Latenz. Zur Genese des Ästhetischen als historischer Kategorie [1. ed.] 9783835339224, 9783835346482

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Latenz. Zur Genese des Ästhetischen als historischer Kategorie [1. ed.]
 9783835339224, 9783835346482

Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Vorbemerkung zum historischen Quellenwert der Ästhetik
Die Verschränkung von Sprache und Bild
I. Aide-Mémoire (Theorie I). Saussure, der Text, die Bilder
Theorie der Latenz nach Saussure, Freud, Merleau-Ponty
Die Verdoppelung der kritischen Wende Kants
Husserls Ding im Raum
II. Raum- und Latenzgeschichten (Illustration)
Beispiel 1: Iustitia et Ius
Beispiel 2: Kreuztragung
Beispiel 3: Markuswunder
Beispiel 4: Othello
Beispiel 5: Werther
Beispiel 6: Lucretia
Nachsatz, die Musik betreffend: Die Zauberflöte
Vorläufiges Fazit: Latenz als Vor-Struktur des Ästhetischen
Universalhistorische Transversale. Lascaux, Tour Eiffel, Blow Up
III. Pars pro toto (Theorie II). Das Sein im Ganzen – Eine Latenzfigur
Synekdoche und Metalepse
Epos und Roman
Parallaxe und neue Ironie
Sein und Gesagt-Sein
IV. Negativität
Never but, little void: Becketts Lessness
Verdoppelte Philologie
Himmelblauer Himmel
V. Anagramm und Prosa: Der Maulwurf als Theorie
Anagramm und Ironie
Eich in Ansbach
Abbildungsverzeichnis
Namen, Begriffe, Sachen

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Anselm Haverkamp Latenz

HISTORISCHE GEISTESWISSENSCHAFTEN FRANKFURTER VORTRÄGE

Herausgegeben von Bernhard Jussen und Julika Griem Band 13

Anselm Haverkamp Latenz Zur Genese des Ästhetischen als historischer Kategorie

WA LLST EI N V ER LAG

Gedruckt mit Unterstützung der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Goethe-Universität

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2021 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond und der Frutiger Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf ISBN (Print) 978-3-8353-3922-4 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4648-2

Inhalt Vorbemerkung zum historischen Quellenwert der Ästhetik . . . . . .

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Die Verschränkung von Sprache und Bild . . . . . . .

7

I.

Aide-Mémoire (Theorie I) Saussure, der Text, die Bilder . . . . . . . . . 13 Theorie der Latenz nach Saussure, Freud, Merleau-Ponty . . . . . . 13 Die Verdoppelung der kritischen Wende Kants . 16 Husserls Ding im Raum . . . . . . . . . . . . . . 25

II.

Raum- und Latenzgeschichten (Illustration)

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Beispiel 1: De Iustitia et Iure (Ottobonianus / Senneton) . 34 Beispiel 2: Kreuztragung (Bruegel / Thomas von Aquin)

. 36

Beispiel 3: Markuswunder (Tintoretto / Shakespeare) . . . 43 Beispiel 4: Othello (Shakespeare / Ovid) . . . . . . . . . . . 46 Beispiel 5: Werther (Brockes / Goethe / Kierkegaard) . . . 52 Beispiel 6: Lucretia (Rembrandt / Livius / Augustinus) . . 55

5

Nachsatz, die Musik betreffend: Die Zauberflöte (Mozart / Wagner) . . . . . . . 62 Vorläufiges Fazit: Latenz als Vor-Struktur des Ästhetischen . . . . 65 Universalhistorische Transversale: Lascaux, Tour Eiffel, Blow Up . . . . . . . . . . 68

III.

Pars pro toto (Theorie II) Das Sein im Ganzen – Eine Latenzfigur . . . 78 Synekdoche und Metalepse . . . . . . . . . . . . 78 Epos und Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Parallaxe und neue Ironie . . . . . . . . . . . . . 89 Sein und Gesagt-Sein . . . . . . . . . . . . . . . . 94

IV.

Negativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Never but, little void: Becketts Lessness . . . . . 97 Verdoppelte Philologie . . . . . . . . . . . . . . 98 Himmelblauer Himmel . . . . . . . . . . . . . . 104

V.

Anagramm und Prosa: Der Maulwurf als Theorie . . . . . . . . . . . 113 Anagramm und Ironie

. . . . . . . . . . . . . . 113

Eich in Ansbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Namen, Begriffe, Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . 130

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Vorbemerkung zum historischen Quellenwert der Ästhetik Die Verschränkung von Sprache und Bild Die Genese des Ästhetischen, der Aesthetica Alexander Gottlieb Baumgartens und des nach ihnen benannten Feldes der Ästhetik, beginnt mit der Erkundung des vorbegrifflichen Ineinandergreifens der in Sprache und Bild geronnenen Erkenntnisvermögen. Baumgarten hatte diesen in der Ausformung der Sinne manifesten Zusammenhang, die von Maurice Merleau-Ponty als ›Chiasmus‹ beschriebene Verschränkung von Sprache und Körper-Bild, in die alten, zu seiner Zeit schal gewordenen Termini der Rhetorik gefasst. Er hatte dabei eine in diesen Termini, Tropen und Figuren brachliegende begriffliche Schärfe re-aktualisiert, die der neu begriffenen, als Ästhetik akut werdenden Erkenntnisart eine Vorgeschichte der Latenz zuzuschreiben erlaubt und sie als in einem strengen Sinne historische zu begreifen ermöglicht: als unbegriffenen Inbegriff von Geschichte.1 Die historische Parallelentwicklung von Ästhetik und Historismus ist viel kommentiert worden, mit dem Ergebnis der Historisierung ästhetischer Formen und der Ästhetisierung historischer Darstellungen. In dieser doppelten Verlegenheit erlaubt es der Latenzbegriff, Ästhetik als die Quelle des Historisch-Werdens von Geschichte aufzufassen und in ihrem historischen, den Begriff von Geschichte initiierenden Quellenwert zu erforschen. Latenz wäre (so etwas wie) das ›Ding an sich‹ historischen Darstellens oder dessen ›historisches Apriori‹. Michel Foucault beschränkte

1 Vgl. meine zusammen mit Rüdiger Campe und Christoph Menke verfassten Baumgarten-Studien: Zur Genealogie des Ästhetischen, Berlin: August Verlag 2014.

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sich in dieser Anspielung auf Kant auf das, was historisch je sagbar gewesen sein muss, sofern es als ein »schon Gesagtes« diskursiv erfasst ist und in Diskursen transformierbar war.2 Die Latenz ist darin nicht miterfasst, sie liegt vor den diskursiven Formationen, in denen sie manifest wird, die sie aber weitertragen und buchstäblich verkörpern. In ihnen fungiert Latenz wie eine unmarkierte Implikation oder unerkannte Präsupposition.3 Die ›Positivitäten‹ dagegen, an denen Foucault Maß nahm, sind latenz-neutral. Latenz geht nicht auf in den Systemen des Funktionierens der Diskurse; eingekapselt liegt sie in ihnen. In Transpositionen wird sie als ungeklärte Hypothek von Umschriften und Umwidmungen mit transportiert, um früher oder später, mehr oder minder auffällig zu werden und nach Aufklärung zu verlangen. Quentin Skinner und die Cambridge School sprachen tentativ von ›Vorwegnahmen‹, die auf historische Ausformulierung warten. Aber obwohl Skinner auf dem, was ›gesagt‹ ist in Texten, insistiert, denkt er nicht an das, was mit gesagt sein muss, um das Gesagte in Texten verständlich sein zu lassen.4 In der Kunst ist Latenz als eine Art von Negativität aufgefallen. Im Erhabenen, fand Adorno, war sie »latent« mit gemeint, sofern sie dort zur »Sprache finde«.5 Als ein 2 Michel Foucault, L’archéologie du savoir, Paris: Gallimard 1969, S.170ff.; dt. Archäologie des Wissens, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S.190ff. 3 Vgl. Max Black, »Presupposition and Implication« (1958), Models and Metaphors, Ithaca NY: Cornell University Press 1962, S.48–63: 59ff. Die Latenz läge im semantischen Niemandsland zwischen Präsupposition und Implikation. 4 Quentin Skinner, »Meaning and Understanding in the History of Ideas«, History and Theory 8 (1969), S.3–53, dt. Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, hg. v. Martin Mulsow und Andreas Mahler, Berlin: Suhrkamp 2010, S.21–87: 23f. und 57. 5 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, 2.Aufl. 1974, S.294.

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Moment von Formlosigkeit würde sie qua Negativität »im Herzen der Form zum strukturbestimmenden Merkmal aller Kunst«.6 Alles Gesagte umfasst im Gesagt-Sein (»auf dem Niveau seiner Existenz«, sagt Foucault) eine Geschichte des Gesagt-Seins und impliziert damit unvordenklich, von allen denkbaren Anfängen an, die von MerleauPonty ins Auge gefasste Verschränkung. Diese liegt den Systemen und Syndromen diskursiver Formationen zugrunde, steckt in ihnen, birgt aber nicht (oder zum wenigsten) ein Potential von Erfüllungen, sondern – weitergehend, tieferliegend – ein Repertoire unabsehbarer Unerfülltheit: unerfüllt vergangener Zukünfte. Der psychoanalytische Latenz-Begriff radikalisiert den Sachverhalt durch eine Präzisierung des Begriffs von Geschichte: »a history can be grasped only in the very inaccessibility of its occurence.«7 Die von Shoshana Felman und Cathy Caruth erarbeitete Folge für die Literatur zielt auf eine Symptomatik der Texte, in der Unvermögen ex negativo Zugang erwirkt. Es handelt sich um keine Unsagbarkeit, sondern um die Einsicht, dass Kunst aufgrund eines Unvermögens, und nicht etwa eines gesteigerten Spezialvermögens, Wirkung tut.8 Aus dem Unvermögen der Kunst erwächst eine Kraft, die im aktuellen Fall zu je neuer und anderer Wirkung kommt.9 ›Kraft‹ wäre der säkulare, durch Newtons Physik 6 Auf den Punkt gebracht von Thomas Khurana, Dirk Quadflieg, Francesca Raimondi, Juliane Rebentisch und Dirk Setton (Hg.), Negativität: Kunst, Recht, Politik, Berlin: Suhrkamp 2018, Einleitung S.11–42: 19–20. 7 Cathy Caruth, Introduction, Special Issue »Psychoanalysis, Culture and Trauma«, American Imago 48 (1991), S.1–12, zit. S.7; ausgearbeitet in Unclaimed Experience: Trauma, Narrative, and History, Baltimore MD: Johns Hopkins University Press 1996. 8 Dirk Setton, Unvermögen: Die Potentialität der praktischen Vernunft, Zürich: Diaphanes 2012, S.10f. und S.276ff. 9 Christoph Menke, Kraft: Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S.141, Anm.83 zu Kraft und

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akkreditierte Deckname von Latenz und zugleich ihr folgenreiches Interpretament. Ein Gewahrwerden von Negativität in Form latenter Kontingenz ist in vielen Gestalten deutlich, spätestens seit Goethe von ›Erlebnis‹ sprach. Statt der prägenden Formel Diltheys von Erlebnis und Dichtung sind die subtilen Ahnungs-Anzeigen Walter Benjamins zu Goethes Alterswerk, zu ›Versäumnis‹ und ›Entsagung‹ als späten, der Verspätung verdankten Innewerdens des latenten Gehalts von Kontingenz bedeutend.10 Hans Blumenbergs Postulat von so etwas wie ›Kontingenzbewusstsein‹ geht in diese Richtung: es nimmt Gelegenheit als Kristallisationsmoment von Kontingenz. Die in Erwägung gezogene »Entselbstverständlichung« kommt in der sich aufdrängenden Negativität der »profanen Erleuchtung« Benjamins, seinem »Jetzt der Erkennbarkeit« nahe, und sei es auch in gehöriger Ernüchterung.11 Die Entdeckung der Latenz als einer zu erster Bewusstheit gebrachten Ahnung, als einer jede Selbstverständlichkeit grundierenden Kontingenz, birgt an der Stelle eines nachgerade ›mystischen‹ Pathos’ der Geschichte eine historisch begrenzte, auf die historische Bestimmtheit ihrer Negativität lesbar zu machende Erkennbarkeit.12 Gelegenheit statt des oft herbeizitierten Kairos bietet den Latenz. In Antwort darauf Vf., »Natur, Leben, Latenz: Geschichte nach Whitehead und Canguilhem« (2013), Marginales zur Metapher: Poetik nach Aristoteles, Berlin: Kadmos 2015, S.175–185: 177. 10 Unübertroffen Walter Benjamin, »Goethes Wahlverwandtschaften« (1921), Gesammelte Schriften 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, Schluss. Vgl. Arthur Henkel, Entsagung: Eine Studie zu Goethes Altersroman, Tübingen: Niemeyer 1954. 11 Hans Blumenberg, »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie« (1959), Leitartikel zu Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart: Reclam 1981, S.7–54: 46–48. 12 Zur Auffrischung des Komplexes der ›profanen Erleuchtung‹ siehe Bettine Menke, Sprachfiguren. Name –Allegorie –Bild nach Benjamin, München: Fink 1991, S.349ff.

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minimalen Anhalt, den Schopf, an dem sie, der Sache ins Auge sehend, allein zu fassen ist. So umständlich Gelegenheiten einzuführen sind in die Darstellung einer Sachlage, so punktuell bleibt ihr Aufweis. Die Theorie der Latenz muss ihren Entdeckungen auf dem Fuße folgen, sie kann ihnen unmöglich vorgreifen. Sonst bliebe es bei vagen Vermutungen zur Vorgeschichte ästhetischer Wirkung. Die Reihe der Beispiele, in denen ich einige charakteristische, möglichst prägnante Latenzaufkommen vorführe, ist deshalb (noch) keine historische Reihe. Statt einer narrativ plausiblen Folge von Fällen ist die Konstellation von Merkmalen beabsichtigt, ohne dass die dazugehörenden Forschungsstände mehr als berührt sein können. Nach Lage der Dinge ist ihre Behandlung von unterschiedlicher Länge, verlangt sie unterschiedliche Ausarbeitung. Hier dient sie ausschließlich der ersten methodischen Vergewisserung, die vor den Sacherörterungen liegt. Die anachrone Abfolge bleibt in den möglichen Auswirkungen auf historisch-epochale Formate grundsätzlicher zu diskutieren. Das würde eine eigene Abhandlung nötig machen, die ich hier mit Fleiß zugunsten eines ersten Gewahrwerdens vermieden habe.13 Das Material hat unterschiedliche Ausarbeitungen und Konstellationen durchgemacht, deren letzte die Frankfurter Kantorowicz Lecture in Political Language war (2020, verschoben auf 2021). Anlass der ersten Teile war ein Vortrag zum 88. Todestag von Aby Warburg im Hamburger Warburg-Haus, der dem Rahmen-Thema ›Latenz‹ gewidmet war (Winter 2017), sodann eine Münsteraner Tagung

13 Thomas Khurana hat das Nötige dazu gesagt: »Mit Fleiß«, Denkfiguren / Figures of Thought, hg. v. Eva Horn und Michèle Lowrie, Berlin: August Verlag 2013, S.69–74.

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zur ›Latenz der Bilder‹ (Frühjahr 2018). Eine Kurzfassung des »Aide-Mémoire« (Teil I) diente als Einleitung zu dem von Anja Pompe herausgegebenen Tagungsband (Paderborn: Fink 2019). Der Versuch zu der Latenzfigur des Pars pro toto (Teil III) wurde auf der Jahrestagung des Zentrums für Literaturforschung in Berlin über ›Das Ganze‹ vorgetragen (Winter 2018). Eine Momentaufnahme zur Theorie Louis Marins hat der Einleitung einer ihm gewidmeten Gedenktagung an der Johns Hopkins University 2015 gedient und ist in MLN in einer französischen Kurzfassung erschienen (2020). Ergänzende Teile zu dem Vorgängersyndrom der ›Negativität‹ (Teil IV) sind aus dem Christoph Menke gewidmeten Beitrag zu seiner Festschrift hervorgegangen (Berlin: Suhrkamp 2018). Das Supplement zur Latenz der Anagramme, dem Urphänomen allen literarischen Latenz-Managements, ist auf einer Tagung zur ›Theorie der Prosa‹ in Basel skizziert worden (Anfang 2020).

Dank schulde ich nicht zuletzt Bernhard Jussen (Frankfurt), der  die Schnürung des gesamten Pakets ermöglicht hat. Dazu kommen – neben Einflüssen, die in den Anmerkungen benannt sind – Alexandra Heimes (Berlin), Maria Muhle (München), Melanie Sehgal (Berlin), Katrin Trüstedt (Yale), Thomas Khurana (Berlin), Gudrun Swoboda (Wien), Ralph Ubl (Basel), Petra Gehring (Darmstadt), Cynthia Chase (Ithaca und Paris), Peter Goodrich und Christopher Wood (New York), Angela Condello (Turin), sowie die Einladenden Cornelia Zumbusch (Hamburg), Anja Pompe (Münster), Eva Geulen (Berlin), Jacques Neefs (Paris), Ralf Simon und Sina Dell’Anno (Basel). Paris, Jardin du Luxembourg, im April 2019 Carcente, Lago di Como, im Juni 2020

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I. Aide-Mémoire (Theorie I) Saussure, der Text, die Bilder Theorie der Latenz nach Saussure, Freud, Merleau-Ponty Latenz ist ein heikles Thema. Soll sie mehr sein als Indikator für allerlei interpretative Unfertigkeiten, dann braucht sie, was sie in nuce nicht zu haben scheint, Struktur. Als sie in Freuds Traumdeutung erste begriffliche Züge annahm, tat sie das in der Bildwerdung des Traums, trat sie bildlich auf. Als durchgehender Zug jeder ›Rücksicht auf Darstellbarkeit‹ (so die glückliche Formulierung der Traumdeutung) steht sie unter quasi transzendentalen Vorzeichen (der Bedingung der Möglichkeit) von Darstellung, wo sie, das bleibt ihr methodisches Defizit, unvollendet verharrt. Die Frage, die mit Merleau-Ponty und Blumenberg neu in Bewegung zu bringen ist, ist die nach der Struktur der Latenz, die in Bildern leichter zu beantworten scheint, dort aber doppelt verstellt ist. In den Praxen der interpretativen Unterweisung (der Schulen und Kanzeln, Medien und Multiplikatoren) ist der Schein Realität, entspricht er den als ›wirklich‹ erfahrenen Orientierungen des Unterrichtens und Unterrichtet-Werdens. Im Schulunterricht der Kinder scheint der Schein eine naturwüchsige Voraussetzung, aber das mag nur das Ergebnis einer Rückprojektion der im Unterricht gewonnenen erwachsenen Begriffe von Wirklichkeit sein. Kindliche Erfahrung scheint Latenz-anfälliger, weil Bild-näher – eine Kulturphantasie, die der Latenzbegriff nicht nur ex negativo bestätigt, sondern die er aufzudecken vermag. Der Latenzbegriff muss deshalb als erstes das Verhältnis von Sprache und Bild klären, und zwar unterhalb beider Evidenzen oder performativen Leistungen, in ihrer 13

flochtenheit. Die Struktur der Verflechtung (Merleau-Pontys ›Chiasmus‹ deutet eine grammatische Kategorie an) ist sprachlich, aber leibhaft verflochtene Sprache.14 Der verbreitete Fehlschluss, den Merleau-Ponty nicht vermeiden konnte, ist der, dass die Struktur des Chiasmus eine Art mimetischen ›Klebens‹ der Sprache (wie die ›Klebrigkeit‹ der Libido Freuds) an leiblich vorstrukturierten Wahrnehmungen darstelle. Was latent wäre, wäre der leibhafte Anteil am Leben und seinen Vollzügen, ein Säkularisat platonischer Methexis, und die Bildwissenschaften bezögen aus der Verschränkung ihre tiefere Attraktion. Die methodische Konsequenz der leiblichen Verquickung von Sprache und Bild, die in dem einen immer das andere mit voraussetzt, impliziert in der sprachlichen Kompetenz visuelle Kompetenz, im bildlichen Realisieren sprachliche Syntax. Die Latenz liegt im unhintergehbaren Widerspiel der Verschränkung der Realisierungsaspekte. Immerhin hat die vertrackte Sprachlage zu einer Neufassung der linguistischen Grundlagen durch Ferdinand de Saussure geführt. An der Latenz tritt die Verwicklung der Sprachbeschreibung in die ihr eigene sprachliche Konstitution an den Tag. Das Phänomen der Latenz hat Anteil an dieser sprachlichen Vorbedingtheit. Es setzt sie voraus, obwohl es als Phänomen nur nachträglich zu beschreiben ist;

14 Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, hg. v. Claude Lefort, Paris: Gallimard 1964, S.167; dt. Das Sichtbare und das Unsichtbare, übers. v. Regula Giuliani, München: Fink 1986, S.166f. Vgl. die unerkannte Bedeutung Merleau-Pontys in dem Kontext, aus dem seine Theorie erwachsen ist: in der sonst unübertroffenen, an dieser Stelle aber und für diese Pointe blinden Präsentation von François Wahl, »La philosophie entre l’avant et l’apres du structuralisme«, Qu’est-ce que le structuralisme, Paris: Seuil 1968, Teil 5 (separate Ausgabe), S.69–75; dt. »Die Philosophie diesseits und jenseits des Strukturalismus«, Einführung in den Strukturalismus, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S.323–480: 366–369.

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so die Einsicht Freuds, der Kern der von ihm entdeckten Nachträglichkeit.15 Das heißt nicht, dass die Latenz selbst sprachlicher Natur wäre, sondern zunächst nur, dass sie an der Sprache strukturell entdeckt wurde und fassbar ist als ein ›Doppelsinn‹, der sich, wie es scheint, »wirklich nur in der Sprache antreffen läßt«.16 Ihr Ort wäre letztlich nichts anderes als die in der ›Ambivalenz der Gefühlsregungen‹ lauernde Ambiguität sprachlicher Äußerungen, die im Extremfall der Metapher – das machte Jacques Lacan prägnant – ins Auge springt.17 Die Strukturfrage der Latenz ist auf diese Weise in der Wirkung zwar illustriert, aber doch nicht mehr als andeutungsweise formulierbar geworden. Als Paul Ricœur sich Lacans berühmtes Diktum zueigen machte, das Unbewusste sei »wie« eine Sprache gebaut – ich unterstreiche: wie eine Sprache – unterstellten beide das Modell ›Sprache‹ im Unbewussten als ›andere [Form der] Rede‹, wobei diese – als Rede, die ›anders‹ sei, aber gleichwohl ›Rede‹ – eher Symptom ist als Erklärung.18 Sie ver15 Vgl. J. Laplanche, J.B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse 1–2 (1967), dt. Ausg. von Emma Moersch, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, Bd.1: Artikel »Latenzperiode/Latenzzeit« und »Nachträglichkeit«. 16 Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern: Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, Berlin: Akademie 2004, S.71. 17 Jacques Lacan, »L’instance de la lettre dans l’inconscient« (1957), Écrits, Paris: Seuil 1966, S.493–528: 507; dt. »Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten«, Theorie der Metapher, hg. v. Anselm Haverkamp, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, 2. Auf. 1996, S.175–215: 191. 18 Paul Ricœur, De l’interpretation: Essai sur Freud, Paris: Seuil 1965, Teil III; dt. Die Interpretation: Ein Versuch über Freud, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, S.405. Der Lacan-Gemeinplatz findet sich in der Baltimore-Rede »Of Structure […]« (1966), The Structuralist Controversy: The Languages of Criticism and the Sciences of Man, hg. v. Richard Macksey und Eugenio Donato, Baltimore MD: Johns Hopkins University Press 1970, S.186–195, S.188; dt. Struktur, Andersheit, Sub-

15 https://doi.org/10.5771/9783835346482

deckt das Problem, das sie nicht löst: Latenz ist der blinde Fleck der Struktur in einer Tiefen-Hermeneutik, deren begrenzte Reichweite sie hervorkehrt. Das hat Saussure als erster an der Struktur namens ›Sprache‹ erkannt und ihr vor allen Verstehensvollzügen gutgeschrieben. So dass sich das Bild umkehrt: nicht der Latenz mangelt die Struktur, sondern an der Latenz wird die Struktur zu dem, was sie ist in der Sprache. In Bildern erscheint diese Struktur als grammatisch manifeste Form räumlich transponiert und Lesen wird zur Vorzugs-Metapher des Sehens von Bildern: als aus der Latenz herausdrängende Implikation des bildhaften Wahrnehmens.19 Die Verdoppelung der kritischen Wende Kants Zurück zu Saussure, der die Strukturfrage der Latenz nicht stracks als naturalistisch eingefärbte (womöglich biologisch literalisierte) Form von Mimesis aufzufassen erlaubt.20 Zwar sind die Andeutungen von Latenz bei Saussure auf den ersten Blick nur selten und vage, auf den zweiten Blick aber durchaus prägnant. Der zweite Blick verdankt sich Notijektkonstitution, hg. v. Dominik Finkelde, Berlin: August 2015. Zu den strukturalistischen Implikationen vgl. genauer André Green, Le complex de castration, Paris: Presses Universitaires de France 1990, S.104f. 19 Vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, München: Fink 1976, S.220, der die Sache noch umgekehrt eingefädelt hatte, jetzt ergänzt um Merleau-Ponty von Petra Gehring, Über die Körperkraft von Sprache, Frankfurt am Main: Campus 2019, S.67: »Vielmehr liegt die Leiblichkeit der Wahrnehmung wie eine para-sprachliche Textur wie auch den expliziten Formen wirklicher (also aktualer) Gewißheit zugrunde« (meine Hervorhebung). 20 Saussure schreibt gleichzeitig mit Freud, so dass die Koinzidenz beider, Saussures und Freuds, die von Lacan gesehen, aber zu keinem glücklichen Ende geführt worden ist, als strukturelle Parallele auffällt. Siehe Samuel Weber, Rückkehr zu Freud: Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1978, S.34ff.

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zen, die ein halbes Jahrhundert, nachdem der Cours de linguistique générale in Ballys und Sechehayes Fassung (1916) bereits eine eigene Sachlage geschaffen hatte, bekannt geworden sind. In den nachgelassenen sogenannten »Gartenhaus-Notizen« (Vorlesungsvorlagen von 1908/09) ist es der Strukturbegriff, der deutlicher hervortritt und dabei der Latenz, wenn auch noch keinen ausgeprägten Begriff, so doch eine bemerkenswerte Stelle offenhält. Es heißt eher en passant: »les premières et les plus irréductibles entités dont peut s’occuper le linguiste sont déjà le produit d’une operation latent de l’esprit.«21 Ludwig Jäger, der beste Kenner des späten Saussure, hat die wichtigsten Stellen zusammengefasst, so dass ich nach ihm wie folgt paraphrasieren kann: »Illusionär« ist die Annahme einer unmittelbaren sinnlichen Gegebenheit sprachlicher Tatsachen, weil schon »die ersten, nicht weiter ableitbaren Entitäten, mit denen sich der Sprachwissenschaftler beschäftigt, das Ergebnis einer verborgenen, aber positiven Operation des Geistes« sind. Wir nehmen dabei »etwas als Einheit, das nicht direkt gegeben ist.«22 Latenz fällt ins Gewicht als »nicht direkt gegeben«. Die »verborgene« und gleichwohl, im Schatten der Verborgenheit, »positive Operation des Geistes«, indiziert eine systemisch bedingte Latenz, deren strukturelle Natur in der bekanntesten Dichot0mie Saussures, der von Synchronie

21 Ferdinand de Saussure, Écrits de linguistique générale, hg. v. Simon Bouquet und Rudolf Engler, Paris: Gallimard 2002, S.23 (meine Hervorhebung). 22 Ludwig Jäger, Ferdinand de Saussure zur Einführung, Hamburg: Junius 2010, S.119; die von ihm eingearbeiteten Zitate stammen aus der zweiten Genfer Vorlesung (1908–1909), Écrits de linguistique générale, S.186.

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und Diachronie, impliziert ist. Die Verborgenheit der Implikation ist konstitutiv; sie ist der positive Aspekt einer produktiven »Operation des Geistes« (was man, worauf ich nur am Rande eingehe, gut hegelsch auffassen sollte). Die Priorität der Synchronie vor der Diachronie beruht geradezu auf der in sie eingegangenen, in ihr aufgehobenen, systemisch verdeckten Diachronie. Latent ist bei Saussure der verdeckte, aber nichtsdestoweniger operative Input der Diachronie in die Synchronie. Jäger hat deshalb Recht, wenn er hervorhebt: in der Synchronie ist »der Ort der Geschichte […] die Gegenwart.« In der Gegenwart der Synchronie ist Geschichte als Diachronie ›aufgehoben‹ (nichts könnte den Ausdruck Hegels besser illustrieren). Mithin steht die Latenz, aus der heraus die positive Operation des Geistes operiert in der Sprache, für die Historizität des in der jeweiligen sprachlichen Gegenwart aktuell gebrauchten Sprachsystems (langue) im Modus seiner manifesten Verwirklichungen (der parole). So dass man sagen könnte (ich springe vor), Latenz biete eine erste Definition dessen, was man gemeinhin Historizität nennt: Sie zeigt die Zeitlichkeit der Geschichte als / in der Sprachstruktur: als die Struktur, welche die Sprache ist. Diese Ankündigung einer These, die es bei Saussure selbst nicht zur vollen Ausformulierung gebracht hat, sondern selbst noch latent geblieben ist, wartet auf weiterführende Ausarbeitung. Ich rufe zu diesem Zweck die entscheidenden Momente in der Geschichte dieses Ausarbeitungsprozesses in Erinnerung. Die Ausgangseinsicht, auf der Saussure beharrt, die Einsicht in die »Illusion der unmittelbaren sinnlichen Gegebenheit der sprachlichen Tatsachen« (nicht ihrer Referenzen), impliziert eine Verdoppelung der transzendentalen Wende Kants. Denn die Illusion ist sprachlicher Natur, oder kurz: Sprache impliziert eine Art von Illusion, es gibt sie nicht ohne diese Illusion, ja sie funktioniert mittels 18

ihrer. Die von Saussure in und zur Erfahrung gebrachte Phänomenalität der Sprache ist das Implikat einer systemischen Einfaltung, die in der künstlichen, wissenschaftlichen Unterscheidung von Diachronie und Synchronie fassbar wird und – das ist methodisch einschneidend – allein aus der synchronen Implikation heraus zu entfalten ist. Der Vorrang der Synchronie ist also rein methodischer Art; er entspricht der natürlichen Einstellung der Illusion, indem (aber auch nur insofern) er deren Funktion entspricht. Das gegen-läufige Entfalten der Implikation des historisch sedimentierten Untergrundes der Diachronie einerseits und die Freilegung der operativen Funktion der Latenz andererseits verhalten sich zu dem operativen Aspekt selbst nichtfunktional, denn zu einem synchronen Funktionieren kann die analytische Reflexion nichts beitragen. Es ist gleichwohl diese Dysfunktionalität, welche die Latenz kunst(literatur- und bild-) bzw. medien-relevant macht. (Von der Musik sehe ich erst einmal ab, obwohl sie ein ideales Demonstrationsfeld darstellt.) Die Bedeutung der Entdeckung der Latenz bei Saussure ist kaum zu überschätzen. Das macht ein Blick auf Niklas Luhmanns Verlegenheit mit dem struktur-funktionalen Ort der Latenz deutlich: »Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns«, setzt er ein: es ist das Phänomen eines Erscheinens, für das »Latenz selbst eine Funktion hat.«23 Latenz wird bei Luhmann zu einer Meta-Funktion, die auf paradoxe Weise manifest wird und in einer eigenen Zeitform besteht: einer Zeit, wie Thomas Khurana treffsicher gesagt hat, der »akut gegebe-

23 Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S.83–93, Zitate S.93, 89.

