Michael Maurer, »Reisen interdisziplinär - ein Forschungsbericht in kulturgeschichtlicher Perspektive«, in: Ders. (Hg.), Neue Impulse der Reiseforschung , Aufklärung und Europa . Beiträge zum 18. Jahrhundert (Berlin 1999), 287-410, hier 333-451.

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fall product der feministischen Literaturwissenschaft, die sich eher von ihren eigenen Problemen und Fragestellungen leiten läßt als von denen ihres Gegenstandes. Das ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Dresdner germanistischen Habilitationsschrift: Sie verweigert sich ausdrücklich dem »Ghetto von >women studiesweiblich< erklärt« (238). Eine ausführliche Untersuchung widmet Frau Scheitler den Kompositionsund Schreibtechniken; in ihnen w i r d der Kern der Diskussion u m »weibliches« Schreiben berührt. Empfindsamkeit, Unmittelbarkeit, Kompositionslosigkeit, der Verzicht auf vorbereitende Lektüre und spezifisch »weibliche«, insbesondere häusliche Beobachtungsgegenstände als vermeintliche Merkmale »weiblichen« Schreibens sind häufig zu konstatieren und abzugrenzen vom - zumindest aufklärerischen - Ideal der »männlichen« Sachlichkeit. Diese Besonderheiten sind den reflektierteren der reisenden Frauen durchaus bewußt gewesen. Johanna Schopenhauer hat darauf hingewiesen, daß Frauen auf Reisen anders wahrnehmen und urteilen als Männer, und Sophie La Roche hat den reisenden Frauen spezifische Beobachtungsgegenstände zugewiesen (175 f.). Die meisten der reisenden Frauen sind sich i m übrigen ihres besonderen Status jedenfalls bewußt; in direkten und indirekten Äußerungen finden sich Manifestationen ihres weiblichen Selbstverständnisses, das nicht unbedingt weibliches Selbstbewußtsein sein muß. M i t ihrer Untersuchung der Rezeption von Frauenreisen hat Frau Scheitler gründliche und beeindruckende Arbeit geleistet. Sie zeigt, daß Frauenreisen von den durchwegs männlichen Kritikern überwiegend - aber durchaus nicht ausschließlich - negativ beurteilt wurden und daß dabei das Kriterium der »Weiblichkeit« eine entscheidende Rolle spielte. Auch hier - wie sonst - besticht die Arbeit durch ihre Informiertheit. Sie untersucht nicht nur die Rezensionstätigkeit, sondern betrachtet, so weit das möglich ist, auch akribisch persönliche und institutionelle Abhängigkeiten, so daß dieses Kapitel, weit über das enge Thema hinaus, eine Modellstudie für die Situation des zeitgenössischen Rezensionswesens darstellt (221 -243). Die Arbeit w i r d mit einem wertvollen Anhang abgeschlossen. Die verschiedenen Quellenverzeichnisse sind eine Fundgrube für die Forschung; und die bio-bibliographischen Abrisse von über vierzig reisenden deutschen Frauen 2*

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sind ein wichtiger Beitrag zur weiteren Erschließung dieses Gebietes, hierin vergleichbar der entsprechenden anglistischen Arbeit von Jane Robinson. 2 Frau Scheitler hat ihr Thema mit einem enormen Arbeitsaufwand bewältigt. Ihre umfassenden Recherchen beziehen sich nicht nur auf die Erfassung der Texte, sondern auch auf biographische Details und auf die Situation des Buchmarkts. Das führt zu einer sehr kleinteiligen und hochdifferenzierten Darstellung der einzelnen Komplexe. Es zeigt sich i m Ergebnis, daß die literarische »Gattung« Reisebericht in diesem Zeitraum in vielerlei Hinsicht vom »Geschlecht« der Reisenden abhängig ist. Zugleich aber w i r d deutlich, daß diese Abhängigkeit nicht in jeder Hinsicht besteht und daß innerhalb der geschlechtsbestimmten Eigenheiten weiblichen Schreibens und Reisens große Unterschiede je nach individueller Situation und individuellem Temperament der reisenden Frauen bestehen. Besonders hinzuweisen ist auf einen Nebenbefund, der in der Arbeit nicht hervorgehoben wird, der aber für ihre Fragestellung von außerordentlicher Bedeutung ist: Frau Scheitler weist mehrfach darauf hin, daß das Reise- und Schreibverhalten und die Rezeption ausländischer weiblicher Reisender, besonders der Engländerinnen, völlig anders angelegt ist (28): So fehlen in deren Texten die »exordialefn] Demutstopoi« (125); und die Gefühlsbestimmtheit der deutschen weiblichen Reisenden hat in England kaum Anklang gefunden (232). Das sollte zu der Überlegung Anlaß geben, ob die Kategorie »Geschlecht« wirklich so zentral ist, wie es neueren Forschungsansätzen erscheint - denn offensichtlich spielen kulturelle, soziale, nationale, politische, mentale und biographische Prägungen eine größere Rolle als sexuelle. Nebenbei kann gefragt werden, ob die Frage nach der literarischen »Gattung« nicht ebenso revisionsbedürftig ist: I n der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts zeigen sich bestimmte Publikationsmuster, - Anonymität, Mehrfachverwertung, redaktionelle Überarbeitung, Übersetzung - die die Frage aufwerfen, ob das traditionelle, auf den Zentralkategorien von »Autor« und »Werk« basierende Gattungskonzept 3 nicht durch das Modell einer »zirkulierenden Literatur« abgelöst werden sollte, wie Susanne Becker i m Blick auf die Abenteuerliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorgeschlagen hat. 4 Die von Frau Scheitler beschriebenen Publikationsstrategien und Marktmechanismen weisen jedenfalls typische Anzeichen dafür auf.

2

Jane Robinson, Wayward

Women. A Guide to Women Travellers

(Oxford 1990).

3

Die besonders von Foucault inspirierte Postmoderne-Diskussion hat diese Kategorien ohnehin mit Gründen ins Wanken gebracht; vgl. Peter J. Brenner, Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen literaturwissenschaftlicher Arbeit , Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 58 (Tübingen 1998), 255-283. 4

Susanne Becker, Das abenteuerliterarische Netz 1840-1935. zirkulierenden Literatur, ; Phil. Diss. (Köln 1998 [im Druck]).

Zu einer Geschichte der

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M i t ihrer Untersuchung hat Frau Scheitler ein unbekanntes Feld nicht nur erschlossen, sondern detailliert vermessen - sie fügt sich damit ein in den Trend der neueren Frauenreisekulturforschung, die sich von den feministischen Theorieprägungen eher ab- und sich der historischen Materialerschließung zuwendet. Es ist auf die Parallelarbeit von Ulla Siebert zu verweisen, die mit ganz ähnlichen Fragestellungen und Ergebnissen den Zeitraum von 1871 bis 1914 untersucht. 5 Wo viel Licht ist, ist auch Schatten: So überzeugend die Arbeit Frau Scheitlers in der Er- und Aufarbeitung ihres Materials sich darstellt, so bedenklich ist der Verzicht auf jede Form theoretischer Reflexion und Grundlegung. Gewiß hat Frau Scheitler Recht, wenn sie sich deutlich von übertheoretisierten Forschungsarbeiten absetzt, wie sie gerade in der feministischen Literaturwissenschaft nicht unüblich sind; die Befürchtung ist zutreffend, »daß moderne Theoriebildung, etwa ein modernes Weiblichkeitsverständnis, die historische Wahrnehmung zudeckt« (14). 6 Das allerdings sollte kein Freibrief für völlige Theorielosigkeit sein; auch hier liegt, wie immer, die Wahrheit in der Mitte. Es gibt kaum eine Arbeit in der neueren Reiseliteraturforschung, die so theoriefern konzipiert ist wie diese. N u n hat eine solche Theorieferne auch ihre Vorteile. Vor allem erlaubt sie der Verfasserin einen nüchternen Zugang zu ihren Texten. Die Analyse ist frei von jenem Rechtfertigungsdruck, dem Arbeiten über Frauenliteratur oft unterliegen und die leicht zur Forcierung der Differenzierung »männlichen« und »weiblichen« Schreibens führen. Dennoch hätte man sich gewünscht, daß Frau Scheitler die Position ihrer Arbeit in der aktuellen Reiseliteratur- und besonders der stark expandierenden Frauenreisekulturforschung bestimmt hätte; von dieser letzteren setzt sie sich deutlich ab, ohne aber ihre eigenen Kategorien und Verfahren zu entwickeln. So sehr diese Diskussionen jenseits des Interessenhorizontes der eigenen Arbeit liegen mögen, so sehr hätte doch eine Auseinandersetzung mit ihnen zur Konturierung der eigenen Position beitragen können. Frau Scheitler verzichtet auch darauf, die größeren literarhistorischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Reisens in den Blick zu nehmen. Ihre strenge Beschränkung auf einen zwar umfangreichen, aber doch eng gefaßten Quellenbereich erlaubt es ihr nicht, die beobachteten Phänomene in Ge-

5 Ulla Siebert, Grenzlinien : Selbstrepräsentationen von Frauen in Reisetexten 1871 bis 1914 ( M ü n s t e r / N e w Y o r k / M ü n c h e n / B e r l i n 1998), 254 Seiten; mit Abbildungen, vgl. meine ausführliche Besprechung i m Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde (2000). 6 I n diesem Zusammenhang lohnt sich die Lektüre der vehementen Philippika Evans* gegen den postmodernen Umgang mit historischen Fakten; Richard J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis (Frankfurt a. M . / N e w York 1998), 78-103.

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samtentwicklungen einzuordnen; immerhin läßt sich w o h l annehmen, daß auch die Frauenreiseberichte nicht unberührt geblieben sind von den fundamentalen gesellschaftlichen Umbrüchen, die gerade in diesem Zeitraum von 1780 bis 1850 in Deutschland zu beobachten sind. Auch die problematischen - und deshalb ergiebigen - Epochenkategorien, welche die Germanistik für diesen Zeitraum entwickelt hat - Spätaufklärung, Klassik, Romantik, Biedermeier, Vormärz, Restaurationsliteratur - spielen in ihren Untersuchungen keine Rolle. M i t ihrer Ausblendung dieser theoretischen und historisch-sozialen Problemhorizonte verschenkt Frau Scheitler viele der Möglichkeiten, die in ihrem Thema angelegt sind; ihre Studie liest sich in weiten Passagen wie eine Arbeit zur Buchmarktforschung unter dem eingeengten Aspekt weiblicher Reiseliteratur, obwohl ihr Material einen sehr viel weiter gefaßten Frageansatz nahelegt. Die hier vorgebrachten Bedenken sind nicht unerheblich, aber sie schmälern den Kern der Leistung von Frau Scheitler nicht: Sie hat mit großem Aufwand und auf eine überzeugende Weise Quellenmaterial erschlossen und aufgearbeitet, das der Forschung bisher überwiegend überhaupt nicht bekannt war. Damit schließt sie eine echte Forschungslücke und liefert die Basis für weitere Untersuchungen, die durchaus der Frauenreiseliteraturforschung wichtige Impulse geben können und sollten. Peter J. Brenner ; Köln

Paul M . Wiehe, M y t h as Genre in British Romantic Poetry [American University Studies, Series IV, English Language and Literature, Bd. 170], N e w York: Peter Lang, 1999. 185 S. Wiebes Abhandlung ist i n erheblichem Maße an der Theorie orientiert und führt mitten hinein in die gegenwärtige Diskussion zur Literatur der englischen Romantik. Seine Auseinandersetzungen mit anderen Theoretikern erweisen ihn als gut informiert und w o h l befähigt, substantielle Beiträge zu leisten. Dabei w i r d die gedankliche Anspannung nicht so weit getrieben, daß die Lesbarkeit seiner Darlegungen beeinträchtigt würde. Wiebe geht von der Einsicht aus, daß die Literatur der englischen Romantik sich wesentlich an Mythen orientiert. Der besondere Ansatz des Verfassers besteht darin, daß er diesen Bereich nicht als bloßen Stoff der Dichtung erfaßt, sondern überraschenderweise als literarische Gattung vorstellt. Diesen neuen Gattungstyp bezeichnet er als Mythopoem. Er schließt deshalb auch der allgemeinen Einführung seines Buches ein weiteres vorbereitendes Kapitel an, das er »Pragmatic Genres« betitelt. Hier liefert der Verfasser eine nützliche Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Gattungstheorie, nebst einer eigenen Stellungnahme dazu. I n dem darauf folgenden Kapitel »Mythcriticism« gelingt ihm eine grundlegende Erweiterung von bisher gültigen Definitionen.

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Northrop Frye, der in seinen Arbeiten, insbesondere aber in seiner weithin bekannten Anatomy of Criticism , wesentliche Beiträge zur Erforschung der Rolle von Mythen und Gattungen vorgetragen hat, definiert den Mythos als einen Dichtungsmodus, der durch den Rang seiner Helden bestimmt sei: Mythen seien Geschichten v o m Handeln der Götter. Wiebe entwickelt und erweitert diese Definition, indem er das implizierte menschliche Element solcher Geschichten deutlicher herausstellt: »supernatural entities determine, shape, or affect i n some way the actions of human beings or the w o r l d in which humans dwell« (p. 67). Wiebe fügt dieser Definition eine weitere wichtige Klarstellung hinzu: Wahrend die Mythe i m religionsgeschichtlichen Verständnis den Status eines heiligen Textes beansprucht, der Wirklichkeit sprachlich darstellt und Wahrheit verkündet, ist die dichterische Mythe wie alle Literatur durch ihre Fiktionalität charakterisiert. Es ist wahrhaft erstaunlich, wie häufig sich selbst bedeutende Literaturexperten über diesen Unterschied hinwegsetzen. So vergaß z. B. Harold Bloom in seiner Begeisterung über Martin Buber diesen U n terschied in Shelley's Mythmaking deutlich zu machen. Selbst Wiebe scheint die eigene klare Position gelegentlich aus den Augen zu verlieren. Die Abhängigkeit des Menschen vom Handeln der Götter w i r d als die typische Struktur des Mythopoems erfaßt. Aber diese Gegebenheit soll nach dem Willen des Verfassers weder stofflich aufgefaßt werden noch durch die Form der Darbietung bestimmt sein. Wiebe unterscheidet dazu eine epische und eine lyrische Form des Mythopoems. Ein solch vielgestaltiges Gattungsgebilde erweist sich als wenig überzeugend. Den Ertrag seiner Konstruktion in Bezug auf das epische Mythopoem sucht Wiebe in einem Kapitel darzulegen, in dem er Blakes »French Revolution« und »America«, ferner Shelleys »Prometheus Unbound« und Keats' »Hyperion« analysiert. Den gegenwärtigen Rezensenten interessieren vor allem Wiebes Ausführungen über die lyrische Form des Mythopoems, die für ihn mit der Form der Hymne identisch ist (p. 108). Wiebes Versuch einer kategorischen Unterscheidung von Hymne und Ode muß unbefriedigend bleiben, weil seine Gattungsbezeichnungen häufig nicht mit den Gedichttiteln übereinstimmen. Entgegen Wiebes Meinung sind es nicht bedeutungslose Etikettierungen. Sie können als Anweisungen oder wenigstens Hilfen für den Leser aufgefaßt werden. U n d selbst wenn sie gelegentlich als kapriziös erscheinen, so sollte doch der Grundsatz gelten: Autoren haben immer eher Recht als nachkonstruierende Literaturtheoretiker. Wiebe behandelt eine Reihe bekannter und beliebter lyrischer Gedichte der englischen Romantik und beweist dabei i m allgemeinen ein hohes Interpretationsniveau. Während seine Deutung von Shelleys » H y m n to Intellectual Beauty« weniger befriedigt, ist die Behandlung von Shelleys »Ode to the West

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Wind« besonders beachtenswert. Wichtige und interessante Fragen werden in dem Unterabschnitt »Personification and Mythopoeia« aufgeworfen. Wiebe setzt sich zunächst mit Harold Blooms Behandlung der Jahreszeitengedichte von William Blake auseinander. Er kritisiert die literaturtheoretische Position, daß prosopopeia u m so deutlicher in mythopopeia überginge, je besser die Zeichnung der Personifikation in das Gedicht integriert sei. Bei aller Brillanz von Blooms K r i t i k bleibt es doch mißlich, von einem Weniger oder Mehr an Mythopoesis zu reden, als ob man in literaturkritischem Sinne von mehr oder weniger göttlichen Göttern sprechen könne. Wiebe versucht, das Problem zu lösen, indem er der bloßen Personifikation mythenbildende Kraft abspricht und die entscheidende Differenz auf den Unterschied zwischen Eigennamen und allgemeinen Substantiven zu gründen versucht, wobei er insbesondere die Klasse der Abstrakta i m Auge zu haben scheint. Wiebes Einführung des Problems der Eigennamen ist verdienstvoll, auch wenn die Lösung, die er sich davon verspricht, nicht überzeugt. Wer Klarheit sucht, muß bei der Personifikation beginnen. Hier handelt es sich u m einen rhetorischen Tropus, der wie die meisten sprachlichen Zeichen mit verschiedenen Bedeutungen besetzt werden kann. Er w i r d häufig benutzt, u m eine literarische Figur von göttlichem Status darzustellen, kann aber auch anderen Verwendungszwecken dienen, etwa der Bezeichnung einer bloß allegorischen Figur. I m Grunde geht es in der Diskussion u m eine klare Scheidung zwischen diesen beiden Anwendungsgebieten. Weder Wiebes Unterscheidung zwischen scheinbarem Abstraktum und Eigennamen noch die von abstrakter Personifikation einerseits und w o h l integrierter Personifikation andererseits vermögen sicher den Weg zu weisen. Abstrakte und integrierte Personifikation haben zu verschiedenen Zeiten beim Lesepublikum unterschiedliche Akzeptanz erfahren. Die Leser des Neoklassizismus haben offenbar die Darbietung bloßer Personifikationen genossen, während der romantische Geschmack sie verabscheute und allenfalls die sorgfältig versteckte oder integrierte Personifikation tolerierte oder heimlich bewunderte. Die Dichter der englischen neoklassischen Lyrik haben »bloßen« Personifikationen, noch dazu solchen mit abstrakten Namen, den Stempel göttlichen Rangs auf ihre eigene Weise aufgedrückt, beispielsweise indem sie solchen Figuren einen Tempel, einen Altar oder sonst ein Anzeichen kultischer Verehrung angedichtet haben. Oder sie haben durch die Konstruktion einer verwandtschaftlichen Beziehung zu bekannten Figuren der Götterlehre die eigene Schöpfung in die Reihe traditioneller mythologischer Gestalten eingegliedert. D e m gleichen Zweck diente die Zuschreibung zu einer der Ordnungen der mythologischen Uberlieferung, die eine Mehr- oder gar Vielzahl von Gestalten implizierten, wie etwa die der Grazien, Hören oder die der Nymphen. Das sind Gruppen, die offenbar als besonders erweiterungsfähig angesehen wurden.

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Kenner der Literatur des 18. Jahrhunderts wissen, daß neoklassizistische Dichter deshalb Bezeichnungen wie Nymphen und Göttinnen synonym verwenden konnten. Die neueren Dichter haben den Gebrauch von Abstrakta als Eigennamen nicht als Hindernis für Mythopoesis empfinden müssen. Sie erinnerten sich noch an die Mutter der Musen oder an Eros und Eris. Weitere Wegweisung ist hier von Useners gewichtiger Abhandlung über Götternamen zu erhalten. Wer auch immer die Regel aufstellt, daß Göttlichkeit sich durch den Eigennamen ausweist und daß Figuren, die durch Abstrakta gekennzeichnet sind, allenfalls den Status von Allegorien beanspruchen können, w i r d sowohl durch die Dichtung wie durch die Wirklichkeit eines Besseren belehrt: Thomas Grays »Adversity« ist als »daughter of Jove« eine »dread goddess« und ihr literarisches Vorbild, Horazens »Fortuna«, ist nicht nur eine Figur der Dichtung sondern auch der römischen Religionsgeschichte. Allerdings ist auch hier eine Wandlung des literarischen Geschmacks zu verzeichnen: Collins* »Evening« bleibt eine erheblich weniger abstrakte Personifikation als Grays »Adversitiy«. Gleichzeitig nennt der Anbeter die Angebetete »Eve«. Er verwendet also eine Wortform, in der die Zeitbezeichnung, die aus Wendungen wie Christmas Eve oder »The Eve of St. Agnes« bekannt ist, mit der Namensform fast vollständig zur Deckung gebracht ist. I n Shelleys Westwind-Ode verbirgt die Personifikation ihre Abstraktheit so sehr, daß viele Leser sie als Figur gar nicht wahrnehmen und schon deshalb nicht bereit sind, dem W i n d den Status einer großen Gottheit zuzuschreiben. Doch der Anfang: »O w i l d West Wind« erwartet vom Leser, die Sachbezeichnung Westwind als Namen zu lesen, der durch die sprachliche Partikel »O« in eine Anredeform versetzt ist, die den Vokativ der klassischen Sprachen nachbildet, so gut das eben i m Englischen möglich ist. Es zeigt sich hier, daß Dichter imstande sind, sowohl die Unterschiede zwischen Abstrakta und Eigennamen wie auch die zwischen Sachbezeichnungen und Eigennamen elegant zu überwinden. Solch linguistische Manipulation ist auch nicht auf die dichterische Rede beschränkt. Die Alltagssprache verwandelt z. B. eine Berufsbezeichnung i m Handumdrehen i n einen Familiennamen. Aus einem Fischer w i r d schnell ein Herr Fischer. U n d sollte sich jemand mit den Worten »Wirsing« oder »Tischbein« vorstellen, so werden w i r diese Wörter automatisch als Namen klassifizieren, ohne die Fähigkeit zu verlieren, sie in anderen Kontexten als Sachbezeichnungen zu erkennen. Wenn sich also Wiebe von der Einführung der Problematik des Eigennamens auch fälschlicherweise eine endgültig klare Unterscheidung von Gottheit und Allegorie versprochen hatte, so ist sie dennoch in der Lage, die Beobachtung des Lesers zu schärfen und die Diskussion zu beleben. Ein Ansatzpunkt künftiger Erörterung könnte danach fragen, welche Eigenschaften Wortkörper hinzu-

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erwerben, wenn sie in die Klasse der Eigennamen verschoben werden. Das scheint eine lohnende Fragestellung für Linguisten zu sein. Kurt Schlüter ; Freiburg i. Br.