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nen Un-gegenwärtigkeit«.24 Für Luhmann hängt das Funktionieren der Latenz an einer zeit-losen Unsichtbarkeit, in der blind passiert, was systembedingt im Dunkeln liegt. Latenz ist zwangsläufiger Nebenaspekt der prinzipiellen Unangewiesenheit jeder Funktion auf Durchsichtigkeit: Was die Analyse im metaphorischen Sinne ans Licht hebt, ist für sein Funktionieren auf keine Beleuchtung angewiesen. Bei Saussure ist klar, woran das liegt: an der unhintergehbar sprachlichen Form der Analyse selbst. Was mithin bei Luhmann metaphorisch sichtbar wird, unterliegt Bedingungen einer sprachlichen Sagbarkeit, deren protogrammatisches Fundament systembedingt – diachron – vorbelastet ist. Ihre Form ist kein funktionaler Nebeneffekt, sondern sprachspezifische Vorstruktur, die strukturelle Vorbedingung jedes Funktionierens. Saussures Latenz indiziert, ja beweist die strukturelle Priorität der Sprache als das Apriori der Analyse. Sie ist ein ›historisches Apriori‹ in dem genauen Sinne des Ausdrucks, den Foucaults Archäologie des Wissens ex negativo hervorgehoben hat: als ›Geschichte‹ begründendes, ihre Wissenschaft aus der Diachronie heraus konstituierendes, struktur-latentes Apriori. Dies allerdings nicht aufgrund der von Foucault beschworenen Positivitäten »de ce qui peut être dit« – oder, emphatischer, »des schon Gesagten auf dem Niveau seiner Existenz«. Ihm liege »an nicht mehr und nicht weniger als einer erneuten Schreibung«, sagt Foucault, und das heißt in der Folge: an der »in der aufrecht erhaltenen Form der Äußerlichkeit [der Diskurse] regu-

24 Thomas Khurana, »Latenzzeit: Unvordenkliche Nachwirkung. Anmerkungen zur Nachträglichkeit der Latenz«, Latenz – 40 Annäherungen an einen Begriff, hg. v. Stefanie Diekmann und Thomas Khurana, Berlin: Kadmos 2007, S.142–147: 142 (meine Hervorhebung).

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lierten Transformation«.25 Foucault nimmt die Latenz im »schon Gesagten« in Kauf, beschränkt aber die Archäologie auf die Sphäre der diskursiven Ruinen. Die programmatische Konsequenz, die Alain de Libera in seinem ersten Seminar am Collège de France vorgeschlagen hat, überbrückt die Lücke mit Robin Collingwoods Idee des »reenactment of past thought«, was die strukturell entscheidende Frage nach der sprachlichen Basis des ›reenactment‹ auf die hermeneutische ›Logik von Frage und Antwort‹ als bloße ›forme de penser‹ verkürzt.26 Indessen ist die Latenz keine Aussagefunktion und folglich auch keine Frage der Archivsysteme oder diskursiven Formationen, in denen sie sich hätte niedergeschlagen können. Der Niederschlag ist anderer Art. Die sprach-inhärente, auf Manifestationen drängende Operation des Geistes operiert bei Saussure aus einer Latenz heraus, die mittelfristig in unterschiedlichen modi operandi von Grammatik erfasst ist, und mit denen in termini von Grammatik und Rhetorik zu rechnen ist. Sie hat sich im Lexikon festgesetzt und in wortgeschichtlichen Mustern verfestigt: in Figuren, Begriffen und Bildern. Schließlich hat sie – immer schon, unbezweifelt und unvordenklich – eine im Verlauf der Sprachgeschichte phonetisch erfasste und mit beachtlichem Erfolg rekonstruierte Lautspur hinterlassen, mit dem Effekt – dem naturalistischen Nebeneffekt der von Saussure als erstem destruierten Illu-

25 Michel Foucault, L’archéologie du savoir, Paris: Gallimard 1969, S.170; dt. Archäologie des Wissens, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, zit. S.190 und 200 (Hervorhebung, Ergänzung und Anpassung der Zitate von mir). 26 Alain de Libera, L’archéologie philosophique, Paris: Vrin 2016, S.10–26: 22. Der Begriff des ›historischen Apriori‹ ist von de Libera bei dieser Gelegenheit in Foucaults Wendung gegen Husserl zurückverfolgt und nachgezeichnet worden.

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sion – einer in der Lautspur unmittelbar mit gegebenen Bezeichnungs- und Ausdrucks-Sphäre. Diese findet sich in Saussures Synchronie destruiert, eingeebnet, aber nicht ohne über die Diachronie der Sedimente rekonstruierbar zu sein. Die Latenz der diachronen Sedimente wird für Saussure zum Anlass veritabler dekonstruktiver Konsequenzen, an denen er sich in seinen späten AnagrammStudien abgearbeitet hat. Sie sind von Jean Starobinski entdeckt und in einem Latenz-Manifest ersten Ranges unter dem Titel Les mots sous les mots geordnet und herausgegeben worden.27 Das Gewicht der Latenz liegt bei Saussure auf der Diachronie-Synchronie-Dynamik, in der die Befunde der Anagrammatik einen Extremwert darstellen. An der Latenz der Anagramme, die als unvordenkliche Nachwirkungen der Sprachgeschichte den Stand ihrer jeweiligen Aktualisierung begleiten, wird deutlich, weshalb Saussure am Phänomen der Latenz liegen musste. Sowohl die Unmarkiertheit der Anagramme, die der operativen Unkenntlichkeit der Diachronie in der Synchronie buchstaben-genau entspricht, als auch die radikale Ungegenwärtigkeit der in der anagrammatisch buchstaben-materialen Positivität jeder Präsenz entkleideten Referenzen illustriert, warum Saussure von Synchronie spricht, um den aktuellen, je neu zu gewärtigenden, Gegenwart schaffenden und als Gegenwart manifestierenden Sprachgebrauch auf einen Begriff ihres spezifischen Funktionierens zu bringen.28 Ein ganzes Feld von sprachphilosophischen Spekulationen ist so aus der Welt 27 Jean Starobinski, Les mots sous les mots: Les anagrammes de Ferdinand de Saussure, Paris: Gallimard 1971; dt. Wörter unter Wörtern: Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, übers. v. Henriette Beese, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1980. 28 Ausgangspunkt des Vf.s in Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S.9–11.

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geräumt: so das Feld der sprachhistorischen Ursprünge, das noch die Philosophie der symbolischen Formen von Cassirer beherrscht und Blumenberg in verhaltener Kritik von einer wunderbaren »Kategorienvermehrung« reden ließ.29 Von Wunder zu reden ist zutreffend, weil die illusionär-unmittelbare Gegebenheit der Sprache Ausdrucksformen wie Referenz und Deixis vorgaukelt, ohne die proto-grammatische Zwischenschaltung der Diachronie erkennen zu lassen. Dabei zitierte Cassirer doch als Vorgabe die transzendentalen Schemata, mit denen Kant die populäre Rede vom Bild abgewiesen hatte, die bis zu Freud und Cassirer auf eine wundersame Weise, sprachlich-mental, die Deckadresse abgab für alles, was in der Synchronie der aktuellen Rede passiert, als wär’s (was könnte es anderes sein) ein Akt von Transsubstantiation. Kants Klarstellung, die für Blumenberg zum Angelpunkt der Metaphorologie wurde, verdient hier ausführlicher angesehen zu werden: Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe, ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schemas, welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen und sich demselben nicht völlig kongruieren. (Kritik der reinen Vernunft, B177) 30 29 Hans Blumenberg, »Affinitäten und Dissonanzen« (um 1975), Ein mögliches Selbstverständnis, Stuttgart: Reclam 1997, S.161–168: 166. Vf., »Blumenberg in Davos: The Cassirer–Heidegger Controversy Reconsidered«, MLN131 (2016), S.738–753. 30 Zit. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I, Berlin: Bruno Cassirer 1923, S.152 (meine Hervorhebungen). Im PrägnanzKapitel des III. Bandes 1929, S.222–237, näherte sich Cassirer über Anknüpfungen an Brentano und Husserl der Merleau-Ponty’schen ›

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Die Ironie der Kategorienvermehrung verdunkelt allerdings den positiven Gehalt, den die Synchronie Saussures erhellt. Das Gros der symbolischen Formen ist das Gros der zur momentanen oder zeitweiligen Ruhe gebrachten, in der sprachlichen Praxis still-gestellten Latenzen. Die BildStruktur der von Cassirer beigezogenen Schemata, die Kant als »gleichsam ein Monogramm« der Bild-Metaphorik der (aus diesem Grund als ›rein‹ zu denkenden) Einbildungskraft entgegensetzt, ist bei Saussure so wenig wie bei Kant einer bildhaften Einbildung zu danken, die von den sinnlichen Referenz-Gegenständen in eine mentale Schicht sprachlichen Ausdrucks führte. Im Gegenteil ist die Bildhaftigkeit nur das illusionäre Nachbild der Diachronie, die  im synchronen System gelöscht ist, und über deren fortwirkende Latenz die bildhafte Illusion hinwegtäuscht (oder jedenfalls nichts weiter sagt). Das Bild versperrt die Latenz, die es in sich aufhebt, aber doch, gut aufgehoben, parat hält und gar nicht anders als in der fortschreitenden Diachronie struktur-bildlich fixieren kann. Ein Gemälde fixiert die Latenz zusätzlich, visuell aber kontrovers, zur Sprach-Gestalt ›Text‹ (»nicht völlig kongruierend«, sagt Kant). Die heuristische Fiktion der Synchronie gibt dem Text die methodische Priorität. In der (sei es auch nur momentan festschreibbaren) Gestalt der Äußerungsform, in der die parole daherkommt, schlägt sich einzig und allein das System Sprache nieder. Es manifestiert nachgerade gewalttätig, was ihm über die Diachronie an schematischbildlichen Latenzen innewohnt, in der Variationsbreite irritierenderweise aber nur nachträglich erfassbar ist.31 Ist die flechtung‹ an (dass Merleau-Ponty ihn gelesen hat, ist sicher). Bei Cassirer enthält die Verflechtung ein ontogenetisches Moment in der Ausbildung der sogenannten ›Ausdruckscharaktere‹ (Bd.III, S.129). 31 Vgl. Jonathan Culler, Ferdinand de Saussure, London: Fontana Modern Masters 1976, S.32ff.

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Nachträglichkeit der Nach-Bilder quasi-illusionär, so fragt sich, was (und ob überhaupt etwas) das Parat-Haben der Latenz durch die Fixierung zum Schema in der Synchronie bewirkt, und was aus der strukturellen, nur ›gleichsam‹ bildlichen Fixierung der Sprache in gemalten, visuell realisierten Bildern wird (das eine ist nicht das andere). Husserls Ding im Raum Husserls ›Dingvorlesung‹ von 1908 (gleichzeitig mit den Genfer Vorlesungen Saussures), die den entscheidenden Schritt zu der späteren ›phänomenologischen Reduktion‹ tat, war bereits erheblich weiter als Cassirer, indem sie die kinästhetische Konstitution des Raumes an genau der Stelle zwischenschaltete, wo es der Rückschluss auf ›symbolische Formen‹ bei der bloßen Einbildungsmetaphorik für Kants reine abstrakte Schemata belassen musste. Mit den Stufen des Raum-Auffassens, die Husserl herausgearbeitet hat, erreichen wir das Feld der syntaktischen Latenzen, das die Saussure’sche Illusion als (metaphorisch gesprochen) ›bildliche‹ ermöglicht (bzw. verursacht).32 Denn, hat Blumenberg die bei Husserl offengebliebene Frage weitergeführt, »[d]ie Vorstellung leistet dann etwas, wovon der Raum nichts erkennen läßt«. Sofern der Raum »die Gesamtheit der Möglichkeiten« umfasst, ist er Ort einer »gewesenen Anwesenheit«.33 Daraus schließt Husserl sowenig 32 Edmund Husserl, Ding und Raum. Vorlesungen 1907 (Husserliana XVI), hg. v. Ulrich Claesges, Den Haag: Nijhoff 1973, S.255. 33 Vgl. die Husserl-Kommentare und Fortführungen der nachgelassenen Konvolute unter dem Titel »Phänomenologische Arbeiten« von  Hans Blumenberg, Phänomenologische Schriften 1981–1988, hg. v. Nicola Zambon, Berlin: Suhrkamp 2018, S.318–319 (meine Hervorhebung). Explizit von ›Latenz‹ ist bei Blumenberg unter dem Stichwort der ›Kontingenz‹ die Rede (S.52), wo »problematisch auch nur der Akt« genannt ist, »mit dem die Latenz geöffnet und die Evidenz der Gleichzeitigkeit erlangt wird« (Saussures ›Synchronie‹ entsprechend).

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wie Cassirer auf Sprache, aber sie ist es, die als Struktur die Leere des bezeichneten transzendentalen Ortes ergreift: »Man sieht das leicht daran [ergänzt Blumenberg], wie er [Husserl] die Tiefe des Raumes am Phänomen des Entschwindens der Sache beschreibt.« Wir nähern uns, noch bevor wir Merleau-Pontys Chiasmus von Leib und Sprache als die elegantere Lösung brauchen, der ersten strukturell manifesten Verflechtungsgrundlage von Sprache und Bild. Die Latenz der lateinischen Anagramme, an der Saussure schier verzweifelte – der in den Texten der Dichter (Ovids, Vergils) allgegenwärtigen Abstraktion der Götternamen – wird zu einer literarischen Technik über die mittelfristig solide, mnemotechnisch befestigte Assoziation der Diachronie mit dem zeitlich festgestellten, sprachlich ›stehenden‹ Bild in der Einbildungskraft. In diesem originären Randfall nimmt der Name die Stelle des Bildes ein, benennt der Name den abstrakten Sachverhalt des Schemas ›Bild‹ – ohne dass der strukturelle Befund der Verschränkung mit in den Blick käme, aber nicht ohne dass im Namen das Ding an sich der Diachronie benannt wäre. Das auch von Kant sogenannte, aber auf seine schematischen Qualitäten reduzierte ›Bild‹, das er mit dem Schriftbild des Monogramms vergleicht, hält in der diachronen Form der lexikalisch parat gehaltenen, phonetisch stabilisierten Worte die in deren Gebrauch mitlaufenden Referenzen der Ding-Gestalten mit parat. Die Verflechtung von Wort und Ding (rhetorisch res et verba) bildet eine Schicht der Latenthaltung, aus der heraus die Schemata akut werden und in der Virtualität erneuter Akutheit, in der erneuerbaren enargeia des Akuten, tradierbar bleiben und als ›soziale Energie‹ zum Tragen kommen können.34 Die Mne34 Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations: The Circulation

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motechnik der Rhetorik hatte diese Vorstruktur der Latenz technisiert; sie hielt Latenz akut in der sprachlichen Form sogenannter imagines agentes, die indessen nicht deshalb so heißen, weil sie Bilder wären (das sind sie eben nicht), sondern weil sie als mental vorzu-stellende, einge-bildete, einge-prägte (von dieser metaphorologischen Konstitution gibt das ›Monogramm‹ bei Kant einen Eindruck) am effektivsten zu memorieren sind. Die sinnliche Einbettung, die Merleau-Pontys Chiasmus in ihrer proto-syntaktischen Vor-Artikuliertheit beschreibt, ist ihrerseits in ein neoplatonisches, letztlich an Aristoteles’ De anima orientiertes Metaphernfeld eingelassen, das sich auf eine ›sinnliche‹ Weise plausibel macht.35 So ist imago eine Metapher für die Bild-Struktur des mentalen Einprägens, in der das Echo des metaphern-logischen Verflechtens gegen den Strich – anagrammatisch – mitschwingt: in den im-agines klingt das agere der agentes mit, weshalb im-ago, mnemotechnisch forciert, auch ›Echo‹ heißen kann. Wie bei Husserl klar wird, ist der Raum die Grundlage der Bildleistung, die das Bild, noch bevor es gesehen wird, in seiner visuellen Bestimmung clare et distincte strukturiert und zum Modell dessen prädestiniert, was in ihm zu ›symbolischen Formen‹ gerinnt und, zu Symbolen geronnen, Zeichencharakter annimmt – um den Preis der von Saussure entdeckten Illusion des Rückwegs zur Quelle des im Echo täuschend Hörbaren, aber Verlorenen: in ironischer illusio bei Quintilian, wie zuvor illustriert von Ovid (Metamorphosen 3.368ff.). Hörbarkeit wird zu einem Symptom der Latenz in der of Social Energy in Renaissance England, Berkeley CA: University of California Press 1988, Kap.1. 35 Die alte Plausibilität dieser Formeln macht den Erfolg der integralen Neuverarbeitung aus, die Emanuele Coccia vorgelegt hat, La vita sensibile, Bologna: Mulino 2010; frz. La vie sensible, Paris: Rivage 2010, hier Kap.23.

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Schrift, und die Anagrammatik wusste ein urtümliches Lied davon zu singen. Auf der Seite der optisch definierten Bilder entspricht der Stabilisierung des Sprachsystems in der Synchronie die räumliche Fixierung des in der Schrift Fixierten: Text und Bilder sind eingeübte Weisen der Latenthaltung, die sich unvordenklich erläutern. Die Vorstruktur der Latenz ermöglicht, aber sie programmiert nicht Wirkung. Das Eintreten von Wirkung und das Gedächtnis stattgehabter, intendierter oder kontingenter Wirkungen bezeugen nur die der Normal-Zeit entzogene Akutheit, die der synchronen Aktualisierung vorausliegt. Deren Ort ist die Kunst – man ist versucht zu sagen: nur darum gibt es sie. Sie ist nicht ›natürlich‹ – das ist die von Saussure abgewehrte, von seiner Linguistik ad acta gelegte ›Illusion‹ – sondern in einem alten Sinne, dem der rhetorischen techné, technisch. So ist es kurioserweise nicht falsch, wenn man vermutet, die erste, grundlegende technische Errungenschaft der Sprache sei das ›Bild‹ gewesen, aber nicht als Ab-bild, sondern als Struktur der syntaktisch in der Synchronie stillgestellten, buchstäblichen Schicht der diachronen Sedimente. Die Konstitution des ›reinen Raumes‹, in der Husserl Kant folgt, ist die der Anagramme oder kantischen Monogramme im Gedächtnis-Raum ›Sprache‹. So konnte Blumenbergs Metaphorologie den ›absoluten‹ Status des Raums in einer Theorie der Distanz an die Stelle der ontologischen Anordnungen setzen.36 In der sprachlichen Verfassung, deren Grundstruktur in der Differenz von Synchronie und Diachronie besteht als ›historischem Differential‹ (wie Benjamins ›dialektischem Bild‹), sind die Künste Institutio-

36 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Text mit Kommentar von Anselm Haverkamp, Berlin: Suhrkamp 2013, Kommentar S.272 zu S.16.

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nen der Distanz, und was sie als ›Distanzmacht‹ ausmacht, ist Latenz.37 Mit Latenz zu rechnen, Latenz zu gewärtigen, ist deshalb nicht nur die Abwehr von schwer zu Bewältigendem, sondern zugleich ein Innewerden möglicher Freiheit: als einer geformten anstelle der utopisch unbestimmten Freiheit (auch das ist ein nach-hegelscher Aspekt de Saussures), deren Ort die Kunst ist.38 Der Text ist Modell, die Bilder sind seine Entfaltung: Bildraum und Theater bieten in Tafelbild und Drama über die Zeiten hinweg die mittelfristig stabilen Akzentuierungen, Profilierungen, Illustrationen, Aufführungen. Latenz als sprach-raum-begründet aufzufassen hat so eine Reihe von Weiterungen. Was den Bild-Grund angeht, angefangen bei der ›ikonischen Differenz‹ von Malfläche und BildUntergrund.39 Modellierungen dieser Relation gehen ein oder entsprechen den proto-grammatischen Modellierungen der sprachlichen Darstellung. Die Gattung der ›natures mortes‹ oder ›Stillleben‹ gewinnt zu Zeiten der Avantgarde-Ästhetik eine emblematische Signifikanz.40 Will man derartige Abschattungen nicht vorab ordnen, systematisch und historisch aufeinander beziehen, wird eine Genealogie nötig, die der Reihe der historischen Gestalten des Manifest-Werdens Raum bietet und einen Ausblick auf die Logik der Variationen – dezidiert keiner Entwicklung – erlaubt. Als Apriori dessen, was man in der Geschichte zu 37 Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Berlin: Suhrkamp 2010, S.293. Georges Didi-Huberman, L’image survivante, Paris: Minuit 2002; dt. Das Nachleben der Bilder, Berlin: Suhrkamp 2010, S.131ff. 38 Thomas Khurana, Das Leben der Freiheit: Form und Wirklichkeit der Autonomie, Berlin: Suhrkamp 2017, §§98ff. 39 Gottfried Boehm, »Die Wiederkehr der Bilder«, Programmessay zu Was ist ein Bild? München: Fink 1994, S.11–38: 20ff. 40 Präzise herausgearbeitet von Rebekka Schnell, Natures mortes. Zur Arbeit des Bildes bei Proust, Musil, W.G. Sebald und Claude Simon, Paderborn: Fink 2016, hier S.25ff.

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wissen hoffen kann, ist die Latenz der Kernbefund eines neuen, nun erst begründet strukturellen Historismus. Er bedarf allerdings der theoretischen Rahmung, und da diese nicht abstrakt zu postulieren ist, bleibt sie aus der Rezeptionsgeschichte als einer Geschichte der latenten Wirkungen von Fall zu Fall zu identifizieren und zu erarbeiten, verändert sie sich im Laufe eben der Zeit, in der sie Geschichte wird. Nota bene: Von ›Grammatik‹ (Proto-Grammatik oder ProtoSyntax) spreche ich in der von Wittgenstein geprägten Form der Sprachanalyse, wie sie im ›New Criticism‹ entwickelt wurde und mit William Empson ein eigenes Kapitel verdient hätte.41 Sein Pilotentwurf der Seven Types of Ambiguity (immer noch unterschätzt) benutzt das Wort Latenz nicht, weil er ihr unausgesetzt Rechnung trägt und es folglich in größter Redundanz gebrauchen müsste. Die bei ihm herausgestellte ›Ambiguität‹ nennt einen semantischen Befund, der zwischen der Ambivalenz der investierten ›Gefühlsregungen‹ (Typ VII frei nach Freud) und der Latenz liegt, die nach dem Kontext-Theorem seines Lehrers I.A. Richards die grammatische Einbettung der Worte offenhält (Schlusskapitel VIII). »Evidently all the subsidiary meanings must be relevant«, insistiert Empson für »phrase, sentence, or poem.«42 John Donne ist der interessanteste Fall (exemplarisch in Typ IV); er bleibt prägend bis hin zu Beckett und Becketts Rolle für Adornos Ästhetische Theorie.

41 Ausführlicher Vf., Metapher: Die Ästhetik in der Rhetorik, München: Fink 2007, hier Kap.9. 42 William Empson, Seven Types of Ambiguity, London: Chatto & Windus 1930, rev. Ausg. 1947, 1953, S.234. Das Kontext-Theorem wurde von I.A. Richards in The Philosophy of Rhetoric ausgearbeitet, New York NY: Oxford University Press 1936. Kurioserweise hat ausgerechnet Christine Brooke-Rose, die den Grammatikbegriff in diese Hinsicht erweitert hat, Empson nicht verstanden, ja sich empört distanziert, A  Grammar of Metaphor, London: Secker & Warburg 1958/Mercury Books 1965, S.10, Anm.1.

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II. Raum- und Latenzgeschichten (Illustration)

Leitfaden muss die von Saussure erkannte und reflektierte Ausgangseinsicht sein, dass die Illusion, die in der Sprachwissenschaft durchschaubar geworden ist, die Latenz verdeckt, welche die Diachronie für die (aufgrund der Illusion autonome) Priorität der Synchronie in sich trägt. Agentur und Relais dieser Sachlage der systemisch überspielten, naturwüchsig verkannten Latenzen des diachronen Einflusses in die Synchronie ist der grammatisierte, fixe Text, in dem beides zusammenfällt: die Synchronie manifest ist, während die Diachronie ihr latent voraus liegt und wirksam ist. Der fixierte Text (im Singular) provoziert in der illusionär besetzten, überspielten Latenz der proto-grammatischen Strukturen parasitär mit-geführte Bilder (im Plural). Deren strukturelle Qualifikation bildet der Raum der grammatisch-syntaktisch nach-regulierten Synchronie, in dem die Bildteile als Bild-Anteile eher denn als komplette Bilder Latenz transportieren und in Latenz-Anteilen repräsentieren. Den Anteilen und ihrer Verknüpfung, die traditionell mit dem Verlegenheitsbegriff der ›Assoziation‹ benannt werden (›assoziiert‹ treten sie auf), ist nachzugehen. Saussure, hat Eckhard Lobsien gezeigt, liefert den »kompetentesten Epilog« auf die ältere, mit ihm de facto erledigte Geschichte der Assoziation als eines vorsprachlichen Verlegenheitsbegriffs.43 So ist der Folgefrage nachzugehen, die in der Achsen-Theorie von Roman Jakobson

43 Vgl. Eckhard Lobsien, Kunst der Assoziation: Phänomenologie eines ästhetischen Grundbegriffs vor und nach der Romantik, München: Fink 1999.

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weitergeführt ist, dort aber, was die strukturelle Assoziation von Text und Bild angeht, weiter ungeklärt liegt.44 Der Text-Raum der Anagramme, in dem – Maßstäbe setzend in der Rhetorica ad Herennium – Götternamen wie auf einer Bühne auftreten, wird bei Vergil und Ovid der  klassische Ort der religio, der sprachlichen Bindung; er begründet die Topik der Rede-Gegenstände: den TextRaum, in dem verba zu res werden. Mnemo-technisch ist das bereits eine erste assoziativ genutzte Bild-Qualifikation.45 Von hier bis zu der bild-technischen Ausarbeitung der von Frances Yates rekonstruierten Gedächtniskunst der Renaissance, die bis in das MIT Media Lab hineingewirkt hat, so wie sie zuvor bei Yates die romantische Einbildungskraft beflügelt hatte, bleiben eine Menge Zwischenschritte zu erschließen.46 Sie sind in der Illusion Saussures unlesbar geworden und betreffen die Konsolidierung des bildlich, in den termini von pictura zu erschließenden Darstellungsraumes. Sie reichen, traut man der prähistorischen Erinnerung Quintilians und des Plinius, von der umbra zur figura, vom Schattenriss zur plastischen Gestalt (Institutio oratoria 10.3.17; Historia naturalium 35.5.15).47 Das neu44 Elmar Holenstein, Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S.29. 45 Vf., »Text als Mnemotechnik«, Einleitung, Gedächtniskunst: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, hg. v. Anselm Haverkamp und Renate Lachmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S.9–15: 11f. 46 Stewart Brand, The Media Lab: Inventing the Future at M.I.T, New York NY: Penguin 1988, mit Robert Fludds oculus imaginationis als »desktop metaphor« auf dem Cover, das Frances A. Yates’ Titelbild zitiert, The Art of Memory, London: Routledge & Kegan Paul 1966  / Chicago IL: Chicago University Press 1988. Vgl. Sandy Baldwin, »Forgetting the Future«, Memory Inc, hg. v. Anselm Haverkamp, ANY = Architecture New York 15 (1996), S.50–54. 47 Vf., Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, Kap.3.

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zeitliche Tandem der Bild-Erzählung, das Wolfgang Kemp nachkonstruiert hat, ›malt‹ (in der Metaphorik der Diskurse der Maler des 18.Jahrhunderts) Narration aus und überträgt die erzählte Zeit im pars pro toto der Räume auf synekdochische Raumverhältnisse, die »das System der Malerei als Ganzes« nach Feldern anordnet.48 Erzählgrammatik entwickelt im Zusammenspiel der Bilder synekdochische Strukturen des pars pro toto. Am entgegengesetzten Ende der Latenzen, welche die Geschichte aus der Latenz der Sedimente heraustreten lässt, steht Ian Hackings Wahrscheinlichkeit mit einer neuen Form, der ›Emergenz‹, in der sich die visuelle Voreingenommenheit der Darstellbarkeit, illusionsfreudig wie sie noch ist bei Freud, relativiert findet.49 So ist Anneliese Maiers Verwunderung, dass die Scholastiker um ein Haar das Trägheitsgesetz Newtons vorweggenommen hätten (und es jedenfalls gekannt haben), für die Emergenz des Raum-Begriffs, genauer: für das Auftauchen der Latenz in der Raum-Bezogenheit der Bewegungsbegriffe charakteristisch.50 In ihr zeigt sich die Verflochtenheit der verba mit der Sicht der Dinge und bahnt neue Grade und Formen der Verflechtung an.

48 Wolfgang Kemp, Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München: Beck 1996, S.9. 49 Ian Hacking, The Emergence of Probability, Cambridge UK: Cambridge University Press 1975. 50 Anneliese Maier, Die Vorläufer Galileis im 14.Jahrhundert. Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik I, Roma: Storia e Letteratura 1949, S.24. Vgl. die Rezension von Hans Blumenberg, »Die Vorbereitung der Neuzeit«, Philosophische Rundschau 9 (1962), S.81–133: 89ff. und 115ff.

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Beispiel 1: Iustitia et Ius Eines der letzten bedeutenden Manuskripte des Corpus Juris Civilis vor dem Buchdruck, Ottobonianus Latinus 3132 (um 1400, Biblioteca Vaticana) bringt auf dem Titelblatt zu der gravierenden Unterscheidung De Iustitia et Iure die folgende Illustration:

In der Senneton Ausgabe der Textstelle (1549) ist die Miniatur in ein Emblem übersetzt, in dem eine veränderte Raumkonzeption den Funktionswandel vom römischen Recht zum Common Law begleitet, man mag sagen, ihn illustriert. In der Pracht des Ottobonianus ist ›Raum‹ als ganzer buchstäblich gegenstandslos. Auftritt er allein in der Form der Perspektive, die als die Eigenschaft der cathedra, des Rechts (ius) im Moment seiner Ausübung auf den Plan tritt und als Gerechtigkeit (iustitia) die blaue Fläche im 34

nen Rahmen der göttlich garantierten Rechts-Ordnung transzendiert, aus ihm heraus operiert, während das räumlich unbestimmte Blau der Fläche die Latenz des ›absoluten Raumes‹ schon zu kennen scheint und in der ›ikonischen Differenz‹ von Fläche und Raum die perspektivisch eingeschriebene Transzendenz impliziert – der ›geistige Sinn‹ der Perspektive in der mittelalterlichen Allegorese.51 Kann man hier sagen: sichtbar macht? Das wollten Maier und Hacking nicht, denn es ist auf eine eigentümliche Weise Sache des Bildes selbst, einer ihm ganz eigenen Latenz, nämlich keines Vor-Augen-Führens im Bild, sondern der diesem impliziten Schrift, deren Sitz im Leben der Rechtsprechung die illustratio als dritte Dimension augenfällig macht.

51 Friedrich Ohly, »Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter« (1958), Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, S.1–31: 15.

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Anders das Emblem, das als kongeniale Stütze des Common Law aufkam.52 Im Emblem regiert die Perspektive den öffentlichen Raum bis in die Details der juristischen Mittel. Architektur und Landschaft, Stadt und Land treten in ihr aufeinander bezogen auf; es herrscht die totalisierte Perspektive als ›symbolische Form‹.53 Die allegorischen Figuren, die entlang der symbolischen Form generiert werden, sind nach ihren Instrumenten (Buch, Waage, Schwert) more geometrico vorgeführt und symbolisch definiert durch den öffentlichen Raum. Von Latenz keine Spur; sie bedeutet nicht mehr, was für den Ottobonianus im Doppel von ius und iustitia konstitutiv und für das Rechtsempfinden vorstellbar zu machen war als Transzendenz in der Immanenz. Im Raum waltet Latenz, aber der Raum verwaltet auch Latenz, und wo das Recht im Spiel ist, ganz rigoros. Die Symbole von Recht und Gesetz liefert, exemplarisch wie in der Schrift, die Mathematik; sie bannen, was latent sein mag, geometrisch. Die Probe aufs Exempel bietet die Kunst der Embleme mit den ihr eigenen Mitteln, welche in der Rechtsanwendung jeden Anflug von Latenz absorbieren. In diesem neuen Raum taugt oder tendiert das Recht zum immanenten Terror, wie er in Bildern der Bruegel-Zeit dargestellt und als Latenz darstellbar ist. Beispiel 2: Kreuztragung Bruegels Wiener Kreuztragung (1564) gibt einen Eindruck, wie er umfassender nicht gedacht werden kann; ich zitiere die prägnante Zuspitzung von Ivan Nagel: 52 Siehe Peter Goodrich, dem ich in der Sache viel verdanke, Legal Emblems and the Art of Law: Obiter depicta as the Vision of Governance, Cambridge UK: Cambridge University Press 2013. 53 In der von Erwin Panofsky dargestellten Form, »Die Perspektive als symbolische Form« (1927), Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin: Hessling 1974, S.99–167: 101.