Alison Winter, Mesmerized Powers of M i n d i n V i c t o r i a n Britain. Chicago: University of Chicago Press, 1998. 464 S. Zwei Seelenforscher - oder moderne Schamanen - haben von Wien aus die Welt erobert. I m 20. Jahrhundert war dies Sigmund Freud und i m frühen 19. Jahrhundert Friedrich A n t o n Mesmer (1733-1815). Mesmers Entdeckung und Praxis des »tierischen Magnetismus« i m Menschen machte ihn zu einer Kultfigur i n den Salons Europas. Reihenweise fielen vornehmlich Damen der höheren Stände unter seinen magischen Berührungen in Trance, doch auch seine heilenden Kräfte sind vielfach bezeugt. Der Mesmerismus fand auch i m technisch und sozial fortgeschrittensten Land Europas, Großbritannien, zahlreiche Anhänger. Alison Winter geht den Spuren dieser Praxis und den sich u m sie entwickelnden Theorien vom Menschen in der viktorianischen Kultur nach. U m die Jahrhundertmitte war der Status dieser Praktiken innerhalb einer neuzeitlichen Medizin und Wissenschaft vom Menschen ungeklärt: »The history of mesmerism in Britain is a history of discord.« (306) Winter führt uns in Salons, Vortragshallen und medizinische Amphitheater, u m die heute kaum noch vorstellbare Anziehungskraft des Phänomens für breite Bevölkerungsteile vorzuführen. Wissenschaftler wie Justus von Liebig oder Michael Faraday waren zugegen oder unterzogen die Behauptungen der Mesmeristen einer eingehenden Prüfung. Die kulturelle Elite von Dickens und Wilkie Collins bis hin zu Elizabeth Barrett, Thomas und Jane Carlyle gerieten in den Bann der Experimente. Dickens erwies sich selbst als wirksamer Mesmerist, sowohl in der physischen Praxis als auch als Leser seiner Werke auf seinen aufsehenerregenden Leseabenden, bei denen er unter den Zuhörern tranceartige Zustände zu erzeugen wußte. Poe, Charlotte Bronté, Lord Bulwer-Lytton nutzten Trance und mesmerische Effekte in ihren Texten. Der Mesmerismus löste eine Debatte aus über die Verbindungen zwischen Körper und Geist, den Bereich, den w i r heute den psychosomatischen nennen. I n mancher Hinsicht ähnelt die damalige Diskussion - insbesondere i m U m feld der öffentlichen Experimente des Mediziners John Elliotson - jener, die heute u m den Stellenwert der Gehirnforschung und Neurobiologie geführt wird. Wo ist die Schnittstelle zwischen physischem und psychischem Apparat, wie sehr ist der Mensch als maschinelles Wesen, als Automat zu denken? Kein Zufall also, daß Charles Babbage, der Viktorianische Erfinder des Computers, und Ada Lovelace, die Tochter Lord Byrons und geniale Mathematikerin,

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ebenfalls i m Umfeld dieser Diskussionen anzutreffen sind. Auch in die Krankenhäuser hielt der Mesmerismus eine Zeitlang Einzug, denn es schien, daß mesmerisierte Individuen in der Lage waren, Diagnosen für sich und andere zu erstellen, und oftmals noch die Therapie dazu vorschlugen. Dabei entstanden gleich neue Krankheitsbilder: »Marching troops of mesmerists and nurses w o u l d teach the sick of Britain not only new methods of eure, but new ways of being ill.« (229) Der Mesmerismus verband sich mit den unterschiedlichsten anderen Formen von Diagnose und Therapie, so mit der Phrenologie zum »phreno-mesmerism«. (117 ff.) Elliotson etwa behauptete, durch Berührung von Schädelpunkten mit Subjekten eine A r t Gehirnklavier spielen zu können. Eine weitere wesentliche Frage warf jedoch der Mesmerismus auch auf: die der Scharlatanerie und des Betrugs. Elliotsons Ruf sank rapide, als sich herauszustellen schien, daß eines seiner berühmtesten Schaustücke, Elizabeth O'Key, ihn an der Nase herumgeführt hatte. Die Fälle häuften sich, in denen die Versuchspersonen die Experimentatoren selbst zu Versuchskaninchen machten oder so schien es wenigstens. «By the spring and summer of 1838 some observers were asking, who was making the experiment on whom?« (78) Alison Winter zieht die unterschiedlichsten Verbindungslinien zwischen medizinischem Diskurs und okkulter Praxis bis hin zur Elektrizität und der parallelen mysteriösen Fähigkeit, auf technische A r t unkörperliche Kommunikationen herzustellen - in der Telegraphie. W i r erleben eine viktorianische K u l tur, die weitaus weniger homogen ist, als sie uns heute erscheint. N u r i m Rückblick scheinen die Entwicklungsstränge ja klar zu liegen. Für viele Literaten und Künstler ist der Mesmerismus ohnehin immer attraktiv gewesen, denn das Erfinden von Fiktionen bewegt sich an einer ähnlich umstrittenen Linie zwischen Körper und Geist. Dieses Interesse kristallisiert sich an bestimmten historischen Schnittpunkten. Ein solcher war das Verschwinden des Forschers John Franklin auf der Suche nach der Nordwestpassage. Es gab zu zahlreichen Spekulationen Anlaß und führte zum Einsatz mesmerisierter Medien, die hellseherische Fähigkeiten zu entwickeln glaubten und auf die geistige Suche nach dem Forscher gingen. Zwei Hellseher behaupteten etwa, er würde in fünf M o naten aus der Eiswüste wieder auftauchen. Was leider nicht eintrat. Immerhin verdanken w i r Franklins Schicksal interessante Literatur - nicht nur das Werk Die Entdeckung der Langsamkeit des österreichischen Autors Sten Nadolny, sondern auch ein Theaterstück von Dickens und Wilkie Collins, The Frozen Deep, in dem die hellseherische Episode verarbeitet wird. Interessanterweise trat Dickens selbst in dem Stück 1859 als Mesmer auf. Collins' The Woman in White, einer der ersten Sensationsthriller, dient Alison Winter als Beispiel dafür, wie weit der Mesmerismus nicht nur als Thema in der Literatur genutzt wird, sondern auch Teil des Leseprozesses wird, wie zahlreiche Leserreaktionen belegen. Zeitlich parallel dazu läuft übrigens die Einführung des Dirigentenstabes

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in englische Orchester - ein weiteres Symptom dafür, wie mesmerische Kräfte und Zeichen in die Kultur eindringen. Bis ans Ende des Jahrhunderts lebt der Mesmerismus, vor allem auch in Gestalt der neu entdeckten Hypnose fort, so in Georges du Mauriers Roman Trilby (1895). Auch in H . G. Wells' Roman Love and Mr. Lewisham (1900), der von Winter nicht berücksichtigt wird, w i r d an dem Faden Mesmerismus weitergesponnen. Das Buch ist eine Fundgrube, was das Bildmaterial angeht, das etwa auch politische Karikaturen enthält; ein spannendes Beispiel mithin für eine Archäologie der viktorianischen Kultur und ihrer Debatten, die bis heute an Aktualität nicht verloren haben. Elmar Schenkel , Leipzig

Christine Asiaban, Thematisierung weiblicher Realität i n Werken italienischer A u t o r i n n e n des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Bonn: Romanistischer Verlag, 1999. 219 S. Del lungo e sofferto processo che ha liberato definitivamente la donna italiana non tanto dall'afasia letteraria quanto dal fatto di non essere stata mai i l soggetto consapevole di una propria letteratura, Christine Asiaban individua con originalitä e poi analizza puntualmente un momento particolare rappresentato da cinque note scrittrici, di provenienza borghese e nate in regioni della Penisola differenti, le quali tematizzano in alcune opere, scritte soprattutto per un pubblico femminile - che letteralmente divorava i l loro romanzi (p. 19) - la situazione della donna nella loro época, cioé nellTtalia postrisorgimentale. Questo filo rosso del lavoro di Christine Asiaban si intreccia con un altro filo rosso - e qui ci troviamo di fronte ad una ulteriore originalitä di questa tesi di dottorato - che segue il cammino personale, e quindi diverso, di tali scrittrici tese a dar voce al proprio io di donne di penna (pp. 2 1 - 2 2 ). I I gusto della lettura del testo é dato anche dal continuo rincorrersi ed intrecciarsi dei due fili i quali, fuori metafora, rappresentano in ultima analisi due iter di maturazione alPinterno della letteratura: Puno, astratto e generale, proprio della letteratura femminile e l'altro, concreto e personale, proprio di ciascuna delle donne che si cimento nella scrittura. I I testo si apre con un rápido e pregnante exursus (pp. 4 - 1 8 ) che ripercorre, attraverso i secoli, le tappe della presenza (o delPassenza) delle donne scrittrici sulla scena letteraria italiana fino ad arrivare alia fine delPOttocento, periodo in cui per una serie di fattori politici, sociali e culturali anche in Italia - seppur in ritardo rispetto al resto d'Europa - si instaura un clima nuovo contrassegnato non solo dall'esigenza che, come disse Massimo d'Azeglio, »fatta Pltalia, ora bisogna fare gli italiani« - e noi aggiungeremmo - le italiane, ma anche dal nascere delPindustria, dal consolidarsi della borghesia, dall'affermarsi del verismo

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ed infine dal tímido apparire del movimento femminista. Proprio in questo contesto la letteratura italiana si arricchi di alcune scrittrici che avevano deliberatamente scelto il mestiere di scrivere (p. 21) e, pur differenti tra loro per formazione intellettuale e stile di vita, si occuparono nei loro scritti piú o meno esplicitamente della situazione della donna nella loro época. I I verismo - come giustamente nota Christine Asiaban - si dimostró una corrente letteraria particolarmente favorevole alia scrittura femminile; sotto la sua copertura infatti molte scrittrici videro una giustificazione per formulare la realtá femminile, cosa che sarebbe stata difficile con le rególe dello scrivere classicistico e romántico. M a per le nostre donne di penna un fattore di disagio fu senz'altro quello di non avere alie spalle nessun modello di scrittura a cui riferirsi nelPattimo di riempire la pagina bianca con le proprie esperienze di vita o con temi specificatamente femminili (p. 20); furono esse infatti le prime in assoluto a scrivere sulla realtá della donna, a informare attraverso le loro opere, romanzi, autobiografie e articoli sulla sua condizione forse spinte, spesso anche loro malgrado, dall'incipiente femminismo. I lineamenti di questa tematizzazione, ricchi di luci e di ombre, vengono poi esplicitati da Christine Asiaban mentre passa al setaccio, in altrettanti capitoli, i tratti piú significativi della vita e degli scritti di Neera, Matilde Serao, Grazia Deledda, Marchesa Colombi, Sibilla Aleramo, le scrittrici borghesi scelte per la sua ricerca. I n Neera (alias Anna Radius Zuccari), scrittrice e persona, é embleticamente rappresentato il travaglio di una donna dell'epoca che ama scrivere e che sceglie come soggetto della sua scrittura la condizione femminile. L'autobiografia e l'epistolario ci trasmettono dapprima l'immagine di una giovane che ha duramente lottato contro il suo stesso ambiente per darsi un'istruzione (p. 43) e poi quella di una donna che si tormenta per trovare uno stile di scrittura accettato non tanto dal pubblico - che le decretó sempre un buon successo - ma dalla critica letteraria maschile o per meglio diré da una delle sue figure piú autorevoli al tempo, Benedetto Croce. Quest'ultimo infatti apprezzó gli scritti autobiografici e moraleggianti di Neera, ma censuró le opere stese con uno stile nuovo, vicino al verismo, sperimentato dall'autrice per poter parlare della condizione femminile (pp. 2 4 - 2 5 ). Christine Asiaban - e questo é senza dubbio il tratto piú originale e innovativo del lavoro - ritiene, dopo aver passato in rassegna alcuni romanzi di Neera, divenuta i n veritá una penna famosa per la descrizione della vita interiore delle sue protagoniste, che si possa parlare per la scrittrice ma anche poi per altre sue contemporanee - di »verismo femminista«; se infatti si parte dalla tesi di Giuliana Morandini secondo cui »la condizione della donna puó essere cosi assimilata a quella del contadino e del proletario« in quanto figura subalterna, possiamo affermare che le scrittrici, prendendo come tema la condizione della donna, rientrano nel movimento verista che vede come prota-

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gonisti delle proprie opere appunto i ceti sociali svantaggiati. E Neera è su questa scia anche se le figure delle sue donne, differentemente dalla corrente verista, appartengono alla piccola borghesia; prese infatti come ceto sociale svantaggiato possono rientrare nella formula »verismo femminista« (pp. 30-31). Dove per femminista non si intende tanto un atteggiamento positivo nei confronti del movimento femminista, ma il fatto che vengono trattati una serie di temi ruotanti intorno alla situazione svantaggiata délia donna. A questo punto porterei fino aile ultime conseguenze la tesi di Christine Asiaban; mi sembra infatti che cosí essa acquisti ancor maggior spessore. Se, seguendo le orme dell'autrice, si afferma che le donne sono »i vinti« délia società e di loro scrivono donne, significa - continuiamo noi - che il riscatto di questi »vinti« awiene grazie a loro stessi; cioè le donne »vinti« vengono riscattate fenomeno senz'altro unico e singolare - dalle donne stesse, scrittrici si, ma sempre appartenenti al ceto dei »vinti«. Ma ritorniamo a Neera; attraverso le figure di alcuni romanzi di successo, come Teresa, Lydia , Uindomani che trattano délia vita di giovani borghesi costrette dall'ambiente familiare e sociale a restar signorine, »zitelle« o a sposarsi per convenienza, Pautrice trasmette un'immagine significativa e tristemente realista délia situazione delle donne italiane a fine Ottocento. Nonostante perô questo atteggiamento nuovo verso la donna, Neera crede in ultima analisi - vedi alcuni suoi articoli - che i compiti principali del gentil sesso restino i l matrimonio e la maternità; Christine Asiaban avanza Pipotesi che Neera, pur vedendo la dolorosa realtà femminile, non sia stata pronta a rischiare di perdere i l successo di pubblico e Papprovazione nel mondo letterario maschile per sviluppare conseguentemente le proprie intuizioni quasi, si potrebbe dire, femministe. Mentre una parte delle opere di Neera si puô classificare sotto Petichetta »verismo femminista«, per Matilde Serao - awerte Christine Asiaban - questa classificazione è più difficile anche se la scrittrice napoletana è passata alla storia come rappresentante femminile del verismo (p. 61). I veri protagonisti infatti delle sue opere sono Napoli e i napoletani, uomini, donne, bambini - come per esempio in II ventre di Napoli - e il motore principale délia sua scrittura è l'ingiustizia sociale palese nell'enorme differenza tra i lussi e i privilegi delParistocrazia o dell'alta borghesia e la miseria del proletariato; le numeróse figure di donne che compaiono nelle sue opere sono da far risalire sia al fatto che questa sensibilità verso le classi umili le faceva ben vedere la posizione subordinata délia donna, sia al fatto che la scrittrice si riteneva un'umile cronista délia sua memoria e questa, per quanto riguarda gli anni giovanili, era letteralmente stracolma di presenze femminili. Le figure letterarie più riuscite sono senza dubbio le popolane e le piccolo borghesi ma non mancano aristocratiche e appartenenti

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all'alta borghesia, tutte brevemente caratterizzate e lasciate agire nel proprio ambiente; la Serao dà spazio nella folla di donne delle sue opere, descrivendone le difficili situazioni di vita, aile prime donne di provenienza piccolo borghese che, nellTtalia postrisorgimentale, dovevano lavorare per necessità: le maestre - anzi »maestrine« - e le telefoniste (p. 90 ). Come le figure femminili di Neera anche quelle délia Serao, pur infelici nella loro condizione di donna, non riescono a cambiare la propria vita; diversamente perô dalle prime es se sentono e capiscono Tingiustizia délia loro posizione e manifestano in qualche modo i l loro malcontento. La Serao, pur intendendo per verismo la possibilità di superare delle precise frontiere cioè parlare di temi a cui sarebbe stato difficile awicinarsi con altre forme (p. 75 ), non affrontô - anche se tentata - i l tema delle donne prostitute; tacque inoltre sulla figura délia donna che fa carriera nel mondo degli uomini eppur lei ne era un esempio vivente, occupando una posizione di rilievo nella redazione di un giornale - ; non solo ma i n suoi vari articoli prende posizione contro i progetti di liberazione délia donna portati avanti dal femminismo. Insomma anche in lei Christine Asiaban vede una donna scrittrice scissa, combattuta tra il sentimento che la fa sentire vicina aile appartenenti al suo stesso sesso, vedendone la condizione di subalternità, e la ragione che le consiglia di mantenere le distanze non prendendo posizione, pena la perdita del suo status spéciale di donna che si è conquistata un posto alPinterno di un mondo i n cui sono gli uomini a dettar legge (p. 79). Anche per Grazia Deledda, al di là delle interpretazioni che la vogliono ora verista ora naturalista, si puô dire, secondo Christine Asiaban, che nei suoi romanzi - ed essi sono l'unica fonte perché la scrittrice sarda non si è preoccupata di redarre saggi o articoli sulla condizione femminile come Neera o la Serao ha trasmesso un quadro critico délia donna nella società dei suoi tempi e luoghi (p. 102). I titoli stessi di alcune opere ce lo rivelano: Cosima , Marianna Sirca, Annalena Bilsini. Queste figure rappresentano altrettante donne che abbattono il muro di una società patriarcale - sorda a riconoscere nella donna la persona, l'individuo - o per realizzare il sogno giovanile di diventare scrittrice come Cosima - alias Deledda - o per coronare un sogno d'amore sposando l'uomo scelto, anche se socialmente inferiore, come Marianna. Sono donne che anelano in definitiva a costruirsi una vita secondo i propri desideri e le proprie aspirazioni, donne che, confróntate con Teresa di Neera e con le piccolo borghesi della Serao, hanno una spiccata coscienza femminile e una maggiore spinta verso la libertà (p. 138) e vogliono essere artefici del proprio destino. Mentre perô Cosima, pur tra tante amarezze ed incomprensioni, riesce a trovare la forza di andaré avanti a tutti i costi e raggiunge il suo scopo, Marianna fallirá; non tanto - nota Christine Asiaban - perché debba pagare la colpa di aver infranto le

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rególe délia società, ma perché nella sua lotta è sola, isolata, senza sostegno o solidarietà di alcun genere e dunque non puô che soccombere. Deledda , lasciata la Sardegna per Pambientazione delle sue opere e spostatasi sulle rive del Po, dà vita con Annalena Bilsini ad una nuova figura di donna, si direbbe, quasi moderna: un capo famiglia che lotta, s'impone e realizza i propri ideali; deve perô pagare un prezzo: rinunciare all'amore; ma la sua rinuncia non ha nulla di trágico e ineluttabile, anzi è consapevole, libera perché Annalena, a differenza delle sue sorelle sarde, puô scegliere (p. 137). Marchesa Colombi (alias Maria Antonietta Torelli Viollier Torriani) parte spesso da esperienze legate alla sua autobiografía per narrare con stile verista le condizioni della vita femminile ai suoi tempi - In risaia per esempio, attraverso la figura di Nanna, quelle inumane in cui lavoravano le mondine - ; anche se con Storiella pedante dà corpo ad una figura femminile singolare per i tempi Odda, una pittrice, che alla fine della storia piange Pamore perduto, ma non vede nel viver da sola, nell'essere signorina, »zitella« una situazione da fuggire a tutti i costi (p. 156) - , è vicina alie altre autrici per il modo di presentare le protagoniste e i loro problemi. Solo una particolarità conferisce una nota diversa ai romanzi della Colombi: quell'accento ironico con cui presenta certe virtù o miserie sociali specificatamente femminili (come per esempio i matrimoni di convenienza). A d uno sguardo ancora più profondo non si differenzia molto dalle altre scrittrici neanche riguardo alla concezione della donna che si deduce dai suoi romanzi. Pur essendo una femminista militante e non accusando nessuna scissione tra le sue opinioni prívate e pubbliche, le sue idee, spesso addirittura radicali, propagate in conferenze e lezioni - continua Christine Asiaban - non traspaiono nelle opere letterarie; anche lei probabilmente non oso, tentando vie nuove, tradire il gusto del pubblico femminile che le decretava un buon successo éditoriale ed una certa popolarità (p. 145). Del resto i l momento storico-letterario non era semplice: »si discuteva sulla possibilità di una via letteraria al romanzo e gli editori richiedevano una letteratura da intrattenimento che fosse nazionale« (p. 159). La Colombi perô è consapevole di questa sua scissione; nel romanzo Prima di moriré infatti escono dalla sua penna due figure, Eva e Mercedes, che rappresentano le due anime, in lotta tra loro, della donna scrittrice: Puna quella conformista, superficiale e mondana e Paîtra rivoluzionaria, profonda e solitaria che vede i l riscatto della donna nelPistruzione e nella presa di coscienza della propria dignità. Sibilla Aleramo (alias Rina Faccio), Pultima scrittrice presa in considerazione da Christine Asiaban, mette fine alPambiguità e alla scissione interiore che avevano caratterizzato, mutatis mutandis, le precedenti quattro scrittrici (p. 169); nelPAleramo infatti non c'è più discrepanza tra vita e opera, ma anzi Puna ispira Paîtra. Mentre le colleghe descrivono ció che le ha pórtate a scrivere come

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uno stimolo situato fuori della loro volontà, Sibilla Aleramo è cosciente del processo che Pha spinta alla scrittura, a quel tipo di scrittura. L'autobiografia Una donna è infatti non una pura descrizione degli accadimenti che hanno segnato più o meno dolorosamente la vita delP Aleramo, ma i l sofferto racconto - a cui fanno da sfondo le osservazioni sulla posizione sociale, politica e giuridica della donna italiana di fine secolo - del processo di maturazione di un essere femminile che prima vive una situazione insopportabile e poi progetta e realizza il disegno di una soluzione radicale (p. 180). Ed inoltre Sibilla Aleramo non solo critica apertamente - non dovendo difendere nessun successo letterario - nella sua opera la società del tempo punitiva verso Pindividuo donna, ma presenta anche varie possibilità che, al di là del matrimonio e della formazione di una famiglia, si potevano aprire alie donne grazie alPistruzione e al lavoro; espone cioè tranquilamente le proprie idee anche se queste sono contro Popinione comune dominante, non si autocensura in nessun modo quando parla del rapporto tra uomo e donna - tema centrale delPopera - prendendo come esempio il suo infelice matrimonio e quello dei suoi genitori; o quando rivendica per le donne i l diritto a cercare la propria felicità nel concretizzare le aspirazioni personali anche a costo di rompere con gli schem i tradizionali che le vorrebbero realizzate solo alPinterno della famiglia. Certo la donna nuova a cui PAleramo pensa e idealmente si rivolge è la donna della borghesia medio-alta - quel ceto sociale insomma a cui lei stessa apparteneva - e non certo la popolana o la piccolo borghese di una Serao, per esempio (p. 175). Del resto Sibilla Aleramo - pur rimanendo ai margini del femminismo attivo intellettualmente si impegnö molto in difesa delle idee femministe del tempo e ne incorporo lei stessa alcune posizioni rivoluzionarie con le sofferte decisioni prese nel corso della sua vita - in particolare quella di lasciare il marito e il figlio. Christine Asiaban sottolinea anche un fatto molto importante per la messa a fuoco di Sibilla Aleramo e per la scrittura femminile in Italia: la figura delPAleramo unisce in sé verismo e femminismo e conduce la scrittura femminile nel nuovo secolo con nuovi temi, diventando cosi modello per le future scrittrici moderne e influenzando la letteratura femminile del ventesimo secolo (p. 170). N e l capitolo conclusivo (pp. 197-204), infine, Christine Asiaban riassume le caratteristiche più salienti delle cinque scrittrici e ne elenca i tratti comuni e quelli distintivi per poi concludere che queste scrittrici di fine Ottocento » [ . . . ] sind [ . . . ] gezwungen, sich [ . . . ] auf einem Drahtseilakt einzulassen: zunächst einmal grundsätzlich wegen ihres Frausein, dann wegen ihres Erfolgs und wegen der Meinung, die sie vor der Öffentlichkeit vertraten« (p. 204), ma a tutte spetta comunque il mérito di aver dato vita ad un quadro della donna e delle sue possibilità nelPltalia postunitaria e - sottolineiamo noi - di essere State loro stesse esempi viventi di tale quadro e di tali possibilità. 26 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 41. Bd.

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I i lavoro di Christine Asiaban, come tutte le esposizioni di tesi serie e costruttive, offre spunti per allargare e approfondire la ricerca sul tema trattato guardando anche ad altri possibili piani e livelli. Come per esempio, tanto per citare i due piü significativi, accertare e verificare se non potrebbero esistere autori uomini che, nel momento in cui mettono al centro della loro opera la donna trattandola come ceto sociale svantaggiato, possano far parte del »verismo femminista«; o se ci siano altre autrici che si possano dire »veriste femministe« in quanto, chiaramente, non basta che una donna scrittrice abbia come tema centrale della sua opera la donna per poter automaticamente rientrare nella categoria suddetta (p. 201). Dunque ci sono ancora interessanti campi di ricerca da sondare senz'altro consoni alla stessa Christine Asiaban che, con la presente tesi di dottorato, si puö annoverare tra le fila di quelle studiose di letteratura femminile che vanno arricchendo sul piano quantitativo e qualitativo i l panorama della storia della critica della letteratura femminile con firma di donna, un fenomeno ancora tutto giovane. Maria Cristina Temperini, Klagenfurt

W i l l i Erzgräber, Der englische R o m a n v o n Joseph C o n r a d bis G r a h a m Greene. Studien z u r Wirklichkeitsauffassung u n d Wirklichkeitsdarstellung i n der englischen Erzählkunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts [ U T B 1989], Tübingen und Basel: Francke, 1999. 496 S. Der vorliegende Band beschäftigt sich anhand repräsentativer Autoren mit Entwicklungen des englischen Romans in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gegenstand sind außer den i m Titel genannten Romanciers James Joyce, Virginia Woolf, E.M. Forster, D . H . Lawrence, Aldous Huxley, Evelyn Waugh und George Orwell. Das Buch ist übersichtlich strukturiert. Der Verfasser handelt die Autoren nacheinander ab, wobei die thematische Einheitlichkeit dadurch gewahrt ist, daß - entsprechend der Ankündigung des Untertitels - das WirklichkeitsVerständnis und die Darstellung der Wirklichkeit jeweils i n den Vordergrund gestellt sind. Außerdem werden zwischen den Autoren immer wieder Bezüge hergestellt. Für jeden A u t o r w i r d ein zentraler Aspekt der Wirklichkeitsauffassung herausgearbeitet. So ist es beispielweise für D . H . Lawrence - in Anlehnung an ein Zitat aus einem Brief vom 17. Januar 1913 - »Die Wirklichkeit des >Blutesnahezukommen< versucht (9). Da er Interpretationen als Teilhabe an einem >Gespräch< versteht (ibd.), ist es w o h l durchaus beabsichtigt, wenn einzelne Deutungen den Widerspruch des Lesers herausfordern. Dafür sei mit Heart of Darkness nur ein Beispiel genannt. Hier mag man nicht unbedingt die Einschätzung teilen, daß Conrads Marlow in der Begegnung mit Mr. Kurtz »an sich die Spanne zwischen dem Göttlichen und dem Diabolischen begreift« (53). U n d ebenso verhält es sich mit dem Romanschluß, der sehr viel pessimistischer zu lesen ist, als der Verfasser es tut, wenn er feststellt, daß sich Marlow schließlich zu einem »komplexeren Ethos< bekenne: »Um. eine Frau zu schützen, ist er bereit die Unwahrheit zu sagen« (53). Uberhaupt vermißt man in der Besprechung von Heart of Darkness einen Bezug auf die Diskussion u m Conrads Afrikadarstellung. Bei der Fülle behandelter Texte, auf die selbst ein Werk mit dem beachtlichen Umfang von fast fünfhundert Seiten letztlich meist nur kurz einzugehen vermag, kann der Verfasser allerdings nicht jeden Aspekt des weitgefaßten Untersuchungsgegenstandes behandeln. Der Band bietet einen breiten Überblick über Formen und Themen des englischen Romans i m angesprochenen Zeitraum und stellt dabei immer wieder weit ausgreifend Bezüge zum größeren Kontext der englischen Literaturgeschichte her, u m so über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinaus Entwicklungslinien und Einflüsse deutlich zu machen. Er beeindruckt vor allem durch seinen Detailreichtum. I n seiner Anlage als Überblicksdarstellung und in seinem verständlichen und gefälligen Stil ist der Band als einführende Lektüre gedacht, der dem Leser vor allem durch seinen beeindruckenden Informationsgehalt eine gründliche Orientierung bietet. Gerade für den Leser allerdings, der 2*

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eine erste Orientierung sucht, wären Hinweise auf die Quellen zitierter Schlüsselbegriffe hilfreich, die vor allem in der Einleitung ohne Beleg bleiben (z. B. Virginia Woolfs »mind-time« und »clock-time«, S. 21). Statt des sehr knappen abschließenden Ausblicks, der vor allem auf spätere Entwicklungen des Romans in England eingeht (453-456), hätte man sich ein breiteres Fazit gewünscht, das die Überlegungen zu den einzelnen Autoren noch einmal zusammenfassend verknüpft. Sehr nützlich ist die »Auswahlbibliographie«, schnelle Orientierung ermöglicht das Register. Der Band enthält eine Fülle anregender Einsichten und zeugt von der außerordentlichen Belesenheit und umfassenden literaturgeschichtlichen Kenntnis des Verfassers. Eva-Maria Orth , Jena

Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Klaus Lubbers (Hg.), Bilderwelten als Vergegenwärtigung und Verrätselung der Welt. Literatur und Kunst um die Jahrhundertwende [Schriften zur Literaturwissenschaft, Bd. 12], Berlin: Duncker & H u m b l o t , 1997. 264 S. mit Abbildungen. Unter dem klangvollen und anregenden Titel Bilderwelten als Vergegenwärtigung und Verrätselung der Welt sammelt der mit Abbildungen versehene Band zur Literatur und Kunst u m die Jahrhundertwende dreizehn in doppeltem Sinne interdisziplinäre und komparatistische Beiträge zur deutschen, romanischen und englisch-amerikanischen Literatur und Kunst, die erstmals i m Rahmen der Jahrestagung der Görres-Gesellschaft 1995 in Dresden vorgestellt wurden. Er verbindet programmatisch zwei gegenwärtig wieder stark reflektierte Interessengebiete: die Jahrhundertwende 1 und die mehr theorierelevante Text / Bild-Problematik. 2 M i t der These, daß gerade an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine besonders tiefgreifende Veränderung i m Verhältnis von Kunst und Literatur als Ergebnis komplexer Langzeitentwicklungen auftritt, die bis in die Renaissance und damit hinter rein literarische Fragestellungen zurückgehen, ist das Verbindungsglied zwischen beiden Bereichen benannt und zugleich die Tiefenperspektive der Fragestellung ausgewiesen, deren A k tualität auch i m 20. Jahrhundert ungebrochen ist. Daß die einzelnen Beiträge mit ganz unterschiedlichem Erkenntnisinteresse Paradigmata einer Wort / BildBeziehung aufzeigen und ihre Erträge unterschiedlich substantiell ausfallen, 1

Die schon topische Problematik der Definition des Begriffs Jahrhundertwende hat auch in diesem Kolloquium dazu geführt, daß ein Beitrag der Einflußforschung (S. Gätjens über die Bildbezüge von Baudelaires »Sur le Tasse en prison«), der w o h l dem 19. Jahrhundert nicht aber dem fin de siecle zuzuordnen ist, etwas aus dem Rahmen fällt. 2 Aus der Vielzahl von Veröffentlichungen zum Thema Text / Bild seien hier nur zwei genannt: Text und Bild , Bild und Text , DFG-Symposion 1988, hg. Wolfgang Harms (Stuttgart 1990); Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart , hg. Gottfried B ö h m / H e l m u t Pfotenhauer (München 1995).

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liegt in der Natur von Sammelbänden. Die Gesamtbilanz der »Bilderwelten« ist mehr als respektabel. Die Herausgeber des nur chronologisch geordneten Bandes haben auf ein Vorwort, das die methodische und thematische Vielseitigkeit der Beiträge vorstellt, verzichtet. Sie lassen diese in ihrer Heterogenität unverbunden für sich sprechen. Der als titelgebend hervorgehobene Beitrag »Vom Bild als Vergegenwärtigung zum Bild als Simulation und Verrätselung der Welt« des Mitherausgebers Volker Kapp zeigt in einer systematischen und historischen Reflexion 3 facettenreich an Beispielen, wie sich das Postulat, i m »kulturellen Bild« Welt zu vergegenwärtigen und zu erklären, mit der ästhetischen, philosophischen, theologischen und wissenschaftlichen endoxa seit der Renaissance entwickelt hat und wie es i m Laufe der Zeit zunehmend problematisiert und verändert wird. Der neue Modus »Bild« hinterfragt in seiner Experimentierfreudigkeit nicht nur alte Weltbilder, er verändert auch das traditionelle Verhältnis von Kunst und Literatur. Das alte Paradigma des Paragone, die offene Konkurrenz und Symbiose der Schwestern, findet in entwicklungsgeschichtlich idealtypischer Weise in der gleichberechtigten Verschränkung von Literatur und Kunst, die den Bezug zur »äußeren« Realität sogar gänzlich auszusetzen vermag, deshalb bemerkenswerte Ergebnisse, weil beide Bereiche gerade in der Bezugnahme auf das andere Medium die Chance gewinnen, für sich neue Konzepte und Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln. Der Vergleich, der meist mit intensiver Theoriebildung einhergeht, mündet nicht nur in der veränderten Wahrnehmung des herkömmlichen Literatur- und Kunstverständnisses, er schafft auch ein neues Künstlerkonzept, als dessen äußerliches Merkmal von nun an die Kultivierung von Doppelbegabung gelten darf. Die kulturelle Deutung, die am Ausgangspunkt dieser Reflexion über Topoi intermedialer Ästhetik stand, setzte das Bild symbolisch für »natürliche« Realität, welche durch dieses zu sich selbst gebracht wurde (Mimesis I). Dieser Einklang von Natur und Kultur zerfiel i m Laufe der geschichtlichen Entwicklung des kulturellen Gedächtnisses i m 18./19. Jahrhundert zum Bewußtsein hin, daß jedes Bild eine unhintergehbare Konstruktion von Realität ist (Handlung, menschliche Produktion: Mimesis II). Als solche sagt das Bild nicht nur etwas über das Wahrgenommene aus, vielmehr zeigt es immer auch den Wahrnehmenden, dessen idée fixe und seinen historischen Ort, gegen den man sich seit der Romantik mehr und mehr abzusetzen beginnt. Wo man nicht mehr hinter 3 Die ersten Seiten des Beitrags von E - R . Hausmann (S. 9 1 - 9 4 ) bieten ebenfalls eine Einführung in die Doppelbedeutung des Bildes und einen konzisen Überblick über die Entwicklung des Wechselverhältnisses von Bild und Text unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung und der medialen Funktion, die der Analogie Grenzen setzt und die jede Anverwandlung der anderen Künste zu einer Umwandlung macht, die der Ausdruckserweiterung der eigenen Kunst dient.

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die Welt kulturell verstellter Bilder zurück kann (der Realismus »scheitert« am Problem der Authentizität), werden Wahrnehmung und Simulation selbst Gegenstand erhöhter Aufmerksamkeit. Die Pointe dieses Erkennens des K o n struktionscharakters des Bildes besteht nun gerade darin, daß nunmehr der Modus der Verrätselung (Inszenierung simulierter Welt) es erlaubt, Welt zu vergegenwärtigen und sie i n ihrer nun reflektierten Modellhaftigkeit (neu) vorzuführen oder zu hinterfragen. Die Trennung zwischen Literatur und Kunst ist somit hinfällig, es bleibt die Frage der Arbeitsteilung. Gerade der traditionelle, der Rhetorik entlehnte Modus, in dem Literatur zum Bild kommt, die anschauliche Beschreibung (Ekphrasis), zeigt i m Laufe ihrer entwicklungsgeschichtlichen Veränderung die Ausweitung der Ausdrucksmedien besonders deutlich. Die »Krise der Bildbeschreibung« ( H . Körner) i m Frankreich des 19. Jahrhunderts ist nicht ein Problem der Beschreibung, sondern vielmehr eine Frage des Gegenstandes der Beschreibung. Der Verfasser zeigt eine ungewöhnliche Filiation von Konzepten des ursprünglich rein rhetorisch gefaßten Begriffs der Ekphrasis, deren kommunikative Funktion immer wieder neu bestimmt w i r d und deren Methode schließlich die »objektlose Beschreibung«, die Visualisierung des Irrealen ist. Während lange Zeit die Problematik der Mimesis Vorrang hatte vor der Diskussion über die Beredsamkeit des Visuellen, werden mit der Diskussion des Erhabenen i m 17. Jahrhundert (Boileau) beide Fragen in einer »theologischen Poetik« verknüpft. Zugleich ist Ekphrasis bis ins 18. Jahrhundert hinein das selbstverständliche Prozedere jeder Beschreibung. Tendenziell ist jedoch mit der Verselbständigung der Beschreibung (der Inszenierung eigener Ingeniosität), die Ablösung von theologisch-metaphysischen 4 und von rhetorisch-kommunikativen Grundlagen des Dichtens in der Renaissance, bei Marino (oder bei Philostrat in der Antike) vorbereitet, bevor sie i m 19. Jahrhundert erneut bedeutsam wird. Auch die Theorie des Erhabenen spiegelt diesen epochalen Wendepunkt i m Verhältnis von Literatur und Kunst, indem sie eine Entwicklung v o m theologisch Erhabenen, das i m Boileauschen Sinne der Gipfelpunkt des dort unmittelbar zur Anschauung kommenden Schönen ist, zum Erhabenen i m Kantschen Sinne hin vollzieht, w o Abstraktion und Bilderverbot das mimetische A b b i l d zugunsten verselbständigter Ausdrucksmittel und der durch sie i m Subjekt ausgelösten Grenzerfahrungen verdrängen.

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Kapp hebt besonders die auch heute noch i m Sinne einer Rückgewinnung des Ästhetischen für die Theologie wirksame theologische Dimension des rhetorischen Ekphrasiskonzepts hervor (Hans Urs von Balthasar). Die Erforschung von deren Weiterentwicklung (nach der Ablösung von Kirche und Rhetorik) i n den Etudes de la nature bei Bernardin de Saint-Pierre, der philosophische, naturwissenschaftliche, theologische und ästhetische Reflexionen in Ekphraseis miteinander verquickt, weist der Verfasser als Desiderat aus.