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»In der ›Kreuztragung‹ wird Christus zur winzigen Episodenfigur irgendwo im Mittelgrund eines Massenauflaufs, der nicht ihm, sondern den beiden Schächern gilt. Sie werden im Henkerskarren von zwei […] Mönchen begleitet. Dem unter Kreuzeslast gestürzten Religionsgründer kommt kein Trost in Kutte mit Kruzifix zu. Kurz: Die Botschaft des Bildes ist nicht die Einmaligkeit von Passion und Erlösung, sondern die Lehre: ›Der Weltlauf war sinnlos; so wird er bleiben.‹ Für das Historiengemälde eine tödliche Maxime.«54 Die Gattung der Historiengemälde, über die Nagel handelt, hat in dem Verfahren, in dem Pilatus (neben Augustus der einzige historisch belegte Name im Leben Jesu) seine Hände in Unschuld wäscht, einen historischen Angelpunkt.55 54 Ivan Nagel, Gemälde und Drama: Giotto, Masaccio, Leonardo, Berlin: Suhrkamp 2009, S.47. 55 Zuletzt ausführlich interpretiert von Giorgio Agamben, Pilato e Gesú, Roma: Nottetempo 2014; dt. Pilatus und Jesus, Berlin: Matthes und Seitz 2014.

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Bruegel hebt die Gattung aus den Angeln, indem er dem Lauf der Welt das Kreuz der Latenz einzeichnet. Es ist ein Windmühlenrad, dessen Flügelkreuz sich über allem erhebt. Aber die alles überragende Überhöhung der das tägliche Brot mahlenden Mühle auf schroffem Felsen in ihrer symbolischen Auszeichnung, hebt Nagel zu Recht hervor, ist nicht die Pointe dieses Bilds. Sie liegt in der Destruktion aller Begriffe von Geschichte, heils- oder unheilsgeschichtlich, natur- oder kulturteleologisch. Historie weist im Schatten des Auflaufs der Massen, in der Mitte des von ihren Gestalten, kaum begonnenen Gesichtern, durchquerten unwegsamen Raumes, das Kreuz als die unerkannte Signatur des Geschehens auf: als Zeichen keines Heils oder Unheils oder irgendwelchen Fortschreitens, sondern als ins Bild der Passion gepresstes, in ihm fortwährend zu entzifferndes Anagramm, das den in technischer Unschuld gekreuzten Flügeln der Mühle eingeschrieben ist, während der historische Sachverhalt der Passion selbst, schreibt Blumenberg, Stand Matthäuspassion, »der Unmerklichkeit anheimgefallen ist.«56 Thomas von Aquins wesentlich ältere, aber erst zu Bruegels Zeit offiziell rezipierte Hymne Adoro te devote (1264) drängt sich auf, wenn auch nicht auf den ersten Blick.57 Diskret, aber unabweisbar liefert sie die Termini der Latenz, die in Bruegels Bild bestimmend sind. Die Hymne 56 Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, zit. S.16, sowie 23f. 57 André Wilmart, »La tradition littéraire et textuelle de l’Adoro te devote« (1929), Auteurs spirituels et textes dévots du Moyen Age Latin, Paris: Bloud et Gay 1932, Études Augustiniennes 1971, S.361–414, ist die bis heute bedeutendste Studie dieses Textes, sie unterstreicht die aus dem liturgischen Kontext herausgehobene Distanz, die der Kontemplation in Bruegels Bild entspricht, und zeigt die offizielle Karriere des Gedichts seit dem 16.Jahrhundert, die mit Bruegel harmoniert. Sie geht der Semiotik von Port Royal voraus.

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ist  der liturgische Zeuge einer seit dem 13.Jahrhundert ausgeprägten Prozession, Corpus Christi (Fronleichnam), als deren Travestie sich der im Bild vor Augen geführte Kreuzigungszug nicht erst im Nachhinein darstellt, war er doch ihr erster Anlass. In der gebräuchlichen Fassung des Hymnus war die latens veritas der ersten Zeile – Adoro te devote latens veritas – schon früh der frommen Voreile zum Opfer gefallen, die allerdings zugleich ein gekonntes Latenzmanagement verrät. Vereinfacht zur latens Deitas statt veritas erleichterte sie das Rätsel des Wahrheits-Paradoxes, das im Chiasmus der zweiten Zeile als vere latitas nachfolgt und im Reim gelöst ist.58 Es ist die Wahrheit der Verbergung, der das Herz sich unterwirft, und – contemplans im doppelten totum – zu kompensieren ist. Adoro te devote, latens veritas, (als Auftakt ostentativ thematisierte Adresse) quae sub his figuris vere latitas, (pointierter Chiasmus der Latenz) tibi se cor meum totum subicit, quia te contemplans totum deficit. Darauf kommt die dritte Strophe zurück, die das Kreuz als Signatur der adressierten Latenz identifiziert: In cruce latebat sola deitas, (das Kreuz als thematisierte Latenz) sed hic latet simul et humanitas […] Im Kreuz allein verborgen liegt die Gottheit, die sich im geübten Gebrauch des Texts, seiner liturgischen Anwen58 Ausgabe und Kommentar von Alex Stock, Lateinische Hymnen, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2012, S.223–232: 228. Das folgende Zitat S.223. Der interpretative Kurzschluss der ersten Zeile, Adoro te devote latens Deitas, ist bereits ein Stück Latenzbewältigung des Offenbarungsparadoxes, das Thomas als latens veritas erschließt.

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dung, in die erste Zeile vordrängt. Für die individuelle devotio ist sie der Reflexionsanlass und bleibt es als Grundzug einer Betrachtung, der sich bei Bruegel die Welt beugt, wie es dem Betrachter – totum subicit – obliegt und, a fortiori in der Betrachtung des Bildes, als buchstabengetreuer meditatio der im Kreuz latenten – in cruce latebat – Wahrheit. Unter dem Flügelkreuz der Mühle ostentativ ausgeflaggt, findet sich die Latenz dieser Wahrheit im Volksauflauf des alltäglichen grausamen Strafvollzugs historisiert und als historia beglaubigt. Der von einem Mönch auf dem Henkerskarren versehene Räuber erhält, worum es allen noch allenfalls gehen kann in dieser Welt: quod petivit latro poenitens. Als eine anachrone Präfiguration ist der Schächer Rückenfigur der vorhergesehenen imitatio und der erste Anhalt einer devotio moderna, welche die ostentative Historienschau als durchkreuzte – im Bild mit den Mitteln des Bildes durchkreuzte – durchschaut und der vor das Geschehen ins Bild geschobenen Beweinung die absolute Priorität der Synchronie sichert. Der intrikaten Raum-Konstellation des seiner Perspektive entgegenwirkenden Bildes der frommen contemplatio vor diesem Bild – der Andacht gegen den Strich der Geschichte – entspricht die Synchronie, in der die historia anachronistisch zu Wort kommt.59 Es ist eine raue Rückseite, auf deren Vorderseite Thomas die Verborgenheit der Heilswirkung aus der Bildstruktur der Anbetung, des proleptischen Auftakts des Ad-oro als Gebets-Anrede begründet. Das sprengt im Bild die Gattung der Historie, hat Nagel richtig gesehen, aber er hat das de-konstruktive Antidot unterschätzt, das Bruegel mit ins Blickfeld geschoben hat: die aktualisierende Anachronie

59 Alexander Nagel und Christopher Wood (welch’ letzterem ich viele Anregungen verdanke), Anachronic Renaissance, New York NY: Zone Books 2010, hier S.33f.

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der ins Bild eingeblendeten Beweinungsszene, hinter der sich die Totale der Landschaft auf das historische Kreuzigungsgeschehen hin öffnet, um vor diese das akut vergrößerte Jetzt der Beweinung zu schieben. Die Pfähle der in den Raum hineinführenden, ihn zerschneidenden schnurgeraden Reihe der Hinrichtungsräder weisen an der zeichenhaften Präsenz des Kreuzes in der zur Gänze unscheinbaren Wirklichkeit der Kreuztragung (des unter dem Gewicht des Kreuzes Zusammengebrochenen) eine unmerkliche Differenz auf: die von res und signa, einer von Augustinus instituierten Dichotomie, die Thomas im Begriff der latens veritas entkräftet, und a fortiori tut es Bruegel. Darin liegt die semiotische Pointe des Bildes qua Bild.60 Was immer sonst noch Botschaft und Lehre bei Nagel sein mögen, der Inbegriff der frommen imitatio, den Bruegel mit der Beweinung vor den Kreuzigungszug geschoben hat, hebt die anachronistische Erzählung der Passion, ihre Verlegung in die zeitgenössische Neuzeit, von der Historie des Neuen Testaments in die Gegenwart der Andacht, mentis interior devotio, späterer Zeiten. Sie gilt der Beweinung der nicht länger unter dem Kreuz Stehenden, ganz ohne Kreuz dem entfernten Golgatha den Rücken Zukehrenden, den in ihre Trauer Versunkenen: »those women, who pinned desire onto the eucharistic flesh of the crucified Christ«, hat Miri Rubin das Motiv getroffen (ohne dieses Bild einzubeziehen).61 Der Anhalt der Kontemplation entspricht und antwortet der Latenz des ins Bild gesetzten Wortes, dessen paradoxe Struktur die arbiträre Signatur des Kreuzes als latens veritas zu lesen gibt, nihil veritatis verbo verius, indessen die Sinne versagen, visus, 60 Marie-Dominique Chenu, Introduction a l’étude de Saint Thomas d’Aquin, Paris: Vrin 1950, S.48f. 61 Miri Rubin, Corpus Christi: The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge UK: Cambridge University Press 1991, S.263ff.

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tactus, gustus in te fallitur. So die zweite Strophe, deren negativ-ästhetische Pointe in der ausgestellten Verborgenheit der Hostie, der ostentativen Elevation im Fronleichnams-Zug (das wäre die szenische Implikation) des verwandelten Corpus Christi liegt.62 Der methodische Wert von Thomas’ Text, seine theoretische Errungenschaft, liegt in den termini der Darstellbarkeit, die Bruegels Bild voraussetzt: die ihm vorausgehen, auch ohne dass er sich (dessen Intellektualität unterschätzt wird) bewusst darauf bezogen haben muss. Das theoretische Konstrukt des Thomas ist bewundert worden, aber die poetische Dichte der Bezüge ist in ihrer Reichweite, solange nur ihre dogmatische Pertinenz zählte, von Grund auf unterschätzt worden.63 Die Latenz des Adoro te devote ist primär sprachlicher Natur, der gegenüber die Heilssymbolik der erinnerten, narrativ bewährten signa (exemplarisch hier des Kreuzes) als theologische Verdeutlichung gilt, was indessen den Kern der Sache auch bei Thomas selbst nicht trifft. Bruegel inszeniert die ostentative Logik (das Windrad der Mühle, die Räder auf den Pfählen) nicht auf Kosten der tieferen Wahrheit, die sich der frommen Trauer darbietet. Die Latenz des Verborgenen ist die keines Gottes, sondern von dessen abstractum, der deitas, die der humanitas des Menschensohnes homolog ist – latet simul et humanitas – und von ihr nicht auseinander zu halten ist. Das ist die Para-Doxa des im Bild zu Betrauernden. Das Bild zeigt den zu Tode gekommenen Menschen, dessen

62 Vgl. Louis Marin, »La parole mangée ou le corps divin saisi par les signes« (1982), La Parole mangée et autres essais théologico-politiques, Paris: Klincksieck 1986, S.11–35; tr. Mette Hjort, Food for Thought, Baltimore MD: Johns Hopkins University Press 1989, S.3–25. Ebenso Le portrait du roi, Paris: Minuit 1981, S.147ff. 63 F.J.E. Raby, A History of Christian-Latin Poetry, Oxford: Clarendon Press 1927, 1953, S.405ff.

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Gottheit ostentativer Latenz paradox anheimgegeben, deshalb aber nicht weniger glaubwürdig ist. Im Gegenteil, der Glaube und was von ihm nach der Ahnung und gewachsenen Einsicht von Gottes Tod geblieben ist, ist am Bild gewachsenes, im Bild bezeugtes Sehen: »dans le voir« unterstreicht Louis Marin den Stand der Dinge.64 Beispiel 3: Markuswunder Die Gleichursprünglichkeit von Theater und Gericht als öffentlichen Räumen ist von den ersten tragischen Anfängen, der Göttin Themis der griechischen Tragödie an strukturbildend, aber die Frage ist offengeblieben, wie die Parallele zu Buche schlägt als dramatische Szene. Bei Shakespeare ist dieser Bezug durchgehend reflektiert.65 Ihn hatte gleichzeitig mit dem Lyoneser Corpus Iuris Tintorettos Gründungswunder von Venedig in eine städtische Szene versetzt, an der deutlich wird, was den Ottobonianus von Senneton trennt. Tintorettos Getümmel ist bekannt, und das über die Kunsthistorie hinausgehende Interesse an diesem »Wunder des Markus« ist so überwältigend wie die dargestellte Überwältigung. Jean-Paul Sartre hat Bild und Ort so nachhaltig besetzt, dass es nicht leicht ist, das Latenzwunder der Rezeption außer Acht zu lassen.66 Ich beschränke mich auf die Andeutung, die auf die neuzeitliche Wende in der LatenzBearbeitung der Kunst hinführt, Shakespeares Theater. 64 Louis Marin, Détruire la peinture, Paris: Galilée 1977 / Flammarion 1997, S.138. Dazu mein Kommentar »To Destroy Painting: The Baroque Caesura of History« (2006), Productive Digression: Theorizing Practice, Berlin: De Gruyter 2017, S.156–170: 164. 65 Stellen-Überblick bei Quentin Skinner, Forensic Shakespeare, Oxford: Oxford University Press 2014. 66 Jean-Paul Sartre, »Saint Marc et son double« (1961), éd. Michel Sicard, Obliques, nº 24–25 (Nyon 1981), S.171–202. Dazu Pierre Campion, »Sartre à Venise: Le séquestré du Tintoret«, Les Temps modernes, nº 667 (2012), S.12–30.

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Worauf beruht der Modus der Dramatisierung, der in Tintorettos Bild der Bühne Shakespeares vorarbeitet, wie John Ruskin, Begründer der Venedig-Rezeption des 19.Jahrhunderts, zuerst gesehen hat? Die emblematische Kulisse von Sennetons Transposition von Iustitia et Ius bot dasselbe (ikonographisch variable) architektonische Setting: den Bogen der Concordia, der im Emblem als Standard auftritt, steht bei Tintoretto im Hintergrund. Der Schauplatz ist theatralisch erweitert auf ein Publikum hin, aus dem ein einzelner Betrachter am linken Bildrand zu sehen ist, der an einer die Bühne begrenzenden Säule gerade noch mit ins Bild kommt. Er steht außerhalb der Szene, die in wilder concordia discors, großem Durcheinander von Körpern, die nie als ganze zu sehen sind, auf die Intervention des Gründungsheiligen reagieren, der wie ein deus ex machina ins Bild stürzt, um dem dargestellten Justiz-Akt ein Ende zu bereiten. Die Instrumente von Strafe und Folter sind auf einen Schlag zerbrochen, so wie es die un44

tige Gemeinde ist, deren Exponent der ins rechte Abseits gerückte Richter ist. Die Assoziation von Iustitia und Concordia, des Triumphs der Iustitia im Bogen der Concordia, ist der Gemeinplatz, den Lorenzetti im Palazzo Pubblico von Siena berühmt machte: »un idéal de justice sociale qui conjure le conflit sans l’annuler«.67 Die Formel Opus Iustitiae Pax, Teil des englischen Krönungsritus, benannte die von alters überkommene Voraussetzung; sie ist ein implizites Motto der Bühne Shakespeares.68 Es ist nicht ausgemacht, was der Betrachter vom linken Bildrand aus wirklich sieht oder zu sehen gedacht ist: die Szene, die Aufführung oder das auf Bühnen-Distanz gebrachte Bild selbst. »Chaos is come again« in Othellos Venedig, »something rotten« in Hamlets »state of Denmark« – Tintoretto ist wie ein Blueprint für Shakespeares Theater. Er exponiert die Latenz-Schwelle zu Shakespeare, von der aus die Urszene des Theaters sich nicht als ›Einbruch der Zeit‹ ins Spiel (Carl Schmitt anlässlich Hamlets), sondern als Erinnerung unvordenklich unvollendeter Gegenwarten von Vergangenheit zeigt: als akute, ins Akute geschärfte Ungegenwart. Die Zeit der Bühne ist Latenzzeit, und Shakespeares Domäne die tragische Latenz, die in seinen tragical histories als institutionen-begründender und institutionen-fortschreibender Beweg-Grund auf Darstel-

67 Patrick Boucheron, Conjurer la peur, Sienne 1338: Essai sur la force politique des images, Paris: Seuil 2013, S.191. Vgl. Rosa Maria Dessì, Les spectres du Bon Gouvernement d’Ambrogio Lorenzetti: Artistes, cités communales et seigneurs angevins au Trecento, Paris: PUF2017, S.290ff. 68 Zu Lorenzettis Allegorie und der zwiespältigen Herkunft des Paars Pax und Iustitia, prominent bei Cicero in der römischen Prägung der concordia (De re publica 1.49), Hasso Hofmann, Bilder des Friedens oder Die vergessene Gerechtigkeit, München: Siemens-Stiftung 1997, 2008, S.18–20.

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lung drängt.69 Dass der Ort der Geschichte die Synchronie der Gegenwart ist (Saussure), befördert die Synchronie der Bühne von der narrativen Diachronie in die sprachlich ausagierte Diachronie (Shakespeare). Das Oxford English Dictionary, das mit dem von Shakespeare etablierten Wortschatz einsetzt, ist zugleich ein Monument der von ihm zur Sprache gebrachten Latenz. Beispiel 4: Othello Othello ist unter Shakespeares Stücken der eklatanteste Fall und der verkannteste dazu. Der Plot ist der einfachste und so bekannt, dass man ihn nicht zu referieren braucht. Er ist die pure Latenz. Desdemona wird von Othello der Untreue verdächtigt, nicht obwohl sie über jeden Verdacht erhaben ist, sondern weil sie dem universellen Verdacht weiblich verkörperter Latenz unterliegt. »Chaos is come again«, bemerkt Othello (3.3.92) in dem dramatisch entscheidenden, aber so gut wie unmarkierten Moment, in dem das Drama unversehens kippt und das Unglück seinen tragischen Lauf nimmt. Desdemona hatte eben mit Emilia die Bühne verlassen, auf Bitten Othellos, der einen, wie sich herausstellen wird, fatalen Wunsch Desdemonas nicht umstandslos erfüllen wollte – »the plot thickens«, sagte der ShakespeareBewunderer Dryden in solchen Fällen. Desdemona hatte die Bühne nicht ohne deutliche Irritation verlassen: »Be as your fancies teach you«, sagte sie uneinsichtig, denn es ging ihr nicht um eine belanglose Gunst, sondern um die erste wichtige Entscheidung ihres Mannes, des neuen Gouverneurs auf Cypern: »Whate’ver you be, I am obedient«,

69 Ich verweise auf Grundzüge meiner Darstellung Shakespearean Genealogies of Power, London: Routledge 2010, in der das hier angebahnte, im Folgenden ausgeführte Othello-Beispiel noch fehlt.

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schließt sie grollend eher denn gehorsam (3.3.88–89). Sie fügt sich unter Protest, was ihr gutes Gewissen in der unversehens über sie hereinbrechenden Tragödie zwar beweist, aber zugleich die situative Kontingenz bestärkt, die hinter ihrem Rücken von dem Intriganten Iago auf die Spitze getrieben wird. Es ist nur ein kurzer Augenblick, in dem der brüskierte Othello zu einem abgebrochenen und dann unterbleibenden Selbstgespräch ansetzt, das mit Iagos unbemerktem Eintreten – »My noble lord […]« – abbricht, um auf dessen Anrede hin, noch in Gedanken an Desdemona, nachzufragen: »What dost thou say, Iago?« (3.3.93). Es sind nicht mehr als drei Sätze, ein Nachgedanke, der ansatzlos eingefaltet ist in den Handlungsablauf, und doch von mehr als illustrativer Bedeutung: Excellent wretch [!] Perdition catch my soul [,] But I do love thee [!] And when I love thee not [,] Chaos is come again. (3.3.90–92) 70 Welches Chaos? Und wieso kehrt es wieder? Verlief das Leben des Generals vor der Ehe im Chaos, aus dem ihn die  Frau gerettet hätte? Für den philologischen common sense liegt auf der Hand, »the tempter has to begin all over again«.71 Die Oberfläche scheint einfach, sie oszilliert zwischen umgangssprachlicher Ungefährheit und dunkler Hintergründigkeit. Als blitzartige Ahnung dessen, was der unbemerkt eingetretene Iago zu sagen hat – »What dost thou say, Iago?« – verkörpert diese Szeneneinlage eine

70 William Shakespeare, Othello, hg. v. E.A.J. Honigmann, Arden Shakespeare, 3rd Series, Walton-on Thames: Thomas Nelson 1997, S.214. M.R. Ridley gliederte in seiner Ausgabe der 2nd Arden Series, London: Routledge 1958, S.98, durchgehend mit Kommata, wo Honigmann durch Ausrufungszeichen skandiert. 71 Standard-Kommentar seit A.C. Bradley, Shakespearean Tragedy, London: Macmillan 1904, S.435.

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technische Errungenschaft Shakespeares. Empson sagte, er ›pflanze‹, was sich in der Folge sprachlich auswächst.72 Dafür ist das implizite Futur – »will have come again« – Symptom, das im »is come again« anklingt. Tatsächlich ist es der Eingang von Ovids Metamorphosen, in denen das Chaos als das erste aller Paläonyme auftritt. Vor dem Chaos als Hintergrund gewinnt das Formprinzip der mutatio – mutatas dicere formas (Zeile 2) – ein mythisches, paläologisches Profil. Gleich nach den ersten vier Zeilen von Ovids Prooemium – In nova fert animus – kommt er auf die vorhistorische Vorgabe des Projekts der Metamorphosen zu sprechen: Ante mare et terras et quod tegit omnia caelum unus erat toto naturae vultus in orbe, quem dixere chaos […] (1.5–7) Was man Chaos nennt – quem dixere chaos – kann Ovid nicht anders als einen unvordenklichen Zustand nennen, in dem die Natur unterschiedslos den immer selben eintönigen Anblick bietet – unus erat naturae vultus – und ihn zitieren als eine unersetzliche Chiffre, deren mythisches Substrat er als dem Chaos abgewonnenes Terrain kultiviert: me Chaos antiqui – nam sum res prisca – vocabant (Fasten 1.103). Die etymologische Leere des gähnenden Abgrunds, den das Chaos als Fratze – vultus – onomatopoetisch bezeichnet haben mag, weist auf die absolute Latenz hin, die Ovids Mythenbearbeitung in den Metamorphosen zu bändigen sucht. Was wäre Othello im Angesicht des Chaos, was die Darstellungsabsicht Shakespeares am Wendepunkt des Othello?

72 William Empson, The Structure of Complex Words (1951), kommentierte Neuausgabe von Jonathan Culler, Cambridge MA: Harvard University Press 1989, S.68.

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Caroline Spurgeon kam in ihrer Übersicht über Shakespeare’s Imagery zu dem Ergebnis, »that the real opposite of love in the Shakespearian vision is not hate but fear«.73 Die primordiale Absolutheit des Abgrunds der Furcht gäbe das Motiv für »Chaos is come again« in Othello ab. So dass sich die Frage verschärft, ob es nur ein allegorischer Schlenker wäre, mit dem Shakespeare in der ›domestic tragedy‹ des Othello den Haushalt der Latenzen, des oikeion, zurückbände an einen Kosmos, in dessen Ordnung der Logos der Tragödie seine mythische Vorgegebenheit auf die Bühne und zur Wirkung bringt. Das wäre nahe an der bürgerlichen Rezeption des Stücks seit dem 18.Jahrhundert: Othello, der maurische Legionär, fiele der Komplexität der Eliten oder den avancierten städtischen Verständigungsverhältnissen zum Opfer, für die Venedig den notorischen Schauplatz abgab, und deren abgründige Vertracktheit den ›mittleren Charakter‹ eines Iago in seiner ganzen bösartigen Selbstüberschätzung zu der Allegorie des ›absolute evil‹ werden ließ, die ihm die Rezeption seither abgewinnt. Innerhalb des nie idealen oikeion schlüge die mythische Latenz, das nie bewältigte vorzeitliche Chaos durch: so Ovids durchgehende, eintönige Moral bis hin zu Heiner Müllers Shakespeare. Doch ist das nicht alles, ist eher die philologisch geschulte Latenzabwehr gegenüber der Pointe eines Dramas, dessen Tragik so gut wie dahin wäre – das Iago als Regisseur der Ereignisse für sich entworfen hätte samt dem Perspektivzwang, dem sich der Zuschauer wider Willen und jede Evidenz unterwirft. In die Dichte des von Iago undurchsichtig betriebenen Plots wirft das Chaos ein Schlaglicht. Denn die dramatische Beschleunigung, die Iagos Pro73 Caroline Spurgeon, Shakespeare’s Imagery and what it tells us, Cambridge UK: Cambridge University Press 1935, S.154.

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jekt verlangt (und die Rückseite der teuflischen Maske ist), verdeckt den Sachverhalt, dass der Zeitmangel, der die Bühne regiert, für den insinuierten Ehebruch keine Zeit ließ, ja dass selbst für den Vollzug der Ehe keine Zeit geblieben war. Ob sie je vollzogen wurde vor dem grausamen Ende der Desdemona, steht dahin und lässt die von Iago losgelassenen Phantasmen am Ende des Stücks auf ewig im Raume stehen. Stanley Cavell hat deshalb diesen Ausgang als eine Allegorie des philosophischen Skeptizismus gelesen, in dem die ordinäre Erfahrung der Welt an der verlorenen Verbindlichkeit der sprachlichen Vollzüge leidet. Seine penible Nachkonstruktion des Falls Othello führt in Abgründe, die bis heute unbeantwortet sind. Sie gehen weit über die krasse, nekrophile Zumutung hinaus, in der Othello den Aufschub des Vollzugs für die vollendete Tatsache des unmöglichen, nicht-vollzogenen Betrugs nimmt und mit unerhörter, perverser Gewalt überwindet: Be thus, when thou are dead, und I will kill thee, And love thee after. (5.2.18/19) »And love thee after« in totgestellter, im Leben nicht zu haltender Unschuld. Der nekrophile General zeigt sich zum sexuellen Vollzug nur am getöteten Objekt der Begierde imstande. Im Dickicht der sprachlich ›gepflanzten‹ Vermutungen, unter denen die kompakte Schale der Ereignisfolge in ihrer zeitlichen Konfusion zerbricht, jagt eine Frage die andere: War Desdemona eine Frau mit Vergangenheit, wie man es den Venezianerinnen nachsagte, eine üble Nachrede, die Emilia (4.3.85 – 102) in ihrer Anklage der herrschenden Geschlechterverhältnisse gegen die homosoziale Bande der Jungs vom Schlage Cassios und Iagos fast kindermundartig vorbringt? Platter, aber als roter Faden eingewebt in die Geschichte, ist die Frage Cavells: »were the sheets stained 50

or not? Was she a virgin?«74 Wäre ihr Tod, hätte sie wirklich betrogen, untragisch, wäre er verständlich, gerechtfertigter? Oder war, dem semantischen Material eingeschrieben, Des-demona eine Hexe, die wie Me-dea den simplen Fremden mit witchcraft betört hätte? So der anfängliche Verdacht von Desdemonas Vater, den Othello als unbegründet abweist, der in seinem eigenen Verdacht aber wiederkehrt. Nirgends verdichtet sich die in Lug und Trug lauernde Opakheit mehr als in Desdemonas Unschuld, und nirgends ist das Böse ein überzeugenderer Effekt als in Iagos äquivoker Doppeldeutigkeit. Was Othello mit Ovids Chaos in den Mund gelegt wird, als wäre es Vorahnung, betrifft eine Vorbedingung der theatralischen Darstellung und ihres tragischen Ausgangs, der das Publikum wie die dramatis personae unterliegt. Und das nicht sub specie aeternitatis des Jüngsten Gerichts, das die Zeugen mit der hilflos vorauseilenden Androhung unendlicher Folter dem Bösen an den Hals wünschen, sondern vis à vis der vorzeitlichen Bedrohung des Chaos, das die dereinst kosmisch garantierte Verbindlichkeit des sprachlich Gegebenen bedroht. All das indessen nicht, weil der alte Kosmos im neuen Weltbild zur überholten Ordnung geworden wäre, sondern umgekehrt, weil die alte Ordnung immer schon als von unvordenklicher Vorzeit einholbar gedacht war. Insofern läge Cavell vielleicht richtig mit dem extremen Schluss: »they are [both, Othello and Desdemona] gone to burning hell’« – wie Paolo und Francesca, die in Dantes herzzerreißendem Inferno dem gemeinsamen Schicksal ihrer verfehlten Liebe verfallen sind. Was im Chaos Ovids an be74 Stanley Cavell, Disowning Knowledge in Seven Plays of Shakespeare (Six Plays 1987), Cambridge UK: Cambridge University Press 2003, S.135. Auch schon Stephen Greenblatts Othello-Kapitel, Renaissance Self-Fashioning, Chicago IL: Chicago University Press 1980, S.252.

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weglichen Gestalten, corpora, andrängt, ist die in Othello nicht zu beruhigende Furcht, die seiner Nekrophilie entspricht und entgegenkommt. Sie gleicht der Hamlets und heißt – C.S. Lewis’ bedeutende Einsicht – »the fear of being dead«.75 Eine Seinsweise, die das Nachbild mythischer Latenz zur Zukunft macht und Othellos Eifersucht als historisch-bewegliche Allegorie, theatralen Schein – la donna è mobile – auftreten lässt. Beispiel 5: Werther Die sprachgeschichtliche Errungenschaft des spezifisch bild-dramatischen Raumes ist wenig aufgeklärt, die bildliche Ausformung in der Sprache schon eher. Man denke an  die Schlussszene des ersten Teils der Leiden Werthers (1774). August Langen hat die Entwicklung der Anschauungsformen vor Goethe als erster verfolgt, und er zitiert als Beispiel für die Errungenschaft der ›Rahmenschau‹ das Gedicht »Die Allee« des im Irdischen Vergnügen in Gott zufriedenen Dichters Barthold Heinrich Brockes, dort im achten der neun Bände seines beliebten Werks erschienen (1746), ein sehr langes Gedicht, das aber durch poetologisch prägnante Einlagen besticht.76 Erblickt man einen grünen Gang (thematisierender Auftakt des Er-füllens), Des Seiten Linien so lang (perspektivische Blickführung in Er-blicken),

75 C.S. Lewis, »Hamlet: The Prince and the Poem« (1942), Selected Literary Essays, hg. v. Walter Hooper, Cambridge UK: Cambridge University Press 1969, S.88–105: 99 (meine Hervorhebung). 76 August Langen, Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18.Jahrhunderts: Rahmenschau und Rationalismus, Jena: Eugen Diederichs 1934, S.42.