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I m Unterschied zur deutschen reagiert die romanische Literatur jedoch nicht direkt auf Kants Konzept des Erhabenen. Sie bestimmt über das Wunderbare neue Grenzerfahrungen mit ähnlichem Effekt. Die Projektion einer idée fixe, die Leben in Kunst überführt, weist der Ekphrasis zugleich neue Aufgaben und Möglichkeiten zu. Diese können bis zur Verweigerung des Bezugs auf Realität oder bis zu deren Kompensation durch ästhetische Erfahrung i n einer neu inszenierten Symbiose von Natur und Kunst i m l'art pour l'art gehen, die in der französischen Romantik (Gautier) ebenso wie i m fin de siècle (Huysmans) eine besondere Rolle spielt. Wo Bild und Bildbeschreibung nicht mehr konkurrieren (Gautier / Baudelaire), sondern zwei gleichwertige Möglichkeiten sind, entsteht eine Ästhetik der Text/Bild-Beziehung, die mit neuer Produktivität »natürliche« Bilder außer Kraft setzen kann. Dank vordergründiger Beschreibung (die Vogue der Beschreibungen seit der Jahrhundertwende ist signifikant) kann diese neue Anschauungen durch die Verrätselung und Reflexion von idées fixes vermitteln und so nicht mehr paradoxerweise Welt i m verrätselten Bild vergegenwärtigen. Kunst und Literatur sind mithin gleichberechtigte, aber dennoch unterschiedliche Medien. I m komparatistischen Blick für die Übergänge zwischen beiden können i m Spielraum der muta eloquentia der Bilder andere Sprach- und Wahrnehmungsformen entstehen. I m folgenden kann nur exemplarisch auf einige der Beiträge, die alle historische Beispielfälle des Text / Bildverhältnisses vorstellen, eingegangen werden. Wie Kunst als Katalysator emanzipatorischer Bewußtseinsprozesse eingesetzt wird, demonstriert Th. Kullmann an den Romanen Th. Hardys, E. M . Forsters und der populär fiction der Jahrhundertwende. Das Paradigma Bildgedicht w i r d in der Einflußstudie von S. Gätjens (Baudelaire) als Verdichtung nachgewiesen, während T. Heydenreich an Madonnendarstellungen von Machado und del Casal gerade die Eigenständigkeit der Entwürfe und die sich durch sie abzeichnende Ästhetisierung von Realität zeigt. H . Eilert hebt die kreative K o m ponente der kunstkritischen Arbeiten Rilkes hervor, die Selbst- und Fremderkenntnis an Kunstwerken schöpferisch verbinden. Die Rilke in der Forschung unterstellte narzistische Selbstprojektion, die ja gerade die fin de siècle- Darstellungen auszeichnet, ist somit gegenstandslos. H e r w i g Friedls nuancenreiche komparatistische Studie »Picassos Gertrude Stein - Gertrude Steins Picasso« zeigt am Beispiel von gegenseitigen Portraits den »symbiotischen« und intermedialen Dialog zweier Künstler, die sich i n und durch Werke mit dem anderen beschäftigen und die durch diese Beschäftigung zu einer neuen Auslegung von Zeitlichkeit, zu einem neuen Welt- und Kunstentwurf finden: der Ontographie. I n dieser nicht mehr symbolischen Kunstform w i r d Kunst zum Ereignis, zum »zeichnend zeigenden Schreiben« i m Falle G. Steins. Als ausgezeichnete Weise des Seins vermeidet sie gerade historische und deutende Verhältnisse, u m sich aus sich heraus als zeitliche Gegenwart zu ereignen.

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Ganz anders dokumentiert W. Drost in einer motivgeschichtlichen Untersuchung des belgischen Symbolismus die für diese Kunst charakteristische enge Symbiose von Literatur und Kunst i m Stilleben. Die »plastischen Bilderrätsel« des Malers Khnopff, seine »literarische« Malerei der Verunklärung, appellieren »an die schöpferische Mitarbeit eines mit der zeitgenössischen Literatur wie mit den antiken Mythen vertrauten Betrachters«. Von den Prämissen ausgehend, daß Text und Bild sich gerade in dem treffen, was sie nicht direkt oder eindeutig abzubilden vermögen, daß sie des Weiteren diesen Sachverhalt gerade dort, w o sie sich zitieren, unerwähnt lassen, daß sie Gleiches nach ganz unterschiedlichen Gesetzen zerlegen und neu zusammensetzen (je nach Hierarchie ihrer Repräsentationsalt), analysiert H.-R. Hausmann Ilpiacere von d'Annunzio als einen besonders gelagerten Fall doppelter Repräsentation: als einen schriftlichen Text mit Zitaten anderer Künste, die eine Schnittstelle bilden und die doch zugleich mimetisch und darstellerisch operationalisiert werden. Gezeigt w i r d in dieser ungewöhnlichen Interpretation, wie die Referenz auf Kunst eine Ausdruckserweiterung in literarischen Portraits erlaubt, die nicht mehr nur beschreiben, sondern zugleich durch geschichtete Z i tate verdeutlichen. Die von Hausmann erarbeitete Emblem- und Uberblendtechnik, die Worte mehrfach mit Bildern unterlegt, realisiert avantgardistische Montagekunst. Analoge Effekte der Mischung und Verweisung finden sich auch i m Gespräch über Kunst, w o neben der verbalen Kommunikation ein breites Register non-verbaler Kommunikationsformen durch Verweisungstechniken eingesetzt wird. Das Oszillieren zwischen De- und Remimetisierung zeigt, daß weder Symbolkunst noch Illusionierung Ziel der modernen Darstellung sind, die eine größere Intensität des Verstehens und Erlebens nur beim bewanderten Lesers auszulösen vermag. Klaus Schuhmacher zeigt am Beispiel der Krise des geschriebenen Bildes, wie unterschiedlich und doch fast zeitgleich Th. Mann und H . von Hofmannsthal auf den Herausforderungscharakter des Bildes reagieren, das nicht mehr in festen Kontexten steht und das traditionelle Beglaubigungsstrategien demontiert. Durch eine neue Form der Ekphrasis realisiert Hofmannsthals Text den Untergang des »identitätszentrierten Imperiums der Schrift« zugunsten einer anderen Auffassung, auch von Identität. Während Hofmannsthal der ikonographischen Verfügung die Epiphanie als neue Rhetorik des Bildes entgegensetzt, die wie der Schmerz immateriell und doch konkret ist, zementiert der Ikonoklast Th. Mann i n einer fulminanten Rhetorik der Bildvernichtung einmal mehr die Unhintergehbarkeit des Wortes und dokumentiert auf diese Weise doch die Stärke seines Gegners »Bild«. I n einer durch kluge und breite Textauswahl bestechenden intertextuellen und intermedialen Analyse zeigt Dorothee Scholl prismatisch die ganz unter-

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schiedlich motivierten Umwertungen und Bedeutungsverschiebungen, die spezifisch biblische Frauengestalten 5 als Kunstgestalten und männliche Projektionsfiguren in französischen wie belgischen Texten und Bildern der Jahrhundertwende erfahren. Die reflektierte Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart, die der Produktion neuer, die Welt wieder verzaubernder Mythen (Samain) oder der Wiederbelebung alter in ent- oder respiritualisierter Konstellation dient, hat Signalwirkung für die Moderne, deren Sinn- oder Gegenbild sie ist. Sie leitet entweder nietzscheanisch subversiv die Umwertung aller Werte und die Wiederkehr des Gleichen ein (R. de Gourmont, van Lerberghe, Apollinaire) oder sucht beschwörend das Unbehagen an moderner Kultur durch deren Wiedereinbettung in einen christlichen Kontext abzuwenden (Claudel). Indem die Autoren sich von traditionell vorgegebenen Sinnmustern emanzipieren, u m diese neu zu entwerfen oder zu werten, übernehmen sie mit den Bildern auch einen Teil von deren Funktion oder verweigern sie in signifikativer Weise. H . J. Gerigks Untersuchung über die Darstellung von Vergänglichkeit bei Wilde, Hebbel und Hofmannsthal beschreibt, wie die Erfahrung der Trivialität alltäglichen Daseins (Langeweile) zur Folie für den besonderen Augenblick wird. Der illusionslosen Annahme von Zeitlichkeit bei der Heldin Hofmannsthals steht der vordergründig erfüllte Wunsch Dorian Grays nach ewiger Jugend gegenüber. Die Veränderung seines Bildnisses zeigt jedoch den Verfall des zur Idee gesteigerten Selbst an die Welt und dokumentiert auf diese Weise die Unlebbarkeit des Ideals. Die weiterhin bestehende Verstrickung des Selbst in Zeitvertreib, die das sich verändernde Bildnis als Zeitlichkeit ins Bild bringt, veranschaulicht die Reflexion, die zum Selbstmord des Protagonisten führt. Als Darstellung unterläuft sie sinnigerweise aber auch Lessings Festlegung der Malerei auf Räumlichkeit, indem gerade diese der Zeitlichkeit anheim fällt. Während bei Hebbel die Natur einen unverwesten Leichnam als Bildnis ewiger Treue hervorbringt, vermag bei Wilde die Kunst nur auf Geheiß der Literatur hervorzubringen: nämlich eine ebenso künstliche wie zeitliche Kunst. Das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit ist Thema einer konzisen Untersuchung zum Monismus als Thema der »Ästhetik« u m 1900 von Georg Braungart. Die antimodernistische »Ästhetik« des Monismus, die Natur und Kunst, wissenschaftliche Exaktheit und Schönheit i m Zeitalter von Historismus, Ästhetizismus und Décadence zusammenbringt, sucht mit ihrer Faszination des Organischen der allgemeinen Entfremdungserfahrung der Moderne Einhalt zu gebieten. Sie hebt, hier indem sie letztlich alles als Teil eines organischen Ganzen erscheinen läßt, die bis zur Jahrhundertwende topische Trennung von Kunst- und Naturschönem zugunsten der Natur wieder auf. Der für die Lite5

Die Beispiele sind: Lilit, Eva, Tsilla, Batseba, Susanna, Judith, Salome.

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raturgeschichte idealtypischen Entwicklungslinie stehen immer auch gegenläufige Tendenzen als »integraler Teil des Moderne-Syndroms« gegenüber: i m eigenen Lager, aber auch i n anderen Bereichen der kulturellen Wissensvermittlung, etwa i n der Naturwissenschaft. Die überdurchschnittliche Qualität vieler Beiträge und die große Vielfalt der Themen und Analysetechniken unterscheiden diese Veröffentlichung von der Vielzahl anderer, weniger geglückter Kolloquiumsbände. Daß Text und Bild u m die Jahrhundertwende sich häufig gerade dort treffen, w o die eigenen Mittel als ungenügend empfunden werden, der veränderten Wahrnehmung von vermittelter Welt Rechung zu tragen oder auf diese unvermittelt zu antworten, dürfte deutlich geworden sein. Der mimetischen Doppelung als komplexem Fall von Repräsentation i n der Moderne, die ohne Künstlichkeit nicht mehr denkbar ist, steht der retrograd anmutende Versuch ikonoklastischer und monistischer Darstellungsprinzipien gegenüber, der nostalgisch noch einmal aufzuhalten versucht, was längst schon als Gewißheit gelten könnte: das Zeitalter des Bildes hat die Texte zu zeigenden Bildern gemacht, aber auch das Bild in seiner neuen Vielschichtigkeit ist von Schrift affiziert und zeigt eine Sprache und Wahrnehmung neuer A r t , die verbindet und trennt. Béatrice

Monier;

Tübingen

Pia Becker, Bildkompositorische Techniken als gestaltendes Prinzip des Erzählens i n Marcel Prousts »À la recherche d u temps perdu«. Bonn: Romanistischer Verlag, 1999. 177 S. Wie aus dem detaillierten, aber etwas langatmigen Forschungsbericht zu entnehmen ist, handelt es sich bei der hier anzuzeigenden Arbeit u m den ersten Versuch aus der deutschsprachigen Romanistik, den Einfluß der bildenden Kunst auf Prousts literarische Kompositionsverfahren zu untersuchen. Daß benachbarte Künste wie die Musik und die Malerei jeweils eine große Rolle in Prousts Schaffen spielten, ist unbestritten; die Forschung - so die Verf.in - habe sich allerdings lange Zeit darauf konzentriert, in relativ positivistischer Manier entweder Prousts konkrete Verbindungen mit Malern und ihren Werken oder seine zahlreichen Verweise auf die Malerei bzw. einzelne Künstler in der Recherche zu erforschen. U m diese A r t eher äußerlicher Einflüsse geht es Becker nun expressis verbis nicht. I n der Arbeit greift sie vielmehr eine von MarieJosé Sfeir nur in ersten Zügen angedeutete These auf, derzufolge »die Gestaltung des Textes in indirektem Zusammenhang mit der darstellenden Kunst steht« und »Proust die Malerei zur Konstituierung seines Textes braucht, [ . . . ] ihre Mechanismen kennt und einzusetzen weiß«. (25) Nach Beckers Interpretation ist die Malerei nicht lediglich »schmückendes Beiwerks sondern der A u t o r der Recherche versucht, kompositorische Techniken der bildenden Kunst in die

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Literatur zu transponieren, mit Hilfe von »Bildern aus Worten< Gefühle und Erinnerungen zu evozieren, die jenseits der Ratio liegen; und so erweist sich dieses Verfahren schließlich als kongenial für die Suche nach der verlorenen Zeit. Der Nachweis dieser These erfolgt in mehreren Schritten. Zunächst stellt die Verf.in die Frage nach dem Einfluß Rembrandts und Giottos neu, bezogen nämlich auf deren spezifische Maltechniken, die Proust in seinem Werk zu imitieren versucht. Bei Rembrandt, dessen Werk unter einem ästhetischem Gesichtspunkt auch als abstrakte Größe dient, u m Einsichten in die Mechanismen künstlerischer Techniken und ihrer Wirkungen i m allgemeinen zu geben, ist es der Blickwinkel, der häufig übernommen wird, sowie vor allem seine HellDunkel-Technik, die, in der Literatur nachgeahmt (z. B. bei einem Abendspaziergang in Doncières aus Le Côté de Guermantes), den Text mit zahlreichen weiteren Bedeutungsschichten auflädt. Giottos so realistisch wirkende Darstellungen von Allegorien in der Arenakapelle in Padua, die Abstraktion und Realität in einer völlig neuen Form zusammenführen, werden von Proust gewissermaßen unter umgekehrten Vorzeichen benutzt, insofern, als er scheinbar banale Realitäten ins Allegorische überhöht (wobei die Frage erlaubt sein muß, ob das nicht alle große Dichtung tut), und diese Kombination von scheinbar inkompatiblen Elementen bringt ebenfalls einen erheblichen Zugewinn an Signifikaten jenseits der reinen Textebene. Etwas anders gelagert ist der Fall Jan Vermeers, der gleichwohl mit Rembrandt und Giotto in der Kapitelüberschrift figuriert. Hier geht es nicht u m den Versuch, eine der oben genannten Techniken zu übernehmen, sondern vielmehr - und die interpretierte Textstelle, der Tod Bergottes vor Vermeers Vue de Delft, macht dies sehr deutlich - u m eine programmatische Analogie zwischen dem Werk des Holländers und Prousts eigenem: Für Proust hat Vermeer in seinem großartigen Bild schon verwirklicht, was er als Schriftsteller gerade erst dabei ist umzusetzen: Eine Neuerschaffung der Welt mit künstlerischen Mitteln, die in ihrer Größe und Vollkommenheit in der Lage ist, der fortschreitenden, alles einebnenden Zeit zu trotzen. I m nächsten größeren Unterabschnitt widmet sich Becker kompositionellen Verfahren der Malerei - der Farbe, dem Licht und dem Raum - , die jedoch ihrer Lesart nach nicht als >AccessoiresBildernErfinder< dieser Techniken sei, wenn man ihm vielleicht auch zugestehen muß, daß er sie

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- ganz gemäß seines ästhetischen Credos - sehr konsequent angewandt hat, weil er sich bestimmte Effekte davon versprach, die er durch eigene Erfahrung mit der Malerei kannte. Darüber hinaus vermißt man einen übergeordneten Standpunkt: Der Anteil der Techniken, die aus der Malerei übernommen werden, w i r d als etwas zu absolut gesehen; musikalische Techniken, die bekanntlich ebenfalls einen wichtigen Stellenwert bei der Komposition der Recherche haben (hier sei nur auf den Titel von G. Matore und I. Mecz, Musique et structure romanesque

dans »la Recherche

du temps perdu«

[Paris 1973, c 1972] v e r -

wiesen), werden nicht einmal erwähnt. Martin

Neumann,

Regensburg

W i l l i Erzgräber, James Joyce. M ü n d l i c h k e i t u n d Schriftlichkeit i m Spiegel experimenteller Erzählkunst [Script Oralia, Bd. 103] Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1998. ix + 397 S. Wie die Unermüdlichkeit des industriellen Komplexes namens Joyce-Forschung nahelegt, hat der irische Schriftsteller immer noch etwas zu sagen, auch - und vielleicht erst recht wieder - nach dem anscheinend soeben verflossenen Zeitalter der Postmoderne, die, wie man hört, entweder postpost- oder präpost- geworden sein soll. Daß sich ein Fundus an Entdeckungen auftut, wenn man das Werk von Joyce mit den Kategorien Mündlichkeit / Schriftlichkeit ausmißt, zeigt der vorliegende Band aus der Reihe ScriptOralia, in denen die Erträge des Freiburger SFB Mündlichkeit / Schriftlichkeit publiziert werden. W i l l i Erzgräber knüpft an die Diskussionen dieses Forschungsbereichs an, wenn er in seiner Einleitung die begriffliche Dichotomie »Sprache der Nähe/Sprache der Distanz« nach Koch / Oesterreicher aufgreift und Paul Goetsch' Begriff der »fingierten Mündlichkeit« als notwendige Basis jeder Auseinandersetzung mit Mündlichkeit in Literatur zugrundelegt. Hilfreich bei der Analyse von Joyces sprachlicher Architektur ist immer schon Michail Bachtin gewesen, den man vielleicht als das literaturkritische Äquivalent zu Joyce bezeichnen könnte. Konzepte wie Hybridisierung, Parodie, Karneval und Polyphonie sind geradezu blind auf Joyce anwendbar. Es wundert nicht, daß die Joyce-Kritik sich häufig auf Bachtin bezieht. Allerdings ist dieser Rückgriff gerade i m vorliegenden Untersuchungsfeld gewinnträchtig, denn Bachtins »dialogisches Prinzip« stellt eine A r t Rahmen für das Wechselspiel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bereit. Dieses w i r d nun i m einzelnen von Erzgräber an den wichtigsten Texten von Joyce ausführlich diskutiert, von Dubliners und A Portrait of the Artist

as a Young Man

ü b e r Ulysses bis h i n z u Finnegans

Wake. Es zeigt sich,

daß Erzgräbers Untersuchungen sowohl für solche Leser nützlich sind, die Interpretationshilfen nach einer ersten Joyce-Lektüre suchen, als auch für jene, die schon einige Strecken i m Labyrinth der Joyce-Sekundärliteratur zurück-

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gelegt haben. Unter dem Aspekt von Mündlichkeit / Schriftlichkeit werden eine ganze Reihe von Phänomenen der Joyceschen Erzählkunst verständlich oder erscheinen i n einem neuen Licht. Erzgräber zeigt dies etwa an Sprech- und Dialogsituationen i n Dubliners , einem Erzählband, in dem ja sehr oft die »Pole i m Spannungsfeld der Alltagssprache« (S. 23) ausgelotet werden. I n der Darstellung von Handlungen, die dem Diktat von Macht, Religion und Tabu unterliegen, erweisen sich Strategien der fingierten Mündlichkeit als besonders aufschlußreich. Bei A Portrait of the Artist as a Young Man geht Erzgräber den Aspekten von Mündlichkeit in Wortschatz, Rhythmus, Klang und Aussprache nach, als denjenigen Mitteln der Sprache, mit denen psychologische und soziologische Akzente zu markieren sind. Interessant sind die gegenläufigen Ubergänge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Während Predigt und Disputation den Prozeß von der Schrift zum mündlichen Vortrag implizieren, stehen Gattungen wie Gedicht und Tagebuch für die Verschriftlichung mündlicher Erfahrung. Erzgräber kann dies jeweils an einzelnen dokumentierbaren Schritten nachweisen - so bei dem Studium der Quellen für die Predigt von Father Arnall (S. 79 ff.). Den Hauptteil der Studie stellen Erzgräbers Untersuchungen zu Ulysses dar (S. 89-310). Hier kann der A u t o r das ganze Gewicht seiner eigenen Forschungen zu dem Jahrhundertwerk in die Waagschale werfen und sie unter der Perspektive Mündlichkeit / Schriftlichkeit neu bündeln. So zeigt sich, daß sich der innere Monolog in unterschiedliche mündliche Agenturen oder Stimmen aufspalten läßt. Die Interferenz von Mündlichkeit / Schriftlichkeit w i r d noch sichtbar an dem reinsten inneren Monolog des ganzen Romans, jenen 1609 Zeilen, die M o l l y Bloom in den M u n d gelegt werden. Dazu hält Erzgräber fest: Die in Schrift umgesetzte Mündlichkeit des inneren Monologs der Molly Bloom ist das Produkt der künstlerischen Gestaltungskraft eines Autors, der immer auf die Verwandlung der schriftlichen und mündlichen Materialien Wert legte, die ihm das Leben bot. Der figúrale Mentalstil Mollys ist auch geprägt vom figuralen Mentalstil des James Joyce. Mollys innerer Monolog ist nicht ein Dokument für die Sprache der Frau, sondern er gibt zu erkennen, wie in der künstlerischen Vorstellung des Autors eine Frau zu sich sprechen könnte. (S. 112 f.) Ähnliche EntSchichtungen von Monologen und Dialogen unternimmt Erzgräber an berühmten Episoden wie Scylla und Charybdis, Calypso, Circe und Hades. Ein weiterer wichtiger Teil ist den Wechselbeziehungen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gewidmet. Dafür bieten sich die Aelus-, Sirenen-, Oxen of the Sun- und Zyklopenepisoden an, nicht zuletzt deshalb, weil in ihnen die unterschiedlichsten Medien zum Einsatz kommen: Geräuschkulissen, Klänge und Zeitungsschlagzeilen, aber auch der intertextuelle Karneval von Oxen of the Sun, in dem die englische Literaturgeschichte phasenweise zur Schau gestellt und parodiert wird.