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Daß die darob fast müden Augen Gespitzt mit Müh’ ihr Ziel zu finden taugen. Des grünen Kerkers holde Länge Treibt den gefangnen Blick in eine schöne Enge. Man sieht, warum Brockes und seine Zeit Alleen liebten: sie thematisieren den Vollzug der Anschauung im Raum. Brockes und nach ihm wie selbstverständlich Goethe schaffen Raum in der Sprache, machen ihn zum Teil des Sprachsystems, wovon der Sprachgebrauch lebt – eine heute kaum mehr auffällige Errungenschaft. Das Ende des ersten der beiden Teile des Werthers führt auf kunstvolle Weise vor die sprachlich trainierten, gefangen genommenen Augen und zeigt, was das an Latenz-Management bedeutet. Dem berühmten Vorbild der Julie in Rousseaus Nouvelle Héloise folgend (1761), präfiguriert das Ende der ersten Hälfte des Werthers (des Textes) das zweite, endgültige Ende von Werthers (des Helden) eigener Hand. Sie [Lotte und Albert] gingen die Allee hinaus, ich stand, sah ihnen nach im Mondscheine und warf mich an die Erde und weinte mich aus und sprang auf und lief auf die Terrasse hervor und sah noch dort unten im Schatten der hohen Lindenbäume ihr weißes Kleid nach der Gartentür schimmern, ich streckte meine Arme aus, und es verschwand [letzter Satz des ersten Teils]. Brockes’ Rahmenschau hatte, indem sie die Anschauung gefangen nahm und den Blick »in eine schöne Enge« trieb, in dieser Enge – angusti fastigia coni ist die Lukrez’sche Formel, die Brockes und Goethe vertraut war (De rerum natura 4.426–31) – die Latenz sinnen-übergreifend fühlbar gemacht.77 Werther vollführt eine Sprach-Pantomime: »Sie 77 Karlheinz Lüdeking hat kürzlich Versuchung und Versagung in den Landschaften von Claude Lorrain, München: Siemens Stiftung 2020,

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gingen / ich stand / sah ihnen nach / und warf mich / und weinte  / und sprang auf  / und lief  / und sah noch«. Die Staffelung reiht sich wie Baum an Baum einer Allee. Das ist keine Mimesis an Dargestelltes, sondern syntaktisch erschlossener Raum, in dem Brockes’ Gedicht sein vergnügliches Ergehen findet in einem Gott, der die Koinzidenz von Sprachstruktur und Schöpfung in der Synchronie begründet hatte und sich in ihr naturhaft beweist. Goethe erkennt den Raum als den illusions-anfälligen LatenzRaum, als den ihn Saussure beschreibt, und entwickelt ihn zur Darstellung von Latenz. Der Übergang von der impliziten Raum-Latenz und ihrer In-Szene-Setzung in einer expliziten Darstellung von Latenz machte Epoche. Im Werther ist er mit der Darstellung dessen verbunden, was in der Psychoanalyse ›De-personalisierung‹ heißt. In ihr zeigt sich, was in der exegetischen Tradition einmal Präfiguration hieß, als Latenz, und die Latenz des Todes erweist sich als die Krankheit zum Tode, die Kierkegaard frei nach dem Werther zitiert hat (1849). Die passio adolescentis in Werthers Leiden präsentiert die fortdauernde Latenz des im Text gänzlich ungegenwärtigen Christusbildes der Pas-

S.12–29, über Goethes Faszination von Lorrains künstlichen, kontrafaktischen Raum-Staffelungen auf die Latenz (ergänze ich) der »Struktur der Doppel-Bindung« in der »romantischen Liebe« hinauslaufen sehen (S.91), und zwar (verlängere ich für den vorliegenden Zweck) als Allegorie der Darstellung. Zur historischen Karriere des Lukrez John White, The Birth and Rebirth of Pictorial Space, London: Faber and Faber 1957, S.256ff. Die romantische Auflösung und Verselbständigung des LatenzRaums in einen durch Licht, Ton (Vogelsang) und Bewegung bestimmten, von Latenzen befreiten, befriedeten Stimmungsraum hat Richard Alewyn in einem zurecht als bahnbrechend berühmten Aufsatz „Eine Landschaft Eichendorffs“ (1957) beschrieben, Probleme und Gestalten (Frankfurt am Main: Insel 1974 / Suhrkamp 1982), S. 203-231: 208 ff. Latenz ist nicht Stimmung, diese mag aber auf Latenz reagieren, so wie Landschaft Raum erfüllt und neutralisiert.

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sion, indem sie es forciert und im Verschwinden – »und es verschwand« – das Schimmern der Struktur bewahrt.78 Beispiel 5: Lucretia Das Schimmern des Verschwindens war Husserls erste Beschreibungsahnung der Latenz: »wie er die Tiefe des Raumes am Phänomen des Entschwindens der Sache beschreibt« ist die präzise Pointe, die Blumenberg der dort impliziten, »gewesenen Anwesenheit« gibt.79 In Bildern liegt die Sache, so offenkundig sie sein mag, etwas komplizierter. Ich wähle ein mit Latenzen überfrachtetes Beispiel, das Exempel der Lucretia, das Livius an den Anfang der römischen Republik gestellt hat. Den Höhepunkt als exemplum einer exemplarischen Geschichtsauffassung, die mit Livius’ Werk begründet wurde, erlebte diese Lucretia in einer Parallelaktion, von der ich nur die eine Hälfte behandele, Rembrandts Lucretia (1666), und die andere, Shakespeares Lucretia (1594) im Hintergrund lasse. Das Bild kennen Sie; es ist das, was eine Reise nach Minneapolis, Minnesota, lohnt. Bei wenigen historischen Erzählungen macht die Suche nach anderen Versionen so wenig Sinn wie bei dieser.80 Sie ist Livius’ Einfall, der Schlüssel zu seiner Geschichte Roms, das Paradigma, nach dem ein exemplum römischer Tugend zu statuieren ist – mit vielen Implikationen, unter denen es hier auf die Frau als Vorbild von Mann-haftigkeit (vir-tus) ankommt; alternativ steht bei Augustinus der Sündenfall 78 Auf die lateinische Unterlage der Anspielung hat Herbert Schöffler hingewiesen, »Die Leiden des jungen Werther« (1938), Deutscher Geist im 18.Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1956, S.155–181: 167. 79 Hans Blumenberg, Phänomenologische Schriften 1981–1988, Berlin: Suhrkamp 2018, S.318–319 (meine Hervorhebung). 80 Robert Maxwell Ogilvie, A Commentary on Livy, Books 1–5, Oxford: Clarendon Press 1965, S.218.

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Evas. Was bei beiden interessiert, ist die Latenz, die bei Livius an allen Ecken so gut es geht weggeschnitten ist, während der Raum nur als erzählter, nicht als dargestellter eine Rolle spielt (der Plot verlangt große Strecken, die in der Nacht zurückgelegt werden). Stattdessen spricht im Erzählten das exemplum durch den Mund der Heldin selbst und weist jede Latenz ab, nimmt sie auf sich und mit ihr die Entschuldung der um sie stehenden Mannschaft: mentem peccare, not corpus – nicht der Körper sei wichtig und folglich, wo keine Absicht, sei keine Schuld: unde consilium afuerit, culpam abesse. Darauf folgt in evidenter Unschuld ihr Selbstmord unter dem Entsetzensschrei – unisono vir paterque – des umstehenden Männer-Chores: Vos, inquit, videritis quid illi debeatur: ego me etsi peccato absolvo, supplicio non libero, nec ulla deinde inpudica Lucretiae exemplo vivet. Cultrum quem sub veste abditum habebat, eum in corde defigit prolapsaque in vulnus moribunda cecidit. Conclamat vir paterque. […] (Ab urbe condita 1.58) Lucretia unterwirft sich der Sühne durch den Tod (supplicium im strafrechtlichen Sinne), um ein geschlechterpolitisches Exempel zu statuieren: auf dass sich keine Frau je auf sie berufen und eine Schande wie diese überleben könne: nec ulla deinde inpudica vivet. Der intrikate Sinn dieser an Prägnanz kaum zu überbietenden Sätze ist, so eindrucksvoll sie sind – der Akt der Sühne als exemplarische Performanz – kaum zu ermessen. Ihre gnadenlose Denunzierung durch den in diesem Punkt ganz unheiligen Augustinus hängt an einem verräterischen Detail, das in der lapidaren Präzision des Textes so ins Auge sticht, wie er es bei Rembrandt tut, dort getan hat (das ist seine syntaktische Anknüpfung): der Dolch, cultrum, der in ihrem Kleid versteckt ist, das die Spur des Stichs zeigt – cultrum sub veste 56

abditum – und, der infamen Lektüre des Augustinus zufolge, wenn schon, dann schon vorher, der Gewalttat zuvorkommend, an seinem Platz gewesen sein müsse (Civitas Dei 1.19). Mit anderen Worten, insinuiert der Kirchenvater, wusste Lucretia als Römerin am heimischen Herd, wovon sie sprach. Das geschlechterpolitisch herauspointierte Fundament der auf ihrem Exempel gegründeten Republik ist Augustinus ein Dorn im Auge: als Stachel einer civitas terrena, deren Tugend (virtus) im Lichte der civitas Dei als ein weltlich hypokrites, falsches Bewusstsein zu entlarven ist. Im Sachverdacht der so oder so zu begegnenden Latenz des Sündenfalls, der die Republik des Livius ein grausames, kaum humanes, nach dem Gründungshelden Brutus auf ewig als brutal bekanntes Rechtsempfinden als Barriere entgegensetzte, sind sich Livius und Augustinus über die Zeitenwende, die unbemerkt ins Land gegangen ist, einig, 57

oder sie sind sich doch, Livius im Unbehagen, Augustinus im Widerspruch, nahe. Livius’ Formel mentem peccare, non corpus ist ein erstaunlicher ›Modernismus‹ und als solcher zu Recht bewundert worden, er spielt Augustinus in die Hände. Prompt spricht der von Latenz, latente consensione (1.19.32), was der alt-römischen Mentalität kaum eingefallen wäre.81 Aus dieser Nähe, in die Livius’ Darstellung umgehend gerät, erwachsen in der Folge der Todesurteile, die Brutus an den eigenen Söhnen aufgrund des Exempels der Lucretia vollstrecken lässt, die Not und Notwendigkeit eines neuen Latenz-Managements. Als literarische Form erreicht diese Konsequenz in den arcana domus als arcana imperii bei Tacitus eine erhebliche politische Pointierung, an welche Shakespeare in seinen Historical Tragedies anschließt.82 Was die assoziierte Bilderwelt angeht, beschränke ich mich auf die Darstellungshinsicht des Livius, die der Anti-Römer Augustinus als terrenen plot ad absurdum geführt sieht – was Rembrandt für die Juristin Marie Theres Fögen, indem sie sich der von Livius vertretenen Staatsräson fügt (das tun Juristen von Berufs wegen und hat ihnen in der Kritik der Gewalt Benjamins eine vernichtende Kritik eingetragen), »zu einem nur schwer erträglichen Bildnis« macht.83 Frau Fögen war die Latenz des »Morschen im Recht« zuwider; sie nimmt in Rembrandts Rück81 Darauf weist der Kommentar der Bibliothèque Augustinienne hin, La cité de Dieu I–V (Oeuvres de Saint Augustin 33), 4e éd. B. Dombart, A. Kalb, Paris: Institut d’Études Augustiniennes 2014, S.252, Anm.1. Das ins Himmlische zu wendende Übergangsbegehren, hat Peter Brown gezeigt, ist die römische gloria und nicht die virtus, die sich an ihr aufrichtet, Augustine of Hippo, Berkeley CA: University of California Press 1967, S.310. 82 Vf., »Acta et Arcana: Latency Management and the Law«, Law Text Culture 22 (2018), S.39–52: 43–45. 83 Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten: Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S.49.

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gang auf Livius Anstoß an der Latenz eines von Grund auf ver-dorbenen Rechts (ius), das die Möglichkeit von Gerechtigkeit (iustitia) bedroht.84 Schwer erträglich ist Rembrandts Bild nicht nur wegen der Ästhetisierung der juristischen Sachlage (ein Vorwurf, den sie teilte mit Augustinus), sondern wegen der von Livius mit der größten Kunstfertigkeit gebannten Latenz. Ich tendiere dazu, das Unbehagen an diesem schlecht erträglichen Kapitel als eine bei Livius selbst latente, im Exempel auf Dauer gestellte und in die Gestalt der Lucretia eingeschriebene Spur aufzufassen. Als Historiker bannt Livius Latenz, als Literat bewahrt er sie in der Schrift. Die Widerstände von Augustinus bis Fögen können das nur bestätigen. Ein Auftauchen größter Labilität in Bildern, deren Aufforderungscharakter zur verdrängenden Übermalung neigte. Rembrandt ist in der Flut der Lucretien die erschütternde Ausnahme, die dem Begriff der Darstellung eine neue, im Bild vollendete Dimension eröffnet: die Dimension der in Livius’ Geschichte nicht zu bewältigenden, im exemplum nicht restlos überspielten, historisch reflektierten, überlieferten Latenz. Es verkündet nicht Tugend, es bannt Latenz; entsprechend lautet die Etymologie des altdeutschen ›bi-spel‹ nach dem englischen ›spell‹. Rembrandts Bild voll-endet die Texte, die in sie eingegangen sind (Livius, Augustinus, auch Shakespeare), indem er das Anhalten der Latenz erfasst und an der Stelle einer Moral von der Geschicht ausstellt. Es stellt die Latenz als andauernde aus. Livius’ Erfindung einer exemplarischen Geschichtsschreibung beschränkte sich in der von Saussure wahrgenommenen und theoriefähig gemachten anagrammatischen Tra-

84 Walter Benjamin, »Kritik der Gewalt« (1921), Gesammelte Schriften, Bd.II, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, hier S.188. Vgl. Vf., Latenzzeit: Wissen im Nachkrieg, Berlin: Kadmos 2004, S.158.

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dition auf einen anti-bildlichen Typ von Verräumlichung, der in der Prägnanz der Syntax liegt und dramatisch begleitet ist von plot-bedingten Ortswechseln. Die narrativ begrenzte, ausgefeilte Askese galt noch für Tacitus, eignete sich aber, wie Shakespeare zeigt, zur Nach-Dramatisierung und rhetorischen Kolorierung. Das hatte Rembrandt hinter sich. Der zitat-reife »Dolch im Gewande« aus Schillers Ballade vom Tyrannenmord in Syrakus trägt das ganze Gewicht der Augustinus-Kontroverse: Talis enim […] Lucretia magis credita est, quae se nullo adulterino potuerit maculare consensu. Quod ergo se ipsam, quoniam adulterum pertulit, etiam non adultera occidit, non est pudicitiae caritas, sed pudoris infirmitas (De civitate Dei 1.19). Nicht die Sorge um eheliche Tugend – pudicitiae caritas – die womöglich (suggeriert der infame Kritiker altrömischer Verhältnisse) konsensuell befleckt sei – maculata consensu –, sondern die konstitutive Schwäche der weiblichen Scham – pudoris infirmitas – treibe Lucretia dazu, jeden Hauch von Schande abzuweisen, den der mitleidlose Kirchenlehrer ihr als Ausbund der Gefallenheit Evas zuweist und in der von Livius behaupteten historischen Reichweite bewahrheitet findet. Augustinus hatte allerdings die Leidensgeschichte der Lucretia in Ovids Fasten mit abzuwehren (Fasti 2.721–852), die über die subtile Erotisierung, für die der Autor berüchtigt war, die heroische Tugend der Lucretia durch ihre bittere Passion ergänzt hatte (auch das setzt Rembrandt um). Es konnte für Augustinus kein innerrömischer Umschwung sein und hätte seiner Historik widersprochen, war Zeichen vertiefter Verblendung. Als fatalen Urgrund aller Politik bezeugte Livius für Augustinus die civitas terrena in statu corruptionis, im Stande ur-römischer Verdorbenheit, und Ovid konnte das nur bestärken. 60

Es wäre also nicht so, als hätte Lucretia es geahnt und den Dolch für alle Fälle dabeigehabt; bei Ovid hat sie ihn (er hat diesen Punkt gesehen) erst am Morgen danach im Kleid verborgen (2.831); erst danach war die Verzweiflung zum Entschluss gereift. Dieses für Augustinus nutzlose Mittel einer sub specie Erlösung überholten weltlichen Politik indiziert die allfällige Latenz der civitas terrena, deren fahlem prähistorischem Untergrund Rembrandt ein leuchtend farb-materiales Weiß entreißt und entgegenhält, um der aufs Ärgste mitgenommenen Unschuld des Opfers den roten Riss der Gewalt einzuzeichnen, vor dem die betroffene Männerwelt zu Recht aufschreit bei Livius, um schon im nächsten Akt dieselbe Geschichte fortzusetzen. Der bei Livius parate Dolch zeichnet dem Farb-Stenogramm, das der Maler aufbietet und die bildlose Askese des Texts gegen den Strich überbietet, die gegenläufige, ana-grammatische Markierung ein, die keine Wunde aufwiegt. Mit ihr taucht auf und verschwindet im selben Moment, in der flüchtigen Zeit des Bildes, die zum Exempel der Republik missbrauchte Frau als das Paradigma eines vom gefallenen Grund auf befleckten Einverständnisses der Männerwelt zu fortgesetzter Gewalt. Rembrandts Lucretia schließt die Augen und den Vorhang in unendlicher, unmöglich je aufzuhellender Trauer. Das nervt Marie Theres Fögen, wie es den Kirchenvater genervt hatte, denn das wäre nicht nötig gewesen: für die moderne Juristin nicht aufgrund der Rechtsgrundsätze einer lebbaren Welt, für den römischen Heiligen nicht aufgrund der zwar verworfenen, aber doch ein für allemal erlösten Welt. Saussures Illusion ist systemisch sprachstruktureller Art. Die überspielte Latenz ist in den Chiasmus verstrickt, der in Husserls Verräumlichung liegt. Materialiter liegt die Verräumlichung bei Rembrandt in der Dichte des massiv drei-dimensionalen Farbauftrags (in der Abbildung kaum 61

zu ahnen); er bildet, Jackson Pollock ähnlich, den anagrammatischen Untergrund der dargestellten, nur über die Thematik in der Herkunft zu identifizierenden Latenz im Materialen. Ihr Ort ist wie die Synchronie der Formen zeitlos: sie geht nicht aus sich heraus, verharrt in nicht präsent zu machender Un-Gegenwart.85 Das ist die Präzisierung, die mit der Kunst an Saussure vorzunehmen ist: an der Synchronie von Vergangenheit und Zukunft, die in der Form der Bilder die (frei nach Kant ›reine‹) Geistes-Gegenwart der Kunst ist. Rembrandt bietet im Bild-Materialen manifest gemachte Latenz. Sie wiederholt die Verstellung der diachronen Sedimente und repräsentiert sie in einer farb-materialen Allegorie, wie es zuvor der Goldgrund der mystischanagogischen Erfüllung war.86 Der Vorhang vor dem, was Livius als Latenz abwehrte, ist bei Rembrandt längst gefallen in einer Kunst, die von Grund auf von Vergangenheit durchzogen ist. Indessen ist diese Vergangenheits-Durchzogenheit sprach-struktureller Natur. Mit Saussure gesprochen (und nicht ohne Hegel), ist sie die grammatologische Gegenwart der Synchronie. Der platonisierende Nachklang, der die Latenz in Rembrandts Lucretia wie ein Residuum von Anamnesis aussehen lässt, bezeugt nur die Verspätung der Kritik im Angesicht der in Bild und Text gewärtigten Latenz. Nachsatz, die Musik betreffend: Die Zauberflöte Eine Frage, die auf dem Fuße folgen muss, ist die, wie sich längerfristig eingespielte Modi akuter Latenzbewältigung 85 Vgl. Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin: Suhrkamp 2013, S.9, 18. Vf., Figura cryptica, Teil IV. 86 Vgl. Georges Didi-Huberman, Fra Angelico: Dissemblance et figuration, Paris: Flammarion 1990.

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in Epochen, Gattungen, Regionen und den in ihnen aufund abgebauten historisch-kategorialen Begrenzungen zu kulturell ganz anders gelagerten Voraussetzungen verhalten. Ein Indikator, ja ein zentrales Paradigma, an dem sich diese Frage orientieren kann, ist die Musik in ihrer unvergleichlichen Breitenwirkung. In ihr, vollends der Oper als Gesamtkunstwerk, kommt der Chiasmus von Text und Bild, weit entfernt, unmittelbar illustrativ zu wirken wie das zur Bühne gestellte Bild, zu einer doppelten Komplexion, deren systematischem Charakter Adorno auf der Spur war. Die verkomplizierte Sachlage findet sich, nicht unerwartet, in der Selbstanzeige seines Versuchs über Wagner, in der Absicht, »die geschichtliche Tendenz in der Gestalt als solcher, in der Komplexion des Wagnerschen Werkes zu bestimmen«.87 Das Wagner-Projekt war für Adorno der kritische Fall der Fälle. Es hat an der Vorgängerformation der Opern Mozarts eine subtil weiterführende Antwort in Ivan Nagels Dialektik von Autonomie und Gnade erfahren, in der die Gnade als souveräne, der abdankenden Hybris der Souveräne dienende Deckadresse für Latenz ausgespielt wird. Nicht allein deren ausgemachte Schwäche sollte sie in ihrer Ambivalenz zeigen, sondern, hat Christoph Menke präzisiert: »die Not wenden«, die den Einzelnen trifft.88 Aus der prekären – heute noch deutlich prekäreren – Zwischenlage der Zauberflöte, Schikaneders fatalen Fehlleistungen, die Mozart ungeniert vor Ohren führt und ohne Widerruf lässt, schlage die Musik, schreibt Nagel, einen eigentümlichen Gewinn: »Ihr Epocheöffnendes […] fällt der unabding87 Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner (1952), Anhang, Gesammelte Schriften 13, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S.505–506 (meine Hervorhebung). 88 Christoph Menke, »Gnade und Recht« (1997), Spiegelungen der Gleichheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S.300–323: 317, 322.

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baren Geschichtslastigkeit aller Worte […] ins Wort. Das lehren die nächsten Takte […] die Imitation des SarastroBasses durch das Solo-Fagott«.89 Was nämlich syntaktischkompositorisch zähle in diesem Umschlagen »zweier Halbtakte«, sei nicht nur, wie Nagel verlegenheitshalber sagt und im Nachsatz dementiert: »eben das Unsagbare, dem der ganze Titus-Part mit seinen Privatseufzern und Staatssermonen umsonst nachsetzte.« Was im Untergang des Souveräns La clemenza di Tito als des Herrschers höchsteigene Gnade zeigt, skandiert in der Zauberflöte eine anders eingespielte Latenz: in Takten, in denen die »Instrumente erzählen, aus Mollschatten leitend ins Helle, vom Enigma wissender Wehmut«. Die eindrucksvolle sprachliche Nachzeichnung, die Nagel leistet, ist die Kehrseite der Einsicht, die ihn beflügelt: »Die Einheit von Idee und Wort« (obwohl er sie »ohnehin prekär« findet und »den Noten ästhetisch wie zeitlich vorgeordnet«) »siegt oder versagt […] erst mit der Geburt der Musik.« Ihrer Latenz verdankt sich diese Musik. Die epochemachende Schicht des musikalischen Manifestwerdens bringt an den Tag und zur Evidenz, was in der  ›Dialektik‹ der Aufklärung an Latenzen versiegt war. Der Chiasmus, dessen hybride Blüte »Idee und Wort« sind (wohlweislich beide kursiv relativiert), braucht Halbtakte, in denen die Latenz als ein noch »Unsagbares« der versprachlichenden Intention vorausliegt, sich ihr aber nicht versagt. Was Nagel deshalb der »musikologischen Neugier« ans Herz legt: »all die Techniken zu suchen, zu benennen, mit denen Mozart innerhalb strikter Formimma89 Ivan Nagel, Autonomie und Gnade: Über Mozarts Opern, München: Hanser 1985, 3.Aufl. 1988, S.30–31 (meine Hervorhebungen), in  der Folge zusammenfassend S.40. Das Buch handelt übrigens nicht isoliert von Mozart, sondern reicht von Euripides über Racine bis hin zu Kleist und Kierkegaard.

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nenz« verfährt, trifft auf diese Latenz doppelt zu. Was Mozart erzeugt hätte zwischen Autonomie und Gnade, »das Gefühl von Übermaß, Geschenk« (Nagel lässt keinen Zweifel), wendet die Hypothek der Latenz, die Hypothek der Väter-Macht allen anderen voran, zum Guten. Dies Gute utopisch zu sehen, verbietet sich dagegen; es ist Teil der Verlegenheit der Aufklärung mit der Geschichte, so in Ernst Blochs Prinzip Hoffnung, das ohne den Latenzbegriff auskommt, ihn nachträglich aber gut brauchen kann, weil sich die Latenz für ihn in historischer Tendenz erschöpft.90 Mozart gelingt die Wende im Hier und Jetzt der  Aufführung nicht nur, indem er die Musik von aller mit-transportierten Ideologie autonom macht (sie quasi an-ästhesiert), sondern in die Anarchie der Gnade, die er in den Sedimenten der tradierten Tonlagen eingelassen findet, entlässt. Man mag sagen (Adorno und Nagel), sie aus ihnen befreit. Vorläufiges Fazit: Latenz als Vor-Struktur des Ästhetischen Ein methodisches Fazit ist schwer zu ziehen, weil es eine Latenz-Historik nicht gibt. Meine Rede von proto-grammatischen oder proto-syntaktischen Strukturen richtet sich auf einen Punkt hinter dem modernen Wunschhorizont, den die Avantgarden eröffnet haben und der mit ihnen im Raume stehen geblieben ist, obwohl er längst ein Opfer fortschrittsfreudiger Voreiligkeit geworden ist. Nicht alles ist möglich, latent ist nicht virtuell. Nicht alles ist möglich, was aus sprachlichen Untergründen unvordenklich andrängt. Die methodische Konsequenz der Latenz liegt in 90 Ernst Bloch, Tendenz, Latenz, Utopie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. Siehe dagegen Nagels Supplement zu Kleists Prinz Friedrich von Homburg, in: Autonomie und Gnade, S.141ff.

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einem Implizit-Historischen, in den kontextuell mehr oder weniger erfassten und durchschauten Hypotheken eines jeden Lexikons und jeder Symbolik. So hat Rodolphe Gasché die grammatologische Initiative Derridas mit dem Aufweis von ›Infrastrukturen‹ begleitet, die quasi-transzendental zu denken seien und unterhalb der historisch-bestimmten Konkretion grammatischer Syntagmen zu postulieren wären. Die historisch zu präzisierende Aufgabe läge darin, die transzendentale Qualität an historisch tiefer hinunterreichenden Syntagmen festzumachen. Denn so verschüttet die Schichten auch sind und so gewunden die Wege durch sie verlaufen mögen: sicher ist, dass selbst das, was auf ihnen vielfältiger historischer Umstände und Verläufe halber unzugänglich geblieben ist und bleibt, keine Unendlichkeit von Möglichem ist, sondern nur (nicht mehr und nicht weniger) die endliche, wiewohl überkomplexe, mit der Zeit überkomplex gewordene Dichte des in der Geschichte Sedimentierten. Gasché schloss für diese proto-syntaktische Vorgegebenheit auf eine »infinity of last, syntactically overdetermined syntactical objectivities«, als deren Konsequenz er – Derridas ›différance‹ entsprechend – keinen phänomenologisierbaren Begriff von Syntax mehr angeben wollte.91 Die Latenz liegt im Differieren der ›différance‹, folgt ihrer historischen Spur, sie trifft auf dieser aber keine generalisierbare Unendlichkeit des Möglichen an, sondern nur je Manifestierbares.92 Im Differieren der Differenz-Momente wächst die Sprach-Spur, am Differieren kristallisiert sich die Latenz. Statt der quasi-transzendental abstrakten Meta91 Rodolphe Gasché, The Tain of the Mirror: Derrida and the Philosophy of Reflection, Cambridge MA: Harvard University Press 1986, S.249–250 (meine Übersetzung oder Paraphrase). 92 Jacques Derrida, »La différance« (1968), Marges de la philosophie, Paris: Minuit 1972, Kap 1.

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Syntax unterstelle ich mit der Latenz ein vermittelndes Moment proto-grammatischer (oder auch proto-pragmatischer) Art. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass an eben der Stelle, an der sich bei Husserl eine originäre Wahrnehmung durchhält, eine alles andere als originäre Syntax tritt, welche die unvordenklich überdeterminierte ›Illusion‹, die Gegenstand Saussures ist, in der sprach-leiblichen Verschränkung des Chiasmus koordiniert und in nicht weiter hintergehbaren proto-grammatischen Formaten parat hält.93 Denn das Parat-Halten, von dem die Phänomenologen sprechen, beruht auf historisch grundierter Latenz. Sie konkretisiert die von Husserl postulierte Epoché, denn in dieser wird, befand Hans Lipps einmal lakonisch, »das Moment der Setzung nicht eigentlich mitgemacht«.94 Die syntaktische Vorstruktur der Latenz, die jede in der Synchronie manifeste Syntax im differentiellen Prozess der Iteration als re-markierte Syntax vorfindet, macht keine ›infinity‹ grammatischer Überdeterminierungen aus. Sie bestimmt allerdings eine begrenzte, in Grenzen historische Ökonomie der Latenthaltung. Der Konzeption der implikativen ›Wirklichkeitsbegriffe‹ Blumenbergs, in denen Saussures ›Illusion‹ als epochale Realität begrenzt ist, fehlt die Ökonomie der Latenz; die »Enttäuschung über die Leere der Sprache« scheint zu groß.95 93 Dazu ist auf letzte Vorlesungsnotizen von Merleau-Ponty am Collège de France hinzuweisen (1960), die Husserls Version der Intersubjektivität gewidmet sind, in der erhellend kommentierten Ausgabe von Leonard Lawler und Bettina Bergo, Husserl at the Limits of Phenomenology, Evanston IL: Northwestern University Press 2002, Foreword (Lawler), S. xviff. und Afterword (Bergo), S.172f. 94 Hans Lipps, »Beispiel, Exempel Fall« (1931), Die Verbindlichkeit der Sprache, Frankfurt am Main: Klostermann (1944) 1958, S.39–65: 45, Anm.5 (meine Hervorhebung). 95 Vgl. jetzt Hans Blumenbergs präzisierende Entwürfe, erschienen unter dem Sammeltitel Realität und Realismus, ed. Nicola Zambon, Berlin: Suhrkamp 2020, hier S.38.

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Die Figuren und Komplexionen der Latenthaltung waren in Baumgartens Ästhetik auf eine erste (bei Kant als zu riskant befundene und qua Urteilskraft zu reglementierende) Grundlage gestellt worden. Bereits die Aesthetica Baumgartens, in deren chiastischer Verschränktheit die von Gasché mit Derrida avisierte Sphäre der radikaleren, von keiner Phänomenologie einzuholenden, interpretativ nicht weiter zu erschließenden Vor-Gegebenheit im Konkreten aufgehoben ist, helfen über die Klippe der Inkongruenz der Bilder, die Crux von Kants Kritik, hinweg. Es sind solche der klassischen Ovid’schen Latenzbeobachtung, des ars adeo latet arte sua der Pygmalion-Metamorphose (Buch 10.253). Baumgarten zitiert Ovid, an dem auch Saussure seine Theorie misst, und zeigt an ihm die Latenz der Theorie als eine Metamorphose von Poetik.96 Ovids Metamorphosen nehmen nicht zuletzt aus dieser Gegebenheitsweise ihre kanonische Durchschlagskraft; sie handeln von nichts als Gestaltwechseln im Fortwuchern der Latenzen. Das macht ihren grenzenlosen Einfluss aus. Andererseits wird in ihnen aber auch die historisch einschneidende Begrenzung der Reichweite der Latenz als allgemeiner Vorstruktur des Ästhetischen zum Thema. Universalhistorische Transversale Lascaux, Tour Eiffel, Blow Up Ein tentatives Supplement, das die Amplitude der Rezeptionsweisen, das Historisch-Werden der Strukturen andeuten mag. Es reicht von der prähistorischen Höhlenmalerei, von der wir kaum mehr einen angemessenen Be-

96 Vf., »Alexander Gottlieb Baumgarten als Provokation der Literaturgeschichte«, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 15 (2015), S.35–48.

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griff gewinnen können, bis zu einer Filmindustrie, deren Bilderwirtschaft (so etwas wie) Latenz auf den Leib geschrieben scheint. Latenz, Implikation ihres ImpliziertSeins, ist kein Kriterium für Entwicklung oder Kontinuität. Ihr Auftauchen autorisiert ein Zurücktauchen, unbeschadet fehlender oder fehlvermuteter und in dieser Form selbst schon wieder historisch gewordener Zwischenschritte. So liegt eine ausgewachsene Ironie der Geschichte in der von Vico favorisierten Bedeutung der Ironie für den ricorso, dass die anagrammatische Unentscheidbarkeit der historischen Verlegenheit entspricht, die den philologischen Erstfall par excellence, die sogenannte ›homerische Frage‹ (die erste philologische Latenzfrage des 19.Jahrhunderts) bis heute nicht zur Ruhe kommen ließ: die Unmöglichkeit, die im Wortlaut von Ilias und Odyssee »unbewusst erhaltenen von den bewusst eingesetzten Archaismen zu unterscheiden.«97 Latenz ist eine Implikation der Begriffe, die sich eine historische Philologie von der Historizität ihrer Gegenstände macht, angefangen bei Homer. »Am anderen Ende [der Geschichte] anfangen« schlägt Wolfgang Kemp vor (dem ich bei dieser Gelegenheit danke). Denn die der Malerei inhärente erkenntnis-pragmatische Teleologie, »den Raum zu disponieren«, prä-disponiert ihn de facto und beweist ihn als Latenz-Medium.98

97 Barbara Patzek, Homer und Mykene: Mündliche Dichtung und Geschichtsschreibung, München: Oldenbourg 1992, S.66–67. Das epochemachende, dem Historismus verpflichtete Syndrom der homerischen Frage ist mit der unauflöslichen Hypothek des philologischen Positivismus belastet, die vorhochkulturellen »dunklen Jahrhunderte« mit den in Homers Texten transportierten Realien und, entscheidender, den auf diese fixierten Referenzsemantiken zu überbrücken. 98 Wolfgang Kemp, »Teleologie der Malerei. Selbstporträt und Zukunftsreflexion bei Poussin und Velázquez«, Der Künstler über sich in seinem Werk, hg. v. Matthias Winner, Weinheim: VCH Acta Humaniora 1992, S.407–433: 416.

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Erinnern wir uns an etwas, das wir nicht zu erinnern vermögen, weil es allein in der regelhaften Anordnung von Spuren vorliegt – im »graphischen Symbolismus« einer »leeren Bühne« sagt André Leroi-Gourhan – und tatsächlich erst zur Hochzeit des Historismus aufgefunden wurde (man mag vermuten: dann bewusst wurde).99 Lascaux ist nach seiner Entdeckung in der Zweidimensionalität photographischer Bildbände auf eine trügerische Weise vertraut, war aber nur durch die räumliche Umformatierung auf die plane Bildfläche vertraut zu machen.

Jungsteinzeitliche Höhlenmalerei, Lascaux, Frankreich.

Denn was sich an der ausgeleuchteten Oberfläche der Höhle (im Unterschied zu der geringen ursprünglichen Beleuchtung) nicht mehr nachvollziehen lässt und sich 99 André Leroi-Gourhan, Les religions de la préhistoire paléolithique, Paris: Presses Universitaires de France 1964, Kap.IV–V; dt. Die Religionen der Vorgeschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S.160 und 166.

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auch am Ort, in der Höhle selbst, fast automatisch ›wegsieht‹ für den um Jahrtausende Verspäteten, ist der implizit manifeste Höhlen-Raum, dessen Struktur noch Platons Höhlengleichnis als Ursprungsort des Gestells technologischer Abstraktionen und mörderischer Tücken ahnen lässt: »Nicht zu wissen, was eine Höhle ist.«100 ›Gestell‹ war schon Gottfried Sempers Ausdruck für thematisierte Technizität, das augenfällig Funktionale, und Heidegger hatte recht, sie in der Höhle Platons medientechnisch theoretisiert zu finden.101 Samuel Beckett hat in seinen späten Prosastücken den Vorstellungsraum einer vorhistorischen Wahrnehmung konstruiert und als poetische Syntax einer historischbestimmten Bildstruktur präpariert. Erst aus der Distanz des längst nicht mehr Wahrnehmbaren, des nur tentativ Nach-zu-Konstruierenden, ist nachzuvollziehen, was die Höhle als struktureller Raum-Komplex an unvordenklicher, proto-ästhetischer Qualität aufweisen könnte. Für den jungen T.S. Eliot zeugte er von einer ungeheuren Latenzzeit, der er in »Tradition and the Individual Talent« Respekt zollte. Anlass war der Besuch einer südfranzösischen Höhle (Niaux bei Montségur, wohin es ihn mit Ezra Pound auf den Spuren der provenzalischen Troubadours gezogen hatte): »Shakespeare, or Homer, or the rock drawing of the Magdalenian draughtsmen« ist seine Parallelführung, in der Hugh Kenner rückblickend das Bildungs-Programm für spätere Touristen erkannt hat: »the bisons perhaps, the madonnas, the princes of Denmark, and the ordinary evenings in New Haven« – Lascaux, Bellini, Shakespeare, Wallace Stevens (letzterer in 100 Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, Teil III, hier S.18. 101 Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Bern: Francke 1947, S.33ff.

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Kenners Yale), mit der unerwarteten, aber zeitnahen Konsequenz: »If there is poetry, that art will be logocentric.«102 Dekonstruktion ein Höhlengleichnis. Man vergleiche die Ergebnisse der Höhlen-Vermessung von Alain Testart mit der photographisch erleuchteten Erfassung gegenwärtiger Kino-Erfahrung wie der in Antonionis Blow Up inszenierten Vergrößerungsprozedur als Raumauswertung von Latenz. Was sich in der Höhle photographieren lässt, rückt in eine Bildfläche ein, die von der kontingenten Kurvatur der archaischen Raumbegrenzungen, von der Flut der ineinander übergehenden, immer nur in Ausschnitten, nie im Ganzen erfassbaren Bild-Folgen keine Ahnung mehr vermitteln kann, aber doch die laterale Substruktur, die als Ganzes wohl nie wahrnehmbar war, aufdecken hilft. Als Untergrund – Arnold Gehlen sprach weitergehend von ›Hintergrunderfüllung‹ – ist sie mit photographischen Mitteln zu forcierter Reflexion zu bringen.103 Aus dem diskontinuierlichen Raum der Höhle lässt sich die Lateralverfassung ableiten, die durch die neuzeitliche Fixierung auf die Zentralperspektive in den Wahrnehmungs-Untergrund geraten ist, in den Techniken einer variablen Kameraführung aber als kongeniale Thematisierung einer Latenz-Möglichkeit wiederkehrt.104 So war schon Alois Riegl auf die architektonische Zentrierung der 102 Hugh Kenner, »The Possum in the Cave«, Allegory and Representation, hg. v. Stephen Greenblatt (The English Institute 1979–80), Baltimore MD: Johns Hopkins University Press 1981, S.128–144: 131 (meine Ergänzung). Zitat T.S. Eliot, »Tradition and the Individual Talent« (1919), Selected Prose of T.S. Eliot, hg. v. Frank Kermode, London: Faber & Faber 1975, S.37–44: 39. 103 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur (1956), 2.Aufl. Frankfurt am Main: Athenäum 1964, §12. Ebenso in Zeit-Bilder: Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (1960), Gesamtausgabe 9, Frankfurt am Main: Klostermann 2016, S.20ff. 104 Alain Testart, Art et religion de Chauvet à Lascaux, Paris: Gallimard 2016, Kap.20 und 22 mit Abb.

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alt-christlichen Basiliken aufmerksam geworden, zu der die Halb-Rotunde der Apsis das supplementäre, mysterienbezogene Pendant bildete und den Innenraum des Zentralbaus um einen streng umrissenen Halbraum ergänzte, der ins Sublime tendiert, indem er den als solchen »unfaßbaren, unendlichen, formlosen Tiefraum« als latentes, die Latenz nachgerade beweisendes Höhleninneres erinnert.105

Links: Plan der romanischen Kirche Saint-Sernin, Toulouse. Rechts: Dasselbe an einen Plan der Grotten von Lascaux angepasst.

Auf den Vergleich von Höhle und Kathedrale war schon Georges Bataille mit gut gespielter Intuition abgefahren.106 An den unterschiedlichen Absichten von Bataille und Leroi-Gourhan kommt im Raum der Kathedrale das Höhlen105 Alois Riegl, »Zur Entstehung der altchristlichen Basilika« (1903), Gesammelte Aufsätze, hg. v. K.M. Swoboda, Augsburg/Wien: Filser 1929, S.91–110: 98/99. 106 Überblicksweise Georges Bataille, The Cradle of Humanity: Prehistoric Art and Culture, hg. v. Stuart Kendall, New York NY: Zone Books 2005.

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hafte aus der Latenz und zur Ansicht, so wie umgekehrt in der Höhle die latente Logik des Kathedral-Baus, und zwar noch vor jeder imaginierten, nur noch zu postulierenden, aber nicht mehr nachzuempfindenden Proto-Magie dessen,  was dort einmal stattgefunden haben mag oder eher nicht.107 Die naturale Einbettung lateraler, zentri-fugaler Orientierungen scheint in der Moderne der Kathedralen überwunden, ist aber in der proto-syntaktischen Anlage und Eignung erkennbar geblieben. Das heißt, die Kathedrale entspringt nicht nur der zeitgenössischen StrukturAnalogie von Gotik und Scholastik, die Erwin Panofsky aufgedeckt und Pierre Bourdieu als Habitus operationalisiert hat.108 Sie reicht im Modus ihrer Rationalität weiter zurück als das alte, neu gefundene Verhältnis von Abstraktion und Einfühlung, sie reorganisiert die laterale Welt der Höhlen. Ein strukturalistisches Idol wie der von Roland Barthes zum leeren Zeichen erhobene Eiffelturm führt die Latenthaltung eine Stufe weiter, indem es – in Überbietung von Notre Dame, sowie, in pointierter Steigerung, von Sacré Coeur auf dem gegenüberliegenden Montmartre (Gertrude Stein hat das gesehen)109 – die zur Transzendenz der Höhle geführte Bewegung zurücknimmt in die immanente Transzendenz profan-irdischer jouissance.110 Germaine Krulls Aufnahme dieses metallenen Konstrukts zeigt das Gestell 107 Arnold Gehlen, »Über die Verstehbarkeit der Magie« (1950), Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied: Luchterhand, 2.Aufl. 1971, S.88–101: 91. 108 Erwin Panofsky, Gothic Architecture and Scholasticism, New York NY: Meridian 1951; frz. Architecture gothique et pensée scolastique, trad. et postface de Pierre Bourdieu, Paris: Minuit 1967. 109 Gertrude Stein, Paris France (1940), New York NY: Liveright 1970, Part II, »Sacré Coeur«. 110 Roland Barthes, La Tour Eiffel. Photographie en noir et en couleur d’André Martin, Paris: Delpire 1964, coll. »Le génie du lieu«.

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nackt.111 Nicht nur knickt der Eiffelturm ein, nimmt er das gotische Streben ins Konkave zurück. Er umfasst mit dieser Wendung die Stadt in seinem lateral ausgreifenden Maßwerk: die in die Weite des Raums geöffnete Höhle. Er stülpt die Wirkung des vom Licht durchfluteten gotischen Innenraums nach außen, in dem die Linienführung der Turmgestalt, ihres Innens ledig, zum Symbol des AußenInnens ›Stadt‹ wird. Die Priorität des gotischen Innenraums, der die Transzendenz im Außen fingierte, verkehrt

111 Germaine Krull, Métal. Texte Florent Fels, Paris: Librairie des Arts Décoratifs 1927–1928.

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sich.112 Der Zug zur Öffnung der Latenz macht die Geschichte zum postmodernen Ornament, ostentativ entfaltet in der Architektur Peter Eisenmans, für den die Kurvatur des Raums das proto-syntaktische Grundgesetz der différance ausmacht: Wiederkehr der platonischen Höhle, die außer sich nichts findet als das Gestell in sich.113 Nicht anders, am anderen Ende, das Gestell der Medien, vorzüglich der Film. Worauf ich hinaus will in diesem raschen Überblick über die von T.S. Eliot als Avantgarde-Projekt bezeugte KunstLatenz (der Begriff fehlte ihm, aber er war ein Kind seiner Zeit), ist der ›Zeitkristall‹ aus Gilles Deleuzes Cinema 2, des Kinos nicht mehr der verfilmten point of view Romane, sondern einer Anstalt, in der sich eine »strikte Gleichzeitigkeit der Gegenwart mit der Vergangenheit« herstellt.114 So gelang Blow Up die totale Allegorie (tota allegoria) ihrer Archäologie als buchstäblicher Histoire-Caméra. Die Histoire-Caméra von Antoine de Baecque führt die SchnittSchritte Bild für Bild vor und konfrontiert sie mit dem offengelegten Implikat. Das Medium ›Buch‹ erlaubt es in de Baecques Anordnung, der text-räumlichen, qua Text verräumlichten Gegenüber-Stellung der im Fluss der Bilder 112 Hans Jantzen, Über den kunstgeschichtlichen Raumbegriff (Bayerische Akademie 1938), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1962, S.40 (Libelli 83). Vgl. zur selben Zeit Max Raphael, »Zur Ästhetik der romanischen Kirchen in Frankreich« (1935), Das göttliche Auge im Menschen, hg. v. Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S.82. 113 Peter Eisenman, »Presentness and the ›Being-Only-Once‹ of Architecture«, Deconstruction Is/In America, hg. v. Anselm Haverkamp, New York NY: New York University Press 1995, S.134–145. 114 Gilles Deleuze, Cinema 2: L’image-temps, Paris: Minuit 1985; dt. Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S.346ff. Vf., »Melencholia illa heroica: Die Sackgasse der Benjamin-Kritik« (2006), Diesseits der Oder: Frankfurter Vorlesungen, Berlin: Kadmos 2008, S.212–226: 225.

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angehaltenen, still gestellten Bilder die Latenz selbst abzubilden, die in der Form des Films fließend zum Vorschein einer falschen Evidenz kommt. Die filmische Illusion führt sich selbst vor, analog der Saussure’schen Synchronie, die hierdurch ihrerseits einen aktualisierenden Kommentar erfahre. Das Buch macht diese Vorführung als Latenz thematisch.115

In dieser medial zu entschlüsselnden Sachlage, die de Baecques Buch zu danken ist, macht sich nun aber nicht etwa, wie es die Avantgarden im gesteigerten Selbstmissverständnis ihrer Mission meinten, die Virtualität eines Unendlichen geltend, sondern es kommt zu einer Wiederkehr, die bei aller Endlichkeit des Latenten keine selbe sein kann. Im Gegenteil ist es eine (obzwar nie endlose) Variation, die in der Iteration des Wiederholens spielt (Derridas Punkt) und, der ›Unendlichkeit der Analyse‹ unbeschadet (Freuds Fatalismus), die Iteration beflügelt und nach Interpretation schreit. 115 Antoine de Baecque, L’histoire-caméra, Paris: Gallimard 2006, Doppelseitenaufschlag, unpaginiert [S.34/35].

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Pars pro toto (Theorie II) Das Sein im Ganzen – Eine Latenzfigur Synekdoche und Metalepse Das Ganze ist eine Latenzfigur, vielleicht die radikalste und olglich die bei weitem undurchschauteste. Das wird an der neuzeitlichen Konjunktur der Synekdoche als generalisierter Beziehungsfigur augenfällig.116 In unterschiedlichen Abschattungen des pars pro toto ist sie unter den Figuren der Rhetorik die der größten Reichweite. Der denkwürdige Satz Adornos »Das Ganze ist das Unwahre« ist die stringente Konsequenz.117 Er hat den Vorteil, die routinierte Rhetorik-Abwehr der Philosophen gleich mit zu erfassen: Rhetorik – bei Adorno immerhin das, »was anders als in der Sprache nicht gedacht werden kann« – kann das Wahre nicht garantieren, das die Philosophie ohne sie nicht sagen kann, ja nicht einmal sagen wollen könnte und in der Sprache nur verlegenheitshalber, mit dem Risiko der undurchsichtigen Latenz der Worte zum Ausdruck bringt, weil sie der »latenten Gebundenheit der Philosophie an Texte« unterliegt.118 Der Teil macht das Ganze, ist seine fragmentierte Wahrheit, und die Texte sind deren Teile. An und für sich ist das Ganze formlos; Form nimmt es erst an in den Teilen, die es pars pro toto unterstellen, vortäuschen, fingieren, zu einem zweifelhaften Vorschein bringen – so in der sprichwörtlichen ›Übersummativität‹ von Gestalten, die mehr als die Summe von deren Teilen sind. Der Vor116 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München: Hueber 1960, Bd.I, S.295ff. (§§572–577). 117 Theodor W. Adorno, Minima moralia (1951), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1962, S.57 (»Zwergobst«). 118 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966, S.61.

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schein des Ganzen, in sprachliche Form gebracht, in Texten fragil sistiert, ist der Vorschein von was? Latenz der Form? Das ist die Frage der Formwerdung, grundlegend in dem, was seit der Entdeckung der Ästhetik als Prosa begriffliche Karriere macht und zum Inbegriff der »nicht mehr schönen Künste« wird.119 Die Rhetorik war sich immer der ausgezeichneten, grundlegenden Rolle der Synekdoche klar, ohne ihr je Priorität einräumen zu können. Denn jeder Tropus, jede Figur eignet sich auf eine je eigene Weise zum pars pro toto aller anderen, allen voran die Metapher seit Aristoteles, dem Philosophen, der sie in die nachhaltige Doppelrolle der exemplarischen rhetorischen Figur gebracht und diese Rolle mit einem Begriff, dem der ›Übertragung‹ bedacht hatte; daran hat man sich gehalten. Der ontologische Grundzug, den Aristoteles der Metapher als der rhetorischen Grundfigur per se eingezeichnet hat, wird im pars pro toto der Synekdoche nicht bestätigt, sondern nur virtualisiert, ja tendenziell durchkreuzt; das macht ihren spezifischen Vorzug in der Latenz der Texte aus, von der Adorno spricht. Die Relativität des Ganzen in seinen Teilen ist total und decouvriert immer neu, von je Neuem, den totalisierenden Zug der Übertragung und ihres ontologischen Unterstellungshorizonts. Man kann deshalb, Adornos Verdacht erhärtend, die zur Orthodoxie geronnene Metapher des Aristoteles geradezu als philosophische Entschärfung der rhetorischen Fingierung des Ganzen und seiner übersummativen Gestalten auffassen. So dass die untergeordnete Rolle der Synekdoche im Gefolge der »four master tropes« seit Ramus, die von Kenneth Burke in der nachhaltigen 119 Wolfgang Preisendanz, »Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik«, Poetik und Hermeneutik III (1968), S.343–374; Heinrich Heine: Werkstrukturen und Epochenbezüge, München: Fink 1973, S.21–68: 22f.

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Version Vicos (nicht Vossius’, nicht Baumgartens) dem staatserhaltenden Kompromiss des amerikanischen New Criticism überschrieben worden ist, die kollaterale Eingrenzung des Ensembles der metaphorischen Tropen latent zu sprengen kommt.120 Die strukturalistische Aufarbeitung der Tropen- und Figuren-Konstellationen ist so weit gegangen, die aristotelische Fundierung umzukehren und die  um ihre orthodoxe Stabilisierungsfunktion gebrachte Metapher der Synekdoche als dem in ihr verborgenen symbolträchtigen Prinzip unterzuordnen (so auch Burke selbst).121 In den unterschiedlichen Spielarten des pars pro toto bringen es die Tropen zur Prägnanz der ›symbolischen Formen‹ Cassirers, und die reflexiv gesteigerte Rolle der Metapher, die Bruno Snell in der aristotelischen Konzeption erkannt hat, die Entdeckung der funktionalen Thematisierung, die die Metapher bei Aristoteles impliziert, hat hier ihren Ort.122 Sie liegt in der funktionalen Verdoppelung des in ihr operativen synekdochischen Grundprinzips. Tzvetan Todorov hat die Konsequenz gezogen und die Metapher als eine verdoppelte Synekdoche neuund umdefiniert: »Jakobson identifiziert die ›Verdichtung‹ Freuds mit der Synekdoche; Lacan mit der Metapher. Ein Widerspruch? Nein, denn die Metapher ist nichts als eine doppelte Synekdoche.«123 Michele Prandi hat den Entwurf 120 Kenneth Burke, »Four Master Tropes« (1941), A Grammar of Motives, Berkeley CA: University of California Press 1945, S.503–517. 121 Kenneth Burke, The Philosophy of Literary Form (1948), Berkeley CA: University of California Press 1973, S.25f. 122 Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes (1946), Hamburg: Claassen 1955, S.260ff. und S.427ff. Vgl. das Prägnanz-Kapitel in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen III, Berlin: Bruno Cassirer 1929, Kap.V. 123 Tzvetan Todorov, »Synecdoques«, Communications 16 (1970), S.26–35: 31 (meine Übersetzung).

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seiner Grammaire philosophique des tropes folglich auf einer Theorie der Synekdoche als Kern der metaphorischen ›transferts‹ aufgebaut.124 Slavoj Žižek, den Reigen der emergenten Theorien der synekdochischen Figuren zu beschließen, kann ohne Aufhebens mit der ›Parallaxe‹ eine Ergänzung der Metapher Lacans vornehmen, die de facto auf der Synekdoche als deren multiperspektivisch vervielfachter Grundlage beruht.125 Ich lasse es bei dem eiligen Durchgang, in dem es allein auf das Auftauchen der neuartigen kryptischen Implikation ankommt, die sich als zentrale figura cryptica der neuzeitlichen Darstellungs-Rücksichten und Darstellungs-Politiken in der ästhetischen Theoriebildung des längeren, spätestens seit Ramus, abgezeichnet hat. Die grammatische Dimension, die in ihr hervortritt, verschiebt die Vorstellung des Ganzen, dessen Teile in Rede stehen. Ort der Verschiebung ist der Begriff des Raums, in dem dieser Ort zu liegen kommt. Er hat im Raum-Begriff ein Beziehungskorrelat, in dem Teile und Ganzes die Rollen tauschen. Ich versuche diese neue, inzwischen vertraute (Moderne begründende), aber nicht viel besser durchschaute Sachlage in drei Hinsichten zu erläutern. Unter ihnen kommt dem neuen, durch und durch literalen Raumbegriff die metaphorologische Schlüsselrolle zu, welche die Figur des pars pro toto zur durchgehenden, überwältigenden ›Rücksicht auf Darstellbarkeit‹ macht, die Freud treffsicher benannt hat. Die Perspektive ist ihre bekannteste Form und vielleicht nur deshalb gefunden worden: Überwältigend ist sie  nämlich nicht aufgrund ihrer größeren AbbildungsWahrheit, sondern – strikt rhetorisch – durch die ästheti124 Michele Prandi, Grammaire philosophique des tropes, Paris: Minuit 1992, S.14 und passim. 125 Slavoj Žižek, The Parallax View, Cambridge MA: Harvard University Press 2006.

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sche Qualität der Anmutung, wie sie notorisch in der ›Übersummativität‹ des avisierten Ganzen, also quasi als  Marge der figuralen Unschärferelation zur Wirkung kommt. Die Perspektive ›verkörpert‹ in sich, und das buchstäblich, die Dialektik, der die Rede von einem Ganzen unterliegt. Der perspektivierte Raum ist ein Ausschnitt, der im begrenzten Vorgriff auf ein Ganzes als Raum versiegelt liegt eher denn eröffnet ist. Der rhetorische Vorgriff auf das Ganze, ein denkwürdiges Vorwort von Albert Einstein zu zitieren, sei nicht mehr als ein »denkwürdiger Umweg […] zum leichteren Verstehen unserer sinnlichen Erlebnisse«.126 Als Ganzes, als Ort und Ausdehnung eines Ganzen heißt ›Raum‹ ein subjekt-gebundenes Allgemeines, das  den hermeneutischen Horizont eines Verstehens vortäuscht, in dem die Perspektiv-Metaphorik der optischen Täuschung als synekdochische Figur der aufs Ganze zu schließenden Teile begründet ist – rhetorisch in der »latenten Gebundenheit an Texte« bestätigt Adorno. Als transzendentale Größe transzendiert sie gerade nicht, sondern repariert sie die disparaten Teile, die sie ausstellt und denen sie mittels dieser Ausstellung in ihrer Formlosigkeit Gestalt anzunehmen erlaubt. Das ist, in aller Kürze, der rhetorische Kern. Als eine Illustration der ersten Hinsicht, des metaphorologischen Wandels des Raum-Begriffs, ist nichts Grundlegenderes denkbar als die neuzeitliche (bereits im Mittelalter einsetzende) Entwicklung der Räume der Maler, deren Errungenschaft Wolfgang Kemp auf den (zunächst harmlos anmutenden) Begriff der ›Bilderzählung‹ gebracht hat: die »Tatsache, daß von nun an für und durch Bilderzählun126 Albert Einstein, Vorwort zur deutschen Übersetzung von Max Jammer, Das Problem des Raumes: Die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, S. xiii, xv (meine Zusammenführung der Zitate).

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gen Räume eingerichtet werden. Diese Tendenz betrifft das System der Malerei als Ganzes«.127 Die Malerei geht »von nun an« aufs Ganze in der Verschränkung von impliziter Erzählung und bildlicher Einrichtung, Sprachraum und Bildraum, Proto-Grammatik und visueller Anordnung. Die Tiefe des dargestellten Raums ist sprach-grammatischer Struktur, die in der Perspektive (schon in PerspektivAnsätzen) überspielt wird, aber durchgehend wirksam ist. Sie eröffnet Aussichten auf ein Ganzes, das in der Linearität der Perspektive latent angelegt ist, in dieser Latenz indessen komplett unzugänglich bleibt und aus dem Raum ihrer virtuellen Realität unmöglich heraus kann – eine versperrte Virtualität. Die totalisierende Geste, die der Zentralperspektive innewohnt, ist partiell, buchstäbliche Synekdoche, die auf ein Ganzes zielt, das als Dargestelltes indessen ganz un-dargestellt bleibt: der unerhörte Sachverhalt, dass die Darstellung statt des Ganzen Undarstellbarkeit (und nicht nur ein Nicht-Darstellbares) impliziert. Dieses Ganze ist nicht als es selbst als undarstellbar vorzustellen, sondern an seine Stelle tritt eine Undarstellbarkeit, die nicht einmal mehr die des Ganzen selbst ist (das es nicht gibt), sondern seine leere, leer geräumte Negation. Es ist ein Effekt der Projektion, die von nirgendwoher in die graphische Fläche eingeht und als ›ikonische Differenz‹ (pointiert bei Gottfried Boehm) der Darstellung eingegliedert erscheint.128 Tatsächlich kann die Projektion aber gar keine rest- oder bruchlose sein, sondern bleibt sie so partiell wie die Teile, die für ihr Ganzes einstehen. Insofern die Synekdoche in der metaphorologischen Doppelung leer ausgeht – also nicht mehr metaphorisch übertragend tota127 Wolfgang Kemp, Die Räume der Maler: Zur Bilderzählung seit Giotto, München: Beck 1996, S.9 (seine Hervorhebung). 128 Vf., Figura cryptica: Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S.13f.

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lisiert, sondern nur rhetorisch schein-totalisiert – schert sie aus aus der Reihe der Four Master Tropes, verlässt sie sogar die metonymische Kette, in der sie Lacan zur Kollision bringt, wird sie zur bloßen Metalepse. Dass dies die ästhetische Pointe aller Tropen in ihrer synekdochischen Funktion qua figurae crypticae schon bei Baumgarten ist, kann ich hier nur wiederholend andeuten. Ich wende mich zur Verdeutlichung der zweiten Hinsicht zu, in der es dieselbe Sachlage von Struktur literarisch zu besichtigen gibt. Epos und Roman Zur selben Neuzeit gewinnt der von Newton absolut gemachte, zum Symbol des Absoluten erklärte Raum in der synekdochischen, zum Symbol tendierenden Ver-unendlichung des Raum-Begriffs die Qualität der totalen Virtualität hinzu, aus welcher die Theatralisierung der historischen enargeia entspringt. Insofern ist die Erfindung von ›Geschichte‹ auf der Bühne Shakespeares die der synekdochischen Darbietungs-Rücksicht eingeprägte Voraussetzung: Raum ist die Latenz der Geschichte in ihm und das Ganze der behauptete Inbegriff der in ihm mitgegebenen Teile. Erzählraum ist die proto-grammatische Metapher, in der die Errungenschaft des neuen Raumbegriffs auf die epische Vorgängerformation des Erzählens trifft. Während das Theater in diesem Raum aufblüht, vergeht in ihm das Epos. Doch nicht ganz: es rettet sich in eine meta-historische Formation, deren sekundär-epische Ausformung (die nach C.S. Lewis von Vergil bis Milton reicht)129 auf eine tertiäre Pointe hin tendiert, Finnegans Wake. Joyces VicoLektüre (von Beckett in der Reihe der Dante, Bruno, Vico, 129 C.S. Lewis, A Preface to ›Paradise Lost‹, Oxford: Clarendon Press 1942, S.40–41.

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Joyce verewigt)130 erhebt und hebt auf, was an alter epischer Welt als Kosmos ein Ganzes gewesen war und im ricorso der Lektüre von dem Ende her, das im Anfang bereits weiterläuft, als wär’ es immer so gewesen, neu begriffen wird. Die Proto-Syntax der gefallenen Welt – ›sin-talk‹ heißt der Erzählrest, der sie erfüllt – ist repetitiv: SündenGeschichte als Proto-Syntax.131 Das Ganze ist die Wiederkehr der Teile (nichts anderes), die in unendlicher Iteration die Wiederkehr des qua Iteration naturwüchsig NichtIdentischen manifestiert. In der minimalen Kontingenz der  Variationen triumphieren die Teile über ihr Ganzes, sind sie es, ohne dass es dieses Ganze noch gäbe, je gegeben hätte oder geben könnte in der total entleerten – total ironischen, total erschöpften – Metalepsis, auf die hin Vico den ricorso de facto einsetzen lässt. Das steht so nicht explizit bei Vico, sondern ist nur die Synekdoche, mit der sich die Wiederkehr der Metapher in der ewigen Fermate Ironie ankündigt. Sowohl die Metonymie Baumgartens als auch die Synekdoche Vicos, die in der Abfolge der Tropen der ironischen Wende des ricorso vorausgeht (Ironie/Metonymie bei Baumgarten, Synekdoche/Ironie bei Vico), unterschätzen, verharmlosen die Quintilian’sche Konzeption, die in ihnen lebendig ist. Aber sie unterstellen implizit die in extremis auf den Punkt gebrachte Erschöpfungs- und Entleerungslogik (›negative Dialektik‹). Harold Bloom hat in seiner Map of Misreading mit der Metalepsis den revisionären Aspekt favorisiert und ihn (ohne Baumgarten, mit

130 Samuel Beckett, »Dante . . . Bruno . Vico . . Joyce«, Our Exagmination Round his Factification for Incamination of Work in Progress, Paris: Shakespeare and Company 1929, S.3–22. Die Punkte im Titel stehen für die Jahrhunderte zwischen den Namen; sie sind Splitter des ehedem epischen Ganzen. 131 Jacques Lacan, Le sinthome (Séminaire XXIII, 1975/76), hg. v. Jacques-Alain Miller, Paris: Seuil 2005, S.168.

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Freud) deskriptiv fruchtbar gemacht für die Romantik nach Milton.132 Aus der Logik der Teile im Ganzen fällt auf  der Höhe von Miltons Verlohrenem Paradies (Bodmers Übersetzung 1732) Klopstocks Messias heraus (1748– 1773), in bestimmter Negation des Ganzen zugunsten der Episoden. Herder hat, Gewinn und Verlust in diesem mit Erfolg und Vergessen gleichermaßen gesegneten letzten Epos abwägend, die folgende Rechnung aufgemacht und in einem fiktiven »Gespräch zwischen einem Rabbi und einem Christen über Klopstocks Messias« festgehalten – rückblickend (1767), als die Erfolgswoge des Messias bereits verebbt war und das Scheitern des Gesamtplans für viele eine ausgemachte Sache schien: Und im Zärtlichen [das ist die Erfolgsseite] sieht man K. immer sein Herz schildern: Benoni, Lazarus und Cidli, Maria und Porcia, Mirjam und Debora; alles vortrefliche und liebenswürdige Scenen. Überhaupt würde unser Gespräch, wenn es die Schönheiten aus einander sezzen wollte, sehr spät zu Ende kommen; alles, alles ist bei K. in Theilen schön, sehr schön, nur im Ganzen nicht der rechte Epische Geist. Die liebenswürdigen Teile – Szenen, Episoden – gehen in keinem epischen Ganzen auf, es fehlt, bei aller Liebe, der »rechte Epische Geist«.133 Er kann nur fehlen, denn was bei Milton die aufgerufene epische Syntax garantierte und der vom Sündenfall geprägte ›sintalk‹ als Lauf der gefallenen Welt an erlösungsreifer Kompetenz des ins irdische Leben eintretenden Menschenpaares propagieren half – »some 132 Harold Bloom, A Map of Misreading, New York NY: Oxford University Press 1975, Synopsis. 133 Nach Anselm Haverkamp, Klopstock/Milton: Teleskopie der Moderne, Stuttgart: Metzler 2018, Zitat S.83; ich aktualisiere die Tendenz dieser alten Arbeit.