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D e r letzte Teil der Studie gilt dem Traumbuch Finnegans Wake , das nicht nur seinen Ubersetzern, sondern auch seinen Interpreten ein großes Problem bleibt. A l l e i n die Tatsache, daß Finnegans Wake Anspielungen auf mindestens 1000 Lieder enthält, zeigt, wie umfassend die »Matrix der Mündlichkeit« (S. 313) angelegt sein muß. Erzgräbers geduldige u n d informative Grabungen sind bei dem Verständnis einer solchen M a t r i x unersetzlich. D e r entscheidende Gedanke, der dem frustrierten Leser v o n Finnegans Wake mitgegeben werden sollte, ist, daß die erzählerische Polyperspektivität des Ulysses sich auf die semantischen Schichten des einzelnen Wortes erstreckt (S. 367). D i e Substanz der Sprache ist nun selbst tangiert u n d damit auch die anthropologische Basis v o n Mündlichkeit u n d Schriftlichkeit. Das bedeutet aber auch, daß Joyce der Mündlichkeit wie der Schriftlichkeit m i t der gleichen Skepsis u n d Distanz des dädalischen Künstlers entgegentritt. D i e molekulare Pluralität des Werks, seine schillernde, ständig changierende Tiefe hat nicht nur seit Jahrzehnten Leser u n d K r i t i k e r verunsichert. N i c h t zuletzt nämlich hat sich Joyce der Zensur entzogen, die i h m anläßlich des Prozesses u m Ulysses unterstellte, bei dem Werk handele es sich u m eine kodierte pro-deutsche Botschaft. Darauf antwortet denn auch Finnegans Wake: »What can't be coded can be decoded if an ear aye sieze what no eye ere grieved for« (zit. S. 312). D e n Ohren u n d Augen, die hier gefordert sind, hat Joyce eine Landschaft der Betätigung geschenkt. Erzgräber bietet uns m i t seiner Studie dazu eine unerläßliche Reisekarte. Elmar

Schenkel ,

Leipzig

Stefan G l o m b , E r i n n e r u n g u n d I d e n t i t ä t i m britischen Gegenwartsdram a [Mannheimer Beiträge zur Sprach- u n d Literaturwissenschaft, Band 34], Tübingen: Gunter N a r r Verlag, 1997. 276 S. I n den zurückliegenden Jahren hat die Anglistik eine ganze Reihe v o n Forschungsarbeiten vorgelegt, die sich m i t existentiellen Konflikten, problematischen Persönlichkeitsstrukturen u n d zeittypischen Identitätsfragen i m modernen britischen Drama befassen. Dieses Forschungsinteresse ist nicht zuletzt deshalb beachtenswert, w e i l die englische Theaterszene bei aller Vielfalt offenbar gegenüber früheren Jahrzehnten an Ausdruckskraft u n d Kreativität nachgelassen u n d i m Vergleich z u m Publikumsmagneten Musical kaum überdurchschnittlich erfolgreiche neue Stücke oder Inszenierungen hervorgebracht hat. D i e kommerziellen Londoner Bühnen, die i n einer Saison gewöhnlich zeigen, was sich gegen die Konkurrenz durchsetzt, begnügten sich weitgehend m i t professioneller Routine, u n d zwar auch bei den neuen Werken arrivierter A u t o r e n wie etwa D a v i d Hare, Christopher H a m p t o n oder z u m Beispiel auch T o m Stoppard m i t Indian

Ink

(1995; Identitätsspannungen zwischen Indern u n d

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Engländern). F ü r die literaturkritische Forschung bietet sich i n einer solchen Phase die Gelegenheit zur Rückbesinnung, u m Themen zu diskutieren, die das britische Gegenwartsdrama i n umfassendere kulturgeschichtliche Zusammenhänge rücken. John Osbornes Look Back in Anger v o n 1956 markiert für Stefan G l o m b wie schon für viele K r i t i k e r exemplarisch den Beginn einer besonders kreativen Ära, die hinsichtlich Identität

u n d Erinnerung

signifikante Veränderungen

gegenüber der Vorkriegstradition m i t Gattungskonzepten wie analytisches Drama oder gesellschaftskritisches Discussion Play hervorgebracht hatte. Fragestellungen u n d geeignetes theoretisches Instrumentarium für diese Untersuchung müssen selbstverständlich seither nicht erst neu entwickelt werden, sondern können aus früherer Forschung m i t kritischer Distanziertheit aufgegriffen werden. Zusätzlich ist der Verfasser Stefan G l o m b sich aber auch dessen bewußt, daß es bei solch existentiellen Aspekten literarischer Figurenkonzept i o n wie Identität u n d Erinnerung nicht einfach ist, die Prämissen prägnant zu formulieren, einen überzeugenden theoretischen Rahmen für die Untersuchung zu erstellen und den eigenen Beitrag zumindest gegenüber größeren vorliegenden Publikationen aus der deutschsprachigen Anglistik abzugrenzen, i n denen das englische Drama derselben Zeitspanne bereits unter ähnlichen Gesichtspunkten behandelt wurde. E i n probates M i t t e l zur eigenständigen thematischen Akzentuierung ist i m primären Bereich die Auswahl der führenden Dramatiker Samuel Beckett u n d H a r o l d Pinter m i t den paradigmatischen, aber i n der Fachdiskussion sonst weniger beachteten Stücken Krapp's

Last Tape (1958) beziehungsweise

Old

Times (1971) sowie der nicht ganz so renommierten James Saunders (A Scent of Flowers , 1965), D a v i d Hare (Plenty, 1978), Peter Shaffer (Amadeus , 1981) u n d T o m Stoppard (Travesties , 1974). D i e entsprechende Reihenfolge der Kapitel seiner Studie verdeutlicht, daß es G l o m b i m wesentlichen nicht u m die C h r o nologie einer E n t w i c k l u n g geht, sondern u m typische Darstellungsweisen, die z u m Schluß allerdings die dekonstruktivistischen Facetten v o n Stoppards Travesties doch m i t Nachdruck i n die kulturgeschichtliche Perspektive der Postmoderne einordnen. Unter den Arbeiten, gegen die Stefan G l o m b die eigene Studie abgrenzt, sind besonders Das Drama

in der abstrakten

und The Stamp of Humanity

Gesellschaft v o n H u b e r t Zapf (1988)

v o n Bernhard Reitz (1993) v o n Bedeutung. Reitz

apostrophierte i m Untertitel sogar schon dieselben Begriffe, die auch G l o m b auf das britische Drama nach 1956 anwendet: I n d i v i d u u m , Identität, Gesellschaft. D e m möglichen Verdacht positivistischer oder szientifischer Erklärung der Handlungsoberfläche, den Zapf sich durch ausdrückliche Bezugnahme auf Karl Popper u n d Jürgen Habermas sowie Reitz durch soziologische Rollen-

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theorie einhandeln mochten, stellt Stefan G l o m b einen - i n seinen eigenen Worten »(wie auch immer gearteten) nicht-soziologischen bzw. philosophischen Identitätsbegriff« entgegen. Er wendet sich m i t O d o Marquard i m p l i z i t gegen die Konventionen sogenannter zVmfczfr'o-Asthetik, der i n der Regel eine »substantiell-teleologische Identitätsform« zu Grunde liegt. Identität soll i n Glombs Studie andererseits nicht als Ergebnis, sondern statt dessen als ein Prozeß betrachtet werden, »der v o m einzelnen bewerkstelligt und überdies der Forderung nach Individualität gerecht werden muß« (S. 9). U m diesen definitorischen Ansatz zu einem operationalen »Identitätsmodell« auszugestalten, bemüht G l o m b i n der Praxis allerdings doch selbst auch moderat sozialwissenschaftliche Überlegungen v o n G. H . Mead, B e r g e r / L u c k mann u n d anderen Theoretikern zur Interaktion des Individuums m i t der Gesellschaft. Er verbindet sie ausdrücklich m i t einer konstruktivistischen Perspektive (S. 19). Diese soll es ermöglichen, die (individuelle) Erinnerung von Vergangenheit so i n den Identitätsprozeß einzubeziehen, daß sie frühere kognitive Strukturen verarbeitet u n d dies als Syntheseleistung des gegenwärtigen kreativen Bewußtseins i n Erscheinung tritt. So bleibt dem I n d i v i d u u m K o n tinuität erhalten, u n d erfahrene Veränderung läßt sich als »Erzählung« verbalisieren u n d als »Revision« i m Drama neu m i t Sinn besetzen. Anders als i m V o r w o r t t r i t t bei den Interpretationen der soziologische Aspekt der Identitätsdefinition deutlich hervor. M a n vermißt zugleich aber für den Theorierahmen eine genauere Präsentation desjenigen Anteils des sogenannten Selbstkonzepts, der m i t psychologischen Begriffen i n Zusammenhang steht. D i e betonte Prozeßhaftigkeit u n d die Reflexivität der Erinnerung wurden ja z u m Beispiel schon i n den fünfziger Jahren v o n Ernst Kris und E r i k H . E r i k son - den der Verfasser immerhin namentlich erwähnt - i n Betracht gezogen u n d so auch v o n der Literaturkritik diskutiert. Z u m Ausgleich bietet G l o m b den relativ hohen philosophischen Anspruch seiner »hermeneutischen Auffassung v o n Identität« an, die i m wesentlichen m i t Hans-Georg Gadamers K o n zept der Horizontverschmelzung als eine A r t umbrella

term arbeitet, u m damit

i m eindringlichen Verstehen (bedrohte) Identität begrifflich aufrecht zu erhalten (S. 260). D e r Preis für diese theoretische A b r u n d u n g ist darin zu sehen, daß für die divergierenden Konzepte der erörterten Stücke die Parameter der Identitätsproblematik jedesmal neu aufzubereiten sind. Eine argumentative H i l f e ist dabei mehrfach u n d vor allem i m ersten Interpretationsbeispiel, Krapp's Last Tape , der methodisch bezeichnende Zusatz ex negativo.

Becketts Diskonti-

nuität, Stagnation u n d »Verlust des hermeneutisch-dialektischen Bezuges v o n Gegenwart u n d Vergangenheit« destruieren hier das an Becketts Schrift Proust orientierte Ich-Verständnis u n d zugleich die traditionelle F o r m des analyti27 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 41. Bd.

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sehen Monodramas. Das Kapitel »Dramentheoretische Konsequenzen« zeigt, daß Stefan Glomb sich i m Endeffekt überzeugend seinem methodischen Dilemma stellt, die Entsprechungen zu Epischem und Absurdem Theater sowie Begriffen der Narrativik erklärend heranzuziehen, aber das Instrumentarium strukturalistischer Theorie (besonders mit Manfred Pfister) unter dem hermeneutischen umbrella nur sporadisch zu nutzen. Die Untersuchungen der übrigen Bühnenstücke laufen gleichfalls vorwiegend auf eine Negation der Identität und der traditionellen (aristotelischen, geschlossenen) Dramenstruktur hinaus. So betont Glomb für Old Times - obw o h l er ausdrücklich der zentralen Figur Kate »Prozeßcharakter von Identität« und soziale Interaktion attestiert, die den verbalen Austausch über Vergangenheit ermöglichen - erneut die Negation, die deshalb impliziert sei, weil dieses anti-analytische Drama die Identitätsform als utopisch (im Sinne von »in der Realität nicht vorhanden«, S. 97) darstellt. U n d Negation beherrscht auch den Befund, daß A Scent of Flowers explizit diejenigen Mechanismen zeigt, die der Identitätskonstitution i m Wege stehen. Nationale Desintegration, dargestellt in den diskontinuierlichen Szenen von David Hares Plenty , endet in der subjektiven, offenen Form zwar mit dem Einblick in ein Vergangenheit konstruierendes Bewußtsein, aber aufgrund des Rückzugs auf eine A r t Privatutopie dennoch ohne Identitätsbestand. Als weitere thematisierte Komponente kommt mit Shaffers Amadeus und Stoppards Travesties die fiktive autobiographische Kreativität der Künstlerfiguren ins Spiel. Die Interpretationen sind durch einen Exkurs vorbereitet, der neben hermeneutischem Verstehen und in Analogie zur Narrativik eine sozialpsychologische Perspektive für die dramaturgische Fokalisierungsinstanz in Betracht zieht. M i t der zugeordneten Form des Memory Play leistet danach Shaffers Figur Salieri als erzählendes Ich die postulierte Sinnproduktion der Erinnerung. Wenn bei Stoppards Figur Henry Carr hingegen die vorhandene Gedankenkonfusion modellartig durch dichterische Einbildungskraft kompensiert wird, wenn autobiographische Erfahrung und textuelle Wirklichkeit verschwimmen, dann läßt sich Travesties mit seinen vielfältigen intertextuellen Bezügen insgesamt (auch ohne Diskussion des von Tzara eingebrachten und parodierten Dadaismus) als metaliterarische und metahistorische Konstitution auffassen. Damit übersteigt das Theaterstück in der auktorialen Perspektive allerdings ex negativo die »postmoderne Verabschiedung des Subjekts« (S. 257). Die Positivierung, die Stefan Glomb seinen Ergebnissen zuteilt, scheint darauf hinauszulaufen, daß die Erfahrung der Identitätsbedrohung mit der Notwendigkeit und Schwierigkeit der Sinnstiftung korrespondiert und darin bei Stoppard anhand der Figur Lenin auch eine politische Dimension der Verantwortlichkeit sichtbar wird.

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Als ein thematisches Fazit ist w o h l vor allem festzuhalten, daß Erinnerung und Identität im britischen Gegenwartsdrama anhand exemplarischer Stücke nach der Sicht des Verfassers eine epochentypische Problematik behandelt. Weil die auf der Bühne immer aufs neue dargestellte »Instabilität der Selbstdeutung« darüber hinaus aber zur menschlichen Existenz gehört, müssen besonders auch die Eindringlichkeit und die Vielfalt der Identitätsarbeit in Erscheinung treten. Soweit die begrenzte Auswahl das überhaupt leisten kann, macht Stefan Glomb überzeugend deutlich, daß in den produktiven siebziger Jahren nicht nur, wie Peter Paul Schnierer unter dem Titel Rekonventionalisierung im englischen Drama feststellte, eine Wiederaufwertung des autonomen Individuums zu beobachten ist, sondern zur gleichen Zeit eine hohe thematische Bedeutung des ausgeprägt prekären Bewußtseins von (bedrohter individueller) Identität. Wenngleich Bernhard Reitz sicherlich mit seiner von Glomb zitierten A n sicht recht hatte, daß in unserer Epoche die Uberzeugungkraft der imitatioÄsthetik geschwunden sei, wäre es ergänzend zu der vorliegenden Auswahl w o h l von Interesse, bei solchen Bühnenautoren, die dieser Ästhetik früher in gewisser Weise näherstanden, ein jüngeres Beispiel dafür zu suchen, wie die Horizonte i m hermeneutischen Vergleich zu werten sind, die sie ihren Figuren in unterschiedlichen Entwicklungsstadien geben. Ein Stück wie etwa Harold Pinters Betrayal mit der Inversion einer chronologischen Szenenfolge wäre dazu vielleicht geeignet; oder besser noch Dejävu , in dem 1991 John Osborne seine Figuren aus dem epochemachenden Look Back in Anger als neue Generation i m Milieu eines Country House - >a minor gentleman's residence< - wieder aufleben läßt. I m Sinne der Schlußbetrachtung, die keine beständige Lösung der Identitätsproblematik für möglich erachtet, ist die angewandte, nicht auf delimitierende Erkenntnis bedachte Hermeneutik ein angemessenes Verfahren: Stefan Glomb setzt mit seinen eindringlichen, auch intensiv auf Details gerichteten Interpretationen thematische Akzente in der Geschichte des britischen Gegenwartsdramas. Adolf

Barth,

Freiburg

i. Br.

Joseph J u r t (Hg.), Zeitgenössische französische Denker: eine Bilanz [Rombach Wissenschaft: Reihe Litterae, Bd. 61], Freiburg i m Breisgau: Rombach, 1998. 273 S. Der Sammelband geht auf eine Vortragsreihe zurück, die i m Rahmen des Graduiertenkollegs »Modernität und Tradition« i m Wintersemester 1997/98 am Frankreich-Zentrum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg stattgefunden hat. 27*

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Joseph Jurt hat sich bereits wiederholt für eine stärkere Applikation der Soziologie Pierre Bourdieus eingesetzt. 1 I m vorliegenden Band soll demgemäß durch zwölf Einzelanalysen über zehn französische Denker von Lévi-Strauss bis Lyotard das »intellektuelle Feld< bestimmt werden, das sich seit den späten 50er Jahren in Frankreich herausgebildet hat. Z u dieser Zeit, so führt Jurt in seinem Vorwort (S. 7 - 2 3 ) aus, ist ein »Dominantenwechsel« (S. 7) festzustellen: Durch die »Infragestellung des Konzepts des souveränen Subjekts« (S. 11) i m Rahmen strukturalistischer Denkansätze werden Phänomenologie und Existentialismus abgelöst. Die Auseinandersetzung mit den Kategorien des Subjekts, des Unbewußten, des Anderen oder der Geschichte bildet das gemeinsame Kondensat der »Denker nach Sartre« (S. 7). Gleichwohl vermeidet der Band, die Denker unter den mitunter diffusen Etiketten >Strukturalisten< bzw. >Poststrukturalisten< zu subsumieren, sondern w i l l sie in ihrem jeweils spezifischen Profil erfassen. Der Terminus »Denker« zollt dabei der Tatsache Tribut, daß seit Ende der 50er Jahre nicht mehr die Philosophie als Leitwissenschaft gelten kann, sondern i m Rahmen der Humanwissenschaften (sciences humaines) diverse Einzeldisziplinen interagieren. So ist der vorliegende Band mit Vertretern aus Ethnologie (Lévi-Strauss), Psychoanalyse (Lacan), Wissenschaftsgeschichte (Foucault), Semiologie (Barthes), Soziologie (Bourdieu) und Philosophie (Althusser, Lévinas, Derrida, Deleuze, Lyotard) bewußt interdisziplinär angelegt. Entsprechendes gilt für die - sämtlich dem deutschen Kontext entstammenden - Beiträger sowie den Adressatenkreis. Zunächst werden mit Claude Lévi-Strauss, Louis Althusser und Jacques Lacan drei Wegbereiter von Strukturalismus und Postmoderne vorgestellt. Axel T. Paul (S. 2 5 - 4 2 ) erläutert Lévi-Strauss' strukturale Anthropologie und erklärt anhand der Verwandtschaftstheorie, der Auseinandersetzung mit Sartre und der mythologischen Studien, wie die >Struktur< Primat über die Kategorie der Geschichte und des Subjekts gewinnt. Althussers Bedeutung für den Poststrukturalismus sieht Klaus-Michael Bogdal (S. 4 5 - 5 8 ) vor allem in der Diskussion über die Erkenntnisfähigkeit des Subjekts i m Spannungsfeld von Ideologie und Wissenschaft. Thanos Lipowatz konfiguriert »Die vier Diskurse bei Jacques Lacan« (S. 5 9 - 7 9 ) mit ihren Komponenten des Subjekts, des Anderen, des Unbewußten und des Begehrens. Gegenüber den Diskursen des >HerrnHysterie< erweist sich der >Diskurs der Psychoanalyse< für Lacan als der einzige Diskurs, der in seinem Vollzug das Unbewußte nicht verleugnet. Ottmar Ette appliziert Bourdieus Theorie des intellektuellen Feldes auf die Rolle und Funktion Roland Barthes' (S. 81-102). Er sieht Barthes' Gesamt1

Vgl. insbesondere Joseph Jurt, Das literarische

Theorie und Praxis (Darmstadt 1995).

Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in

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werk als »Fragments d'un discours de / sur l'intellectuel« (S. 87) und erklärt die permanenten Positionswechsel Barthes' (etwa i m Hinblick auf die ideologischparteipolitische Positionierung) als bewußt inszenierte Verschiebungen. Durch diese performative Kompetenz entstehen Bilder, die sich »zu einer Choreographie von Stand-Bildern des Intellektuellen anordnen lassen« (S. 87) und trotzdem eine »écriture barthésienne« (S. 94) erkennen lassen. I n ähnlicher Weise, so Michael Makropoulos (S. 103-118), wünsche sich auch Michel Foucault einen flottierenden Intellektuellen, der aufzeigt, daß »jede epistemologische, soziologische oder anthropologische Form [ . . . ] ein Produkt von historischen Kraftverhältnissen« ist (S. 104). Makropoulos führt in Foucaults Projekt einer Ontologie der Gegenwart ein, skizziert die Verfahren der Alienisierung und Historisierung und beschreibt Foucaults Analyse der Souveränitäts- und Normalisierungsmacht und ihrer Bedeutung bei der Beschreibung der Gesellschaft der Moderne, etwa der Beschreibung des Rassismus i m 20. Jahrhundert. A n Literaturwissenschaftler i m engeren Sinne richtet sich der Beitrag von Ursula Link-Heer (S. 119-142). Sie betont Foucaults bisher unterschätzte »Affinität zur Literatur« (S. 121), die durch die 1994 erschienenen Dits et écrits in ein neues Licht gerückt worden sei. Der literarische Diskurs, so Link-Heer, zeichne sich zum einen gegenüber Spezialdiskursen durch seinen integrativen Charakter aus und erwecke zum anderen Hoffnung auf eine neue Form der Subjektkonstituierung. Die Relativierung des Subjekts geht bei Emmanuel Lévinas mit der Inthronisation des >anderen< Menschen einher. U w e Justus Wenzel begründet i n seinem Beitrag (S. 143-162) die zunehmende Rezeption von Lévinas' >Ethik des Anderen< durch die »konjunkturelle Uberhitzung des Ethik-Marktes« (S. 143). Er warnt allerdings vor einer »glättenden, verharmlosenden Lektüre« (S. 156) und deutet die »intrikaten philosophischen Probleme« (S. 159) in der Sozial- und Moraltheorie an. Werner Stegmaier apostrophiert in seinem Beitrag (S. 163-185) über Jacques Derrida ebenfalls den ethischen Kontext. Das Force de loi (1990) entnommene Zitat »Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit« dient ihm als Bilanz des Derridaschen Denkens. Den »Verlust ungewisser Gewißheiten« (S. 178), den Derridas Strategie der Dekonstruktion, seine Ausführungen zum Eigensinn von Zeichen sowie zur zeitlichen (>différancedisséminationMetaerzählungen< und erläutert seine Theorie des >Widerstreits< als Form der Gerechtigkeit. Einen weiteren zentralen Aspekt sieht sie in der Kategorie des Erhabenen, die sie in der modernen Avantgardekunst wiederfindet und die eine Analogie von Künstler und Philosoph etabliert. Pierre Bourdieus These ist es, menschliches Handeln oder Denken als Zusammenspiel von Strukturen des Individuums und der Gesellschaft zu begreifen. Joseph Jurt expliziert Bourdieus Ansatz (S. 233-250), mittels der Instrumente des Feldes und des Habitus die Opposition zwischen dem Subjektivismus (Phänomenologie) und dem Objektivismus (Strukturalismus) zu überwinden. Jürgen L i n k zeigt abschließend (S. 251 - 2 6 8 ) in seiner Theorie des »flexiblen NormalismusPostmoderne< - die durch die Ausblendung der angloamerikanischen Debatte ohnehin unzulässig beschnitten wäre - zu verzichten. Gleichwohl wirft die i m Titel des Bandes angekündigte Aufstellung einer Bilanz zwei miteinander gekoppelte Fragen auf: Überwiegen, erstens, die Positiva oder die Negativa des fokussierten O b jektraums? U n d handelt es sich, zweitens, u m eine Abschluß- oder lediglich u m eine Zwischenbilanz? I m H i n b l i c k auf die >Postmoderne< und die unter dieses Label fallenden Denker scheint sich i n letzter Zeit das Gefühl einer gewissen Abgeschlossenheit einzustellen: Die Diskurse der >Meister< sind internalisiert; die Manie w i r d vielerorts zur Manier. So legte beispielsweise auch der Merkur unlängst Skepsis über die Zukunftstauglichkeit der Postmoderne an den Tag 3 (von Habermas, der die Postmoderne in toto regelmäßig für »verblichen« erklärt, ganz zu schweigen). 4 Wahrend jedoch Karl Heinz Bohrer und Co. das intellektuelle Feld der Postmoderne für abgewirtschaftetes Brachland erklären, halten die Beiträger des vorliegenden Bandes die dargestellten Denkansätze weiterhin für fruchtbar und längst nicht erschöpft. Zwar konzedieren sie kritischen Ansätzen durchaus partielle Berechtigung (z. B. der feministischen K r i t i k an Levinas und Althusser), primäres Anliegen nahezu aller Bei träger ist es jedoch, M i ß verständnisse über die behandelten Denker aufzuklären und ihre produktive Aktualität zu betonen. I n diesem Sinne w i r b t etwa Pries für eine stärkere 2

Jürgen L i n k , Versuch über den Normalismus.

Wie Normalität

produziert

den 1996). 3 »Postmoderne - Eine Bilanz«, Heft 9/10 (September / Oktober 1998). 4 Jüngst in der ZEIT, Nr. 38,16. 9.1999.

wird (Opla-

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Beachtung der Kategorie des >Erhabenen< bei Lyotard oder regt Link-Heer eine »foucaldianische Literaturtheorie« (S. 142) an. Wer eine Bilanz avisiert und damit einen relativ klar konturierten Zeit- und Objektraum in den Blick nimmt, setzt sich zwangsläufig dem Vorwurf der U n vollständigkeit aus. Selbstverständlich kann der Band mit zehn fokussierten Denkern das intellektuelle Feld nicht vollständig aufspannen (zumal Foucault mit drei Beiträgen eine besondere Gewichtung zugesprochen wird). Wenn man aber auch aus der Matrix der »zeitgenössischen französischen Denker« etwa Julia Kristeva oder Jean Baudrillard vermissen mag, erreichen die Beiträge durch das Aufzeigen von Interdependenzen und die Diskussion von Leitkategorien eine erfreuliche Kohärenz (gerade daher wäre freilich ein Personen- und Sachregister wünschenswert gewesen). So gelingt dem Band weitgehend der Spagat zwischen einer substantiellen Einführung i n das komplexe Werk der behandelten Denker und ihrer Positionierung i m aktuellen epistemologischen, ethischen oder literaturtheoretischen Diskurs. Besonders hervorzuheben ist des weiteren, daß die Beiträger auf den oft anzutreffenden >poststrukturalistischen Jargon< verzichten und zumeist durch reflektierten Umgang mit der Terminologie des jeweiligen Denkers den Zugang erleichtern (wie gut es gelingen kann, auch komplexe Denkansätze verständlich darzustellen, zeigt etwa Wenzels Beitrag über Levinas - ein Standard, den andere Beiträger [vgl. Lipowatz über Lacan] leider nicht immer erreichen). Der Band ist somit sowohl für Einsteiger instruktiv als auch für Fortgeschrittene anregend und kann als rundum gelungen bilanziert werden. Astrid

Arndt,

Kiel

Bernd Engler, Oliver Scheiding (Hg.), Re-Visioning the Past: Historical Self-Reflexivity i n American Short Fiction. Wissenschaftlicher Verlag Trier, 1998. 428 S. To edit an essay collection is always a tricky task. I f the articles to be included did not emerge from a symposium or conference workshop - and if the ceremonious latitude of the Festschrift format is unavailable - , the question of how to supply a convincing amount of thematic affinity between the projected essays must w o r r y the best editor. The politics of friendship and obligation, as well as other forms of professional networking w i l l almost certainly demand that the anthology's topic be broad enough not to exclude anyone w i t h an interest in - or a claim to - participation. A t the same time, the final result ought to be stringent enough to communicate something more than merely the editor's wish to have edited a collection of essays. W i t h its large number of contributors (there are twenty-four articles by twenty-two authors) and its sweeping historical range (from William Bradford

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to Steve Erickson), Bernd Engler and Oliver Scheiding's Re-Visioning the Past w o u l d seem to display all the signs of gratuitous academic publishing. But the editors are experts in the field of historiography and they have evidently worked hard to commit their contributors to an overarching theme and furnish a consistent argumentation to the entire volume. I w o u l d not be surprised to learn that the exchange between authors and editors has gone beyond the bounds of what is usual i n this regard. I n any case, there is a coherence and unity to Re-Visioning the Past that is missing from most other essay collections these days, and Engler and Scheiding can pride themselves on having given us a respectable and handsomely produced study on American short fiction. N o t the least cause for the editors' success can be found in their uncommonly detailed introduction, which provides the reader w i t h a historical frame of reference to evaluate the articles to follow. Claiming that American literature from the beginning was interested in »an imaginary re-invention of the past i n terms of the significance it was meant to hold for the future« (p. 12), Engler and Scheiding go on to argue that unitary and dogmatic versions of historiography, most notably Puritan typology, were quickly replaced after the Revolution by an awareness that all historical knowledge is constructed as narrative and thus open to manipulation and subversion. The result is said to be an explosion of the typological »master narrative« - and also, in the words of the blurb, of »positivistic notions of history« (the Rankean model, I take it) - into a plethora of contending aesthetico-political discourses: »[The] strengthening of the imaginary component of all representations of the past made history an open field in which the meanings of the past were constantly re-determined and the visions of the future perpetually re-defined. Historiography thus initiated a selfreflexive activity which brought about an ongoing process of historical re-envisionings and re-appropriations which answered America's ever-changing needs for self-definition.« (p. 12) One may find reasons to disbelieve the editors' assertion that »revolutionary ideology rested on philosophical assumptions about the nature of man and his role in history which were absolutely incompatible w i t h the tenets of traditional theology and its providential interpretation of history« (p. 22). Moreover, there are many scholars who w o u l d want to contradict the perhaps somewhat rash characterization of Puritan typology and Edwardian millennialism i n the introduction. But Engler and Scheiding's organizing theme remains important, especially when they demonstrate that doubts about the objective accessibility of historical events did not first occur w i t h Lyotard and White, but were an epistemological given in the eighteenth and nineteenth centuries already. Following the introduction, twenty-three articles on American short stories set out to test the editors' thesis, mainly rounding up the usual suspects, from Charles Brockden Brown to Donald Barthelme. (Here I learned most from

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Oliver Scheiding on Brown, Gerd H u r m on Twain, Ansgar Nünning on Bierce and Bernd Engler on Oates, but this may have to do w i t h m y shared interest in these authors.) Helmbrecht Breinig, Michael Porsche, Ethel Morgan Smith, Stefanie Sievers and Horst Tonn utilize the volume's basic assumption - that a growing awareness of »the narrative constructedness and ideological partiality of all historical texts« (p. 13) leads to a proliferation of competing and even belligerent versions of the past - in order to analyze forms of ethnic resistance to the dominant historiography. Their topics are Native American short narratives, the conquest of N e w Mexico in a story by Kevin Mcllvoy, and the fictions of Ernest Gaines, Sherley Anne Williams and Dagoberto Gilb. Jutta Z i m mermann, in her well-informed article on »Washington Irving's Reinvention of the American Native«, pursues a similar goal from the opposite direction, showing how centrist objectivity-claims and marginalist counter-narratives are always dialogically interrelated i n specific historical contexts. Readers who are looking for reflections on genre w i l l prpbably be disappointed by Re-Visioning of the Past (whose preference for short stories instead of, say, novels seems to be motivated by convenience rather than necessity), but reliable close readings sufficiently compensate for this deficit. As is to be expected in a collection this size, not all contributions reach the level of theoretical sophistication established by the editors in their introduction. There are articles which seem to discover nothing more in their interpretive material than the truism that history is socially constructed, that there is no objective truth out there, that we can never know »what really happened«. One doesn't have to read short stories, of course, to find that out. Engler and Scheiding remind us that epistemological skepticism is not a bravely w o n trophy of late twentieth-century relativism, but a pervasive concern in American historiography from the very beginning, undergoing changes, moving through specific contexts and ideological constellations. This caveat, it seems to me, calls for something more than merely labelling this or that nineteenth-century author a postmodernist avant la lettre. Most but not all of the essays collected in Re-Visioning the Past live up to this demand. Given the volume's generally high standard of theoretical reflection, however, it is a bit disheartening to find even some of the most thoughtful contributions slipping into a prefabricated rhetoric of subversion, where a dummy m y t h of objective meaning is monotonously »endangered« and »destabilized«, where allegedly naive conceptions of order are always »challenged«, and where everything is »questioned« except the motives behind such routine radicalist posturing. I n this respect, I found the final two essays - Günter Leypoldt on Susan Daitch's »X=|= Y« and Ruth Mayer on a chapter from Steve Erickson's decidedly w i l d novel Arc d'X - the most satisfying. I n his succinctly argued article, Leypoldt develops a critique of postmodern epistemology which takes the incon-

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stancy and fictionality of historical knowledge for granted, but refuses to perpetuate the pathos of transgression w h i c h usually goes hand i n hand w i t h such an insight. A b o u t »the practical effects of skepticism« he notes: »the theoretical knowledge of the contingency of our beliefs about the w o r l d makes them no less compelling, nor does it induce us to become more tolerant towards the views of others« (p. 406). The questioning of t r u t h and objectivity, i n other words, is never meritorious i n itself. O n the contrary, »X=f=Y« shows postmodern skepticism to be dominated by its o w n epistemological orthodoxies and actually quite unable to give up the search for objective truth, »clinging to a m y t h whose psychological necessity does not seem to have declined since Ranke: that there are some >misreadings< of the w o r l d w h i c h may be - objectively - less >mis< than others« (p. 408). Indeed, one of the merits of Leypoldt's approach is that he does not have to set off Daitch's skepticism against an imagined centrist counterposition, a usefully constructed holistic naivety, i n order to establish the author's (and his own) marginalist credentials. As a result, even Ranke finally gets some credit for what he really wrote, namely that »History is permanently being rewritten [ . . . ] . Each epoch and its main orientation takes it over and projects its thoughts onto it. [ . . . ] U n t i l the thing itself is not recognizable anymore« (quoted p. 402, for Ranke s status as an empiricist bugbear cf. also Julian Lethbridge's article). Somewhat similar to Leypoldt, R u t h Mayer describes the view »that history is a construction and that present interests and outlooks suffuse the perception of the past« (p. 413) i n the very beginning of her essay as platitudinous and goes on to explore h o w the w i s h for authenticity and truth, the desire for genuine feeling and sensual presence, survives i n - and indeed is produced by - the technologies of absence and simulation themselves. B o t h those essays start their reflections where others reach their conclusions, i n the case of Mayer to elegantly write herself out of the land of clichés (never m i n d the cyberpunk accessories) and tacitly change the subject to talk about the w o r k of art itself. This may be the mark of the best essays i n Re-Visioning the Past : their willingness to combine theoretical stringency w i t h detailed interpretive w o r k , their refusal to sacrifice the joys of reading and w r i t i n g to the interests of publishing. The fact that so many articles succeed i n this makes Engler and Scheiding's collection not only an instructive but also an engaging b o o k to study. Frank

Kelleter,

Mainz

A n s g a r N ü n n i n g (Hg.), Unreliable N a r r a t i o n . Studien z u r Theorie u n d Praxis u n g l a u b w ü r d i g e n Erzählens i n der englischsprachigen E r z ä h l l i t e r a t u r . Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 1998. 302 S. D i e v o n Ansgar N ü n n i n g herausgegebene Aufsatzsammlung w i d m e t sich einer hochinteressanten wie höchst komplexen Erscheinung der Erzählliteratur,

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für die i m englischen Sprachraum seit Wayne Booths Definition in The Rhetoric of Fiction (1961) die Bezeichnung »unreliable narration« geläufig ist. Von den insgesamt zwölf Beiträgen des Bandes sind vier in einem ersten Teil »Zur Theorie unglaubwürdigen Erzählens« zusammengefaßt, die übrigen bilden als »Fallstudien« zu den »Formen und Funktionen« dieser Erzählweise in ausgewählten englischsprachigen Erzähltexten vorwiegend des 20. Jahrhunderts den zweiten Teil des Bandes. Ein Beitrag bezieht frühere Autoren mit ein (Dagmar Sims, »Die Darstellung grotesker Welten aus der Perspektive verrückter M o n o logisten: Eine Analyse erzählerischer und mentalstilistischer Merkmale des Erzählertypus mad monologist bei Edgar Allan Poe, Patrick McGrath, Ambrose Bierce und James Hogg«). Ein Aufsatz widmet sich mit Oliver Goldsmith ganz einem A u t o r des 18. Jahrhunderts (Vera Nünning, »Unreliable Narration und die historische Variabilität von Werten und Normen: The Vicar of Wakefield als Testfall für eine kulturgeschichtliche Erzählforschung«). I n einem weit ausgreifenden einleitenden Beitrag setzt sich Ansgar N ü n n i n g kritisch mit den Untersuchungen des Phänomens seit Booth auseinander und geht dabei ausführlich auf terminologische, theoretische und methodische Probleme ein. Einführend betont er die »Diskrepanz zwischen der Komplexität des Phänomens des unreliable narrator und des unbefriedigenden terminologischen und theoretischen Reflexionsstands der Narratologie« (4). Die Vieldeut i g k e i t d e r Begriffe unreliable

narrator

b z w . unreliable

narration

u n d zugleich

die Vielschichtigkeit der Erscheinung, die hiermit erfaßt werden soll, zeigt sich bereits darin, daß eine überzeugende Übertragung ins Deutsche bisher nicht gelungen ist, wobei der vorliegende Band keine Ausnahme darstellt. Hier w i r d wenn nicht ohnehin auf das Englische zurückgegriffen w i r d - zum Beispiel vom »unglaubwürdigen Erzählen« bzw. »unglaubwürdigen Erzähler« gesprochen, von »beschränkter Vertrauenswürdigkeit« (5), von »UnZuverlässigkeit« (41), »mangelnder Zuverlässigkeit bzw. Glaubwürdigkeit« (13) oder »Unverläßlichkeit« (81) des Erzählers, an einer Stelle w i r d der weniger negative Ausdruck »nicht [ . . . ] maßgeblich« verwendet (82). Schon in diesen Termini w i r d deutlich, daß sich unter »unreliability« unterschiedliche Phänomene fassen lassen. Mangelnde Plausibilität oder Verbindlichkeit des Erzählten kann sich zunächst auf zwei grundsätzlich verschiedenen Ebenen manifestieren. Z u m einen betrifft das die Verläßlichkeit der Wiedergabe der Geschehnisse, d. h. die »Wahrhaftigkeit der erzählten >FaktenBut w h y will y o u say that I am mad?< Textuelle Signale für die E r m i t t l u n g v o n unreliable

narration «

u n d Bruno Zerweck, »>Boy, am I a reliable narratorc Eine kulturwissenschaftlich-narratologische Analyse des unzuverlässigen Erzählens i n M a r t i n A m i s ' Money: A Suicide Note«). Trotzdem - u n d auch o b w o h l sich die Grundannahmen der überwiegenden Zahl der Beiträger sehr ähneln - eröffnet der Band eine Sicht auf unterschiedliche Erscheinungsformen und Aspekte unzuverlässigen Erzählens. M i c h e l Pobloth untersucht zwei »metahistorische« Romane Graham Swifts, M a r i o n G y m n i c h vergleicht die F u n k t i o n der Erzählweise i n Romanen, die unterschiedlichen Erzähltraditionen verpflichtet sind (Margaret Drabbles The Waterfall

u n d Brigid Brophys In

Transit).

Carola Surkamp

untersucht multiperspektivisches Erzählen am Beispiel v o n Paul Scotts Raj Quartet

und Jan Blumenthal beschäftigt sich anhand zweier Romane Sam Sel-

vons m i t dem postkolonialen Roman. Gabi Busch erläutert i m theoretischen Teil des Bandes die Bedeutung der Perspektivenstruktur für eine Analyse unzuverlässigen Erzählens. D i e Beiträger folgen A . Nünnings K r i t i k an den herkömmlichen Begriffsbestimmungen, welche die Glaubwürdigkeit des Erzählers an der N o r m eines impliziten Autors messen, wobei es sich bei letzterem »um eine notorisch vage u n d unklare Kategorie« (10) handelt. A . N ü n n i n g schlägt daher vor, auf den Begriff zu verzichten u n d durch ein »Werte- u n d Normensystem des Gesamttextes« (17) zu ersetzen. Als weitere u n d wesentlichere Bezugsgröße schlägt er den Leser vor: »Ob ein Erzähler als unglaubwürdig eingestuft w i r d oder nicht, hängt somit nicht v o n der Distanz zwischen seinen Werten u n d N o r m e n u n d denen des implied

author

ab, sondern davon, inwiefern die Weltsicht des Er-

zählers m i t dem Wirklichkeitsmodell des Rezipienten zu vereinbaren ist.« (25) Daß eine auf den Rezipienten bezogene Betrachtung des Phänomens weiter-

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gehende komplexe Fragen aufwirft, zeigt Vera Nünnings sehr anregender Beitrag. Sie verweist auf »die historische Variabilität von Werten und Normen und die daraus resultierende Wandelbarkeit der Urteile« (260) und belegt dies nachdrücklich anhand der Rezeptionsgeschichte von Oliver Goldsmiths Roman The Vicar of Wakefield.