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natural tears they dropped, but wiped them soon« (letzte Zeilen von Paradise Lost) – ist nach stattgehabter Erlösung, Stand Messias, kein Thema mehr. Der am poetischen Genie Miltons teilhabende Satan (der ›precursor‹ aller romantischen Poesie, fragt man Bloom) ist im Messias erledigt, ja ein Teufel wird höchstselbst der Erlösung wert – eine vernichtendere Niederlage war für ihn nicht denkbar. Es war die historische Leistung der Ilias, den »rechten Epischen Geist«, den der Historiker Herder vermisste, aber als vergangenen wusste, in planmäßigem Lokalisieren der griechischen Landschaften die lokalen Episoden in das epische Ganze einer gegenwärtigen Welt zusammenzuführen. Nicht so Klopstock, in dessen Epos das den olympischen GötterZorn aufgipfelnde Zerstörungswerk eines Satan nach Miltons Maßen nicht anders kann als ins Leere zu laufen angesichts der neuen, vom Lokalkolorit auf die individualisierende Seelenwirtschaft umgestellte Funktion der Episoden, deren gegenläufigen »Trieb, selbständig zu werden, sich zu runden«, Karl Reinhardt bereits in der Ilias wirksam fand.134 Das Ganze tritt in der juridischen Gestalt der Apokatastasis, der Erlöstheit aller, einschließlich der überwundenen bösen Geister, ab vom Schauplatz der Geschichte. Es siegt der Geist der lyrischen ›Versöhnung‹ – eine sentimentalische Note, die Schiller an Klopstock festgemacht hat.135 Dem entsprechend hat Kemp an der Bilderzählung gezeigt, wie »das spezifische Gewicht des einzelnen Bildfeldes« zunimmt und das Erzählen ein ›Beziehen‹ wird, das im Bezugsraum Bild wie im Bezugsraum Text derselben raumbezogenen syntaktischen Ordnung unterliegt. Wie die gro134 Karl Reinhardt, Die Ilias und ihre Dichter, hg. v. Uvo Hölscher, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1961, S.39. 135 Friedrich Schiller, »Über naive und sentimentalische Dichtung« (1795) Schillers Werke XX, hg. v. Helmut Koopmann und Benno von Wiese, Weimar: Böhlau 1962, S.413–503: 457.

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ßen Bildsummen werden die großen Epen umorientiert von dem mythischen Ganzen der ihnen eingeschriebenen Teleologien auf die kontingent exemplarischen, disparatindividuellen Einzelteile von variationsreichen Tableaus. Milton nutzte die antiken Vorbilder zur Ausmalung des biblisch-dogmatischen Gesamtbilds; Klopstock dagegen remythisierte die Erlösung, vor der Milton als Gegenstand zurückschreckte wie vor dem Leibhaftigen, und das in kurzfristig diesseitigen statt der utopischen Durchblicke, in lyrischen ›Epiphanien‹ fast schon der Dubliner Art. Die epische Moderne, der Klopstock präludiert hatte und die Joyce vollendete, ist kein Fortschreiten. Die Metapher des Erzählens durchstreicht sich selbst, sie erübrigt sich in der Synekdoche des Erzählten. Der Synekdoche des Erzählraums entspricht die Metalepse der Erzählzeit: sie ist reine, absolute Leere (›rein‹ im transzendentalen Sinne Kants). Das ist verkürzt gesagt. Remythisierung, ein Vorwurf, gegen den sich Miltons Epos noch durch eine moderne, christliche Fortschrittsideologie zu salvieren wusste, heißt bei Klopstock, dem man in der zurückgebliebenen deutschen Provinz nicht abzunehmen wusste, was man nur im irritierten Seitenblick auf die große Französische Revolution ahnte, der unwahrscheinliche Vorgriff auf eine erlöste mythische Idyllik, deren Einzelbildchen sich der rhetorischen Hypostase des kosmischen Ganzen entwachsen wussten und darüber das Jüngste Gericht ganz vergaßen, weil man sich dem historischen Prozess eher glücklich als furchterregend überlassen sah. In dieser Sicht kam Klopstock mit Milton noch ungefähr überein und mit der ihm folgenden englischen Romantik, aus der Darwin ein anderes Fazit zog, das aber flugs dem falschen Fortschrittsgedanken wieder erlag. Während Keats von den Elgin Marbles geblendet war und angesichts der Bruchstücke dieses Tempels, des Parthenon, der kein Ganzes geblieben war, 88

in  Melancholie verfiel, war es Klopstock längst zufrieden gewesen, die Hütten auf dem Berg Tabor der Verklärung, die er seinen Jüngern bei der Fahrt auf der Zürcher See im Lichte antiker Idyllen vorstellte, auf ein erweitertes Wochenende »von vier Tagen« zu begrenzen.136 Der Vorschein bewirkter Erlösung erübrigte die christliche Fata Morgana der kosmischen Heilserwartung am Ende der Tage. Gebildetes Ausspannen in »Mutter Natur« und ihrer »Erfindung Pracht« (Schiller: »man kennt das schöne Lied«) verabschiedete das Ganze als Leerformel der überholten rhetorischen Überhöhungen. Das Unwahre des verflossenen Ganzen birgt in sich das kryptisch-metaleptische Moment einer in doppelter Hinsicht, negativ wie positiv, produktiven Leere. Das Ganze wie das Nichts – eine Leere. Parallaxe und neue Ironie Anders (drittens) in der Parallaxe, der synekdochischen Fermate, die Žižek der Enttarnung des Ganzen einzeichnet als Restgestalt des materialen Prozesses und an Henry James’ – »the ultimate writer of history« nennt Žižek ihn richtig – Wings of the Dove vorführt (der Beschwingtheit durch den Heiligen Geist nicht bewusst): [T]he Marxist critique of the speculative-Hegelian ideological inversions [ein absehbarer Aufhänger] in which an abstract predicate turns into the Subject of the process, while »real individuals« are reduced to its subordinated predicates; it is difficult to resist here the temptation [sagt Žižek] to (dis)qualify these stylistic 136 Johann Kaspar Hirzel (Zürich, 4.August 1750), nach der Quellensammlung von Fritz Brüggemann, Der Anbruch der Gefühlskultur (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, Reihe Aufklärung 7), Leipzig: Reclam 1935, S.144 (Klopstock/Milton, S.178).

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procedures as indications of James’s fall into »bourgeois ideological reification«, especially since his shift of emphasis from nouns to their properties [eine Synekdoche, wie sie im Buche steht] does not rely on the standard »dialectical« notion of the priority of the process over things caught up in this process, of »becoming« over »being«. (The Parallax View, S.125) »The subject [lautet Žižeks Befund] is not a thing to which attributes are attached, or which undergoes changes – it is a kind of empty container, a space in which things can be located« (die von Einstein ad acta gelegte ›Behälter-Theorie‹). Hegels Moral von der Geschicht’ dagegen, die Žižek mit Robert Pippin aus der Entgegensetzung von Entfremdung und Verdinglichung ziehen will (thematisierenden, psychologischen Interpretamenten),137 ist strukturell unzureichend, ein moralisierendes jumping to conclusions, das Lessing in Klopstocks Fall »wohlfeil« nannte. Žižek verliert die deskriptive Pointe, nicht zu sagen den analytischen Mehrwert der Parallaxe aus dem Blick; sie ist keine Allegorie der richtigen Lektüre, sondern taugt allenfalls zur Allegorie von deren falscher Totalität. Das Narrativ der Mikrohistorie wird von Žižek in bewährter Manier (vor der Quintilian schon warnte) aufgerundet zu einer Allegorie der unterstellten, behaupteten Makrohistorie. Die Konjunktur beider in glücklichem Nebeneinander spricht Bände; sie illustriert im selben Zug die methodische Crux der Geschichtsforschung. Der Aufhänger Žižeks, Henry James’ »real individuals«, die reduziert auf »subordinated predicates« auftreten, wird in der Parallaxe metaphorologisch um-modelliert. Dabei liegt der eklatante Zugewinn an tropologischer Trenn137 Robert Pippin, Henry James and Modern Moral Life, Cambridge UK: Cambridge University Press 2000, S.10.

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schärfe bei der Parallaxe in den Faktoren der Ortung und Messbarkeit aus zwei komplementären Perspektiven, was nicht heißt, dass eine Spaltung des Objekts oder beobachtenden Subjekts vorliegt, sondern nur: in der mehr als eindeutigen, vielfach bezüglichen Multi-Perspektivität des James’schen Romanwerks tritt eine generelle, intersubjektive Undurchschaubarkeit als Signatur einer vielfältigen Wirklichkeit auf.138 Von »monstrous multiplications« sprach James selbst.139 Das heißt, ein in den Romanen emergentes, gesteigertes Kontingenzbewusstsein bekommt es auf der metonymisch aufgerollten Oberfläche mit einer extrem labilen Balance zu tun, wird in ihr thematisch und ist in den verdoppelten, je synekdochischen Ansichten zu bewältigen. Žižeks Suggestion der Spaltung der Objekte trotz ihrer gesteigerten Ortung und Messbarkeit verdeckt die Serie der resultierenden Metalepsen, in denen die implizit mit gegebenen Bewegungswinkel als tote Winkel außerhalb der Blickführung liegen müssen: ›Entfremdung‹ resultiert hier aus der Überanstrengung der perspektivisch gebundenen Wahrnehmung, deren Effekte James naturgetreu als Teil von Saussures Illusion abbildet und durchdekliniert. Er ›entwickelt‹ (photographisch gesprochen) die proto-grammatische Vor-Gegebenheit der Parallaxe als den ›wahren‹ Wahrnehmungs-Untergrund der Darstellung – eine Voraussetzung, die er prädikativ unterstreicht. Hinter der symptomatologisch totalisierten, Freud mit Lacan optimierenden Allegorie der Verkehrsverhältnisse – so respektabel sie bei Žižek auch daherkommen mag – ist der Roman als Nachfolgegattung der »gottverlassenen Welt« 138 Vgl. Sophie Witt, Henry James’ andere Szene: Zum Dramatismus des modernen Romans (Bielefeld: Transcript 2015). 139 Henry James, »The Future of the Novel« (1900), Leitmotiv der Essay-Sammlung The Future of the Novel, hg. v. Leon Edel, New York NY: Random House 1956, S.30–42: 34.

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des Epos zu mehr imstande als zu der durchkreuzten Allegorie, die Žižek, Lukács’ Theorie sicher im Griff, mit James belegt; er nimmt so, ein alter Fehler (bezeugt Quintilian), die Grundfigur für den Grund, den sie figuriert, genauer: metaphorologisch modelliert. Auch dieses Ganze partizipiert an Adornos Unwahrheit des Ganzen. Die Leerstelle der Metalepsis, deren romanhafte Ausstattung bei James gattungsbildend ist (nach Henry James ist der Roman ein anderer), zeigt und rehabilitiert den Teufel im Detail. Roland Barthes hat ihn als ›effet de réel‹ festgenagelt: ›le réel‹ ist nicht das Ganze, das in ihm im Gegenteil zum Verschwinden gebracht ist.140 Das Einzelding, das die Parallaxe fixiert, ist – extremer als in der Synekdoche, die immerhin in der Verdoppelung den ricorso zur Metapher verspricht – in seinem Dasein isoliert, steht in seinem Sein für sich allein. Kontext-resistent erübrigt das Einzelne das Ganze, begrenzt es nämlich ein Reelles, das sich zur Realität nicht weiter totalisieren lässt, aber in seinem Wirklichkeitsbegriff (wie all dessen Vorgänger und Gegenspieler) zu aufrundenden Hypostasen verleitet (Žižek ist ein bereitwilliges Opfer). Das ist alles nicht neu, eine ältere Geschichte, in der Wolfgang Preisendanz, von Erwin Panofskys und Paul Böckmanns Formengeschichte her, die bessere Replik auf Lukács lanciert hatte, mit weniger Erfolg (und deshalb hier in Erinnerung gebracht). Der Begriff, der bei Preisendanz das Defizit an poetologischer Theorie gegen Lukács reparieren kann, ist der ›objektive Humor‹ Hegels. Er versieht den ricorso Vicos mit dem Supplement der philosophischen Reflexion, die in der ›sentimentalischen Dichtung‹ Schillers in eine subjektivistische Sackgasse geführt hatte. Tatsäch140 Roland Barthes, »L’effet de réel« (1968), Barthes: Textes choisis, hg. v. Claude Coste, Paris: Points 2010, S.191–203.

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lich zieht der Humor Hegels als ›objektiver‹ eine Konsequenz aus der Ironie Vicos (nicht der Friedrich Schlegels, sondern der Solgers), die bei Vico selbst in einer Variation des Gleichen verharrte. In der metaleptischen anstelle der (naiven) metaphorischen Wiederholung der variierenden Iteration hebt die subjekt-gebundene Perspektivik den modernen Roman, der bei Preisendanz auf den deutschen Sonder-Plan des ›poetischen Realismus‹ trifft, in eine selbsthistorisierende Distanz, und zwar die, welche in Baumgartens figura cryptica als ›ästhetische‹ entdeckt worden war. Kein vergegenwärtigtes Ganzes liege in ihr vor, schreibt Preisendanz, »kein Wiedererkennen des Transzendenten in seinen irdischen Figurationen.« Im Gegenteil: »Von allen Möglichkeiten der ›sinnenden Phantasie‹ [Solgers Begriff] unterscheidet sich die humoristische dadurch, daß die eigene Gebrochenheit, Bedingtheit und Endlichkeit mit vergegenwärtigt wird [und als solche im Text] eingelagert ist.«141 Die Synekdoche, die im Humor auf die Ironie folgt, statt ihr wie bei Baumgarten und Vico voranzugehen, und sich infolge der Ironie verdoppelt, ohne im ricorso zur erneuten Metapher und weiterführenden Totalisierung zu führen, legt offen, was in ihr als Um-kehr, conversio, schon mitspielte: Das pars pro toto verdeckt und enthüllt zugleich das totum, das pro parte zur ›performative force‹ wird, wiewohl es, dem rhetorischen Skandal der schwächeren Sache konform, die so zur stärkeren wird, der Partialität diese Begründung überhaupt erst verdankt. In der von Adorno berufenen »latenten Gebundenheit an Texte« hätte die Philosophie das immer schon wissen müssen, hat sie es 141 Wolfgang Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft, München: Fink 1963, S.44 (meine Verkürzung). Vgl. Vf., »Humor: Latenz der Form« (Preisendanz-Festschrift 2002), Metapher – Mythos – Halbzeug: Metaphorologie nach Blumenberg, Berlin: De Gruyter 2018, S.223–232.

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aber, wenn nicht als böse Latenz verteufelt, so doch als einen der Teufel, die im Detail sitzen, verleugnet. Das war der erste Schritt in Adornos perhorreszierten Verblendungszusammenhang hinein, in dem die Philosophie seit dem Höhlengleichnis mit einem Bein stehen geblieben ist. Sein und Gesagt-Sein Wer mit Adorno anfängt, hat im Großen und Ganzen nur Heidegger zum Aufhören.142 Das ›Sein‹ ist das Ganze und sein Übergang in alles Einzelne ein Bewegtsein am Grunde allen Sagens, das in der ›Seinsgeschichte‹ des Gesagt-Seins zwar keine onto-logische, aber eine grammatologische Grundbewegtheit hat. Die kürzlich publizierten Konvolute der »Phänomenologischen Arbeiten«, in denen Blumenberg die Reihe seiner gewichtigen publikumsfreundlichen philosophie-historischen Darstellungen begleitet hat (eine immens wichtige Quelle zum tieferen Verständnis dieser Werke), kreist um die von Husserl wie von Heidegger als geheimer Kern – als figura cryptica der Phänomenologie – rezipierte Vorgabe Franz Brentanos, der Vorgabe (ich zitiere die kürzeste Version Blumenbergs): »alle Urteile ließen sich in Existentialurteile transformieren«.143 Die Pointe lag mit dem Begriff der ›Unbegrifflichkeit‹ schon auf dem Tisch, denn der Befund situierte das Sein als Inbegriff des verlorenen Ganzen jenseits des begrifflichen Begreifens metaphorologisch: ›unbegrifflich‹ ist ein Sein, das es nur gibt, sofern es die copula aller Prädikate umfasst. Blumenberg hatte diese Einsicht aus Heideggers Kant-Lek142 Entsprechend die ausführliche Kritik an Heideggers Seinsbegriff in Adornos Vorlesung Ontologie und Dialektik (1960/61), hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S.64f. 74f. 85f. 143 Hans Blumenberg, Phänomenologische Schriften 1981–1988, hg. v. Nicola Zambon, Berlin: Suhrkamp 2018, S.272.

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türe bezogen und als das dringendste Desiderat der Kritik der Urteilskraft, »eine tiefere Untersuchung« anzustellen (§59), gegen die ›Seinsgeschichte‹ Heideggers gewendet.144 Der Seinsgrund totalisiert als dauerhaft entzogener die Vielfalt der möglichen Prädikate zu der leeren Stelle, in die – das weiß die Rhetorik von Anfang an und hätte Heidegger ihr ablesen können (falls es nicht das ist, was er unversehens getan hat) – alles Sagen mit allem in ihm sedimentierten Gesagt-Sein eintritt. Die theologische Interpretation der Sachlage durch eine anthropologische entmythisieren zu wollen, manifestierte nicht nur (Konjunktiv), es zementierte den in Adornos Minima der Moral adressierten Verblendungszusammenhang als ›Absolutismus der Wirklichkeit‹, dem die Metaphorologie die sprachanalytische, erkenntnispragmatische Diagnose stellt. Das Ganze, schließt Blumenberg, macht rhetorische Karriere als eine auf Dauer berechnete creatio ex nihilo, als ein »Dauerzustand« von Welt, in dem die Zeit vom grammatologischen Raum umfasst ist als dem absoluten Latenzwert der Neuzeit. Nicht ohne Ironie und aktualisierende Pointe sprach er gelegentlich (historisch relativierend) von »zureichender Vernunft«.145 Es ist eine letzte Ironie im Umlauf des ricorso, die nach dem Humor im Objektiven schreit. Denn so formlos das Ganze ist, so begriffslos nichtig ist sein Sein, und so formenträchtig – Ironie der Geschichte – ist die figurale Leere der freigeräumten Tropen und Tropismen.

144 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Kommentar von Anselm Haverkamp, Berlin: Suhrkamp 2013, S.16, Kommentar S.271 (weiter ausgeführt in Metapher – Mythos – Halbzeug, Kap.5 und 6). 145 Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung (Die Legitimität der Neuzeit, Teile I–II), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S.114 (Replik auf Carl Schmitts Politische Theologie, 1922, und Antwort auf dessen Gegen-Kritik Politische Theologie II, 1970).

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IV. Negativität*

Aller Negativität ist ein Hauch von Latenz eigen, den Adorno im ›Erhabenen‹ bemerkt hat, sofern er dort, und sei es nur »latent«, zur »Sprache finde«.146 Der Bodensatz des »schon Gesagten« ist selten treffender zur Sprache gebracht worden als im Spätwerk Becketts, das sprüht von Latenzen, nahen modernen wie fernen antiken. In diesen Bezügen löst sich die ein-sprachige Semantik der literarischen Denkmäler auf und kommt zu einer radikal-modernen ›Existenz‹ (Foucaults Emphase) zwischen den Sprachen. Hans Magnus Enzensbergers Museum der modernen Poesie (wie auch die Übersetzertätigkeit, aus der es erwachsen ist) beruht tentativ auf dieser Vermutung und zeigt die Lyrik als den Ort weither kommender Latenzen.147 De Saussures und Starobinskis Anagrammen entgegenkommend, bezeugte schon Petrarcas Laura ihre ungebrochene lyrische Aktualität, wie sie in superber Ironie neu-inszeniert ist in

* Eine erste Fassung des Beckett-Teils erschien unter dem Titel »Never but. Little Void: Becketts Negativität, Adornos kleinste Differenz« als Beitrag zu der Festschrift für Christoph Menke, die von Thomas Khurana, Dirk Quadflieg, Francesca Raimondi, Juliane Rebentisch, Dirk Setton zusammengestellt worden ist: Negativität. Kunst, Recht, Politik, Berlin: Suhrkamp 2018, S.113–122. Der Text ist hier durch die expliziter eingeführte Latenz ergänzt. 146 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, 2. Aufl. 1974, S.294. 147 Museum der Modernen Poesie, eingerichtet von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1960, 2.Aufl. 1963, Vorwort S.7–20: 10f. Die Generation 47 der Günter Eich und Enzensberger liegt jenseits der in ihrem Latenz-Aufkommen prägenden, zum Arbeitsfeld erklärten Vorgeschichte namens Moderne. 96

den Maulwürfen Günter Eichs (1968).148 Die Poèmes en prose von Baudelaire bezeugen die Stelle, die Enzensberger als die Schwelle seines Museums bestimmt, und die Beckett vor sich sah, als Joyce sie in Pomes Penyeach (1927) zu überschreiten begann, die das »Work in Progress« an Finnegans Wake begleiteten (Mallarmé war die Folge, für Beckett wie Derridas Anknüpfung).149 Never but, little void: Becketts LESSNESS Becketts späte Prosastücke sind nicht übersetzbar im üblichen Sinne; seine Art, sie parallel, zuerst auf Französisch, dann auf Englisch zu schreiben, belegt die Unmöglichkeit des Übersetzens im üblichen Sinne. Das ist in dieser Phase Becketts gravierender als für die frühen Romane, in denen die Narration über die darunterliegende gründlichere Differenz der Sprachen hinwegtäuscht. Was passiert in Becketts Neu- oder Parallel-Schreiben, ist nicht leicht vorab und generell zu sagen, weil es erst sichtbar wird in dem, was in der Doppelnatur dieser Texte an Latenzen je anders aufund vorgeführt wird. Ich beschränke mich bei Lessness, einem der kurzen Texte, die Beckett nach der Verleihung des Nobelpreises (1969) programmatisch, wie ein Siegel auf das seiner Vollendung entgegensehende Werk veröffentlicht hat, auf den englischen Text. Das verlagstechnische »Originally published in French« ist irreführend, denn es erweckt den Eindruck, die englische Fassung sei, bei aller offenbaren Titeldifferenz von Sans und Lessness, wiewohl

148 Vf., »Lauras Metamorphosen: Dekonstruktion einer lyrischen Figur in der Prosa der Maulwürfe«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58 (1984), S.420–449. 149 Vgl. Barbara Johnson, Défigurations du langage poétique, Paris: Flammarion 1979, ihrem Lehrer Paul de Man gewidmet.

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authentisch, nur sekundär.150 Ich will nun nicht umgekehrt behaupten, der französische Text sei nur der Vorlauf für die englische End-Fassung gewesen; eher scheint er im Lichte dieser wie ein Negativ zum Positiv. Was hieße, dass beider komplementäre Latenzen in eine weitere Sprache überzusetzen ein Unding an Synthese erforderte. Der Grund für das in sich komplexe Verhältnis der zweisprachigen Ausführung erschließt sich im Rückblick von der zweiten, englischen Fassung, welche die Übersetzung der ersten nur überlagern könnte. Auf sie beschränke ich mich deshalb in einem ersten Schritt, ohne die Rücksicht auf den Entwurf des französischen Sans einzuschließen.

Verdoppelte Philologie Das englische Lessness, in der Originalausgabe von Calder & Boyars durch die Kapitalisierung des Titels – LESSNESS – entgrammatisiert, bezeichnet einen Stand gesteigerter, in und auf sich zurückgezogener Negativität durch eine emphatische, suggestive Unbegrifflichkeit – eine metasprachliche Geste, mit der das »Exercitium der Dekomposition«, das Coetzee in diesem Text erkannt hat, die proto-grammatische Reduktion der Sprachmaterie in ihrer Begrenztheit

150 Samuel Beckett, Sans, Paris: Les Éditions de Minuit 1969; Lessness, London: Calder & Boyars 1970 (Reihe Signature 9), hier nach den Seitenzahlen dieser Ausgabe im Text zitiert. Die dt. Übers. v. Elmar Tophoven trägt den Titel Losigkeit und erschien als ›Hörspiel‹ – Ursendung WDR am 1.1.1971, Regie Martin Esslin, Frankfurt am Main: Suhrkamp Theaterverlag 1971. Unbeschadet der Autorisierung trägt die Übersetzung zu der folgenden Analyse nur indirekt bei. Die Sammlung The Complete Short Prose 1929–1989, hg. v. S.E. Gontarski, New York NY: Grove Press 1995, S.197–201, normalisiert das Original auf irreführende Weise.

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überspannt und qua Überspannung in der Begrenztheit festhält. Dass dieses Festhalten (das in der existentialistischen Emphase ein Aushalten ist) den sprachlichen SchreibHang der Negativität als einen relativen, gemilderten, statt des üblicherweise ›absoluten‹ erweist, bewahrt LESSNESS vor der Allegorie, in die Adorno Becketts Endgame ›überspringen‹ sah – einer Bewegung, die er in Benjamins Trauerspiel vorfand, und die ihn in der durch die barocke Provokation geprägten Ästhetik der zwanziger Jahre, die in der Ästhetischen Theorie unter dem Stichwort ›Situation‹ mit verhandelt ist, befangen hielt.151 Die verdoppelte, im Modus der Dekomposition zurückgespiegelte Negativität ist eine in sich zurückgenommene, in der Rücknahme zwar durchaus (quasi) ›dialektische‹ Negativität, aber keine auf Fortdauer der Dialektik gestellte, sondern in der Auf-Dauer-Stellung – keines Umschlags – festgehaltene Negativität (Benjamins ›Dialektik im Stillstand‹). Coetzee hat Lessness als »exercise in decomposition« formal bewiesen: als dekomponierte Form, welche die Form in der Zurücknahme gleichwohl, reduziert, bewahrt. Im Unterschied zu der für den modernen Roman charakteristischen Tendenz zur elliptischen, auf Unendlich gestellten Öffnung der Syntax, in der die minimalste Narrativität mit der alltäglichen Sprache abgleichbar bleibt, exponiert, pointiert, insistiert Lessness auf einer wohlkalkulierten Endlichkeit, in der eine begrenzte Anzahl von Wörtern der ersten Hälfte des Textes in der zweiten Hälfte exakt wiederholt wird: »Die Wörter 770–1538 stellen sich als keine

151 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928), Gesammelte Schriften I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, letzte Seiten, hier S.406. Adornos Benjamin-Lektüre prägt seine Einschätzung Becketts als Summe moderner Poetik bis in die Ästhetische Theorie, Kapitel »Situation«, S.36–37.

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andern heraus als die Wörter 1–769.«152 Wobei zu bedenken ist (deshalb bedarf es des Nachrechnens), dass die rechnerisch erste Hälfte von der zweiten in keiner Weise abgetrennt auftritt. Ihre Wiederholung in der zweiten Hälfte ist nicht explizit markiert, sie überpointiert nur, was im ungeschieden weiterlaufenden Text quasi ana-grammatisch untermarkiert geblieben und allein in der zusätzlichen, forcierten Reflexion (quasi an-ästhetisch) feststellbar ist. In dieser unkenntlichen Positivität wartet er mit einer zusätzlichen, mathematischen Pointe auf: 769 ist eine Primzahl. Was in Becketts frühem Werk eine existentielle Negativität ausstrahlte (aber womöglich ein Missverständnis irischen Humors ist), erscheint nach Imagination Dead Imagine (1965) auf einen Sprachstand zurückbezogen, welcher der ›Reduktion‹ der Phänomenologen gleicht. Für Wolfgang Iser indiziert er eine Tieferlegung der allfälligen psychohistorischen Motive, die den Roman der Moderne insgesamt beherrschen. Unterhalb der von der Menge bemühter Interpreten eruierten Motivlagen in Becketts Werk brächte die späte Prosa die phänomenale Konstitution ihrer Wirkung mit an den Tag.153 So dass sich die interpretative Crux, exemplarisch von Becketts Endspiel, auf einen Spagat ausweitete zwischen Aspekten der existentiellen Betroffenheit  auf der einen Seite und purem aleatorischem Spiel auf  der anderen Seite. In der einen Hinsicht, der seit Adorno  bekannten Schwierigkeit »das Endspiel zu verstehen«, lässt sich der Wirkungsmodus in seinen psycho-

152 John Maxwell Coetzee, »Samuel Beckett’s Lessness: An Exercise in Decomposition«, Computers and the Humanities 7 (1973), S.195–198: 195 (meine Paraphrase, Übersetzung, Ergänzung). 153 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S.416– 425; zuvor Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink 1976, S.343–347.

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analytischen Abschattungen nachvollziehen, in der anderen Hinsicht lässt sich die unabsehbare Menge der Möglichkeiten als ›random permutation‹ zu einem ComputerSpiel von »Possible Lessnesses« erweitern (was obendrein auch noch neurologische Grundlagen offenbaren können soll).154 Nun lässt sich bei aller abstrakten Nachkonstruierbarkeit der im Text genutzten und gegen die hergebrachten narrativen Teleologien gewandten, dekomponierenden WortKonstellationen ein beträchtlicher Aufwand an semantischen, sogar motivischen Resten nicht leugnen. Er unterfüttert die aleatorische Oberfläche und negiert den Zufall der depotenzierten Wortaufkommen zugunsten des irreduziblen einen Falls des allfälligen Endens. Schon die in Endgame (1958) ins Werk gesetzte »Inversion von Manifestem und Latentem« zeigte das später in Imagination Dead Imagine explizit gemachte und zur Vorstellung gebrachte meta-poetische Gerüst in seiner vollen Ausprägung, wobei der »latente Grund der sich im Bewußtsein manifestierenden Vorstellungen des Zuschauers vom Ende« bereits zum tragenden Thema geworden war.155 Lessness führt die protosyntaktische Konstitution dieses in Endgame thematisch gemachten Hangs zur Negation als in der negierten Negation selbst liegenden, in ihr konstitutiv latenten Sprachhang vor. Latenz wäre – so das Fazit der Sprachübung Lessness – der proto-grammatisch manifeste Sprachhang der Negation. Doch ich greife vor.

154 Elizabeth Drew, Mads Haahr, »Lessness: Randomness, Consciousness and Meaning«, Dublin: Trinity College 2002; die darauf beruhende website »Variations on Lessness« war aus Copyright-Gründen zeitweise geschlossen. 155 Gabriele Schwab, Samuel Becketts Endspiel mit der Subjektivität: Entwurf einer Psychoästhetik des modernen Theaters, Stuttgart: Metzler 1981, S.111.

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Zunächst, der kategorisch einschneidenden Maxime Imagination Dead gemäß und dem durch sie transzendentalisierten Imperativ Imagine! folgend, zu dem Titel-Gegenstand, dem substantivierten Wortbildungsrest -lessness. Schon der allererste Abschnitt lässt an dem exemplarischen, der emblematischen Funktion des Titels entsprechenden Paradigma der ausgebreiteten Varianten von -lessness keinen Zweifel: »All sides endlessness« steht im zweiten Satz, wobei von ›Satz‹ nur noch minimal die Rede sein kann, denn nur wegen der Satz-Schlusszeichen (Punkte) kann hier überhaupt von Sätzen gesprochen werden. Kommata und andere, differenzierende Satzzeichen, so nötig und nützlich sie wären, kommen nicht vor. Schon die programmatische Reihung Imagination Dead Imagine konnte nur in einem kolloquialen Verständnis die unter ihr verblassende Syntax in Erinnerung halten; von »shattered articulation« sprach Christopher Ricks in seiner Bestandsaufnahme von Beckett’s Dying Words.156 Diese Art Dramatisierung will der mit Ricks bekannte, von ihm aber offenbar hinreichend genervte Beckett in Lessness (einem Text, mit dem Ricks nicht viel anzufangen wusste) nicht bestätigen. Denn weder in Imagination Dead Imagine, noch in Lessness wird Syntax zerstört, sondern als völlig intakte, idiomatisch mit der größten Perfektion ›getunte‹ Form auf einen präzisen, phänomenologisch glasklar nachvollziehbaren Grundriss reduziert. Lessness offenbart die Reduktion im negativen Zug der phänomenologischen Operation als eine sprach-

156 Christopher Ricks, Beckett’s Dying Words, Oxford: Oxford University Press 1993, S.45, eine der wenigen Erwähnungen der späten Prosa in diesem Buch. Ich zitiere Ricks’ brillante, einfallsreiche Studie, weil sie mit ihrer weithin geteilten Mainstream-Pointe auf eine charakteristische Weise in die Irre geht. Kein Wort stirbt bei Beckett, im Gegenteil, sie leben fröhlich fort.

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liche Bedingtheit, die proto-grammatischer, Grammatik formierender Natur ist. So hat schon das erste Wort, das emblemartig isolierte Wort »Ruins«, wiewohl es den Abbau thematisch in die Wege leitet, das Zeug zur ausgewachsenen Allegorie, ja es zitiert mit den Ruinen einen Inbegriff von Allegorie: Umgeben – »All sides« im nächsten, zweiten Abschnitt – von »endlessness« (S.7, wiederholt S.20), ruft es in wenigen Strichen die klassische Form der umfassenden tota allegoria auf den Plan, um diese allerdings einschließlich des ihr eigenen Endes zu destruieren. Ein wohl bekanntes Bild deutet sich an, aber die Andeutung leidet an keiner, wie man denken wollte, sprachlichen oder imaginären Beeinträchtigung. Im Gegenteil wird sie von einer Flut phänomenaler Merkmale begleitet, an denen die sprachliche Seite des ›Bildes‹ als ein Moment von Begriffsbildung fassbar wird. Dabei bleibt das Gros der übrigen Elemente des Textes ohne weitere syntaktische Hilfestellung durch Satzzeichen, besteht es kaum in mehr als Wort-Paaren, in denen zwei minimal aufeinander bezügliche oder beziehbare Wörter die aus der Aleatorik herausragenden Komposita von -lessness präparieren und durchspielen. So folgt gleich am Ende des ersten Abschnitts issue-less, was einen idealtypischen allegorischen Sekundärrahmen, die durchgehende continuatio bei Quintilian aufruft (und die daraus abgeleiteten contracta Baumgartens dazu, aber dessen wird sich Beckett kaum klar gewesen sein): kontinuierlich durchgeführte -lessness als gegenstandsfreies Prinzip der syntaktischen Verkürzung. Die gegenstandslose – issueless – Assoziation der Worte legt in der syntaktischen Verkürzung qua -lessness eine unbestimmte Menge sekundärer, syntaktisch noch nicht oder nicht mehr manifester Bezüge frei: sie suggeriert latente Bezüge. Die Allegorie der Entleerung indessen ist 103

absolut, lückenlos und wiederholungsresistent; sie füllt sich nicht mehr durch quer einlaufende, und seien es zufällige oder strategische Manipulationen an der lexikalischen Materie. Aber der fingierte Zufall hat nicht verhindert, ja zeigt sich erneut imstande (und beweist sich auf die Weise als Fiktion), dass zwei syntaktisch ergiebigere, über die durchgehende minimale Selbst-Kontextualisierung hinausführende Wort-Passagen aus dem Assoziationsfluss auftauchen und die phänomenale Spurenlese der minimalen Bild-Fragmente bei weitem übertreffen, ja möglicherweise hinterrücks neu- oder fremd-motivieren. Es sind zwei unschwer aufeinander bezügliche Passagen, welche die Frage aufwerfen, wie und zu welchem Ende die aleatorisch entleerte, bis auf die spärlichsten syntaktischen Verankerungsreste abgebaute Form der ›Losigkeit‹ (Tophovens Übersetzung) die Nachbilder allegorischer Fülle, die sie aufruft, weiter intendiert. Adorno traute ihnen nicht, und wer wollte es noch, nachdem ihn Becketts Ernst in der Sache – Endgame trägt den Ernst ostentativ im Titel – überzeugt hat. Himmelblauer Himmel Endgame ist der offenbare, qua end-lessness identifizierbare Bezugstext für Lessness. Eine erste der beiden kurzen (in der zweiten Hälfte unmodifiziert wiederholten) Einlagen macht den Bezug unausweichlich, indem sie ein von Stanley Cavell in Endgame erkanntes biblisches Motiv aufgreift (hätte Cavell Lessness gelesen, hätte er es wiedererkannt), Noah und seine Arche: »He will curse God again as in the blessed days face to the open sky the passing deluge« – ein ausgepichter Satz wie er im Buche steht (S.8, wiederholt S.20, Ende des Abschnitts). »He« ist Noah, und die Arche das mythenreife Paradigma des primordialen 104

Raum-Konstrukts, das Imagination Dead Imagine als ersten Imaginationsgrund herauspräpariert hatte. »He« (das einzige Personalpronomen im Text) bahnt den ersten zu syntaktischer Normalform gediehenen Satz an, mit dem der dritte Abschnitt von Lessness die in den beiden vorangegangenen Absätzen durchkreuzte Assoziationserwartung normgerechter Satzfolgen für diesen einen Satz zurücknimmt. Nach dieser Einlage fällt der Text umgehend in die offene Wortfolge zurück, worin der manifeste Bezug dann auf nicht mehr als je zwei Wörter schrumpft: »Little body grey face« &c. ohne Zeichensetzung. Was ist Noahs Punkt, der aus der Flut der -lessnesse auftaucht wie das Land nach der Sintflut? Nach Imagination Dead Imagine kann es nur die (dort ungenannte) Arche sein, deren Rolle von Hamm, Noahs mythischem Sohn im Endspiel erläutert wurde. Cavell hatte Noah in Endgame als Fragment einer Theodizee mit desaströsem Ausgang erkannt: »Something has happened in the ark during those days and nights of world-destroying rain and the months of floating […]. Hamm has seen something in the ark of the covenant. I imagine it this way.« Cavell, kongenialer Beckett-Leser – »I imagine« – antizipiert, extrapoliert (oder kannte doch schon) Imagination Dead Imagine aus demselben Jahr wie seine Interpretation. »The Covenant is a bad bargain«, verdeutlicht er die von Hamm ad acta gelegte Theodizee, und das Fazit folglich »what must end is the mutual dependence of God and the world: this world, and its god must be brought to a conclusion.«157 157 Stanley Cavell, »Ending the Waiting Game: A Reading of Beckett’s Endgame« (1964), Must we mean what we say? Cambridge UK: Cambridge University Press 1969, S.107–150: 138 und 140 (Cavells Hervorhebung). Cavells Vorbild mag William Empsons Lektüre des ebenso für Beckett in diesem Punkt vorbildlichen John Donne abgegeben haben; sie steht unter dem Stichwort ›double plot‹ von Empsons

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Becketts Schluss in Endgame, Hamm und mit ihm Hamlet zitierend, sei phänomenologischer, quasi-transzendentaler Natur, schließt Cavell wie auch Iser. Der Grundriss von Imagination Dead Imagine zeitigt in Lessness eine fundamentale poetologische Konsequenz, und die wäre grammatologischer Art. Wie die poetologische Konsequenz in den grammatologischen Weiterungen von Lessness sich negativ-ästhetisch entfaltet, zeigt Beckett in der zweiten, buchstäblich (und das keineswegs zufällig) idyllischen Einlage: »Never but imagined the blue in a wild imagining the blue celeste of poesy« (S.13, wiederholt S.19). Das letzte Wort dieses eigenwilligen, aber keinesfalls unklaren Satzes, ›poesy‹ (wie in Puttenhams Arte of English Poesie von 1589), bringt stellvertretend für alle Poetiken das ewige Paläonym aller poetischen Imagination in Erinnerung und dessen Wahrnehmungsgrund, das Blau eines himmelblauen Himmels, das keiner Theodizee und keines Regenbogens je bedurfte. Reines celeste tönt im nächsten Satz das kreideweiße Nichts  der Reduktion im Zentrum des in Imagination Dead vorgestellten Ur-Raums: »Little void mighty light four square all white« – ein Geviert in vier aneinandergereihten Wort-Paaren. Imagination Dead Imagine ließ »no question now of ever finding again that white speck lost in  white-ness.«158 Lessness erinnert dagegen und darüber hinaus mit dem Ur-Raum der Arche und mit der Brüchigkeit des mythischen Covenant die der szenischen Vorgabe eingeschriebene ur-poetische Ur-szene von des Himmels Some Versions of Pastoral, London: Chatto & Windus 1935, S.75: »Drowning the world no more [as in Donne’s Holy Sonnets] brings us  back to Noah and an entirely pre-Copernican heaven« – auf den es Beckett nun ankommt. 158 Samuel Beckett, Imagination Dead Imagine, London: Faber & Faber 1965, S.14. Vgl. Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S.421.

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Bläue, genauer der vom alternden Hölderlin erinnerten »lieblichen Bläue« – »In lieblicher Bläue blühet« beginnt Hölderlins Fragment – in ihrer alt-latinaten, celesten, von Puttenham neu gefassten Prägung der Poetik.159 Never the less steckt implizit, naheliegend, aber ungesagt, im »Never but imagined«, einer ungewöhnlichen, nicht unmöglichen, aber schwierigen, überkomplexen, man mag sagen hyperbolischen Wendung. Genau besehen ›erinnert‹ Lessness nicht – »never but« –, sondern zitiert es die in Endgame beschlossene, in Krapp’s Last Tape noch im selben Jahr aufgerufene, an Hölderlin anknüpfende sprachliche Erinnertheit als die syntaktische Errungenschaft der Dichter (sie »stiften die Dichter« in Hölderlins Andenken).160 Becketts Poetik löst diesen poetischen Kern aus der kryptischen Schale, in der sie verborgen liegt wie ihr mathematisches Analogon, die in der Krypsis der Text-Teilung beschlossene Primzahl. »Little void« bringt »poesy« mit sich, zieht sie nach sich im nächsten Satz-Ansatz, und so erhellt sich, ohne dass man dem narrativen Sog der Assoziationen wie dem Gesang der Sirenen in der Dialektik der Aufklärung erliegen 159 Die derzeit prominenteste poetologische Quintessenz des Hölderlin-Fragments, die Beckett in der frz. Übersetzung von André du Bouchet, Poèmes de Hölderlin, Paris: Mercure de France 1963, S.44, zugänglich war, ist Martin Heideggers Interpretation »dichterisch wohnet der Mensch« (1951), Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske 1954, S.187–204: 201ff.; frz. Essais et conférences, übers. v. André Préau, Paris: Gallimard 1958, S.224–245. Bei du Bouchet »En bleu adorable«, bei Préau »Dans un azur délicieux«, in Becketts französischer. Fassung Sans aber gleichlautend »celeste«: »Jamais qu’imaginé le bleu dit en poésie céleste qu’en imagination folle.« 160 Dieter Henrich, Sein oder Nichts: Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, München: Beck 2016, S.29–38. Dazu Vf., »Die Spur des Genitivs im Nichts: Dieter Henrich, Beckett und Hölderlin«, Philosophische Rundschau 63 (2016), S.317–334 (Metapher – Mythos – Halbzeug, Kap.15).

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müsste (dort eine Deckerinnerung an den Ursprung der Kunst), die konditionale Zeitlichkeit des syntaktisch variablen »Never but« am Anfang des Imagination-Satzes (S.13 und 19). Ja, dieser lässt sich nun – »Never but« – als ein in die kleine Lücke, in the »little void« der Latenz zurückgetretener Rest, als die zerstreute Spur eines Musen-Anrufs identifizieren. Was auf der Text-Oberfläche als Nachbild syntaktisch fragmentierter Narration auftritt, offenbart an den Rändern, in den mit-aufgerufenen Resten des motivischen Untergrundes, die poetologische Verankerung der Wörter in einer proto-grammatischen Synthesis, die von weither kommt. Adorno hat auf ihr bestanden als der eigengesetzlichen »Logik des Produziertseins« und sich damit der ›Logik‹ der prä-grammatischen Prätention angeschlossen, durch die sein Vorbild Valéry die Avantgarde, in die Beckett zu stehen kam, mit der Poetik der Alten versöhnen wollte (er sprach deshalb, vorsichtig, von »Valérys Abweichungen«).161 »Als einzige Hoffnung dämmert«, schrieb er anlässlich Becketts gegen Ende der Negativen Dialektik, »daß nichts mehr sei.« Aber, setzte er nach: »Auch die verwirft er«.162 Das lässt sich mit dem späten Beckett genauer sagen als Adorno, der Lessness nicht mehr gelesen hat, präsent war. Zwar hätte er Becketts »little void« unschwer als den »Spalt der Inkonsequenz« erkannt, aus dem »die Bilderwelt des Nichts als Etwas hervor[tritt], die seine Dichtung festhält.« Aber wenn bei ihm im Negativen der Inkonsequenz »lautlos geschrien [werde], daß es anders sein soll«, so bezeichnet diese »kleinste Differenz zwischen dem Nichts und dem zur Ruhe Gelangten« doch

161 Theodor W. Adorno, »Valérys Abweichungen« (1960), Noten zur Literatur II, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1961, S.42–94: 43. 162 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966, S.371–372.

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»die Zuflucht der Hoffnung« als ein »Niemandsland zwischen den Grenzpfählen von Sein und Nichts«. Hamlets letztes Wort »the rest is silence« (die Frage »Sein oder Nichtsein« klingt unfehlbar mit an) hatte den ›Rest‹ gleichlautend mit der ›Ruhe‹ genannt, die jener semantisch impliziert. Adorno trifft, nachtwandlerisch, mit der »kleinsten Differenz« auf »the little void« von LESSNESS, von -lessness als der »kleinsten Differenz«. Doch schüttet er das Kind mit dem Bade aus, wenn er Beckett die poetische Hoffnung, die er selbst »die einzige« nennt, doch wieder nur »verwerfen« lässt. Dass »es anders sein soll«, heißt ja nicht notwendig, dass es – »never but« – je anders sein werde (oder werden könne). ›Revolution‹ ist proto-grammatisch, selbst grammatologisch, nicht avisierbar; sie ergibt sich – so oder so – nicht. Ihr U-topos ist per definitionem grammatisch nicht erfasst. (Es gibt sie, wie die historische Erfahrung lehrt, nur als riskante Metapher.) Adornos Negativität ist eine doppelte, aber der allegorische Kurzschluss, zu dem ihn Beckett verleitet, ist ein mit viel Kunst, und allein durch sie durchkreuzter. Er ist nicht nur überflüssig und irreführend (irregeleitet wie die ganze existentialistische Beckett-Konjunktur).163 Ihr im strengen Sinne ›ästhetisch‹ Werden liegt auf einer anderen, zweiten Ebene, nicht in dem allegorische Evidenz erheischenden Schein mehr oder minder offenbarer Sozialverhältnisse, sondern in der qua Dialektik durchkreuzten Negativität der Kunst, Beckett nennt sie Lessness. Er präzisiert Adornos ästhetische Negativität als grammatische -lessness gegenüber aller – und das zwangsläufig – ideologisch infizierten Narrativität (die der Sirenen des Odysseus ein-

163 Vgl. Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst: Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S.92.

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geschlossen). Der Theorie, ästhetischer Theorie, bedarf diese Negativität als ein paradoxes Erkennen, das sich nicht als ein sokratisches, besserwissendes Nichtwissen gerieren darf, wie Adorno, ratlos, feststellte. Denn Beckett gibt nicht zu wissen, dass wir etwas nicht wüssten, was wir untergründig, durch Erfahrung und, zunehmend, Erfahrungsschwund (im Verlust als Verlust) wissen müssten (und folglich gar nicht anders als wissen könnten). Beckett gibt zu lesen, zwingt im Lesen nachzuvollziehen, was allein in der Negativität der ästhetischen Erfahrung (die deshalb keine Erfahrung mehr ist und das ästhetische Phantom voller, erfüllter Erfahrung in der Kunst abweist) bleibt. Der von Beckett geschätzte Hölderlin sagte: das stiften die Dichter. Der von ihm zitierte (mit Hamm an-zitierte) Hamlet hinterließ: der Rest ist Schweigen. Er wird von Beckett beim letzten Wort genommen, denn das Schweigen ist die verschwiegene Implikatur des syntaktischen Grundes der Latenz, welche Lessness im »Never but« (mit never the less als syntagmatischer Mitgift) offenlegt. Ästhetisch ist es die Mit-Gegebenheit der Latenz (Baumgarten), die in der Negativität, sprachlich abgeschwächt, ein- und innehält und nicht dialektisch proliferiert (Benjamin). Als durch und durch ›profane Erleuchtung‹ – »Himmelblauer Himmel, nachmittags um vier« (Adorno wusste, warum er Enzensberger nicht mochte, er hatte ihm Hölderlin verdorben)164 – mag sie zwar abfärben und auf geminderte Weise einen attraktiven, den erträglichsten Modus von Erfahrung mimen. 164 Hans Magnus Enzensberger, »Nachmittag mit Wolken«, arr. Peer Raben, gesungen von Ingrid Caven, Der Abendstern (RCA Victor 1979). Adornos Abneigung entzündete sich an Enzensbergers Hölderlin-Replik im Titelgedicht der landessprache, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1960, S.7–13: 12 »deutschland, mein land, unheilig herz der völker«. Beckett letztlich kongenial antwortend, versetzt Enzensberger das Hölderlin-Motiv mit einem verdeckten Zitat aus Joyces frühem Programmgedicht »The Holy Office« (1904).

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›Mimesis‹ durchkreuzt den ›Ausdruck‹, dem sie doch auf die Beine geholfen hat: erfahrbar ist an der ›profanen Erleuchtung‹ nur, »daß der Eingriff durch Mimesis mißlang«, schließt die Ästhetische Theorie (S.169). Ihr Misslingen verdankt sich der Latenz, die dem Gelingen dazwischenkommt. Das »archaische« Paläonym der Mimesis dagegen, dem Adorno sein historisches Recht lassen möchte, steht für die Substitutionslogik eines quid pro quo, mit dem er die proto-grammatische Konstitution syntaktischer Synthesis benennt. Die poetologische Pointe, die Beckett seinem Werk in Lessness nachgeschickt hat und deren Adorno sich (Negative Dialektik hin oder her) glücklich geschätzt haben dürfte, ist eine vergangene, grammatisch erinnerte und füglich ›gerettete‹ Hoffnung (Dialektik der Aufklärung geschenkt). Sie macht aus der diachronen Latenz der Sprache die unleugbare Gegenwart der Tragödie in der Synchronie gegenwärtigen Sprechens akut, und sie begründet – never but, never the less – die Kunst als »eine Tendenz, ein[en] Trieb, eine Kraft, die sich gegen die Grenzziehungen richtet, auf denen die normativen Ordnungen, in den Künsten wie außerhalb von ihnen, beruhen.«165 Tendenzen, Triebe, Kräfte werden historisch – das ist die grammatisch-futurische Implikation ihrer Bestimmung – aus der unvordenklichen Latenz vergangener, vergegenwärtigend zu rettender Zukünfte, selbst keiner Zukunft. Ob Negativität ohne Latenz denkbar ist, je frei von Latenz vorkommt, von Latenz in der Negativität je zu abstrahieren ist, ist die Frage keiner Zukunft. Die Kontingenz, deren Bewusstsein die Moderne – das war Teil ihres Projekts – sich antrainiert hat, als Zufall dem Begriff ihrer

165 Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin: Suhrkamp 2013, S.117; vgl. Die Gegenwart der Tragödie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.

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Freiheit zugerechnet oder abgewonnen hat, behält sich, als wäre sie die List der Vernunft, einen letzten Anschein entrückter göttlicher Allmacht vor. Sie hat etwas von einem apotropäischen Zauber an sich, der die kategorische Unbefragbarkeit des schlicht Latenten bannen soll. Becketts trockener Humor, objektiv wie der von Hegel ins Auge gefasste, zieht der Kontingenz den Zahn der Zeit und präsentiert ihn als Latenz der diachron gesättigten SprachStruktur, als Kern des vor-kategorischen Imperativs Imagine! – eines kraft Latenz immer auch schon Zukünftigen.

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V. Anagramm und Prosa: Der Maulwurf als Theorie

Anagramm und Ironie So hängt alles viel enger zusammen als man denkt.166

Es scheint klar, dass es sich bei der Prosa um eine Gegebenheitsweise handelt, und zwar nicht von Sprache, sondern in und durch Sprache. Das naturalistische, als strukturalistische Patentlösung beliebte Pendant ist die Narration: das erzählend auf die Reihe und in eine Folge gebrachte minimale Gerüst von Prosa im Stande ihrer proto-grammatischen Noch-Nicht-Festgelegtheit – ›de-tensed time‹ ist das proto-syntaktische Korrelat.167 In dieser proto-strukturell offenen Vorgegebenheit gleicht die Prosa (sofern man bei Vor-Strukturen überhaupt von Analogien reden kann) dem Anagramm, und die Analogie von Anagramm und Prosa ist rhetorik-theoretisch als eine eigentümlich gegenläufige Relation auch aufgefallen. Frederick Ahl hat sie in der Urmaterie der klassischen lateinischen Literatur, bei Ovid und Vergil (und nicht wie Saussure in den davor und darunter liegenden archaischen Restbeständen) als ein konstitutives Moment aufgewiesen. Die klassischen Anagramme, findet Ahl, ähneln einer ähnlich un-offensichtlichen, abgründigen Natur von Prosa, von der fraglich ist, ob der rhetorische

166 Günter Eich, »In Ansbach« (im MS datiert auf den 16.10.1969), Ein Tibeter in meinem Büro: 49 Maulwürfe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S.12–13: 12. Gesammelte Werke I–IV, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, 1991, Bd.I, S.360–61: 361. 167 L. Nathan Oaklander, Quentin Smith (Hg.), The New Theory of Time, New Haven CT: Yale University Press 1994, Introduction.

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Befund der Ironie schon auf sie zutrifft: »If Quintilianic irony is the least demonstrable but most acceptable figure of speech, the anagram is without doubt the most demonstrable and least acceptable«, lautet sein Fazit.168 Quintiliansche Ironie – die in Quintilians Handbuch zu unübertroffener Prägnanz gediehene Figur par excellence, in der wie in kaum einer anderen (die Allegorie wäre die einzig relevante andere) die rhetorische Verfassung von Diskursen erfasst ist – ist der Inbegriff dessen, was Prosa in dem etymologischen Urverstand, an den Giorgio Agamben erinnert hat, ausmacht. Ironie ist die rhetorisch manifeste Ausbeute der Prosa im proto-typischen Urzustand – und nicht erst Effekt der Erzählfiktion, des ausgewachsenen Romans. Ihre offenbare Verborgenheit, die seit Ramus als ›crypsis of method‹ theoretisiert worden ist (Miltons Begriff) und in Baumgartens ramistischer Fortführung als figura cryptica die Ästhetik hervorbrachte und die ästhetische Dimension explizit machte, funktionierte ohne alle Signale. Oder sie operierte über verdeckte, verschobene Erkennungszeichen, zu Gattungsmerkmalen geronnene Marken, die als Über-markierungen von überschüssiger, selbst wieder ironischer Art sind. Ihre seit Baumgarten fällige ästhetische Theoretisierung hat ein mise en abîme zur Grundfigur, denn sie bekommt es mit der Sprache als einem unabsehbaren Abgrund zu tun. Bei Anagrammen verhält es sich – das ist eine Ironie ganz eigener, introvertierter Art – perverserweise umgekehrt.

168 Frederick Ahl, »Ars Est Caelare Artem (Art in Puns and Anagrams Engraved)«, On Puns: The Foundation of Letters, hg. v. Jonathan Culler (Oxford: Blackwell 1988), S.17–43: 26; Quintessenz von Metaformations: Soundplay and Wordplay in Ovid and Other Classical Poets, Ithaca NJ: Cornell University Press 1985, wo diese Idee leider kaum fruchtbar gemacht und durchgehalten ist; sie muss dem Autor erst nachträglich in ihrer Tragweite aufgegangen sein.

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»Doch bleibt [so die Forschungslage] die prosaische Redeweise in formaler Hinsicht unterbestimmt«, hat Inka Mülder-Bach die Verlegenheit der Theorie auf den springenden Punkt gebracht.169 Die Unterbestimmtheit dieses Überschüssigen liegt vor den gattungspoetischen Begrenzungen, die seit der Konjunktur des Prosabegriffs im 19.Jahrhundert als der Gegensatz von Poesie und Prosa hervorgetreten und zu der sprichwörtlichen, nachgerade allegorischen Folie sogenannter prosaischer Lebensverhältnisse geraten sind. Das hat Wolfgang Preisendanz in einer denkwürdigen Vorlage zum Thema der »Nicht mehr schönen Künste« auf die Hypothese eines »Funktionsübergangs« gebracht, der in der Prosa – Heine ist bei ihm der paradigmatische Ort – »Dichtung und Publizistik« verbindet.170 Der Untertitel des bahnbrechenden Kolloquiums der Poetik und Hermeneutik III über »Grenzphänomene des Ästhetischen« verrät einen seinerzeit mangelhaften Stand der Theorie und die Provokation des Abweichlers Preisendanz, denn es handelt sich für ihn um kein Grenzphänomen, sondern um einen Grundzug der von Baumgarten auf den Begriff gebrachten, von Kants dritter Kritik vergeblich entschärften und unter dem Begriff der Urteilskraft verharmlosten Aesthetica. Tatsächlich führt die von Ahl an der Anagrammatik gewonnene Einsicht auf eine weiterhin ungelöste begriffliche Crux der Rhetorik als Grundlage der Poetik, wie sie von Baumgarten revidiert wurde. »Poetic writing [befand Paul de Man in seiner Ein-

169 Inka Mülder-Bach, Einleitung, Prosa Schreiben: Literatur – Geschichte – Recht, hg. von Inka Mülder-Bach, Jens Kersten, Martin Zimmermann, Paderborn: Fink/Brill 2019, S.1–11: 2. 170 Wolfgang Preisendanz, »Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik«, Poetik und Hermeneutik III (1968), S.343–374; Heinrich Heine: Werkstrukturen und Epochenbezüge, München: Fink 1973, S.21–68: 22f.

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führung in die Allegories of Reading] is the most advanced and refined mode of deconstruction; it may differ from critical or discursive writing in the economy of its articulation, but not in kind.«171 Poetik – auch die Poetik der Schreibart ›Prosa‹ – bekommt es mit einem Grundzug poetischen Schreibens zu tun, dessen Rhetorizität in der dekonstruktiven Gegebenheit, in der Ökonomie der Artikulation, keine Differenzqualität aufweist zu der diskursiven, gesprochenen Sprache – weshalb auch Baumgarten nicht gezögert hatte, der Rhetorik, speziell der ›crypsis of method‹ in Gestalt der figurae crypticae von Ironie und Allegorie, ihren rhetorisch angestammten, bewährten Anteil zu lassen. Was macht dann den Unterschied aus, von dem die formale Differenzqualität die Oberfläche ist? De Man legt nahe, »advanced and refined« als Aspekte einer reflektierten Rhetorik aufzufassen, die Gattungen der Poetik also nach der Art ›reflexiver Mechanismen‹ als längerfristig regulierte Vorgaben eines quasi automatisch erbrachten Selbstbezugs aufzufassen (ich zitiere Luhmanns nützliche ›reflexiven Mechanismen‹, die bei ihm nach ›Reflexion‹ und ›Reflexivität‹ als Momenten von ›Thematisierung‹ weiter zu unterscheiden sind).172 Der Musterfall der verdeckten, kryptisch effektiven Ironie in der Fiktion des Romans, wie er in Gestalt von Rousseaus Nouvelle Héloise de Man vorlag, die Brieffiktion seit Richardsons Clarissa und, in letzter Steigerung, von Laclos’ Liaisons dangereuses, ist der eines unmerklichen Funk-

171 Paul de Man, »Semiology and Rhetoric« (1973), Allegories of Reading, New Haven CT: Yale University Press 1979, S.3–19: 17 (meine Hervorhebung). 172 Niklas Luhmann, »Reflexive Mechanismen« (1966), Soziologische Aufklärung I, Opladen: Westdeutscher Verlag 1972, S.72–102; »Selbstthematisierungen des Gesellschaftssystems« (1973), Soziologische Aufklärung II, 1975, S.72–102.

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tionierens, das für den Moment der Lektüre – genauerhin im Fall der Brieffiktion des Mit-Lesens der Briefe, das über die Schulter der Leser erfolgt – in der Romanform enthüllt wird und verfilmbar ist, keiner zufälligen Konsequenz.173 Die zur Routine gediehene empathisch nachvollziehende Einstellung gegenüber der Romanfiktion nutzt eine Latenz von Prosa aus, bringt sie heraus und zeichnet sie als Latenz der kryptischen Figuration der im Roman qua Prosa mitthematisch gewordenen Textkonstitution ein. So der in Erinnerung zu bringende Stand der Theorie der siebziger Jahre, nach Roland Barthes und de Man. Starobinskis Rekonstruktion von Saussures Anagramm-Studien machte unterhalb der gattungspoetischen Querlage die Prosa als Quelle der im Roman evozierten Latenzen sicht- und fassbar.174 Romane wie Henry James’ What Maisie Knew unterfüttern diese Leistung der Prosa in einer weiteren Verarbeitungsschicht, der psychologischen und psychoanalytischen Plausibilisierung. Slavoj Žižek hat für die lacaneske Raffinierung der kunstfertigen ›crypsis‹ die Figur der Parallaxe erfunden.175 Die zunehmende, immer abgründigere Ironie der Romanfiktion von Clarissa bis Finnegans Wake speist sich aus dieser selben Quelle, und Freuds Entdeckung der Latenz, der Saussures Entdeckung der Diachronie passgenau entspricht, gab eine erste Ahnung von der ProsaQualität des späteren Wake. David Haymans Idee der

173 Barbara Vinken, Unentrinnbare Neugierde. Die Weltverfallenheit des Romans, Freiburg im Breisgau: Rombach 1991, S.206ff. Vf., »Illusion und Empathie: Die Struktur der teilnehmenden Lektüre in Werthers Leiden« (1982), Klopstock/Milton: Teleskopie der Moderne, Stuttgart: Metzler 2018, S.120–146. 174 Jean Starobinski, Les mots sous les mots: Les anagrammes de Ferdinand de Saussure, Paris: Gallimard 1971. 175 Slavoj Žižek, The Parallax View, Cambridge MA: Harvard University Press 2006; Žižek bevorzugt The Wings of the Dove.

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›nodal structure‹ erhellt den von Joyce eingeschlagenen Mittelweg, auf dem Finnegans Wake im epischen Gewand eine eigenartige ›mock-orality‹ hervorbringt; der Brief der An-alphabetin Anna Livia ist eines der bekanntesten Stücke darin. Indessen, führt Hayman aus, sind die narrativen Reste, die als grammatische Knotenpunkte dem Epos von Finnegans Wake zugrunde liegen, kein Beweis für die originäre Mündlichkeit eines Sängers, sondern »all cast in the alphabetical mode«, und die sub-literarische Tonalität produziert deshalb nichts als ironisch kalkulierte side-effects »to the predominantly anti- or meta-narrative discourse of the texts« – ich präzisiere hier: der Prosa.176 Die Frage, die sich an diesen Befund, der weiter zu differenzieren ist, anschließt, ist die der anagrammatischen Funktion der ›epiphanoiden‹ Anlage der Prosa, der zwar phänomenal auftretenden, aber zitierend parodierenden alphabetischen materia prima, die in ihrer Wendefähigkeit als Prosa herauspräpariert ist – ein hochartifizielles, jeder originären Anmutung von Schöpfung (die den Joyce-Fans so teuer ist) diametral entgegengesetztes, den Schöpfungsakt Gottes und der selbsternannten Nachfolger im Genie parodierendes Produkt: pure Poiesis auf der Schwelle einer paradoxen, im ›progress‹ verzögerten Ins-Werk-Setzung. »Description, it appears [wieder de Man], was a device to conceal inscription«, und das in absoluter ›crypsis of figure‹ (davon zehrt die ›absolute Metapher‹) oder – Ahls Paradox – phänomenaler Unkenntlichkeit, welche die Ironie aus der Buchstaben-Materie entbindet, entlässt.177 Der

176 David Hayman, The ›Wake‹ in Transit, Ithaca NJ: Cornell University Press 1990, S.11. 177 Paul de Man, »Hypogram and Inscription« (1981), The Resistance to Theory, Minneapolis MN: University of Minnesota Press 1986, S.27–53: 51.