Größere editorische Sorgfalt wäre diesem insgesamt sehr interessanten Band zu wünschen gewesen. So stimmen i m Text aufgeführte Ersterscheinungsdaten nicht mit den Daten in der Bibliographie (7, 35) überein, die Liste der »Primärtexte zu unreliable narrators« weiß für einige Autoren kein Geburtsdatum anzugeben und listet verstorbene Autoren als lebend auf (Lawrence Durrell, M o l l y Keane, Sinclair Ross, Sam Selvon). Manche Beiträge sind terminologisch überfrachtet. I m einzelnen finden sich unglückliche Formulierungen, beispielsweise wenn von »kognitiven [ . . . ] Uberzeugungen« (190) oder »erkenntnistheoretischefn] Defizite[n]« (228) eines Erzählers die Rede ist, oder wenn auf Erzähler als »epistemologisch defizitäre Erzählinstanzen« (64) verwiesen wird. Es fragt sich, ob es wirklich hilfreich ist, von der »semantischen Struktur« eines Romans (235) zu sprechen; und »eine einschränkende und bewertende, expressive und verstärkende Wortwahl sowie bestimmte Adjektive und Adverbien, die die Einstellungen des Erzählers markieren«, sind keine »morphologischen Indikatoren« (238). D e m Verständnis ist es nicht dienlich, wenn von Nabokovs Lolita gesagt wird, daß sie »nur unter Gegenwehr zum Geschlechtsverkehr mit dem Protagonisten bereit ist« (63), und es nicht einsichtig, wieso die »weitreichende Bedeutung, die der Frage nach der Verläßlichkeit bzw. Unglaubwürdigkeit des Erzählers allgemein zugeschrieben wird, in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu den zahlreichen [ . . . ] Problemen, die mit dieser Kategorie verbunden sind«, steht (3). I m Ganzen zeigt die Aufsatzsammlung die Komplexität der in Frage stehenden Erzählweise an höchst interessanten Beispielen auf und regt auf vielfältige Weise zu einer theoretischen Neubestimmung des Gegenstandes an. Daß der Band mehr Fragen aufwirft, als er beantworten kann, ist angesichts des Problems, das hier i n den Blick genommen wird, nicht verwunderlich. Eva-Maria

Orth,

Jena

Elmar Schenkel and Stefan Welz (Hg.), Lost Worlds and M a d Elephants: Literature, Science and Technology 1700-1990. Glienicke / Berlin: Galda + Wilch, 1999. 371 S. Wie Elmar Schenkel und Stefan Welz in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen zweiten Band der Reihe Leipzig Explorations in Literature and Culture betonen, verstehen sie die in Lost Worlds versammelten 21 Tagungsbeiträge der gleichnamigen Leipziger Konferenz als Beginn eines wei-

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terführenden, interdisziplinären Diskurses, in dessen Verlauf die enggefaßte, überwiegend anglistisch-kulturwissenschaftlich orientierte Ausrichtung der vorliegenden Essays u m die Bereiche Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie ergänzt werden sollte. Eine derartig vorsichtige, den Erkenntnishorizont des eigenen Projekts bewußt relativierende Vorgabe ist löblich, läßt aber i m Überschwang des Pioniergeistes der Herausgeber den Hinweis auf eine Vielzahl bereits existierender »Diskurse« zu diesem Themenkreis innerhalb der europäischen Anglistik / Amerikanistik vermissen. Angesichts der Tatsache, daß sich die italienischen (1993), deutschen (1997), französischen (1997) und zuletzt auch die österreichischen (1998) Fachverbände in ihren jeweiligen Jahrestagungen schwerpunktmäßig der Verbindung von Naturwissenschaft, Technologie und Literatur angenommen haben, muß die Leipziger Tagung w o h l eher als Bestätigung eines durch die zunehmend kulturwissenschaftliche Ausrichtung des Fachs beförderten Interesses an interdisziplinären Fragestellungen betrachtet werden. Der Erkenntniszugewinn von Lost Worlds ergibt sich daher nicht vorrangig aus der besagten Zusammenführung von literarischen und technologisch-naturwissenschaftlichen Diskursen, sondern vielmehr aus der beträchtlichen thematischen Spannweite der einzelnen Beiträge (angefangen v o m Verhältnis zwischen Visualisierung und Naturwissenschaft in der Aufklärung, über die Pseudowissenschaften und esoterischen Praktiken des 19. Jahrhunderts, Naturgeschichte, Science Fiction, Halluzination, Technologie und Naturwissenschaft i m postkolonialen Kontext, bis hin zum Einfluß elektronischer Medien i m zeitgenössischen englischen Roman) sowie den anregenden Grenzüberschreitungen in andere, nicht-anglophone europäische Literaturen (etwa in vergleichenden Analysen von H . G. Wells, A . K. Tolstoi und Mikhail Bulgakow). Trotz der Vielzahl der behandelten Aspekte lassen sich grob drei große Themenbereiche unterscheiden. 1. Die Reflexion unterschiedlichster naturwissenschaftlicher Paradigma i m literarischen Text; 2. die kritische Auseinandersetzung mit den epistemologischen Idiosynkrasien westlicher Naturwissenschaft i n der Literatur des (Post-)Kolonialismus; und schließlich 3. die theoretisch-poetologische Erörterung der Beziehung von Literatur und Naturwissenschaft i m allgemeinen (Stichwort: Science Wars). Von den drei genannten Themenbereichen markiert die postkoloniale Literatur jene von der neueren Kulturwissenschaft viel beschworenen »contact zones« (Mary Louise Pratt), einen O r t interkultureller symbolischer Aktivität, der besonders geeignet erscheint, die politischen, ökonomischen und ideologischen Implikationen naturwissenschaftlicher Theoriebildung deutlich zu machen. Insbesondere die Beiträge von Kate Flint (»Hallucination and Vision«) und Tobias Döring (»Scales and Ladders: Natural History and Map Media in Conan Doyle's The Lost World and Wilson Harris's The Secret Ladder«) sind

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i n diesem Zusammenhang erwähnenswert. Während Flint die i m viktorianischen England proliferierenden Diskurse über Halluzination, Telepathie, und Vision i m Kontext »kolonialer« Literatur untersucht und dabei auf erstaunliche Parallelen zwischen Esoterik und machtpolitisch induziertem Exotismus stößt, wendet sich Döring mit Wilson Harris einem der meistbeachteten »postkolonialen« Autoren zu. Harris' 1963 erschienener Roman The Secret Ladder steht dabei, so Döring, nicht nur in der Tradition wissenschaftskritischer Klassiker wie Moby Dick, sondern er dekonstruiert exemplarisch das rhetorische Arsenal kolonialer Literatur (»scales and ladders«), dessen theoretischer Unterbau von den beiden bedeutendsten Hilfs-Wissenschaften imperialer Expansion, der Kartographie und der Evolutionstheorie, bereitgestellt wurde. Indem er die wesentlichen Topoi des Kolonialismus symbolisch übernimmt, u m sie sodann in die kritische Betrachtung des eigenen, postkolonialen Diskurses zu überführen, verwischen in The Secret Ladder die Grenzen zwischen Zentrum (»the rhetoric of the empire«) und Peripherie (»turning the colonial gaze«) zunehmend. M i t seiner eigenwilligen rhetorischen Strategie belegt der Roman damit nicht nur das symbolisch-subversive Potential hybrider Literaturen, er führt auch die gegenseitige Bedingtheit von Wissen oder besser Naturwissenschaft und - marxistisch gesprochen - gesellschaftlich-politischem Überbau vor Augen. Abschließend bleibt anzumerken, daß das Reflexionsniveau sowie die stilistischen Fähigkeiten der Beiträger und Beiträgerinnen zu diesem zweifellos verdienstvollen Sammelband stark variiert. So bleiben vor allem jene Autoren, die sich dem von C. P. Snow formulierten »culture clash« von naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Erkenntnisinteressen zuwenden, weit hinter den - teilweise von Snow selbst vorgenommenen - Relativierungen dieser allzu rigiden wissenschaftstheoretischen Dichotomie zurück (hier hätte man sich an prominenter Stelle einen Hinweis auf den von Joseph Slade und Judith Yaross Lee herausgegebenen B a n d Beyond

the Two Cultures:

Essays ort Science,

Technology, and Literature [Arnes 1990] gewünscht). Auch Klaus Peter Müllers Beitrag, »Constructionism in the Sciences, in Literature and in Literary Theory«, der aufgrund seiner nicht am Einzeltext orientierten Fragestellung ansonsten gut als Einführung in die Thematik geeignet wäre, erfüllt die mit einer theoretischen Erörterung verbundenen Erwartungen informierter Leser leider nicht. Platitüden wie »reality is a matter of perspective« und »the enormous importance of the point of view of the observer« (320) bedürfen sicher nicht der emphatischen Hervorhebung. Hier, ebenso wie i m Zusammenhang mit den in den USA tobenden Science Wars (deren Protagonisten Ross, Sokal et al. haupsächlich i m Literaturverzeichnis vorkommen), ficht der A u t o r offensichtlich Scheingefechte aus. Ebenso problematisch ist Müllers Diskussion der Rolle von Imagination in naturwissenschaftlichen und literarischen Erkenntnisprozessen, deren wesentliche Argumente sich fast alle in einem (leider ebenfalls

432

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unerwähnt bleibenden) Klassiker der Wissenschaftsgeschichte, Arthur Koestlers The Act of Création (1964), finden. Daß »constructionism« als heuristisches Bindeglied zwischen »sciences« und »humanities« dienen kann, ist durchaus einleuchtend. Dies aber als einen quasi bahnbrechenden Paradigmawechsel auszugeben, in dessen Folge »the importance of literature and literary theory is tremendously increased« (319), entpuppt sich angesichts der auffälligen Theoriedefizite als eine dem tatsächlichen Verdienst dieses Beitrags völlig unangemessene Selbsteinschätzung. Klaus Beneschy

Freiburg

Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. Gert Ueding, Band 4, H u - K . Tübingen: Niemeyer, 1998. 1580 Sp. Ende 1998 ist der 1999 ausgelieferte vierte Band des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik erschienen, so daß die Tübinger Forschergruppe unter der Leitung von Gert Ueding ihr Programm wenigstens formal eingehalten hat, dieses Lexikon i m Zweijahresrhythmus fertigzustellen. Das Spektrum der Lemmata reicht von »Humanismus« bis »Kyklos«. Der Band enthält eine Vielzahl spezifisch rhetorischer Fachbegriffe wie z. B. »Hypallage«, »Ingenium«, »Inventio«, »Klausel«, »Konvenienz« und wichtige Sachartikel wie »Jesuitenrhetorik« oder »Juristische Rhetorik«. Die Angriffe gegen das Unternehmen - in jüngerer Zeit von H . F. Plett - reißen zwar bis heute nicht ab. Doch w i r d man schwerlich bestreiten können, daß hier auf engem Raum kompakte Informationen zu wesentlichen Bereichen der Rhetorik zusammengestellt sind. Trotz seiner unbestreitbaren Schwächen hat sich das Wörterbuch inzwischen zu dem Referenzwerk entwickelt, das der Herausgeber und der Verlag schaffen wollten. Führende Spezialisten wirken mit. Es seien wenige Namen stellvertretend für viele genannt: Thomas Frenz für den »Kurialstil«, Karl-Heinz Göttert für die »Konversation«, Frank-Rutger Hausmann für den französischen »Humanismus«, Hartwig Kalverkämper für die »Körpersprache«, Alfred Noe für die Definition von Humanismus sowie für die Italien betreffenden Artikel über »Humanismus« und »Klassik«, Ulrich Püschel für den »Kommentar«, Konrad B. Vollmann für die »Kunstprosa, lateinisches Mittelalter«. Manche dieser Artikel sind vorbildlich, wie z. B. der von Frenz über den »Kurialstil« oder der von Noe über den italienischen »Humanismus«. Bei anderen fragt man sich, ob die Redaktion den A u t o r nicht hätte dazu veranlassen können, stärker auf die spezifisch rhetorische Fragestellung einzugehen. So könnte ich mir vorstellen, daß Hausmanns lesenswerter Artikel über den französischen »Humanismus« durch eine noch stärker spezifisch rhetorische Fragestellung gewonnen hätte. Die einschlägige, fundamentale Studie von Kees M e e r h o f f Rhétorique

et poétique

au XVI

e

siècle en France.

Du Beilay;

Ramus

Buchbesprechungen

et les autres (Leiden 1986) kommt nicht einmal in der Bibliographie vor. Derartige Lücken kann man häufig auch i n anderen Artikeln, z. B. in U w e Klawitters Artikel über »Improvisation«, feststellen, w o alle neueren italienischen und französischen Studien fehlen. Besonders problematisch ist der Frankreich gewidmete Artikel von T i l l R. Kuhnle über »Klassizismus, Klassik«. Die dort vorkommende Periodisierung in Vorklassik, Hochklassik und Frühaufklärung entspricht zwar einer älteren Forschungstradition, die sich beispielsweise in Erich Köhlers Vorlesungen w i derspiegelt. Die Rhetorikforschung hat aber inzwischen viel differenziertere Kriterien erarbeitet, die in Frankreich so selbstverständlich geworden sind, daß Emmanuel Bury sie bereits als Aufriß seines für Studienanfänger geschriebenen B ä n d c h e n s Le

classicisme:

V avènement

du modèle

littéraire

français ;

1660-

1680 (Paris 1993) verwendet hat. Kuhnle scheint diese französische, an spezifisch rhetorischen Problemen orientierte Forschungsrichtung abzulehnen, denn er polemisiert gegen Marc Fumaroli: »Von historischen Voraussetzungen fast gänzlich abstrahierend, erschließt Fumaroli über die rhetorischen und poetologischen Traditionen in Italien und Frankreich einen autonomen Raum, i n dem sich die frz. Klassik habe herausbilden können.« (1006) Es ist sicher nichts dagegen einzuwenden, daß Kuhnle einen sozialgeschichtlichen Ansatz der Untersuchung rhetorischer und poetologischer Traditionen vorzieht, doch w i l l mir nicht ganz einleuchten, daß dies ausgerechnet in einem Beitrag zum Historischen

Wörterbuch

der Rhetorik

geschehen m u ß .

Kuhnle ignoriert in seinem Artikel die anerkanntesten neuen Veröffentlichungen zum Thema und die entsprechenden Forschungen. Dies zeigt sich etwa i m Bereich der Bibliographie. Fußnote 13 erwähnt zuerst die alte Liste französischsprachiger Werke von Kuentz und lobt dann die Bibliographie von Behrens. I n beiden Fällen handelt es sich u m Artikel, die zu ihrer Zeit verdienstvoll waren, inzwischen aber in die Buchveröffentlichung von Bernard B e u g n o t s Les muses classiques:

essai de bibliographie

rhétorique

et

poétique

(Paris 1996, 197 S.) eingearbeitet worden sind. Ich gebe gerne zu, daß der U m fang dieser Bibliographie u. a. dadurch zustande kommt, daß dort außer der vielfach ergänzten und ebenso wie bei Behrens präzisen Inventarisierung von Primär- auch noch Sekundärliteratur registriert wird. Diese Informationen wären aber Kuhnies Artikel zugute gekommen, denn dieser informiert nicht über den Stand der internationalen Rhetorikdiskussion. Es fehlt z. B. jeglicher Hinweis auf die Forschungen von Roger Zuber, obwohl dessen Studie Les Celles infidèles< et la formation du goût classique (Paris 1995) drei wichtige Gebiete behandelt, die in diesem Artikel hätten angesprochen werden müssen: 1. Die Bedeutung des Ubersetzens antiker Schriften für die Herausbildung des Klassizismus, 2. Die Bedeutung der Vorstellung von einer Gelehrtenrepublik für den französischen Klassizismus und die Rolle der Reformierten in ihr, 3. Die 28 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 41. Bd.

434

Buchbesprechungen

Bedeutung der Kunstprosa neben der Versdichtung, auf die Kuhnle ausschließlich eingeht. Ebenso wie Perrot d'Ablancourt kommt Guez de Balzac in diesem Artikel zu kurz, über dessen heutige Einschätzung der Verf. sich in Zubers Les émerveillements

de la raison:

classicismes

littéraires

du XVI le

siècle

français

(Paris 1997) ebenso wie über die rhetorische Deutung von Boileau oder Perrault hätte informieren können. Wenn Kuhnle schon Fumarolis Aufsatz über die Académie Française meint ignorieren zu müssen, so hätte er wenigstens auf das N i c o l a s Faret zugeschriebene Projet

de l'Académie

pour

servir

de Préface

a

ses Statuts (hrsg. von J. Rousselet [Saint-Etienne 1983]) eingehen müssen, statt die für die rhetorische Deutung unbrauchbaren Gemeinplätze der älteren Literaturgeschichtsschreibung zu wiederholen. Für die Moralistik hätte man eine Berücksichtigung der Positionen von Louis van Delft oder Jean Lafond erwarten können. Hierbei geht es, wohlgemerkt, nicht bloß u m die zwangsläufig erfolgende Auswahl von Forschungsliteratur, sondern u m ganz zentrale Positionen heutiger Rhetorikforschung. Die Aufzählung könnte weitergeführt und durch Einwände gegen Thesen des Verf. ergänzt werden, doch dürfte auch so deutlich sein, daß dieser Beitrag schlecht recherchiert ist, sofern er nicht gar den Anspruch erhebt, die einschlägige neuere französische Rhetorikforschung zu widerlegen - eine Zielsetzung, die sich w o h l kaum in der internationalen wissenschaftlichen Diskussion w i r d durchsetzen können. Die Lemmata dieses Bandes des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik enthalten manches Uberraschende. Das Stichwort » Interdisziplinärst« gesteht z. B. ein, daß dies »ein Begriff der Wissenschaftswissenschaft und kein rhetorischer Begriff« (462) ist. Josef Kopperschmidt plädiert unter Nennung von sieben Gründen dann dennoch dafür, daß dieses Thema zur Rhetorik gehört. M i t Berufung auf Gadamer verteidigt er die These, daß man auf Rhetorik nicht verzichten könne, und läßt seine Argumentation darin gipfeln, daß »erst durch Rhetorik [ . . . ] Wissenschaft überhaupt möglich« (464) werde. Vielleicht ist dies der Grund, daß i n diesen Band auch ein Lemma »Kalendergeschichte« aufgenommen wurde, für die Christine Renz das »Merkmal der Kürze (brevitas)«, die Verwandtschaft mit »Apophtegmata und Anekdote« sowie »als Stilideal die Einfachheit der Rede (genus humile dicendi)« (852) herauskehrt, u m wenigstens äußerlich die Aufnahme dieses Stichworts zu rechtfertigen. Bei der »Kriminalliteratur« stellt Gabriela Holzmann fest, daß diesem Genre »ein gewachsener O r t innerhalb rhetorischer Systematik und Regelpoetik« (1377) fehlt, meint es dann aber doch auf allgemeine rhetorische Muster wie delectare, movere und probare, mit narratio und defensio »auf eine juristische Rhetorik« (1377) zurückbeziehen zu können. A n solchen Artikeln bewahrheitet sich immer wieder die Tendenz zur Abundanz, die ein Kennzeichen des Tübinger Unternehmens, seine Stärke und gleichzeitig seine Schwäche ist. Volker

Kapp,

Kiel

N A M E N - U N D WERKREGISTER Von Britta Salheiser

(Die Zahlen verweisen auf die Seiten, kursive Zahlen auf die Hauptstellen, A = Anmerkung. Das Register wählt aus.)