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verdeckten anagrammatischen Struktur, die Saussure in der Latenz der Götternamen als archaischen Rest einer verschollenen Diachronie zu entdecken meinte, und die Ahl als ein konstitutives Moment der klassischen lateinischen Dichtung erweist, unterliegt einer proto-grammatisch-prosaischen Schicht von Sprache, als deren später Inbegriff die Prosa der phänomenalen Aus- und Abnutzung der selben Sprache in den Konventionen, Anwendungs-Routinen und Inanspruchnahmen von Poesie als gattungspoetische Disziplin entgegentritt. An die Stelle des mythischen Einwirkens benannter, unter den göttlichen Namen maskierter Latenz tritt in der Prosa eine auswendig erinnerte Leere, die an Leitfäden wie den Namen eine nie und nimmer gemachte Erfahrung in Erlebnissen (neuerlich ›events‹) herbeizitiert, und das zu den unterschiedlichsten Zwecken und Vergnügen. Ein ›objektiver Humor‹ macht sich breit, den Hegel (ich zitiere Preisendanz) als die nachklassische Moral von jeder Geschicht’ prophezeit.178 Objektiver Humor statt tiefer gelegter Ironie ist der höhere Zweck und tiefere Sinn der figurae crypticae, die in Prosa verankert sind, aus ihr heraustreten: anagrammatisch ist die Herkunft ihrer Machart. Beim späteren Joyce liegt sie auf der Hand, beflügelt sie prompt die Leser-Gemeinde, fehlt ihr freilich die Theorie, als deren Masken, wie im Ulysses penetrant, einige abgedroschene Stereotype des Mythos herhalten müssen, angefangen beim Titelhelden Odysseus, der zur selben Zeit die Autoren der Dialektik der Aufklärung aufs bürgerliche Glatteis führte.179 Dieses Mythen-Mimikry ging nicht nur William Empson auf den Geist, der Finnegan’s Wake (sic!)

178 Wolfgang Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft, München: Fink 1962. 179 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam: Querido 1947, Erster Exkurs, S.58ff.

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als neugotischen Kitsch, »imitation Gothic«, verhöhnte, als wär’s ein Pendant des Herrn der Ringe aus dem Hause J.R.R. Tolkien und Empsons Antagonisten C.S. Lewis’.180 Dabei schreit Prosa im neu entdeckten Sinne der nachklassischen Schreibart nach dem ›Ende der Kunstperiode‹ nach begleitender selbst-reflexiver Theorie, wie sie womöglich schon der alten Anagrammatik in impliziter Verborgenheit immanent gewesen sein mag (ein weites Feld, man sollte die Möglichkeit nicht unterschätzen). Es ist eine von weither in die Prosa der neueren Gegenwart hineinreichende Ironie der Geschichte, dass die neue Prosa und das ihr angemessene Prosa-Verständnis mit der phänomenalen Verborgenheit der Anagramme und nicht mit dem schlichten, flachen phänomenalen Realismus der Romane übereinkommt, und sei es auch nur, dass sie mit ihm konkurrierte (auch das ein Teil des weiten Felds). Tatsächlich sind damit die probaten Mittel der Ironisierung erschöpft und die Metaphorologie der Figuren (der Allegorie in Quintilians Verstand) marginalisiert. Selbst Empsons ›Ambiguität‹, die post-semantische Symptomatologie der modernen Sprachsituation, scheint nur noch von ungeklärter OberflächenRelevanz, so wie auch das Fiktionsproblem der mit-laufenden Referenzen bedeutungslos ist. Ein erstes, eher marginales Symptomfeld, das es zu einer eigenen Verlegenheitsgattung gebracht hat, ist die Kompromissbildung des Prosagedichts, deren Theoriehaltigkeit von Barbara Johnson ins Auge gefasst und auf den Avantgarde-Befund der ›Defiguration‹ gebracht worden ist.181 In der Absetzungsbewegung, die schon in den klassischen Misch-Mustern des 180 William Empson, The Structure of Complex Words (1951), hg. v. Jonathan Culler, Cambridge MA: Harvard University Press 1989, hier S.67ff. 181 Barbara Johnson, Défiguration du langage poétique: La second révolution Baudelairienne, Paris: Flammarion 1979.

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prosi-metrum (von Boethius bis Dante) eine allegorisch ausgefeilte und durchreflektierte Tradition besaß, stellt das von Johnson als »zweite Revolution« Baudelaires beschriebene Prosagedicht eine mit der klassischen Moderne untergegangene dekonstruktive Schwelle dar.182 Als solche ist sie nicht repräsentativ geworden, sondern artistische Provokation geblieben; die Prosa in ihr ist Poesie oder, wie Reinhard Lettau, ein letzter Meister dieser Art von Prosa, plattest möglich festgestellt hat: »Gedichte, in denen die Zeilen wieder vollgeschrieben werden«. Da sind Günter Eichs Maulwürfe, des womöglich bedeutendsten deutschen Nachkriegslyrikers späteste Prosa, von einem anderen Gewicht. Eich in Ansbach Eichs fast schon berühmtes poetologisches Statement, eine in der Form des prosaischen Eingeständnisses listig verkleidete Grundsatzerklärung, ist vertrackter als es die ostentative Naivität des Dichters auf den ersten Blick merken lassen will: »Ich bin über das Dingwort noch nicht hinaus«, bekennt er, um sogleich fortzufahren: Ich habe deshalb wenig Hoffnung, einen Roman schreiben zu können. Der Roman hat mit dem Zeitwort zu tun, das im Deutschen mit Recht auch Tätigkeitswort heißt. In den Bereich des Zeitwortes aber bin ich nicht durchgedrungen. Allein das Dingwort brauche ich gewiß noch einige Jahrzehnte.183

182 Peter Dronke, Verse with Prose from Petronius to Dante: The Art and Scope of the Mixed Form, Cambridge MA: Harvard University Press 1994. 183 Günter Eich, »Trigonometrische Punkte«, Mein Gedicht ist mein Messer: Lyriker zu ihren Gedichten, hg. v. Hans Bender (1955), erweiterte Neu-Aufl. München: List 1961, S.23–24.

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Das ›Dingwort‹ (Eich zitiert Grundschule) geht auf das rhetorische Doppel der res et verba zurück, das im Dingwort eigentümlich treffend zusammengefasst ist, sofern res die in Rede stehenden nomina spezifiziert. Deren ›numinose‹ (eine alte, aber heikle Etymologie) Vorgänger sind, unschwer zu erkennen, die Götternamen der Anagrammatik: nicht bloß Paradigmen, sondern Proto-Paradigmen. Der numinose Grund der nomina lag bis Varro noch auf der Hand, so in seinem Beispiel vom imperium als einem dictum ab nutu (De lingua latina, 7.85).184 Das Dingwort nennt, erinnert, wiederholt und liegt dabei vor der Tätigkeit der Zeitwörter; schon Eichs Gedichte liegen vor der erzählenden Sprach-Zeit, in ›de-tensed time‹. Sie sind, lässt sich im Nachhinein der Maulwürfe sagen, dezidiert Prosa. In der Rückwendung zur Prosa vollenden sie die von Barbara Johnson an den Petits Poèmes en prose festgemachte »zweite Revolution«, haben sie revolutionären Charakter. Gleichzeitig und im selben Zug – das ist nicht im romantischen Sinne der verdoppelten Reflexion selbstverständlich – reflektiert Eichs Maulwurfs-Prosa Theorie, ›zeigt‹ sie nämlich, wie Wittgenstein es sich vorstellte am Fliegenglas, die ästhetische Konstitution der in Prosa hyperreflexiv wahrnehmbaren Intransparenz als phänomenale Unentscheidbarkeit. Deshalb findet die Fliege den Ausgang nicht; sie kann ihn unmöglich vom Glas unterscheiden. Ein besonders handliches Beispiel ist der Maulwurf »In Ansbach«. Er gibt sich vordergründig als die Parodie eines städtischen »Faltprospekts«, einer alltäglichen Gattung, die ihre Bedeutsamkeit über die Topologie lokaler Namen produziert. Der touristische Tiefsinn, der parodiert wird, 184 Robert Maltby, A Lexicon of Ancient Latin Etymologies, Cambridge UK: Cairns 1991, S.416 ad numen. Zum Genesis-Zitat in Longins De sublimitate 9.9 Vf., Figura cryptica, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, Kap.3.

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verrät absichtslos, in kaum zu erwartender, schlagartig unerwarteter Dichte, seine tiefere anagrammatische Bewandtnis. Sie läuft der Grammatik der parodierten Faltblatt-Rhetorik nicht so sehr zuwider als hebt sie das jenseits von jeder Absicht sprachlich sedimentierte und dann (erst) rhetorisch mit-transportierte Inschriften-Gewirr heraus, das Derrida in Finnegans Wake als ›hyper-mnesic‹ erkannt hat: als Mechanik unterhalb der reflexiven Gattungs-Mechanismen, die auf den prosaischen Voraussetzungen aufliegt: »a hypermnesic machine capable of storing in an immense epic work Western memory and virtually all the languages in the world including traces of the future.«185 Der Messianismus der Avantgarden (»including traces of the future« – seine Hervorhebung), der es auch bei Derrida noch mit der Zukunft als Aus- und Erfüllung des virtuell Möglichen aufnimmt, ist meine Sache nicht; im Gegenteil, scheint mir, erlag Derrida hier dem Geist seiner Zeit anstatt – das ›statt‹ erkennt er im Sprach-Gedächtnis der Joyce’schen Prosa – der historisch bestimmten Latenz nachzugehen, die in den Phantasmata des Virtuellen abgeschirmt liegt und funktioniert. Eich – das macht ihn gegen den Überschwang der Joyceans so einsichtsvoll – widmet sich dem Phantom der alltäglichen Faltprospekthaftigkeit und produziert aus der Im-plikation der Falten (Eich ist hintergründig, darauf legt er Wert) prosaischen, dem Untergrund der Prosa verpflichteten objektiven Humor. Die Hypermnese ist reflexiv; sie liegt in der eigentümlichen Dichte der schlecht zu intendierenden, auf Intentionen nicht zuverlässig rückbezüglichen Inschriften, die »In Ansbach« – ein letzter Hauch von Ironie – an Namen illustriert sind (rhetorischer illustratio), aber nichts mehr 185 Jacques Derrida, Ulysses gramophone (1987), Acts of Literature, New York NY: Routledge 1992, S.253–309: 281.

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von den Götternamen haben, deren Einschreibung sie noch zitieren und örtlich verifizieren, ohne numinose Herkunft, von der die mickrige Mediokrität der lokalen klassizistischen Epigonen ein groteskes Nachbild zeichnet. Ironie ist in der anagrammatischen Prosa der Maulwürfe eine Metapher für den gelöschten, nicht länger vorhandenen, ehedem individuellen Anteil an der in Szene gesetzten Objektivität des nun gänzlich objektiven Humors: Ansbach ist kein, nicht einmal ein, Spree-Athen. Der Dichte halber, auf deren spezifisch prosaischen Charakter noch zu kommen ist, kann ich nur einen Teil dieses kurzen Textes behandeln – seiner Kürze geradezu zum Trotz, »In Ansbach«. Eich tut schon im Titel, so stellt sich am Ende heraus, mehr als der Faltprospekt »Ansbach«, denn im Namen Ansbach steckt ein Bach, der nicht der Fluss ist, an dem Ansbach liegt. Ich greife hier vor, weil Eich vorgreift. Der Maulwurf »In Ansbach« fährt nach dieser im Rückblick erst voll kenntlichen Ein-faltung auf das Argloseste – auch das ein Effekt von Prosa – wie folgt fort: In Ansbach In Ansbach entsproß August Graf von Platen Hallermünde, die Tulpe im deutschen Dichtergarten, übrigens in der Platenstraße. Und im Weinmond, am 24. Weinmond 1796, in römischen Ziffern, das macht das Ablesen eindringlich. In einer Parallelstraße entsproß Johann Peter Uz, von dem nicht berichtet wird, welche Blume er darstellt. Er ist auch zufällig in der Uzstraße entsprossen, es ist nicht angegeben, in welchem Mond, Rot, Weiß oder Rosé, hoffentlich hat er alle drei getrunken. Auf der Büste im Schloßgarten sieht er lebensfroh in eine Zukunft, die bis 1796 vorhielt. Die Uzstraße ist nach Hiob benannt, der in Uz entsproß. Mit Gottes Regiment nicht einverstanden, wurde 124

er von Gott gesegnet und ist viel berühmter als sein Heimatort, daher die häufige Verwechslung mit Johann Peter. Man denkt in Ansbach daran, Uz zur Patenstadt zu machen, was kühn aber schwierig wäre, da Johann Peter noch nicht ausgegraben ist. Die Dichte der Bezüge ist prosaisch, aber es liegt in der Natur der Prosa, dass aus der prosaischen Dichte die intertextuell-semantische Dichte folgt. Ralf Simon orientiert seine Theorie an Jakobsons Überlagerungsregel, eine vergessene Errungenschaft der Rhetorik Quintilians, die in ihrer Herleitung, vermutlich über Christian August Lobecks Dissertationes, nur unzureichend erkannt und unerforscht ist, aber kein Geniestreich, der aus dem Nichts gekommen wäre, sondern aus der Fülle Nach-Baumgarten’scher, Nach-Fontanier’scher, beispielsweise eben auch Lobeck’scher Rhetorik-Revisionen.186 Es ist eine ›Verdichtung‹, die »nicht primär das Ergebnis einer Modellierung durch Form ist« und als ›Matrix‹ bei Jakobson das ganze Spektrum linguistischer Heuristik auf den Plan rief.187 Der älteren Rhetorik steht sie an verwirrender Theorie-Dichte in nichts nach, und die Lütticher Rhétorique générale hat die Beschreibungsdichte auf eine nicht immer fruchtbare Spitze freischwebender, avantgardistischer Bezüge getrieben (die ich hier nicht weitertreiben will). Eichs Maulwürfe bieten statt oder zusätzlich zu solchen Bezugs-Phantomen eine angewandte Praxis der Prosa-Theorie. Dass dies möglich ist, verdankt sie dem tieferen Widerlager ihrer gram186 Christian August Lobeck, Lobeckii Dissertationes de metaphora et de metonymia, Königsberg: Gymnasium 1864. Lobeck ist, wenn überhaupt, nur wegen seiner grammatischen ›Pathologien‹ in Erinnerung geblieben, in denen man auch eine Symptomatologie von Prosa erkennen könnte. 187 Ralf Simon, »Vorüberlegungen zu einer Theorie der Prosa«, Poetik: Historische Narrative und aktuelle Positionen, hg. v. Armen Avanessian und Jan Niklas Howe, Berlin: Kadmos 2014, S.124–144: 129 und 133ff.

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matologischen Disposition, der Prosa, der im rhetorischen Fluss der quasi-narrativ verlaufenden, rhetorisch strukturierten Textentwicklung, die sie ist. Mimetisch heißt bei dem in dieser Frage alles überwölbenden Aristoteles nicht mehr als eingebettet in den von der Rhetorik beherrschten Bereich der »Tätigkeitsworte«, mit deren Syntax – im ›sintalk‹ von Finnegans Wake der mythologischen Besetzungen überführt – Eich es hier nicht aufnehmen wollte, mit der er im Gegenteil nichts zu tun haben wollte (und Beckett, no surprise, hat ihn auch deshalb bewundert). Die Dichte wäre mithin keine Frage der primären, proto-grammatischen Vor-Gegebenheit Prosa, sondern erst und allein der sekundären, syntaktischen Überformung, deren ›crypsis of method‹ sie darstellt. Die sekundären, durchaus auch markierten Ironie-Effekte des Maulwurfs (ob der kalauerhaften Plattheiten berüchtigt) exponieren theoriehaft (auf diesem Wege wird er theoretisch) ein anagrammatisches Netz von Namen, die für den Fall Ansbach die Struktur der Benennung der Orte/Straßen durch Einschreibung von Heroen/großen Söhnen der Stadt ohne Rücksicht auf Pragmatik oder semantische Pertinenz abbilden. Die illokutionäre Kraft der Prosa »sprengt« nicht die Syntax, wie Agamben mutmaßt; sie informiert sie in der Form der kryptischen Figuration, und es ist diese Wendigkeit, die den Maulwurf ausmacht.188 Die Kontingenz ist eine der Spuren – »übrigens in der Platenstraße«, »auch zufällig in der Uzstraße«, vom Jahr 1796 noch zu schweigen, das dem Ganzen die Krone aufsetzt (Platens Geburt, Uz’ Tod) – bei präzise bezifferter Markiertheit der proto-grammatischen Stelle, not (yet) tensed, aber (und abermals buchstäblich) römisch datiert 188 Giorgio Agamben, Idea della prosa, Macerata: Quodlibet 2002; dt. Die Idee der Prosa, Berlin: Suhrkamp 2003, hier S.23.

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(in »römischen Ziffern«, »Ablesen eindringlich«) auf die klassische Ära der Anagrammatik (hier Ovid), wobei sie deren verunglücktes Weiterleben ironiefrei betrauert. Ich lasse es bei Hinweisen; offenbar verlangt die anagrammatische Vorstruktur der Prosa – ich nenne sie Latenz – als spezifisch ästhetische Errungenschaft eine anwachsende Ausführlichkeit in der Entfaltung der pragma-semantischen Folgeerscheinungen. Treffsicher streut Eich ein zufriedenes Fazit ein, eine klassische Gnome, wie er sie liebte (sie waren schon die ironie-schwangere Signatur seiner Lyrik), hier also nun aus heiterem Himmel der Satz: »So hängt alles viel enger zusammen als man denkt.«189 Der Satz kehrt das Latenz-Management der Prosa nach außen. Indessen geht der Text weiter. Das anagrammatische Phantom der Namen, Derridas Metaphern-Phantom nacheifernd, findet zu einem letzten Auftritt, so wie im Titel, dem »Im« vor Ansbach angekündigt (Syntax vor Namen ist die Prosa-Regel, welche die Namen anagrammatisch unterlaufen): »Jetzt habe ich den Ansbacher Bach vergessen« fügt Eich beiläufig an und gibt Mnemosyne, der Mutter der Anagrammatik das letzte Wort statt der lesmosyne des im Faltprospekt eingefalteten Vergessens: im binnenreim-artigen »Ansbacher Bach«. Jetzt habe ich den Ansbacher Bach vergessen, die Rezat, für den jährlich die Bachwoche stattfindet, Johann Sebastian Rezat. Damit bin ich so vollständig geworden, daß man sich bei genauer Lektüre den Faltprospekt sparen kann. (Schluß)190 189 Ich verweise auf meinen älteren Versuch »Lauras Metamorphosen: Dekonstruktion einer lyrischen Figur in der Prosa der Maulwürfe, Deutsche Vierteljahrsschrift 58 (1984), S.420–449. Im Maulwurf »Lauren« (Plural von Laura) ist die Gnome »Wenn wir ihren Tod wissen, wissen wir alles« (Ein Tibeter in meinem Büro, S.29). 190 Schluss im MS als »Postscriptum« mit kommentierenden Anteilen, Gesammelte Werke I, S.547–548.

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Streit und Verrisse, die Eichs Maulwürfe provoziert haben und ihre Leserschaft bis heute spalten, hat ausgerechnet, überraschend, der prosaische Heinrich Böll, wie Beckett ein Eich-Bewunderer der ersten Stunde, unter dem umständlichen Titel, »Flinke, zersetzende, schwer begreifliche, prosaische Maulwürfe« erübrigt. Er fasst treffsicher zusammen: »Obwohl zur Literatur gezählt, sind die Maulwürfe fast keine mehr, ich kenne nichts Vergleichbares, möglicherweise sind sie Ansätze zu einer neuen Philosophie. Ich weiß es nicht.«191 In der Tat sind sie das wohl, Ansätze zu einer neuen Philosophie, und Böll hat ihre sokratische Natur im Eingeständnis des eigenen wissenden Nicht-Wissens erfasst. Aber weniger Literatur als Philosophie ist die Folge, sondern Philosophie in Literatur: ihre Zeit ist dort, und zwar in und als Prosa, »erfaßt« – passgenau dem Satz aus Hegels Rechtsphilosophie antwortend, der die These vom ›Ende der Kunstperiode‹ begründete: Philosophie sei »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«.192 Eine Dimension von Prosa, die nicht zeitlos prä-historischer, sondern ana-historisch gegenwärtiger Art ist.

191 Heinrich Böll, »Flinke, zersetzende, schwer begreifliche, prosaische Maulwürfe« (zuerst Kölner Stadtanzeiger 1968), Über Günter Eich, hg. v. Susanne Müller-Hanpft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S.138– 139: 139. Zu Eich bei Böll auch dessen Frankfurter Vorlesungen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1966/dtv 1968, S.77ff. 192 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg: Meiner 1955, S.16. Hegels Satz ist von Rüdiger Bubner in zeitgemäßer Relevanz – im selben Jahr wie Eichs Maulwürfe und am passenden Ort einer GadamerFestschrift – kommentiert worden, »Philosophie ist ihre Zeit, in Gedanken erfaßt«, Hermeneutik und Dialektik I–II, Tübingen: Mohr Siebeck 1970, Bd. I, S.317–342; wiederholt in Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S.210–243: 230f.

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Abbildungsverzeichnis

S.34 De Justitia et Jure, ms Ottobonianus latinus 3132, f. 3r, Biblioteca Apostolica Vaticana. S.35 De Iustitia et Iure, Digestus Vetus, 1, 1, 1, Sennetoniana, Lyon, 1549. S.37 Pieter Bruegel der Ältere: Die Kreuztragung Christi (1564), Öl auf Eichenholz, Kunsthistorisches Museum Wien. S.44 Tintoretto: Das Wunder des Heiligen Markus (1548), Öl auf Leinwand, Galleria dell’Accademia Venedig. © akg-images / Cameraphoto. S.57 Rembrandt: Lucretia (1666), Öl auf Leinwand, Minneapolis Institute of Art. S.70 Jungsteinzeitliche Höhlenmalerei, Lascaux, Frankreich. S.73 Links: Plan der romanischen Kirche Saint-Sernin, Toulouse. Rechts: Dasselbe an einen Plan der Grotten von Lascaux angepasst. S.75 Germaine Krull, Métal (1928), © Fotografische Sammlung im Museum Folkwang Essen/Nachlass Germaine Krull. S.77 Doppelseitenaufschlag aus: Antoine de Baecque, L’histoire-caméra, Paris: Gallimard 2008, unpaginiert [S.34/35].

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Namen, Begriffe, Sachen

›Latenz‹, ›latent‹ und Komposita sind nicht erfasst, ebensowenig ›Bild‹, ›Raum‹, ›Struktur‹, ›Sprache‹, ›Geschichte‹. Adorno, Theodor W.8, 30, 63, 65, 78f., 82, 92–96, 100, 104, 108–111, 119 Agamben, Giorgio113, 126 Ahl, Frederick114f. Aktualisierung7, 16, 22, 28, 40, 95f. Akutheit7, 20, 26–28, 41, 45, 62, 111 Alewyn, Richard54 Allegorie45, 49–52, 62, 77, 90f., 99, 103, 114, 116, 120 Ambiguität15, 30, 120 Ambivalenz15, 30, 63 Anachronie40f. Anschauungsformen52f. Antonioni, Michelangelo72, 77 Apriori7, 20f., 29 Archäologie8, 20f., 77 Aristoteles27, 79f., 126 Augustinus41, 55–61 Baecque, Antoine de77 Baldwin, Sandy32 Barthes, Roland74, 92, 117 Bataille, Georges73 Baudelaire, Charles 97, 121 Baumgarten, Alexander Gottlieb 7, 68, 80, 84f., 93, 103, 110, 114–116 Beckett, Samuel30, 71, 84f., 96–112, 126, 128 Benjamin, Walter10, 28, 58f., 77, 99, 110 Black, Max8 Bloch, Ernst65 Bloom, Harold85f.

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Blumenberg, Hans10, 13, 23, 25f., 28, 33, 38, 55, 67, 73, 93–95 Böckmann, Paul92 Boehm, Gottfried29, 83 Böll, Heinrich128 Boethius121 Boucheron, Patrick45 Bourdieu, Pierre74 Brand, Stewart32 Bredekamp, Horst29 Brentano, Franz23, 94 Brockes, Barthold Heinrich 52– 54 Brown, Peter58 Bruegel, Pieter, der Ältere36– 42 Bubner, Rüdiger128 Burke, Kenneth79f. Campe, Rüdiger7 Caruth, Cathy9 Cavell, Stanley50f., 104–106 Cassirer, Ernst23–26, 80 Chenu, Marie-Dominique41 Chiasmus/Verschränkung5, 7, 9, 14, 26f., 39, 61, 63f., 67f. Cicero45 Coetzee, John Maxwell98–100 Collingwood, Robin George21 Culler, Jonathan24, 48, 114, 120 Dahlhaus, Carl63f. Dante Alighieri51, 84f., 121 Darstellung/Darstellbarkeit, Rücksicht auf7, 11, 13, 29, 42, 48, 51, 54, 58f., 81, 83, 91, 94

Darwin, Charles88 Deleuze, Gilles76 De Man, Paul97, 115–118 Derrida, Jacques66, 68, 77, 97, 123, 127 Dessì, Rosa Maria45 Diachronie/Synchronie18–28, 31, 46, 54, 62, 67, 111, 117, 119 Didi-Huberman, Georges29, 62 Dilthey, Wilhelm10 Ding7, 25f., 33, 92, 121f., Eich, Günter96–128 Eichendorff, Joseph von54 Einstein, Albert82, 90 Eisenman, Peter76 Eliot, T.S.71f., 77 Empson, William30, 48, 105, 119f. Enargeia26, 84 Enzensberger, Hans Magnus 96f., 110 Epoche54, 63f., 79, 115 Erlebnis10, 119 Felman, Shoshana9 Fögen, Marie Theres58–61 Fontanier, Pierre125 Form, sprachliche/symbolische 9f., 15, 16, 19–21, 23–27, 30, 33–39, 62–64, 78–82, 92f. 95, 121, 125f. Foucault, Michel7–9, 20f., 96 Freud, Sigmund13–16, 23, 30, 33, 65, 77, 80f., 86, 91, 117 Funktion8, 19–22, 34, 71, 79f., 80, 87, 102, 114f., 118 Gasché, Rodolphe66, 68 Gehlen, Arnold72, 74 Gehring, Petra16 Gesagt-Sein8f., 94f. Geulen, Eva12 Goethe, Johann Wolfgang10, 52–54.

Grammatik/Syntax, Proto-14, 21f. 28, 30, 60, 66f., 71, 83, 85f., 99, 102f., 115, 120, 123, 126f. Green, André16 Greenblatt, Stephen26, 51, 72 Goodrich, Peter12, 36 Hacking, Ian33, 35 Hayman, David117f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 29, 62, 89–93, 112, 119, 128 Heidegger, Martin23, 71, 94f., 107 Heine, Heinrich115 Herder, Johann Gottfried86f. Historismus7, 30, 69f. Hölderlin, Friedrich107 Hofmann, Hasso45 Homer69, 71 Humor, objektiver92–95, 100, 12, 119, 123 Husserl, Edmund21, 23–28, 55, 61, 67, 94 Hypothek8, 65f., 69 Implikation8f., 14, 16, 18f., 35, 42, 45, 48, 54f., 66–69, 71, 77, 80–85, 107, 109–111, 120, 124 Ironie24, 69, 85, 89, 93, 95f., 113–127 Iser, Wolfgang16, 100, 106 Jäger, Ludwig17f. Jakobson, Roman32, 80, 125 James, Henry89–92, 117 Jantzen, Hans76 Johnson, Barbara97, 120–122 Joyce, James84f., 88, 97, 110, 117–119, 123, 126 Jussen, Bernhard12 Kant, Immanuel8, 16, 18, 23–28, 62, 68, 88 Kantorowicz, Ernst11 Keats, John88 Kemp, Wolfgang33, 69, 82f., 87

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Kenner, Hugh71f. Khurana, Thomas9, 11f., 19f., 29, 96 Kierkegaard, Søren54, 64 Klopstock, Friedrich Gottlieb 86–90 Konstellation11, 80, 101 Kontingenz10, 25, 47, 85, 91, 111f., 126 Kraft9, 111, 126 Krull, Germaine74f. Kunst8f., 19, 28f., 36, 43, 62f., 77, 109–111, 120, 128 Lacan, Jacques15f., 80–85, 91, 117 Lachmann, Renate32 Landschaft36, 41, 53f., 87 Langen, August52 Leroi-Gourhanm André70, 73 Lewis, C.S.52, 84, 120 Libera, Alain de21 Livius55–62 Lobeck, Christian August125 Lobsien, Eckhard31 Lorenzetti, Ambrogio45 Lüdeking, Karlheinz53f. Luhmann, Niklas19f., 116 Lukács, Georg92 Lukrez53f. Maier, Anneliese33, 35 Mallarmé, Stephane97 Marin, Louis12, 42f. Menke, Bettine10 Menke, Christoph7, 9, 12, 62f., 96, 109, 111 Merleau-Ponty, Maurice7, 9, 13–16, 23–27, 67 Metapher15f., 27, 30, 79–81, 84f., 88, 92, 109, 118, 124, 127 Milton, John84, 86–89, 114 Mnemotechnik26f., 32, 123 Mozart, Wolfgang Amadeus 63–65

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Müller, Heiner49 Nachbild24, 52, 104, 108, 124 Nachträglichkeit15, 20, 25 Nagel, Alexander40 Nagel, Ivan36–41, 63–65 Natur10, 15–18, 28, 48, 53f., 62, 89 Neefs, Jacques12 Negativität9–12, 96–100, 109–111 Newton, Isaac9, 33, 84 Ohly, Friedrich35 Ovid26f. 32, 48f., 51, 60f., 68, 113f., 127. Paläonym48, 106, 111 Panofsky, Erwin36, 74, 92 Parallaxe81, 89–92, 117 Parat (halten)24–26, 61, 67 Perspektive34–36, 40, 72, 81–83, 91, 100 Petrarca, Francesco96 Philologie47, 49, 69, 98f. Plinius der Jüngere32 Pollock, Jackson62 Pompe, Anja12 Pound, Ezra71 Präsupposition8 Prandi, Michele80f. Preisendanz, Wolfgang79, 92f., 115, 119 Prosa71f., 79, 97, 100, 102, 113–128 Puttenham, Richard106 Quadflieg, Dirk9, 96 Quintilian27, 32, 85, 90, 92, 103, 114, 120, 125 Raby, F.J.E.42 Raimondi, Francesca9, 96 Raphael, Max76 Rebentisch, Juliane9, 96 Recht/Gerechtigkeit34–38, 44f., 51, 54–59, 63, 128 Referenz22–24, 69, 120

Reinhardt, Karl87 Rembrandt van Rijn58–62, 129 Rhetorik7, 21, 27, 30, 78f., 95, 113–116, 125f. Richardson, Samuel116 Ricœur, Paul15 Riegl, Alois72f. Rousseau, Jean-Jacques53, 116 Rubin, Miri41 Ruskin, John44 Sartre, Jean-Paul43 Saussure, Ferdinand de13–32, 46, 54, 59, 61f., 67f., 91, 96, 113, 117, 119 Schema23–26 Schikaneder, Emmanuel63 Schiller, Friedrich60, 87, 89, 92 Schlegel, Friedrich93 Schmitt, Carl45, 95 Schnell, Rebekka29 Semper, Gottfried71 Senneton, Jean34, 43f. Setton, Dirk9, 96 Shakespeare, William43–49, 55, 58–60, 71, 84f. Simon, Ralf125 Skinner, Quentin8, 43 Snell, Bruno80 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 93 Spurgeon, Caroline49 Starobinski, Jean22, 96, 117 Stein, Gertrude74 Stevens, Wallace71 Stock, Alex39

Symbolische Formen23–27, 36, 38, 42, 66, 70, 75, 80, 84 Symptom9, 15, 27, 48, 91, 120, 125 Synekdoche/pars pro toto78– 93. Tacitus58, 60 Testart, Alain72f. Thomas von Aquin38–41 Tintoretto, Jacopo43–45 Todorov, Tzvetan80 Tolkien, J.R.R.120 Trüstedt, Katrin11 Unbegrifflichkeit7, 94, 98 Unsichtbarkeit20, 35, 97 Unvermögen9 Valéry, Paul108 Vergil26, 32, 84, 113 Vico, Giambattista69, 80, 84f., 92f. Vinken, Barbara117 Wagner, Richard63 Wahrnehmung16, 67, 71, 91 Warburg, Aby11 Weber, Samuel24 White, John54 Wilmart, André38 Wirkung, ästhetische9, 11, 15, 20, 22, 28, 40, 49, 63, 75, 82, 100 Witt, Sophie91 Wood, Christopher12, 40 Yates, Frances32 Žižek, Slavoj81, 89–92, 117 Zumbusch, Cornelia12, 15

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