Abbé Barthélémy -

Reisen des jungen Griechenland 211

Anarcharsis

in

Accius 74 Addison, Joseph 370, 375 -

Cato 370

Adorno, Theodor A349 Alanus de Insulis 39 Alceus 78, A83, A85 Aleramo, Sibilla (Rina Faccio) 397, 400, 401 -

Una donna

401

Money:

A Suicidai

Note

428

Andreas Capellanus -

De amore

A59

Aristophanes 79 Aristoteles A172, 209, 210 -

Von der Dichtung

A172

Austen, Jane 381-384 -

Mansfield Park 383 Northanger Abb ey 383 Sense and Sensibility 382

Bacchylides 85 Bachtin, Michael 304, 329, 413 -

Die Ästhetik des Wortes 329 Literatur und Karneval 304, 316

Balzac, Honoré de 161-183, 343-350 -

César Birotteau 161 - 1 8 3 Comédie Humaine 161, 171, 182,

-

Eugénie Grandet 161, 182 Gobseck 161, 182

183, A344

28*

Les dangers de Vinconduite La Maison Nucingen 181 La Peau de chagrin 182 Père Goriot 182 Vautrin 174

177

Barrett, Elizabeth 394 Barthelme, Donald 424 Barthes, Roland 327, 420 Basse, William 72 Baudelaire, Charles 152, 407 Baumgarten, Alexander Gottlieb 377 -

Aesthetica

377

Beaumont, Francis 72, 73 Beckett, Samuel 228, 416, 417

Althusser, Louis 420, 422 Amiel, Henri-Frédéric 208 Amis, Martin 428 -

-

-

Krapp's Last Tape 416, 417 Proust 417

Beowulf 351-354

Berger, Peter 417 Bergson, Henri 204 Bernhard, Thomas 223, 238-246 -

Alte Meister 241 Der Atem 239 Auslöschung 241, 244 Beton 241 Einfach kompliziert A242 Frost 244

-

Heldenplatz

- Immanuel - Ja 240

A245 Kant

242

-

Die Kälte 239, A245

-

Korrektur 241 Die Macht der Gewohnheit A245 Ritter, Dene, Voss 242 Der Weltverbesserer 242 - 246 Verstörung 240, 244

Berthet, Éli/Paul Fouchet 175 -

Pacte de la famine

175

436

Namen- und Werkregister

Bierce, Ambrose 308, 425, 427

-

-

Chaucer, Geoffrey 72, 73 Chéniers, André 209 Chiabrera, Gabriello A 75, A83 Chrétien de Troyes 14-23, A32, 65

In the Midst

of Life

316

Bishop, Elizabeth 287-298 - »The Fish« 294, 295, 297 - »January First« 294 - »The Monument« 296, 297 - »One Art« 287-298 Blake, William 391, 392 Bodmer, Johann Jakob 206, 207 Boethius A32 -

Consolatio

Philosophiae

-

Othello

A32

107

The Rhetorics

of Fiction

Modern

Chivalry

Das Narrenschiff

326

In Transit

Histoire

A16

153

Bulgakow, Mikhail 430 Bulwer-Lytton, Edward Lord 394 Burckhardt, Jacob 203, 213, 220-222 -

Griechische

Kulturgeschichte

213

Burney, Fanny 381, 382, 384 -

Evelina

384

Prima di morire 400 Storiella pedante 400

Traité des sensations

153-157

Heart

of Darkness

403

Daitch, Susan 425, 426 - » X ^ Y « 425, 426 d'Annunzio, Gabriele 408 -

Ilpiacere

408

Dawson, Christopher 22 Defoe, Daniel 373, 375 Deledda, Grazia 397-400 -

Annalena Bilsini 399 Cosima 399 Marianna Sirca 399

Deleuze, Gilles 420, 421 Dennis, John 373 Derrida, Jaques 296, 420

Busch, Wilhelm 224, 225 Calderón de la Barca, Pedro 371 Callimachus von Alexandria 82 Camus, Albert 270, 284

-

-

-

L'Etranger

The Frozen Deep 395 The Woman in White 395

Cooper, James Fenimore A324 Cortés, Donoso 204

428

naturelle

212

Conrad, Joseph 402, 403

Brown, Charles Brockden 325, 424, 425 Büchner, Georg 225 Buffon, Georges Louis Leclerc 153 -

Stromata

Colombi, Marchesa (Maria A. T. V. Torriani) 397, 400

-

Brontë, Charlotte 394 Brophys, Brigid 428 -

Force de loi 421 L'oreille de l'autre

296

Deschamps, Eustache 370

270,279

Cato 370

Carlyle, Jane 394 Carlyle, Thomas 394

-

Carmina

Diderot, Denis 153,154, 349

Burana

Dickens, Charles 394, 395

A9

Cervantes Saavedra, Miguel de 239, 282, 316,317 -

Don

Quijote

de la Mancha

282,

316 Chateaubriand, François 150, 152, 220, 367-369,

Le

Comte, Auguste 300 Condillac, Étienne Bonnot de 153-157, 159

Bradford, William 423 Brant, Sebastian A16 -

-

-

427

Borges, Jorge Luis 228, 317 Bourdieu, Pierre 163, 420, 422 Brackenridge, Hugh 326 -

ou

Collins, Wilkie 393-395

Booth, Wayne 427 -

Le Roman de Perceval Conte du Gr aal 1 4 - 2 3

Clemens von Alexandria 212 -

Boileau-Despréaux, Nicolas 406, 434 Boito, Arrigo 107 -

René 152

-

The Frozen

Les deux amis de Bourhonne Lettre sur les sourds et muets Salons 153

Dostojewski, 239 -

Deep 395

Fjodor

Die Dämonen

239

A349 153

Michailowitsch

Namen- und Werkregister

Doyle, Arthur Conan 430

Frye, Northrop 391

-

-

The Lost World

430

Anatomy

of Criticism

Drabble, Margaret 428

Fuentes, Carlos 299-318

-

-

The Waterfall

428

Droysen, Johann Gustav 215 du Maurier, George 396 -

Trilhy

396

Der Besuch der alten Dame 235 Paralipomena 237 Die Physiker 235 Romulus der Große 2 3 3 - 2 3 8 Theaterprobleme 234, 236, 237

Eco, Umberto 328 -

Lector in Fabula

328

The Good French Governess

382

Eichendorff, Joseph von - Cupido A l 3 0 - Taugenichts A131 Eliot, Thomas Stearns 204, 287, 288 - Tradition and the Individual Talent 288 - The Waste Land 251, 288 Engels, Friedrich A l 6 5 Erasmus von Rotterdam, A76, 214 Erickson, Steve 424 - 426 - Arcd'X 425,426 Félibien, André 361 - 3 6 4 -

Entretiens sur les vies et les ouvrages des plus excellents peintres anciens et modernes 361 - 3 6 4

Feuerbach, Ludwig 171 Flaminio, Marc Antonio A75, A83 Flaubert, Gustave A l 5 0 , 343,345-350 -

Bouvard et Pécuchet 345, 350 Uéducation sentimentale 347, 350 Madame Bovary A l 5 0

Fontane, Theodor A l 0 8 , 244 -

Der Stechlin

244

Fontenelle, Bernard Le Bovier 146 -

Pigmalion , prince

de Tyr 146, 147

Forster, Edward Morgan 402, 407 Foucault, Michel 327, 420-423 -

Dits et écrits 421

Freud, Sigmund 190, 200, 223, 291, 292, 394 - Jenseits des Lustprinzips

Frisch, Max 237

-

de la lectura

292

El espejo enterrado 305, 306 Gringo viejo 299 — 318 Myself with Others 317 El mundo de José Luis Cuevas 314 La nueva novela hispanoamericana

303 -

Terra nostra 318

Gadamer, Hans-Georg 377 Gaines, Ernest 425 Gautier, Théophile 145 -160, 407 -

Edgeworth, Maria 381 -

o la crítica

303

Durrell, Lawrence 429 Dürrenmatt, Friedrich 223, 233-238 -

Cervantes

391

Le Fleurs du Mal 152 Mademoiselle de Maupin

145-160

Geibel, Emanuel 89-91, 93-95, 103, 104, 109, 117,118, 120 -

Zeitstimmen

90

Gilb, Dagoberto 425 Gilson, Etienne 221 -

Métamorphoses

de la Cité de

Dieu

221 Giotto di Bondone 411 Glover, Richard 370 - »Leonides« 370 Goethe, Johann Wolfgang von 116, 185, 200, 225, 236, 243, 376 -

Proserpina 116 Wahlverwandtschaften

A l 34

Goldsmith, Oliver 427-429 -

The Vicar of Wakefield

427 - 429

Goncourt, Edmont Huot de 343 Goncourt, Jules Huot de 343 Gottsched, Johann Christoph 370 -

Der sterbende

Cato 370

Gozzi, Carlo 148 -

UAugellino

belvedere

148

Granet, François-Marius 380,381 Gray, Thomas 393 Greene, Graham 402 Grimm, Friedrich Melchior 153, 156 -

Correspondance

littéraire

153

Grimmelshausen, Johann Jakob von 200 Guattari, Félix 421 Gymnich, Marion 428 Habermas, Jürgen 416 Hahn-Hahn, Ida 385, 387

Namen- und Werkregister

438

Haller, Albrecht von 207-209 Haller, Karl Ludwig von 221 Hamilton, Mary 381 Hampton, Christopher 415 Hardy, Thomas 407 Hare, David 415, 416, 418 -

Horaz A70, 74, 77, 78, A83, A84, 85, 143, 393 -

-

Emma

Courtney

-

382

Hebbel, Friedrich 223, 228-233,

Phänomenologie des Geistes A 2 9 5 Wissenschaft der Logik 368

Heinrich von Morungen A9 Heinrich von Veldeke A l 6 , 23, A29, A59 -

Eneide

A l 6 , 23, A 2 9

Hemingway, Ernest 294 -

The Old Man and the Sea 294

Herder, Johann Gottfried 376-378 -

Abhandlung über den Ursprung der Sprache 377 Die Älteste Urkunde 377, 378 Dichtung und Wahrheit 376 Die Kritischen Wälder 377, 378

Hermann von Sachsenheim A21 -

Die Mörin

A21, A25

Herodot 213 Herwegh, Georg 90 Heaney, Seamus 247, 249, 254-264

- »The M u d Vision« 260 - 264 - »Tollund« 258-260, 264 - »The Tollund Man« 255-260 Heyse, Paul 103, 104, 116 Hofmannsthal, Hugo von 408, 409 Hogg, James 427 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 371 -

Hyperion

371

Homer 82 Hope, Christopher 428 -

Darkest

Les Misérables

343, 346

Marthe

347

Irving, Washington 425

Demetrius 232 Gyges und sein Ring 232 Herodes und Mariamne 230-232 Maria Magdalena 229, 235 Die Nibelungen 232, 233

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 223, 224, 238, 287 -

Ver-

243,

409 -

der instrumenteilen

Humboldt, Wilhelm von 92 Huxley, Aldous 402 Huysmans, Joris-Karl 343, 347, 348, 407

430, 431

Hauptmann, Gerhart 225 Hays, Mary 381 -

Zur Kritik

Hugo, Victor 216, 343, 346

Plenty 416,418 The Secret Ladder

328

nunft 238, A 2 4 6

Harris, Wilson 430 -

Ars Poetica

Horkheimer, Max 238, A246

England

428

Jauß, Hans-Robert 319, 333 -

Literaturgeschichte

als

Provokation

319, 333 Johannes de Hauvilla 40 Jonson, Ben 67-87 y 372

- »Eulogy of Shakespeare« 6 7 - 87 Jordan, Wilhelm 228 Joyce, James 276, 402, 413-415 -

Dubliners 402, 413, 414 Finnegan's Wake 413, 415 A Portait of the Artist as a Man 413, 414 Ulysses 413 — 415

Young

Kant, Immanuel 151, 226, 242, 406, 407 -

Kritik

der Urteilskraft

A226

Keane, Molly 429 Keats, John 391 Kerenyi, Karl 200 Kugler, Franz 89-123 -

Cleopatra

-

Cyrus 96 1 1 8 - 1 2 0

-

Doge

und

117—118 Dogaressa

95, 96, 100,

105-108 -

Der falsche Waldemar 94 Die Fornarina 116 Hans von Baisen 95, 1 0 9 - 1 1 2

- Jacobäa 95, 96, 1 0 0 - 1 0 5 - Pertinax 95, 9 7 - 1 0 0 -

Schottisches Liederspiel 118 Die tartarische Gesandtschaft

96,

108-109 -

Und doch! 1 1 2 - 1 1 4

-

Die

-

Vor Tische 95, 1 1 4 - 1 1 5

-

Der Zauberer

Vemunftgöttin

Kyd, Thomas 74

Virgil

95 95, 1 2 0 - 1 2 3

Namen- und Werkregister

La Bruyère, Jean de 371 Lacan, Jaques 420, 423 La Roche, Sophie 385, 387 Lavater, Johann Caspar 207-209 Lawrence, David Herbert 402 Leibniz, Gottfried Wilhelm 376 Lennox, Charlotte 383 -

The Female

Quixote

Melville, Hermán -

-

383

Lessing, Gotthold Ephraim 370 -

Philotas

Strukturale

Anthropologie

-

315

Ethik

des Anderen

421

-

Lewald, Fanny 385 Locke, John 376 Lowell, Robert 287, A290, 291 Löwith, Karl 220-222 -

Weltgeschichte

und

Die

Kunst

der

Heilsgeschehen

Gesellschaft

Theorie

des Romans

321,

347

Machivelli, Niccolo 372 Mallarmé, Stéphane 216 Mann, Thomas 185-201, 224, 408 - Buddenbrooks 189, 192-195, 239

-

Doktor Faustus 191, 198, 199 Der Erwählte 198 Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull 198-201 Joseph und seine Brüderl98 Lotte in Weimar 198 Tonio Kröger A 2 2 5 Der Zauberberg 195 - 1 9 8

Utopia

372

Figaro

137

Lettres sur les Anglais çais 20 7 Der Mann

Teresa 398 Vindomani Lydia 398

398

Nietzsche, Friedrich 185, 188, 191, 194, 198, 224, 226, 227 -

Ecce Homo 296, 297 Die Geburt der Tragödie Geiste der Musik 226

aus

dem

Oates, Joyce Carol 425 Onetti, Carlos A270, A275 - Der Schacht A275 Orwell, George 402 Osborne, John 416, 419 -

Look

Back in Anger

416, 419

Ovid A16, A59, 86, 146, 364

-

Pacuvius 74 Paz, Octavio 294, 313, 314

211

344

Neera (Anna Radius Zuccari) 397-379 -

-

Les degrés du savoir

et les Fran-

ohne Eigenschaften

Mann, Heinrich 188 Marino, Giambattista 406 Maritain, Jaques 204, 211 Marlowe, Christopher 74 Marullus, Michael A75, A76 Maupassant, Guy de 343, 347 Macaulay, Catherine 371 McGrath, Patrick 427 Mcllvoy, Kevin 425 Mead, George Herbert 417

Prag

Musil, Robert 344

Lyotard, Jean-François 420, 422-424

-

-

-

334 Lukâcs, Georg A344, 347 -

Maler Nolten A 1 2 9 , 138 Mozart auf der Reise nach

Muldoon, Paul 247, 249, 264-268 - »Aisling« 264-267 Muralt, Beat von 207

221 Luckmann, Thomas 417 Luhmann, Niklas 321, 334, 335 -

431

Mozart, Amadeus 125-144 - Don Giovanni 128-131, 136

Lévinas, Emmanuel 420-423 -

Dick

125-144 Morus, Thomas 372

370, 371

Lévi-Strauss, Claude 315, 377, 420 -

Moby

Mesmer, Anton 394, 395 Milton, John 68 More, Hannah 381, 382 Mörike, Eduard 125-144 - »An einem Wintermorgen« A l 3 9

-

Ars amatoria, A59 Metamorphoseon libri

A l 6 , 86, 146

El laberinto de la soledad Primero de Enero 292

Perfetti, Bernadino 379, 380 Pfeiffer, Ida 385 Philostrat 406 Picasso, Pablo 407

313

440

Namen- und Werkregister

Pindar A70, 77, 78, 82, A83, 84, 85 Pinter, Harold 416, 419

-

-

279, 282 Sales, Franz von 211 Sappho 78, A85 Sartre, Jean Paul 270, 284

Betrayal 419 Déjàvu 419 Old Times 416, 418

Platon 147, 151, 156, 158,159, 369, 376 -

Banquet 147, 151 Politeia 369

-

Plautus 79 Poe, Edgar Allan 394, 427 Pope, Alexander 373 Popper, Karl 416 Proust, Marcel 158, 343, 347, 348, 350, -

410-413 A la recherche

du temps perdu

343,

347,410-413 Pyats, Félix -

Le Brigand

et le Philosophe

175

Raabe, Wilhelm 224, 225, 227, 228 -

Eulenpfingsten Schüdderump

225 233

Racine, Jean-Baptiste 211,364 - 367 -

Bajazet 365 Britannicus 364, 366 Phèdre et Hippolyte 364-366

Radcliffe, Anne 381 -

The Mysteries

of Udolpho

383

Ranke, Leopold von 213, 424, 426 Rembrandt Harmensz van Rijn 411 Reynold, Gonzague de 203-222 -

D'où vient l'Allemagne ? 204 L'Europe tragique 203, La Formation de l'Europe 203, 204,

214,217 -

Histoire XVIIle

littéraire de la Suisse au siècle 206

Richardson, Samuel 384 -

Clarissa

384

Rilke, Rainer Maria 407 Roethke, Theodore 287, 291 Rollenhagen, Georg 371 -

Froschmeuseler7>7\

Confessions

-

A Scent of Flowers

416, 418

Schaff er, Peter 416 -

Amadeus

416, 418

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 214, 217 Schiller, Friedrich von 101, 232, 370 -

Maria Stuart 101 Über die tragische Kunst

A l 72

Schopenhauer, Arthur 185-201, 2 2 3 246 -

Parerga und Paralipomena 227 Über die Freiheit des menschlichen Willens 243 Welt als Wille und Vorstellung 189,

197, 2 2 4 - 2 2 6 , 240 Schopenhauer, Johanna 385, 387 Scott, Paul 428 -

Raj Quartet

428

Seneca 74 Selvon, Sam 428, 429 Serao, Matilde 397-399 - Il ventre di Napoli 398 Shakespeare, William 76-87 , 93, 107, 225, 238, 239, 357-360, 371, 372 - As You Like It 358 - Coriolanus 372 - Julius Caesar 372 - Love's Labour's Lost 82 - The Merchant of Venice 358, 360 - A Midsummer Night's Dream 358 - Much Ado About Nothing 358-

Richard II 371 The Taming of the Shrew 358, 359 Twelfth Night 358

Shelley, Percy Bysshe A83, 391, 393 Sidney, Philip 371 -

Abhadôn, el exterminator El tûnel 269 — 285

La Nausée 270, 279

Saunders, James 416

Arcadia

371

Skelton, John 355

367

Sâbato, Ernesto 269-285 -

Leben

360

Ronsard, Pierre de A75, A83 Ross, Sinclair 429 Rousseau, Jean Jaques 146, 147, 149, 150, 208, 209, 367 -

Sobre héroes y tumbras 269 Zwischen Schreiben und

269

Magnyfycence

355

Smith, Charlotte 381, 384 Snow, Charles Percy 431 Sokrates 213

Namen- und Werkregister

Spalart, Robert von 212 -

Versuch über das Kostüm

Wagner, Richard 185, 186, 188, 224 212

Spencer, Herbert 300 -

The Principle

of Sociology

300

Spenser, Edmund 72, 73, A75 Stein, Gertrude 407 Stendhal (Marie-Henri Beyle) 343-345, 348 Stoppard, Tom 415, 416, 418 -

Indian Ink Travesties

415 416,418

Gulliver's

Travels

372

Swinburne, Algernon Charles 216 Taine, Hippolyte 205, 208, 300 -

Histoire

de la Littérature

Anglaise

205, 208 Tasso, Bernardo A75, A83 Terence 79 Thackeray, William Makepeace 428 Thomas von Aquin 209, 210, 215 Tieck, Ludwig 93 Tolstoi, Alexej Konstantinowitsch 430 Todorov, Tzvetan 304, 315 -

La conquête

de V Amérique

304

Trollope, Anthony 428 Twain, Mark (Samuel Langhorne Clemens) 425 Valéry, Paul 216 Vergil 221 Vermeer, Jan 411 Voltaire (François Marie Arouet) Al62, 245

Parsifal 225 Der Ring des Niebelungen

194,

233 -

Tristan

und Isolde

225

Wakefield Master -

Secunda Pastorum

354

Walther von der Vogelweide A9, A18, Watzlawick, Paul 357 -

Swift, Graham 428 Swift, Jonathan 372, 375 -

-

Menschliche

Kommunikation

358

Waugh, Evelyn 402 Weber, Max A167 Wells, Herbert George 396, 430 -

Love and Mr. Lewisham

396

White, Hayden 321, 424 Wilde, Oscar 409 -

The Picture

of Dorian

Gray

409

Williams, Shirley Anne 425 Winckelmann, Johann Joachim 151, 212 Wolfram von Eschenbach 9 - 6 5 -

Parzival

9-65

Wollstonecraft, Mary 381 -

Original Stories 382 A Vindication of the Rights man 384

-

The Wrongs of Woman

of Wo-

384

Woolf, Virginia 402, 404 Yeats, William Butler 247-254 - »Easter, 1916« 249-254 - »The Statues« 253 Zola, Emile 343, 345, 346, 348, 349